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Bayesscher Wahrscheinlichkeitsbegriff
Der nach dem englischen Mathematiker Thomas Bayes () benannte bayessche Wahrscheinlichkeitsbegriff (engl. "Bayesianism") interpretiert Wahrscheinlichkeit als Grad persönlicher Überzeugung (). Er unterscheidet sich damit von den objektivistischen Wahrscheinlichkeitsauffassungen wie dem frequentistischen Wahrscheinlichkeitsbegriff, der Wahrscheinlichkeit als relative Häufigkeit interpretiert. Der bayessche Wahrscheinlichkeitsbegriff darf nicht mit dem gleichfalls auf Thomas Bayes zurückgehenden Satz von Bayes verwechselt werden, welcher in der Statistik reiche Anwendung findet. Entwicklung des bayesschen Wahrscheinlichkeitsbegriffs. Der bayessche Wahrscheinlichkeitsbegriff wird häufig verwendet, um die Plausibilität einer Aussage im Lichte neuer Erkenntnisse neu zu bemessen. Pierre-Simon Laplace (1812) entdeckte diesen Satz später unabhängig von Bayes und verwendete ihn, um Probleme in der Himmelsmechanik, in der medizinischen Statistik und, einigen Berichten zufolge, sogar in der Rechtsprechung zu lösen. Zum Beispiel schätzte Laplace die Masse des Saturns auf Basis vorhandener astronomischer Beobachtungen seiner Umlaufbahn. Er erläuterte die Ergebnisse zusammen mit einem Hinweis seiner Unsicherheit: „Ich wette 11.000 zu 1, dass der Fehler in diesem Ergebnis nicht größer ist als 1/100 seines Wertes.“ (Laplace hätte die Wette gewonnen, denn 150 Jahre später musste sein Ergebnis auf Grundlage neuer Daten um lediglich 0,37 % korrigiert werden.) Die bayessche Interpretation von Wahrscheinlichkeit wurde zunächst Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem in England ausgearbeitet. Führende Köpfe waren etwa Harold Jeffreys (1891–1989) und Frank Plumpton Ramsey (1903–1930). Letzterer entwickelte einen Ansatz, den er aufgrund seines frühen Todes nicht weiter verfolgen konnte, der aber unabhängig davon von Bruno de Finetti (1906–1985) in Italien aufgenommen wurde. Grundgedanke ist, „vernünftige Einschätzungen“ (engl. "rational belief") als eine Verallgemeinerung von Wettstrategien aufzufassen: Gegeben sei eine Menge von Information/Messungen/Datenpunkten, und gesucht wird eine Antwort auf die Frage, wie hoch man auf die Korrektheit seiner Einschätzung wetten oder welche "Odds" man geben würde. (Der Hintergrund ist, dass man gerade dann viel Geld wettet, wenn man sich seiner Einschätzung sicher ist. Diese Idee hatte großen Einfluss auf die Spieltheorie). Eine Reihe von Streitschriften gegen (frequentistische) statistische Methoden ging von diesem Grundgedanken aus, über den seit den 1950ern zwischen Bayesianern und Frequentisten debattiert wird. Formalisierung des Wahrscheinlichkeitsbegriffes. Ist man bereit, Wahrscheinlichkeit als „Sicherheit in der persönlichen Einschätzung eines Sachverhaltes“ zu interpretieren (s. o.), so stellt sich die Frage, welche logischen Eigenschaften diese Wahrscheinlichkeit haben muss, um nicht widersprüchlich zu sein. Wesentliche Beiträge wurden hierzu von Richard Threlkeld Cox (1946) geleistet. Er fordert die Gültigkeit der folgenden Prinzipien: Wahrscheinlichkeitswerte. Es stellt sich heraus, dass die folgenden Regeln für Wahrscheinlichkeitswerte W(H) gelten müssen: Hier bedeutet: Aus den obigen Regeln der Wahrscheinlichkeitswerte lassen sich andere ableiten. Praktische Bedeutung in der Statistik. Um solche Probleme trotzdem im Rahmen der frequentistischen Interpretation angehen zu können, wird die Unsicherheit dort mittels einer eigens dazu erfundenen variablen Zufallsgröße beschrieben. Die Bayessche Wahrscheinlichkeitstheorie benötigt solch eine Hilfsgröße nicht. Stattdessen führt sie das Konzept der A-priori-Wahrscheinlichkeit ein, die "Vorwissen" und Grundannahmen des Beobachters in einer Wahrscheinlichkeitsverteilung zusammenfasst. Vertreter des Bayes-Ansatzes sehen es als großen Vorteil, Vorwissen und A-priori-Annahmen explizit im Modell auszudrücken.
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Backpulver
Backpulver ist ein zum Backen benutztes Triebmittel, das unter Einwirken von Wasser und Wärme gasförmiges Kohlenstoffdioxid (CO2) freisetzt. Durch die CO2-Entwicklung wird das Volumen des Teigs vergrößert. Zusammensetzung. Backpulver ist eine Mischung aus einem Backtriebmittel (als CO2-Quelle), meist Natriumhydrogencarbonat (Natron) oder Kaliumhydrogencarbonat, und einem oft phosphathaltigen Säuerungsmittel wie Dinatriumdihydrogendiphosphat (E 450a) oder Calciumdihydrogenphosphat (E 341a) oder einer phosphatfreien Alternative wie Weinstein als Säureträger. Zudem wird ein Trennmittel (etwa 20 bis 60 %) aus Mais-, Reis-, Weizen- oder Tapiokastärke bzw. Weizenmehl zugegeben, um Feuchtigkeit zu binden und so eine vorzeitige CO2-Entwicklung zu verhindern. In Low-Carb-Alternativen wird auf Kokosmehl oder Hanffasern zurückgegriffen. Manchmal werden Stoffe wie Zitronenpulver (auch als Säuerungsmittel), Vanillin oder Ethylvanillin zur Aromatisierung zugesetzt. Backpulver wird für den Gebrauch in Haushalten in Portionsverpackungen („Briefchen“) im Handel angeboten. Bei Teigen wird es vor allem dem Rührteig zugefügt. Im Mürbeteig (Tortenböden, Kekse) ist der Einsatz von Backpulver eher selten. Im Hefeteig kommt Hefe als Backtriebmittel zum Einsatz. Bei flachen Dauergebäcken wird eher Ammoniumhydrogencarbonat verwendet, für Leb- und Honigkuchen in Verbindung mit Kaliumcarbonat (Pottasche). Manchmal wird für Lebkuchen auch Hirschhornsalz oder eine Mischung von Ammoniumhydrogencarbonat und Ammoniumcarbamat im Verhältnis 1:1 eingesetzt. Ab 60 °C zersetzt sich diese in Ammoniak, Kohlenstoffdioxid und Wasser. Wirkung. Unter Anwesenheit von Feuchtigkeit (Wasser aus den Backzutaten) reagiert das Natron mit der Säure und setzt Kohlenstoffdioxid frei, wodurch kleine Gasbläschen entstehen und der Teig aufgelockert wird. Die chemische Reaktion lässt sich dabei wie folgt formulieren: Reaktion mit Säure: formula_1 Damit wird ein ähnlicher Trieb erreicht wie bei der Verwendung von Pilzen der Backhefe im Hefeteig und Bakterien im Sauerteig, wo ebenfalls CO2 entsteht. Die Zugabe von Backpulver verkürzt die Zubereitungszeit, da Hefepilze und Bakterien zur Produktion von CO2 mehr Zeit benötigen (zwischen einer halben Stunde und einem Tag). Die Teigsorten unterscheiden sich allerdings erheblich in Geschmack und Konsistenz. Bei Temperaturen über 80 °C (z. B. Backofen, Waffeleisen, Fritteuse) beginnt sich das Natron auch thermisch zu zersetzen: formula_2 Double-Acting-Backpulver. Während die zuvor beschriebenen Reaktionen unter Anwesenheit einer einzelnen sauren Komponente ablaufen, verfügen die – vorwiegend im angloamerikanischen Raum verbreiteten – Double-Acting-Backpulver (engl. etwa „doppelt aktives bzw. reagierendes“) über eine zweite saure Komponente, die erst bei höheren Temperaturen mit dem Backtriebmittel reagiert. Der Vorteil liegt darin, dass die Zeit bis zur ersten Aktivierung des Backtriebmittels von der ursprünglichen Vermengung der feuchten Zutaten in die eigentliche Backphase verschoben wird. Als Säuerungsmittel, welches erst durch Wärme aktiviert wird, kommen vor allem Weinstein in der Form von Monokaliumtartrat oder Monocalciumphosphat (für niedrige Reaktionstemperaturen) sowie Aluminiumnatriumsulfat (für höhere Reaktionstemperaturen ab ca. 60 °C) zum Einsatz. Geschichte. Das erste Backpulver wurde 1843 von dem in Birmingham ansässigen Lebensmittelhersteller Alfred Bird entwickelt. Das Backpulver wurde von Eben Norton Horsford, einem Schüler von Justus von Liebig, erfunden. Horsford experimentierte zunächst mit saurem Calciumphosphat und Natriumhydrogencarbonat. Der deutsche Apotheker und Unternehmer Ludwig Clamor Marquart produzierte und vertrieb als Erster auf dieser Grundlage ein entsprechendes Backpulver. 1854 gründete Horsford mit George Francis Wilson (1818–1883) in den USA die Rumford Chemical Works, um Backpulver zu produzieren und verkaufte das dort produzierte neue Mittel unter dem Namen "yeast powder" (Hefepulver). Liebig war in der Lage, das Mittel durch Zugabe von Kaliumchlorid weiter zu verbessern, und Horsford ließ das Mittel als "baking powder" patentieren. Da sich Backwaren (einschließlich Brot) leichter industriell herstellen lassen, brachte der einsetzende Sezessionskrieg (1861–1865) eine große Nachfrage nach Backpulver, und Horsford musste seine Produktionsanlagen ständig erweitern. Liebig führte 1868 weitere Arbeiten über Backpulver und Brotbacken durch, als in Ostpreußen eine große Hungersnot herrschte. Der Erfolg des Backpulvers in Deutschland begann schließlich mit August Oetker, der 1891 die Aschoff'sche Apotheke in Bielefeld erworben hatte und Backpulver in kleinen Portionen verkaufte. Er bewarb die Verwendung zum privaten Kuchenbacken im Gegensatz zur bisherigen Verwendung in Bäckereien zum Brotbacken. Ab 1893 füllte er sein Backpulver "Backin" ab, 1898 ging er zur Massenproduktion über. Am 27. November 1902 wurde die Marke registriert. Am 21. September 1903 wurde das entsprechende Verfahren durch Oetker patentiert, das bis heute Anwendung findet.
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Blinder Fleck (Psychologie)
Blinder Fleck bezeichnet umgangssprachlich die Teile des Selbst oder Ichs, die von einer Person nicht wahrgenommen werden. Diese metaphorischen Bedeutung leitet sich von dem visuellen Phänomen des Blinden Flecks im Auge ab und wird auch auf gesellschaftliche Phänomene oder Theorien angewandt. Der "Blinde Fleck" ist dabei nicht lediglich etwas, was nicht gesehen wird, sondern ein Aspekt der aufgrund des Selbstbildes bzw. des gesellschaftlichen Konstruktes ausgeblendet wird. Auch wenn es sich in der psychologischen, soziologischen, politikwissenschaftlichen oder wissenschaftstheoretischen Fachliteratur nicht um einen klar definierten Fachbegriff handelt, taucht er in diesen Kontexten häufiger auf, wenn auf eine systemisch bedingte Leerstelle in der gesellschaftlichen oder fachspezifischen Wahrnehmung hingewiesen werden soll. Psychologie. In der Psychologie des Individuums wird der Begriff in dem Sinne verwendet, dass blinde Flecken regulär zum Funktionieren der menschlichen Psyche gehören, wie der Blinde Fleck zur Physiologie des Auges. Die verschiedenen psychologischen Theorien verwenden unterschiedliche Erklärungen zum Zustandekommen blinder Flecken in der Selbstwahrnehmung wie die Abwehrmechanismen in der Psychoanalyse, das Eisbergmodell oder die Mechanismen zur Vermeidung von Kognitiver Dissonanz in der Sozialpsychologie nach Leon Festinger, ohne dass der Begriff des "Blinden Fleckes" eine systematische Verwendung als Fachterminus findet. Explizit als Fachbegriff taucht der Begriff lediglich bei den Sozialpsychologen Joseph Luft und Harry Ingham auf und wird in dem sogenannten Johari-Fenster als der Teil der psychologischen Wahrnehmung bezeichnet, der vom Blickwinkel einer Person aus betrachtet, anderen bekannt ist, aber nicht der Person selbst. Aus gestaltpsychologischer Perspektive wird hinzugefügt, dass es, parallel zur physiologischen Bedeutung des Begriffs, auch im psychologischen Kontext zu Ergänzungserscheinungen kommt, durch die der "Blinde Fleck" in der Selbstwahrnehmung nicht als Lücke oder Leerstelle wahrgenommen wird, sondern es aufgrund der Gestaltgesetze zu einer Vervollständigung des Bildes kommt. Für die psychoanalytische Behandlung benutzte Sigmund Freud den Begriff zur Beschreibung der Einschränkung der analytische Wahrnehmung durch eine nicht ausreichende Lehrtherapie: In systemischen Beratungsprozessen können Fallkonferenzen dazu beitragen, dass "blinde Flecken" einzelner Berater auf den Fall sichtbar gemacht werden können. Zu "blinden Flecken" kann es in therapeutischen Beziehungen auch durch die gesellschaftliche Umgebung kommen, etwa in Bezug auf die Geschlechteraspekte oder außergewöhnliche Erfahrungen, die sich nicht in das wissenschaftlich Überprüfbare einordnen lassen. Auch einzelne Themen, die bisher nicht genügend berücksichtigt wurden, werden in der Literatur als blinde Flecken herausgestellt. Soziologie und Politikwissenschaft. Im gesellschaftlichen und sozialpsychologischen Kontexten werden immer wieder Phänomene als blinde Flecken bezeichnet, wenn sie jeweils bis dato nicht ausreichend in den Diskurs aufgenommen wurden: So z. B. die Formen ritueller oder organisierter Gewalt gegen Kinder, die Genderfrage in der Traumaforschung, bestimmte Arbeitsbedingungen oder organisatorische Wandlungsprozesse. Der Kölner Philosoph Günter Schulte zeigte, dass auch die Umstellungen Niklas Luhmanns, die sich auf "blinde Flecken" in der Erkenntnistheorie beziehen, in Bezug auf die von ihm kritisierten philosophischen und psychologischen Systeme ihrerseits wieder blinden Flecke produzierten. Theodor W. Adorno bezeichnete geschichtsphilosophisch das (jeweils) Neue als blinden Fleck, „leer wie das vollkommene Dies da“ und führte aus, dass Geschichte sich nicht nach Art eines Staffetenlaufes organisiere, sondern auf das Entstehen und Aufdecken der jeweiligen blinden Flecke angewiesen sei. Im historischen Zusammenhang wurden unter dem Stichwort der "blinden Flecken" verborgene Hintergründe und Zusammenhänge bestimmter Strömungen und Epochen herausgearbeitet. So zeigte Wolfgang Kraushaar einen Zusammenhang zwischen der 68er-Bewegung und der RAF auf und beschrieb in Bezug auf die 68er-Bewegung die „Romantik“, die Rolle der Unterhaltungsmusik, die Metamorphosen der Antisemitismus-Kritik und der Neuentdeckung Walter Benjamins als "blinde Flecken" der Rezeption der 68er-Bewegung.
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Bambara
Bambara, auch als "Bamanankan" bezeichnet, ist eine Mande-Sprache, die in Mali in Westafrika gesprochen wird. Sie zählt gemeinsam mit Dioula und Malinke zum Dialektkontinuum (ineinander übergehende Dialekte der gleichen Sprache) des Manding, welches von ca. 30 Millionen Menschen in zehn Ländern Westafrikas in unterschiedlichem Maße verstanden und gesprochen wird. Das Dioula der Elfenbeinküste ist ein vom Malinke beeinflusstes vereinfachtes Bambara, das Dioula von Burkina Faso nahezu deckungsgleich mit dem Bambara. Mit dem Bambara als zentraler Variante des Manding kann man sich fast überall in Mali, in den meisten Regionen von Burkina Faso und der Elfenbeinküste sowie in den östlichen Landeshälften Guineas und des Senegals verständigen. Als Schrift werden entweder das lateinbasierte Afrika-Alphabet oder die eigene N’Ko-Schrift verwendet. Der Sprachcode ist codice_1 bzw. codice_2 (nach ISO 639).
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Bamako
Bamako [, auch ] ist die Hauptstadt Malis. Im Vorort Koulouba liegt das Regierungsviertel von Mali. Die Stadt liegt am Fluss Niger. Verwaltungsgliederung. Der Distrikt Bamako unterteilt sich in die sechs Gemeinden Commune I, Commune II, Commune III, Commune IV, Commune V und Commune VI. Bevölkerung. Bamako hat nach den Ergebnissen des 2009 durchgeführten Zensus 1.809.106 Einwohner. Die Stadt zählt zu den am schnellsten wachsenden der Welt. Für 2050 wird mit einer Bevölkerung von über 7,6 Millionen Menschen in der Agglomeration gerechnet. Bevölkerungsentwicklung der Agglomeration laut UN Geschichte. Die Gegend um Bamako ist seit der Altsteinzeit besiedelt. Das fruchtbare Land im Tal des Flusses Niger ermöglichte die Produktion von Nahrungsmitteln. Bamako lag an wichtigen Handelsrouten und wurde zu einem Umschlagplatz für Waren wie Gold (u. a. vom "Boure-Goldfeld"), Elfenbein, Kola-Nüsse, Salz. Außerdem entwickelte sich die Stadt mit zwei Universitäten im Mittelalter auch zu einem Zentrum für islamische Gelehrte. Vor der Eroberung durch französische Truppen im Jahr 1883 hatte Bamako ungefähr 600 Bewohner. Im Jahre 1908 wurde sie zur Hauptstadt des französischen Gouvernements Obersenegal und Niger. 1945 hatte die Stadt bereits 37.000 Einwohner, davon weniger als 1000 Franzosen., und wuchs bis 1960, als Mali unabhängig von Frankreich wurde, auf 160.000 Einwohner an. Doch damit setzte das stürmische Bevölkerungswachstum erst ein, denn 2018 schätzte man die Einwohnerzahl auf 4,3 Millionen, bis 2050 soll sie auf 13 Millionen steigen. Nach einer sozialistischen Phase unter sowjetischem Einfluss putschte sich 1968 General Moussa Traoré an die Macht. 1987 war Bamako Tagungsort einer WHO-Konferenz, die unter dem Namen Bamako-Initiative die Gesundheitspolitik Afrikas nachhaltig veränderte. Bei einer Geiselnahme im November 2015 starben mehr als 20 Menschen. Wirtschaft und Verkehr. Als Handels- und Industriezentrum (Textilindustrie) ist Bamako der wichtigste Wirtschaftsstandort in Mali. Von Bamako aus führt die Bahnstrecke Dakar–Niger über Kita, Mahina, Kayes in die Hafenstadt Dakar im Senegal. Diese ist zur Zeit jedoch nicht aktiv. Außerdem ist die Stadt über den Flughafen Bamako erreichbar. Bamako hat drei Brücken über den Niger: Pont des Martyrs, Pont du roi Fahd und Pont de l’amitié sino-malienne. Die 1927 gebaute Chaussée de Sotuba ist eine nur in der Trockenzeit benutzbare Straße über den Niger. 1929 wurden die Barrage des Aigrettes, die Barrage de Damanda über den Niger und der "Canal de Baguinéda" entlang des rechten Ufers zur Bewässerung der Ebene von Baguinéda eröffnet. 1966 wurde an den Kanal das Kraftwerk Centrale hydroélectrique de Sotuba angeschlossen, das Anfang der 2020er Jahre durch einen Neubau ergänzt werden soll. Das Centre Hospitalier Universitaire du Point-G ist das größte Krankenhaus des Landes. In einer Rangliste der Städte nach ihrer Lebensqualität belegte Bamako im Jahre 2018 den 220. Platz unter 231 untersuchten Städten weltweit. Kultur. Im "Musée National du Mali" werden archäologische und ethnologische Sammlungen ausgestellt. Die Sammlung der "Bibliothèque nationale du Mali" umfasst etwa 60.000 Werke. Alle zwei Jahre findet die Fotografieausstellung "Rencontres africaines de la photographie" statt. Seit 2003 wird in Bamako jährlich das Musikfestival Trophées de la musique au Mali ausgetragen. In dessen Verlauf werden die besten Musiker Malis mit den "Tamanis" ausgezeichnet. Sport. Zu den erfolgreichsten Teams des Landes mit zahlreichen nationalen Titeln zählen die Fußballvereine Djoliba AC, Stade Malien und AS Real Bamako. Als Spielstätten dienen unter anderem das 2001 eröffnete und 50.000 Zuschauer fassende "Stade du 26 mars" sowie das "Stade Modibo Keïta" mit 35.000 Plätzen. In beiden Stadien wurden Spiele der Afrikameisterschaft 2002 ausgetragen. Bei der Rallye Paris-Dakar war Bamako mehrmals Etappenort. Städtepartnerschaften. Bamako unterhält folgende Städtepartnerschaften: Kooperationsabkommen ("Coopération décentralisée") bestehen mit
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Kanton Basel-Stadt
Basel-Stadt ( BS; , , ) ist ein Kanton in der Schweiz. Der Hauptort und zugleich einwohnergrösste Ort ist die Stadt Basel. Der Kanton zählt zum Wirtschaftsraum Nordwestschweiz und zur Metropolregion Basel. Der Stadtkanton ist der flächenkleinste und zugleich am dichtesten besiedelte Schweizer Kanton und besteht aus der Stadt Basel sowie den politischen Gemeinden Riehen und Bettingen. Geographie. Der «Halbkanton» Basel-Stadt liegt im Nordwesten der Schweiz. Der Fläche nach ist er der kleinste Kanton, von der Einwohnerzahl her belegt er Platz 15 von 26. Die Gemeinde Basel liegt am Rheinknie, in dem der Birsig in den Rhein mündet und dieser seine Fliessrichtung von Westen in Richtung Norden ändert. Das Rheinknie bildet das südliche Ende der Oberrheinischen Tiefebene. Der Kanton Basel-Stadt grenzt im Süden an den Kanton Basel-Landschaft, im Norden an Deutschland und im Nordwesten an Frankreich. Hinzu kommen die beiden Landgemeinden Riehen und Bettingen nördlich des Rheins. Riehen erstreckt sich entlang des Wiesentals und zählt rund 21'000 Einwohner. Bettingen ist unterteilt in die Ortschaften Bettingen Dorf und St. Chrischona, hat rund 1200 Einwohner und liegt auf einer Anhöhe, deren markantester Punkt der Fernsehturm St. Chrischona ist. Geologie. Basel-Stadt und nächstes Umland siehe auch Riehen#Geologie Das Kantonsgebiet mit Ausnahme des Dinkelbergplateaus um Bettingen befindet sich innerhalb des tektonischen Oberrheingrabens, des 300 km langen Teilstücks einer von Südnorwegen bis in das westliche Mittelmeer ziehenden Grabenzone. Unter den Schottermassen der Rheinebene liegen Sedimente, die sich beim Einsinken des Oberrheingrabens in der Tertiärzeit in diesem ablagerten (ab dem Eozän, hauptsächlich im Oligozän). Diese, teils festländischen, teils marinen Schichten wurden noch in der Tertiärzeit in ein Bruchschollenfeld zerlegt. Einzelne, nicht so weit abgesunkene Schollen überragen die Schotter der Rheinebene. So die Sundgauhügel im Westen und deren Ausläufer, das Bruderholz. Auch der Tüllingerberg ist eine dieser Tertiärschollen. In den Allschwiler Tongruben wurden marine Rupel-Tone ("Meletta-Schichten, „Blaue Letten“") abgebaut, die entstanden, als zeitweise das Meer in den Graben eingedrungen war. Auf diese Tone trafen unter der Schotterdecke auch fast alle Bohrungen in Gross- und Kleinbasel. Den Untergrund des Bruderholzes bilden dagegen hauptsächlich Brack- bis Süsswasserschichten der "Elsässer Molasse", die den Meeresrückzug bezeugen. Den Tüllinger Berg bauen Süsswassersedimente des wieder festländisch gewordenen Grabens auf. Eine Decke von "Löss" und Lösslehm verwehrt weithin den Einblick in diesen tertiären Untergrund. Der Löss ist Feinstmaterial, das während der Kaltzeiten des Eiszeitalters aus den vegetationsarmen Schotterfeldern des Rheins ausgeblasen und im Umland deponiert wurde. Da der Rhein, nachdem er die "Niederterrasse", den würmeiszeitlichen Schotterkörper, aufgeschüttet hatte, sich im Stadtgebiet wiederholt in diesen eintiefte, teils noch in der Eiszeit, teils nacheiszeitlich, weist der Talboden hier unterschiedliche, durch Raine (Terrassenstufen) miteinander verbundene Niveaus auf. Auf dem höchsten Terrassenfeld befinden sich das Gundeldingerquartier und das Gebiet von Bachletten/Schützenmatt/Neubad. Auf einem tieferen Terrassenfeld liegen der Münsterplatz, das St. Albanquartier und der Petersplatz und auf einem noch tieferen das St. Johann- und das Breitequartier. Kleinbasel hat sich auf der untersten, erst nacheiszeitlich entstandenen Ebene, der "Aue" angesiedelt. Auch bei der Wiese lassen sich Niederterrasse und Aue unterscheiden. Der linksufrige, beide verbindende Rain, das 5 bis 10 m hohe "Hochgestade", lässt sich von der Landesgrenze bis zum Hörnli-Friedhof verfolgen. Im Birstal beobachtet man ein breiteres, zwei- bis dreistufiges Niederterrassenfeld links der Flussaue, während rechtsseitig nur schmale Niederterrassenleisten vorhanden sind. Der Birsig hat sich ab dem Dorenbach-Viadukt in die von Rhein aufgeschüttete Niederterrasse eingefurcht und kurz vor seiner etwas verschleppten Mündung den Münsterberg-Sporn geformt. Das Rheinknie ist erst spät in der Nacheiszeit entstanden. Der Rhein nahm noch lange Zeit seinen Weg vom Grenzacher Horn unmittelbar nach Norden. Datierbare Holzfunde in Rheinschottern beim Eglisee belegen, dass dies noch vor 5 800 BP der Fall war. Erst durch die Wiese wurde der Strom nach W in seinen heutigen Lauf abgedrängt. Ältere Schotter, die abgelagert wurden, als die Flüsse sich noch nicht so weit eingetieft hatten, befinden sich deutlich über den heutigen Schotterfeldern. Aus der vorletzten Kaltzeit (Risskaltzeit) stammen die "Hochterrassenschotter" am Fuss des Dinkelbergs im Hörnli-Friedhof. Sie säumen ebenso die unteren Hänge des Bruderholzes von Reinach bis zur Margaretenhöhe und sind auch jenseits des Birsigtales noch anzutreffen. Auch an den Birstalhängen haben sich Hochterrassenschotter erhalten. Noch ältere Schotterreste, "Jüngere Deckenschotter", oft zu Nagelfluh verbacken, lagern in etwa 300 m Höhe z. B. über Binningen und Bottmingen oder südlich und westlich von Allschwil. "Ältere Deckenschotter" haben sich bei Schönenbuch in über 350 m Höhe erhalten. Diese Deckenschotter sind Relikte von Flussablagerungen des frühen Eiszeitalters. Die östliche Begrenzung des Oberrheingrabens wird auf dem Kantonsgebiet durch eine Abbiegezone, eine "Flexur", gebildet. Die Schichten des Dinkelbergs und des Tafeljuras tauchen, nach Westen abbiegend, in die Grabentiefe ab. Die sogenannte "Rheintal-Flexur" setzt, in etwa Nord-Süd-Richtung verlaufend, auf dem Kantonsgebiet am Dinkelberg-Westhang ein, zeigt sich im Hörnli-Steinbruch und zieht weiter ins Birstal (Rütihard–Arlesheim–Angenstein). Die als Schartenfluh sichtbare, horizontal lagernde Korallenkalkplatte (Malm/Oxford) des Gempenplateaus wurde bei der Bildung der Flexur grabenwärts abgebogen und erscheint nun (am oberen Hang bereits erodiert) weiter unten am Hang als mit 45 Grad einfallende Schichtrippe, auf der die Ruinen Dorneck, Birseck und Reichenstein sitzen. Auch die unter diesen Malmkalken liegenden, durch die Erosion freigelegten Hauptrogensteinschichten (Dogger) zeigen eine entsprechende Schrägstellung. Längs- und Querverwerfungen in der Flexur komplizieren deren Bau. Die in der Flexur abgetauchten Schichten steigen weiter westlich wieder auf, bilden also eine Mulde ("Infraflexurmulde" von Tüllingen-St. Jakob). Die Mergel und Kalke des Tüllinger Berges (Chatt) sind die obersten Schichten der tertiären Muldenfüllung, die durch die sich einschneidenden Flüsse Wiese, Kander und Rhein später als Anhöhe „herauspräpariert“ wurde. Bettingen liegt ausserhalb des Oberrheingrabens auf dem Dinkelberg, einer teilweise noch mit Keuper bedeckten Muschelkalktafel. Der tektonische "Bettinger Graben" ist einer der für den Dinkelberg charakteristischen schmalen, N-S streichenden tektonischen Gräben, in denen eingesackter Keuper der Erosion entging. Der Graben gibt sich im Gelände als Einmuldung zwischen Ausserberg und Lauber zu erkennen. Das älteste über Tage anstehende Gestein auf dem Kantonsgebiet ist der Buntsandstein am Maienbühl bis hinunter zur Inzlingerstrasse. Etwa 10 km südlich der Kantonsgrenze findet der Oberrheingraben sein Ende an der Landskronkette und der Blauen-Antiklinale des Faltenjuras. Geschichte. Der Kanton in seinen heutigen Grenzen entstand 1833, als sich vom damaligen Kanton Basel der heutige Kanton Basel-Landschaft im Rahmen der Basler Kantonstrennung abspaltete. Basel-Stadt hatte lange Zeit einen Wiedervereinigungsartikel in der Verfassung, erst mit der Totalrevision 2006 wurde er fallengelassen. Die Verfassung von Basel-Landschaft gebietet Eigenständigkeit. Im Jahre 1969 wurde über eine Wiedervereinigung abgestimmt, die Stimmberechtigten votierten in Basel-Stadt klar dafür, in Basel-Landschaft dagegen. Die Wiedervereinigung war politisch chancenlos. Im September 2014 ist eine weitere Abstimmung zur Fusion beider Basel durchgeführt worden. Wieder hat es in Basel-Stadt ein (diesmal mit 54,9 % allerdings knapperes) Ja gegeben, während in Basel-Landschaft die Fusion erneut klar abgelehnt worden ist (68,3 % Nein). Pragmatischer Ausweg aus diesem Dilemma sind gemeinsame Verwaltungseinheiten und Institutionen und der freiwillige Abgleich von Gesetzen und Verordnungen. Die Geschichte von Basel-Stadt ist grösstenteils mit der Geschichte der den Stadtkanton dominierenden Stadt Basel identisch, siehe dort. Verwaltungsgliederung. Politische Gemeinden. Seit 1908 ist die Gemeinde Kleinhüningen in die Stadt Basel eingemeindet. Nachfolgend aufgelistet sind alle drei politischen Gemeinden per : Bezirke. Nach der Trennung von Basel-Landschaft bestand der Stadtkanton aus zwei Bezirken, dem Stadtbezirk mit der Gemeinde Basel und dem Landbezirk mit den Gemeinden Kleinhüningen, Riehen und Bettingen. Mit der kantonalen Verfassung von 1889 wurde die Ebene der Bezirke aufgehoben. Das Bundesamt für Statistik (BFS) führt den gesamten Kanton jedoch als einen Bezirk unter der BFS-Nr.: 1200. Bevölkerung. Die Bevölkerung des Kantons Basel-Stadt ist sehr heterogen und reflektiert die Geschichte des Kantons als wichtiger Handels- und Industriestandort. Die Bevölkerungsentwicklung ist seit den 1980er-Jahren rückläufig. Die Abwanderung in angrenzende Gemeinden anderer Kantone und der strukturelle Verlust von Arbeitsplätzen mit dem Wandel in der industriellen Produktion zählen zu den wichtigen Gründen hierfür. Per betrug die Einwohnerzahl des Kantons Basel-Stadt . Die Bevölkerungsdichte liegt mit  Einwohnern pro Quadratkilometer annähernd bei dem 26fachen des Schweizer Durchschnitts ( Einwohner pro Quadratkilometer). Der Ausländeranteil (gemeldete Einwohner ohne Schweizer Bürgerrecht) bezifferte sich am auf  Prozent, während landesweit  Prozent Ausländer registriert waren. Per betrug die Arbeitslosenquote  Prozent gegenüber  Prozent auf eidgenössischer Ebene. Religionen – Konfessionen. Die früher dominante protestantische Bevölkerung ist von 85'000 im Jahr 1980 auf 27'000 per Ende 2017 zurückgegangen. Die Zahlen sind allerdings verschieden zu interpretieren. Für öffentlich-rechtlich anerkannte Gemeinschaften (Protestanten, Katholiken, Juden und Christkatholiken) wird die institutionelle Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft gezählt; für Muslime, «Andere» und Anhänger von Ostkirchen (wie Serbisch-Orthodoxe oder Griechisch-Orthodoxe) die Glaubenszugehörigkeit (Stand Ende 2010). 2019 wurde schweizweit die höchste Quote an Kirchenaustritten verzeichnet. Im Vergleich zu einer landesweiten durchschnittlichen Austrittsrate von 1,1 Prozent stand damals der Kanton Basel-Stadt an der Spitze mit einer Austrittsquote von 4,9 Prozent. Verfassung. Die Stimmberechtigten des Kantons Basel-Stadt haben die aktuelle Kantonsverfassung am 30. Oktober 2005 angenommen. Diese trat am 13. Juli 2006 in Kraft und löste die Verfassung vom 2. Dezember 1889 ab. Direktdemokratische Volksrechte. 3000 Stimmberechtigte können eine ausformulierte "(formulierte)" oder allgemein gehaltene "(unformulierte)" Volksinitiative einreichen, die eine Änderung der Verfassung oder eine Änderung, den Erlass oder die Aufhebung eines Gesetzes oder eines referendumsfähigen Grossratsbeschlusses betrifft. Zwingend der Volksabstimmung unterstehen alle Verfassungsänderungen, alle formulierten Volksinitiativen sowie alle unformulierten Volksinitiativen, denen der Grosse Rat nicht zustimmt "(obligatorisches Referendum)". 2000 Stimmberechtigte können eine Volksabstimmung über einen Beschluss des Grossen Rates verlangen, der den Erlass, die Änderung oder die Aufhebung eines Gesetzes oder aber eine Ausgabe in gewisser, vom Gesetz festgelegter Höhe betrifft "(fakultatives Referendum)". Legislative – Grosser Rat. Das Parlament des Kantons nennt sich Grosser Rat. Es umfasst 100 Mitglieder, die jeweils nach dem Proporzwahlverfahren für eine Amtsperiode von vier Jahren gewählt werden. "Die Ergebnisse der Wahlen zum Grossen Rat sei 1902 finden sich im Artikel Ergebnisse der Parlamentswahlen im Kanton Basel-Stadt." Exekutive – Regierungsrat. Der Regierungsrat wird nach dem Majorzwahlverfahren auf jeweils vier Jahre gewählt. Anders als in den meisten andern Kantonen, die ein rotierendes System kennen, wird das Regierungspräsidium vom Volk und für die ganze vierjährige Legislaturperiode gewählt. Judikative. Oberste Gerichtsinstanz in Basel-Stadt ist das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt als Appellationsgericht. Es ist zugleich kantonales Verwaltungsgericht und kantonales Verfassungsgericht und übt die Aufsicht über die erstinstanzlichen Gerichte aus. Dem Appellationsgericht untergeordnet sind das Zivilgericht, das Strafgericht, das Jugendstrafgericht und das Sozialversicherungsgericht. Gemeinden. Schweizweit eine Besonderheit ist, dass fast alle Geschäfte der Gemeinde Basel vom Kanton Basel-Stadt geführt werden. Damit sind Parlament, Regierung und Verwaltung des Kantons auch direkt für die Stadtgemeinde zuständig. Riehen und Bettingen verfügen dagegen über selbständige Gemeindeorgane. Ausserhalb der kantonalen Verwaltung liegen einige soziale Institutionen wie das Bürgerspital Basel oder das bürgerliche Waisenhaus, die traditionell durch die Bürgergemeinde der Stadt Basel verwaltet werden. Der Kanton Basel-Stadt ist einer der wenigen Kantone in der Schweiz, in dem für Einbürgerungen die Bürgergemeinden zuständig sind. Die Legislative der Bürgergemeinde Basel ist der Bürgergemeinderat, dessen Mitglieder die Bürgergemeinderäte sind, sein Präsident ist der Bürgergemeinderatspräsident. Die Exekutive heisst Bürgerrat, seine Mitglieder sind die Bürgerräte, sein Präsident ist der Bürgerratspräsident. Religionsgemeinschaften. Durch die Verfassung öffentlich-rechtlich anerkannt sind die evangelisch-reformierte, die römisch-katholische und die christkatholische Kirche sowie die israelitische Gemeinde. Sie ordnen ihre inneren Verhältnisse selbständig und geben sich eine Verfassung, die vom Regierungsrat genehmigt werden muss. Im Zuge der Trennung von Kirche und Staat wurden die vier öffentlich-rechtlich anerkannten Religionsgemeinschaften mit der Befugnis ausgestattet, selbständig bei ihren Mitgliedern Kirchensteuern einzuziehen. Nachdem die zuletzt hierfür verwendete Softwarelösung vom Hersteller nicht mehr unterstützt wurde und für eine neue Lösung sehr hohe Kosten angefallen wären, ersuchten die Einwohnergemeinde Bettingen und die vier Religionsgemeinschaften den Kanton Basel-Stadt darum, dass künftig wie in den meisten anderen Kantonen der Schweiz sowie in Deutschland die staatliche Steuerverwaltung für die Religionsgemeinschaften die Steuern einzieht (gegen Abgeltung). Der Grosse Rat des Kantons Basel-Stadt trat auf das Ersuchen ein und beschloss im November 2018 eine entsprechende Änderung des Steuergesetzes, wogegen allerdings das Referendum ergriffen wurde. In der kantonalen Abstimmung vom 19. Mai 2019 hiess eine Mehrheit der Stimmenden jedoch die Gesetzesänderung gut. Politik. Parteiensystem. Basel-Stadt verfügt heute über ein heterogenes Mehrparteiensystem mit fragmentierten Flügeln auf beiden Seiten des politischen Spektrums. Neben den im Basler Grossen Rat, dem Kantonsparlament, vertretenen Parteien Grünes Bündnis, SP, CVP, EVP, FDP, LDP, glp und SVP sind noch weitere Parteien wie auch einzelne parteiunabhängige Politiker aktiv. Der Kanton Basel-Stadt ist der einzige Deutschschweizer Kanton, in dem die ehemalige Liberale Partei der Schweiz (LPS, in Basel die "Liberaldemokratische Partei", LDP) noch eine Rolle spielt, diese gilt dort als Partei des «Daigs», der traditionellen Basler Elite. Lange Zeit war Basel eine sozialdemokratische Hochburg. In den 1930er-Jahren stellten Sozialdemokraten und Kommunisten zusammen sogar die Mehrheit, diese Zeit ging als «rotes Basel» in die Geschichte ein. In der Zeit des Kalten Kriegs dominierten jedoch auch in Basel die bürgerlichen Kräfte. In der Gegenwart kann weder das rot-grüne noch das bürgerliche Lager eine absolute Mehrheit beanspruchen. In der Grossratswahl 2012 erreichten beide Lager gleich viele Sitze, wobei der Einzug der rechtspopulistischen «Volks-Aktion gegen zu viele Ausländer und Asylanten in unserer Heimat» ins Kantonsparlament Aufsehen erregte. Bei den Nationalratswahlen 2003 erreichte die Linke in Basel-Stadt (als einziger Schweizer Kanton) die absolute Mehrheit der Stimmen, ebenso anlässlich der Nationalratswahlen vom November 2007. Integrationspolitik. Viel Beachtung in der Politik findet das Basler Integrationsmodell von Thomas Kessler. Vertreter von Basel-Stadt in der Bundesversammlung. Basel-Stadt entsendet fünf Vertreter in den Nationalrat: Basel-Stadt entsendet als Kanton mit halber Standesstimme einen Vertreter in den Ständerat: Internationale Partnerschaften. Zwischen dem Kanton Basel-Stadt und dem US-Bundesstaat Massachusetts wurde am 20. Juni 2002 eine Partnerschaft mittels «Sister-State Agreement» begründet. Der Kanton Basel-Stadt und die japanische Präfektur Toyama pflegen seit 2006 einen Austausch, der mit Abkommen in den Jahren 2009 und 2018 formalisiert wurde. Wirtschaft. Im Kanton Basel-Stadt sind die chemische und pharmazeutische Industrie sowie der Handel von nationaler Bedeutung. Als Finanzplatz hat Basel noch eine gewisse Bedeutung hinter Zürich und Genf. Das Wirtschaftsleben konzentriert sich auf die Gemeinde Basel (Details siehe dort). Im Jahr 2020 wurde 40,8 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche des Kantons durch vier Betriebe biologisch bewirtschaftet. Tourismus. Touristisch ist Basel sehr gut erschlossen: Unterkünfte jeder Preisklasse, von Jugendherbergen bis zu historisch bedeutsamen Luxushotels wie dem Hotel Les Trois Rois, bieten zahlreiche Unterkunftsmöglichkeiten, und "Basel Tourismus", die halbstaatliche Organisation zur Förderung von Tourismus in Basel, unterhält nicht nur Informationsstellen, sondern bietet auch ein breites Angebot an Ausflügen und anderen Dienstleistungen an. Basel birgt eine Fülle von Sehenswürdigkeiten, darunter die Altstadt, das Basler Münster, den Fernsehturm St. Chrischona sowie zahlreiche neuere Bauwerke von bedeutenden Architekten. Weiter ziehen der Zoo Basel, der grösste zoologische Garten der Schweiz, das Dreiländereck Deutschland-Frankreich-Schweiz und die zahlreichen Museen oder Anlässe wie die Basler Fasnacht viele Besucher an. Auch unter Kunstliebhabern ist Basel seit Jahrzehnten ein Begriff: Neben weltbekannten Sammlungen der Fondation Beyeler, des Tinguely-Museums, oder des Basler Kunstmuseums lockten die zahlreichen Sonderausstellungen der Museen und natürlich die Art Basel, eine der weltweit wichtigsten Kunstmessen, jedes Jahr Zehntausende Besucher nach Basel. Verkehr. Strassenverkehr. Basel ist Drehkreuz des Strassenverkehrs Nord-Süd von Frankreich und Deutschland durch die Schweiz. Die Autobahn A3 von Frankreich gelangt über die Nordtangente zur Stadtautobahn A2, der sogenannten Osttangente, welche den Verkehr von Deutschland durch die Stadt Richtung Süden leitet. Ausserhalb der Stadt trennen sich darauf die beiden Zweige wieder. Die A2 führt weiter zum Gotthard bzw. nach Bern und die A3 nach Zürich. Am 9. Februar 2020 stimmte die Stimmbevölkerung von Basel-Stadt für einen möglichst umweltfreundlichen Verkehr ab 2050. Im Jahr 2022 lag der Motorisierungsgrad (Personenkraftwagen pro 1000 Einwohner) bei 325. Flugverkehr. Der binationale Flughafen Basel Mulhouse Freiburg («EuroAirport») liegt vollständig auf französischem Territorium, ist jedoch in einen französischen und einen schweizerischen Sektor aufgeteilt. Der letztere ist mit einer zolltechnisch exterritorialen Strasse, einer sogenannten Zollfreistrasse, mit der Schweiz verbunden, die unter dem Namen «Flughafenstrasse» in Basel beginnt. Bahnverkehr. Der Kanton Basel-Stadt besitzt drei internationale Bahnhöfe. Der Schweizer Bahnhof Basel SBB und der französische Bahnhof Basel SNCF befinden sich beide in einem Gebäude, südlich des Stadtzentrums auf Grossbasler Seite. Wer vom Schweizer Bahnhof zum französischen möchte, hat eine Zollgrenze zu passieren. Der von der Deutschen Bahn betriebene Badische Bahnhof befindet sich auf Kleinbasler Seite und ist ebenfalls zolltechnisch von der Schweiz getrennt. Dieser Bahnhof wird vor allem von Reisenden aus Deutschland benutzt, die zwischen Hochrheinstrecke, Wiesentallinie (Linie S6 der S-Bahn Basel zwischen Basel SBB–Lörrach–Zell im Wiesental) und Oberrheinbahn umsteigen und dabei Schweizer Gebiet passieren müssen. Im Weiteren existieren vier Lokalbahnhöfe. "St. Jakob" befindet sich an der Bözberglinie bzw. Hauensteinlinie nach Muttenz; bislang jedoch halten Züge hier nur bei Grossereignissen im St. Jakob-Park. Die Station "Dreispitz" an der Juralinie (im Mai 2006 eröffnet) soll den Bahnhof SBB von Pendlerströmen vor allem in und aus Richtung Birsigtal entlasten. Einen ähnlichen Status wie den des Badischen Bahnhofs haben die Stationen "St. Johann" an der SNCF-Strecke nach Mülhausen sowie "Riehen Niederholz" und "Riehen" an der deutschen Wiesentallinie. Alle drei Stationen liegen auf Schweizer Territorium, sind hingegen zolltechnisch französisches bzw. deutsches Hoheitsgebiet. Schifffahrt. Auch über den Fluss Rhein ist Basel an den Rest der Schweiz und der Nachbarländer angeschlossen. So befährt die Schifffahrtsgesellschaft Basel den Rhein hinauf nach Rheinfelden. Basel ist zugleich der Heimathafen diverser Reedereien, welche von hier aus Kreuzfahrten auf dem Rhein sowie zum Main und zur Mosel anbieten. Daneben ist Basel der Heimathafen der Schweizerischen Hochseeschifffahrt. Ein wichtiger Stützpfeiler der Schweizer Wirtschaft ist die Basler Rheinschifffahrt mit ihren Rheinhäfen Kleinhüningen, St. Johann und Birsfelden. Nahverkehr. Der innerstädtische Verkehr sowie die Feinerschliessung der näheren Umgebung erfolgen mit einem ausgedehnten Tramnetz, ergänzt durch zahlreiche Buslinien der Basler Verkehrs-Betriebe, der Baselland Transport AG und der Autobus AG Liestal und einiger weiterer Unternehmen. Bildung. In den 1990er-Jahren und erneut in den 2010er-Jahren mit der Schulharmonisierung wurde das gesamte öffentliche Schulsystem reformiert. Der zweijährige Kindergarten ist seit August 2005 obligatorisch. Die offizielle Schulzeit, die Volksschule, beginnt mit dem Kindergarten, dauert elf Jahre und beginnt ab dem fünften Lebensjahr. In Abhängigkeit vom genauen Geburtsdatum kann die Einschulung um ein Jahr hinausgeschoben werden.
612
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https://de.wikipedia.org/wiki?curid=612
Beton
Beton ("IPA:" [], ; [], ; österr. und z. T. bayr. [], ; schweiz. und alem. 1. Silbe betont [], vom gleichbedeutenden franz. Wort "béton",) ist ein Baustoff, der als Dispersion unter Zugabe von Flüssigkeit aus einem Bindemittel und Zuschlagstoffen angemischt wird. Der ausgehärtete Beton wird in manchen Zusammenhängen auch als Kunststein bezeichnet. Normalbeton enthält Zement als Bindemittel und Gesteinskörnung (früher "Zuschlag") als Zuschlagstoff. Das Zugabewasser (früher "Anmachwasser") leitet den chemischen Abbindevorgang, d. h. die Erhärtung ein. Um die Verarbeitbarkeit und weitere Eigenschaften des Betons zu beeinflussen, werden der Mischung Betonzusatzstoffe und Betonzusatzmittel beigemengt. Das Wasser wird zum größten Teil chemisch gebunden. Die vollständige Trocknung des Gemischs darf daher erst nach der Erhärtung erfolgen. Frischer Beton kann als "Zweistoffsystem" aus flüssigem "Zementleim" und festem Zuschlag angesehen werden. Zementleim härtet zu "Zementstein". Dieser bildet die "Matrix", welche die Gesteinskörnung umgibt. Beton wird heute überwiegend als Verbundwerkstoff in Kombination mit einer zugfesten Bewehrung eingesetzt. Die Verbindung mit Betonstahl oder Spannstahl ergibt Stahlbeton bzw. Spannbeton. Neuere Entwicklungen sind Faserbeton mit Zugabe von Stahl-, Kunststoff- oder Glasfasern, sowie Textilbeton, der Gewirke (Textil) aus alkaliresistentem "AR-Glas" oder Kohlenstofffasern enthält. Als problematisch gilt bislang der Einfluss der Betonproduktion auf die Umwelt. Die Betonindustrie gehört zu den Hauptverursachern von Treibhausgasen, die die globale Erwärmung bewirken. Die Betonproduktion ist für etwa 6 bis 9 % aller menschengemachten CO2-Emissionen verantwortlich, was dem Drei- bis Vierfachen der Größenordnung des gesamten Luftverkehrs entspricht. Es werden weltweit erhebliche Mengen Wasser, Kies, Zement und Sand für die Herstellung von Beton verbraucht. Das globale Vorkommen an geeignetem Sand wird vor allem durch die Betonherstellung immer knapper. Grundlegende Eigenschaften und Verwendung. Normalbeton hat üblicherweise eine Druckfestigkeit von wenigstens 20 Newton pro Quadratmillimeter (N/mm²). Beton mit geringerer Festigkeit wird zur Herstellung von "Sauberkeitsschichten", Verfüllungen sowie im Garten- und Landschaftsbau verwendet. Hochleistungsbeton erreicht Festigkeiten von über 150 N/mm². Unbewehrter Beton kann nur geringe Zugspannungen aufnehmen, ohne zu reißen, da seine Zugfestigkeit nur rund ein Zehntel seiner Druckfestigkeit beträgt. Zugspannungen werden daher üblicherweise durch eingelegte Stäbe oder Matten aus Bewehrungsstahl aufgenommen, die eine Zugfestigkeit von über 400 N/mm² besitzen. Diese Kombination hat sich aus mehreren Gründen als vorteilhaft erwiesen: Typische Einsatzgebiete von Stahlbeton: Unbewehrter Beton wird für Schwergewichtswände, gebogene Gewichtsstaumauern und andere kompakte, massive Bauteile verwendet, die überwiegend auf Druck belastet werden. Größere Zugspannungen müssen entweder konstruktiv vermieden werden oder es darf von einem Bruch des Materials keine Gefährdung ausgehen. Dies ist beispielsweise bei kleineren vorgefertigte Elementen wie Blocksteinen für den Mauerwerksbau oder (Waschbeton-)Platten im Gartenbau der Fall. Auf Grund geringer Kosten, beliebiger Formbarkeit und vergleichsweise hoher Dichte von etwa 2400 kg/m³ wird Beton auch für Gegengewichte an Kränen und für Wellenbrecher verwendet. Zu beachten ist das Schwinden des Bauteil-Volumens bei Austrocknung sowie durch chemische Vorgänge. Das Schwindmaß ist dabei abhängig von der Zusammensetzung des Ausgangsmaterials. Ein gewisses Kriechen tritt bei allen belasteten Bauteilen auf und bezeichnet die mit der Zeit zunehmende Verformung unter Belastung. Unterscheidungsmerkmale. Beton lässt sich anhand verschiedener Merkmale unterscheiden. Gebräuchlich sind Unterscheidungen nach Ebenso wie Beton ist Mörtel ein Gemisch aus einem Bindemittel, Gesteinskörnung und Zusatzstoffen bzw. -mitteln. Der Unterschied besteht in der Größe des Zuschlags, der bei Mörtel höchstens 4 mm im Durchmesser aufweisen darf. Eine Überschneidung besteht bei Spritzputzen und Mauermörteln, die in besonderen Fällen ein Größtkorn von bis zu 16 mm enthalten können, sowie bei Estrich, der im Regelfall mit 8 mm Körnung angemischt wird. Geschichte. Urgeschichte und Antike. Dauerhafter Kalkmörtel als Bindemittel konnte schon an 10.000 Jahre alten Bauwerksresten in der heutigen Türkei nachgewiesen werden. Gebrannten Kalk verwendeten die Ägypter beim Bau der Pyramiden. In der zweiten Hälfte des 3. vorchristlichen Jahrhunderts wurde in Karthago oder Kampanien eine Betonmischung aus Zement und Ziegelsplittern entwickelt. Diese wurde gegen Ende des Zweiten Punischen Krieges erstmals beim Bau von Wohngebäuden in Rom verwendet. Die Römer entwickelten aus dieser Betonmischung in der Folgezeit das Opus caementitium ("opus" = Werk, Bauwerk; "caementitium" = Zuschlagstoff, Bruchstein), aus dessen Namen das Wort Zement abgeleitet ist. Dieser Baustoff, auch als römischer Beton oder Kalkbeton bezeichnet, bestand aus gebranntem Kalk, Wasser und Sand, dem "mortar" (Mörtel), gemischt mit Ziegelmehl und Vulkanasche, und zeichnete sich durch eine hohe Druckfestigkeit aus. Damit wurden unter anderem die Aquädukte und die Kuppel des Pantheons in Rom hergestellt, die einen Durchmesser von 43 Metern hat und bis heute erhalten ist. Eine wesentliche Verbesserung, die von den Römern entwickelt wurde, war die Verwendung inerter Zuschlagsstoffe, die hauptsächlich aus Resten von gebranntem Ziegelmaterial bestanden und die Eigenschaft besitzen, bei Temperaturänderungen keine Risse zu bilden. Dies kann noch heute an Orten in Nordafrika (z. B. Leptis Magna, Kyrene) beobachtet werden, wo es große Estrichflächen gibt, die etwa um 200–300 n. Chr. ausgeführt wurden und die trotz großer Temperaturdifferenzen zwischen Tag und Nacht noch heute völlig frei von Rissen sind. Neuzeit. Das Wort Beton ist übernommen aus gleichbedeutendem französisch "béton", dieses aus altfranzösisch "betun" (Mörtel, Zement), abgeleitet von lateinisch "bitumen" (schlammiger Sand, Erdharz, Bergteer, Kitt). Bernard de Bélidor beschreibt die Herstellung und Verwendung von Beton in seinem Standardwerk "Architecture hydraulique" (Bd. 2, Paris 1753). Das Wort erscheint dann auch in der deutschen Übersetzung "Architectura hydraulica" (Bd. 2, Augsburg 1769). Die Entwicklung des Betons in der Neuzeit begann 1755 mit dem Engländer John Smeaton. Dieser führte, auf der Suche nach einem wasserbeständigen Mörtel, Versuche mit gebrannten Kalken und Tonen durch und stellte fest, dass für einen selbsterhärtenden (hydraulischen) Kalk ein bestimmter Anteil an Ton notwendig ist. Drei Erfindungen leiteten letztlich den modernen Betonbau ein: Zunächst wurde der Beton noch nicht armiert, sondern als Stampfbeton, ähnlich dem Pissébau, verwendet. Das älteste und auch erhaltene Gebäude in dieser Technik ist die Villa Lebrun in Marssac-sur-Tarn, die der Bauingenieur François Martin Lebrun für seinen Bruder errichtete. Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden in Deutschland die ersten aus Beton errichteten Wohngebäude wie die Bahnwärterhäuser der Oberschwäbischen Eisenbahn, einige Mietshäuser der Berliner Victoriastadt und die Villa Merkel. Ein wesentlicher Entwicklungssprung war die Erfindung des Stahlbetons durch Joseph Monier (Patent: 1867), durch den die Herstellung auf Zug belasteter Bauelemente möglich wurde, wie etwa Platten und Unterzüge. Zurückgreifend auf Joseph Monier wird Bewehrungsstahl oder Betonstahl auch heute noch gelegentlich als Moniereisen bezeichnet. Beton wird in der zeitgenössischen Kunst auch für Denkmäler oder Skulpturen verarbeitet („Kunststein“). Klima- und Umweltauswirkungen. Umweltprobleme. CO2-Emissionen. Die Betonproduktion ist für etwa 6 bis 9 % aller menschengemachten CO2-Emissionen verantwortlich. Dies hat zwei Hauptgründe: das Brennen des für die Betonherstellung benötigten Zements ist sehr energieaufwendig, der größere Teil des freigesetzten Kohlendioxids löst sich jedoch während des Brennvorganges als geogenes CO2 aus dem Kalkstein. Weltweit werden jährlich 4,1 Milliarden Tonnen Zement hergestellt, der im Mittel etwa 60 % CaO enthält. Damit ergibt sich durch das Freisetzen des im Kalk gebundenen Kohlendioxids selbst bei optimaler Prozessführung ein Ausstoß von mindestens zwei Milliarden Tonnen CO2 oder 6 % des weltweiten jährlichen CO2-Ausstoßes. In der Schweiz sind es sogar 9 % aller menschengemachten Emissionen. Weltweit werden eine Reihe von Ansätzen verfolgt, um die Emissionen der Zementherstellung zu begrenzen: Forscher entwickelten 2020 einen Beton-ähnlichen Werkstoff ("living building material", LBM), der bei seiner Produktion kein Kohlenstoffdioxid (CO2) freisetzt. Stattdessen wird das Treibhausgas sogar gebunden. Der Werkstoff geht von einer Mischung aus Sand und Gelatine aus, in der Bakterien (Gattung: Synechococcus) das Treibhausgas mittels Photosynthese in Form von Calciumcarbonat (CaCO3) mineralisieren. Der Werkstoff ist ähnlich stabil wie gewöhnlicher Mörtel (Festigkeit: ∼3.5 MPa, dies entspricht der Mindestfestigkeit von Portlandzementbasis). Die Forscher sehen das Material nicht als vollständigen Ersatz für Zement, sondern mögliche Einsatzzwecke beispielsweise in Strukturen mit geringer Belastung wie Pflaster, Fassaden und temporäre zivile sowie militärische Strukturen. Interessanterweise konnte mittels Einstellen von Temperatur und Feuchtigkeit die Stoffwechselaktivität der Mikroorganismen kontrolliert werden. In der Studie lebten in dem festen Material nach 30 Tagen bei 50 % relativer Luftfeuchtigkeit noch 9 bis 14 % der Mikroorganismen. Sand- und Kies-Abbau. Für Sand besteht eine weltweit hohe Nachfrage, da er neben Wasser, Kies und Zement einer der Hauptbestandteile von Beton ist. Der weltweite Abbau von Sand für die Bauwirtschaft und insbesondere die Betonproduktion führt zu einer Verknappung des Rohstoffes. 95 Prozent des weltweit vorhandenen Sands, insbesondere Wüstensand, sind allerdings schlecht für die Betonherstellung geeignet, da die Körner zu fein sind. Anders als früher vermutet, spielt die abgeschliffene Form der Körner keine nennenswerte Rolle. Dem Wüstensand fehlen hingegen die Mittel- und Grobsandteile, welche im Beton als Stützkorn essentiell sind. Ein gewisser Prozentsatz des Sand- und Kiesanteils lässt sich durch den beim Recycling von Beton gewonnenen Betonbruch ersetzen (siehe Recyclingbeton). 2018 wurde ein Verfahren patentiert, welches die Verwendung von Wüstensand und Feinsand erlaubt. Der Sand wird in einem Mahlwerk zu Steinmehl verarbeitet, das anschließend mit mineralischen Bindemitteln zu einem Granulat vermengt wird. Hieraus lässt sich besonders belastbarer Beton herstellen, der zudem 40 % weniger Zement benötigt. Die Verwendung von Wüstensand lohnt sich in Europa nicht, da die Transportkosten oft ab ca. 50 km den Materialwert übersteigen. Allein in Deutschland fallen jedoch pro Jahr hunderttausende Tonnen bislang ungenutzten Feinsands an. Im Frühjahr 2020 sollten zwei erste Anlagen in Saudi-Arabien und in Ägypten in Betrieb genommen werden. 2019 prüfte das Institut für Angewandte Bauforschung (IAB) in Weimar den Baustoff. Im Erfolgsfall könnte auf Basis eines zertifizierten Prüfberichts des Instituts für Angewandte Bauforschung das Deutsche Institut für Bautechnik derartigen Beton zur Verwendung in Deutschland freigeben. Frischbeton. Als Frischbeton wird der noch nicht erhärtete Beton bezeichnet. Der Zementleim, also das Gemisch aus Wasser, Zement und weiteren feinkörnigen Bestandteilen ist noch nicht abgebunden. Dadurch ist der Frischbeton noch verarbeitbar, das heißt formbar und zum Teil fließfähig. Während des Abbindens des Zementleims wird der Beton als junger Beton oder grüner Beton bezeichnet. Nachdem der Zementleim abgebunden hat, wird der Beton Festbeton genannt. Bestandteile und Zusammensetzung. Die Zusammensetzung eines Betons wird vor der industriellen Herstellung in einer Betonrezeptur nach Norm festgelegt, die durch Erfahrungswerte und Versuche angepasst wird. Die Zusammensetzung richtet sich insbesondere nach der gewünschten Festigkeitsklasse, den Umweltbedingungen denen das spätere Bauteil ausgesetzt sein wird und der gewünschten Verarbeitbarkeit, bei Sichtbeton auch nach dem optischen Erscheinungsbild. Dementsprechend werden Zement, Wasser, Gesteinskörnung, Betonzusatzstoffe und Betonzusatzmittel in einem bestimmten Verhältnis vermischt. Zur Herstellung eines Kubikmeters Beton der Festigkeitsklasse C25/30 werden ungefähr 300 kg Zement, 180 l Wasser sowie 1890 kg Zuschläge benötigt. Um die genauen Festbetoneigenschaften abzuschätzen, reichen diese Angaben nicht aus. Sowohl der Zement als auch die Zuschläge können je nach gewähltem Produkt die Festigkeit erheblich beeinflussen. Zur Herstellung von kritischen Bauteilen müssen die Eigenschaften der Ausgangsstoffe bekannt und das Mischungsverhältnis durch Messung von Gewicht oder Volumen genau bestimmt werden können. Bei der nicht-industriellen Herstellung wie auf Kleinbaustellen wird in der Regel auf das Abwiegen der Bestandteile verzichtet. Mischvorgang. Der Wasser-Zement-Wert ist für die Festigkeit und Dichtigkeit von überragender Bedeutung. Von der Dichtigkeit hängt wiederum die Dauerhaftigkeit von Beton ab, der korrosiven Einflüssen ausgesetzt ist. Dies betrifft Stahlbeton, welcher der Witterung ausgesetzt ist. Auch Grundwasser kann korrosive Stoffe beinhalten. Typischerweise wird zunächst das Anmachwasser mit dem zugehörigen Zementanteil zum "Zementleim" vorgemischt. Meist wird bereits eine gewisse Menge Kies hinzugefügt, um das Vermischen des Zementpulvers mit dem Wasser zu beschleunigen. Wenn es auf den verwendeten Sand oder poröse Zuschläge zuvor geregnet hat, erhöht sich deren Feuchtigkeitsgehalt so deutlich, dass dies beim Mischungsverhältnis zu berücksichtigen ist. Bei Verwendung von feuchten Zuschlägen empfiehlt es sich, einen Anteil des abgemessenen Anmachwassers zurückzuhalten, um die so eingebrachte Feuchte auszugleichen. Beim manuellen Anmischen wird in einem zweiten Schritt dann nach und nach die Menge an Zuschlag hinzugefügt, die nötig ist, um die gewünschte Konsistenz zu erreichen. Konsistenz. Die Konsistenz des Frischbetons beschreibt wie fließfähig bzw. steif der Frischbeton ist. Sie ist vorab entsprechend zu wählen, sodass der Beton ohne wesentliche Trennung der gröberen und feineren Bestandteile gefördert, eingebaut und praktisch vollständig verdichtet werden kann. Die dafür maßgebende Frischbetoneigenschaft ist die Verarbeitbarkeit. Die Frischbetonkonsistenz ist vor Baubeginn festzulegen und während der Bauausführung einzuhalten. Die genormten Konsistenzbereiche erstrecken sich von „(sehr) steif“, über „plastisch“, „weich“ und „sehr weich“ bis hin zu „(sehr) fließfähig“. An die Konsistenzbereiche sind Messwerte geknüpft, die mit genormten, baustellengerechten Verfahren, wie dem Ausbreitversuch, dem Setzversuch und dem Verdichtungsversuch geprüft und kontrolliert werden können. Das nachträgliche Zumischen von Wasser zum fertigen Frischbeton, z. B. bei Ankunft auf der Baustelle, verbessert zwar die Fließeigenschaften, ist nach den deutschen Vorschriften allerdings unzulässig, da dadurch der Wasserzementwert (w/z-Wert) und in der Folge die Festbetoneigenschaften negativ beeinflusst werden. Einem Transportbeton darf vor Ort aber Fließmittel beigemischt werden, um die Verarbeitbarkeit zu verbessern. Die zulässige Höchstmenge liegt bei 2 l/m³, was aus einem plastischen Beton einen leicht fließfähigen Beton macht. Die Einbaubedingungen legen die nötige Konsistenz fest. Für Bauteile mit komplizierten Geometrien oder hohen Bewehrungsgraden ist tendenziell ein eher fließfähigerer Beton vonnöten. Auch die Förderung des Frischbetons bestimmt die benötigte Konsistenz. Soll ein Beton beispielsweise mit einer Betonpumpe gefördert werden, sollte die Betonkonsistenz mindestens im plastischen Bereich, d. h. Ausbreitmaßklasse F2, besser F3, liegen. Einbau und Verdichtung. Beton ist schnellstmöglich nach dem Mischen bzw. der Anlieferung einzubauen und mit geeigneten Geräten zu verdichten. Durch das Verdichten werden die Lufteinschlüsse ausgetrieben, damit ein dichtes Betongefüge mit wenigen Luftporen entsteht. Rütteln, Schleudern, Stampfen, Stochern, Spritzen und Walzen sind je nach Betonkonsistenz und Einbaumethode geeignete Verdichtungsverfahren. Als Verdichtungsgerät kommt auf Baustellen des Hochbaus heutzutage in der Regel der Innenrüttler (auch „Flaschen-“ oder „Tauchrüttler“ genannt) zum Einsatz. Bei der Herstellung hoher Bauteile oder bei sehr enger Bewehrung können auch Außenrüttler („Schalungsrüttler“) verwendet werden. Beim Einbau von Beton für Straßen oder Hallenböden ist eine Verdichtung mit Hilfe von Rüttelbohlen üblich. Rütteltische werden im Fertigteilwerk benutzt. Bereits beim Einbau ist darauf zu achten, dass sich der Beton nicht entmischt, d. h., dass sich größere Körner unten absetzen und sich an der Oberfläche eine Wasser- oder Wasserzementschicht bildet. Frischbeton darf deshalb nicht aus größerer Höhe in die Schalung fallen gelassen werden. Durch Rutschen, Fallrohre oder Schläuche ist der Beton bis in die Schalung zu leiten, sodass die maximale freie Fallhöhe nicht mehr als 1,5 m beträgt. Um anschließend gut verdichten zu können, muss der Beton außerdem in Lagen von höchstens 50 cm Höhe eingebaut werden. Erst nach der Verdichtung einer Lage folgt die nächste. Ein Entmischen, sodass sich an der Oberfläche eine wässrige Zementschlämme bildet, kann sich auch bei einer zu großen Rütteldauer einstellen. Das Absondern von Wasser an der Betonoberfläche nach dem Einbau wird auch als „Bluten“ bezeichnet. Die Entmischung wirkt sich insbesondere nachteilig auf die Festigkeit und Dauerhaftigkeit des Betons aus. Bei richtiger Verdichtung und passender Konsistenz bildet sich an der Oberfläche nur eine dünne Feinmörtelschicht. Im restlichen Betonkörper sind die Gesteinskörner annähernd gleichmäßig verteilt. Beim Einbau des Frischbetons sollte die Betontemperatur zwischen +5 °C und +30 °C liegen, anderenfalls sind besondere Maßnahmen erforderlich. Im Winter kann dies z. B. das Heizen der Schalung mit Gebläsen sein. Im Sommer ist gegebenenfalls eine Kühlung des Betons notwendig. Nachbehandlung. Der Schutz der Betonoberfläche gegen frühzeitige Austrocknung ist zur Erzielung einer rißfreien, dichten und dauerhaften Betonoberfläche erforderlich. Die Hydratation des Zements findet nur in feuchtem Milieu statt. Sonneneinstrahlung und Wind bewirken ein schnelles Austrocknen der Oberfläche. Zur Vermeidung von Schwindrissen ist der Beton im Sommer über mehrere Tage feuchtzuhalten, indem er geflutet oder regelmäßig mit Wasser besprüht wird. Alternativ kann die Verdunstung auch durch das Belassen der Betonschalung, durch das Abdecken der Oberfläche oder durch den Auftrag von filmbildenden Beschichtungen "(Curingmittel)" eingeschränkt werden. Im Winter ist die Oberfläche zusätzlich vor Frost zu schützen. Die notwendige Zeitdauer der Nachbehandlung kann je nach Betoneigenschaften und Umweltbedingungen zwischen einem Tag und mehreren Wochen betragen. Grundsätzlich sollte so früh wie möglich mit der Nachbehandlung begonnen und diese möglichst lange beibehalten werden. Über die Messung des Kapillardrucks des Betons lassen sich Rückschlüsse auf die zur Aushärtung benötigte Wassermenge ziehen. Eine solche Messung findet jedoch eher in Prüflaboren Anwendung. Erhärtung. Der Zement dient als Bindemittel, um die anderen Bestandteile zusammenzuhalten. Die Festigkeit des Betons entsteht durch die exotherme Reaktion der Auskristallisierung der Klinkerbestandteile des Zements unter Wasseraufnahme. Es wachsen Kristallnadeln, die sich fest ineinander verzahnen. Das Kristallwachstum hält über Monate an, sodass die endgültige Festigkeit erst lange nach dem Betonguss erreicht wird. Es wird aber wie in der DIN 1164 (Festigkeitsklassen von Zement) angenommen, dass bei normalen Temperatur- und Feuchtigkeitsbedingungen nach 28 Tagen die Normfestigkeit erreicht ist. Neben dieser "hydraulischen Reaktion" entwickelt sich bei silikatischen Zuschlagstoffen zusätzlich die sogenannte "puzzolanische Reaktion". Eigenschaften des Festbetons. Als Festbeton wird der erhärtete Frischbeton bezeichnet. Festigkeitsklassen. Die Druckfestigkeit ist eine der wichtigsten Eigenschaften des Betons. Die DIN 1045-2 (Tragwerke aus Beton, Stahlbeton und Spannbeton) schreibt eine Beurteilung durch die Prüfung nach 28 Tagen Wasserlagerung anhand von Würfeln mit 15 cm Kantenlänge (Probewürfeln) oder 30 cm langen Zylindern mit 15 cm Durchmesser vor. Die Vorschriften für die Geometrie und Lagerung der Prüfkörper sind weltweit nicht einheitlich geregelt und haben sich auch in den einzelnen Normgenerationen geändert. Anhand der ermittelten Druckfestigkeit, die im Bauteil abweichen kann, lässt sich der Beton den Festigkeitsklassen zuordnen. Ein C12/15 hat danach die charakteristische Zylinderdruckfestigkeit von 12 N/mm² sowie eine charakteristische Würfeldruckfestigkeit von 15 N/mm². Das C in der Nomenklatur steht für englisch "concrete" (deutsch: „Beton“). Im Zuge der Harmonisierung des europäischen Normenwerks sind diese Betonfestigkeitsklassen in der aktuellen Normengeneration europaweit vereinheitlicht. In der folgenden Tabelle sind die Bezeichnungen nach der alten DIN 1045 noch zur Information in der letzten Spalte angegeben. Die Beton-Festigkeitsklasse ist nicht zu verwechseln mit der Zement-Festigkeitsklasse (Normfestigkeit von 32,5, 42,5 und 52,5 N/mm²) nach EN 197. Elastizitätsmodul, Schubmodul und Querdehnungszahl. Der Elastizitätsmodul des Betons hängt in hohem Maße von den verwendeten Betonzuschlägen ab. Vereinfachend kann er im linear-elastischen Spannungszustand (d. h. maximal 40 % der Festigkeit) in Abhängigkeit von der Betonfestigkeit nach dem Eurocode mit der empirischen Gleichung formula_1 ermittelt werden. Somit beträgt der Elastizitätsmodul bei den Betonfestigkeitsklassen von C12/15 bis C50/60 nach Eurocode zwischen 27.000 N/mm² und 37.000 N/mm². Die Querdehnungszahl schwankt im Bereich der Gebrauchsspannungen je nach Betonzusammensetzung, Betonalter und Betonfeuchte zwischen 0,15 und 0,25. Gemäß den Normen kann der Einfluss mit 0,2 bei ungerissenem Beton berücksichtigt werden. Für gerissenen Beton ist die Querdehnungszahl zu Null zu setzen. Der Schubmodul kann näherungsweise, wie bei isotropen Baustoffen, aus Elastizitätsmodul und Querdehnungszahl errechnet werden. Rohdichte. Die Rohdichte des Betons hängt vom Zuschlag ab. Bei Normalbeton beträgt die Trockenrohdichte zwischen 2000 und 2600 kg/m³. Meist können 2400 kg/m³ angesetzt werden. Betone oberhalb von 2600 kg/m³ werden als Schwerbeton bezeichnet, unterhalb von 2000 kg/m³ als Leichtbeton. Leichtbeton hat porige Leichtzuschläge wie Blähton oder Bims. Er ist normativ in die Rohdichteklassen 1,0 – 1,2 – 1,4 – 1,6 – 1,8 – 2,0 eingeteilt, welche den Rohdichten zwischen 1000 und 2000 kg/m³ entsprechen. Stahlbeton hat näherungsweise eine um 100 kg/m³ erhöhte Rohdichte. Verbundzone. Eine Schwachstelle im Gefüge des hydratisierten Betons stellt die Verbundzone zwischen Zementstein und Gesteinskörnung dar. Durch die Ansammlung von Ettringit und Portlandit (CH, Calciumhydroxid) an den Rändern der Gesteinskörner können sich keine verfestigenden CSH-Phasen bilden. Das hat eine verringerte Festigkeit in diesem Bereich zur Folge. Durch Zugabe von Puzzolanen wird das Portlandit über die puzzolanische Reaktion in CSH-Phasen umgewandelt. Puzzolane sind hochsilikatische Zuschlagsstoffe wie Mikrosilika oder Flugasche. Das hochalkalische Milieu löst sie partiell und leitet eine Reaktion mit dem Calciumhydroxyd (CH) zu CSH ohne zusätzliche Wasseraufnahme ein: oder kurz: Vor allem bei der Entwicklung und Herstellung von hochfestem- und ultrahochfestem Beton hat dies eine große Bedeutung. Poren im Beton. Neben der Festigkeit ist die Porosität des Betons ein wichtiges Qualitätskriterium. Die verschiedenen Arten von Poren unterscheiden sich voneinander teilweise stark in Entstehung und Auswirkung. Grundsätzlich sinkt mit steigender Kapillar-, Luft- und Verdichtungsporosität die Festigkeit proportional. Auch eine Verringerung des Elastizitätsmodul ist nachweisbar. Man unterscheidet folgende Arten von Poren: Bauphysikalische Eigenschaften. Für Beton kann eine Wasserdampfdiffusionswiderstandszahl zwischen 70 (feucht) und 150 (trocken) angesetzt werden. Die Wärmeleitfähigkeit beträgt etwa 2,1 W/(m·K) für Normalbeton, die spezifische Wärmekapazität 1000 J/(kg·K). Beide Werte sind jedoch stark vom Zuschlagstoff abhängig. Der Wärmeausdehnungskoeffizient beträgt nach den Stahlbetonnormen 10−5/K (z. B. DIN 1045-1:2001-07). Allerdings kann dieser je nach Art des Betonzuschlags, Zementgehalt sowie Feuchtezustand des Betons zwischen 6 und 14 · 10−6/K variieren. Der Feuchtegehalt beträgt bei 23 °C und 50 % relativer Luftfeuchtigkeit 25 Liter Wasser je Kubikmeter Beton und bei 80 % relativer Luftfeuchtigkeit 40 l/m³. Alle diese Betoneigenschaften sind außerdem erheblich temperaturabhängig und gelten näherungsweise nur deutlich unterhalb 100 °C. Arbeitsvermögen. Die mögliche Energieaufnahme eines Betonbauteils bis zum Versagen wird als "Arbeitsvermögen" bezeichnet. Der Graph des Spannungs-Dehnungs-Diagramms wird bei Beton auch "Arbeitslinie" genannt. Das Arbeitsvermögen ist als die Fläche unter der Arbeitslinie definiert und umfasst damit alle elastischen und irreversiblen Verformungsanteile. Überwachungsklassen. Für die Überprüfung der maßgebenden Frisch- und Festbetoneigenschaften wird der Beton in drei Überwachungsklassen eingeteilt. Daraus ergibt sich der Umfang und die Häufigkeit der Prüfungen, was in DIN 1045-3 geregelt ist. Beton der Überwachungsklassen 1, 2 und 3 ist u. a. durch Eigenüberwachung der ausführenden Firma und eine anerkannte Überwachungsstelle zu überprüfen. Wobei die Prüfungen in der Überwachungsklasse 1 nur der Selbstkontrolle der ausführenden Firma dient. Die Überwachungsklasse 2 wird bei Betonen mit erhöhten Anforderungen wie z. B. WU-, Spann-, Unterwasser- und Strahlenschutzbeton usw. angewandt. Geprüft wird mit mindestens drei Probekörpern jeden 3. Betoniertag oder alle 300 m³. In der Überwachungsklasse 3 erfolgt die Prüfung mindestens jeden Betoniertag oder alle 50 m³. Betonsorten. Unter einer "Betonsorte" versteht man eine genau definierte Mischung, die immer wieder, entsprechend einer Betonrezeptur, hergestellt wird. Lieferwerke haben meist eigene Sorten, die von Kunden bestellt werden. Bei großen Bauvorhaben stellen oft auch die Bauunternehmen in Absprache mit dem Bauherrn und den Lieferwerken eigene Betonsorten in einem Sortenverzeichnis zusammen. Diese Betone sind dann für eine Baustelle und deren Besonderheiten „maßgeschneidert“. Betonarten. Alle Betone lassen sich entsprechend ihrer Herstellung, ihrer Einbauart oder ihrer besonderen Eigenschaften unterscheiden. Dabei gehört ein Beton nicht zwangsläufig nur einer "Art" an. Ein und dasselbe Produkt wird meist mehreren Kategorien zugeordnet. Beispielsweise ist jeder Beton entweder ein Transport- oder ein Baustellenbeton. Abhängig von den Eigenschaften sind diese Betone dann z. B. Luftporenbetone, hochfeste Betone usw. Die verwendeten Bezeichnungen der gebräuchlichen Betone sind in der Liste gebräuchlicher Betone aufgeführt. Dauerhaftigkeit, Schädigungen und Instandsetzung. Für dauerhafte Betonbauwerke müssen die verlangten Gebrauchseigenschaften und die Standsicherheit unter den planmäßigen Beanspruchungen über die erwartete Nutzungsdauer bei normalem Unterhaltsaufwand konstant sein. Wichtig sind für eine ausreichende Dauerhaftigkeit des Betons die Betonzusammensetzung (Wasserzementwert und Zementgehalt), die Festigkeitsklasse, die Verdichtung und die Nachbehandlung des Betons. Beton ist ein chemisch instabiler Baustoff. Verschiedene innere und äußere Einflüsse können die Beständigkeit von Beton nachhaltig beeinflussen. Durch die typische Anwendung von Beton im Verbund mit Bewehrung aus Stahl ergeben sich weitere die Dauerhaftigkeit von Beton beeinflussende Faktoren, wie zu geringe Überdeckung des Bewehrungstahles durch Beton. Daher erfolgt mit den Expositionsklassen eine Klassifizierung der chemischen und physikalischen Umgebungsbedingungen, denen der Beton ausgesetzt ist, woraus die Anforderungen an die Zusammensetzung des zu verwendenden Betons sowie bei Stahlbeton die Mindestbetondeckung folgen. Folgende Schädigungsmechanismen können auftreten: Oberflächenschutzsysteme, wie Anstriche oder die Imprägnierung der Betonoberflächen mit einem Hydrophobierungsmittel, dienen der Verbesserung der Dauerhaftigkeit und können sowohl direkt nach der Herstellung aufgebracht werden oder im Zuge einer Betoninstandsetzung eine Maßnahme zur Lebensdauerverlängerung darstellen. Zur Betoninstandsetzung zählen zudem alle Maßnahmen, bei denen Schäden (Risse, Abplatzungen usw.) behoben und die ursprünglichen Schutzeigenschaften des Betons möglichst wiederhergestellt oder verbessert werden. Die Instandsetzungsmaßnahmen werden von spezialisierten Betoninstandsetzern durchgeführt. Im Brückenbau, besonders bei Autobahnbrücken, wird der kathodische Korrosionsschutz (KKS) mittels Fremdstromanode durchgeführt. Dazu wird ein Anodengitter aus beschichtetem Titan auf die zu schützende Oberfläche aufgebracht und mit Spritzbeton circa 2 cm bis 3 cm eingespritzt. Der Spritzbeton dient dabei als Elektrolyt. Der Strom wird über Gleichrichter in die Bewehrung eingeleitet und so der kathodische Schutz erreicht. Die Maßnahme wird mit einem automatischen Überwachungssystem laufend überprüft. Eine gute Erklärung über den KKS geben diese beiden Präsentationen: Einbauteile. Zur Reduzierung des Eigengewichtes von Betonteilen werden unter anderem sogenannte "Verdrängungskörper" eingebaut. Dies bewirkt, dass Hohlräume entstehen und weniger Beton notwendig ist. Häufig wird das bei Plattenkonstruktionen angewendet. Früher wurden hierfür Teile aus Polystyrolschaum und anderen Schaumstoffen genutzt, die heute wegen nachteiliger Auswirkungen bei Bränden nicht mehr gestattet sind. Derzeit werden Kugeln oder würfelförmige Elemente aus Polyethylen oder Polypropylen eingesetzt, wodurch bis zu einem Drittel des Betons und folglich des Eigengewichtes eingespart werden kann. So sind große Bauteile, z. B. Dachkonstruktionen, mit Stützweiten von bis zu 19 Metern möglich. Aufgrund von größeren Bauschäden aus der Vergangenheit ist in Deutschland der Einbau von Verdrängungskörpern bei Brückenbauten nicht mehr zulässig. Andere als „Beton“ bezeichnete Werkstoffe. Die Bezeichnung „Beton“ wird auch in Zusammenhang mit anderen Baustoffen verwendet und soll deren hohe Festigkeit oder deren Zusammensetzungsprinzip beschreiben. Porenbeton. Porenbeton (früher "Gasbeton") ist ein mineralischer Werkstoff, welcher durch chemisches Aufschäumen einer Mörtelmischung erzeugt wird. Die alkalische Mörtelsuspension reagiert unter Bildung von Gas mit Pulvern unedler Metalle wie z. B. Aluminium. Porenbeton enthält so gut wie keine Zuschläge. Porenbeton besitzt im Vergleich zu konventionellem Beton wegen seiner geringen Rohdichte eine geringe Festigkeit und eine geringe Wärmeleitfähigkeit. Faserbeton. Faserbeton ist eine Erweiterung des künstlichen Baustoffes Beton. Es werden dem Beton bei der Herstellung Fasern zugegeben, um die Materialeigenschaften wie Zug-, Druck- und Scherfestigkeit sowie das Bruch- und Rissverhalten zu verbessern. Damit kann der Faserbeton im Gegensatz zu Beton besser Zugkräfte übernehmen. Dies führt unter anderem zu der Möglichkeit, jegliche Körperform statisch tragend herzustellen. Betonglas. Betonglas ist ein Glasbaustein, der waagerecht angeordnet wird und hohe Druckfestigkeit aufweist. Asphaltbeton. Asphaltbeton ist eine Bezeichnung für ein Gemisch aus Bitumen und Gesteinskörnung. Der Namensteil „-beton“ verweist hier auf das „Betonprinzip“ der Mischung, d. h., wie beim Baustoff Beton sind im Asphaltbeton verschiedene Gesteinskörnungsgrößen gleichmäßig verteilt und vollständig von Bindemittel ummantelt. Mineralbeton. Mineralbeton ist eine Bezeichnung für ein hochverdichtetes Mineralstoffgemisch, meist unter Verwendung eines hohen Anteils gebrochenen Korns. Die Sieblinie ist gemäß der Fuller-Parabel aufzubauen, es ist der für die Verdichtung optimale Wassergehalt einzustellen. Beim Einbau sind Entmischungen zu vermeiden. Mineralbeton wird ohne Bindemittel zu einem hochstandfesten Baustoff, der etwa in Straßendecken verwendet wird. Gängiges Produkt ist die korngestufte Schottertragschicht mit 0 bis 32 mm als Frostschutzmaterial gemäß ZTV T-StB 95. Schwefelbeton. Schwefelbeton ist eine Mischung aus Quarzsand, Kalkstein oder Schottersteinen, der als Bindemittel 15–20 % Schwefel beigemischt wird. Der Schwefel wird vorher mit dimeren Cyclopentadien modifiziert und als plastischer Schwefel stabilisiert. Der Schwefelbeton verfügt gegenüber Beton über eine höhere Druck- und Zugfestigkeit sowie Frühfestigkeit, ist wesentlich korrosionsbeständiger gegenüber Säuren und Salzlösungen und hat eine um 40 % bessere CO₂-Bilanz. Nachteilig sind das Erweichen bei Temperaturen über 120 °C und die Brennbarkeit. Die Einsatzmöglichkeit von Schwefelbeton ist dort von Bedeutung, wo er im Freien herkömmlichen Beton ersetzen kann, z. B. Eisenbahnschwellen, oder Lagerung bzw. Umfüllung von aggressiven Chemikalien oder grundwasserschädlichen Stoffen. Die Verwendung ist in Deutschland bisher eingeschränkt. Kunstharzbeton. Kunstharzbeton nutzt – genauso wie Kunstharzmörtel – ungesättigtes Polyesterharz, Methacrylatharz oder Epoxidharz als Bindemittel. Zement wird für die Festigkeit nicht benötigt. Hier kommen Härter und Beschleuniger in geringen Mengen zum Einsatz. Das Prinzip, Anwendungsbereiche und Verarbeitung sind allerdings typisch für Beton. Aufgrund der schnellen Aushärtung eignet sich der Beton gut für Ausbesserungen. Im Vergleich zu zementgebundenem Beton ergibt sich eine deutlich höhere Zugfestigkeit und ein kleiner Elastizitätsmodul. Erscheinungsbild. Beton dessen Oberfläche nach Fertigstellung des Bauwerks noch sichtbar ist, wird allgemein als Sichtbeton bezeichnet. Im engeren Sinne bezeichnet "Sichtbeton" Betonoberflächen mit besonderer gestalterischer Qualität. Im Architekturstil des Brutalismus wurde demgegenüber gerade der rohe, unverfeinerte Beton als gestalterisches Mittel eingesetzt. Die Bauwerke des Brutalismus beeindrucken eher durch ihre Grobstruktur, d. h. durch ihre Kubatur, als durch die Oberflächenqualität. Architekturbeton. Der Begriff "Architekturbeton" wird gelegentlich von spezialisierten Anbietern des Baugewerbes verwendet, um Sichtbeton zu bezeichnen, an den besonders hohe gestalterische Anforderungen hinsichtlich Oberflächenstruktur und -qualität gestellt werden. Durchgefärbter Beton. Durchgefärbter Beton enthält Pigmente, die seine Farbe verändern. Ersatz von Beton. Ein Verfahren, bei dem Aushubmaterial mit 300 km/h weggeschleudert wird, wurde von einem Westschweizer Unternehmen, Pittet Artisans, entwickelt. Das Material hat vergleichbare Eigenschaften wie Beton, kostet aber weniger und stößt wesentlich weniger CO2 aus, gemäss Studien der Hochschule für Wirtschaft und Ingenieurwissenschaften des Kantons Waadt.
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Böhmen
Böhmen (, ) war eines der Länder der Böhmischen Krone. Als ehemaliges Königreich Böhmen bildet es mit Mähren und dem tschechischen Teil Schlesiens das Staatsgebiet des heutigen Tschechien, ist aber keine eigenständige administrative Einheit mehr. Die historische Hauptstadt Böhmens ist Prag, seit 1918 die Hauptstadt der Tschechoslowakei bzw. Tschechiens. Der böhmische Landespatron ist der heilige Wenzel, dem die Wenzelskrone gewidmet ist. Ein weiterer Schutzpatron des Landes ist Johannes von Nepomuk. Die Bewohner werden unabhängig von ihrer Nationalität "Böhmen" (Plural von "Böhme") genannt, daneben wurde aber bis zum Zerfall der Habsburgermonarchie die tschechische Sprache als „böhmisch“ bezeichnet. Wappen. Der Böhmische Löwe ist ein aufgerichteter silberner, doppelschwänziger Löwe mit goldener Blätterkrone auf Rot. Er ist in Gold bewehrt und bezungt. Die Flagge war weiß-rot. Geografie. Lage. Böhmens Fläche beträgt etwa 52.065 km². Es grenzt im Nordosten an Schlesien, im Osten an die historische Region Mähren, im Süden an Österreich, im Südwesten und Westen an Bayern und im Nordwesten an Sachsen. Als geometrischer Mittelpunkt wurde der Ďábel bei Petrov ermittelt. Das historische Dreiländereck mit Mähren und Österreich befindet sich an der Spitze der Böhmischen Saß am Hohen Stein bei Staré Město pod Landštejnem. Böhmen wird im Wesentlichen begrenzt durch seine vier Randgebirge: Damit bildet es einen Landschaftskessel, bis auf kleine Ausnahmen eingegrenzt durch die Wasserscheiden der Einzugsgebiete von Moldau (Vltava) und Elbe (Labe) (bis zur Grenze mit Deutschland). In Letztere mündet auch die Eger (Ohře), deren Quellgebiet im Fichtelgebirge in Franken liegt. Gliederung. Böhmen umfasst die westlichen zwei Drittel Tschechiens. Dazu gehören heute die tschechische Hauptstadt Prag (Praha), die sie umgebende Mittelböhmische Region (Středočeský kraj) und die um diese Region im Uhrzeigersinn liegenden Regionen Reichenberg (Liberecký kraj), Königgrätz (Královéhradecký kraj), der größere Teil des Pardubický kraj, die Westhälfte des Kraj Vysočina, fast die ganze Südböhmische Region (Jihočeský kraj), die Region Pilsen (Plzeňský kraj), der Karlovarský kraj, der Ústecký kraj um Ústí (Aussig) und das heute zur Südmährischen Region (Jihomoravský kraj) gehörende Jobova Lhota. Landschaft. Die heutigen Grenzen Böhmens sind weit über 1000 Jahre alt, nur das Egerland kam erst im späten Mittelalter dazu. Böhmen wird auf drei Seiten durch Berglandschaften umfasst. Es schließt mit dem Fichtelgebirge an die mitteldeutschen Terrassenlandschaften an. Böhmen hängt mit Mähren so eng zusammen, dass man im Raum zwischen Eger, Elbe und Donau einerseits und March und Naab andererseits ein gemeinsames böhmisch-mährisches Terrassenland sehen kann. Die Einzugsgebiete der Donau und der Oder betragen nur 6,4 % der Landesfläche (3184 km²), während das Einzugsgebiet der Elbe 48.772 km² einnimmt. Zum Flusssystem der Elbe gehört auch die Moldau, die bei Mělník in die Elbe mündet. Im äußersten Osten gibt es einige Bäche, die zur March entwässern, damit geht die Europäische Hauptwasserscheide durch Böhmen. Das Terrassenland Böhmens wird durch Elbe und Eger, Sázava und Berounka und durch die tiefe Meridianfurche der Moldau gegliedert. Die kleinen, rings umschlossenen Tiefebenen sind: Hier findet man auch zahlreiche Berge: Die natürliche Grenze Böhmens nach Westen bildet der Böhmerwald, der durch das Plateau von Waldsassen mit dem Fichtelgebirge in Verbindung steht. Historischer Begriff. Der Name leitet sich von dem keltischen Stamm der Boier ("Boiohaemum" = Heim der Boier, spätlat.: "Bohemia") ab. Geschichte. Nach Erlass der Goldenen Bulle durch Karl IV. im Jahr 1356 war der König von Böhmen einer der sieben Kurfürsten, die den römisch-deutschen König wählten. Historische Verwaltungsgliederung. Alte böhmische Kreise. Karl IV. begann in der Mitte des 14. Jahrhunderts, sein Königreich in große Verwaltungseinheiten einzuteilen. Eine solche Verwaltungseinheit hieß in den Urkunden auf Deutsch "Kreis", auf Tschechisch "kraj" und auf Lateinisch "circulus". Es gab in Böhmen sieben bis sechzehn Kreise. In Mähren bestanden zwei bis sechs Kreise, in Österreichisch-Schlesien waren es zwei. Die Anzahl der Kreise und somit auch deren Größe änderte sich mehrmals. Diese Kreiseinteilung galt bis 1862, spielte aber schon kurz nach der Revolution von 1848 praktisch keine Rolle mehr für die Verwaltung. Die Kreisgliederung (16 Kreise) zwischen 1833 und 1849 nach Johann Gottfried Sommer war: Politische Bezirke und Gerichtsbezirke 1850–1938. Ab 1850 wurden in allen Gebieten der Monarchie außer Ungarn die alten großen Kreise durch politische Bezirke (Verwaltungsbezirke) ersetzt, von denen jeder aus einem oder mehreren Gerichtsbezirken (der Judikative) bestand. In den österreichischen Bundesländern besteht diese Einteilung bis heute. Normalerweise war ein politischer Bezirk (tschechisch: "politický okres") kleiner als ein ehemaliger alter Kreis, und ein Gerichtsbezirk (tschechisch: "soudní okres") ist kleiner als ein politischer Bezirk. Es gab im Kronland Böhmen 104 politische Bezirke und darin 229 Gerichtsbezirke. Mähren hatte 32 und Österreichisch-Schlesien neun politische Bezirke. Diese Bezirkseinteilung galt in Böhmen abgesehen von kleineren Änderungen bis 1938, also auch in der Ersten Tschechoslowakischen Republik. Zur Entwicklung in Mähren und der Slowakei siehe "Okres". Kreise und Bezirke nach 1938. Durch das Münchner Abkommen vom 29. September 1938 wurde der vorwiegend deutschsprachige Teil Böhmens dem Deutschen Reich zugeschlagen und in Stadt- und Landkreise eingeteilt; übergeordnet waren Regierungsbezirke (die südwestlichen Teile kamen an den Reichsgau Oberdonau, die Gebiete im Böhmerwald an Bayern und der große Rest bildete den Reichsgau Sudetenland). Im Reichsgau Sudetenland gab es fünf Stadtkreise und 52 Landkreise. Das übrige Böhmen blieb weiterhin in politische Bezirke und Gerichtsbezirke eingeteilt. Dies änderte sich auch nach der Zerschlagung der Tschechoslowakei und der Errichtung des "Protektorat Böhmen und Mähren" am 15. März 1939 so, wobei allerdings über je einer Gruppe von politischen Bezirken noch ein Oberlandratsbezirk eingeführt wurde. Im Protektorat gab es 67 böhmische und 30 mährische politische Bezirke. Diese Verwaltungsgliederung galt bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Böhmische Kultur. Böhmen war stets eine europäische Region, in der religiöse und ethnische Gegensätze aufeinander trafen. Dies erzeugte Konflikte, aber auch produktive Wechselwirkungen. Die böhmische Kultur ist in ihrer Vielfalt geprägt vom Zusammenwirken und Aufeinanderprallen von tschechischen, deutschen und jüdischen Einflüssen. So war beispielsweise Prag unter den Luxemburgern maßgeblich an der Ausprägung der internationalen Kunst der Parlerzeit beteiligt. Im 19. und 20. Jahrhundert schöpften Schriftsteller wie Adalbert Stifter, Rainer Maria Rilke, Jaroslav Hašek, Franz Kafka, Max Brod, Karel Čapek, Franz Werfel, Johannes Urzidil und Friedrich Torberg sowie Komponisten wie Bedřich Smetana, Antonín Dvořák, Leoš Janáček, Gustav Mahler und Viktor Ullmann in ihren Werken aus der reichen kulturellen Tradition des Landes. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand eine alle Disziplinen umfassende tschechische Wissenschafts- und Kulturszene, deren Anspruch sich unter anderem in der Prager Architektur um 1900 ausdrückt. Die deutschböhmische Minderheit (nach 1945 fast vollständig vertrieben) war nicht weniger produktiv; sie wetteiferte mit dem gesamten deutschen Sprachraum. Das "Prager Tagblatt" galt als eine der besten deutschsprachigen Zeitungen ihrer Zeit. Die Industrie Böhmens war in Österreich-Ungarn führend. Das Kronland wurde das wohlhabendste Cisleithaniens. Im Bereich der Tierzucht sind die goldenen Kinsky-Pferde zu nennen, eine seltene Rasse, deren Zucht 1838 in Chlumec von Octavian Joseph Graf Kinsky begründet wurde. Berühmt sind die Böhmische Küche, das böhmische Bier und die böhmische Blasmusik. Typisch für die böhmische Küche sind Knödel, deftige Fleischgerichte und süße Mehlspeisen (in der österreichischen Wortbedeutung) als Nachtisch. Die kulturellen Traditionen Böhmens sind eng mit denen in Bayern und Österreich verwandt – in der Wiener Küche etwa sind böhmische Einflüsse unverkennbar. Der Begriff „Bohème“ leitet sich von der französischen Bezeichnung "bohémien" (ab dem 15. Jahrhundert) für die aus Böhmen kommenden Roma ab. Der Charakter der Herkunftsbezeichnung verlor sich im Französischen wie im Deutschen, so dass "bohémien" zu einer Bezeichnung unordentlicher, liederlicher Sitten bzw. für die unstete Lebensart in Künstlerkreisen wurde und sich nicht mehr auf die ethnische Zugehörigkeit bezog. Wenzel von Böhmen und Johannes Nepomuk werden von den Tschechen hoch verehrt.
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BGB (Begriffsklärung)
BGB steht für: BgB steht für: Bgb. steht für: bgb steht für: Siehe auch:
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Kanton Basel-Landschaft
Basel-Landschaft ( BL; inoffiziell meist Baselland oder das Baselbiet genannt, , , ) ist ein Kanton der Schweiz. Er zählt zum Wirtschaftsraum Nordwestschweiz und zur Metropolregion Basel. Der Hauptort ist Liestal, der einwohnerstärkste Ort hingegen Allschwil bei Basel. Der Kanton grenzt im Westen an Frankreich, im Norden an den Kanton Basel-Stadt und an Deutschland, im Osten an den Kanton Aargau und im Süden an den Kanton Solothurn. Im Südwesten folgt die Kantonsgrenze zum Kanton Jura zudem der französisch-deutschen Sprachgrenze der Schweiz. Das Kantonsgebiet reicht von Vorstadtgemeinden bei Basel im Norden über kleinstädtische Strukturen rund um den Kantonshauptort Liestal bis zu grossen Wald- und Gebirgsflächen um die Juratäler im Süden. Geographie. Der Kanton befindet sich im Nordwesten der Schweiz. Mit Ausnahme weniger Ortschaften umfasst er sämtliche Gemeinden des Laufentals entlang der Birs, das Birseck und das untere Leimental (Unterbaselbiet) sowie die Gemeinden entlang der Ergolz und ihrer Zuflüsse (Oberbaselbiet). Die geographische Form des Kantons ist besonders wegen der Lage des benachbarten solothurnischen Schwarzbubenlands ganz unregelmässig, die Kantonsgrenze durchquert auch mehrere städtische Agglomerationen einer Stadt, die nicht selbst im Kanton liegt, und berührt zwei andere Staaten, nicht aber das Dreiländereck. Flächenmässig gehört er zu den kleineren Kantonen der Schweiz (Platz 18 von 26). Aufgrund seiner dichten Besiedlung liegt er jedoch im Einwohnerrang auf Platz 10. Die Trennung des Standes Basel in die zwei «Halbkantone» Basel-Stadt und Basel-Landschaft erfolgte 1833 (siehe unten Geschichte). Der Kanton Basel-Landschaft grenzt im Osten und Nordosten an den Kanton Aargau sowie an den Rhein, der die Landesgrenze zu Deutschland bildet. Des Weiteren grenzt im Norden der Kanton Basel-Stadt an. Im weiteren Verlauf folgt dann im Nordwesten die Landesgrenze zu Frankreich. Im Süden grenzt er an das Mutterland des Kantons Solothurn, von dem einige Exklaven westlich an den Kanton Basel-Landschaft grenzen. Im äussersten Südwesten verläuft die Grenze zum Kanton Jura. Die Ausdehnung des Kantons wird in seiner inoffiziellen Hymne, dem "Baselbieterlied", thematisiert. Wappen. Das Wappen des Kantons zeigt einen roten Hirtenstab. Auf der Biegung des Stabs befinden sich sieben Ausstülpungen, welche in Versionen vor dem 10. März 1948 als sieben Kugeln den Stab noch nicht berührten. Eine heraldische Besonderheit ist die Linkswendung des Stabes, also von der Fahnenstange weg. Diese Abwendung von der Fahnenstange symbolisiert die Abwendung vom Kanton Basel-Stadt und hebt die Unabhängigkeit hervor. Das Wappen entstammt dem Stadtwappen von Liestal. Um die beiden Wappen besser unterscheiden zu können, wurde die rote Umrandung entfernt. Bevölkerung. Per betrug die Einwohnerzahl des Kantons Basel-Landschaft . Die Bevölkerungsdichte liegt mit 556 Einwohnern pro Quadratkilometer annähernd bei dem Dreifachen des Schweizer Durchschnitts ( Einwohner pro Quadratkilometer). Der Ausländeranteil (gemeldete Einwohner ohne Schweizer Bürgerrecht) bezifferte sich am auf 22,9 Prozent, während landesweit  Prozent Ausländer registriert waren. Per betrug die Arbeitslosenquote  Prozent gegenüber  Prozent auf eidgenössischer Ebene. Sprache. Amtssprache des Kantons und seiner Gemeinden ist Deutsch. Alle Kantons- und Gemeindebehörden sind jedoch verpflichtet, Eingaben auch in einer anderen Amtssprache des Bundes entgegenzunehmen. Verkehrssprache ist Schweizerdeutsch in zwei Ausprägungen: In Stadtnähe entspricht das Idiom weitgehend dem niederalemannischen Baseldeutsch der Stadt Basel, während im Oberbaselbiet und im Laufental hochalemannische Dialekte gesprochen werden. Alle im Kanton gesprochenen Varianten gehören jedoch dem Nordwestschweizerdeutschen an, das sich durch eine konsequente Dehnung der kurzen mittelhochdeutschen Vokale in offener Silbe (etwa mhd. "baden" [] > bl. "baade" [] ‹baden›, mhd. "siben" [] > bl. "sììbe" [] ‹sieben›, mhd. "stuben" [] > bl. "Stùùbe" [] ‹Stube›) sowie durch die sogenannte Extremverdumpfung von mittelhochdeutschem langem /a:/ (etwa mhd. "strâʒʒe" [] > bl. "Strooss" [] ‹Strasse›) auszeichnet. Im äussersten Westen fällt die Kantonsgrenze teilweise mit der traditionellen französisch-deutschen Sprachgrenze zusammen. Sprachgrenzgemeinden sind Roggenburg und Liesberg. Im Nordwesten grenzt der Kanton an das historisch deutschsprachige Elsass, in dem Französisch ebenfalls seit Längerem Amts- und Verkehrssprache ist. Religionen – Konfessionen. Traditionelle Konfession in den vor 1798 zur Stadt Basel gehörenden Teilen des Baselbiets – die heutigen Bezirke Liestal, Sissach und Waldenburg sowie einzelne Gemeinden im heutigen Bezirk Arlesheim – ist die reformierte; traditionelle Konfession des Laufentals, des hinteren Leimentals und des Birsecks, die bis 1798 zum Fürstbistum Basel gehörten, ist die katholische. Infolge der modernen Migration und der Agglomerationsbildung sind diese Grenzen heute besonders in der Nähe der Stadt Basel stark verwischt. So weisen nun manche Gemeinden des unteren Kantonsteils eine reformierte Mehrheit auf, umgekehrt hat die Umgebung von Liestal mittlerweile eine starke katholische Minderheit. Von der gesamten Wohnbevölkerung des Kantons Basel-Landschaft waren per 31. Dezember 2017 30,2 Prozent (87'031 Einwohner) Mitglied der Evangelisch-reformierten Kirche des Kantons Basel-Landschaft, 25,3 Prozent (72'916 Einwohner) gehörten der römisch-katholischen Kirche an, und 0,4 Prozent (1062 Einwohner) waren Mitglied der christkatholischen Kirche (100 Prozent: 288'361 Einwohner). Seit der Volkszählung 2000 liegen (abgesehen von den drei Landeskirchen) für die Gesamtbevölkerung des Kantons Basel-Landschaft keine genauen Mitgliederzahlen zu den verschiedenen Religionsgemeinschaften mehr vor. Das Bundesamt für Statistik führt jedoch Stichprobenerhebungen durch, bei welchen auch andere Religionsgemeinschaften im Kanton erfasst werden. Bei der Stichprobenerhebung von 2017 gaben 30,2 Prozent der Befragten ab 15 Jahren im Kanton Basel-Landschaft an, keiner Kirche oder Religionsgemeinschaft anzugehören. Zudem zeigte die Befragung, dass von den Schweizerbürgern im Kanton Basel-Landschaft ab 15 Jahren eine Mehrheit von 66,5 Prozent einer christlichen Kirche angehört. Bei der Kantonsbevölkerung ab 15 Jahren mit ausländischem Pass stellt keine einzelne Religionsgemeinschaft die Mehrheit: 41,6 Prozent sind Mitglied einer christlichen Kirche, und eine grössere Minderheit von 17,9 Prozent gehört der islamischen Gemeinschaft an. Verfassung und Politik. Die gegenwärtige Verfassung des Kantons Basel-Landschaft datiert vom 17. Mai 1984 (mit seitherigen Änderungen). Legislative. Im Parlament des Kantons Basel-Landschaft, dem "Landrat," haben 90 Volksvertreter "(Landräte)" Einsitz. Wahlen zum Landrat finden alle vier Jahre gemäss Verhältniswahlrecht (Proporz) statt. Er kann nicht vorzeitig aufgelöst werden. Das unten stehende Diagramm zeigt die momentane Sitzverteilung des Landrates (Stand 12. Februar 2023). Politisch gesehen ist das Oberbaselbiet konservativer als der untere Kantonsteil. Das Volk ist nicht nur über seine Abgeordneten, sondern auch direkt an der Gesetzgebung beteiligt: Verfassungsänderungen sowie Gesetzeserlasse, die der Landrat mit weniger als vier Fünfteln der anwesenden Mitglieder erlässt, unterstehen zwingend der Volksabstimmung (obligatorisches Referendum). Deutlicher angenommene Erlasse sowie Beschlüsse über neue einmalige Ausgaben von mehr als 500'000 Franken oder über neue jährlich wiederkehrende Ausgaben von mehr als 50'000 Franken unterstehen dann der Volksabstimmung, wenn es von 1500 Wahlberechtigten verlangt wird (fakultatives Referendum). 1500 Stimmberechtigte können überdies innert zweier Jahre den Erlass, die Änderung oder die Aufhebung eines Gesetzes oder der Verfassung beantragen, worauf es zu einer Volksabstimmung kommt (Volksinitiative) – es sei denn, eine Gesetzesinitiative werde zugunsten eines im Landrat breit abgestützten Alternativvorschlags zurückgezogen. Der Kanton Basel-Landschaft entsendet als historischer Halbkanton einen Vertreter in den Ständerat und sieben Abgeordnete in den Nationalrat, die beiden Parlamentskammern auf Bundesebene. Exekutive. Die Regierung des Kantons, der "Regierungsrat," umfasst fünf Mitglieder "(Regierungsräte)," die gemäss Mehrheitswahlrecht (Majorz) direkt vom Volk fest auf vier Jahre gewählt werden. Den Vorsitz führt der "Regierungspräsident," der alljährlich vom Landrat aus den Mitgliedern des Regierungsrates gewählt wird. Bei den Wahlen vom 27. März 2011 verdrängte Isaac Reber den bisherigen SVP-Vertreter Jörg Krähenbühl aus der Regierung. Es handelte sich dabei um die erste Nichtwiederwahl eines Bisherigen seit 1950. Reber hatte sein Amt am 1. Juli 2011 angetreten. Am 13. Dezember 2012 kündigte Adrian Ballmer seinen Rücktritt auf Mitte 2013 an. Bei der Wahl um seinen Nachfolger konnte sich schliesslich am 21. April 2013 im zweiten Wahlgang Thomas Weber (SVP) durchsetzen, nachdem beim ersten Wahlgang am 3. März 2013 noch Eric Nussbaumer (SP) in Führung lag, jedoch das erforderliche absolute Stimmenmehr verfehlte. Der Tod von Peter Zwick am 23. Februar 2013 erforderte eine zweite Regierungsratsnachwahl. Diese wurde auf den 9. Juni 2013 angesetzt. Hier konnte sich Anton Lauber (CVP) im ersten Wahlgang klar gegen Thomi Jourdan (EVP) durchsetzen. Bei den Wahlen vom 12. Februar 2023 trat Thomas Weber (SVP) nicht mehr an. An seine Stelle wurde mit Thomi Jourdan erstmals ein Politiker der Evangelischen Volkspartei (EVP) in eine Kantonsregierung gewählt. Sandra Sollberger (SVP) schaffte es hingegen nicht, den Sitz der SVP zu verteidigen. Judikative. Höchstes kantonales Gericht ist das Kantonsgericht, das 2001 aus dem bisherigen Obergericht, Verfassungsgericht, Verwaltungsgericht und Versicherungsgericht gebildet wurde. Erstinstanzliche Gerichte sind für zivile Prozesse die beiden Zivilkreisgerichte und für Strafprozesse das Strafgericht und das Jugendgericht. Auf kommunaler Ebene wirken als schlichtende Vorinstanz die Friedensrichter. Gemeinden und Bezirke. Der Kanton Basel-Landschaft beabsichtigte, einen ausgeglichenen Staatshaushalt bis 2016 sowie eine hundertprozentige Selbstfinanzierung bis 2018 zu erreichen. Aufgrund dessen sollten unter anderem alle Gemeinden gestärkt und die fünf Bezirke in sechs sogenannte "Regionalkonferenzen" umgewandelt werden. Der Kanton Basel-Landschaft ist in fünf Bezirke aufgeteilt: Wirtschaft. Bekannte Firmen aus dem Baselbiet sind Endress+Hauser, Ronda, Novartis, Hoffmann-La Roche, Ricola, Weleda, Bombardier, Laufen, Renata, Clariant und die Georg Fischer JRG AG. Die Arbeitslosenquote im Kanton liegt knapp unter dem Schweizer Durchschnitt. Per betrug die «Arbeitslosenquote»  Prozent gegenüber  Prozent auf eidgenössischer Ebene. Im Jahr 2020 wurden 18,8 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche des Kantons durch 161 Betriebe biologisch bewirtschaftet. Tourismus. Das Baselbiet ist für seine malerische Jura-Landschaft im Oberbaselbiet bekannt, ein häufiges Postkartensujet sind hierbei die blühenden Kirschbäume im Frühling. Zahlreiche Wanderwege verbinden Berg und Tal. Besonders beliebt ist die Region Wasserfallen auf über , auf die von Reigoldswil aus die Wasserfallenbahn führt (die einzige Gondelbahn der Region). Im Sommer beliebt ist die solarbetriebene Rodelbahn bei Langenbruck in der "Wanne", einem Talkessel östlich des Beretenchopfs (). Im Winter sind gleichenorts bei genügend Schnee zwei Skilifte in Betrieb; die "Untere Wanne" befindet sich auf Baselbieter Boden, die "Obere Wanne" hingegen bereits auf dem Gemeindegebiet von Holderbank (Kanton Solothurn). Weitere Skilifte für Wintersportler werden in Zeglingen (Staffelalp) und Oltingen (Schafmatt) betrieben. Skilanglauf ist in Bärenwil (Loipenlänge 6 Kilometer) und Reigoldswil (Loipenlänge 3 Kilometer) möglich. Von 1911 bis 2010 waren östlich von Langenbruck mit den Sprungschanzen Freichelen drei Skisprungschanzen in Betrieb. Weitere touristische Attraktionen: Bildung. Der Kanton, welcher gemeinsam mit dem Kanton Basel-Stadt Träger der Universität Basel sowie Teil der Fachhochschule Nordwestschweiz ist, fungiert sowohl als Universitäts- als auch Fachhochschulstandort. Des Weiteren zählt der Kanton über sein gesamtes Gebiet hinweg insgesamt fünf Maturitätsschulen. Verkehr. Das Baselbiet liegt an zwei Hauptverkehrsachsen. Das Unterbaselbiet liegt an der Bahnlinie Basel–Laufen BL–Delsberg–Biel/Bienne bzw. Pruntrut–Belfort (Frankreich). Das Oberbaselbiet liegt an der Haupt-Nord-Süd-Verkehrsachse Deutschland/Benelux–Gotthard/Lötschberg–Simplon–Italien. Die Autobahn A2 sowie die Transit-Bahnlinie führen durch das Baselbiet. Vom Kantonshauptort Liestal aus führen Intercity- und Interregio-Eisenbahnverbindungen in die ganze Schweiz. Im Jahr 2022 lag der Motorisierungsgrad (Personenkraftwagen pro 1000 Einwohner) bei 520. Neben Tempo-30-Zonen auf Gemeindestrassen wird Tempo 30 seit dem Jahr 2022 vermehrt auch auf Kantonsstrassen eingeführt. Jedoch konnte Andreas Dürr von der FDP und Präsident der ACS-Sektion beider Basel 2023 im Landrat erwirken, dass die Gemeinderäte nicht mehr beim Kanton Gesuche für Temporeduktionen stellen können, bevor sie nicht zuerst den jeweiligen Einwohnerrat oder die jeweilige Gemeindeversammlung dazu befragt haben. Der Verein Touring Club Schweiz (TCS) reichte im April 2023 die Initiative «Tempo 30 – nur mit Zustimmung des Volkes» bei der Baselbieter Landeskanzlei ein. Künftig soll die Koordination von Unfallräumungen und des Abschleppwesens von der Medicall AG, einer Tochtergesellschaft der Helvetia-Gruppe, übernommen werden. Geschichte. Auf dem Gebiet des heutigen Kantons Basel-Landschaft lagen vor den napoleonischen Umwälzungen Teile des Fürstbistums Basel sowie des Untertanengebiets der Stadt Basel, die 1501 der Schweizerischen Eidgenossenschaft beigetreten war. Erst 1815 gelangten durch Verfügung des Wiener Kongresses neun Gemeinden des aufgelösten Fürstbistums Basel an die Stadt Basel, während das übrige Fürstbistum dem Kanton Bern zugeschlagen wurde. Im Jahr 1832 wehrten sich die Landgemeinden gegen die Dominanz der noch patrizisch regierten Stadt Basel. Die linksrheinischen Gemeinden konstituierten sich als selbständiger «Halbkanton» Basel-Landschaft und gaben sich eine liberale, repräsentative Verfassung. Der neue Kanton wurde 1833 von der Tagsatzung der Eidgenossenschaft anerkannt (siehe: Basler Kantonstrennung). Die letzte Hinrichtung im Kanton wurde am 15. Oktober 1851 an dem wegen Raubmords verurteilten Hyazinth Bayer vollzogen. Infolge innerer Spannungen gab sich der Kanton im 19. Jahrhundert mehrfach neue Verfassungen: Beschränkung von Kompetenzstreitigkeiten 1838 und 1850, Durchbruch der Demokratischen Bewegung 1863, Ausbau der Demokratie, Grundlage für Förderung der Wohlfahrt und für Erhebung der Staatssteuer 1892. Die heutige, sechste Verfassung von 1984 brachte eine erneute Erweiterung der Volksrechte (u. a. erster Ombudsmann der Schweiz) und stellt im Übrigen eine formale Neufassung der im Laufe von fast hundert Jahren über zwei Dutzend Mal geänderten Verfassung von 1892 dar. Im Jahr 1994 schloss sich infolge einer Volksabstimmung das bisher bernische Laufental dem Kanton Basel-Landschaft an (siehe Kantonswechsel des Laufentals). Versuche einer Wiedervereinigung mit Basel-Stadt wurden 1936, 1969 und 2014 unternommen, scheiterten aber jedes Mal. Ende September 2014 wurde in den Kantonen Basel-Stadt und Basel-Landschaft über eine Fusionsinitiative abgestimmt, welche die Einrichtung eines gemeinsamen Verfassungsrates zum Ziel hatte. Sie wurde im Stadtkanton mit 55 Prozent angenommen, im Landkanton aber mit über 68 Prozent abgelehnt und wird darum nicht weiterverfolgt. In Basel-Landschaft besteht seit 1988 ein Verfassungsgebot zur staatlichen Eigenständigkeit, die Verfassung von Basel-Stadt enthielt hingegen bis zur Totalrevision 2006 ein Wiedervereinigungsgebot. Verwaltungsgliederung. Politische Gemeinden. Nachfolgend aufgelistet sind die politischen Gemeinden mit mehr als 10'000 Einwohnern per : Bemerkenswert hierbei ist, dass es sich bei den einwohnerstärksten Gemeinden des Kantons mit Ausnahme Liestals um Gemeinden im Agglomerationsgürtel der Stadt Basel handelt. Bezirke. Aus den ursprünglich vier wurden mit der Aufnahme des ehemals bernischen Laufentals fünf Bezirke (Einwohnerzahlen per ):
617
365403
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Bundespräsident
Bundespräsident steht für: Siehe auch:
618
1594645
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Bundeskanzler (Deutschland)
Der Bundeskanzler (Abkürzung "BK") ist der Regierungschef der Bundesrepublik Deutschland. Der Bundeskanzler und die Bundesminister bilden zusammen die deutsche Bundesregierung. Der Regierungschef bestimmt laut Verfassung die Richtlinien der Politik der Bundesregierung. In der Praxis muss er allerdings die Vorstellungen seiner eigenen Partei und der Koalitionspartner berücksichtigen. Im Verteidigungsfall hat der Bundeskanzler die Befehls- und Kommandogewalt über die Streitkräfte. Der Bundeskanzler wird auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestag gewählt, anschließend vom Bundespräsidenten ernannt und durch den Bundestagspräsidenten vereidigt. Der Bundeskanzler schlägt dem Bundespräsidenten die Bundesminister vor; ohne diesen Vorschlag darf der Bundespräsident niemanden zum Bundesminister ernennen. Ohne Mitwirkung des Bundespräsidenten ernennt der Bundeskanzler einen der Bundesminister zum verfassungsmäßigen Stellvertreter, welcher auch als Vizekanzler bezeichnet wird, wobei diese Bezeichnung offiziell nicht existent ist. Vor Ablauf der Legislaturperiode kann ein Bundeskanzler nur durch ein konstruktives Misstrauensvotum abgelöst werden: Dazu muss der Bundestag mit absoluter Mehrheit einen Nachfolger wählen. Für den Fall, dass ein Bundeskanzler stirbt oder zurücktritt, gibt es keine Regelung; mit dem Ende der Kanzlerschaft endet auch die Bundesregierung. Die Verfassung kennt aber die Regelung, dass der Bundespräsident einen Bundesminister bittet, bis zur Ernennung eines Nachfolgers weiterhin die Geschäfte zu führen. In der Vergangenheit hat man diese Regelung als Vorbild dafür genommen, dass ein Bundesminister geschäftsführend als Bundeskanzler amtierte. Der Bundeskanzler gilt als der politisch mächtigste deutsche Amtsträger. Man spricht zuweilen sogar von einer „Kanzlerdemokratie“. Er steht jedoch in der deutschen protokollarischen Rangfolge nach dem Bundespräsidenten (als Staatsoberhaupt) sowie dem Bundestagspräsidenten erst an dritter Stelle. Amtierender Bundeskanzler ist Olaf Scholz (SPD). Er wurde am 8. Dezember 2021 zum neunten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt und anschließend vom Bundespräsidenten ernannt. Er steht an der Spitze einer Koalition aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP. Geschichte. Der Ausdruck "Kanzler" kommt aus dem Mittelalter: Am feudalen Hof war der Kanzler der Leiter der herrschaftlichen Schreibstube, der "Kanzlei". Unter den Bediensteten des Herrschers hatte der Kanzler die höchste Autorität und war damit mit den ägyptischen Staatsschreibern vergleichbar. Die sprachhistorische Herkunft leitet sich aus dem mittellateinischen Substantiv „cancelli“ ab: der Kanzler ist eine Person, die in einem durch Schranken oder Gitter "(cancelli)" abgetrennten Raum arbeitet und insbesondere Beglaubigungen ausstellt. Andere Titel trugen deutsche Regierungschefs nur in der kurzen verfassungslosen Zeit 1918/19 („Vorsitzender des Rates der Volksbeauftragten“ bzw. „Reichsministerpräsident“). Später in der DDR 1949–1990 lautete der Titel „Vorsitzender des Ministerrates“. In der deutschen Verfassungsgeschichte gehörte bereits im Heiligen Römischen Reich das Amt des Erzkanzlers zu den Erzämtern. Es wurde bis 1806, als das Alte Reich endete, als Erzkanzler für Deutschland vom Kurfürsten von Mainz ausgeübt. Der Deutsche Bund (1815–1866) hatte als Organ nur den Bundestag, keine gesonderte Exekutive und keinen Kanzler etwa als ausführenden Beamten. Im entstehenden Deutschen Reich der Revolutionszeit 1848/1849 gab es die erste gesamtdeutsche Regierung, die Provisorische Zentralgewalt. Die vorläufige Verfassungsordnung, das Zentralgewaltgesetz, sprach nur von Ministern, die der Reichsverweser einsetzte. Die Minister trafen sich im Ministerrat, dem ein Reichsministerpräsident vorsaß. Monarchischer Bundesstaat bis 1918. Der Norddeutsche Bund (mit Bundesverfassung vom 1. Juli 1867) hatte einen einzigen verantwortlichen Minister auf Bundesebene, den „Bundeskanzler“. Im Jahr 1871 wurde das Amt für das Deutsche Kaiserreich in „Reichskanzler“ umbenannt. Die Bezeichnung "Kanzler" rührt daher, dass das Amt ursprünglich als ein Beamter gedacht war, der als eine Art Geschäftsführer die Beschlüsse des Bundesrates ausführte. Der Reichskanzler des Kaiserreiches wurde vom Deutschen Kaiser ernannt und entlassen. Ernannt wurden meist hohe Beamte. Ein Reichskanzler musste in der Praxis mit dem Parlament zusammenarbeiten, dem Reichstag. Die Wahlergebnisse hatten aber allenfalls indirekten Einfluss auf die Entlassung eines Kanzlers. Erst seit Oktober 1918 besagte die Verfassung ausdrücklich, dass der Kanzler das Vertrauen des Reichstags benötige. Der Reichskanzler war Vorgesetzter der Staatssekretäre, kein Kollege, auch wenn sich in der Praxis eine Art kollegiale Regierung herausbildete. Die Verfassung stattete das Amt des Reichskanzlers ansonsten nur mit dem Vorsitz im Bundesrat aus. Sitz und Stimme im Bundesrat, und damit Einfluss auf die gesetzgeberische Kraft des Bundesrates, erhielt der Kanzler nur, weil er fast immer auch zum preußischen Ministerpräsidenten und Bundesratsmitglied ernannt wurde. Weimarer Republik. Auch der Reichskanzler der Weimarer Republik (ab 1919) wurde vom Staatsoberhaupt ernannt und entlassen, dem Reichspräsidenten. Der Reichskanzler musste zurücktreten, wenn der Reichstag ihm das Vertrauen entzog. Der Reichskanzler war damit sowohl vom Reichspräsidenten als auch vom Reichstag abhängig. In Artikel 56 der Weimarer Verfassung heißt es: „Der Reichskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür gegenüber dem Reichstag die Verantwortung. Innerhalb dieser Richtlinien leitet jeder Reichsminister den ihm anvertrauten Geschäftszweig selbstständig und unter eigener Verantwortung gegenüber dem Reichstag.“ Dieser Artikel stimmt fast exakt mit den ersten beiden Sätzen des Artikels 65 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (1949) überein. Allerdings schränkten die Rechte des Reichspräsidenten diese Richtlinienkompetenz ein. Außerdem bestanden die Regierungskoalitionen meist aus mehr als zwei oder drei Parteien. Der Reichstag konnte eine Regierung stürzen, ohne gleichzeitig einen neuen Regierungschef wählen zu müssen (kein konstruktives Misstrauensvotum). Im Nachhinein sah man im Nebeneinander von einem starken Reichspräsidenten und einem schwachen Reichskanzler einen Grund dafür, dass die Republik unterging. Reichspräsident Hindenburg ernannte am 30. Januar 1933 den Nationalsozialisten Adolf Hitler zum Reichskanzler. Er nutzte seine Befugnisse in der Folge, um Hitlers Alleinherrschaft zu verwirklichen. Nach dem Tod Hindenburgs 1934 vereinte Hitler die Ämter von Reichskanzler und Reichspräsident unter der Bezeichnung „Führer und Reichskanzler“. Nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Parlamentarische Rat entschied daher 1949, die Stellung des künftigen Bundespräsidenten zu schwächen. Gestärkt wurden hingegen das Parlament und auch der Bundeskanzler. Insbesondere die Vorschriften über die Wahl des Bundeskanzlers, das konstruktive Misstrauensvotum und die Vertrauensfrage waren der tatsächlichen Machtposition des Bundeskanzlers förderlich. Hinzu kam die Ausprägung der Kanzlerdemokratie unter dem ersten Bundeskanzler, Konrad Adenauer. Dessen sehr starke Interpretation der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers wurde von seinen Nachfolgern verteidigt und führt dazu, dass der Bundeskanzler bis heute als mächtigster Politiker im politischen System der Bundesrepublik gilt. In der Deutschen Demokratischen Republik kam es zu einer ähnlichen Tendenz: Der Staatspräsident hatte nur eine repräsentative Rolle und das Parlament bzw. die Regierung wurden gestärkt (im Vergleich zur Weimarer Reichsverfassung, aus der man teils wortgleich Inhalt übernommen hatte). Der Regierungschef, Ministerpräsident genannt, hatte ebenfalls eine herausragende Rolle im Kabinett, bildete die Regierung und gab die Richtlinien der Politik vor. Benannt wurde der Ministerpräsident laut Verfassung (Art. 92) von der stärksten Fraktion im Parlament. Wegen der tatsächlichen Macht der Partei SED waren solche und andere Bestimmungen der Verfassung allerdings ohne Gewicht. Verfassungsrechtliche und politische Stellung. Rolle innerhalb der Bundesregierung. Richtlinienkompetenz und Kollegialprinzip. Der Bundeskanzler besitzt nach Satz 1 des Grundgesetzes (GG) die Richtlinienkompetenz: Er „bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung.“ Er hat damit das Recht, die grundlegenden Richtungsentscheidungen der Bundesregierung zu treffen. Derselbe Artikel schreibt aber auch das Ressortprinzip (Satz 2) und das Kollegialprinzip (Satz 3) vor. Ersteres bedeutet, dass die Bundesminister ihre Ministerien in eigener Verantwortung leiten. Der Bundeskanzler kann hier nicht ohne Weiteres in einzelnen Sachfragen eingreifen und seine Ansicht durchsetzen. Er muss jedoch nach der Geschäftsordnung der Bundesregierung über alle wichtigen Vorhaben im Ministerium unterrichtet werden. Das Kollegialprinzip besagt, dass Meinungsverschiedenheiten der Bundesregierung vom Kollegium entschieden werden; der Bundeskanzler muss sich also im Zweifel der Entscheidung des Bundeskabinetts beugen. Gleichwohl hat der Bundeskanzler hier aber ein besonderes Gewicht, kann er doch von seinem Recht auf Bestellung und Abberufung der Bundesminister Gebrauch machen, was in der Praxis bisher aber nur sehr selten vorkam. Der Bundeskanzler kann die Zahl und Zuständigkeiten der Ministerien regeln ( Absatz 1 und Art. 65 des Grundgesetzes sowie § 9 der Geschäftsordnung der Bundesregierung). Er „leitet“ damit im administrativen Sinne die Geschäfte der Bundesregierung. Beschränkt wird seine Organisationsgewalt durch die im Grundgesetz vorgeschriebene Errichtung des Bundesministeriums der Verteidigung (: "Bundesminister für Verteidigung"), des Bundesministeriums der Justiz ( Abs. 2 Satz 4: "Geschäftsbereich des Bundesjustizministers") und des Bundesministeriums der Finanzen ( Abs. 3 Satz 2: "Bundesminister der Finanzen"). Auch wenn Ressort- und Kollegialprinzip in der Praxis ständig angewandt werden, so rückt die auch als „Kanzlerprinzip“ bezeichnete Richtlinienkompetenz den Bundeskanzler als den bedeutendsten politischen Akteur in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. Seine Aussagen werden stark beachtet; äußert er sich zu einer Sachfrage anders als der zuständige Fachminister, so hat häufig trotz der Gültigkeit des Ressortprinzips der Fachminister das Nachsehen, will er nicht wegen „schlechter Teamarbeit“ vom Bundeskanzler intern oder gar öffentlich gerügt werden. Der Bundeskanzler war oft gleichzeitig Vorsitzender seiner Partei (Adenauer 1950–1963, Erhard 1966, Kiesinger 1967–1969, Kohl 1982–1998 und Merkel 2005–2018 in der CDU; Brandt 1969–1974 und Schröder 1999–2004 in der SPD) und genießt damit nicht nur als Bundeskanzler, sondern auch als Parteivorsitzender hohes Medieninteresse und starken Einfluss innerhalb der Partei und Fraktion, die seine Regierung stützt. Allerdings haben alle Bundeskanzler auch in den Zeiten, in denen sie nicht den Parteivorsitz bekleideten, faktisch eine wichtige Rolle in der regierungstragenden Fraktion innegehabt, um deren Zusammenwirken mit dem Kabinett zu fördern. Der Bundeskanzler muss in der Regel auf einen Koalitionspartner Rücksicht nehmen, auch wenn deren Fraktion deutlich kleiner ist. Seine Äußerungen mögen in seiner Partei auf einmütige Zustimmung treffen, die Akzeptanz des Koalitionspartners, der damit trotz geringerer Größe nahezu gleichberechtigt ist, kann aber noch nicht automatisch als erreicht angesehen und muss eventuell durch Zugeständnisse gesichert werden. Der Bundeskanzler kann aber auch in seiner eigenen Partei nicht diktatorisch regieren, da auch seine Parteiämter regelmäßig in demokratischer Wahl bestätigt werden und die Abgeordneten trotz Fraktionsdisziplin nicht unbedingt der Linie des Bundeskanzlers folgen müssen. Schließlich hängt es auch von der Person des Bundeskanzlers und den politischen Gegebenheiten ab, wie er den Begriff der Richtlinienkompetenz ausgestaltet. Konrad Adenauer als erster Bundeskanzler nutzte die Richtlinienkompetenz unter den Ausnahmebedingungen eines politischen Neubeginns stark aus. Mit seiner Amtsführung legte Adenauer den Grundstein für die sehr weit reichende Interpretation dieses Begriffes. Schon unter Ludwig Erhard sank die Machtfülle des Bundeskanzlers, bis schließlich in Kurt Georg Kiesingers Großer Koalition der Bundeskanzler weniger der „starke Mann“ als vielmehr der „wandelnde Vermittlungsausschuss“ war. Während Adenauer und Helmut Schmidt sehr strategisch mit ihrem Stab (im Wesentlichen dem Kanzleramt) arbeiteten, bevorzugten Brandt und Kohl einen Stil der informelleren Koordination. In beiden Modellen kommt es bei der Bemessung der Einflussmöglichkeiten des Bundeskanzlers auf die Stärke des Koalitionspartners und auf die Stellung des Bundeskanzlers in seiner Partei an. Aufgrund dieser politischen Einschränkungen der durch die Verfassung definierten Position des Bundeskanzlers halten viele Politikwissenschaftler die Richtlinienkompetenz für das am meisten überschätzte Konzept des Grundgesetzes. Der letzte Fall, in dem die Ausübung der Richtlinienkompetenz als solche offiziell dokumentiert ist, war eine am 17. Oktober 2022 von Olaf Scholz erlassene Verfügung über die vorübergehende Fortsetzung des Leistungsbetriebs der drei letzten am Netz befindlichen deutschen Kernkraftwerke im Rahmen der Bewältigung der insbesondere durch den Energiekonflikt mit Russland verschärften Energiekrise im Jahr 2022; vorausgegangen war dem ein monatelanger Streit zwischen den Koalitionären der Ampel-Regierung. Da der Bundeskanzler sich bei innenpolitischen Fragen stärker auf die Ministerien verlassen muss, kann er sich häufig in der Außenpolitik profilieren. Alle Bundeskanzler haben das diplomatische Parkett – durchaus auch im mehr oder weniger stillen Machtkampf mit dem Außenminister, der seit 1966 immer einer anderen Partei angehört als der Bundeskanzler – genutzt, um neben den Interessen der Bundesrepublik auch sich selbst in positivem Licht darzustellen. Besonders Bundeskanzler Adenauer, der von 1951 bis 1955 selbst das Außenministerium führte, konnte hier starken Einfluss nehmen. Die Bundesregierung und der Bundeskanzler haben das alleinige Recht, Entscheidungen der Exekutive zu treffen. Aus diesem Grund bedarf jede förmliche Anordnung des Bundespräsidenten – bis auf die Ernennung und Entlassung des Bundeskanzlers, die Auflösung des Bundestages nach dem Scheitern der Wahl eines Bundeskanzlers und das Ersuchen zur Weiterausübung des Amtes bis zur Ernennung eines Nachfolgers – der Gegenzeichnung des Bundeskanzlers oder des zuständigen Bundesministers. Bestellung der Bundesminister. Nach des Grundgesetzes schlägt der Bundeskanzler dem Bundespräsidenten die Bundesminister vor, der sie ernennt. Der Bundespräsident muss sie nach der in der Staatsrechtslehre überwiegenden Meinung ernennen, ohne die Kandidaten selbst politisch prüfen zu können. Ihm wird allerdings in der Regel ein formales Prüfungsrecht zugestanden: Er kann etwa prüfen, ob die designierten Bundesminister Deutsche sind. Der Bundestag hat dabei ebenfalls kein Mitspracherecht. Auch bei der Entlassung von Bundesministern können weder der Bundespräsident noch der Bundestag in rechtlich bindender Weise mitreden – auch hier liegt die Entscheidung ganz beim Bundeskanzler, die Entlassung wird wieder durch den Bundespräsidenten durchgeführt. Selbst die Aufforderung des Bundestages an den Bundeskanzler, einen Bundesminister zu entlassen, ist rechtlich unwirksam; allerdings wird der Minister, wenn tatsächlich die Mehrheit des Bundestages und damit auch Mitglieder der die Bundesregierung tragenden Koalition gegen ihn sind, häufig von sich aus zurücktreten. Der Bundestag kann die Minister nur zusammen mit dem Bundeskanzler durch ein Konstruktives Misstrauensvotum ablösen. Diese zumindest formal uneingeschränkte Personalhoheit des Bundeskanzlers über sein Kabinett spricht für die starke Stellung des Bundeskanzlers. Bundeskanzler Schröder hat 2002 von dieser Personalhoheit sehr deutlich Gebrauch gemacht, als er gegen dessen ausdrücklichen Willen den Verteidigungsminister Rudolf Scharping aus seinem Amt entlassen ließ. Angela Merkel ließ Bundesumweltminister Norbert Röttgen am 16. Mai 2012 ebenfalls gegen seinen Willen entlassen. Der Bundeskanzler muss jedoch bei der Ernennung meist auf „Koalitionsverträge“ und innerparteilichen Proporz Rücksicht nehmen; bei Entlassungen gilt das insbesondere bei Ministern des Koalitionspartners noch stärker: Hier schreiben die Koalitionsvereinbarungen stets vor, dass eine Entlassung nur mit Zustimmung des Koalitionspartners erfolgen kann. Hielte sich der Bundeskanzler nicht an diesen rechtlich zwar nicht bindenden, politisch aber höchst bedeutsamen Vertrag, wäre die Koalition sehr schnell zu Ende. Insgesamt unterliegt die Personalfreiheit des Bundeskanzlers durch die politischen Rahmenbedingungen erheblichen Beschränkungen. Ferner kann ein (neues) Bundesministerium nur im Rahmen des Haushaltsplanes eingerichtet werden, der Zustimmung im Bundestag finden muss. Stellvertretung. Der Bundeskanzler ernennt gemäß Absatz 1 des Grundgesetzes – ohne Mitwirkung des Bundespräsidenten – einen Bundesminister zu seinem Stellvertreter. Inoffiziell spricht man auch vom „Vizekanzler“. Das ist in der Regel der wichtigste Politiker des kleineren Koalitionspartners. Häufig fielen das Amt des Außenministers und die „Vizekanzlerschaft“ zusammen; dies war jedoch nie eine verbindliche Kombination, sondern nur eine Tradition (seit 1966, mit Unterbrechungen 1982, 1992/93, 2005–2007, 2011–2017 und seit 2018). Es ist auch möglich, dass der Vizekanzler der gleichen Partei wie der Bundeskanzler angehört (wie zum Beispiel Ludwig Erhard 1957–1963). Gegenwärtiger Stellvertreter des Bundeskanzlers ist Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen). Dabei handelt es sich stets nur um die Vertretung der Funktion, nicht um die des Amtes. Der Stellvertreter vertritt also nur den Kanzler, beispielsweise wenn dieser auf einer Reise ist und der Stellvertreter eine Kabinettssitzung leitet. Es ist in der Rechtswissenschaft strittig, ob der Bundespräsident, würde der Bundeskanzler zum Beispiel durch eine schwere Krankheit dauerhaft amtsunfähig oder stürbe er gar, den Vizekanzler gleichsam automatisch zum geschäftsführenden Bundeskanzler ernennen müsste oder aber auch einen anderen Bundesminister mit der Aufgabe betrauen könnte. In jedem Fall müsste unverzüglich ein neuer Bundeskanzler vom Bundestag gewählt werden. Bislang ist ein solcher Fall – von Kanzlerrücktritten abgesehen – allerdings noch nie eingetreten. Steht auch der Stellvertreter nicht zur Verfügung, so geht seine Rolle nach der Vertretungsreihenfolge der Geschäftsordnung der Bundesregierung auf einen besonders bezeichneten Bundesminister über. Im Kabinett Scholz ist dies Christian Lindner. Ist kein solcher Minister bezeichnet, geht die Rolle auf das dienstälteste Mitglied der Bundesregierung über. Sind mehrere Minister gleich lange im Amt, entscheidet das höhere Lebensalter. Unmittelbar unterstehende Behörden. Leiter des Bundeskanzleramtes ist nicht der Bundeskanzler selbst, sondern ein von ihm ernannter Bundesminister oder Staatssekretär. Das Bundeskanzleramt hat für jedes Ministerium spiegelbildlich ein Referat und stellt dem Bundeskanzler damit für jedes Fachgebiet eine kompetente Mitarbeiterschaft zur Verfügung. Dem Bundeskanzler untersteht auch direkt das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Dieses hat die Aufgabe, die Öffentlichkeit über die Politik der Bundesregierung zu unterrichten und umgekehrt den Bundespräsidenten und die Bundesregierung (nötigenfalls rund um die Uhr) über die aktuelle Nachrichtenlage zu informieren. Das Amt muss streng zwischen Äußerungen der Bundesregierung und Äußerungen der die Bundesregierung tragenden Parteien trennen. Außerdem fällt der Bundesnachrichtendienst (BND) direkt in den Geschäftsbereich des Bundeskanzlers. Der Etat des Bundesnachrichtendienstes ist im Etat des Bundeskanzleramtes enthalten, wird aber aus Geheimhaltungsgründen nur als Gesamtsumme veranschlagt (sog. Reptilienfonds). Der direkte Zugriff auf den Geheimdienst bringt dem Bundeskanzler in innenpolitischen Fragen keinerlei Wissensvorsprung, da der BND nur im Ausland operieren darf. Allenfalls in außen- und sicherheitspolitischen Fragen entsteht ein gewisser Vorteil für den Bundeskanzler. Wahl. Wählbarkeit. Das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes stellen keine ausdrücklichen Voraussetzungen für die Wählbarkeit (passives Wahlrecht) zum Amt des Bundeskanzlers auf. In der verfassungsrechtlichen Literatur wird aber ganz überwiegend davon ausgegangen, dass hierfür die Regelungen zur Wählbarkeit zum Bundestag entsprechend gelten. Damit würde gelten, dass zum Bundeskanzler nur gewählt werden kann, wer Deutscher im Sinne von Artikel 116 Grundgesetz ist, das 18. Lebensjahr vollendet hat, und dem nicht durch gerichtliches Urteil das Wahlrecht entzogen wurde; auch Betreuung oder Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus würden disqualifizieren. Erforderlich ist aber nur die Wählbarkeit zum Bundestag, nicht die tatsächliche Mitgliedschaft im Bundestag, auch wenn bislang mit einer Ausnahme (Kurt Georg Kiesinger) alle Bundeskanzler gleichzeitig Mitglieder des Bundestages waren. Das für das Amt des Bundespräsidenten vorgeschriebene Mindestalter von 40 Jahren gilt nicht für den Bundeskanzler. Allerdings waren bisher trotzdem alle Bundeskanzler bei Amtsantritt sogar älter als 50 Jahre. Wahlverfahren. Der Bundeskanzler wird auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Deutschen Bundestag gewählt. 1949 wurde in des Grundgesetzes erstmals in der deutschen Verfassungsgeschichte das Wahlverfahren für den Kanzler sehr detailliert festgelegt. Anders als in früheren deutschen Verfassungen wird der Regierungschef nicht vom Staatsoberhaupt bestimmt, sondern vom Parlament. Die Ernennung durch den Bundespräsidenten kann erst nach Wahl durch den Bundestag erfolgen. Nach dem Grundgesetz erfolgt die Wahl ohne Aussprache, also ohne vorherige Debatte im Bundestag. Ähnlich ist es bei der Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung. Außerdem ist die Wahl des Bundeskanzlers geheim; das ergibt sich allerdings nicht aus dem Grundgesetz, sondern aus der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages ( und ). Das Grundgesetz sieht maximal drei Wahlphasen vor, um je nach Mehrheitsverhältnissen im Bundestag die Kanzlerschaft zu bestimmen. Allerdings hat in der Geschichte der Bundesregierung bislang stets die erste Wahlphase ausgereicht: 1. Wahlphase: Ist das Amt des Bundeskanzlers vakant, etwa durch den Zusammentritt eines neuen Bundestages, aber auch durch Tod, Rücktritt oder Amtsunfähigkeit des alten Bundeskanzlers, schlägt der Bundespräsident innerhalb einer angemessenen Frist dem Bundestag einen Kandidaten für das Amt des Bundeskanzlers vor. In dieser Entscheidung ist der Bundespräsident rechtlich frei. Politisch ist jedoch schon lange vor dem Vorschlag klar, über wen der Bundestag abstimmen wird, da der Bundespräsident vor seinem Vorschlag eingehende Gespräche mit den Partei- und Fraktionsspitzen führt. Bisher ist auch stets der von der mehrheitsführenden Koalition ins Spiel gebrachte Nachfolgekandidat vom Bundespräsidenten vorgeschlagen worden. Der Kandidat benötigt zu seiner Wahl die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, also die absolute Mehrheit. 2. Wahlphase: Wählt der Bundestag den vom Bundespräsidenten vorgeschlagenen Kandidaten nicht, so beginnt eine zweite Wahlphase. (Dieser Fall ist in der Geschichte der Bundesrepublik bisher noch nie eingetreten.) Diese Phase dauert maximal zwei Wochen. In dieser Zeit kann ein Wahlvorschlag aus der Mitte des Bundestags kommen. Laut Geschäftsordnung muss der Kandidatenvorschlag mindestens ein Viertel der Abgeordneten hinter sich haben. Über die vorgeschlagenen Kandidaten wird dann abgestimmt: Denkbar ist sowohl eine Einzelwahl (nur ein Kandidat) als auch eine Mehrpersonenwahl. In jedem Fall benötigt ein Kandidat zur Wahl wiederum die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages. Die Anzahl der Wahlgänge ist innerhalb von zwei Wochen unbegrenzt. 3. Wahlphase: Wird auch während der zweiten Wahlphase kein Kandidat mit absoluter Mehrheit gewählt, so muss der Bundestag nach Ablauf der zwei Wochen unverzüglich erneut zusammentreten und einen weiteren Wahlgang durchführen. Das ist die dritte Wahlphase. Dabei gilt als gewählt, wer die meisten Stimmen auf sich vereinigt. Bei Stimmengleichheit finden erneute Wahlgänge statt, bis ein eindeutiges Ergebnis erzielt worden ist. Erhält der Gewählte die absolute Mehrheit der Stimmen der Mitglieder des Bundestages, so muss der Bundespräsident ihn binnen sieben Tagen ernennen. Erhält der Gewählte nur die relative Mehrheit der Stimmen, so ist das einer der wenigen Fälle, in denen dem Bundespräsidenten echte politische Machtbefugnisse zuwachsen: Er kann sich nun frei entscheiden, ob er den Gewählten ernennt und damit möglicherweise einer Minderheitsregierung den Weg ebnet oder aber den Bundestag auflöst und so vorgezogene Neuwahlen stattfinden lässt ( Abs. 4 GG). Bei dieser Entscheidung dürfte der Bundespräsident erwägen, ob eine Minderheitsregierung Aussichten darauf hat, künftig im Parlament ausreichend Unterstützung zu finden. Außerdem kann berücksichtigt werden, ob eine Neuwahl die Mehrheitsverhältnisse entscheidend verändern würde oder ob sie überhaupt zur politischen Stabilität beitragen dürfte. Dieses Wahlverfahren gilt grundsätzlich auch im Verteidigungsfall. Die Wahl eines Bundeskanzlers durch den Gemeinsamen Ausschuss ist jedoch gesondert geregelt, indem nur die oben beschriebene erste Wahlphase analog angewendet wird. Das Grundgesetz macht keine Aussage über das weitere Verfahren, wenn der Gemeinsame Ausschuss den vom Bundespräsidenten Vorgeschlagenen nicht wählt. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Vorschriften des oben genannten Artikels 63 Grundgesetz für eine solche Wahl analog gelten. Der Bundeskanzler muss weder Mitglied des Bundestages noch einer politischen Partei sein, allerdings muss er das passive Wahlrecht zum Bundestag besitzen. Gemäß dem Grundsatz der Unvereinbarkeit darf er weder ein anderes besoldetes Amt bekleiden noch einen Beruf oder ein Gewerbe ausüben, kein Unternehmen leiten und nicht ohne Zustimmung des Bundestages dem Aufsichtsrat eines auf Gewinn orientierten Unternehmens angehören ( GG). Ernennung und Amtseid. Nach der Wahl wird der Bundeskanzler vom Bundespräsidenten ernannt. Normalerweise müssen alle Handlungen des Bundespräsidenten von einem Mitglied der Bundesregierung gegengezeichnet werden. Die Ernennung und Entlassung des Bundeskanzlers ist eine der wenigen Ausnahmen ( GG). Darauf folgt die Vereidigung durch den Bundestagspräsidenten ( GG). Der neue Bundeskanzler schwört dabei vor dem Bundestag folgenden Eid: „Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.“ ( GG). Der Eid kann auch ohne religiöse Beteuerung abgeleistet werden; Gerhard Schröder und Olaf Scholz sind bisher die einzigen Bundeskanzler, die von dieser Möglichkeit Gebrauch machten. Rolle im Wahlkampf zur Wahl des Bundestages. Spätestens seit 1961 und der Kandidatur Willy Brandts gegen Konrad Adenauer stellen die beiden großen Volksparteien, CDU/CSU und SPD, „Kanzlerkandidaten“ auf. Obwohl dieses „Amt“ in keinem Gesetz und keiner Parteisatzung definiert ist, spielt es im Wahlkampf eine außerordentlich große Rolle. Der Kanzlerkandidat der jeweils siegreichen Partei bzw. Koalition wird in aller Regel schließlich Bundeskanzler. Der Kanzlerkandidat repräsentiert gerade im über die Massenmedien geführten Wahlkampf sehr stark seine Partei. Seit der Bundestagswahl 2002 finden zwischen den amtierenden Bundeskanzlern und ihren Herausforderern aus dem US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf übernommene Rededuelle statt. Auf diese Weise wurde die Fokussierung auf die Kanzlerkandidaten und weg von programmatischen Fragen weiter forciert. Entsprechend versuchte die FDP bei der Bundestagswahl 2002, mit einem eigenen Kanzlerkandidaten, ihrem Vorsitzenden Guido Westerwelle, zusätzliche Stimmen zu gewinnen. Westerwelle bezeichnete diesen Versuch im Nachhinein als Fehler. 2021 stellten Bündnis 90/Die Grünen mit Annalena Baerbock erstmals eine „Kanzlerkandidatin“ auf – nach Angela Merkel erst die zweite Frau, welche von einer im Bundestag vertretenen Partei zur Kanzlerkandidatin ernannt wurde. Die britische Tradition, dass die größte Oppositionspartei im Wahlkampf ein „Schattenkabinett“ aufstellt, hat sich in Deutschland nicht durchgesetzt. Kanzlerkandidat Willy Brandt hatte 1961 einen entsprechenden Versuch gemacht. In Deutschland muss eine Partei jedoch nach der Wahl meist eine Koalition eingehen und kann daher nicht allein über ein Kabinett entscheiden. In der heutigen Zeit stellt meist die (größte) Oppositionspartei ein „Kompetenzteam“ mit prominenten Politikern zusammen, deren Bereiche zum Teil recht allgemein benannt werden („Außen- und Sicherheitspolitik“). Zusammenarbeit mit Bundestag und Bundesrat. Der Bundestag kann jederzeit die Herbeirufung oder die Anwesenheit des Bundeskanzlers oder eines Bundesministers verlangen. Im Gegenzug haben der Bundeskanzler und die Mitglieder der Bundesregierung das Recht, bei jeder Sitzung des Bundestages oder eines seiner Ausschüsse anwesend zu sein. Sie haben sogar jederzeitiges Rederecht. Die gleichen Rechte und Pflichten bestehen im Verhältnis zum Bundesrat. Spricht der Bundeskanzler im Bundestag als solcher und nicht etwa als Abgeordneter seiner Bundestagsfraktion, so wird seine Redezeit nicht auf die vereinbarte Gesamtredezeit angerechnet. Verteidigungsfall. Seit 1956 sieht das Grundgesetz vor, dass während des Verteidigungsfalls die Befehls- und Kommandogewalt über die Streitkräfte vom Bundesminister für Verteidigung an den Bundeskanzler übergeht. Diese auch als „lex Churchill“ bezeichnete Vorschrift ist in des Grundgesetzes (bis 1968 in Artikel 65 a Absatz 2) enthalten und soll dafür sorgen, dass in Zeiten außerordentlicher Krisen der Bundeskanzler als "starker Mann", bzw. als "starke Frau", alle Fäden in der Hand hält. Aufgrund der Verlängerung der Wahlperiode des Bundestages im Verteidigungsfall verlängert sich auch die Amtszeit des Bundeskanzlers entsprechend ( Absatz 1 in Verbindung mit Absatz 2 des Grundgesetzes). Jedoch kann auch im Verteidigungsfall der Bundeskanzler durch ein konstruktives Misstrauensvotum nach Artikel 67 (durch den Bundestag) oder nach Artikel 115h (durch den Gemeinsamen Ausschuss mit Zweidrittelmehrheit) abgelöst werden. „Bundeskanzler Üb“. Im Rahmen diverser Manöver in den Jahren 1966 bis 1989 (FALLEX und WINTEX) zog die Bundesregierung in den Regierungsbunker in Bad Neuenahr-Ahrweiler ein. Es war jedoch üblich, dass der Bundeskanzler dort nicht persönlich anwesend war, sondern sich vertreten ließ. Der Bundeskanzler bestellte hierzu einen Vertrauten, der für die Dauer der Übung als „Bundeskanzler Üb“ bezeichnet wurde. Während der Amtszeit von Helmut Kohl war dies Waldemar Schreckenberger. Rechtliche Sondervorschriften. Der Bundeskanzler hat als Mitglied der Bundesregierung das Recht, als Zeuge in Straf- und Zivilprozessen an seinem Amtssitz oder seinem Aufenthaltsort vernommen zu werden ( der Strafprozessordnung bzw. der Zivilprozessordnung). Der Bundeskanzler als solcher hat keinen Anspruch auf Immunität; ist der Bundeskanzler jedoch gleichzeitig Abgeordneter, so genießt er wie jedes Mitglied des Bundestages dieses Privileg. Wer die Bundesregierung oder ein Mitglied der Bundesregierung, also etwa den Bundeskanzler, nötigt, Befugnisse nicht oder in einem bestimmten Sinne auszuüben, wird nach den oder des Strafgesetzbuches gesondert bestraft. Dienstsitze. Von 1949 bis 1999 hatte der Bundeskanzler seinen Dienstsitz in Bonn, zunächst im Palais Schaumburg, später im 1976 neu gebauten Bundeskanzleramt. Nach dem Umzug der Regierung nach Berlin 1999 residierte er zunächst im früheren Gebäude des Staatsrates der DDR und das Palais Schaumburg wurde sein zweiter Dienstsitz. Seit 2001 haben der Kanzler und das Bundeskanzleramt ihren Hauptdienstsitz im neu entstandenen Bundeskanzleramtsgebäude in Berlin. Hoheitszeichen. Als Hoheitszeichen führt der Bundeskanzler an seiner Dienstlimousine eine quadratisch geformte Standarte, die auf den Bundesfarben Schwarz-Rot-Gold im Zentrum den Bundesschild zeigt. Als weiteres Hoheitszeichen wird am Bundeskanzleramt, wie bei allen Bundesbehörden, die Bundesdienstflagge gehisst. Amtsbezüge. Der Bundeskanzler erhält Amtsbezüge nach dem Bundesministergesetz. Diese setzen sich aus dem Grundgehalt und Zulagen sowie Zuschlägen zusammen. Dabei entspricht das Grundgehalt nach § 11 des Bundesministergesetzes dem 5/3-fachen des Grundgehalts der Besoldungsgruppe 11 der Besoldungsordnung B. Jedoch wird der Betrag gekürzt nach Maßgabe des Gesetzes über die Nichtanpassung von Amtsgehalt und Ortszuschlag der Mitglieder der Bundesregierung und der Parlamentarischen Staatssekretäre. Nach Angaben des Bundesinnenministeriums erhielt die Bundeskanzlerin im April 2021 ein Amtsgehalt von 19.121,82 Euro monatlich zuzüglich eines Ortszuschlages von 1200,71 Euro im Monat und einer Dienstaufwandsentschädigung von 12.271 Euro im Jahr. Seine Einkünfte muss der Bundeskanzler versteuern, allerdings muss er – wie Beamte – keine Beiträge zur Arbeitslosen- und zur gesetzlichen Rentenversicherung zahlen. Die private Nutzung von bundeseigenen Transportmitteln und die Miete seiner Dienstwohnung werden dem Bundeskanzler von der Bundesrepublik Deutschland in Rechnung gestellt. Ein ehemaliger Bundeskanzler hat nach §§ 14 ff. des Bundesministergesetzes Anspruch auf Übergangsgeld längstens für zwei Jahre sowie ― nach Erreichen der Altersgrenze ― auf eine Versorgung, deren Höhe von der Amtsdauer abhängt und eine Mindestamtszeit von vier Jahren erfordert. In der Staatspraxis werden auch Leistungen zur Wahrnehmung nachwirkender Aufgaben gewährt, z. B. für ein Büro und Personal, soweit der jeweilige Bundeshaushalt das vorsieht, was aber nach der Bundeshaushaltsordnung keinen Anspruch begründet. Nach dem Beschluss des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages vom 22. Mai 2022 soll die Gewährung bei ehemaligen Bundeskanzlern voraussetzen, dass eine „fortwirkende Verpflichtung aus dem Amt“ wahrgenommen wird. Der ehemalige Bundeskanzler Schröder hat gegen die damit begründete Verweigerung weiterer Mittel für sein Büro in einem Gebäude des Bundestags Klage beim Verwaltungsgericht Berlin erhoben, die mit Urteil vom 4. Mai 2023 abgewiesen wurde. Nach der Urteilsbegründung erwächst ehemaligen Bundeskanzlern weder aus dem Haushaltsgesetz noch aus Gewohnheitsrecht ein Anspruch auf eine Ausstattung mit Mitarbeitern. Die Ausweisung und Besetzung von Stellen in solchen Organisationseinheiten diene allein öffentlichen Interessen und begründe kein subjektives Recht der ehemaligen Bundeskanzler. Soweit diesen Räume in den Gebäuden des Bundestags durch die Fraktionen zur Verfügung gestellt werden, könne kein Anspruch bestehen gegen die beklagte Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Bundeskanzleramt, weil die Fraktionen selbst rechtsfähig seien und verklagt werden könnten. Die Beklagte könne nicht verfügen über Bundesmittel, die den Fraktionen zugewiesen seien. Dagegen kann die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung eingelegt werden. Ende der Amtszeit. Allgemeines. Die Amtszeit des Bundeskanzlers endet mit seinem Tod, seiner Amtsunfähigkeit, der Ablösung durch konstruktives Misstrauensvotum, seinem Rücktritt oder der konstituierenden Sitzung des neu gewählten Bundestages spätestens 30 Tage nach der Wahl ( Abs. 2 GG). In den beiden letzten Fällen übt der Bundeskanzler in der Regel auf Ersuchen des Bundespräsidenten nach Absatz 3 des Grundgesetzes das Amt des Bundeskanzlers bis zur Ernennung seines Nachfolgers geschäftsführend weiter aus. Während das weitere Prozedere für die Fälle der Beendigung einer Kanzlerschaft teilweise verfassungsrechtlich genau normiert ist, fehlt es für einzelne Beendigungssituationen an eindeutigen Regelungen sowohl im Grundgesetz selbst wie in nachgeordneten Rechtsnormen („Geschäftsordnung der Bundesregierung“). Zu diesen nicht normierten Beendigungsfällen gehört der Tod eines Bundeskanzlers und auch die Beendigung des Amtes durch Rücktritt oder durch das Zusammentreten eines neu gewählten Bundestages in der Konstellation, dass der Bundespräsident nicht von seinem Recht nach Artikel 69 Absatz 3, den bisherigen Amtsinhaber zur Weiterführung der Geschäfte bis zur Ernennung eines neuen Kanzlers zu verpflichten, Gebrauch macht – wie beim Rücktritt Willy Brandts 1974 geschehen. Nach überwiegender Meinung in der Rechtsliteratur müsse dem Bundespräsidenten in solchen Fällen in Analogie zu Artikel 69 Absatz 3 eine außerordentliche Ernennungsbefugnis zuerkannt werden, da die Verfassung von ihrer Struktur her ein ununterbrochenes Funktionieren aller Verfassungsorgane einfordert und sonst unaufschiebbare Maßnahmen nicht getroffen werden könnten. Ohne einen amtierenden Bundeskanzler aber existiert keine Bundesregierung ( GG) und mit der Amtsbeendigung eines Bundeskanzlers verlieren auch alle Regierungsmitglieder ihre Ämter ( Absatz 2 GG). Streitig unter Juristen ist weiterhin, ob der Bundespräsident in solchen Situationen in der Auswahl des „neuen“ Bundeskanzlers auf die Person des bisherigen (auch als solcher nicht mehr im Amt befindlichen) Vizekanzlers beschränkt ist – die herrschende Meinung (u. a. Herzog in Maunz/Dürig Art. 69 Rn. 59) geht von einer Auswahlbeschränkung aus (Walter Scheel war 1974 auch zuvor Vizekanzler, als er von Bundespräsident Gustav Heinemann mit der "vorübergehenden" Amtsführung betraut wurde). Eindeutig ist weiterhin nicht, ob in diesen Fällen der Terminus „geschäftsführender“ Bundeskanzler rechtlich überhaupt der richtige ist: Nach wörtlicher Auslegung des Artikel 69 Absatz 3 des Grundgesetzes können nur die bisherigen Amtsinhaber zum „geschäftsführenden Bundeskanzler“ oder zu „geschäftsführenden Bundesministern“ verpflichtet werden. Aus ähnlichem Grunde wird Konrad Adenauer nicht als Bundesaußenminister für den Zeitraum nach dem Rücktritt Heinrich von Brentanos 1961 geführt, obwohl der das Amt „faktisch geschäftsführend“ wieder übernahm, aber im Gegensatz zu Helmut Schmidt 1982 nicht offiziell Außenminister wurde. Erst eine analoge Auslegung des Artikel 69 Absatz 3 könnte in dieser Fallkonstellation die Bezeichnung „geschäftsführender Bundeskanzler“ rechtfertigen; ansonsten ist er rechtlich ohne Zusatzbezeichnung ausschließlich ein „Bundeskanzler“. Der Rücktritt des Bundeskanzlers während der Legislaturperiode selbst ist im Grundgesetz auch nicht vorgesehen oder geregelt. Dennoch wird er verfassungsrechtlich für zulässig erachtet. Die bisherigen Rücktritte der Bundeskanzler Adenauer, Erhard und Brandt waren daher auch nicht Gegenstand größerer verfassungsrechtlicher Debatten. Der Rücktritt bietet auch einen Weg zu Neuwahlen. Findet bei der nach dem Rücktritt anstehenden Wahl des Bundeskanzlers gemäß Artikel 63 des Grundgesetzes kein Kandidat die absolute Mehrheit, so kann der Bundespräsident Neuwahlen anordnen, er muss das jedoch nicht tun. Konstruktives Misstrauensvotum. Eine der wichtigsten Entscheidungen des Parlamentarischen Rates zur Stärkung der Position des Bundeskanzlers war die Einführung des konstruktiven Misstrauensvotums. Der Bundeskanzler kann nach des Grundgesetzes nur durch eine Mehrheit im Parlament gestürzt werden, wenn sich diese Mehrheit gleichzeitig auf einen Nachfolger für ihn geeinigt hat. Dadurch wird verhindert, dass die Regierung durch eine sie ablehnende, aber in sich nicht einige Mehrheit gestürzt wird. In der Weimarer Republik war das durch das gemeinsame Wirken von extrem rechten und extrem linken Kräften häufig gegeben, was zu kurzen Amtsperioden der Reichskanzler und damit zu allgemeiner politischer Instabilität führte. Der Antrag muss nach der Geschäftsordnung des Bundestages von mindestens einem Viertel seiner Mitglieder eingebracht werden. Dabei muss der Antrag, den Bundespräsidenten zu ersuchen, den Bundeskanzler zu entlassen, gleichzeitig ein Ersuchen an den Bundespräsidenten enthalten, eine namentlich benannte Person zum Nachfolger zu ernennen. Damit wird sichergestellt, dass die neu formierte Mehrheit sich zumindest auf einen gemeinsamen Bundeskanzlervorschlag geeinigt hat und damit erwarten lässt, dass sie über ein gemeinsames Regierungsprogramm verfügt. Der Antrag bedarf zu seiner Annahme wiederum der Kanzlermehrheit, also der absoluten Mehrheit der Stimmen der Mitglieder des Bundestages. Will der Gemeinsame Ausschuss während des Verteidigungsfalles den Bundeskanzler per konstruktivem Misstrauensvotum stürzen, so bedarf dieser Antrag der Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des Gemeinsamen Ausschusses. Mit der Erhöhung dieser Mehrheit sollte die Möglichkeit eines faktischen Staatsstreiches durch den Gemeinsamen Ausschuss erschwert werden. Der Wechsel eines Koalitionspartners oder auch nur einzelner Koalitionsabgeordneter zur Opposition ist nach den Vorschriften des Grundgesetzes legitim. Er steht jedoch in der öffentlichen Wahrnehmung stets im Ruch des Verrates, da nach Argumentation der vom Wechsel jeweils negativ betroffenen politischen Gruppe die Wähler bei ihrer Wahlentscheidung darauf hätten vertrauen können, dass sie mit der Wahl einer Partei auch einen bestimmten Kanzlerkandidaten wählten. Der nachträgliche Wechsel sei eine demokratietheoretisch nicht hinnehmbare Täuschung des Wählers. Das Bundesverfassungsgericht hat sich dieser Argumentation in einem Urteil zur Vertrauensfrage aus dem Jahr 1983 entgegengestellt und demokratische Legitimation mit verfassungsrechtlicher Legitimität gleichgesetzt. Das konstruktive Misstrauensvotum ist in der Geschichte der Bundesrepublik bisher zweimal zur Anwendung gekommen: 1972 versuchte die CDU/CSU-Fraktion erfolglos, Bundeskanzler Willy Brandt zu stürzen und Rainer Barzel zum Kanzler zu wählen; 1982 stürzten CDU/CSU und FDP gemeinsam Bundeskanzler Helmut Schmidt und wählten Helmut Kohl zum Bundeskanzler. Vertrauensfrage. Hat der Bundeskanzler den Eindruck, dass die Mehrheit des Bundestages seine Politik nicht mehr unterstützt, so kann er nach des Grundgesetzes die Vertrauensfrage stellen und damit den Bundestag selbst zum Handeln zwingen. Er kann die Vertrauensfrage auch mit einer Sachentscheidung, also einem Gesetzentwurf oder einem anderen Sachantrag, verbinden. Stimmt der Bundestag dem Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht mit absoluter Mehrheit zu, so gibt es drei Möglichkeiten: In der Geschichte der Bundesrepublik ist die Vertrauensfrage bisher fünfmal gestellt worden. Zweimal (Schmidt 1982 und Schröder 2001) handelte es sich um eine echte Vertrauensfrage, während mit den Vertrauensfragen von Brandt 1972, Kohl 1982 und Schröder 2005 die Auflösung des Bundestags angestrebt und auch erreicht wurde. 1983 und 2005 klagten Abgeordnete beim Bundesverfassungsgericht gegen dieses Vorgehen. Beide Male verwarf das Gericht im Ergebnis die Klagen. Protokollarisches. In der – nicht gesetzlich geregelten, aber weithin befolgten – protokollarischen Rangordnung in Deutschland steht der Bundeskanzler auf Rang drei, hinter dem Bundespräsidenten und dem Präsidenten des Bundestags. Das Protokoll Inland der Bundesregierung empfiehlt als Anrede für den Bundeskanzler „Herr Bundeskanzler“ oder „Frau Bundeskanzlerin“, nicht aber für ehemalige Amtsinhaber. Im internationalen diplomatischen Schriftverkehr wird das auch für ausländische Regierungschefs und republikanische Staatsoberhäupter gängige Prädikat Exzellenz verwendet. In Anschriften soll für ehemalige Amtsinhaber die frühere Amtsbezeichnung mit dem Zusatz "a. D." verwendet werden, jedoch nur wenn eine vorrangig zu verwendende aktuelle Amts- oder Funktionsbezeichnung fehlt. Beurteilung des Amtes. Die Konstruktion eines starken, nur vom Bundestag abhängigen Bundeskanzlers hat sich nach überwiegender Ansicht der Politikwissenschaft bewährt. Während das Zusammenspiel von Bundestag und Bundesrat in der Gesetzgebung regelmäßig kritisiert und das Amt des Bundespräsidenten in seiner heutigen Ausgestaltung gelegentlich infrage gestellt wird, sind sowohl das Amt als auch die Befugnisse des Bundeskanzlers nahezu unumstritten. Auch wenn Konrad Adenauers Machtposition, die sich im während seiner Amtszeit geprägten Begriff der "Kanzlerdemokratie" manifestierte, bei seinen Nachfolgern nicht in diesem Umfang erhalten blieb, ist der Bundeskanzler der wichtigste und mächtigste deutsche Politiker. Die verhältnismäßig starke verfassungsrechtliche Position, die sich unter anderem durch die Art der Amtseinsetzung und der Kabinettsbildung sowie durch die erschwerte Absetzbarkeit nur durch ein konstruktives Misstrauensvotum ergibt, und die regelmäßige Bekleidung eines hohen Parteiamtes in Verbindung mit relativ stabilen parteipolitischen Verhältnissen hat für eine große Kontinuität im Amt des Bundeskanzlers gesorgt: Olaf Scholz ist erst die neunte Person, die das Amt innehat. Die lange durchschnittliche Amtszeit der Bundeskanzler von etwa neun Jahren wird jedoch auch kritisiert. In diesem Zusammenhang wurde bereits eine in ihrer praktischen Umsetzung nicht unproblematische Begrenzung der Amtszeit des Bundeskanzlers auf acht Jahre wie beim US-Präsidenten vorgeschlagen, auch Gerhard Schröder unterstützte diese Idee vor seiner Amtszeit. Er rückte jedoch später von ihr ab, zumal er sich nach einer Kanzlerschaft über zwei Amtsperioden (1998–2005) bei der Bundestagswahl 2005 zur Wiederwahl stellte. Die Hoffnungen auf einen starken Bundeskanzler haben sich insgesamt erfüllt, die Befürchtungen vor einem zu starken Machthaber haben sich jedoch nicht bewahrheitet, zumal die Macht des Bundeskanzlers im Vergleich zum Reichspräsidenten der Weimarer Republik oder zum US-Präsidenten beschränkt ist. Insofern kann das Wort von Alt-Bundespräsident Herzog, das Grundgesetz sei ein Glücksfall für Deutschland, auch auf die Konstruktion des Amtes des Bundeskanzlers bezogen werden. Als Verfassungsrechtler kritisierte Roman Herzog allerdings auch einige „Petrefakte“ des Grundgesetzes. Es sei ein „Kunststück“, dass Artikel 61 die Anklage des Bundespräsidenten vor dem Bundesverfassungsgericht vorsehe, dass also nicht der Bundeskanzler, der zu Manipulationen alle Gelegenheit habe, sondern der Bundespräsident mit der Möglichkeit der Organklage bedroht sei. Das Vorschlagsrecht nach Artikel 63 Absatz 1 sei eine Rückbildung des Auswahlrechtes, das zur Kaiserzeit und Weimarer Zeit noch selbstverständlich gewesen sei. Das könne man jetzt streichen. Der Ausdruck "Bundeskanzlerin". Im Zusammenhang mit der Wahl Angela Merkels zur Bundeskanzlerin wurden auch einige Betrachtungen im Hinblick auf den sprachlichen Umgang mit dem ersten weiblichen Amtsinhaber angestellt. So wurde festgestellt, dass – obwohl im Grundgesetz nur vom „Bundeskanzler“ im generischen Maskulinum die Rede ist – die offizielle Anrede für eine Frau im höchsten Regierungsamt „Frau Bundeskanzlerin“ lautet. Ferner wurde auch klar, dass Angela Merkel zwar die erste Bundeskanzlerin (im Femininum), gleichzeitig aber auch der achte Bundeskanzler (im generischen Maskulinum) war. Ebenfalls im Zusammenhang mit der erstmaligen Wahl einer Frau in das Amt des Bundeskanzlers wurde das Wort „Bundeskanzlerin“ am 16. Dezember 2005 von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres gekürt, weil der Ausdruck nach Ansicht der Jury sprachlich interessante Fragen aufwerfe und vor einigen Jahrzehnten auch eine Bundeskanzlerin noch mit „Frau Bundeskanzler“ angesprochen worden wäre. 2004 wurde die Anrede „Frau Bundeskanzlerin“ in den Duden aufgenommen. Die Internetdomain "bundeskanzlerin.de" wurde bereits 1998 durch den damaligen Studenten Lars Heitmüller reserviert. Er hatte angekündigt, sie kostenfrei an die erste Bundeskanzlerin zu übertragen, was schließlich im November 2005 erfolgte. Deutsche Bundeskanzler seit 1949. Konrad Adenauer (1949–1963). Konrad Adenauers Amtszeit war wesentlich von außenpolitischen Ereignissen geprägt. Die Westbindung mit NATO-Beitritt und Gründung der EGKS, dem Grundstein der Europäischen Union, setzte er gegen den Widerstand der SPD durch. Er brachte die deutsch-französische Aussöhnung voran und unterschrieb 1963 den deutsch-französischen Freundschaftsvertrag. Ebenso setzte er sich in starkem Maße für die deutsch-jüdische Versöhnung ein. Auch innenpolitisch wird ihm – neben seinem Nachfolger Ludwig Erhard – das Wirtschaftswunder, die starke wirtschaftliche Erholung der westdeutschen Gesellschaft, angerechnet. Durch sozialpolitische Beschlüsse wie die Lastenausgleichsgesetzgebung oder die dynamische Rente erreichte er die Integration von Flüchtlingen, die Entschädigung von Opfern des Zweiten Weltkrieges und die Bildung einer stabilen Gesellschaft mit breitem Mittelstand. Negativ werden seine strikte Ablehnung gegen Ludwig Erhard als Nachfolger, sein Verhalten in der Spiegel-Affäre, seine Uneindeutigkeit bei der Frage nach der Kandidatur zum Bundespräsidenten 1959 und sein unbedingtes Festhalten an der Macht 1962/63 angemerkt. Insgesamt hat Konrad Adenauer mit seiner Interpretation der Befugnisse des Bundeskanzlers wichtige Weichen für das Amtsverständnis seiner Nachfolger gelegt. Seine 14-jährige Amtszeit dauerte länger als die demokratische Phase der Weimarer Republik bis zur Machtübergabe an Hitler. Er war bei Amtsantritt bereits 73 Jahre alt und regierte bis zu seinem 88. Lebensjahr. Damit war er der älteste Bundeskanzler und wurde auch „der Alte“ genannt. Ludwig Erhard (1963–1966). Ludwig Erhard kam als Mann des Wirtschaftswunders an die Macht, was durch das äußere Erscheinungsbild unterstrichen wurde. Das brachte ihm auch den Beinamen „der Dicke“ ein. Seine Kanzlerschaft stand jedoch schon wegen der Angriffe Adenauers auf seinen Nachfolger und einer einsetzenden leichten wirtschaftlichen Schwächephase unter keinem guten Stern. Als wichtigste außenpolitische Tat seiner Kanzlerschaft gilt die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Israel unter Inkaufnahme heftiger Proteste aus arabischen Staaten. Er versuchte, die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten von Amerika zu stärken, weshalb er als „Atlantiker“ im Gegensatz zum „Gaullisten“ Adenauer bezeichnet wurde. Erhard stürzte schließlich über wirtschaftliche Probleme und die Uneinigkeit in seiner Partei. Nach dem Rückzug der FDP-Minister aus der Regierung im Oktober 1966 begannen Verhandlungen über eine Große Koalition, schließlich trat Erhard zurück. Kurt Georg Kiesinger (1966–1969). Der Kanzler der ersten Großen Koalition, Kurt Georg Kiesinger, stellte ein anderes Bild eines Bundeskanzlers dar. „Häuptling Silberzunge“ vermittelte zwischen den beiden großen Parteien CDU und SPD, anstatt zu bestimmen. Wichtiges Thema seiner Amtszeit war die Durchsetzung der Notstandsgesetze. Wegen seiner früheren NSDAP-Mitgliedschaft war er Angriffen der 68er-Generation ausgesetzt; mit dieser überlappte sich die außerparlamentarische Opposition. Kiesingers Union verfehlte bei der Bundestagswahl 1969 die absolute Mehrheit lediglich um sieben Mandate. Da in der Folge eine Sozialliberale Koalition aus SPD und FDP gebildet wurde und die Unionsparteien erstmals in die Opposition gingen, schied Kiesinger nach nur zwei Jahren und 325 Tagen aus dem Amt; er ist damit der Bundeskanzler mit der bislang kürzesten Amtszeit. Willy Brandt (1969–1974). Willy Brandt war der erste Sozialdemokrat im Bundeskanzleramt. Er setzte sich für die Ostverträge ein und förderte damit die Aussöhnung mit Deutschlands östlichen Nachbarländern; sein Kniefall von Warschau wurde international stark beachtet. Auch stellte er die Beziehungen zur DDR auf eine neue Grundlage. Diese Haltung verschaffte ihm in konservativen Kreisen heftige Gegnerschaft, die 1972 sogar zu einem knapp scheiternden Misstrauensvotum gegen ihn führte. Andererseits erhielt er für seine außenpolitischen Anstrengungen 1971 den Friedensnobelpreis. Innenpolitisch wollte er „mehr Demokratie wagen“; er war deswegen vor allem bei den jüngeren Wählern beliebt. In seine Amtszeit fiel die Ölkrise 1973, die zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit führte, welche wiederum Brandts Ansehen schadete. Nach der Enttarnung seines engen Mitarbeiters Günter Guillaume als DDR-Spion trat Brandt zurück. Er begründete das offiziell mit Unterstellungen, die ihm nachsagten, dass er aufgrund von Frauengeschichten durch Guillaumes Spionage wahrscheinlich erpressbar sei und somit ein Risiko für die Bundesrepublik darstelle. Sein Rücktritt erfolge, weil es keinen Zweifel an der Integrität des Bundeskanzlers geben dürfe. Politische Beobachter sind sich heute einig, dass die Agentenaffäre nur der Auslöser für den geplanten Rücktritt war. Als tatsächliche Ursache für den Rücktritt werden allgemein Amtsmüdigkeit und Depressionen Brandts angenommen, die auch parteiintern zu Kritik an seinem unentschlossenen Führungsstil führten. Nach dem Rücktritt des Bundeskanzlers Willy Brandt am 7. Mai 1974 führte Walter Scheel die Regierungsgeschäfte, bis am 16. Mai 1974 Helmut Schmidt zum Bundeskanzler gewählt wurde. Helmut Schmidt (1974–1982). Helmut Schmidt kam als Nachfolger Willy Brandts ins Amt. Der Terror der Roten Armee Fraktion, besonders im „Deutschen Herbst“ 1977, prägte die ersten Jahre seiner Amtszeit: Schmidt verfolgte in dieser Frage strikt die Politik, dass der Staat sich nicht erpressen lassen dürfe und zugleich der Rechtsstaat gewahrt werden müsse. Innenpolitisch verfolgte er einen – für eine sozialliberale Koalition – eher konservativen Kurs. Seine Unterstützung des NATO-Doppelbeschlusses, mit der viele SPD-Mitglieder nicht einverstanden waren, läutete das Ende seiner Amtszeit ein. 1982 kam es schließlich wegen wirtschaftspolitischer Differenzen zum Bruch mit dem Koalitionspartner FDP. Wegen seiner offenen und direkten Art, auch unpopuläre Dinge auszusprechen, wurde er auch „Schmidt-Schnauze“ genannt. Helmut Kohl (1982–1998). Helmut Kohl wurde durch ein konstruktives Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt mit den Stimmen von CDU, CSU und der Mehrheit der FDP-Fraktion zum neuen Bundeskanzler gewählt. Er versprach zu Beginn seiner Amtszeit eine „geistig-moralische Wende“. In den ersten Wochen seiner Kanzlerschaft führte er mittels einer verfassungsrechtlich umstrittenen Vertrauensfrage die Auflösung des Bundestages und vorgezogene Neuwahlen herbei. Seine persönliche Vision war ein „Europa ohne Schlagbäume“, das die Schengen-Staaten mit den Schengener Abkommen schließlich auch verwirklichten. Ebenso setzte sich Kohl stark für die Etablierung des Euro ein. Helmut Kohls Name ist eng mit der Deutschen Wiedervereinigung verknüpft: 1989 ergriff er die Gunst der Stunde nach dem Fall der Berliner Mauer und sorgte in internationalen Verhandlungen für die Zustimmung der Sowjetunion zur Wiedervereinigung und der gesamtdeutschen NATO-Mitgliedschaft. Innenpolitisch entstanden durch die Wiedervereinigung große Probleme, da die Wirtschaft in Ostdeutschland entgegen Kohls Einschätzung von den kommenden „blühenden Landschaften“ zusammengebrochen war. Die Schwierigkeiten des Aufbaus Ost waren bestimmend für seine spätere Amtszeit. Schließlich wurde er 1998 auch wegen einer Rekordarbeitslosigkeit abgewählt. Nach Kohls Amtszeit wurde bekannt, dass er zugunsten der CDU unter Verstoß gegen das Parteigesetz Spenden angenommen und „schwarzen Kassen“ zugeführt hatte. Mit 16 Jahren und 26 Tagen Amtszeit ist Kohl der Bundeskanzler, der bisher am längsten amtierte. Er wird deshalb auch heute noch als „ewiger Kanzler“ bezeichnet. Gerhard Schröder (1998–2005). Gerhard Schröder begann kurz nach Antritt seiner Kanzlerschaft mit seiner rot-grünen Koalition eine Reihe von Reform­projekten, denen gegen Ende der ersten Amtszeit eine Phase der „ruhigen Hand“ folgte. Außenpolitisch führte Schröder zunächst die transatlantische Partnerschaft wie seine Vorgänger fort: 1999 und 2001 unterstützte Deutschland im Rahmen der Bündnis­treue die NATO im Kosovo und in Afghanistan. 2002 jedoch verweigerte Schröder den USA offiziell seine Zustimmung zum Irak-Krieg. Das gilt – neben seinem als gut erachteten Krisenmanagement während der Jahrhundertflut in Ost- und Norddeutschland – als wichtiger Grund für seine Wiederwahl 2002. 2003 benannte er mit der Agenda 2010 sein Reformprogramm für die zweite Amtszeit, zumal er die Arbeitslosigkeit nicht – wie zu Beginn seiner Amtszeit angekündigt – hatte halbieren können. Dieses Programm ging der politischen Linken zu weit, während es wirtschaftsnahen Gruppen nicht weit genug ging. Das alles führte zu Massenaustritten aus der SPD, dem Verlust zahlreicher Landtags- und Kommunalwahlen und der Formierung einer neuen linken Strömung jenseits der SPD, die zur Gründung der Wahlalternative WASG führte. Nach einer weiteren schweren SPD-Niederlage bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen 2005 erreichte Gerhard Schröder mittels einer Vertrauensfrage die Auflösung des Bundestages und vorgezogene Neuwahlen im Herbst 2005, auch weil er das Vertrauen der Koalition in ihn beeinträchtigt sah. Zwar verlor er diese Wahlen nach massiven Stimmverlusten knapp, jedoch gelang es ihm, die SPD in der Regierung beteiligt zu behalten, da die unerwartet geringe Differenz zwischen CDU/CSU und SPD im Wahlergebnis sowie der Einzug der Linkspartei ins Parlament zu einer großen Koalition aus Union und SPD führte. Angela Merkel (2005–2021). Angela Merkel wurde am 22. November 2005 zur Bundeskanzlerin gewählt. Die erste Frau und Naturwissenschaftlerin, die das höchste Regierungsamt Deutschlands bekleidete, stützte sich auf eine große Koalition aus CDU/CSU und SPD. Sie war zudem der erste ehemalige Bürger der DDR als gesamtdeutscher Kanzler und war bei Amtsantritt mit 51 Jahren der jüngste Amtsinhaber. Ihren Ruf als „Kohls Mädchen“ hatte sie abgelegt, als sie mit ihrem einstigen Förderer wegen dessen Spendenaffäre brach. Zu Beginn ihrer Amtszeit hatte Merkel sehr hohe Zustimmungsraten, die auch mit der für gut befundenen Lösung außenpolitischer Krisen zusammenhingen. Bei der Bewältigung innenpolitischer Probleme wie der Föderalismus- und der Gesundheitsreform traten Kritiker auch aus ihrer eigenen Partei auf und warfen Merkel Führungsschwäche vor. Bei der Bundestagswahl 2009 kam es zu einer schwarz-gelben Mehrheit. Am 28. Oktober 2009 wurde Merkel als Bundeskanzlerin wiedergewählt. Während sich die internationale Finanzkrise verschärfte und der Euro in Gefahr geriet, machte die Bundesregierung durch ihre teils scharf kritisierte Steuerpolitik von sich reden. Die Wehrpflicht und der Zivildienst wurden ausgesetzt und durch freiwillige Varianten ersetzt. Die Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke wurde zunächst beschlossen und nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima wieder rückgängig gemacht. Bei der Bundestagswahl 2013 verfehlte die FDP erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik den Einzug in den Bundestag. Infolgedessen bildete Merkel erneut eine Koalition mit der SPD und wurde am 17. Dezember 2013 zum dritten Mal zur Bundeskanzlerin gewählt. Als wichtigste Errungenschaft der Kanzlerschaft Merkels gilt die Verringerung der Arbeitslosigkeit, die sich zum Teil den vorangegangenen Reformen Gerhard Schröders verdankt, als größte Herausforderungen die Bewältigung der Finanzkrise seit 2007, der Eurokrise seit 2009 sowie der Flüchtlingskrise seit 2015. Nach der Bundestagswahl 2017 fiel eine Mehrheitsbildung zunächst schwer, da Sondierungen zu einer sogenannten Jamaika-Koalition aus Unionsparteien, FDP und Grünen scheiterten und die SPD zunächst nicht zu einer Zusammenarbeit bereit war. Nach der Einigung auf einen Koalitionsvertrag und dessen erfolgreicher Absegnung durch die beteiligten Parteien CSU, CDU und SPD wurde Angela Merkel am 14. März 2018 zum vierten Mal zur Bundeskanzlerin gewählt. In diese Amtszeit fiel der Beginn der COVID-19-Pandemie. Zur Bundestagswahl 2021 trat sie nicht mehr als Kanzlerkandidatin der Union an. Mit einer Amtszeit von 16 Jahren und 16 Tagen ist sie knapp hinter Helmut Kohl, der zehn Tage länger amtierte, der Bundeskanzler mit der zweitlängsten Amtszeit. Olaf Scholz (seit 2021). Olaf Scholz wurde am 8. Dezember 2021 ins Amt gewählt. Er führt eine Koalition von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP. Dieses als Ampelkoalition bezeichnete Bündnis ist das erste seiner Art auf Bundesebene. Er ist der neunte und der erste konfessionslose Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine wandte sich Scholz am Abend des 24. Februar 2022 in einer Fernsehansprache an die Bevölkerung. Am 27. Februar 2022 kündigte er in einer Sondersitzung des deutschen Bundestages einen Wandel der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik an. Der dafür verwendete Begriff „Zeitenwende“ wurde zum häufig gebrauchten politischen Schlagwort und zum Wort des Jahres 2022 erklärt. Scholz hatte ihn bereits 2017 in seinem Buch "Hoffnungsland" verwendet. Seine Regierung beschloss im Anschluss daran ein Sondervermögen für die Bundeswehr in Höhe von 100 Milliarden Euro. Unter Berufung auf seine Richtlinienkompetenz entschied Scholz im Oktober 2022, nachdem sich die Grüne und FDP beim Thema Atomausstieg bzw. Laufzeitverlängerung deutscher Kernkraftwerke nicht einig waren, dass alle (drei) letzten aktiven Kernkraftwerke in Deutschland über den 31. Dezember 2022 hinaus bis längstens zum 15. April 2023 im Leistungsbetrieb bleiben. Bundeskanzler, die zugleich Bundesaußenminister waren. Zwei Bundeskanzler amtierten zeitweise zugleich als Bundesminister des Auswärtigen: Statistisches. Allgemeines und Amtszeit. Wird der nur geschäftsführende Amtsträger Walter Scheel nicht mitgezählt, so gab es einschließlich Olaf Scholz bislang neun Bundeskanzler. Am längsten amtierte Helmut Kohl mit 16 Jahren und 26 Tagen, dicht gefolgt von Angela Merkel, die nur zehn Tage weniger im Amt war; am kürzesten Kurt Georg Kiesinger mit zwei Jahren und elf Monaten. Parteien. Die SPD stellte vier Bundeskanzler, die CDU kommt auf fünf, darunter die einzige Kanzlerin. Andere Parteien stellten keine gewählten Kanzler. Adenauer (CDU) war früher Mitglied des Zentrums, Kiesinger (CDU) Mitglied der NSDAP, SPD-Kanzler Brandt hatte der linksradikalen Splitterpartei SAP angehört. Angela Merkel war zusammen mit dem Demokratischen Aufbruch in die CDU gekommen. Die CDU stellte am längsten den Bundeskanzler, nämlich (bis einschließlich 2021) 52 Jahre. Die SPD kommt (bis 2021) auf 20 Jahre. Die längste Zeit, in der eine Partei (die CDU) ununterbrochen den Kanzler stellte, waren die 20 Jahre von 1949 bis 1969. Konrad Adenauer vereinte in seinem zweiten Kabinett Vertreter von insgesamt fünf Parteien und hält damit den Rekord (zu Amtsantritt vier, am Ende drei; CDU und CSU als zwei Parteien gezählt). Titel und Ämter. Ludwig Erhard, Helmut Kohl und Angela Merkel haben eine Promotion abgeschlossen. Alle Bundeskanzler erhielten teilweise mehrfach Ehrendoktorwürden. Erhard war Soldat (Unteroffizier) im Ersten Weltkrieg. Kiesinger war aufgrund seiner Ministerialarbeit während des Zweiten Weltkriegs vom Waffendienst befreit, Schmidt war Soldat (Oberleutnant der Wehrmacht, Major d. R. der Bundeswehr). Es ist gängig, dass ein Kanzler zuvor Bundesminister gewesen ist: Erhard vierzehn Jahre (Wirtschaft), Brandt drei Jahre (Auswärtiges), Schmidt fünf Jahre (Verteidigung, Finanzen, Wirtschaft), Scholz sechs Jahre (Arbeit und Soziales, Finanzen) und Merkel acht Jahre (Frauen, Umwelt), die damit (Stand: 2021) insgesamt am längsten Mitglied der Bundesregierung war. Minister einer Landesregierung waren: Erhard 3 Monate (Wirtschaft in Bayern), Scholz 4 Monate (Innensenator in Hamburg) und Schmidt für 4 Jahre (Innensenator in Hamburg). Ehemalige Regierungschefs eines Bundeslandes waren Kiesinger (Baden-Württemberg), Kohl (Rheinland-Pfalz), Schröder (Niedersachsen) und Scholz (Hamburg). Willy Brandt war von 1957 bis 1966 Regierender Bürgermeister von West-Berlin, das in der Zeit der deutschen Teilung faktisch, wenn auch nicht völkerrechtlich, ein Land des Bundesrepublik Deutschland war. Oberbürgermeister einer Großstadt war Adenauer (Köln). Alle bisherigen Kanzler hatten parlamentarische Erfahrung. Kiesinger war bislang der einzige Kanzler, der während seiner Amtszeit nicht Mitglied des Deutschen Bundestages war, gehörte aber zuvor (1949–1958) und danach (1969–1980) dem Bundestag an. Vom 26. Oktober 2021 bis zur Wahl von Olaf Scholz war zudem auch Angela Merkel als geschäftsführende Bundeskanzlerin keine Bundestagsabgeordnete mehr. Kein Bundeskanzler war Mitglied des Reichstages, Adenauer war 1918 kurzzeitig Mitglied des Preußischen Herrenhauses. Mit Ausnahme von Angela Merkel blieben alle Bundeskanzler nach dem Ende ihrer Amtszeit Abgeordnete im Bundestag; Gerhard Schröder nach der Wahl seiner Nachfolgerin jedoch nur für zwei Tage, bevor er sein Mandat niederlegte. Brandt war nach seinem Rücktritt 1974 noch bis zu seinem Tod 1992 Bundestagsabgeordneter, insgesamt 31 Jahre lang (1949–1957, 1961, 1969–1992). Danach folgen Merkel mit ebenfalls 31 Jahren Mitgliedschaft im Bundestag (1990–2021) und Schmidt mit 30 Jahren (1953–1962, 1965–1987). Erhard war 28 Jahre lang Bundestagsabgeordneter (von 1949 bis zu seinem Tod 1977), Kohl 26 Jahre (1976–2002), Adenauer 18 Jahre (1949–1967) und Schröder insgesamt 13 Jahre lang (1980–1986, 1998–2005). Frühere Bundestags-Fraktionsvorsitzende waren Schmidt, Kohl und Merkel. Alter. Bei Amtsantritt am jüngsten war Bundeskanzlerin Merkel mit 51 Jahren. Der älteste Bundeskanzler bei Amtsantritt war Adenauer mit 73 Jahren. Adenauer hält weiterhin den Altersrekord als amtierender Kanzler, er trat erst mit 87 Jahren ab. Der jüngste Bundeskanzler bei Ausscheiden aus dem Amt war Willy Brandt mit 60 Jahren. Bisher war jeder Bundeskanzler zu Beginn seiner Amtszeit jünger als sein Vorgänger; bis auf Gerhard Schröder und Olaf Scholz war auch jeder neugewählte Bundeskanzler jünger, als alle seine Vorgänger bei ihren Amtsantritten waren. Die ersten drei Bundeskanzler traten ihr Amt jeweils erst mit über 60 Jahren an. Seitdem erlebten – beginnend mit Willy Brandt – alle Bundeskanzler bis auf Olaf Scholz ihren 60. Geburtstag im Amt. Das höchste Lebensalter eines ehemaligen Kanzlers erreichte bislang Helmut Schmidt, der 96 Jahre und 322 Tage alt wurde. Schmidt hält auch den Rekord für den längsten Zeitraum als ehemaliger Kanzler. Zwischen seiner Abwahl und seinem Tod vergingen 33 Jahre und 40 Tage. Der am jüngsten verstorbene Bundeskanzler ist Willy Brandt mit 78 Jahren und 295 Tagen. Die kürzeste Zeit als Altkanzler hatte Konrad Adenauer (3 Jahre und 185 Tage). Seit dem Rücktritt des ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer gab es neben dem Amtsinhaber stets noch mindestens einen lebenden Altbundeskanzler. Bislang gab es drei Perioden, in denen neben dem Amtsinhaber je drei Altkanzler am Leben waren: von 1974 bis 1977 (Erhard, Kiesinger, Brandt), von 1982 bis 1988 (Kiesinger, Brandt, Schmidt) und von 2005 bis 2015 (Schmidt, Kohl, Schröder). Seit dem Tod Helmut Kohls im Jahr 2017 lebte mit Gerhard Schröder bis 2021 zeitweilig nur noch ein Altkanzler. Dies war zuvor nach dem Tod Willy Brandts der Fall, als Helmut Schmidt von 1992 bis 1998 der einzige lebende Altkanzler war. Seit 2021 leben mit Schröder und Angela Merkel wieder zwei Altkanzler.
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Motorenbenzin
Motorenbenzin (abgekürzt „Benzin“) ist ein komplexes Gemisch von etwa 150 verschiedenen Kohlenwasserstoffen, deren Siedebereich zwischen denen von Butan und Kerosin/Petroleum liegt. Es wird hauptsächlich aus veredelten Komponenten der Erdölraffination hergestellt und als Kraftstoff eingesetzt. Motorenbenzin gehört zu den „Ottokraftstoffen“; es existieren daneben auch andere Ottokraftstoffe. Motorenbenzin wird auch als Brennstoff für Benzinkocher verwendet. Etymologische Herkunft, Begriff. Der ursprüngliche Name stammt von dem arabischen Wort für Benzoeharz, "luban dschawi" – „Weihrauch aus Java“. Dieser Ausdruck gelangte durch arabische Handelsbeziehungen mit Katalonien nach Europa. Mit dem Wegfall der ersten Silbe und der Änderung des ersten "a" zu "e" entstand im Italienischen "benjuì", im Mittellateinischen "benzoë", woraus sich das deutsche Wort "Benzol" entwickelte. 1825 entdeckte Faraday die später Benzol genannte Verbindung in geleerten Gasflaschen, er nannte sie damals "bicarbure d’hydrogène", bevor sie von Eilhard Mitscherlich in "Benzin" umbenannt wurde. Er bezeichnete damit allerdings das heutige Benzol. Mitscherlich benannte den Stoff nach dem von ihm benutzten Ausgangsstoff, dem Benzoeharz. Die Zuordnung zum heutigen Benzin geschah durch Justus von Liebig. Die Bezeichnung „Benzin“ geht daher nicht, wie teilweise irrtümlich angenommen wird, auf den Motorenbauer Carl Benz zurück, im Gegensatz zum Dieselkraftstoff, der tatsächlich nach Rudolf Diesel benannt ist. Die Entdeckung des Benzin-Luftgemischs als geeignete Kraftstoffquelle für Automobile geht auf Siegfried Marcus zurück. Sorten von Motorenbenzin. Es gibt verschiedene Sorten von Benzinen, die sich in ihrer Klopffestigkeit und zu deren Erreichung auch in der Zusammensetzung des Kohlenwasserstoffgemisches unterscheiden. Die PKW-Hersteller schreiben für ihre Motoren eine Mindestoktanzahl vor; bei Sorten mit niedrigerer Oktanzahl können durch Klopfen Schäden auftreten, es sei denn, dass der Motor sich mit Hilfe eines Klopfsensors durch Verstellung des Zündzeitpunkts in gewissen Grenzen und unter geringfügigem Leistungsverlust darauf einzustellen vermag. Bei Sorten mit höherer Oktanzahl dagegen sind dementsprechend auch geringfügige Leistungs- oder Effizienzsteigerungen möglich. Da die Verstellgrenze allerdings herstellerseits meist für eine bestimmte in der Bedienungsanleitung angegebene Oktanzahl ausgelegt ist, können viele Motoren die neuen 100-Oktan-Benzine nicht ausnutzen. In Deutschland wurde seit November 2007 der Preis des Normalbenzins an den des Superbenzins angeglichen. Vertreter von Automobilclubs äußerten die Vermutung, dass die Mineralölunternehmen mittelfristig Normalbenzin abschaffen wollten, um mehr Erlöse und weniger Kosten zu haben, was 2007 von Mineralölunternehmen noch als unbegründet zurückgewiesen wurde. Mitte September 2008 nahm Shell als erster großer Mineralölkonzern das Normalbenzin komplett aus seinem Angebot, da es kaum noch gekauft würde. Im Jahr 2010 verschwand Normalbenzin von den deutschen Tankstellen, die Zapfsäulen wurden auf Super E10 umgestellt. Außer der Unterscheidung nach Klopffestigkeit gibt es noch die Unterscheidung in Sommerbenzin, Winterbenzin und Übergangsware (siehe unten, Herstellung). Herstellung. Die Hauptbestandteile des Benzins sind vorwiegend Alkane, Alkene, Cycloalkane und aromatische Kohlenwasserstoffe mit 5 bis 11 Kohlenstoff-Atomen pro Molekül und einem Siedebereich zwischen 25 °C und ≈210 °C. Daneben werden dem Roh-Benzin noch diverse Ether (wie MTBE, ETBE) und Alkohole (Ethanol, sehr selten auch noch Methanol) beigemischt. Die Ether bzw. das Ethanol erhöhen die Klopffestigkeit des fertigen Benzins. Die Kohlenwasserstoffe werden im ersten Schritt durch fraktionierte Destillation aus Erdöl gewonnen. Nach ggf. mehreren Veredelungsschritten erhält man folgende (zumeist entschwefelte) Komponenten (Auswahl): Folgende Komponenten stammen nicht aus der obengenannten Raffinerieproduktion, sondern werden bei der Abmischung der einzelnen Komponenten dem Benzin zugegeben: In der Regel wird in einer einzelnen Raffinerie nur eine Auswahl dieser Komponenten hergestellt. Ether und Ethanol werden meist zugekauft. Die Komponenten werden i. d. R. separat in Tanks gelagert und von dort über eine Blending-Station zur Fertigware aufgemischt. Je nach Sorte unterscheiden sich die Mischungsverhältnisse (siehe Blenden). Z. B. werden in hochoktanige Sorten auch verstärkt hochoktanige Komponenten zugemischt. Einige Spezifikationen (DVPE, E70) variieren in Abhängigkeit von der Jahreszeit. Es wird zwischen Sommer-, Übergangs- und Winterware unterschieden. Um im Sommer der Dampfblasenbildung vorzubeugen, werden weniger leichtsiedende Anteile (Butan, Isopentan) im Blend verwendet. Ein Anteil von mehr leichtsiedenden Bestandteilen im Winterbenzin erleichtert dagegen den Kaltstart. Neben der wichtigsten Qualität Oktanzahl (ROZ und MOZ) haben folgende Spezifikationen (s. u.) wesentlichen Einfluss auf den Blend: Der Blend muss möglichst ökonomisch gestaltet werden, d. h. ROZ oder MOZ, DVPE und Aromatenanteil sollten möglichst „angefahren“ werden. Natürlich sind solche Kriterien von Raffinerie zu Raffinerie verschieden. Auch die Preisstruktur des Produktumfeldes (Jet-Preis, MTBE-Preis, Naphtha-Preis) beeinflusst die Blendingstrategie. Entschwefelung. Bei der Entschwefelung von Erdölprodukten werden Sulfidgruppen durch Hydrodesulfurierung von den Kohlenstoffketten abgespalten. Dabei entsteht Schwefelwasserstoff, der durch Aminwäsche entfernt und anschließend unter anderem mit dem Claus-Verfahren zu elementarem Schwefel umgesetzt wird. Die Entschwefelung ist Voraussetzung für die Verwendbarkeit in Motoren mit Abgaskatalysatoren. Additive. Der Grundkraftstoff unterscheidet sich bei den verschiedenen Mineralölkonzernen nicht, er stammt häufig sogar aus derselben Raffinerie. Ihm wird, meist durch eine sogenannte „Endpunktdosierung“ direkt vor der Tankwagenverladung ein "Additivpaket" beigemischt, das spezifisch für den jeweils belieferten Konzern ist. Zu diesen Additiven gehören Oxidationsinhibitoren, Korrosionsschutzmittel, Detergentien (Schutz vor Ablagerungen im Einspritzsystem) und Vergaservereisungsinhibitoren. In Deutschland wurden 2014 circa 19,5 Millionen Tonnen Motorenbenzin hergestellt. Verbleites Benzin. Seit 2000 ist Tetraethylblei in Motorenbenzin in der EU verboten "(siehe Entwicklung der Ottokraftstoffe)". Lediglich besonderes AvGas für Flugzeuge darf noch verbleit werden., speziell in Flugzeugen mit ausgewählten Motoren. Der Zusatz „bleifrei“ wird in den Sortenbezeichnungen aber noch mitgeführt. In Algerien wurde am 1. September 2021 das letzte Mal weltweit verbleites Benzin verkauft. Synthetisches Benzin. Synthetisches Benzin wurde in Deutschland seit den 1920er Jahren bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs wegen Erdölmangels unter anderem durch Kohleverflüssigung gewonnen (z. B. Leuna-Benzin). Heute werden als synthetisches Benzin (engl. "synthetic fuel, Synfuel") verschiedene Kraftstoffe bezeichnet, die sich von konventionellen Kraftstoffen durch das Herstellungsverfahren und Veränderungen der chemischen Struktur unterscheiden. CO2-Bilanz Well-to-Tank. Bei vollständiger Verbrennung von einem Liter Benzin werden neben Wasser 2,32 kg Kohlendioxid direkt freigesetzt. Bis zur Bereitstellung in der Tankstelle sind vorher schon 15–20 % zusätzliche CO2-Emissionen entstanden, man muss also von ca. 2,7 kg CO2 insgesamt pro Liter Benzin ausgehen. Laut einer Shell-Studie fallen bei Benzin- und Diesel-Kraftstoffen im Bereich Herstellung und Bereitstellung (Well-to-Tank) 15–20 % der gesamten CO2-Emission an (Well-to-Wheel). Spezifikationen. Die wichtigsten Benzinarten sind in der Norm EN 228 festgelegt. Neben der (Mindest-)Oktanzahl sind noch folgende wichtige Spezifikationen zu erfüllen: Zapfsäulenaufkleber (Deutschland). Nach § 13 der Verordnung über die Beschaffenheit und die Auszeichnung der Qualitäten von Kraft- und Brennstoffen (10. BImSchV) sind im geschäftlichen Verkehr die gewährleisteten Qualitäten an den Zapfsäulen sowie an der Tankstelle „deutlich sichtbar zu machen“. In Deutschland findet man deshalb an allen Benzin-Zapfsäulen die in der 10. BImSchV (Anlagen 1a-b und 2a-b) geforderten runden Aufkleber mit dem Text: Auf Grund von EU-Vorschriften kommt seit dem 1. Januar 2011 zunehmend Super E10 mit einem Zusatz von bis zu 10 % Bioethanol auf den deutschen Markt. Für diesen Kraftstoff schreibt die 10. BImSchV zusätzliche Warnhinweise auf die E10-Verträglichkeit der Fahrzeuge vor. Siehe hierzu auch: 10. BImSchV: Auszeichnung an Zapfsäulen. Verbrauch. In Deutschland wurden 2014 circa 18,5 Millionen Tonnen Motorenbenzin verbraucht (davon circa 2000 Tonnen Normalbenzin). Da in Deutschland überproportional viel Dieselkraftstoff verbraucht wird, muss dieser teils importiert, teils durch erhöhten Rohölimport bereitgestellt werden. Der dabei entstehende Produktionsüberschuss an Benzin (siehe Herstellung) wird exportiert (vorwiegend Schweiz und USA). Preise. Die Preise für Motorenbenzin (Handelsbezeichnung: Regular = ROZ 91, Premium = ROZ 95, Premium Plus = ROZ 98) orientieren sich in Europa am Rotterdamer Markt. Benzin wird in US-Dollar je 1.000 kg (US-$/t) gehandelt. Verschiedene Publikationsorgane wie Platts, ICIS und O.M.R. berichten (zum Teil täglich) über aktuelle Handelspreise und Volumina. Die im Handel verwendete Referenzdichte (um den Preis einer aktuellen Charge mit einer gegebenen Dichte in Relation zu der Notierung zu setzen) ist 0,745 kg/dm³ für Regular und 0,755 kg/dm³ für alle Premiumsorten. Weiterhin müssen noch Transportkosten und Marge des Kraftstoffhandels berücksichtigt werden. Zusätzlich zu den oben genannten Preisbeträgen, die sich in Produktpreis und Deckungsbeitrag widerspiegeln, kommen noch Steuern und Abgaben. Preisentwicklung. Deutschsprachiger Raum und umliegende Länder. Benzinpreise jeweils nach Erhebung des Touring Club Schweiz: 1 Bleifrei 98 Oktan Deutschland. Preisbildung. Um etwaige Verstöße gegen das Kartellrecht aufzudecken, wurde eine Markttransparenzstelle für Kraftstoffe beim Bundeskartellamt eingerichtet, die an Tankstellen weitestgehend Markttransparenz herstellen soll. Am 1. Dezember 2013 nahm sie den Regelbetrieb auf. Steuern und Abgaben. In Deutschland gehören dazu (jeweils Super bzw. Diesel) die Umlage für den Erdölbevorratungsverbund mit 0,27 bzw. 0,30 ct/L, die Mineralölsteuer/Energiesteuer mit 65,45 bzw. 47,04 ct/L sowie die Mehrwertsteuer von 19 %. Seit 2021 auch die CO2-Steuer. Mit dem Produktpreis und dem Deckungsbeitrag (in dem der Erdölbevorratungsbetrag enthalten ist) sowie der Energiesteuer (Mineralölsteuer) wird ein „neuer“ Nettopreis ermittelt, auf den dann die Mehrwertsteuer von 19 % erhoben wird. Schweiz. In der Schweiz kommen zum Importpreis die Kosten für die Mineralölsteuer, für den Klimarappen, die Importgebühr für Pflichtlager und die Mehrwertsteuer hinzu.
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Bijektive Funktion
Bijektivität (zum Adjektiv "bijektiv", welches etwa ‚umkehrbar eindeutig auf‘ bedeutet – daher auch der Begriff "eineindeutig" bzw. substantivisch entsprechend Eineindeutigkeit) ist ein mathematischer Begriff aus dem Bereich der Mengenlehre. Er bezeichnet eine spezielle Eigenschaft von Abbildungen und Funktionen. Bijektive Abbildungen und Funktionen nennt man auch Bijektionen. Die zu einer mathematischen Struktur auftretenden Bijektionen haben oft eigene Namen wie Isomorphismus, Diffeomorphismus, Homöomorphismus, Spiegelung oder Ähnliches. Hier sind dann in der Regel noch zusätzliche Forderungen in Hinblick auf die Erhaltung der jeweils betrachteten Struktur zu erfüllen. Zur Veranschaulichung kann man sagen, dass bei einer "Bijektion" eine vollständige Paarbildung zwischen den Elementen von Definitionsmengen und Zielmengen stattfindet. "Bijektionen" behandeln ihren Definitionsbereich und ihren Wertebereich also symmetrisch; deshalb hat eine bijektive Funktion immer eine Umkehrfunktion. Bei einer "Bijektion" haben die Definitionsmenge und die Zielmenge dieselbe Mächtigkeit, im Falle endlicher Mengen also gleich viele Elemente. Die "Bijektion" einer Menge auf sich selbst heißt auch Permutation. Auch hier gibt es in mathematischen Strukturen vielfach eigene Namen. Hat die Bijektion darüber hinausgehend strukturerhaltende Eigenschaften, spricht man von einem Automorphismus. Eine Bijektion zwischen zwei Mengen wird manchmal auch eine bijektive Korrespondenz genannt. Definition. Seien formula_1 und formula_2 Mengen und sei formula_3 eine Abbildung oder eine Funktion, die von formula_1 nach formula_2 abbildet, also formula_6. Dann heißt formula_3 bijektiv, wenn für alle formula_8 genau ein formula_9 mit formula_10 existiert, formal: formula_11. Das bedeutet: formula_12 ist bijektiv dann und nur dann, wenn formula_3 sowohl als auch Beispiele und Gegenbeispiele. Die Menge der reellen Zahlen wird hier mit formula_28 bezeichnet, die Menge der nichtnegativen reellen Zahlen mit formula_29. Geschichte des Begriffs. Nachdem man lange mit Formulierungen wie „eineindeutig“ ausgekommen war, kam schließlich Mitte des 20. Jahrhunderts im Zuge der durchgehend mengentheoretischen Darstellung aller mathematischen Teilgebiete das Bedürfnis nach einer prägnanteren Bezeichnung auf. Die Begriffe "bijektiv", "injektiv" und "surjektiv" wurden in den 1950ern von der Autorengruppe Nicolas Bourbaki geprägt.
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Batterie (Elektrotechnik)
Eine Batterie ist ein Speicher für elektrische Energie auf elektrochemischer Basis. Ein Akkumulator ist eine wiederaufladbare Batterie. Im Gegensatz zur Batterie speichert ein Kondensator elektrische Energie in einem elektrischen Feld, wodurch er wesentlich schneller aufgeladen und entladen werden kann, aber nicht in der Lage ist, die Spannung während der Entladung konstant zu halten. Hybrid- bzw. Superkondensatoren können die elektrische Energie sowohl statisch wie auch auf chemische Weise im Rahmen einer reversiblen Redoxreaktion speichern. Begriff. Der Begriff „Batterie“ ist aus dem Sprachgebrauch des Militärs entnommen, wo es eine Zusammenstellung mehrerer Geschütze bedeutet. Analog dazu wurde eine Zusammenschaltung mehrerer galvanischer Zellen mit diesem Begriff belegt. Ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dehnte sich die Verwendung des Begriffs „Batterie“ auch auf einzelne Primär- oder Sekundärzellen aus. Der geschilderte Wandel des Sprachgebrauchs wurde in der DIN-Norm 40729 "Akkumulatoren; Galvanische Sekundärelemente; Grundbegriffe" angesprochen, die zunächst unter Batterie „immer mehrere verbundene Zellen“ verstand, wobei diese Begrifflichkeit sich bei der alltäglichen „Unterscheidung jedoch verwischt“ habe. „Batterie“ ist heute sowohl der Oberbegriff für Energiespeicher als auch im engeren Sinne die Bezeichnung für eine Primärbatterie, die nicht wiederaufladbar ist. Aufladbare Batterien werden Sekundärbatterie oder landläufig "Akkumulator" (kurz "Akku") genannt. Man unterscheidet nach dem Batteriegesetz (BattG) weiter: Geschichte. Als Batterien gedeutete antike Gefäßanordnungen wie die „Bagdad-Batterie“ hätten durch ein Zusammenspiel von Kupfer, Eisen und Säure eine elektrische Spannung von circa 0,8 V erzeugen können. Ob diese Gefäße zum damaligen Zeitpunkt vor etwa 2.000 Jahren als Batterien im heutigen Sinn verwendet wurden, ist umstritten und konnte nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden. Im Jahr 1780 bemerkte der italienische Arzt Luigi Galvani, dass ein Froschbein, das in Kontakt mit Kupfer und Eisen kam, immer wieder zuckte, und hielt das für eine elektrische Wirkung. Das erste funktionierende galvanische Element und damit die erste Batterie wurde in Form der Voltaschen Säule im Jahr 1800 von Alessandro Volta erfunden. Es folgten in den Folgejahren konstruktive Verbesserungen wie die Trog-Batterie von William Cruickshank, die den Nachteil des vertikalen Aufbaus der Voltaschen Säule vermied. 1803 folgte durch Johann Wilhelm Ritter, Begründer der Elektrochemie und Erstbeschreiber des Prinzips der Batterie schon vor 1800 durch Volta, mit der Ritterschen Säule der erste Akkumulator, kurz Akku. Historisch wird zwischen Trockenbatterien – mit festem oder gelartigem Elektrolyt – und den heute nicht mehr gebräuchlichen Nassbatterien – mit flüssigem Elektrolyt – unterschieden. Zu den historischen Nassbatterien, die nur in bestimmter Lage betrieben werden können, zählen das Daniell-Element von John Frederic Daniell aus dem Jahre 1836 und die verschiedenen Variationen und Bauformen in Form der Gravity-Daniell-Elemente, das Chromsäure-Element von Johann Christian Poggendorff aus dem Jahre 1842, das Grove-Element von William Grove aus dem Jahre 1844 und das Leclanché-Element von Georges Leclanché aus dem Jahr 1866. Einsatzbereich dieser galvanischen Nasszellen war primär die Stromversorgung der drahtgebundenen Telegrafiestationen. Aus dem Leclanché-Element gingen über mehrere Entwicklungsschritte die noch heute üblichen lageunabhängigen Trockenbatterien hervor. Erste Arbeiten dazu stammen von Carl Gassner, der die Trockenbatterie im Jahre 1887 patentieren ließ. Im Jahr 1901 setzte Paul Schmidt in Berlin erstmals die Trockenbatterie bei Taschenlampen ein. Kommerziell am bedeutendsten sind heutzutage Sekundärbatterien, darunter spielen der Blei-Säure-Akkumulator und der Lithium-Ionen-Akkumulator die größte Rolle. Aufgrund der geringen Kosten und geringeren Selbstentladung werden Primärbatterien weiterhin für viele kleinere Geräte wie Taschenlampen und Uhren eingesetzt. Unter den Primärbatterien hat die Alkali-Mangan-Zelle den größten Anteil. Grundlagen. Eine Batterie ist eine elektrische oder galvanische Zelle und somit ein elektrochemischer Energiespeicher und ein Energiewandler. Bei der Entladung wird gespeicherte chemische Energie durch die elektrochemische Redoxreaktion in elektrische Energie umgewandelt. Diese kann von einem vom Stromnetz unabhängigen elektrischen Verbraucher genutzt werden. Alternativ kann sie auch in einem vom Stromnetz abhängigen Verbraucher eingesetzt werden, um kurzzeitige Netzausfälle zu überbrücken und so eine unterbrechungsfreie Stromversorgung sicherstellen. "Primärzellen" können nur einmal entladen und nicht wieder aufgeladen werden. In manchen Zellen sind die bei der Entladung ablaufenden chemischen Reaktionen teilweise umkehrbar. Der Energiegehalt des Neuzustands kann bei Primärbatterien nicht wiederhergestellt werden, während dies bei wiederaufladbaren "Sekundär"batterien (Akkumulatoren) mehrere hundert Male annähernd möglich ist. Abweichend von der grundsätzlichen Systematik werden wiederaufladbare alkalische Zellen manchmal dennoch zu den Primärzellen gezählt. Die Elektrodenmaterialien legen die Nennspannung der Zelle fest, die Menge der Materialien die enthaltene Energie. Wichtige Begriffe in Bezug auf die elektrischen Eigenschaften einer Batteriezelle sind: Die schwächste Zelle bestimmt die Qualität einer Batterie. In einer Reihenschaltung bricht die Spannung unter Last eher zusammen, weil stärkere, noch geladene Zellen Strom durch schwächere, schon entladene Zellen treiben, an denen dann bereits ein Teil der Spannung abfällt. Deren erhöhter Innenwiderstand führt nach dem Ohmschen Gesetz zu einer Zellerwärmung, ohne dass die elektrische Energie nutzbar ist. Typen. Aufgrund der vielfältigen Einsatzbereiche mit sehr unterschiedlichen Anforderungen bezüglich Spannung, Leistung und Kapazität gibt es heute Batterien in vielen Typen. Diese werden unterschieden beispielsweise Nach chemischer Zusammensetzung. Die verschiedenen Typen werden nach den eingesetzten Materialien bezeichnet: Darüber hinaus werden im experimentellen Bereich und zur Veranschaulichung des Funktionsprinzips der zugrunde liegenden chemischen Redoxreaktion recht exotische galvanische Zellen eingesetzt, zum Beispiel Zitronenzellen. Nach Baugröße / Bauform. Es gibt sehr viele von der IEC genormte Typen und einige Bezeichnungen vom ANSI sowie inoffizielle Namen, insbesondere für die neun gängigsten Kategorien. Dies hat zur Folge, dass ein und dasselbe Batteriemerkmal durch unterschiedliche Bezeichnungen spezifiziert werden kann (siehe dazu Tabelle Beispiele). So bezeichnet etwa "LR6" eine Alkali-Mangan-Batterie der Baugröße "AA". Diese Baugröße heißt aber auch "Mignon" oder "R6". Zylindrische Batterien, deren Gesamthöhe kleiner ist als der Gesamtdurchmesser, werden als Knopfzellen bezeichnet. Bezeichnungen nach IEC-60086. Bei den IEC-60086-Bezeichnungen steht Diesen Buchstaben kann ein weiterer Buchstabe vorangestellt sein, um die Batterien nach ihrer chemischen Zusammensetzung zu kennzeichnen: Diesen Buchstaben kann eine Zahl vorangestellt sein, um die Anzahl der in Reihe geschalteten Zellgrößen im Gehäuse anzugeben. Mit nachgestellten Zeichen werden abweichende Bau- und Anschlussarten bzw. abweichende elektrische Charakteristiken gekennzeichnet. Frühere Benennung, bis etwa 1950. Bis etwa 1950 unterschied man Galvanische Elemente und Batterien wurden kurz "galvanische Stromerzeuger" genannt und waren in VDE 0807 normiert. Die Unterscheidungen schlugen sich in der Benennung von galvanischen Stromerzeugern nieder. Diese bestand aus zwei oder drei Buchstaben, der Nennspannung sowie ggf. der Anzahl der Zellen: Beispiele: Adapter und Kontaktierung. Nicht jeder Batterietyp ist überall erhältlich. Deshalb gibt es zum Beispiel Flachbatterie-Adapter, die drei AA-Zellen zu je 1,5 V aufnehmen. Diese lassen sich in allen Geräten verwenden, in die auch eine 4,5-V-Flachbatterie (3R12) hineinpasst. Nützlich sind diese Adapter auch, weil es keine wiederaufladbaren Flachbatterien gibt. Die Kontaktierung kleiner Batterien erfolgt mit Federkontakten, zuverlässigere Ausführungen sind vergoldet. Fest eingebaute Akkumulatoren sind mit Steckkontakten, Schraubanschlüssen, Polbolzen oder Lötfahnen versehen. Konfektionierte wiederaufladbare Batterien, sogenannte Akkupacks, bestehen aus mehreren Zellen, die untereinander fest verbunden und oft mit einer Ummantelung oder einem Gehäuse versehen sind. Bei Starterbatterien sind die Zellen untereinander mit Bleistegen, bei Antriebsbatterien in der Regel mit Kupferverbindern kontaktiert. Entsorgung. Batterien und Akkumulatoren gehören nicht in den Restmüll oder in die Umwelt, da sie umweltschädliche und zudem erneut nutzbare Rohstoffe enthalten, die das Batterierecycling für entsprechende Unternehmen wirtschaftlich attraktiv machen. Auch ausgelaufene Batterien sollten mit Vorsicht behandelt werden, da sich teils ätzende Substanzen an den Kontakten befinden. Sie müssen ebenfalls einem Recycling zugeführt werden und gelten als Problemstoff. In Deutschland regelt die Batterieverordnung die Rücknahme und Entsorgung von Batterien. Sie legt unter anderem fest, dass in Deutschland keine Batterien oder Zellen mit einem Quecksilbergehalt von mehr als 0,0005 Gewichtsprozent in den Verkehr gebracht werden dürfen. Bei Knopfzellen darf der Quecksilbergehalt nicht über 2,0 Gewichtsprozent liegen. Alkali-Mangan-Batterien enthalten seit Beginn der 1990er Jahre kein Quecksilber mehr. Davor wurde es zum Amalgamieren des Elektrodenmaterials Zink verwendet. Pole von Lithium-Batterien müssen vor Entsorgung abgeklebt werden. Kleine Batterien können in Deutschland in Einzelhandelsgeschäfte zurückgebracht werden, wenn diese auch Batterien verkaufen. Gesetzlich verpflichtend ist zwar nur die Rücknahme von Batterietypen, die der jeweilige Händler im Sortiment führt; es werden aber üblicherweise auch „fremde“ Typen akzeptiert, da dem Händler dadurch keine Nachteile oder Kosten entstehen. Zu diesem Zweck müssen dort Sammelbehälter aufgestellt sein. Schadstoffhaltige Batterien sind zusätzlich mit chemischen Zeichen versehen. Abfallmenge. Die üblichen Akku- und Batteriearten (Zink-Kohle-Batterie, Alkaline-Batterie, Lithiumbatterie, NiMH-Akkumulator) unterscheiden sich in der Menge an Abfall, die sie im Verhältnis zu ihrer Kapazität verursachen. Visualisierung der Müllmengen bei einer Verbrauchsannahme von 40 Wh pro Haushalt: Wiederverwertung. Für Starterbatterien existiert in Deutschland seit dem Jahr 2009 ein Pfandsystem. Daher werden beinahe 100 Prozent der Bleiakkumulatoren in Deutschland gesammelt und wiederverwertet.
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Brailleschrift
Die Brailleschrift [] ist eine Blindenschrift und wird international von Blinden und stark Sehbehinderten benutzt, da sie "Schwarzschrift" nicht oder nur schwer lesen können. Sie wurde 1825 von dem Franzosen Louis Braille entwickelt. Die Schrift besteht aus in einem aus sechs Punkten bestehenden System befindlichen Punktmustern, die meist von hinten in Papier eingedrückt werden und vorne mit den Fingerspitzen als Erhöhungen zu ertasten sind. Allgemeines. Sechs Punkte, drei in der Höhe mal zwei Punkte in der Breite, bilden das Raster für die Punkte-Kombinationen, mit denen die Zeichen (Buchstaben, Ziffern, Leerzeichen, …) dargestellt werden. Die Anzahl von sechs Punkten ergab sich aus der Erfahrung, dass maximal sechs Tasteindrücke gleichzeitig von den Fingern distinktiv wahrgenommen werden können. Bei sechs (binären) Punkten ergeben sich 26 = 64 Variationen; es sind also 64 verschiedene Zeichen darstellbar. Die Punkte einer Braillezelle werden in der linken Spalte von eins bis drei und in der rechten Spalte von vier bis sechs nummeriert – innerhalb einer Spalte jeweils von oben nach unten. Dem sind die im Bild unterhalb dargestellten Hexadezimalwerte 1-2-4 links, und 8-10-20 rechts (1016 = 1610 und 2016 = 3210) zugeordnet. Für die Ausgabe von Texten in Brailleschrift durch den Computer werden Braillezeilen verwendet. Da für die Arbeit am Computer mehr Zeichen notwendig sind als sich mit sechs Punkten darstellen lassen, werden bei der Braillezeile noch zwei weitere Punkte je Braillezeichen hinzugefügt, so dass acht Punkte, vier in der Höhe mal zwei in der Breite, zur Verfügung stehen (Computerbraille, spezielle Implementierung: "Eurobraille"). Auf diese Weise erhält man 28 = 256 Variationen. Die Codierung der Standardzeichen bleibt dabei jedoch gleich, die unterste Zeile bleibt lediglich leer. Bei der Nummerierung der Punkte eines Achtpunktzeichens bleibt die Nummerierung der oberen sechs Punkte unverändert – die beiden unteren Punkte erhalten die Nummern 7 (links) und 8 (rechts) mit entsprechenden Hexadezimalwerten 6410 = 4016 und 12810 = 8016. Die engen Grenzen der so entstandenen Zeichensätze (64 bzw. 256 Zeichen) werden durch zwei Methoden erweitert: IPA Braille ist die moderne Standardkodierung des Internationalen Phonetischen Alphabets (IPA) für Brailleschrift. Prägemaschinen und -geräte. Bei Benutzung von Punktschriftmaschinen sind die Tasten der Punkte gleichzeitig zu betätigen, um das entsprechende Zeichen der Codetabelle zu schreiben. Dabei befinden sich die Tasten für die Punkte eins bis drei in absteigender Reihenfolge auf der linken Seite, sowie die Tasten für die Punkte vier bis sechs aufsteigend auf der rechten Seite. Dazwischen liegt die Leertaste. Will man zum Beispiel ein codice_1 () schreiben, so muss man mit der linken Hand die Tasten [3], [2] und [1] und mit der rechten Hand die Taste [5] gleichzeitig drücken. Unterschieden wird dabei zwischen Bogenmaschinen und Stenomaschinen. Beide Maschinentypen sind inzwischen weitgehend abgelöst durch Modelle, die die Daten auf digitale Medien speichern – aber gerade wegen der Zuverlässigkeit (kein Strom notwendig etc.) sind Stenomaschinen immer noch beliebt. Schreibtafeln. Neben Maschinen sind auch Schreibtafeln im Gebrauch. Es handelt sich um zwei Tafeln, die mit einem Scharnier verbunden sind. Die obere Tafel hat rechteckige Aussparungen, die der Größe von sechs Punkten der Braille-Schrift entsprechen. Die untere Tafel hat grübchenförmige Vertiefungen im Abstand der sechs Braille-Punkte. Zwischen die beiden Tafeln wird ein geeignetes Blatt Papier eingelegt und mit einem Metallstift werden nun die erforderlichen Punkte in das Papier „gestochen“. Zu beachten ist, dass, um lesbare Zeichen zu erhalten, auf der Rückseite des Papiers in Spiegelschrift und von rechts nach links „gestochen“ wird. Schreibtafeln gibt es aus Metall oder Kunststoff in verschiedenen Größen (etwa DIN A6 bis DIN A4). Sie werden von Nichtsehenden für Notizen verwendet, können aber auch zum zusätzlichen „Beschriften“ von Papieren mit „Schwarzschrift“ (Postkarten, Visitenkarten etc.) verwendet werden. Bandprägegeräte. Im Handel sind Prägegeräte erhältlich, die Braille-Zeichen in selbstklebende Bänder prägen. Die Prägung erfolgt meist von der Rückseite her, so dass seitenrichtig von links nach rechts gearbeitet werden kann. Die so hergestellten Bänder sind gut geeignet, um unterschiedlichste Gegenstände des täglichen Gebrauchs zu kennzeichnen. Sie werden auch im öffentlichen Raum eingesetzt, um z. B. Handläufe von Treppengeländern zu kennzeichnen. Codetabelle für die deutsche Sprache. Siehe Normenreferenz Systematik des Punkteaufbaus. Die ersten zehn Buchstaben (A–J) bzw. die Ziffern (0–9) nutzen nur die vier oberen der insgesamt sechs Punkte ("Punkte Nr. 1, 2, 4, 5"): Die nächsten zehn Buchstaben (K–T) unterscheiden sich nur durch einen zusätzlichen Punkt unten links ("Punkt Nr. 3"). Die folgenden Zeichen (darunter U–Z) unterscheiden sich wiederum durch einen zusätzlichen Punkt unten rechts ("Punkt Nr. 6") neben dem unten links. Das codice_2 () wird in Brailles Muttersprache Französisch nicht benutzt und wurde daher erst später aufgenommen, basierend auf der Grundform von codice_3 (). Es erscheint daher in dieser Übersicht erst in der vierten Zeile. In weiteren schwarzschriftlichen Digraphen und anderen Sonderzeichen wird nur der Punkt Nr. 6 unten rechts ergänzt und der unten links (Punkt 3) nicht gesetzt. Das Zeichen für öffnende runde Klammer codice_4 steht auch für die schließende runde Klammer codice_5 und das Gleichheitszeichen codice_6. Je nach Stellung des Zeichens vor oder nach Buchstaben bzw. Leerzeichen wird die gemeinte Bedeutung erkennbar. Das Zeichen codice_7 steht auch für die schließende eckige Klammer codice_8. Außerdem sind die Zeichen für Plus codice_9 und das Ausrufezeichen codice_10 identisch. Die Zeichen codice_11 stehen in der genannten Reihenfolge für die um eine Punktreihe tiefergestellten Ziffern 1–9 und 0 und können statt der jeweiligen Ziffer als Ordnungszahl verwendet werden; das "Zahlenzeichen" codice_12 ist zu setzen. Besonderheiten bei der Verwendung und Steuerzeichen. Ordnungszahlen können durch das Schreiben der Ziffern um eine Punktreihe tiefergesetzt gekennzeichnet werden. Das ist möglich, weil Ziffern zur Darstellung nur die oberen zwei Punktreihen benötigen. Der abschließende Punkt zur klassischen Kennzeichnung von Ordnungszahlen entfällt dann. Brüche werden mit Zähler und Nenner direkt hintereinander dargestellt, der Nenner ist allerdings um eine Punktreihe nach unten verschoben. Prozent und Promille werden als Bruch 0/0 bzw. 0/00 dargestellt, dabei ist der Nenner 0 bzw. 00 wieder tiefergestellt. Als Dezimaltrennzeichen kann außer dem Komma auch der Punkt verwendet werden. Verkürzung der Schrift zum Zwecke der Beschleunigung. Bestrebungen, die Schrift schneller zu machen, führten zu einer Verkürzung der Wortbilder. In der deutschen Brailleschrift werden grundsätzlich vier verschiedene "Kürzungsgrade" für Literaturbraille unterschieden. Die Kurzschrift wird am häufigsten zur Erstellung von Druckerzeugnissen in Brailleschrift (80 bis 85 %) und bei Mitschriften blinder Menschen mit der Punktschriftmaschine eingesetzt. Ein Zeichen in Brailleschrift ist etwa 6 mm lang und 4 mm breit, so dass die Tastschärfe von trainierten Menschen nicht unterschritten wird. Die Punkthöhe (Erhebung) soll 0,4 mm nicht unterschreiten, damit die Zeichen taktil erfassbar bleiben. Lese-Leistung. Erfahrene Braille-Leser können etwa 100 Wörter pro Minute lesen. Zum Vergleich: sehende Leser schaffen etwa 250 bis 300 Wörter pro Minute. Kurzschrift. Die Kürzungen erweitern das Inventar der Vollschrift und sollen dort nur innerhalb von Morphemen erfolgen. Es gibt einige Doppelbelegungen, die durch Markierungszeichen aufgelöst werden sollen bzw. derentwegen manche Kürzungen nur an bestimmten Stellen im Wort möglich sind. Andere Brailleschriften. Brailleschriften für spezielle Inhalte. Für spezielle Themen gibt es eigene Brailleschriften, so z. B. die Braille-Musikschrift, die Braille-Schaltungsschrift, die Braille-Schachschrift und die Braille-Strickschrift. Braille für andere Schriften. Neben zusätzlichen Belegungen für Zeichen mit Diakritika gibt es auch Übertragungen der Brailleschrift auf andere Schriftsysteme als das lateinische. Für die Alphabete der russischen oder griechischen Sprache werden die Zeichen entsprechend ihrer Transliteration in das lateinische Schriftsystem, also unabhängig von ihrer Reihenfolge im Alphabet, übertragen. Für anders strukturierte Schriften, wie z. B. Japanisch, Koreanisch oder Tibetisch, wurden die Zeichen jedoch komplett neu zugeordnet. So wird zum Beispiel in der Japanischen Brailleschrift jeder Silbe der Kana jeweils ein eigenes Zeichen zugeordnet. Braillezeichen in Unicode / UTF-8. Unicode ist heute (Stand 2011) praktisch auf jedem Computersystem verfügbar. Da die Braillezeichen in Unicode vorhanden sind, ist eine Darstellung der Braillezeichen auf Bildschirmen etc. problemlos möglich. Die Unicode-Zeichen sind also vorteilhaft für die Darstellung von Brailleschrift für Sehende – dem Blinden selbst nutzt der Unicode nur wenig (Beispielsweise Ausdrucke auf Schwellpapier in Ausnahmefällen). In Unicode werden die aus sechs Punkten bestehenden Braillezeichen durch die Zeichennummern U+2800 bis U+283F (hexadezimale Schreibweise) repräsentiert. Dies sind einschließlich des Leerzeichens 64 Zeichen. Die Reihenfolge der Zeichen wurde so definiert, dass jeder Punkt eines Braillezeichens einem gesetzten Bit entspricht. Dabei ist die Reihenfolge der Bits wie oben beschrieben (siehe Abb. „Nummerierung“). Ein Zeichen ist damit also durch #×2800 + "Wert der Punkte" codiert. Die Reihenfolge der in Unicode codierten Zeichen weicht damit erheblich von der in Absatz #Systematik des Punkteaufbaus dargestellten ab. In Unicode wurde der Zeichenvorrat von Braille auf 256 erweitert, indem unter den Block aus sechs Punkten noch weitere zwei Punkte eingefügt wurden (bei Braillezeilen werden ebenfalls meist 8 Punkte dargestellt). Die Zeichen mit 8 Punkten (U+2840 bis U+28FF) sind in der Tabelle farblich abgesetzt dargestellt. Mit Brailleschrift erstellte Inhalte. Das inhaltliche Angebot in Brailleschrift umfasst ein weites Spektrum unterschiedlichster Werke. Es reicht von klassischer und moderner Literatur, über Fachbücher bis hin zu unterschiedlichster Pornografie. Es existieren auch Zeitschriften zu unterschiedlichsten Themenbereichen. So veröffentlichte z. B. der Playboy in den Jahren von 1970 bis 1985 sein Magazin auch in Brailleschrift. In Deutschland gibt es eine Pflicht zur Kennzeichnung von Medikamentenverpackungen in Brailleschrift. In Brailleschrift angefertigte Schriftstücke werden von der Deutschen Post als Blindensendung kostenlos befördert.
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Bangladesch
Bangladesch ( ; Zusammensetzung aus "bangla" ‚bengalisch‘ und "desch" ‚Land‘) ist ein Staat in Südasien. Er grenzt im Süden an den Golf von Bengalen, im Südosten an Myanmar und wird außerdem von den indischen Bundesstaaten Meghalaya, Tripura, Westbengalen, Mizoram und Assam umschlossen. Mit etwa 171 Millionen Einwohnern (2022) auf einer Fläche von 147.570 km² steht es nach Einwohnerzahl auf Platz acht der größten Staaten der Erde und auf Platz elf der Staaten nach Bevölkerungsdichte. Nach Fläche gehört es mit Platz 92 jedoch zu den mittelgroßen Staaten. Die Hauptstadt Dhaka ist eine der am schnellsten wachsenden Megastädte der Welt; weitere Millionenstädte sind Chittagong und Khulna. Bangladesch nimmt den östlichen Teil der historischen Region Bengalen ein, der 1947 aufgrund der muslimischen Bevölkerungsmehrheit bei der Teilung Britisch-Indiens unter der Bezeichnung "Ostpakistan" zum östlichen Landesteil Pakistans wurde. Im Jahr 1971 erlangte Ostpakistan infolge des Bangladesch-Krieges seine Unabhängigkeit unter dem Namen "Bangladesch". Die Bezeichnung eines Staatsangehörigen des Landes lautet "Bangladescher". Das Land wird naturräumlich geprägt durch den Monsun, das Mündungsdelta der Flüsse Brahmaputra, Ganges und Meghna mit ihren ausgedehnten Sumpfgebieten und Sundarbans sowie seine Lage am Meer und das überwiegend flache Tiefland. Die Kombination dieser Merkmale sorgen für häufiges Hochwasser und folgenreiche Überflutungen des dichtbevölkerten Landes. Der global ansteigende Meeresspiegel wird die Probleme voraussichtlich verschärfen. Bangladesch konnte dank eines wirtschaftlichen Aufschwungs seine sozialen und ökonomischen Indikatoren stark verbessern, zählt allerdings weiterhin zu den ärmsten Ländern des asiatischen Kontinents. Dank seiner wachsenden Wirtschaft und jungen Bevölkerung gehört es inzwischen zu den aufstrebenden Next-Eleven-Märkten. Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen stuft Bangladesch als Land mit einer mittleren menschlichen Entwicklung ein. Geographie. Bangladesch grenzt an die indischen Bundesstaaten Westbengalen, Assam, Meghalaya, Tripura und Mizoram (im Uhrzeigersinn, beginnend im Westen) sowie an Myanmar und den Golf von Bengalen (Teil des Indischen Ozeans). Die Gesamtlänge der Landgrenze beträgt 4246 km, davon 4053 km zu Indien und nur 193 km mit Myanmar. Die Küstenlänge beträgt 580 km. Naturraum. Der größte Teil Bangladeschs wird vom Mündungsdelta der Flüsse Brahmaputra, Ganges und Meghna gebildet; ein von vielen Altwasserarmen, Tümpeln und kleinen Inseln durchzogenes Sumpfgebiet, das während der Monsunzeit regelmäßig vom Flusshochwasser überschwemmt wird. Rund 90 Prozent von Bangladesch bestehen aus flachem Tiefland, und die Hauptstadt Dhaka liegt nur sechs Meter über dem Meer. Lediglich der südöstliche Landesteil mit der Hügel- und Berglandschaft der Chittagong Hill Tracts weicht von diesem Erscheinungsbild ab. Vegetation. Da der natürliche Baumbestand im Zuge des intensiven Ackerbaus großflächig dezimiert wurde, sind nur 15 Prozent des Landes bewaldet. Tropische Regenwälder existieren vor allem im südöstlichen Hügelland, während im Einzugsbereich der Flussdeltas ausgedehnte Mangrovenvegetation vorherrscht. Diese Sundarbans genannten Gebiete (nach den bis zu 25 m hohen "Sundaribäumen") sind mit einer Fläche von etwa 10.000 km² die größten Mangrovenwälder der Erde. Sie machen rund die Hälfte der verbliebenen Waldfläche des Landes aus. Klima. Das Klima Bangladeschs ist tropisch mit zunehmenden Niederschlägen von West nach Ost. Bangladesch liegt im Einflussbereich des Südwest-Monsuns, sodass durchschnittlich 1500 bis 2250 mm Jahresniederschlagssumme erreicht werden. Im Osten, am Fuß der Tripura-Lushai-Berge, fallen 3000 bis 4000 mm. Dort befindet sich mit dem Mowdok Mual die höchste Erhebung Bangladeschs (). Mehr als die Hälfte der Jahresniederschläge entfällt auf die Monate Juni bis August. Im März/April und im Oktober kommt es häufig zu tropischen Wirbelstürmen über dem Golf von Bengalen mit oft katastrophalen Folgen, da die damit verbundenen Fluten weite Teile des Landes überschwemmen. Ein Fünftel des Landes wird jährlich überschwemmt, bei extremen Überschwemmungen sind es 35 %. Die durchschnittliche Tageshöchsttemperatur liegt im Januar bei 25 °C und im April schon bei 35 °C. Im restlichen Jahr liegt die Temperatur bei 30 °C. In Bangladesch unterscheidet man drei bestimmte Jahreszeiten: von Ende Mai bis Anfang Oktober die Monsun-Saison, von Mitte Oktober bis Ende Februar die „kühle“ Jahreszeit und die „heiße“ Jahreszeit ungefähr zwischen dem 15. März und dem 15. Mai. Wirkungen des Klimawandels. Bangladesch ist durch die globale Erwärmung in besonderer Weise betroffen: Durch die geographischen Bedingungen – der Großteil des Landes liegt nur wenig höher als der Meeresspiegel –, die große Einwohnerzahl von etwa 160 Millionen Menschen sowie den Umstand, dass die Bevölkerung auf nur wenig Landfläche siedelt und zu etwa 80 % unterhalb der Armutsgrenze lebt, bestehen besondere Herausforderungen, sich an die Folgen der globalen Erwärmung anzupassen. Bei einem Anstieg des Meeresspiegels um einen Meter würden ohne Küstenschutzmaßnahmen etwa 18 % der gesamten Fläche von Bangladesch überschwemmt werden, womit ca. 38 Millionen Menschen ihre Heimat verlieren und zu Klimaflüchtlingen würden. Im Fünften Sachstandsbericht des IPCC aus dem Jahr 2013 wurde je nach zugrundeliegendem Szenario ein Anstieg zwischen 0,26 m und 0,98 m bis zum Jahr 2100 erwartet und durch langfristige Wirkungen von Treibhausgasemissionen ein weiterer Anstieg für die folgenden Jahrhunderte prognostiziert. Langfristig wird von einem Meeresspiegelanstieg in Höhe von ca. 2,3 m pro zusätzlichem Grad Celsius Erwärmung ausgegangen. Der tatsächliche Meeresspiegelanstieg in der Region beträgt 1,06 – 1,75 mm p. a. Von 1977 bis 2010 ist Bangladesch durch Veränderungen der Küstenlinie netto um 169 km² gewachsen. Bedingt durch den steigenden Meeresspiegel ist eine zunehmend ins Landesinnere vordringende Versalzung von Grundwasser und Ackerböden zu beobachten. Zudem leben etwa 65 % der Bevölkerung im häufig durch Überschwemmungen betroffenen Flussdelta. Durch das verstärkte Abschmelzen der Himalaya-Gletscher sowie eine Veränderung der Niederschläge im Einzugsbereich der Flüsse infolge der globalen Erwärmung steigt die Hochwassergefahr zukünftig an. Im Nordwesten käme es hingegen zu einem Rückgang der Niederschläge und stärkerer Trockenheit, was dort wiederum die Wasserversorgung beeinträchtigen würde. Sowohl durch Bodenversalzung als auch die Veränderung des Monsuns wird ein Rückgang der Ernteerträge um bis zu 30 % bis 2050 erwartet. Da im betroffenen Gebiet bereits soziale Spannungen vorhanden sind und die klimawandelbedingte Migration in Richtung Dhaka und anderer urbaner Zentren zu einer Überlastung städtischer Infrastrukturen führt, wird zudem befürchtet, dass diese sich durch die verschlechterten Lebensbedingungen infolge des Klimawandels zu offenen gewaltsamen Konflikten entwickeln werden. Ebenso werden Konflikte um fruchtbare Gebiete im ländlichen Bangladesch mit dem Klimawandel in Verbindung gebracht. Dabei sind häufig indigene Volksgruppen wie die Santal oder die Bewohner der Chittagong Hill Tracts Opfer von Angriffen. 2019 wurde prognostiziert, dass bis 2030 das Bruttoinlandsprodukt Bangladeschs klimawandelbedingt um 4,3 % schrumpfen wird. Von den Folgen werden insbesondere bereits benachteiligte Bevölkerungsgruppen betroffen sein. Naturkatastrophen. Bedingt durch seine Lage innerhalb der Tropen und am Meer in einer tektonisch unruhigen Zone (in relativer Nähe zum Himalaya) wird Bangladesch in unregelmäßigen Abständen von Naturkatastrophen heimgesucht. Dazu zählen Zyklone – also tropische Wirbelstürme und die zum Teil damit verbundenen Sturmfluten sowie Erdrutsche und Erdbeben. Tierwelt. In den Regenwäldern nahe Chittagong kann man Hirsche, Bären, Leoparden, Rhesusaffen und Elefanten finden. Insgesamt sind etwa 750 Vogelarten, 250 Arten von Säugetieren sowie 150 verschiedene Reptilien und Amphibien in Bangladesch bekannt. Zu den Reptilien des Landes zählen etwa Krokodile, Pythons und Kobras. Zudem leben in den Gewässern von Bangladesch etwa 250 Arten von Süßwasser- und an der Küste etwa 350 Arten von Meeresfischen; Fischer auf der Jagd nach Langusten und Garnelen bringen oftmals einen großen Fang mit nach Hause, der einerseits für die einheimische Bevölkerung als Nahrung dient, andererseits auch zum Export genutzt wird. Das wahrscheinlich bekannteste Tier Bangladeschs ist der Bengalische Tiger, auch Indischer oder Königstiger genannt. Diese Tigerart lebt im Südosten Bengalens. Männliche Exemplare können es auf eine Länge von 3 Metern bringen, eine Vierteltonne schwer werden und eine Schulterhöhe von einem Meter erreichen. Rot-goldenes Fell mit schwarzen Streifen ist Kennzeichen dieses Tigers, dessen Bauchbereich weiß gefärbt ist. Vereinzelt werden auch weiße bengalische Tiger gesichtet. Bengalische Tiger fressen etwa neun Kilo Fleisch pro Tag. In Bangladesch leben schätzungsweise 670 Tiger im geschützten Mangrovenwaldgebiet der Sundarbans. Verwaltungsgliederung. Bangladesch ist in acht Verwaltungseinheiten "(Divisions)", die wiederum in 64 Distrikte "(Districts)" untergliedert sind, aufgeteilt. Die Distrikte sind weiter nach Kreisen (Upazilas) untergliedert. Alle "Divisions" sind nach ihrer Hauptstadt benannt. Die "Divisions" sind: Im Jahr 2015 kündigte die bangladeschische Regierung an, dass noch zwei weitere neue Divisionen gebildet werden sollen, und zwar Faridpur aus Teilen von Dhaka und Kumilla aus Teilen von Chittagong. Im Jahr 2021 lebten 39 Prozent der Einwohner Bangladeschs in Städten. Die Hauptstadt Dhaka, vor Chittagong und Khulna die größte Stadt des Landes, hatte bei der Volkszählung am 22. Januar 2001 in der eigentlichen Stadt 5.378.023 Einwohner (9.912.908 in der Agglomeration). Im Jahre 2010 wurde die Zahl der Bewohner auf etwa 15 Millionen geschätzt. Fast die Hälfte von ihnen lebt in Elendsvierteln. Dhaka gehört als eine der am schnellsten wachsenden Städte weltweit zu den Megastädten. Die größten Städte sind (Volkszählung 2011): Bevölkerung. Demografie. Mit über 171 Millionen Einwohnern (Stand: 2022) steht Bangladesch in der Liste der Landesbevölkerungen an achter Stelle und ist mit einer Bevölkerungsdichte von 1084,2 Menschen je Quadratkilometer der am dichtesten besiedelte Flächenstaat der Welt. Lange Zeit hatte Bangladesch eine hohe Geburtenrate. Durch Selbsthilfeinitiativen der Bevölkerung, die von Entwicklungshilfeorganisationen unterstützt wurden, konnte die zusammengefasste Fruchtbarkeitsziffer zwischen 1979 und 1999 von 7,0 auf 3,3 Kinder pro Frau gesenkt werden. Die Anzahl der Geburten pro Frau lag 2020 statistisch bei 2,0, die der Region Süd-Asien betrug 2,3. Die Bevölkerung wird nach einer Prognose der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2017 bis 2050 auf über 200 Millionen anwachsen und dann anfangen zu stagnieren. Der Median des Alters der Bevölkerung lag im Jahr 2020 bei 25,9 Jahren. Im Jahr 2020 waren 27,0 Prozent der Bevölkerung unter 15 Jahre, während der Anteil der über 64-Jährigen 5,6 Prozent der Bevölkerung betrug. Bevölkerungsstruktur. Im Jahre 2017 waren 0,9 % der Bevölkerung im Ausland geboren. Während der Ausschreitungen gegen Rohingya im benachbarten Myanmar flohen bis Ende 2017 etwa 850.000 Rohingya nach Bangladesch. Bangladesch selbst ist ein Auswanderungsland. Im Jahr 2016 lebten 7,5 Millionen gebürtige Bangladescher im Ausland, vor allem in Indien, in den arabischen Golfstaaten, den USA und Europa. In fast allen Landesteilen liegt die Bevölkerungsdichte über 500 Einwohner/km². Nur in den Distrikten um Chittagong (außer Cox’s Bazar) liegt sie zwischen 75 Einwohner/km² und 500 Einwohner/km². Zu den Gebieten mit der höchsten Bevölkerungsdichte zählen Narsingdi und Narayanganj mit über 2000 Einwohner/km² und die Hauptstadt Dhaka mit mehr als 7000 Einwohner/km². Sprachen. Im Gegensatz zu den anderen Staaten Südasiens ist Bangladesch ethnisch relativ einheitlich: Das Bengalische, das zu den indoarischen Sprachen zählt, wird von etwa 98 % der Bevölkerung als Muttersprache gesprochen. Die bengalische Sprache hat eine zentrale Rolle im Unabhängigkeitskampf gespielt und ist als Amtssprache des Landes auch heute von großer Bedeutung für die nationale Identität. Unter der Mittel- und Oberschicht ist Englisch als Bildungssprache weit verbreitet und wird als Verwaltungs- und Geschäftssprache genutzt – im Unterschied zum benachbarten Indien hat Englisch aber keinen offiziellen Status als Amtssprache. Insgesamt werden 39 verschiedene Sprachen und Idiome gesprochen. Zu den wenigen Minderheiten gehören die Bihari (1 %), die aufgrund religiöser Konflikte infolge der Teilung Britisch-Indiens bei dessen Unabhängigkeit aus Bihar in das damalige Ostpakistan kamen. Sie sprechen zumeist Urdu. Daneben gibt es in den Chittagong Hill Tracts im Südosten und im Norden des Landes zwei Minderheiten, die matrilinear organisiert sind: die Khasi (das Khasi ist eine Mon-Khmer-Sprache) und die Garo (das Garo ist eine tibetobirmanische Sprache). Beide Volksgruppen wurden 1972 durch die Grenzziehung von ihren Stammesgemeinschaften im benachbarten indischen Bundesstaat Meghalaya getrennt. Religion. Konfessionen. Die Mehrheit der Bevölkerung, rund 90 Prozent, bekennt sich zum Islam. Davon bildet ein Großteil die sunnitische Glaubensrichtung, Schiiten sind in einer Minderheit vorhanden. Der Islam ist in Bangladesch Staatsreligion. Ein bis dahin seit 28 Jahren anhängiges Verfahren zur Streichung dieses Passus aus der Verfassung wurde vom Hohen Gericht des Landes 2016 abgelehnt. Der Hinduismus ist mit knapp neun Prozent und der Buddhismus mit weniger als einem Prozent vertreten. In der längeren historischen Übersicht hat der relative Anteil von Muslimen kontinuierlich zugenommen, während der Anteil von Hindus abgenommen hat. Nach der offiziellen Bevölkerungsstatistik 1941, d. h. im letzten Zensusjahr vor der Teilung Indiens, lebten im Gebiet des späteren Bangladesch 70,3 % Muslime und 28,0 % Hindus. Nach der Unabhängigkeit Bangladeschs waren es im Jahr 1974 85,4 Prozent Muslime und 13,5 Prozent Hindus, während diese Zahlen im Jahr 2011 bei 90,4 und 8,5 Prozent lagen. Den höchsten Anteil an Hindus wiesen in allen statistischen Erhebungen seit 1974 die Divisionen Khulna, Rangpur und Sylhet auf (im Jahr 2011 zwischen 12,8 und 14,1 %). Die Buddhisten leben überwiegend in den Chittagong Hill Tracts und bildeten 2011 in der Division Chittagong etwa 3 Prozent der Bevölkerung. Islam. Die erste Verfassung Bangladeschs von 1972 verankerte den Säkularismus als eines ihrer Grundprinzipien. Nach der Ermordung von Präsident Mujibur Rahman im Jahr 1975 ersetzte das Militärregime (1975–1977) unter General Ziaur Rahman mit dem per Präsidialdekret erlassenen 5. Verfassungszusatz den Begriff „Säkularismus“ durch die Passage „Absolutes Vertrauen und der Glaube an den Allmächtigen Allah soll die Basis allen Handelns sein“. Am 9. Juni 1988 verabschiedete das bangladeschische Parlament, das ganz unter dem Einfluss des Militärregimes des General Ershad stand, den 8. Verfassungszusatz, in dem der Islam zur Staatsreligion von Bangladesch erklärt wurde. Der Zusatz lautete: „Die Staatsreligion ist der Islam, jedoch können andere Religionen in Frieden und Harmonie ebenfalls in der Republik praktiziert werden.“ Die religiösen Minderheiten im Land und die oppositionelle Awami-Liga protestierten vergeblich gegen diese Abkehr vom Prinzip des Säkularismus. Diese Regelungen blieben nach dem Ende der Militärregierungen 1990 zunächst unangetastet. Am 29. August 2005 erklärte das Oberste Gericht von Bangladesch die Militärregierungen zwischen dem 15. August 1975 und dem 9. April 1979 für ungesetzlich. Damit wurde auch der durch diese eingebrachte 5. Verfassungszusatz annulliert und die säkulare Verfassung in der Form aus dem Jahr 1972 in diesen Abschnitten wiederhergestellt. Dagegen erhoben Vertreter der beiden damaligen konservativen Regierungsparteien Bangladesh Nationalist Party (BNP) und Jamaat-e-Islami Einspruch und gingen in Revision. Am 3. Februar 2010 bekräftigte die Berufungsabteilung des Obersten Gerichts jedoch die vorangegangene Entscheidung, womit der 5. Verfassungszusatz eliminiert wurde. Das Urteil wurde am 28. Juli 2010 veröffentlicht. Der 8. Verfassungszusatz (Islam als Staatsreligion) blieb von diesem Urteil unberührt. Kritiker bezeichneten es als einen Widerspruch, wenn sich einerseits der Staat als säkular definiere, andererseits aber der Islam Staatsreligion sein solle und forderten auch die Aufhebung des 8. Verfassungszusatzes. Im Jahr 2011 forderte sogar das Oberste Gericht die Regierung auf, zu begründen, warum der achte Verfassungszusatz weiterbestehen solle, wenn der fünfte aufgehoben worden sei. Schon im Jahr 1988 hatten 15 prominente Persönlichkeiten Bangladeschs dagegen Verfassungsklage erhoben. Die Klageschrift machte lange Zeit keine Fortschritte, wurde aber dann nach dem Urteil aus dem Jahr 2010 erneut reaktiviert. In einer kurzen Verhandlung vor dem Obersten Gericht am 27. März 2016 wies das Gericht die Klage ab und bekräftigte die weitere Gültigkeit des 8. Verfassungszusatzes. Unter den Muslimen ist der Sufismus verbreitet, auch die Tablighi Jamaat hat in Bangladesch eine große Anhängerschaft. Seit den 1980er Jahren wächst außerdem der Einfluss islamischer Fundamentalisten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren 33,9 Prozent der Bevölkerung Hindus. Seitdem ging dieser Anteil stark zurück. Vor der Teilung Indiens 1947 waren noch 28 Prozent der Bevölkerung hinduistischen Glaubens, jedoch flohen dann fast vier Millionen Hindus nach Indien. Im Unabhängigkeitskrieg 1971 ging die pakistanische Armee mitsamt den sie unterstützenden lokalen islamistischen Milizen besonders brutal gegen die religiösen Minderheiten vor, denen kollektiv unterstellt wurde, die Unabhängigkeitsbewegung zu unterstützen. Unter den mindestens 500.000 Toten (Maximalschätzungen bis zu 3 Millionen) des Krieges befanden sich auch viele Hindus. Dem Christentum gehören etwa 0,3 Prozent der Bevölkerung an (meist römisch-katholischen Glaubens). Animismus ist eher selten; sein Anteil wird auf etwa 0,1 Prozent geschätzt. Obwohl der Islam eine gewisse Rolle in der Gesetzgebung spielt, gibt es in Bangladesch keine formelle Implementierung der Scharia. Islamische Rechtsvorstellungen werden nur auf Muslime angewendet. Das Familienrecht unterscheidet sich zwischen den einzelnen Religionen etwas. Männlichen Muslimen ist es mit dem schriftlichen Einverständnis der ersten Ehefrau erlaubt, bis zu vier Ehefrauen zu nehmen. In der Realität kommt das selten vor, und es gibt einen starken gesellschaftlichen Druck gegen die Vielehe. Hindus ist die Ehescheidung nur unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt (ungewollte Kinderlosigkeit, Misshandlungen, Geisteskrankheit). Hindu-Witwen dürfen sich legal wiederverheiraten. Es gibt auch keine gesetzlichen Beschränkungen für Heiraten von Angehörigen verschiedener Religionen. Die gesetzlichen Bestimmungen können allerdings nur dann in Anspruch genommen werden, wenn die Eheschließung amtlich registriert wurde, was keine Pflicht ist. Kritisiert werden die vielen Kinderehen. Über 60 % der Mädchen werden verheiratet, bevor sie das gesetzliche Mindestalter von 18 Jahren erreicht haben. Eine Gesetzesänderung 2017 sieht vor, dass Mädchen sofort nach ihrer Geburt verheiratet werden dürfen. In der Regierung von Bangladesch sind auch Angehörige religiöser Minderheiten vertreten (2012 waren 5 von 51 Ministern keine Muslime: 2 Buddhisten, 2 Hindus, 1 Christ). Auch in der höheren Verwaltung sind Nichtmuslime vertreten. Allerdings gibt es keine offiziellen Statistiken, die darüber eine Aussage erlauben, inwieweit diese Minderheiten ihrem Anteil an der Bevölkerung gemäß repräsentiert sind. Der "Vested Property Act" (Gesetz über rechtmäßigen Landbesitz) aus den 1960er Jahren, der bis 2001 in Kraft war, erlaubte der Regierung, Landbesitz von „Landesfeinden“ (in der Praxis waren das praktisch ausschließlich Hindus) zu enteignen. Typischerweise handelte es sich um Hindus, die nach Indien geflohen waren und deren vermeintlich herrenloses Land staatlicherseits konfisziert wurde. Dadurch kamen über die Jahre 2,6 Millionen "acre"s (10.500 km²) in Regierungsbesitz. Die betroffenen Hindus versuchten auf dem Rechtsweg, ihr Land zurückzugewinnen. Mit der "Vested Properties Return (Amendment) Bill" (Gesetz über die Rückgabe von rechtmäßigem Landbesitz) im Jahr 2011 wurde die Regierung verpflichtet, Listen über den eingezogenen Landbesitz zu veröffentlichen, anhand derer Ansprüche auf Rückgabe gestellt werden können. Islamistische politische Parteien haben bei Parlamentswahlen in Bangladesch in der Vergangenheit zeitweilig bis zu 15 % der Stimmen erhalten. Die mit Abstand größte islamistische Partei ist Jamaat-e-Islami (JI), die im Unabhängigkeitskrieg die pakistanische Seite unterstützt hatte und deswegen danach einige Jahre verboten wurde. Seit etwa dem Jahr 2009 sind führende Politiker von JI aufgrund ihrer Beteiligung an Menschenrechtsverbrechen während des Unabhängigkeitskrieges von einem durch die bangladeschische Regierung eingesetzten Sondergericht angeklagt und zum Teil zum Tode und zu langen Haftstrafen verurteilt worden. Dies hat zur Radikalisierung eines Teils der Anhänger geführt. Seit spätestens Ende der 1990er Jahre sind militant-islamistische Gruppen wie Jamaat-ul-Mujahideen Bangladesh aktiv, die Bombenanschläge auf staatliche Einrichtungen verüben. Auch die weltweiten Aktivitäten von al-Qaida und des sogenannten „Islamischen Staates“ haben zu vermehrten islamistischen Aktivitäten in Bangladesch geführt. Umstritten ist, inwieweit es sich dabei um Nachahmertaten handelt und wie weit sich diese beiden Organisationen im Land ausgebreitet haben. Seit etwa 2013 sind islamistische Mordanschläge auf Säkularisten zu einem zunehmenden Problem geworden, das die Beachtung der Weltöffentlichkeit gefunden hat. Bei den Mordopfern handelte es sich meist um Blogger in sozialen Netzwerken, Journalisten oder Buchautoren, die sich öffentlich zum Atheismus bekannt und diesen propagiert hatten. Die Opfer wurden typischerweise von einer Gruppe von islamischen Extremisten überfallen und in brutaler Weise mit Macheten vor den Augen ihrer Umgebung zu Tode gehackt. Zu den bekanntesten Opfern gehörte Avijit Roy (gest. 26. Februar 2015). Seit etwa 2015 gibt es auch verstärkt Angriffe auf Angehörige religiöser Minderheiten (Hindus, Christen, Buddhisten). Bildung. In Bangladesch stieg die mittlere Schulbesuchsdauer von Personen über 25 Jahre von 2,8 Jahren im Jahr 1990 auf 5,2 Jahre im Jahr 2015 an. Das Land hat bei der Grundschulbildung deutliche Erfolge erzielt, die Einschulungsrate liegt bei circa 95 Prozent, auch wenn ein großer Teil die Schule dann ohne Abschluss verlässt. Der Staat ist trotz Schulpflicht nicht in der Lage, eine ausreichende Bildungsinfrastruktur zur Verfügung zu stellen. Es gibt deshalb eine Vielzahl privater und von Nichtregierungsorganisationen betriebener Schulen. Neben meist bengalischsprachigen staatlichen Schulen gibt es vermehrt englischsprachige Privatschulen. Das öffentliche Bildungswesen Bangladeschs folgt dem britischen Modell, das in England 1947 eingeführt wurde. Es besteht eine offizielle fünfjährige Schulpflicht, und der Besuch öffentlicher Schulen ist kostenlos. Allerdings verlassen viele Schüler die Schule ohne Abschluss. Die Zahl der Schüler in der Sekundarstufe sinkt daher, der Anteil der Mädchen ist in den höheren Klassen sehr viel geringer als der der Jungen. Daher wird für Mädchen ab der 6. Klasse ein Teil der monatlichen Kosten vom Staat übernommen. 2015 waren 38,5 % aller Bangladescher über 15 Jahre Analphabeten. Bei den Frauen lag die Quote bei 41,5 %, unter den Männern konnten 35,4 % nicht lesen und schreiben. Das staatliche Bildungssystem umfasst vier Hauptstufen: Auf die fünfjährige Grundschule folgt die dreijährige Mittelschule von der sechsten bis zur achten Klasse. Danach kommt die zweijährige Ausbildung an einer "High School," die mit einer "Higher Secondary School, HSC" Prüfung abgeschlossen wird. Der erfolgreiche Abschluss der "Higher Secondary School" berechtigt zum Besuch einer staatlichen Hochschule oder Universität. In Bangladesch gibt es über 105 anerkannte staatliche und private Universitäten. Ein Bachelor-Studium dauert vier Jahre und ein Master-Studium sechs Jahre. Danach besteht auch die Möglichkeit, zu promovieren. Die Universitäten in Bangladesch sind stark politisiert. Studentenunruhen und gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Studenten kommen regelmäßig vor, häufig ferngesteuert von den beiden großen Parteien BNP und Awami-Liga sowie der religiös orientierten Jamaat-e-Islami. Neben den staatlichen Schulen gibt es Tausende von Madaris oder Koranschulen, die zu einem großen Teil von Saudi-Arabien finanziert werden. Sie bieten in der Regel auch Kindern aus armen Familien, denen der Besuch einer staatlichen Bildungseinrichtung nicht möglich wäre, eine kostenlose Grundbildung. Ihre Lehrinhalte stehen nur teilweise unter staatlicher Kontrolle. Gesundheit. Die Gesundheitsausgaben des Landes betrugen im Jahr 2019 2,5 % des Bruttoinlandsprodukts. Im Jahr 2020 praktizierten in Bangladesch 6,7 Ärztinnen und Ärzte je 10.000 Einwohner. Die Kindersterblichkeit konnte stark gesenkt werden. Die Sterblichkeit bei unter 5-jährigen betrug 2020 29,1 pro 1000 Lebendgeburten, im Jahr 1960 lag sie noch bei 263 pro 1000 Lebendgeburten. Insgesamt verfügen 84 % der Einwohner über Zugang zu Trinkwasser (Stand: 2014). Jedoch hat nur etwa jeder zweite (54 %) Zugang zu sanitären Einrichtungen (Stand: 2014). Während im Jahre 2000 noch 20,1 % der Bevölkerung unterernährt waren, waren es 2019 noch 10 % der Bevölkerung. Die Lebenserwartung der Einwohner Bangladeschs ab der Geburt lag 2020 bei 72,9 Jahren (Frauen: 74,9, Männer: 71,1). Mitte der 1950er Jahre betrug die Lebenserwartung noch 40 Jahre und hat sich seitdem um gut 30 Jahre gesteigert. Die HIV-Infektionsrate ist niedrig. Geschichte. Regionalgeschichte bis zur Abspaltung Bangladeschs von Pakistan. Bangladesch bildete bis 1947 einen Teil Britisch-Indiens. Nach der Teilung des Landes in einen mehrheitlich hinduistischen, säkularen Staat (Indien) und einen muslimischen Staat (Pakistan) wurde im Zuge der Teilung Bengalens 1947 das ebenfalls überwiegend islamische Ostbengalen Pakistan (als "Ostpakistan") zugeschlagen, von dem es geographisch durch Indien getrennt war. Trotz der gemeinsamen islamischen Religion trennten Westpakistan und Ostpakistan sprachliche und kulturelle Verschiedenheiten. Zu einem ersten ernsthaften Konflikt zwischen beiden Landesteilen kam es bei dem Versuch der pakistanischen Staatsführung, Urdu als alleinige Staatssprache einzuführen. Dies führte zur Entstehung der Bengalischen Sprachbewegung, die erreichte, dass ab 1956 auch das Bengalische als zweite Staatssprache neben Urdu eingeführt wurde. Trotzdem war Ostpakistan im gemeinsamen Staatswesen weiterhin benachteiligt. Der fruchtbare Osten erzielte mit seinen Jute- und Reisexporten Überschüsse, die fast ausschließlich dem Westteil zugutekamen, wo sie wiederum vorrangig für das Militär ausgegeben wurden. Insbesondere im pakistanisch-indischen Kaschmirkrieg im Jahr 1965 wurde deutlich, dass einerseits Westpakistan keinerlei Anstrengungen zur militärischen Sicherung Ostpakistans unternahm, andererseits die Kaschmirfrage in Ostpakistan kaum auf Interesse stieß. Die Bengalen waren sowohl im Militär als auch in der Staatsverwaltung stark unterrepräsentiert. Scheich Mujibur Rahman, der charismatische Führer der ostpakistanischen Awami-Liga, forderte deshalb weitgehende Autonomie für Bengalen (Ostpakistan). Nach dem Rücktritt von Präsident Muhammed Ayub Khan am 25. März 1969 sah sein Nachfolger General Agha Muhammad Yahya Khan keinen anderen Ausweg aus der politischen Krise Pakistans mehr, als die lange hinausgezögerten gesamtstaatlichen Wahlen auszuschreiben (bis dahin hatte es immer nur Wahlen zu den Provinzialvertretungen gegeben). Diese Wahlen 1970 führten zu einem Erdrutschsieg der Awami-Liga in Ostpakistan, die damit auch die Mehrheit der Mandate im gesamtpakistanischen Parlament gewann. Der Wahlsieg der Awami-Liga war durch den verheerenden Zyklon im November 1970 begünstigt worden, auf den die gesamtpakistanische Führung nur unzureichend reagiert hatte. Nach der politischen Logik hätte die Awami-Liga die neue Regierung Gesamtpakistans bilden sollen. Dies stieß in Westpakistan vor allem beim dortigen Wahlsieger Zulfikar Ali Bhutto (Pakistan Peoples Party) und der pakistanischen Armee auf Widerstand. Sie entschlossen sich zu einer blutigen Unterdrückung der separatistischen Bestrebung, die vor allem auf eine Eliminierung der bengalischen Eliten, Massentötungen von Unterstützern der Unabhängigkeitsbewegung und religiösen Minderheiten sowie Massenvergewaltigungen zur Terrorisierung der bengalischen Bevölkerung hinausliefen (Genozid in Bangladesch). Nur einen Tag nach der Machtübernahme der Armee proklamierte Mujibur Rahman die Unabhängigkeit des Landes. Vor dem Terror der pakistanischen Armee und ihrer örtlichen Hilfstruppen, der sich schwerpunktmäßig stark gegen die Hindu-Minderheit richtete, flohen Millionen Menschen ins benachbarte Indien. Schließlich griff Indien im Bangladesch-Krieg militärisch in den Konflikt ein und führte eine Entscheidung zu Gunsten der Separatisten herbei (3. bis 16. Dezember 1971). Am 16. Dezember 1971 erlangte Ostpakistan auch völkerrechtlich die Unabhängigkeit und gab sich den Namen "Bangladesch". Nach Eintreffen aus pakistanischer Haft verkündete Rahman am 10. Januar 1972 in Dhaka vor einem Millionenpublikum den Bruch der früher staatlich vereinten Landesteile West- und Ostpakistan. Zwei Tage später stellte er eine Regierung vor, in der er die Funktion des Ministerpräsidenten ausübte. Nach Darstellung der Regierung von Bangladesch kostete der Unabhängigkeitskrieg bis zu drei Millionen Bangladescher das Leben und mehr als 20 Millionen Flüchtlinge flohen nach Indien. Ab dem Frühjahr 1972 wurde Bangladesch nach und nach von der Mehrheit der Staatengemeinschaft anerkannt; Pakistan erkannte das Land im Februar 1974 an. Demokratische Zwischenphase und Militärdiktatur. Nach seiner Unabhängigkeit wurde Bangladesch eine parlamentarische Demokratie mit Mujibur Rahman als Premierminister. 1973 gewann die Awami-Liga die absolute Mehrheit. 1973, 1974 und Anfang 1975 traten landesweit Hungersnöte auf. Mujibur Rahman führte ein Ein-Parteien-Regime ein und benannte die Awami-Liga in "Bangladesh Krishak Sramik Awami League" (BAKSAL, „Awami-Liga der Arbeiter und Bauern von Bangladesch“) um. Am 15. August 1975 wurden Mujibur Rahman und ein Großteil seiner Familie bei einem Militärputsch umgebracht. In den nächsten drei Monaten folgten eine Reihe von Putschen und Gegenputschen, bis General Ziaur Rahman (auch "Zia" genannt) an die Macht kam. Er führte wieder ein Mehr-Parteien-System ein und gründete die BNP (Bangladesh Nationalist Party). Zia wurde 1981 von konkurrierenden Militärs umgebracht. 1982 kam General Hossain Mohammad Ershad bei einem unblutigen Staatsstreich an die Macht und gründete 1986 zur Unterstützung seiner Herrschaft eine neue staatstragende Partei, die Jatiya Party. Gegen das Kriegsrecht und gegen die von der Regierung verfolgte Islamisierung der Gesellschaft gab es zahlreiche Protestaktionen und Streiks. Zu sozialen Spannungen kam es auch mit den 500.000 in Bangladesch lebenden Biharis, die überwiegend in Lagern leben mussten. General Ershad versuchte mit der Privatisierung von Staatsbetrieben Anreize für ausländische Investoren zu schaffen und die hohe Arbeitslosigkeit (um die 30 Prozent) zu senken. Ershad regierte bis zu einem Volksaufstand 1990. Machtwechsel und Demokratisierung. Nach dem Volksaufstand 1990 kehrte Bangladesch zur parlamentarischen Demokratie zurück. In unregelmäßigen Abständen wechselten sich dabei Regierungen unter Führung der BNP und der Awami-Liga ab. Von 1991 bis 1996 und von 2001 bis 2006 war Khaleda Zia (BNP), die Witwe Zias Premierministerin und von 1996 bis 2001 war Hasina Wajed (Awami-Liga), eine überlebende Tochter von Mujibur Rahman, Premierministerin. Seit der Wahl 2008 amtiert Hasina Wajed als Premierministerin. Die Anfang 2007 anstehende Parlamentswahl konnte aufgrund massiver Unruhen nicht termingerecht abgehalten werden, so dass maßgeblich auch unter dem Druck des Militärs eine Übergangsregierung unter dem Ökonomen Fakhruddin Ahmed die Amtsgeschäfte übernahm. Diese Übergangsregierung führte verschiedene Reformen durch und versuchte, die grassierende Korruption zu bekämpfen. Mehr als 100 Spitzenpolitiker wurden unter Korruptionsanklage gestellt. Auch Hasina Wajed und Khaleda Zia wurden zeitweilig verhaftet. Die Regierung verfolgte das Ziel, durch Strafandrohung diese beiden Politikerinnen zur Flucht ins Ausland zu veranlassen, und ihnen dann die Rückkehr nach Bangladesch zu verweigern. Die beiden blieben jedoch im Land, und der Plan der Übergangsregierung, sich auf diese Weise der beiden führenden vermeintlich korrupten Spitzenpolitikerinnen zu entledigen, schlug fehl. Auch die meisten anderen Korruptionsanklagen verliefen ergebnislos im Sande. Auf dem Feld der Wirtschaftspolitik und der Reform staatlicher Institutionen (z. B. der zentralen Wahlkommission) agierte die Übergangsregierung dagegen relativ erfolgreich. Obwohl die Notstandsregierung in der Bevölkerung gewisse Popularität erlangen konnte, formierten sich im August 2007 Studentenproteste, die bald auf das ganze Land übergriffen. Ende August sah sich die Regierung daher gezwungen, eine Ausgangssperre zu verhängen. Neuwahlen wurden für Anfang 2008 ausgeschrieben. Die Wahl 2008 wurde von der Awami-Liga unter Hasina Wajed deutlich gewonnen. Sie verfügte danach über mehr als drei Viertel der Sitze im Parlament. Die Wahl 2014 wurde von den meisten oppositionellen Parteien boykottiert und die Awami-Liga konnte ihren Wahlsieg wiederholen. Allerdings lag die Wahlbeteiligung aufgrund des Wahlboykotts der Opposition nur bei geschätzten 30 %. Die beiden großen politischen Lager (die regierende Awami-Liga auf der einen Seite und die Bangladesh Nationalist Party (BNP)) stehen sich seitdem unversöhnlich gegenüber. Die BNP forderte baldige Neuwahlen und rief zu regelmäßigen Streikaktionen auf, um diese zu erzwingen, was von der Awami-Regierung abgelehnt wurde. Das innenpolitische Klima wurde zudem durch die öffentlichkeitswirksamen Prozesse vor allem gegen die Führer der islamistischen Jamaat-e-Islami aufgrund von Kriegsverbrechen im Bangladesch-Krieg 1971 aufgeheizt. Im Rahmen der Prozesse wurden mehrere Todesurteile vollstreckt. Ein Gericht in Dhaka verhängte am 11. Oktober 2018 die Todesstrafe für 19 Personen wegen eines Handgranatenanschlags auf die spätere Premierministerin Hasina Wajed bei einer Parteikundgebung der Awami-Liga am 21. August 2004. Unter den Verurteilten befanden sich führende Oppositionspolitiker. Zudem wurde der im britischen Exil lebende Tarique Rahman, Sohn der früheren Premierministerin und Oppositionsführerin Khaleda Zia, zusammen mit weiteren 18 anderen Oppositionellen, zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Seit 2013 gab es immer wieder islamistisch motivierte Morde an Säkularisten oder Bloggern mit säkularer Weltanschauung, die weltweite Beachtung fanden. Unter der Awami-Liga-Regierung seit 2008 kam es zu einer deutlichen Verbesserung und einer Intensivierung der gegenseitigen Beziehungen zum benachbarten Indien, was unter anderem in dem am 7. Mai 2015 endgültig ratifizierten Indisch-bangladeschischen Grenzvertrag resultierte. Die Parlamentswahl 2018 konnte nach dem Urteil ausländischer Beobachter nicht mehr als wirklich frei und demokratisch bezeichnet werden, da sie ganz und gar unter der Dominanz der Awami-Regierung von Premierministerin Wajed stand. Die führende Oppositionspolitikerin und BNP-Vorsitzende Khaleda Zia war 2018 wegen Korruption zu einer Haftstrafe verurteilt worden, erhielt aber später gegen Kaution Haftverschonung. Sie war damit weitgehend politisch kaltgestellt. Bei der Wahl gewann die Awami-Liga über 90 % der Parlamentsmandate. Politik. Politisches System. Nach der Verfassung von 1972 (geändert 2004) ist Bangladesch eine Republik mit einem Einkammerparlament. Das Parlament Bangladeschs wird Jatiyo Sangshad (deutsch: „Nationalversammlung“) genannt und hat 350 Abgeordnete, von denen 300 direkt in Einzelpersonen-Wahlkreisen in einfacher Mehrheitswahl gewählt werden. Die 50 zusätzlichen Sitze sind für Frauen reserviert, die in indirekter Wahl durch die 300 Abgeordneten entsprechend den Sitzanteilen der Parteien hinzugewählt werden. Die Legislaturperiode dauert fünf Jahre. Das allgemeine Wahlrecht gilt ab 18 Jahren. Die Geschichte des Frauenwahlrechts verlief in Etappen. 1937 trat der "Government of India Act" in Kraft, der 1935 verabschiedet worden war, und das Stimmrecht für alphabetisierte Frauen enthielt, die ein Einkommen hatten und Steuern zahlten. Als Pakistan 1947 ein unabhängiges Herrschaftsgebiet geworden war, wurde dieses Recht bestätigt und auch auf Bangladesch, damals Ostpakistan, angewendet. 1956, als Bangladesch noch Teil von Pakistan war, erhielten Frauen das allgemeine Wahlrecht. 1971 wurde Bangladesch als Folge der Abtrennung von Ostpakistan von Pakistan unabhängig. Am 4. November 1972 wurde eine neue Verfassung beschlossen und im Dezember 1972 in Kraft gesetzt, die ein allgemeines Wahlrecht für alle Bürgerinnen und Bürger ab 18 Jahre garantierte. Regierungschef des Landes ist der Premierminister, der vom Parlament gewählt wird. Der Präsident übernimmt als Staatsoberhaupt zeremonielle Aufgaben. Er wird ebenfalls vom Parlament auf fünf Jahre gewählt. Es ist eine einmalige Wiederwahl möglich. Parlamentswahlen. Die 300 direkt gewählten Abgeordneten des Parlaments (Jatiya Sangsad) werden in ebensovielen Wahlkreisen nach dem einfachen Mehrheitswahlrecht nach britischem Muster gewählt. Dies führt auf der einen Seite zu eindeutigen Mehrheitsverhältnissen bei Wahlen, auf der anderen Seite können aber schon geringe Stimmenverschiebungen zu massiven Änderungen der Sitzverteilung führen. Beispielsweise gewann die Bangladesh Nationalist Party (BNP) bei der Parlamentswahl 2001 nur wenig mehr Stimmen als die Awami-Liga (40,97 % gegenüber 40,13 %), erlangte damit aber fast zwei Drittel der Parlamentsmandate. Bei den bisherigen Parlamentswahlen führte das Wahlsystem häufig zu Supermajoritäten im Parlament, die die jeweils regierende Partei in die Lage versetzten, auch die Verfassung ändern zu können, was den Machtmissbrauch zumindest erleichterte. Traditionell gibt es bei Wahlen nur wenige weibliche Kandidaten. Um den Frauenanteil im Parlament zu erhöhen, wurde die Regelung einführt, dass das gewählte Parlament zusätzliche weibliche Abgeordnete hinzuwählen konnte. Die Zahl dieser hinzugewählten weiblichen Abgeordneten betrug anfänglich 15, dann von 1979 bis 1987, sowie 1990 bis 2000 30, ab 2005 45 und ab 2018 dann 50. Die Sollstärke des Parlaments beträgt damit derzeit 350 Abgeordnete. Politische Parteien. Seit der Wiedereinführung der Demokratie 1990 besteht in Bangladesch praktisch ein Zweiparteiensystem. Das geltende relative Mehrheitswahlrecht nach britischem Vorbild begünstigt sehr stark größere Parteien. Auf der einen Seite steht die Bangladesh Nationalist Party, eine moderat islamische, konservative Partei, die von Khaleda Zia, der Witwe des Militärmachthabers Ziaur Rahman (Präsident 1977–1981 und Parteigründer) geführt wird. Ihr steht die Awami-Liga gegenüber, die sich als sozialistisch-säkulare Partei versteht und deren Vorsitzende Scheich Hasina Wajed, eine Tochter des 1975 im Militärputsch ermordeten ersten Ministerpräsidenten und Parteigründers Mujibur Rahman, ist. Kleinere Parteien sind die Jatiya Party sowie die islamistische Bangladesh Jamaat-e-Islami. Der Jamaat wurde allerdings im Jahr 2013 die Zulassung als politische Partei bei Parlamentswahlen entzogen. Daneben gibt es noch eine Reihe von kleinen linkssozialistischen, kommunistischen und islamistischen bzw. islamischen Parteigruppierungen. Die Politik ist wesentlich von persönlichen Animositäten zwischen den beiden Parteiführerinnen Khaleda Zia und Hasina Wajed geprägt. Während der Regierungszeiten der jeweils anderen Partei übten sie sich häufig in Fundamentalopposition, beschuldigten die jeweils andere Partei des Wahlbetrugs und der Korruption und verweigerten sich einer konstruktiven Zusammenarbeit. Häufig kam es im Rahmen dieser Opposition zu Straßenunruhen, -blockaden und Generalstreiks, die das Land destabilisierten. Außenpolitik. Bangladesch betreibt eine auf Ausgleich bedachte Außenpolitik. Der geographischen Lage, der Bedeutung ausländischer Entwicklungshilfe und den wirtschaftspolitischen Interessen des Landes entsprechend, verfolgt Bangladesch eine konstruktive Zusammenarbeit im regionalen Rahmen, innerhalb der islamischen Staatenwelt sowie mit westlichen Staaten. Da sich viele der drängenden Probleme des Landes (Wasserhaushalt, Energieversorgung, Zugang zu maritimen Ressourcen) nur mit den unmittelbaren und regionalen Nachbarn lösen lassen, spielen die Beziehungen zu Indien und zu Myanmar eine herausgehobene Rolle. Indien hat für das Entstehen des unabhängigen Bangladesch eine wichtige Rolle gespielt. Dennoch sind die Beziehungen nicht ohne Probleme. Indien umschließt Bangladesch geographisch fast völlig und hat entscheidenden Einfluss auf wichtige Faktoren, die das künftige Schicksal Bangladeschs bestimmen. So kontrolliert Indien die Oberläufe aller wichtigen Flüsse, die Bangladesch durchfließen. Die Ausbeutung der in der Bucht von Bengalen vermuteten Gasvorkommen ist auch von einer Einigung mit Indien über den Grenzverlauf abhängig. Eine Reihe weiterer schwieriger Fragen wie Transitrechte, illegaler Grenzübertritt und Migration, Wasserverteilung, Maßnahmen gegen den Terrorismus und Schmuggel werden in regelmäßigen Regierungsgesprächen erörtert. Seit dem Ende der Kolonialzeit gestalteten rund 200 Enklaven die Grenzlinie höchst komplex. Indien baute ab 1993 ein 3200 Kilometer langes Bauwerk zur Befestigung der Haupt-Grenzlinie. Ab 2011 nahmen Bangladesch und Indien ein weiteres Mal Verhandlungen zum Austausch von Enklaven auf. Am 7. Mai 2015 wurde ein Grenzvertrag unterzeichnet, demzufolge Bangladesch 111 indische Enklaven erhielt und Indien im Gegenzug 52 bangladeschische auf seinem Gebiet. Damit wurde eine geregelte Grenze hergestellt. 53.000 Bewohner der betroffenen Gebiete konnten entscheiden, welchem der zwei Staaten sie angehören wollten. Die Beziehungen zu China sind gut und vor allem durch das Engagement der chinesischen Regierung und chinesischer Unternehmen beim Ausbau der Infrastruktur in Bangladesch gekennzeichnet. China ist der nach Indien zweitgrößte Handelspartner und der wichtigste Lieferant von Militärgütern. Ein besonderes Verhältnis besteht zu den arabischen Golfstaaten, in denen mehr als die Hälfte der über 7 Millionen bangladeschischen Gastarbeiter tätig sind. Deren Überweisungen sind nach den Exporterlösen der Textilbranche die wichtigste Devisenquelle für Bangladesch. Bangladesch ist zudem Gründungsmitglied der SAARC (Südasiatische Vereinigung für regionale Kooperation). Ebenfalls enge Bindungen bestehen zu Großbritannien und den USA, allein schon wegen der großen Zahl der dort lebenden Bangladescher (500.000 bzw. 150.000 Migranten). Menschenrechte. Bangladesch hat die weltweit höchste Heiratsrate von Mädchen unter 15 Jahren. Einer UNICEF-Studie zufolge werden 29 Prozent von ihnen mit weniger als 15 Jahren verheiratet, 2 Prozent sogar mit weniger als 11 Jahren. Kinderheiraten bedeuten für das Leben der Mädchen Abbruch weiterführender Schulbildung, Vernachlässigung und häusliche Gewalt durch Ehepartner und Schwiegereltern sowie gravierende gesundheitliche Schäden bis hin zum Tod durch zu frühe Schwangerschaften. Laut Human Rights Watch habe die Regierung von Bangladesch trotz anderslautender Versprechen keine ausreichenden Maßnahmen getroffen, um Kinderheiraten zu verhindern. Von der Menschenrechtsorganisation "Freedom House" wurde Bangladesch 2017 als „partiell freie“ Gesellschaft beurteilt. In Bezug auf die Pressefreiheit erhielt das Land die Bewertung „nicht frei“. Auf der Punkteskala von "Freedom House" von Null (am schlechtesten) bis Hundert (am besten) erhielt Bangladesch einen Wert von 47 und lag damit zwar vor Pakistan (43) und dem benachbarten Myanmar (32), aber deutlich hinter Indien (77). Ein Hauptkritikpunkt ist die immer wieder aufflammende Intoleranz gegenüber religiösen und ethnischen Minderheiten. Zu den ersteren zählen vor allem die Hindus, aber auch Christen und Buddhisten. Als besorgniserregend gilt die hohe Zahl an Entführungen aus wahrscheinlich politischen Motiven, in die staatliche Organe involviert zu sein scheinen. Am 24. Februar 2017 rief eine Expertengruppe der Vereinten Nationen die bangladeschische Regierung auf, Maßnahmen zu ergreifen, um das Verschwindenlassen politisch missliebiger Personen zu unterbinden und das Schicksal der Verschwundenen aufzuklären. Die Zahl der verschwundenen Personen sei von wenigen isolierten Fällen vor einigen Jahren auf über 40 Fälle im Februar 2017 angestiegen. Von den Entführungen waren besonders Personen betroffen, die mit der Opposition in Verbindung standen. Prominente entführte Personen waren Hummam Quader Chowdhury (entführt 3. August 2016, wieder aufgetaucht 2. März 2017), der Sohn des BNP-Politikers Salahuddin Quader Chowdhury, Mir Ahmed Bin Quasem (entführt am 9. August 2016), Rechtsanwalt und Sohn des wegen Kriegsverbrechen hingerichteten Jamaat-Politikers Mir Quasem Ali und der Brigadegeneral Abdullahil Amaan Al Azmi (entführt 22. August 2016), der Sohn des ebenfalls zum Tode verurteilten, aber zuvor verstorbenen Jamaat-Politikers Ghulam Azam. Familienangehörige der Entführten vermuteten, dass in Zivilkleidung agierende Spezialeinheiten der bangladeschischen Polizei für die Entführungen verantwortlich waren. Der erwähnte Hummam Quader Chowdhury erklärte nach seinem Wiederauftauchen, sich an gar keine Umstände seiner Entführung mehr erinnern zu können. Auch westliche Medien und Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International griffen das Thema wiederholt auf und riefen die bangladeschische Regierung zur Einhaltung und Durchsetzung rechtsstaatlicher Prinzipien auf. Journalisten wurden in jüngerer Zeit vermehrt Opfer von Einschüchterung und Gewalt durch verschiedene religiöse und politische Gruppierungen. 2015 wurden mehrere liberale Blogger von Islamisten ermordet. Im Jahr 2017 wurde nach Reporter ohne Grenzen mindestens ein Journalist in Bangladesch aufgrund seiner Tätigkeit getötet. Weitere acht Journalisten waren in Haft. 2018 kam es im Zusammenhang mit Schüler- und Studentenprotesten zu gewaltsamen Übergriffen auf Journalisten und zu einer partiellen Internetdrosselung. Laut einer Studie des Internationalen Gewerkschaftsbundes aus dem 2020 gehört Bangladesch unter den 144 untersuchten Staaten zu den zehn, in denen Arbeitnehmerrechte am schwersten verletzt werden. Die Regierung sabotierte in der Vergangenheit mehrfach die Arbeit von Gewerkschaften. Im Jahr 2020 wurde auch eine internationale Spendenaktion zur Unterstützung der Beschäftigten in der Textilindustrie behindert. Formell ist die Religionsfreiheit durch die Verfassung garantiert (zum Widerspruch zwischen Säkularismus und Islam als Staatsreligion siehe oben). "De facto" gibt es aber religiöse Intoleranz. Religiöse Verfolgung geschieht vor allem auf Grund von islamischer Unterdrückung. Bei scheinbar religiös motivierten Gewaltausbrüchen spielen häufig auch wirtschaftliche Motive und interethnische Konflikte eine Rolle. Religiöse Minderheiten sind durch unregelmäßige, vor allem bei politischen Veranstaltungen (Wahlen) aufflammende Gewaltausbrüche bedroht. Das Pew Research Center bewertete 2016 die Einschränkung der Religionsfreiheit durch die Regierung als „hoch“. Die Einschränkungen durch gesellschaftlichen Druck wurden als „sehr hoch“ bewertet. Ein Bericht von "Minority Rights Group International" kam 2016 zu dem Ergebnis, dass die Regierung mehr tun müsse, um die religiösen Minderheiten zu schützen. Von Gemeindevorstehern, die mit islamischen Führern zusammenarbeiten, werden außergerichtliche Fatwas gegen Frauen oder andere Minderheiten durchgeführt, obwohl diese gesetzlich verboten sind. Im Strafgesetzbuch gibt es ein Gesetz, das „absichtlich bösartige“ Aussagen zur Religion unter Strafe stellt. Die Auslegung dieser unscharfen Bestimmung unterliegt den Gerichten. In Schulbüchern wurden vermeintlich „unislamische“ Aussagen entfernt. 2016 war ein Jahr mit besonders starker Verfolgung. Aufgrund von Regierungsmaßnahmen besserte sich die Situation im Folgejahr. Im Juni 2016 brannten bengalische Muslime 300 Häuser der zumeist buddhistischen Chakma ab. Im November 2016 wurden in Rangpur 30 Häuser von Hindus durch einen muslimischen Mob angezündet und 600 Häuser der zumeist christlichen Santal ausgeraubt und angezündet. Dabei wurden auch einige Personen getötet und viele verletzt. Etwa 7000 Santal wurden vertrieben, um an das umstrittene Land zu kommen. Auf dem Weltverfolgungsindex von "Open Doors" gehört Bangladesch schon lange Zeit zu den 50 Ländern mit der stärksten Christenverfolgung. Besonders stark von religiöser Intoleranz sind Konvertiten aus dem Islam betroffen. Der Druck geht dabei besonders von den Familien, Nachbarn und religiösen Führern aus. Konvertiten droht bei Entdeckung oft die Scheidung und Enterbung oder sie und ggf. ihre Familien werden isoliert und zum Teil zur Flucht gezwungen. Militante Gruppen bedrohen sie mit dem Tod. Streitkräfte und Verteidigung. Im Jahresbudget 2019/2020 sind Militärausgaben von 3,87 Milliarden US-Dollar ausgewiesen, was einem Anteil von 8,3 Prozent des Gesamtbudgets entspricht. Die Streitkräfte Bangladeschs umfassen rund 450.000 Soldaten. Im August 2015 waren 9432 Angehörige der bangladeschischen Streit- und Polizeikräfte im Einsatz als Friedenstruppen der Vereinten Nationen (davon 8135 Soldaten, 74 Militärberater und 1223 Polizisten), damit rangierte Bangladesch an erster Stelle. Die eingesetzten Soldaten gelten weitgehend als diszipliniert und zuverlässig, mehrmals wurde militärisches Führungspersonal aus Bangladesch zu Kommandeuren von Friedensmissionen ernannt. Bangladesch bezieht jährlich 200 Millionen US-Dollar an Rekompensation für diese Einsätze (Stand 2006), dies stellt eine wichtige Einkommensquelle für das Land und die Streitkräfte dar. Weiterhin gilt das daraus entstehende Interesse der Streitkräfte Bangladeschs an einer guten Beziehung zur UN als ein innenpolitisch wichtiger stabilisierender Faktor. Wirtschaft. Bangladeschs Wirtschaft ist, wie in vielen anderen Entwicklungsländern, in den letzten Jahren auf solidem Wachstumskurs. In der Dekade 2005–2014 bewegte sich das Wirtschaftswachstum bei durchschnittlich etwa 5,6 % jährlich. Die noch höheren Wachstumsraten von über 7 Prozent in den Jahren 2016 und 2017 entsprachen schon dem Wirtschaftswachstum des benachbarten Indien. 2011 proklamierte die bangladeschische Regierung das Ziel, das Land bis zum Jahr 2021 in ein Land mit mittlerem Einkommen ("Middle Income Country") zu transformieren. Dafür visierte die Regierung Wirtschaftswachstumsraten von 7 bis 8 % in den Jahren 2012 bis 2015 an. Dieses Ziel wurde nicht ganz erreicht, und die Rate bewegte sich zwischen 6 und 7 %. Als wesentliche Wachstumshemmnisse werden mangelnde politische Stabilität (vor allem in der Vergangenheit), die ungenügende Infrastruktur in jeder Hinsicht (Straßen, Schienenverkehr, Hafenanlagen, Elektrizität, Internet) sowie eine ineffiziente Bürokratie angesehen. Zu letzterem zählt auch die weit verbreitete Korruption und Vetternwirtschaft in Politik und Administration. In die Bildung müsste nach Ansicht von Wirtschaftsexperten auch deutlich mehr als bisher investiert werden. Stärken sind die junge Bevölkerung, der aufgrund der niedrigen Löhne wettbewerbsfähige Textilsektor und eine im Entstehen begriffene IT-Industrie. Einen wichtigen Beitrag liefern die Überweisungen der über 7 Millionen Bangladescher im Ausland. Nach offiziellen Angaben lebten im Jahr 2017 alleine in Saudi-Arabien 550.000 Bangladescher (die tatsächlichen Zahlen lagen möglicherweise höher). Im Jahr 2016/2017 wurden 12,8 Milliarden US$ Überweisungen von Auslands-Bangladeschern nach Bangladesch registriert. Den Großteil davon machten Überweisungen aus den arabischen Golfstaaten aus. Nach wie vor ist die Bedeutung der Landwirtschaft sehr groß; 42,7 % aller Erwerbstätigen arbeiten im Agrarbereich. Dessen Beitrag zum BIP beläuft sich nur auf 14,8 %, während die Industrie 28,8 % und der Dienstleistungssektor 56,5 % erwirtschaften. Die Hauptprodukte der Landwirtschaft sind Reis und Jute. Das Land ist der viertgrößte Reisproduzent (Stand: 2016). Von wachsender Bedeutung sind Weizen, Mais und Gemüse. Weitere Produkte sind Zuckerrohr, Holz und Tee. Jute war ein bedeutendes Exportprodukt, doch sie wird als Verpackungsmaterial zunehmend von Kunststoffen verdrängt. An eigenen fossilen Energieträgern besitzt Bangladesch Erdgas und Kohle, die hauptsächlich im Nordosten des Landes für den Eigenbedarf gefördert werden. Die Industrie in Bangladesch erzeugt Textilien, Jute und Juteprodukte, Leder, Lederprodukte und Keramik. Das Land wurde zum zweitgrößten Textilproduzenten der Welt (siehe Textilindustrie in Bangladesch). Außerdem gibt es ein Stahlwerk, Werften und Chemieunternehmen sowie Pharmaunternehmen. Die Abwrackwerften bei Chittagong sind in der Schiffsverschrottung tätig. Die international operierende Fluggesellschaft Biman Bangladesh Airlines gehört zu 100 % dem Staat. Mit einem BIP pro Kopf von etwa 1.900 US-Dollar im Jahr 2019 gehört Bangladesch zu den armen Ländern. Ein großes Problem des Staates ist, wie bereits oben mehrfach erwähnt, die Korruption. Im Global Competitiveness Index, der die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes misst, belegte Bangladesch Platz 99 von 137 Ländern (Stand 2017–2018). Im Index für wirtschaftliche Freiheit lag das Land 2019 auf Platz 121 von 180 Ländern. Wohlstand und Arbeitsmarkt. Laut Zahlen der Weltbank sank die Armut in Bangladesch von 2000 bis 2018 von 48,9 % auf 24,3 % der Bevölkerung, extreme Armut sank von 33,7 % auf 12,9 Prozent. Die Arbeitslosenquote wird 2017 mit nur ca. 4 % angegeben, allerdings sind die große Mehrheit der Beschäftigungsverhältnisse informeller Natur und Unterbeschäftigung ist weit verbreitet. Schätzungen gehen von einer Unterbeschäftigungsquote von bis zu 40 % aus. 2016 arbeiteten 42,7 % aller Arbeitskräfte in der Landwirtschaft, 36,9 % im Dienstleistungssektor und 20,5 % in der Industrie. Die Gesamtzahl der Beschäftigten wird für 2017 auf 66,7 Millionen geschätzt, davon 29,1 % Frauen. Mehrere Millionen Arbeitskräfte sind ausgewandert. Geringer Qualifizierte wandern vor allem in die Golfstaaten aus und höher Qualifizierte in die Vereinigten Staaten, das Vereinigte Königreich, Kanada und Australien. Außenhandel. Im Jahr 2016/17 exportierte Bangladesch Waren im Wert von 38,50 Mrd. US$ (3,0 Billionen Taka, 1 US$ ≈ 78 Taka). Davon machten Textilartikel 87,0 % aus (2,6 Billionen Taka). Der quantitativ nächstwichtigste Posten waren Lederwaren, Hüte und ähnliche Accessoires mit 2,85 %. Die Textilprodukte werden hauptsächlich im Auftrag von ausländischen Unternehmen (hauptsächlich aus Deutschland und den Vereinigten Staaten) produziert. Importiert wurden im selben Zeitraum Waren im Wert von 60,4 Mrd. US$ (4,7 Billionen Taka), davon 22,3 % Textilartikel, 16,0 % Maschinen, 13,6 % Mineralölprodukte, 7,2 % Metalle und Metallwaren, 7,0 % Gemüse, 6,9 % Fahrzeuge, 6,8 % chemische Produkte, 5,9 % Fette und Öle, 4,9 % Plastikartikel u. a. m. Die Europäische Union ist der wichtigste Wirtschaftspartner Bangladeschs, noch vor Indien, China und den USA. Mehr als drei Viertel aller Exportgüter Bangladeschs werden vom europäischen und nordamerikanischen Markt aufgenommen. Bangladesch kommt in den Genuss der Initiative "Everything But Arms" (EBA) der Europäischen Union, die den am wenigsten entwickelten Ländern (LDCs) ungehinderten Zugang zum Markt der Europäischen Union gewährt. Davon profitiert insbesondere der Textilsektor: circa 60 % der Textilexporte gehen in die EU. Staatshaushalt. Der Staatshaushalt umfasste 2016 Ausgaben von umgerechnet 35,3 Mrd. US-Dollar; dem standen Einnahmen von umgerechnet 23,7 Mrd. US-Dollar gegenüber. Daraus ergibt sich ein Haushaltsdefizit in Höhe von 5,0 % des BIP. Die Staatsverschuldung betrug 33 % des BIP. Die Staatsausgaben verteilten sich auf die einzelnen Ressorts wie folgt (in % des BIP): Infrastruktur. Straße. Die Infrastruktur Bangladeschs ist in einem schlechten Zustand, unter anderem durch häufige und starke Überschwemmungen während der Monsunzeit. Das Straßennetz hat eine Länge von 21.269 Kilometern, davon sind nur ca. 5 Prozent (1063 Kilometer) befestigt (siehe dazu auch Liste von Nationalstraßen in Bangladesch). Im Straßenverkehr passieren deshalb viele schwere Unfälle. 2013 kamen in Bangladesch 13,6 Verkehrstote auf 100.000 Einwohner. Zum Vergleich: In Deutschland waren es im selben Jahr 4,3 Tote. Diese Zahlen geben einen noch deutlicheren Hinweis auf mangelnde Verkehrssicherheit, wenn man sie in Relation zur niedrige Motorisierungsrate des Landes setzt. 2010 kamen im Land nur 3 Automobile auf 1000 Einwohner. Schiene. Das durch die nationale Eisenbahngesellschaft "Bangladesh Railway" betrieben Schienennetz umfasst 2885 Kilometer (Stand: 2015). Derzeit besteht ein Dualismus zweier Spurweiten, der noch auf die britische Kolonialzeit zurückgeht – im Westen des Landes und südlich der Padma sind die Bahnstrecken in indischer Breitspur ausgeführt, im Osten dagegen in Meterspur. Dies bringt erhebliche logistische Probleme mit sich, da die Fahrzeuge immer nur auf einer Spurweite verkehren können. Es wurden und werden daher Anstrengungen unternommen alle Strecken zu Dreischienengleisen auszubauen. Langfristig ist eine Umstellung auf indische Breitspur geplant. Luftverkehr. Es gibt drei internationale Flughäfen (Dhaka, Chittagong und Sylhet), mehrere Inlandsflughäfen (siehe: Liste der Flughäfen in Bangladesch) sowie zwei Seehäfen (Chittagong, Mongla). Die staatliche Fluggesellschaft ist "Biman Bangladesh Airlines". Kultur. Feiertage. Die religiösen Feiertage folgen dem islamischen Mondkalender. Sie verschieben sich daher im Vergleich zum gregorianischen Kalender jedes Jahr um etwa elf Tage zurück. Küche. Bangladesch führt eine typische südasiatische Küche. Oftmals werden Gerichte mit Huhn, Rind oder Fisch sowie einer großen Vielzahl von Gemüsen zubereitet, die mit einer gewissen Schärfe aufwarten. In den Meeresregionen ebenso häufig sind Gerichte in Verbindung mit Meeresfrüchten, insbesondere mit Krabben. Die Beilage ist bei allen Mahlzeiten entweder Reis (häufiger) oder Fladenbrot (seltener, da aufwändiger zuzubereiten). Süßigkeiten werden oft konsumiert, wobei die Zutaten und die Geschmacksrichtung stark variieren können. Ebenfalls häufig gibt es Süßspeisen auf Milchbasis, zum Beispiel Sandesh oder Pithas. Als Getränk erhält man in der Regel zum Beispiel Tee oder Lassi. Daneben besteht eine große Zahl weiterer Milch- und Fruchtsaftgetränke. Die drei mit Abstand häufigsten Genussmittel/Alltagsdrogen sind Tee, Paan und Zigaretten. Der Konsum von Alkohol oder anderen Drogen ist verboten, findet im Privaten aber ebenfalls häufig statt. Bis heute wird in Bangladesch so gut wie jede Mahlzeit mit den Händen gegessen. Literatur. Die bengalische Literatur ist etwa 1000 Jahre alt und erreichte im Mogulreich eine Blüte. In moderner Zeit wurde sie durch die Arbeiten von Michael Madhusudan Dutt, Rabindranath Thakur, Kazi Ahdul Wadud, Kankim Chandra Chattopadhyai, Mir Mosharraf Hossain und den rebellischen Poeten Kazi Nazrul Islam, der 3000 Lieder dichtete, international bekannt. Die strengen lyrischen Anekdoten des Dichters Jasimuddin hielten durch ihre Beschreibungen des harten Lebens auf dem Lande die Verbindung zu den geplagten Massen aufrecht. Die zeitgenössische bengalische Literatur erhielt kreative Impulse von einer neuen Generation von Schriftstellern wie den Lyriker Shamsur Rahman, der 60 Gedichtbände verfasste, Humayun Ahmed und Begum Sufia Kamal. Die pulsierende bengalische Literaturszene experimentiert mit sozialem und kritischen Realismus. Musik. Als Bewohner eines Landes mit starken Regenfällen, mächtigen Flüssen und üppigem Grün haben die Bangladescher eine starke Verbindung zur Natur. Ihre Musik ist emotional, ekstatisch und romantisch. Für jede Gelegenheit, jede Stimmung und Jahreszeit gibt es ein eigenes Lied. Moderne bengalische Musik stammt von zwei unterschiedlichen Schulen. Die erste, eine Mischung von Ost und West, wurde von Rabindranath Thakur initiiert, die zweite von Kazi Nazrul Islam angeführt. Film. Die Filmindustrie Bangladeschs hat ihr Zentrum in der Hauptstadt Dhaka. Vor der Teilung Indiens im Jahre 1947 wurden Filme in bengalischer Sprache meist in Kalkutta (Kolkata) produziert. Der größte Teil der bangladeschischen Filmproduktion sind Unterhaltungsfilme im typischen südasiatischen Stil mit Tanz- und Gesangseinlagen. Zu den von Kritikern meistbeachteten Filmemachern gehören Zahir Raihan, Alamgir Kabir, Humayun Ahmed, Tanvir Mokammel und Tareque Masud. Seit 2003 reicht das Land Filme für die Wahl zum Oscar für den besten fremdsprachigen Film ein. In der Allgemeinbevölkerung genießen allerdings sowohl indische Produktionen als auch westliche Prouktionen eine größere Popularität als Eigenproduktionen. Sport. Nationalsport Bangladeschs ist Kabaddi, während der populärste Sport Cricket ist. Die Cricket-Nationalmannschaft ist eine von derzeit zwölf Mannschaften die Test Cricket bestreiten. Ihre erste Weltmeisterschaft bestritten sie 1999 und waren 2011 Mitgastgeber des Turniers sowie alleiniger Gastgeber der ICC KnockOut 1998 und der ICC World Twenty20 2014. Ihr erfolgreichstes Abschneiden bei der Weltmeisterschaft hatten sie mit dem Viertelfinaleinzug 2015. Beim Asia Cup erreichte Bangladesch bisher drei Mal das Finale (2012, 2016 und 2018). 2020 gewann Bangladesch erstmals die ICC U19-Cricket-Weltmeisterschaft und damit seinen ersten Titel bei einem ICC-Turnier überhaupt. Das Nationale Cricket wird durch das Bangladesh Cricket Board organisiert, der zahlreiche Wettbewerbe im Land organisiert, unter anderem die international besetzte Bangladesh Premier League (BPL). Im November 2021 wurde Bangladesch zusammen mit Indien zum Gastgeber des Cricket World Cup 2031 ernannt. Die Frauen-Nationalmannschaft, die seit 2007 existiert, konnte 2018 die Asienmeisterschaft gewinnen und zog zwei Mal ins Finale der Asienspiele ein (2010 und 2014). Fußball ist nach Cricket die zweitwichtigste Sportart in Bangladesch und wird durch die Bangladesh Football Federation organisiert. Wichtigster Nationaler Wettbewerb ist die Bangladesh Premier League. Größter Erfolg der Nationalmannschaft war der Gewinn der Südasienmeisterschaft 2003. Bei Weltmeisterschaften unterstützen die meisten Bangladescher Argentinien, viele weitere Brasilien und Deutschland. Während Weltmeisterschaften werden überall die Flaggen Argentiniens und Brasiliens gehisst, nach dem argentinischen Sieg 2022 ist die Flagge Argentiniens auch 2023 noch häufiger an Masten im Land zu sehen als die eigene Nationalflagge. Die große Unterstützung aus Bangladesch führte sogar zur ersten Wiedereröffnung einer eigenen argentinischen Botschaft Anfang 2023 in Dhaka nach Aufgabe der letzten im Jahr 1978. Die Frauen-Nationalmannschaft konnte 2016 ins Finale der Südasienmeisterschaft einziehen. Andere beliebte Sportarten sind Hockey, Tennis, Badminton, Handball, Basketball, Volleyball, Schach, Sportschießen und Angeln. Special Olympics Bangladesch wurde 1994 gegründet und nahm mehrmals an Special Olympics Weltspielen teil. Der Verband hat seine Teilnahme an den Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin angekündigt. Die Delegation wird vor den Spielen im Rahmen des "Host Town Programs" vom Enzkreis betreut.
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Bulgarien
Bulgarien (; amtliche Bezeichnung seit 1990 Republik Bulgarien, bulgarisch ) ist eine Republik in Südosteuropa mit etwa 6,5 Millionen Einwohnern. Das Land nimmt den gesamten östlichen Teil der Balkanhalbinsel ein und grenzt im Norden an Rumänien, im Westen an Serbien und Nordmazedonien, im Süden an Griechenland und die Türkei und im Osten an das Schwarze Meer. Bulgarien umfasst ein Gebiet von 110.994 Quadratkilometern und liegt in der gemäßigten Klimazone. Sofia ist die Hauptstadt und gleichzeitig die größte Stadt des Landes; andere größere Städte sind Plowdiw, Warna und Burgas. Bulgarien ist seit 2004 Mitglied der NATO und trat 2007 der EU bei. Auf dem Gebiet des heutigen Bulgariens befinden sich die bislang frühesten Belege für die Anwesenheit des Menschen ("Homo sapiens)" in Europa und mit der neolithischen Karanowo-Kultur, die bis ins Jahr 6500 v. Chr. zurückreicht, eine der frühesten Siedlungen des Kontinents. Im 6. bis 3. Jahrhundert v. Chr. geriet die Region ins Spannungsfeld der Thraker, Perser, Kelten und Griechen. Stabilität kam, als es dem Römischen Reich im Jahr 45 n. Chr. gelang, die Region zu erobern. Mit dem Niedergang und der Aufteilung des Reiches begannen in der Region erneut Invasionen unterschiedlicher Gruppen. Im 4. Jahrhundert wanderten die Goten ein und erschufen hier die einzige Schriftquelle ihrer Sprache. Um das 6. Jahrhundert wurden die Gebiete von den frühen Slawen besiedelt. Die Ur-Bulgaren, angeführt von den Brüdern Asparuch und Kuwer, verließen das Gebiet des (alten) (Groß-)Bulgariens und siedelten sich im späten 7. Jahrhundert dauerhaft auf der Balkanhalbinsel an. Sie gründeten zwei Reiche mit dem Namen "Bulgarien", eines zwischen Donau und Balkangebirge und eines im Gebiet um das heutige Bitola im Westen der Halbinsel. Das Donaureich, das 681 vom Oströmischen Reich vertraglich anerkannt wurde, vereinigte sich im Laufe der Zeit mit dem Reich von Kuwer. Dieses "Erste Bulgarische Reich" beherrschte den größten Teil der südlichen Balkanhalbinsel und beeinflusste die slawischen Kulturen maßgeblich durch die Entwicklung der kyrillischen Schrift am Hofe der bulgarischen Zaren und die Gründung des Bulgarischen Patriarchats. Die altbulgarische Literatur und das bulgarische Schrifttum bildeten das drittgrößte kulturelle und religiöse Gebiet im mittelalterlichen Europa. Das Reich existierte bis Anfang des 11. Jahrhunderts, als der byzantinische Kaiser Basilius II. es eroberte und unterwarf. Ein erfolgreicher bulgarischer Aufstand im Jahr 1185 begründete ein "Zweites Bulgarisches Reich", das unter Iwan Asen II. (1218–1241) seinen Höhepunkt erreichte. Nach zahlreichen erschöpfenden Kriegen und Feudalkämpfen löste sich das Reich 1396 auf und die Region geriet fast fünf Jahrhunderte lang unter osmanische Herrschaft. Das heutige Bulgarien entstand 1878 im Zuge des Russisch-Osmanischen Krieges (1877–1878) und des Zerfalls des Osmanischen Reiches zunächst als autonomes Fürstentum und nach der Ausrufung der Unabhängigkeit (1908) als Zarentum Bulgarien. Im Zweiten Weltkrieg wurde Bulgarien von den Sowjets besetzt, die Monarchie abgeschafft und eine realsozialistische Volksrepublik ausgerufen, die mit dem Zerfall des Realsozialismus 1991 aufgelöst wurde. Heute ist Bulgarien eine parlamentarische Republik, die aus 28 Provinzen mit einem hohen Grad an politischer, administrativer und wirtschaftlicher Zentralisierung besteht. Mit einer Wirtschaft im oberen mittleren Einkommensbereich, zählt das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen Bulgarien zu den Ländern mit hoher menschlicher Entwicklung. Seine Marktwirtschaft ist Teil des europäischen Binnenmarktes und basiert weitgehend auf Dienstleistungen, gefolgt von Industrie – insbesondere Maschinenbau und Bergbau – und Landwirtschaft. Bulgarien ist der weltweit größte Lavendelölproduzent und hat eine lange Tradition im Rosenanbau und der Rosenölherstellung. Das Land ist mit einer demografischen Krise konfrontiert, da seine Bevölkerung seit etwa 1990 jährlich schrumpft. Verglichen mit einem Höchststand von fast neun Millionen Einwohnern im Jahr 1988 zählt es heute nur etwa 6,5 Millionen. Bulgarien ist seit 29. März 2004 Mitglied der NATO und seit 1. Januar 2007 Mitglied der Europäischen Union (EU) und des Europarates, Gründungsmitglied der OSZE und hat dreimal einen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eingenommen. Geographie. Geologie. Die Republik Bulgarien liegt im Osten der Balkanhalbinsel. Bulgarien grenzt im Norden an Rumänien, im Westen an Serbien und Nordmazedonien, im Süden an Griechenland und die Türkei. Die Grenzen zur Türkei (270 km) und zu Serbien (318 km) sind zugleich EU-Außengrenzen. Rumänien, Griechenland und Bulgarien sind EU-Mitglieder. Die Grenze zu Rumänien ist 631 km lang; zum größten Teil ist die Donau die Grenze. Die Grenze zu Griechenland ist 259 km lang. Im Osten bildet das Schwarze Meer die natürliche Grenze. Die Küstenlinie ist rund 354 km lang. Hauptstadt und Regierungssitz der Republik Bulgarien ist Sofia. Weitere bedeutende wirtschaftliche, administrative und kulturelle Zentren sind die Städte Plowdiw, Warna, Burgas, Russe und Stara Sagora. Das Territorium Bulgariens besteht zu zwei Dritteln aus den Tiefebenen, die von den Flüssen Donau und Mariza und ihren zahlreichen Nebenflüssen entwässert werden. Es hat zwei große Gebirgsketten: das Balkangebirge () und die Rhodopen. Die höchsten Erhebungen des Balkangebirges sind der Berg Botew () und der Tschumerna (). Die nördlich des Balkangebirges gelegene Donautiefebene wird durch die Donau begrenzt, die hier die Staatsgrenze zu Rumänien darstellt. In ihr liegen die Städte Plewen, Rasgrad, Russe und Schumen sowie Warna am Schwarzen Meer. Südlich des Balkangebirges erstreckt sich die Oberthrakische Tiefebene, auch Mariza-Ebene genannt. In diesem "Mittelbulgarischen Becken" finden sich die Städte Plowdiw und Stara Sagora sowie Burgas am Schwarzen Meer. Diese Ebene wird im Westen und im Süden durch die Rhodopen sowie die Gebirge Sakar und Strandscha im Süden begrenzt. Die höchste Erhebung der Rhodopen ist der Berg Großer Perelik (). Im Südwesten des Landes befinden sich mit dem Rila- und dem Pirin-Gebirge zwei weitere Hochgebirge mit Gipfeln zwischen 2000 und 3000 Metern Höhe, wobei der Berg Musala () der höchste auf der gesamten Balkanhalbinsel ist. Bulgarien verfügt über drei National- (Rila, Zentrales Balkangebirge und Pirin), elf Naturparks und 55 Naturreservate. Das Land hat Anteile am Grünen Band Europas und liegt im Blauen Herzen Europas. Klima. Norden: Im Norden Bulgariens herrscht kontinentales Klima mit heißen und trockenen Sommern sowie kalten, schneereichen Wintern. Stara Planina (Balkangebirge): Auf der Nordseite schneereiche Winter, auf der Südseite zur gleichen Jahreszeit selten Schneefälle. Besonders im Westen sowie im Rila- und Piringebirge herrscht das sogenannte alpine Klima. Zentralbulgarien und Südwesten: Südlich des Balkangebirges liegt die Oberthrakische Tiefebene, in welche das Kontinentalklima nicht vordringen kann. Südlich des Gebirges sorgen also maritime Einflüsse für einen gemäßigten Winter, ein regenreiches Frühjahr und einen warmen Sommer. An der Grenze zu Griechenland und zur  – unter dem Einfluss der Ägäis – verstärkt sich der mediterrane Charakter des Klimas. Bulgarische Rhodopen: Die drei Gebirge Rila, Pirin und Rhodopen nehmen die westliche Hälfte Südbulgariens ein. Im Gegensatz zu den deutlich höheren Schwestergebirgen weisen die Rhodopen nur im Westen Gebirgsklima auf, im Osten zeigt sich bereits der Übergang zum Küstenklima. Schwarzes Meer: Das Klima an der Küste zeigt ein mediterranes Profil, jedoch weht der Wind zumeist vom Schwarzen Meer aus östlicher Richtung übers Land. In der Folge sind die Sommer weniger warm als in den Subtropen und die sehr niederschlagsreichen Winter sind milder. Von Mai bis September steigt die Temperatur in der Regel täglich über 20 °C. Im kältesten Monat, dem Januar, fällt sie nur selten unter den Gefrierpunkt. Bevölkerung. Demografie. Bulgarien hatte 2021 6,5 Millionen Einwohner. Das jährliche Bevölkerungswachstum betrug −0,6 %. Der Median des Alters der Bevölkerung lag im Jahr 2020 bei 44,6 Jahren. Die Anzahl der Geburten pro Frau lag 2020 statistisch bei 1,6. Die Lebenserwartung der Einwohner Bulgariens ab der Geburt lag 2020 bei 73,6 Jahren (Frauen: 77,5, Männer: 69,9). Die Lebenserwartung sank von den 1970er Jahren bis ungefähr 2000 und begann dann wieder zu steigen. Die Bevölkerungsdichte lag bei 64 Einwohnern/km². Der Großteil der Bevölkerung lebt in den Städten südlich des Balkangebirges. Viele Bulgaren verließen nach 1990 sowie nach dem EU-Beitritt das Land und ließen sich in verschiedenen westeuropäischen Ländern nieder, vor allem in Spanien, Italien und Deutschland. In dieser Periode konnten nur die zwei Provinzen Sofia-Stadt (+ 120.749 Personen) und Warna (+ 13.061 Personen) sowie lediglich die vier Städte Sofia, Warna, Burgas und Weliko Tarnowo einen Bevölkerungszuwachs verzeichnen. In vier Provinzen (Sofia-Stadt, Burgas, Warna und Plowdiw) liegt die Bevölkerungszahl über 400.000. 39,2 Prozent der Bevölkerung leben in neun Gemeinden, die eine Einwohnerzahl von jeweils mehr als 100.000 Einwohnern aufweisen. In 60 Gemeinden liegt die Einwohnerzahl unter 6000. Der Volkszählung zufolge lebt die Bevölkerung Bulgariens in 255 Städten und 5047 Dörfern. 5.339.001 Personen bzw. 72,5 Prozent der Einwohner leben in Städten und 2.025.569 bzw. 28,9 % auf dem Land. 33,6 % der Bevölkerung leben in den sieben größten Städten. Bulgarien verliert aufgrund von Auswanderung, niedriger Geburtenrate und einer relativ niedrigen Lebenserwartung jedes Jahr Einwohner. Bis 2050 könnte die Einwohnerzahl auf 5,4 Millionen absinken. Ethnien. Nach der Volkszählung 2011 sind 84,8 % der Bevölkerung Bulgaren; 8,8 % sind Türken (siehe: Balkan-Türken), 4,9 % Roma. Der Anteil der Roma dürfte höher liegen als nach der offiziellen Angabe; er wird vom Europarat auf rund 800.000, also fast 12 % geschätzt. Außerdem leben Russen (9978), Armenier (6552), Walachen (3684, im Norden Rumänen, im Süden Aromunen) und die muslimischen, bulgarisch sprechenden Pomaken in Bulgarien. Etwa ein Viertel bis ein Drittel der heutigen bulgarischen Bevölkerung sind Nachkommen von bulgarischen Flüchtlingen aus Makedonien (→ Makedonische Bulgaren) und Thrakien (→ Thrakische Bulgaren). Im Jahre 2017 waren 2,2 % der Bevölkerung Migranten. Häufigste Herkunftsländer waren Russland, Griechenland und die Türkei. Trotz dieser Distanz nehmen diese Gruppen in reger Weise am gesellschaftlichen und politischen Leben des Landes teil. Beispielsweise war die "Bewegung für Bürgerrechte und Freiheiten (DPS)", die überwiegend von türkischstämmigen und muslimischen Bürgern unterstützt wird, zwischen 2001 und 2009 in zwei Koalitionsregierungen vertreten. Die türkische Minderheit ist laut der Volkszählung von 2001 besonders zahlreich in den Bezirken Kardschali, Rasgrad, Targowischte, Silistra und Schumen vertreten. Die Pomaken sind vor allem im Bezirk Smoljan anzutreffen. 2009 gründeten überwiegend pomakischstämmige Bürger die Partei "Fortschritt und Wohlstand", da sie mit der Politik der DPS unzufrieden waren. Jedoch verbietet die bulgarische Verfassung von 1991 (Artikel 11) eine Gründung von Parteien auf ethnischer, rassischer oder religiöser Grundlage. Die Roma gehören in Bulgarien zu den am stärksten von Marginalisierung betroffenen Bevölkerungsgruppen. Ihre soziale Lage ist von Armut, einem zumeist niedrigen Ausbildungs- und Erwerbsniveau sowie gesellschaftlicher Stigmatisierung geprägt. Diese Lebenssituation hat sich durch den Transformationsprozess der 1990er Jahre verstärkt und trifft besonders die Roma-Frauen, die sowohl unter sozialer Perspektivlosigkeit als auch unter patriarchalen Familienstrukturen zu leiden haben. Bulgarien wird, ähnlich wie Israel und einige weitere osteuropäische und asiatische Staaten, als ethnische Demokratie beschrieben, in der „die Dominanz einer ethnischen Gruppe institutionalisiert ist“. Sprachen. Nach Art. 3 der Verfassung von 1991 ist die Amtssprache Bulgarisch. Nach Art. 36 sind das Erlernen und der Gebrauch der bulgarischen Sprache das Recht und die Pflicht der bulgarischen Bürger. Bulgarische Staatsangehörige, deren Muttersprache eine andere Sprache ist, haben daneben das Recht, auch ihre Sprache zu erlernen und zu benutzen. Das Gesetz kann festlegen, in welchen Fällen nur die Amtssprache verwendet werden darf. Als Minderheitensprachen kommen Türkisch, Romani und Armenisch in Betracht. Dabei ist die in Bulgarien gesprochene türkische Sprache ein Dialekt, der sich teils vom Standard-Türkischen in der Türkei unterscheidet und durch das Bulgarische besonders im lexikalischen Bereich beeinflusst ist. In Bulgarien wird offiziell die kyrillische Schrift gebraucht. Religionen. Artikel 13 der bulgarischen Verfassung von 1991 garantiert die Konfessionsfreiheit, hebt jedoch das orthodoxe Christentum als „traditionelle Religion Bulgariens“ hervor. Die Autokephalie der Bulgarisch-Orthodoxen Kirche wurde bereits 927 durch das Patriarchat von Konstantinopel anerkannt. Die Verfassung schreibt weiter die Trennung von Staat und Religion vor und verpflichtet den Staat zu religiöser Neutralität und Parität. 21,8 Prozent der Befragten bei der Volkszählung 2011 beantworteten die Frage nach der Konfession nicht, wobei der Anteil der jüngeren Generationen überwog. 77,9 Prozent der Menschen, die eine Antwort auf diese Frage gegeben haben, bezeichnen sich als Christen (4.374.135 Menschen). Demnach gehören die meisten der bulgarisch-orthodoxen Kirche (76,0 %), der römisch-katholischen Kirche in Bulgarien (0,8 %) und der Evangelischen Kirche (1,1 %) an. Weitere 577.139 Menschen (10 %) bezeichnen sich als Muslime. Bei der Volkszählung 2001 haben sich dagegen 83,9 % der Bevölkerung als Christen und 12,2 % als Muslime definiert. Außerdem gibt es eine rapide schwindende jüdische Minderheit (653 Mitglieder im Jahr 2001, 1992 noch 2580 gegenüber fast 50.000 im Jahr 1947). Dabei handelt es sich vor allem um sephardische Juden (siehe auch hier). Im deutschen Sprachraum am bekanntesten ist der Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Elias Canetti. Eine repräsentative Umfrage im Auftrag der Europäischen Kommission im Rahmen des Eurobarometers ergab 2020, dass für 60 Prozent der Menschen in Bulgarien Religion wichtig ist, für 30 Prozent ist sie weder wichtig noch unwichtig und für 10 Prozent ist sie unwichtig. Städte und Urbanisierung. Die Urbanisierung nahm insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg schnell zu, verursacht durch Landflucht und Migration von Kriegsflüchtlingen, der sogenannten thrakischen und mazedonischen Bulgaren. Im Jahr 2021 lebten 76 Prozent der Einwohner Bulgariens in Städten. Unter den Großstädten spielen als Verwaltungszentren die bulgarische Metropole Sofia sowie der Regierungssitz mehrerer Gemeinden und eines Bezirks (Oblast) Plowdiw eine zentrale Rolle. Weiter sind noch Varna und Burgas zu nennen, die als administrative Zentren der bulgarischen Schwarzmeerküste fungieren. Hier konzentrieren sich daher auch Medien- und Dienstleistungsunternehmen sowie die Kulturinstitutionen des Landes. Aufgrund ihrer vergleichsweise höher entwickelten Infrastruktur haben sie auch die regional höchste Bedeutung für Verkehr und Handel und zeigen die dynamischste Wirtschaftsentwicklung. In Bulgarien gab es nach dem Zensus von 2011 sieben Städte, die mehr als 100.000 Einwohner hatten: Sofia, Plowdiw, Varna, Burgas, Russe, Stara Sagora und Plewen. Die kleinste Stadt ist Melnik mit 208 Einwohnern und das größte Dorf ist Losen mit 6276 Einwohnern. Geschichte. Die ältesten Funde im heutigen Bulgarien liegen aus dem Pleistozän vor. So gaben Forscher im Mai 2020 bekannt, in der Batscho-Kiro-Höhle die bislang frühesten Belege für die Anwesenheit des Menschen ("Homo sapiens") in Europa entdeckt zu haben. Aus der Jungsteinzeit sind die Karanowo-Kulturen, aber vor allem die Varna-Kultur, deren Goldschatz zu den ältesten der Welt zählt, bekannt. In der Bronzezeit herrschten die indogermanischen Thraker. Der größte thrakische Stamm, die Odrysen, konnte um 450 v. Chr. ein eigenes Reich gründen, das sich bis zur Donau und zum Strymon erstreckte. Heute werden regelmäßig große Funde, beispielsweise im "Tal der thrakischen Könige" von Archäologen gemeldet, die sich auf diese historische Periode beziehen. So wurde im Jahr 2000 das thrakische Heiligtum Perperikon in den Ostrhodopen und 2003 das Felsenheiligtum Beglik Tasch ausgegraben. Das Orakel von Perperikon war neben dem Orakel von Delphi eine der wichtigsten Kultstätten in der antiken Welt. In der Zeit der griechischen Kolonisation entstanden an der Schwarzmeerküste mehrere Stadtstaaten, so genannte Poleis. Einige von ihnen wie Apollonia oder Mesambria wurden zu Handelsmächten und konnten sich anfänglich auch gegen die Römer behaupten. Nach der Eroberung durch die Römer im Jahr 29 v. Chr. begann die Romanisierung der Bewohner. Thrakien und die Stadtstaaten an der Küste wurden ein Teil des römischen Reiches. Aus der römischen Zeit sind die großangelegten Bauten von Karasura, Trimontium, Nicopolis ad Istrum, Ulpia Augusta Trajana, Marcianopolis, Ratiaria oder Augusta bekannt. Im 4. Jahrhundert entstand in Nicopolis ad Istrum die Wulfilabibel, die einzige Quelle der gotischen Sprache und damit der ältesten überlieferten germanischen Schriftsprache. Bulgarische Reiche im Mittelalter und Einfluss auf die europäische Kultur. Die Anfänge der bulgarischen Staatlichkeit werden im Jahre 632 gesehen, als das Großbulgarische Reich gegründet wurde. Seit dem 6. Jahrhundert drangen Slawen – im Jahr 678, nachdem das Großbulgarische Reich zerfallen war – auch die Bulgaren unter Asparuch auf die Balkanhalbinsel ein. Gemeinsam mit der verbliebenen thrakischen und römischen Bevölkerung gründeten sie das Erste Bulgarische Reich (679 bis 1018; 681 durch Byzanz anerkannt), das zeitweise fast die ganze Balkanhalbinsel umfasste. Erste Hauptstadt wurde Pliska. Damit wurde Bulgarien zum dritten anerkannten Staat in Europa und einer der wenigen, dem das Oströmische Reich tributpflichtig war. Aus der Verschmelzung der Einwanderer mit der örtlichen Bevölkerung entstand das Volk der Bulgaren. Boris I. trat 864 zum byzantinischen Christentum über. Sein Sohn Simeon I. (893–927), der bedeutendste Herrscher Bulgariens, besiegte die Serben, Ungarn und Byzantiner, errichtete das bulgarische Patriarchat und förderte die altbulgarische Literatur. Während seiner Herrschaft entstand am kaiserlichen Hof auch die kyrillische Schrift. Simeon I. war der erste Herrscher, der den Titel Zar trug, er selbst nannte sich „Zar der Bulgaren und Rhomäer“ (= Oströmer bzw. Byzantiner). Unter der Dynastie der Komitopulen wurde Ohrid bulgarische Hauptstadt; das Reich kam jedoch ab 972 bis 1018 sukzessive unter die Herrschaft von Byzanz. Seit der Regentschaft Boris I. von Bulgarien im 10. Jahrhundert wurde das Land von Konstantinopel aus christianisiert, weshalb die Mehrzahl der Bulgaren bis heute dem orthodoxen Glauben angehört. Die Christianisierung führte zur ersten kulturellen Blütezeit im Zarenreich. In Preslaw, Pliska und Ohrid entstanden Schulen, von denen aus sich die altbulgarische Sprache und Kultur auch auf die anderen slawischen Völker verbreitete. Obwohl die bulgarische Kultur stark von der byzantinischen geprägt war, spricht man von dem „Ersten Südslawischen Einfluss“ und von der "altkirchenslawischen" Sprache. Bulgarien war lange Zeit ein mächtiges Kaiserreich, das sich militärisch mit dem Byzantinischen Reich messen konnte. Während der Zeit des Zaren Petar I. entstand die christliche Religionsgemeinschaft der Bogomilen, die mit ihrer Literatur zu den Vorkämpfern gegen die Dogmatik der Kirche zählt und die Katharerbewegung in Westeuropa beeinflusst hat. Unter Zar Boris II. verringerte sich die Macht durch innere Streitigkeiten und 963/69 spaltete sich ein Westbulgarisches Reich ab. 971 eroberte Byzanz das ostbulgarische Restreich und die Hauptstadt wurde nacheinander nach Sredez, Skopje, Prespa, Bitola und Ohrid verlegt. Unter Zar Samuil (976–1014) wurde Ohrid Hauptstadt des Reiches. Nach der Niederlage des Heeres unter Samuil in der Schlacht von Kleidion 1014 und unter Iwan Wladislaw im Jahr 1018 wurde unter Knjaz Presian II. ganz Bulgarien durch Basileios II. von Byzanz, den sogenannten Bulgarentöter, unterworfen. Die Brüder Johann und Theodor Peter aus dem Hause Assen errichteten im 12. Jahrhundert das Zweite Bulgarische Reich mit Tarnowo ("Tarnowgrad") im Balkangebirge als neuer Hauptstadt. Das zwischen 1186 und 1393 bestehende Reich erlangte unter dem Zaren Iwan Assen II. seine größte Ausdehnung. Die Hauptstadt "Tarnowo" wurde zum neuen kulturellen, geistlichen und politischen Zentrum Südosteuropas. Tarnowo wurde von Zeitgenossen als „neues Jerusalem, Rom und Konstantinopel zugleich“ bezeichnet. Vom Zweiten Südslawischen Einfluss spricht man, als infolge des Vordringens der Osmanen auf den Balkan viele slawische, vornehmlich bulgarische Gelehrte der Tarnower Schule (wie zum Beispiel der spätere Metropolit Kiprian) seit dem Ende des 14. Jahrhunderts in der mittlerweile erstarkten Moskauer Rus Zuflucht fanden. Osmanische Herrschaft, Aufklärung und Unabhängigkeitskampf. Zwischen 1393 und 1396 kam ganz Bulgarien unter osmanische Herrschaft, die fast 500 Jahre andauerte. 1444 scheiterte der Versuch der Befreiung Bulgariens durch ein polnisch-ungarisches Heer unter Władysław III., König von Polen und Ungarn, in der Schlacht bei Varna. Teile der bulgarischen Bevölkerung traten in den folgenden Jahrhunderten zum Islam über. Um 1700 erhob sich der geistig-nationale Widerstand mit der Forderung nach Unabhängigkeit. In Bulgarien kam es zu einer Ära der Bulgarischen Nationalen Wiedergeburt. Ähnlich wie in Westeuropa knüpfte sie an antike und frühere bulgarische und byzantinische Traditionen an, bekämpfte jedoch die Hellenisierung in der Gesellschaft und forderte die Wiederherstellung der Bulgarischen Kirche und förderte die Bildungsinstitutionen wie das Tschitalischte. Die blutige Niederschlagung des April-Aufstands durch die Osmanen 1876 und die in Europa erzeugte Empörung führte zum russisch-türkischen Krieg 1877/1878. Dieser wurde mit außerordentlicher Härte und massiven Verlusten auf beiden Seiten geführt. Nach der Überquerung der Donau und des Balkangebirges mitten im Winter gewannen die russischen Truppen die Oberhand und rückten bis kurz vor Konstantinopel vor. Mit dem Frieden von San Stefano wurden die Grundlagen für den modernen bulgarischen Staat gelegt. Fürstentum und Zarentum. Nach dem Berliner Vertrag, der ein Machtkompromiss der Großmächte war, wurden zwei bulgarische Staaten gegründet, die nominell dem Osmanischen Sultan unterstanden. Nördlich des Balkangebirges und südlich der Donau wurde das dem Osmanischen Reich tributpflichtige "Fürstentum Bulgarien" gegründet, das auch die Region um die neue Hauptstadt Sofia miteinschloss. Südlich des Balkangebirges wurde mit Plowdiw als Regierungssitz die osmanische Provinz Ostrumelien gegründet, die über eine eigene Verfassung und Miliz verfügte und durch einen vom osmanischen Sultan eingesetzten, jedoch von den Großmächten gebilligten christlich-bulgarischen Gouverneur regiert wurde. Makedonien, das noch im Vertrag von San Stefano Teil des bulgarischen Staates war, blieb ganz unter osmanischer Hoheit. Am 16. April 1879 wurde die erste demokratische Verfassung in Weliko Tarnowo verabschiedet. Fürst Alexander I. (1879–1886) versuchte innere Reformen durchzusetzen, vereinigte die zwei bulgarischen Staaten und besiegte Serbien, wurde aber durch einen von Russland veranlassten Putsch gestürzt. 1887 wurde Ferdinand von Coburg-Gotha Fürst, der 1908 die völlige Loslösung vom Osmanischen Reich erklärte und den Zarentitel annahm, womit aus dem Fürstentum das "Zarentum Bulgarien" wurde. Die Erfolge der bulgarischen Truppen im Ersten Balkankrieg, mit der Eroberung von Adrianopel, wiederholten sich im Zweiten Balkankrieg nicht. Während die bulgarische Streitmacht an der griechischen und serbischen Front gebunden war, drangen die Rumänen bis nach Sofia vor. Die Türken eroberten Adrianopel wieder zurück. Im Ersten und Zweiten Weltkrieg kämpfte Bulgarien auf der Seite der Mittel- bzw. Achsenmächte. Das Königshaus und die Bevölkerung widersetzten sich erfolgreich der Deportation jener Juden, die in den Grenzen von 1941 lebten. In den besetzten Gebieten wurden jedoch den Deutschen 11.343 Juden ausgeliefert (siehe auch Holocaust). Sozialistische Ära – Volksrepublik Bulgarien. Am 8. und 9. September 1944 wurde Bulgarien von der Roten Armee besetzt, obwohl sich das Land nicht an der Invasion der Sowjetunion beteiligt hatte und mit der Sowjetunion offiziell nicht im Kriegszustand befand. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geriet Bulgarien unter sowjetischen Einfluss und wurde Mitglied des Warschauer Paktes. Während in anderen Ländern immer wieder Unmut über die sozialistische Herrschaft aufkam, gab es in Bulgarien sehr wenig organisierten und individuellen Widerstand gegen die Führung der Bulgarischen Kommunistischen Partei (BKP). Der Aufstieg der BKP resultierte aus dem Einmarsch der Sowjetunion im September 1944. Unter sowjetischer Kontrolle wurde der früheren politischen Elite zwischen Dezember 1944 und Februar 1945 der „Prozess gemacht“, so dass insgesamt mehr als 2700 Menschen zum Tode verurteilt wurden und eine unbestimmte Zahl in Lager gesteckt oder umgesiedelt wurde oder einfach verschwand. Am 1. Februar 1945 begann man mit der Vollstreckung der Todesurteile. In dieser Zeit wuchs auch die Mitgliederzahl der BKP auf über 250.000 an. Zentrale Ziele waren in dieser Zeit die Entwicklung einer kommunistischen Gesellschaft, „die sich durch Klassenlosigkeit, Gerechtigkeit, Gleichheit, Humanität in den sozialen Beziehungen, Streben nach Höherem, Wohlstand und Modernität auszeichnen würde“. Dies war eine große Herausforderung, da sich Bulgariens Gesellschaft überwiegend aus kleinbäuerlichen Strukturen zusammensetzte und nur wenig industriell geprägt war. Das Frauenwahlrecht wurde in der Volksrepublik Bulgarien Gesetz. Bereits am 18. Januar 1937 war zwar ein Gesetz beschlossen worden, das Frauen auf lokaler Ebene ein Wahlrecht gab. Doch Frauen und Männer wurden nicht gleich behandelt: Frauen durften wählen, wenn sie legal verheiratet und Mütter waren, und während für Männer Wahlpflicht herrschte, war das Wählen für Frauen freiwillig. 1937 erhielten verheiratete, verwitwete und geschiedene Frauen das Recht, Abgeordnete in die Nationalversammlung zu wählen. Damit war das Frauenwahlrecht vom Status der Frau gegenüber einem Mann abhängig. Die Frauen konnten dieses Wahlrecht im folgenden Jahr ausüben. Die Einführung des unbeschränkten aktiven und passiven Frauenwahlrechts erfolgte am 16. Oktober 1944. Das allgemeine Wahlrecht für Männer war bereits 1879 eingeführt worden. Nach dem Einmarsch der Roten Armee in Bulgarien im September 1944 war Kimon Georgiew einer der Anführer des Staatsstreichs der Vaterländischen Front, die am 9. September 1944 zum Sturz der Übergangsregierung von Konstantin Wladow Murawiew führte. Als dessen Nachfolger wurde Kimon Georgiew zum zweiten Mal, nach einer kurzen Amtszeit von 1934 bis 1935, am 9. September 1944 Ministerpräsident und unterzeichnete in Moskau das Waffenstillstandsabkommen. Wassil Kolarow wurde am 15. September 1944 zum provisorischen Präsidenten der neu gegründeten Volksrepublik Bulgarien ernannt, wobei er dieses Amt nur kurzzeitig bis zum 23. November 1946 innehatte, da an diesem Tag Georgi Dimitrow als neues, gewähltes Staatsoberhaupt ins Amt eingesetzt wurde. Wassil Kolarow war noch ein zweites Mal Staatsoberhaupt Bulgariens, nämlich nachdem Dimitrow am 2. Juli 1949 verstorben war. Kolarow war jedoch ebenfalls von einer schweren Krankheit gezeichnet, so dass er seine Ämter nicht mehr ausüben konnte und sein zukünftiger Nachfolger ihn vertrat. Am 23. Januar 1950 starb er in Sofia. Nach 22 Jahren Exil kam Georgi Dimitrow im November 1945 zurück nach Bulgarien und wurde am 23. November 1946 neuer Ministerpräsident, nachdem am 8. September eine Volksabstimmung die Abschaffung der Monarchie besiegelt hatte. Unter seiner Regierung festigte sich die Macht der Kommunistischen Partei, er ließ u. a. den Oppositionspolitiker Nikola Petkow unter dem Vorwurf des Hochverrats hinrichten und unterzeichnete die neue Verfassung der Republik Bulgarien, die sich eng an der der UdSSR orientierte und in Paragraph 12 die Planwirtschaft als Wirtschaftsrichtung vorgegeben hatte. Seit 1947 näherte sich Dimitrow dem jugoslawischen Staatschef Josip Broz Tito an und schloss einen Freundschaftsvertrag zwischen beiden Ländern. Ziel war eine Föderation zwischen beiden Ländern, zu der Dimitrow 1948 auch Rumänien öffentlich einlud. Diese Pläne waren nicht mit Moskau abgesprochen und stießen daher auf die scharfe Kritik Stalins, der Tito und Dimitrow für den 10. Februar 1948 nach Moskau beorderte. Georgi Dimitrow starb am 2. Juli 1949 im Sanatorium Barwicha (Барвиха) bei Moskau. Sein Leichnam wurde einbalsamiert und in einem eigens errichteten Mausoleum in Sofia beigesetzt. Walko Tscherwenkow übernahm im Jahre 1949 als Stellvertreter Kolarows die Regierungsgeschäfte. Nachdem er am 3. Februar 1950 zum Vorsitzenden des Ministerrates gewählt worden war, war er auch offiziell das Staatsoberhaupt Bulgariens. Walko Tscherwenkow war ein großer Anhänger Stalins und übernahm seinen Regierungsstil, was ihm nach dessen Tod am 5. März 1953 scharfe Kritik einbrachte, so dass er als Generalsekretär der KP durch Todor Schiwkow abgelöst wurde. Am 17. April 1956 wurde er auch gezwungen, als Ministerpräsident zurückzutreten und dieses Amt an seinen Stellvertreter Anton Jugow abzugeben. In dieser Zeit wurde Bulgarien am 14. Dezember 1955 in den Vereinten Nationen aufgenommen. Nach Tscherwenkows erzwungenem Rücktritt forcierte Jugow als neuer Präsident des Ministerrats, zu dem er am 17. April 1956 ernannt wurde, die Entstalinisierung Bulgariens. Große Unterstützung hierbei erhielt er von seinem späteren Nachfolger Todor Schiwkow. Auf dem achten Parteikongress im November 1962 wurde ihm im Zusammenhang mit Tscherwenkow parteischädigendes Verhalten vorgeworfen, so dass er am 27. November aller Partei- und Regierungsämter enthoben wurde. Auf dem letzten Parteitag der KPB, im Jahre 1990 wurde Jugow rehabilitiert. Heute nimmt man an, dass Jugow aufgrund seiner Kritik zu Schiwkows Wirtschaftspolitik seine Ämter verlor. Der wohl prägendste Politiker in Bulgariens sozialistischer Phase war Todor Schiwkow, der am 20. November 1962 nach dem achten Parteikongress das Amt des Ministerpräsidenten übernahm. Bis dahin war er der Vorsitzende des Zentralkomitees (ZK) der KP und somit bereits mächtigster Mann im Staat. Bereits auf dem siebten Parteikongress im Juni 1958 der BKP forderte Schiwkow „vermehrte Anstrengungen zur Schaffung des Neuen Menschen und zur Anpassung der Lebensweise an die bereits in einem sozialistische Sinne umgestaltete Gesellschaft“. Aufgabe der Partei war es somit, Methoden zu entwickeln, wie die Bürger außerhalb der Arbeit nach dem sozialistischen Muster geformt werden konnten. Schiwkow wies auch auf die Notwendigkeit einer „sozialistischen Kulturrevolution“ hin. Zweimal (1963 und 1973) wurde während der Regierungszeit Schiwkows in geheimen Treffen des ZK vergeblich die Auflösung der Volksrepublik Bulgarien als souveräner Staat und die Eingliederung als 16. SSR in die Sowjetunion beraten. Der politische Umbruch. Während in anderen Ländern immer wieder Unmut über die sozialistische Herrschaft aufkam, gab es in Bulgarien bis Anfang der 1980er sehr wenig organisierten und individuellen Widerstand gegen die Führung der Kommunistischen Partei. In den letzten Jahren des realsozialistischen Regimes musste vor allem die muslimische Bevölkerung leiden. So erwirkte das Regime die Vertreibung von bis zu 370.000 Menschen in Richtung Türkei. Durch verstärkten innerparteilichen Druck (der somit nicht wie beispielsweise in der DDR durch bürgerliche Gegenbewegungen entstand) trat Todor Schiwkow am 10. November 1989, also einen Tag nach der Berliner Maueröffnung, zurück. Parteiintern hatte es zuvor einige Konflikte gegeben, da der bereits 1988 eingeleitete Reformkurs nicht schnell genug vorangetrieben wurde. Ziel der Parteielite war es, „die Macht weiter in den Händen einer "reformierten" BKP zu sichern und allenfalls eine Modifikation des Systems, nicht aber einen generellen Systemwechsel einzuleiten. Überstürzt wurden alte Weggefährten Schiwkows aus der Parteiführung entlassen und seine über dreißigjährige Amtszeit einer harschen Kritik unterzogen“. Als eine der ersten Maßnahmen wurde am 17. November 1989 Petar Mladenow zum neuen Vorsitzenden des Staatsrates benannt und einen Monat später, am 18. Dezember, Todor Schiwkow aus der Partei ausgeschlossen. Ebenso benannte man die BKP in Bulgarische Sozialistische Partei (BSP) um. Am 18. November 1989 fanden in Sofia und anderen großen Städten des Landes die ersten Demonstrationen statt, nachdem bekannt geworden war, dass die BKP keine grundlegenden Änderungen des politischen Systems verfolge. Diese Demonstrationen waren von informellen Organisationen wie der Gewerkschaft Podkrepa, der Unabhängigen Gesellschaft zum Schutz der Menschenrechte und der ökologischen Bewegung Ekoglasnost organisiert. Am. 7. Dezember vereinigten sich mehrere Organisationen und gründeten die demokratische Oppositionsbewegung "Union der Demokratischen Kräfte SDS" (), die von diesem Zeitpunkt an die Demonstrationen anführte. Nach der Wende. Das Ende der realsozialistischen Ära wurde 1990 durch freie Wahlen eingeleitet. In den folgenden Jahren wurden politische und wirtschaftliche Reformen vorangetrieben. Die größte demokratische Oppositionsbewegung war die 1990 gegründete "Union Demokratischer Kräfte SDS," die den friedlichen Sturz des realsozialistischen Bulgariens herbeiführte. Bis 1997 regierten jedoch die ehemaligen Kommunisten in mehreren Legislaturperioden mittels Koalitionen. Die EU-Integration wurde wesentlich von einer bis 2001 konservativ geführten SDS-Regierung unter Iwan Kostow beschleunigt. Sie kooperierte umfänglich mit internationalen Institutionen, senkte die Inflation, stabilisierte die Wirtschaftslage und stellte Weichen für den NATO-Beitritt (2004, zusammen mit sechs anderen mitteleuropäischen Staaten) und für den EU-Beitritt zum 1. Januar 2007. Präsident zu dieser Zeit war der Demokrat Petar Stojanow. Die Parlamentswahl am 17. Juni 2001 gewann überraschend mit 42,7 Prozent der Stimmen die erst kurz zuvor gegründete "Nationale Bewegung Simeon II., NDSW" um den ehemaligen bulgarischen Zaren Simeon II. von Sachsen-Coburg und Gotha, der nach 55 Jahren aus dem spanischen Exil zurückgekehrt war. Wegen des stark betonten republikanischen Prinzips in der Verfassung slawisierte er seinen Namen zu Simeon Sakskoburggotski und legte monarchische Namenszusätze ab, nachdem die Wahlbehörden die Rechtsauffassung geäußert hatten, er sei als früherer König nicht wählbar. Wesentlichen Anteil an dem Erfolg hatte das Versprechen, innerhalb von 800 Tagen eine deutliche Verbesserung des Lebensstandards herbeizuführen. Dazu schlug er eine Erhöhung des Lohnniveaus und Steuersenkungen vor. Im Wesentlichen jedoch behielt die amtierende Regierung den konservativen Kurs ihrer Vorgängerin bei, insbesondere die Politik der EU-Integration. 2003/04 amtierte Bulgarien als Mitglied des UNO-Sicherheitsrates und schloss sich mit Chile und Spanien demonstrativ der von den USA geführten Anti-Irak-Fraktion an, die einen gewaltsamen Regierungswechsel im Irak unterstützte. Die tendenziell US-freundliche Außenpolitik Bulgariens und der Dissens mit der reservierten deutsch-französischen Seite führten unter anderem dazu, dass auf Betreiben des Außenministers Solomon Pasi die deutschen Anti-ABC-Einheiten umgehend durch bulgarische und polnische Truppen ersetzt wurden. Ähnlich den USA hatte auch Bulgarien vor dem Zweiten Golfkrieg den Irak umfangreich mit konventionellen Waffen beliefert. Bulgarien und sechs weitere Staaten traten am 29. März 2004 der NATO bei. In der Wirtschaft kam es nach Simeons Reformen zu einem weiter anhaltenden Aufschwung, von dem allerdings eher in- und ausländische Investoren und städtische Oberschichten als Durchschnittsbürger profitierten. In vielen ländlichen Gebieten herrschten hohe Arbeitslosigkeit (im Landesdurchschnitt etwa 12 % für das 1. Quartal 2012) und Korruption. Die traditionelle Landwirtschaft erwirtschaftete mit 26 % der Beschäftigten 13 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Zum 1. Januar 2007 wurden Bulgarien und Rumänien in die Europäische Union aufgenommen. Bulgarien zählt noch nicht zum Schengen-Raum. Ein Beitrittstermin im Jahre 2011 konnte wegen unerfüllter Kriterien (Korruptionsbekämpfung etc.) nicht realisiert werden. Angesichts der Flüchtlingskrise in Europa seit 2015 erscheint ein Beitritt (Stand Ende 2021) unwahrscheinlich. Der von 2005 bis 2009 von den Sozialisten unter Sergei Stanischew angeführten Drei-Parteien-Koalition (BSP, NDSW, DPS) wurde nach dem Stopp der EU-Finanzhilfen ein Scheitern der EU-Politik sowie Korruption, eine unzureichende Bekämpfung der Mafia und das Fehlen einer angemessenen Jugendpolitik vorgeworfen. Anfang 2009 schenkten ihr nur noch 15 % der Bulgaren Vertrauen, 76 % äußerten Misstrauen. Die regierenden Parteien verloren die Europawahl 2009 und die Parlamentswahlen 2009; die vormals mitregierende NDSW war nach der Wahl nicht mehr parlamentarisch vertreten. Beide Wahlen wurden von der GERB-Partei des ehemaligen Bürgermeisters von Sofia, Bojko Borissow, gewonnen. Die Regierung Borissow war eine Minderheitsregierung der GERB-Partei, die zunächst von konservativen Kräften der Blauen Koalition unterstützt wurde. Anfangs unterstützten die Parteien "Ordnung, Sicherheit und Gerechtigkeit" sowie die nationalistische Ataka ebenfalls die Regierung, entzogen ihr aber 2010 diese Unterstützung. Bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober 2011 konnte der Kandidat der Regierungspartei Rossen Plewneliew die Stichwahl am 30. Oktober 2011 gegen den ehemaligen Außenminister Iwajlo Kalfin mit 52,6 Prozent der Stimmen für sich entscheiden. Plewneliew trat sein Amt am 22. Januar 2012 an und löste damit Georgi Parwanow ab. In der Präsidentschaftswahl 2016 gewann der unabhängige Rumen Radew. Nach der Parlamentswahlen im April 2021 und Juli 2021 konnte keine Partei oder Koalition die Mehrheit der Stimmen im Parlament hinter sich bringen, weshalb unter Stefan Janew zwei Interimsregierungen (Janew I, Janew II) nacheinander gebildet wurden. Die Regierung Janew II bereitete die Neuwahl des Parlaments und die gleichzeitig im November stattfindende Präsidentschaftswahl vor. Mit der Bestätigung Rumen Radews im Präsidialamt, in der Stichwahl von 21. November und die Vereidigung der Regierung unter Kiril Petkow am 13. Dezember 2021 endete das Superwahljahr, welches auch durch die COVID-19-Pandemie und die gestiegene Energiepreise geprägt war. Wie in anderen europäischen Ländern traf die Energiekrise die einkommensschwache Menschen in Bulgarien besonders stark, wozu das neugewählte Parlament bereits im Dezember ein Strompreismoratorium das von der neuen Regierung getragen wurde. Zusätzlich verabschiede die Regierung Petkow als eine der ersten Handlungen Energiehilfen für diese Bevölkerungsschichten. Dennoch konnte Bulgarien das Jahr 2021 mit 3 Prozent Staatsdefizit und 17 Prozent mehr Einnahmen zum Vorjahr beenden. Politik. Bulgarien ist eine parlamentarische Republik mit einem Präsidenten als Staatsoberhaupt, der weitestgehend repräsentative Funktion hat. Das politische System ist geprägt von zahlreichen Wahlen und Regierungswechseln. Allein im Jahr 2021 fanden drei Parlamentswahlen statt, da es den Parteien nicht gelungen war, eine Koalition zu schmieden. Parlament. Das Parlament Bulgariens ist die Nationalversammlung (Narodno Sabranie) mit 240 Abgeordneten. Die Wahlen erfolgen nach dem Verhältniswahlrecht. Es gibt eine Vier-Prozent-Hürde. Über viele Jahre war die konservative GERB die dominante Partei. Ihr Parteichef Bojko Borissow war lange Zeit Ministerpräsident. Bei der Wahl im November 2021 erhielt die GERB jedoch ihr schlechtestes Ergebnis seit ihrer Gründung 2006. Auch die Bulgarische Sozialistische Partei erhielt ihr schlechtestes Ergebnis seit der Demokratisierung des Landes 1990. Die Wahlen gewann dagegen die neu gegründete pro-westliche Antikorruptionspartei Wir setzen den Wandel fort (PP) von Kiril Petkow mit 25,7 %. Sie bildete eine Vier-Parteien-Koalition mit der Partei Es gibt ein solches Volk (ITN), den Sozialisten und dem Wahlbündnis Demokratisches Bulgarien (DB). Die Wahlbeteiligung lag bei nur 37 %. Das Parteiensystem ist geprägt von zwei wesentlichen sozialpolitische Konfliktlinien: Zum einen den Konflikt zwischen konservativen und liberalen Parteien, zum anderen zwischen pro-russischen und pro-westlichen Parteien. Ein dritter Konflikt änderte sich von "Stadt gegen Land," nach dem Balkankriegen 1912/13 und dem Ersten Weltkrieg, zu einem Konflikt "Kapital gegen Arbeit," der ebenfalls bis heute besteht. Dafür entstand ein Konflikt "Kirche gegen Staat" in Bulgarien nicht, obwohl die Bulgarisch-Orthodoxe Kirche eine starke Position bei der Gründung des heutigen Bulgariens einnahm und über eine hohe Legitimität verfügte. Präsident. Seit dem 22. Januar 2017 ist Rumen Radew Präsident Bulgariens. Er war als unabhängiger Kandidat für die Bulgarische Sozialistische Partei zur Präsidentschaftswahl 2016 angetreten und gewann die Stichwahl gegen Zezka Zatschewa mit 59,4 % der Stimmen. Am 21. November 2021 wurde er im zweiten Wahlgang mit 66,7 % der Stimmen wiedergewählt. Sein konservativer Gegenkandidat Anastas Gerdschikow (GERB) kam auf 31,8 %. Die Wahlbeteiligung lag bei unter 35 %. Radew gilt als russlandfreundlich und reformorientiert. Politische Indizes. Im EU-Vergleich ist Bulgarien in den meisten Indizes auf den hinteren Rängen platziert. Gründe dafür sind zum Beispiel ein hohes Maß an Korruption und eine eingeschränkte Pressefreiheit. Kritische Journalisten berichten von Schmutzkampagnen, Ermittlungsverfahren, tätlichen Übergriffen und der Gefahr, wegen der Berichterstattung umgebracht zu werden. Investigative Journalisten lebten gefährlicher als Soldaten in Afghanistan. Die meisten Medien sind in der Hand führender Politiker oder von Oligarchen, die enge Beziehungen zur Politik pflegen und die öffentliche Meinung in ihrem Sinne zu beeinflussen suchen – allen voran Deljan Peewski, der neben zahlreichen TV- und Radiosendern 40 % aller Zeitungen besitzt. Desinformation, Zensur und Selbstzensur sind daher weit verbreitet. Die Süddeutsche Zeitung beschreibt die Lage der Medienfreiheit daher 2020 als „katastrophal schlecht“. Außenpolitik. Bulgarien ist seit dem 1. Januar 2007 Mitglied der Europäischen Union und seit 2004 Mitglied der NATO. Weiters ist Bulgarien unter anderem Mitglied der Welthandelsorganisation (WTO), des Kooperationsrates für Südosteuropa (SEECP) und der Schwarzmeer-Wirtschaftskooperation (BSEC). In Libyen wurden 2007 fünf bulgarische Krankenschwestern und ein palästinensischer Arzt aufgrund des Vorwurfs, 426 libysche Kinder vorsätzlich mit AIDS infiziert zu haben, zum Tode verurteilt. Obwohl internationale Gutachter die hygienischen Zustände im Krankenhaus als die wahrscheinlichste Ursache der HIV-Ansteckung betrachteten und die Infektion auf einen Zeitpunkt vor Ankunft der Angeklagten datierten, wurde das Urteil über mehrere Instanzen hinweg aufrechterhalten. Kritiker gehen davon aus, dass die Krankenschwestern von Libyen als politische Geiseln für Verhandlungen mit der EU missbraucht wurden. Nach zähen Verhandlungen und internationalem Druck, v. a. der EU und USA, wurden die sechs Inhaftierten am 24. Juli 2007 zur Verbüßung ihrer lebenslangen Haftstrafen nach Bulgarien ausgeliefert, wo sie jedoch unmittelbar nach der Landung von Staatspräsident Parwanow begnadigt wurden. Die EU und weitere Staaten zahlten im Gegenzug über 120 Millionen Euro an Entschädigungen und Hilfen. Im Dezember 2010 ergab eine Untersuchung, dass fast die Hälfte der bulgarischen Botschafter und Konsuln nach der Wende Angehörige der berüchtigten Staatssicherheit (DS) waren. Darunter waren damals 13 bulgarische Botschafter in EU-Ländern wie Deutschland, Großbritannien und Spanien tätig. Der damalige bulgarische Präsident Georgi Parwanow, ebenfalls ein ehemaliger Mitarbeiter der "DS", verweigerte die Forderungen des bulgarischen Ministerpräsidenten Borissow und des Außenministers Mladenow, diese zurückzuberufen. Die Ernennung der bulgarischen Botschafter fällt in die alleinige Kompetenz des jeweiligen Präsidenten und 97 von 127 der von ihm ernannten Botschafter waren Mitarbeiter der Staatssicherheit. Militär. Die bulgarischen Streitkräfte () gliedern sich in Heer, Marine und Luftwaffe und zählen insgesamt circa 25.000 Soldaten. Die bulgarischen Streitkräfte sind eine Berufsarmee, die Wehrpflicht wurde 2008 abgeschafft. Oberbefehlshaber der Armee ist der bulgarische Präsident. Bulgarien war Mitglied des Warschauer Pakts und hatte Ende der 1980er Jahre 167.000 Mann unter Waffen. Die militärischen Strukturen dieses Bündnisses wurden am 31. März 1991 aufgelöst. Seit 2004 ist Bulgarien NATO-Mitglied. Die Armee war bzw. ist an internationalen Einsätzen in Kambodscha, Angola, Tadschikistan, Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Eritrea, Afghanistan und auch im Irak beteiligt. Feuerwehr. In der Feuerwehr in Bulgarien waren im Jahr 2019 landesweit 6.476 Berufsfeuerwehrleute und 3.138 freiwillige Feuerwehrleute organisiert, die in 243 Feuerwachen und Feuerwehrhäuser, in denen 693 Löschfahrzeuge und 66 Drehleitern bzw. Teleskopmasten bereitstehen, tätig sind. Die bulgarischen Feuerwehren wurden im selben Jahr zu 68.610 Einsätzen alarmiert, dabei waren 42.141 Brände zu löschen. Hierbei wurden 134 Tote bei Bränden von den Feuerwehren geborgen und 293 Verletzte gerettet. Die nationale Feuerwehrorganisation Министерство на вътрешните работи repräsentiert die bulgarische Feuerwehr mit ihren Feuerwehrangehörigen im Weltfeuerwehrverband CTIF. Justiz. In Bulgarien gibt es die folgenden Gerichte: Politische Gliederung. Nach Artikel 2 der bulgarischen Verfassung von 1991 gilt Bulgarien als „Einheitsstaat mit örtlicher Selbstverwaltung“, in dem keine autonomen Gebiete zugelassen sind. Der Verfassungsartikel 135 wiederum legt den staatlichen Aufbau in Gemeinden und Gebiete fest. Die grundlegende administrativ-territoriale Einheit ist die Gemeinde (), in welcher die Organe der örtlichen Selbstverwaltung die kommunalen Interessen vertreten und politisch gestalten. Die Bürger können sich an der Verwaltung der Gemeinde unmittelbar durch ein Referendum oder eine Vollversammlung der Einwohner beteiligen. Die Wahlen zu den Organen der örtlichen Selbstverwaltung (Gemeinderäten, ) finden alle vier Jahre statt, wobei der Bürgermeister () als Organ der Exekutive der Gemeinde direkt gewählt wird. Die Gemeinde hat ein Recht auf eigenes Eigentum und einen selbstständigen Haushalt; darüber hinaus hat sie den Anspruch auf finanzielle Unterstützung durch den Staat. Im Gegensatz zu den Gemeinden wird die zweite territoriale Einheit, das Gebiet oder der Bezirk (), administrativ nicht durch gewählte Organe vertreten. Die Oblast ist vielmehr eine administrativ-territoriale Einheit, die ein vom Ministerrat ernannter Bezirksverwalter () im Interesse der staatlichen Zentralverwaltung kontrolliert. Der Verwalter soll laut Art. 143 der Verfassung die Durchführung der staatlichen Politik sichern und ist für den Schutz nationaler Interessen, der Gesetzlichkeit und der öffentlichen Ordnung verantwortlich. Es bestehen 28 Gebiete, die in insgesamt 266 Gemeinden aufgeteilt sind. Wirtschaft. Wirtschaftsgeschichte. Bulgarien gehört zu den Ländern, die als Agrarstaat in den RGW („COMECON“) eingetreten sind und ihre Industrialisierung diesem im Wesentlichen zu verdanken haben. Das bedeutete die Steigerung der energie- und rohstoffintensiven Schwerindustrie, von denen einige Bereiche (Pharmazeutika, Maschinenbau, Elektronik) durchaus erfolgreich in den ehemaligen Märkten agierten. Die Computermarken Prawez, Izot, IMKO und ES EVM produzierten zeitweise bis zu 40 % aller im RGW getauschten Desktopcomputer. Nach dem Wegfall des Marktes der Sowjetunion, zu dem die meisten Beziehungen bestanden, geriet die Wirtschaft in eine schwere Krise, aus der sie sich erst seit 2004 erholt hat. Die einstmals gut entwickelte Industrie für Computerhardware verschwand vollständig. In den Jahren 1989 bis 1995 gingen die Realeinkommen und der Lebensstandard zurück. Das Sozialsystem, insbesondere das System der Kranken- und Rentenversicherungen, brach weitgehend zusammen. Die sozialistische Regierung unter Schan Widenow schaffte hier keine Abhilfe, sondern bediente die Interessen der ehemaligen Nomenklatura. Im Frühjahr 1996 kam es infolge der hohen Staatsverschuldung zu einer schweren Wirtschaftskrise. Banken brachen praktisch über Nacht zusammen; der Staat geriet in Zahlungsschwierigkeiten gegenüber seinen ausländischen Kreditgebern. In der Hoffnung auf Unterstützung von Weltbank und IWF verabschiedete die sozialistische Regierung ein Strukturprogramm. 134 marode Staatsbetriebe sollten geschlossen werden, durch Steuervergünstigungen versuchte man vor allem ausländische Investoren anzulocken. Doch die Privatisierung ging dem IWF zu langsam und er forderte als Bedingung für weitere Kredite die Einführung eines Währungsrates sowie die Bindung des bulgarischen Lew an die D-Mark im Verhältnis 1:1. Seit der Einführung des Euros ist der bulgarische Lew an ihn im Verhältnis 1:1,95583 gekoppelt. Inzwischen haben einige internationale Unternehmen Standorte in Bulgarien. So befindet sich eines der globalen Service-Center von Hewlett-Packard, das für Europa, den Mittleren Osten und Afrika zuständig ist, in Sofia. Der chinesische Automobilhersteller Great Wall Motor eröffnete im Februar 2012 ein Werk nahe Lowetsch. Die Handelsunternehmen METRO, HIT, Lidl, Kaufland, dm sowie die Rewe Group mit der Marke Billa sind in Bulgarien präsent. Kennzahlen. Die Wirtschaft Bulgariens ist vor allem im Süden des Landes konzentriert. Die am stärksten entwickelten Regionen sind Sofia, Burgas, Stara Zagora sowie in Nordostbulgarien Varna. Die Region Nordwestbulgarien ist die am wenigsten wirtschaftlich entwickelte Region Bulgariens (Stand 2008). Bulgarien selbst hatte 2009 das niedrigste BIP je Einwohner sowie eine der höchsten Armutsquoten (21,8 %) aller EU-Länder. Nach Angaben von Eurostat besteht in Bulgarien auch das höchste Armutsrisiko für Menschen mit körperlichen Einschränkungen innerhalb der EU. Der Anteil der Privatwirtschaft am BIP betrug 2004 72,7 %. Die Schaffung des Währungsrates 1997, die Konsolidierung der Staatsfinanzen (Budgetüberschuss 2004: 262 Millionen Lewa), einschließlich der Reduzierung der Auslandsverschuldung (Staatsverschuldung im Dezember 2004 noch 40,9 % des BIP, im Dezember 2005 32,4 % und 2016 27,3 %), weitreichende strukturelle Reformen und die Privatisierung nahezu aller staatlichen Unternehmen in enger Zusammenarbeit mit Internationalem Währungsfonds (IWF) und Weltbank trugen zu makroökonomischer Stabilität bei. Das Bruttoinlandsprodukt ist von 1998 bis 2008 stetig, im Schnitt um 5 %, gewachsen. Laut Schätzungen des IWF betrug das bulgarische Bruttoinlandsprodukts 2016 52,4 Mrd. US-Dollar (7369 US-Dollar pro Kopf). Bei Berücksichtigung der Kaufkraftparität war bulgarische Bruttoinlandsproduktes mehr als doppelt so hoch: 144,6 Mrd. US-Dollar (20.227 US-Dollar pro Kopf). Nach mäßigen Inflationsraten der Jahre 2001 bis 2005 (2005: 6,5 %) verzeichnete man im Jahre 2007 eine etwa 13-prozentige allgemeine Preissteigerung. Die relativ hohen BIP-Wachstumsraten (2001 4,1 %, 2002 4,9 %, 2003 4,5 %, 2004 5,7 %, 2005 5,8 %, 1. Halbjahr 2006 6,1 %, 2007 6,2 %) wurden somit durch die Inflation etwas abgedämpft. Die Arbeitslosigkeit konnte, seit ihrem Höhepunkt von 18,13 % im Jahr 2000, gesenkt werden und lag Ende des Jahres 2010 bei etwa 8,3 % und für das 1. Quartal 2012 bei etwa 12 %. Begünstigt wurde diese Entwicklung durch hohe Vorbeitrittshilfen der Europäischen Union. So standen 2004 insgesamt rund 400 Mio. Euro in den Programmen PHARE, ISPA und SAPARD zur Verfügung. Die Arbeitslosenquote sank bis Juni 2018 auf 4,8 % und lag damit unter dem EU-Durchschnitt. Im Jahr 2017 betrug die Jugendarbeitslosigkeit 14,4 %. 2016 arbeiteten 6,8 % aller Arbeitskräfte in der Landwirtschaft, 26,6 % in der Industrie und 66,6 % im Dienstleistungssektor. Die Gesamtzahl der Beschäftigten wurde 2017 auf 3,6 Millionen geschätzt; davon waren 46,4 % Frauen. Die Löhne waren die niedrigsten in der EU. Im Vergleich mit dem BIP der EU ausgedrückt in Kaufkraftstandards erreichte Bulgarien im Jahr 2014 einen Index von 47 (EU-28:100) (zum Vergleich: Deutschland: 126). Da die Regierung einen Großteil der in den Haushaltsjahren 2004 und 2005 entstandenen Überschüsse für Ausgleichsmaßnahmen verwendete, um die sozialen Folgen der zur Kostendeckung notwendigen Anpassung der Preise für Elektrizität, Wasser und Fernheizung aufzufangen und gleichzeitig die Transfereinkommen zusätzlich und überproportional erhöhte, stiegen die Realeinkommen auch der besonders Benachteiligten (Arbeitslose, Behinderte und Rentner) erstmals seit langem wieder. Gleichwohl blieben über eine Million Menschen vom Wirtschaftsaufschwung Bulgariens weitgehend abgekoppelt. Im Global Competitiveness Index, der die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes misst, belegte Bulgarien Platz 49 von 137 Ländern (Stand 2017–2018). Im Index für wirtschaftliche Freiheit belegte Bulgarien 2017 Platz 47 von 180 Ländern. Die wichtigsten Wirtschaftszweige sind: Chemische Industrie, Nahrungsmittel und Nahrungsmittelverarbeitung, Tabakindustrie, Metallindustrie, Maschinenbau, Textilindustrie, Glas- und Porzellanindustrie, Kohleförderung, Stahlproduktion, Energiewirtschaft, Tourismus. Entwicklung der Kennzahlen. Alle BIP-Werte sind in Internationalen Dollar Kaufkraftparität (KKP) angeben. In der folgenden Tabelle kennzeichnen die Farben: Import und Export. Die wichtigsten Aus- und Einfuhrgüter Bulgariens sind: Ausfuhr: chemische Produkte, Elektrizität, Konsumartikel, Maschinen und Ausrüstungen, Nahrungs- und Genussmittel, Rohmetall- und Stahlprodukte, Textilprodukte. Einfuhr: chemische Erzeugnisse, Konsumgüter, Maschinen und Ausrüstungen, mineralische Produkte und Brennstoffe (insbesondere Rohöl und Gas aus Russland), Rohstoffe. Energiewirtschaft. Die Energieabhängigkeit Bulgariens ist etwas niedriger als der Durchschnitt für die EU. Das Land bezog im Jahr 2008 52,3 % seiner Energie aus dem Ausland. Damit lag das Land unter dem europäischen Durchschnitt von 54,8 %. In Bulgarien gibt es zwei aktive Kernreaktoren, die etwa ein Drittel des bulgarischen Strombedarfs decken. Aufgrund seiner strategischen Lage sowie des einheimischen Bedarfs hat Bulgarien in den letzten Jahren zahlreiche Strategieprojekte auf den Weg gebracht, die für die nationale, regionale und europäische Versorgungssicherheit von Bedeutung sind. Die Projekte umfassen die Erdgasleitungen Nabucco und South Stream und die Burgas-Alexandroupolis-Ölpipeline. Das Nabucco-Projekt hat für Bulgarien und die Europäische Union vorrangige Bedeutung, da damit alle Diversifizierungsprobleme auf einen Schlag gelöst würden, sowohl in Bezug auf Bezugsquellen als auch in Bezug auf die Lieferwege. Diese neue Trasse würde Gas aus dem kaspischen Raum und dem Nahen Osten sichern. Die South Stream-Pipeline wäre ein neuer Lieferweg für russisches Gas. Sie würde unter dem Schwarzen Meer verlaufen und sich in Bulgarien teilen. Seit den letzten Gaskrisen werden zusätzlich die Verbindungen mit den Nachbarländern ausgebaut. Sie sollen die Erdgassysteme der südosteuropäischen Ländern zu einem Gasverbundsystem verbinden und in der Zukunft als alternative Versorgungsroute genutzt werden. Das South Stream-Pipeline-Projekt wurde Ende der 2000er auf Druck der EU-Kommission eingestellt, da sie nicht der Europäischen Energiecharta entsprach. 2019/2020 wurde stattdessen die Gaspipeline Balkan Stream als Verlängerung der Turkish Stream und als Alternative zur South Stream-Pipeline bis zur serbischen Grenze gebaut. Sie hat in Bulgarien keine Abzweigungen und dient ausschließlich dem Transit. Öl und Erdgas. Die einzigen Unternehmen, die Erdgas in Bulgarien fördern, sind „Melrose Ressourcen Sarl“ und „Exploration und Gewinnung von Öl und Gas AG“. Sie förderten 2009 zusammen rund 9 % des Erdgasverbrauchs. Vor der Küste entdeckte der österreichische OMV-Konzern ein Erdgasfeld; 2012 begannen im Gebiet von Warna Probebohrungen. Der übrige Erdgasbedarf wird großteils über die Druschba-Trasse aus Russland importiert. Zur Verringerung der Abhängigkeit vom russischen Erdgas fördert die EU den Bau sogenannter Interkonnektoren mit den Nachbarländern. Die Pipeline nach Alexandroupolis (Griechenland) wurde als Teil der Nabucco-Pipeline 2016 aufgegeben, dafür wurde eine Abzweigung (ICGB) von der transadriatischen Pipeline und dem südlichen europäischen Gaskorridor 2022 als Teil des europäischen Nord-Süd-Energiekorridor fertiggestellt. Auch Verbindungen mit Serbien und Rumänien sind im Bau. Als in Verbindung mit dem Russischer Überfall auf die Ukraine 2022 Sanktionen gegen den Export russisches Erdöls verhängt wurden, reaktivierten bulgarische Politiker die Pipeline Burgas-Alexandroupolis jedoch in umgekehrter Richtung, so dass sie die Versorgungssicherheit der Ölraffinerie Neftochim bei Burgas sicherstellen sollte. Der größte Erdgasnetzbetreiber ist die Aktiengesellschaft Bulgargaz EAD, die sich zu 100 % im Staatseigentum befindet. Zur Holding gehören außerdem der Gasanbieter Bulgargaz EAD und der kombinierte Lieferant Bulgartransgaz EAD, die für die Versorgung des Landes mit Erdgas sowie für Transport und Lagerung verantwortlich sind. In der Gaswirtschaft existiert auf Verteilungsebene eine Vielzahl privater Unternehmen, darunter Overgaz AG als größter Gasversorger. Das einzige Unternehmen, das in Bulgarien Erdöl fördert, ist die „Exploration und Gewinnung von Öl und Erdgas AG“; die geförderten Mengen sind minimal. Damit ist das Land fast vollständig auf Importe angewiesen. Der bulgarische Markt für Erdöl und Erdölprodukten ist vollständig liberalisiert. In Bulgarien befindet sich die größte Raffinerie Südosteuropas, die Lukoil Neftochim Burgas AD. Sie dominiert den Markt mit Kraftstoffen, Diesel, Kerosin und Petrochemie; ein großer Teil der Produktion wird exportiert. Das Unternehmen hat eine stabile Marktposition im Südosteuropa. Ende Januar 2012 gab LUKOIL Neftochim Burgas bekannt, bis 2015 Investitionen in Höhe von 1,5 Mrd. US-Dollar zu tätigen und dadurch 3000 neue Arbeitsplätze zu schaffen. Dabei sollen neue Anlagen für Hydrocracken und Katalytisches Reforming gebaut, bzw. die bestehenden ersetzt werden. Dadurch soll auch die Luftverschmutzung verringert werden. Stromerzeugung. Im Kernkraftwerk Kosloduj wurden insgesamt sechs Druckwasserreaktoren russischer Bauart mit einer Gesamtleistung von 3.760 MW errichtet. Zur Erfüllung der Vorgaben zum EU-Beitritt wurden zwei Kraftwerksblöcke 2004 und zwei 2007, vor Ablauf der vorgesehenen Betriebsdauer, stillgelegt. Die in Betrieb befindlichen Reaktoren 5 und 6 haben zusammen eine Kapazität von 2000 MW; sie produzieren etwa ein Drittel des bulgarischen Strombedarfs. Im Januar 2008 unterzeichneten Bulgarien und Atomstroiexport einen Bauvertrag für das Kernkraftwerk Belene. RWE stieg im Oktober 2009 aus dem Projekt aus; die Gesamtkosten betrügen inzwischen 10 Mrd. Euro statt der ursprünglich veranschlagten 4 Mrd. Euro. Im April 2012 gab Bulgarien das Projekt auf. Einige Kohlekraftwerke (Liste hier) erzeugen Strom aus heimischer Steinkohle. Das Wärmekraftwerk Bobow Dol (630 MW), das Wärmekraftwerk Varna EAD (1260 MW), das Wärmekraftwerk Maritza Istok-3 (840 MW), die zukünftige Ersatzleistung auf dem Gelände des Wärmekraftwerks Maritza Istok-1 (670 MW), das Wärmekraftwerk Maritza 3 (120 MW) und das Wärmekraftwerk Russe (110 MW) sind mehrheitlich oder vollständig in Privateigentum. Es gibt zahlreiche kleinere privatwirtschaftlich betriebene Wasserkraftwerke. 2013 waren Windkraftanlagen mit einer Kapazität von 677 MW installiert; sie gehörten privaten – meist ausländischen – Unternehmen. Windparks befinden sich hauptsächlich im Osten Bulgariens (Liste hier). Wirtschaftsbeziehungen. Bulgarien ist Mitglied der Schwarzmeer-Wirtschaftskooperation (SMWK) und unterhält seit 1994 ein Freihandelsabkommen mit der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA). Deutschland ist der wichtigste Handelspartner Bulgariens. Über 5000 deutsche Firmen sind im Handel mit Bulgarien tätig, davon sind 1200 vor Ort vertreten. Das Gesamthandelsvolumen 2007 erreichte circa 35 Mrd. Euro, das Handelsvolumen mit Deutschland etwa 3,7 Mrd. Euro (10,5 %). Die deutschen Exporte nach Bulgarien beliefen sich auf 2,3 Mrd. Euro, die Importe aus Bulgarien auf 1,4 Mrd. Euro. Über die Hälfte entfiel auf die Bundesländer Nordrhein-Westfalen, Bayern und Baden-Württemberg. Seit März 2004 besteht in Sofia die Deutsch-Bulgarische Industrie- und Handelskammer (DBIHK), die bereits über 350 Mitglieder zählt. Die ausländischen Direktinvestitionen erreichten 2007 einen Höchstwert von 5,7 Mrd. Euro und 2008 einen Wert von 5,4 Mrd. Euro. Mit Investitionen in Höhe von 605 Millionen Euro (11,2 %) im Jahr 2008 lag Deutschland an dritter Stelle der ausländischen Investoren hinter Österreich und den Niederlanden. Der hohe Investitionsbedarf der bulgarischen Wirtschaft, der zusammen mit niedrigen Löhnen und gut ausgebildetem Personal viele Chancen für langfristig orientierte Investoren, insbesondere in lohnintensiven Fertigungsbereichen (Maschinenbau, Nahrungsmittelverarbeitung, Kfz-Teileherstellung, Textilproduktion, Softwareentwicklung etc.) bietet, wird jedoch trotz dieser Entwicklung noch einige Zeit fortbestehen. Gute Aussichten für Investitionen bestehen u. a. auch weiterhin im Tourismusbereich. Mehr als 580.000 Deutsche besuchten 2008 Bulgarien. Ausbaufähig erscheint besonders der Bereich Individualtourismus, insbesondere Öko-, Wander- und Bädertourismus, aber auch der Wintersportbereich. Das Investitionsklima für Ausländer ist im Wesentlichen gut, trotz erheblicher Defizite im Justizbereich. 2005 erreichte die Investitionsquote Bulgariens 22 Prozent des BIP (2004 21 %). Ende 2007 wurden die steuerlichen Bedingungen durch die Einführung einer zehnprozentigen Pauschalsteuer verbessert. Landwirtschaft. Bulgarien ist eines der Hauptanbauländer für Orient-Tabak. Bulgarien war ehemals der weltgrößte Exporteur von Tabak. Seit 2010 fördert die EU jedoch Tabakanbau nicht mehr, da dies der Gesundheitsrichtlinie widersprechen würde. Die Einkommen der Tabakbauern, typisch Familienbetriebe, leiden darunter. Die Tabakstadt ist ein Stadtteil von Plowdiw, die historischen Häuser der reichen Tabakhändler sind als Ensemble denkmalgeschützt. Im März 2016 wurde eines dieser denkmalgeschützten Häuser abgerissen. Der Zigarettenhersteller Bulgartabak, ehemals Staatskonzern, wurde 2011 privatisiert. Im Land gibt es einen bedeutenden Schwarzmarkt für Zigaretten. Im Tal der Rosen in Zentralbulgarien befindet sich die weltweit bedeutendste Anbauregion von Rosenblüten (Rosa damascena) zur Gewinnung von Rosenöl. Umweltbelastung. Nach 1950 wurden die Industrialisierung und die Intensivierung der Landwirtschaft im Rahmen der Planwirtschaft betrieben, oft zu Lasten der Umwelt. Die Förderung vor allem der Schwerindustrie, des Energiesektors und des Bergbaus sowie der Einsatz veralteter Technologien verursachten zum Teil erhebliche Luft-, Boden- und Wasserverschmutzungen. Mit der Schließung vieler industrieller Produktionsstätten nach der Wende haben sich die Umweltbelastungen stetig verringert. Obwohl Bulgarien seit Mitte der 1990er Jahre im Umweltbereich deutliche Fortschritte erzielt hat, sind nach Schätzungen der Weltbank für die Umsetzung des EU-Acquis im Umweltbereich bis zum Jahr 2020 Investitionen von rund neun Milliarden Euro erforderlich. Jährlich müssten demnach Investitionen in Höhe von rund 11 % des BIP getätigt werden. Der Umweltschutz wurde durch die Gründung des Umweltministeriums 1990 erstmals institutionalisiert und als Staatsziel in der bulgarischen Verfassung von 1991 (Art. 15) verankert. Im Umweltschutzgesetz vom September 2002 hat die bulgarische Regierung erstmals das Prinzip der Nachhaltigkeit gesetzlich festgeschrieben. Korruption. Korruption auf allen Ebenen des Staates stellt in Bulgarien ein gravierendes Problem dar und wird als staatsgefährdend bewertet. Beim Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International belegt Bulgarien unter allen EU-Mitgliedsstaaten seit 2012 konstant einen der schlechtesten Ränge. Seit seinem EU-Beitritt ist das Land nicht nur eines ihrer korruptesten Mitglieder, sondern auch einer der Staaten mit den schlechtesten Werten in Sachen Rechtsstaatlichkeit. 2021 teilte das US-Außenministerium mit, es habe Wirtschaftssanktionen gegen mehrere prominente Bulgaren und ihre Unternehmen verhängt. Damit wolle man "korrupte Akteure" zur Rechenschaft ziehen und "die Rechtsstaatlichkeit und die Stärkung demokratischer Institutionen in Bulgarien unterstützen". Das Eingreifen der USA, um in einem EU-Staat Rechtsstaat und Demokratie zu schützen, wurde als Unfähigkeit der EU gesehen, selbst auf den Mitgliedsstaat einzuwirken. Der Politiker-Oligarch Deljan Peewski und zwei weitere Geschäftsleute wurden im Juni 2021 wegen Beteiligung an "bedeutender Korruption" sanktioniert. Das in den USA gelagerte Vermögen ihrer 64 Unternehmen wurde beschlagnahmt und ein USA-weites Handelsverbot gegen jene Unternehmen ausgesprochen. Das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) bemängelte bereits mehrfach Korruption und Veruntreuung von EU-Geldern in Bulgarien. Im November 2008 kürzte die Europäische Union Bulgarien aufgrund mangelnder Fortschritte in der Korruptionsbekämpfung 220 Millionen Euro Fördergelder. Bereits im Juli 2008 waren 825 Mio. Euro an Hilfen vorübergehend eingefroren worden. Tourismus. Der Tourismus ist bereits seit den 1970er Jahren ein wichtiger Devisenbringer für das Land. Mit über 8,2 Mio. Touristen stand Bulgarien 2016 auf Platz 41 der meistbesuchten Länder der Welt. Die Tourismuseinnahmen beliefen sich im selben Jahr auf 3,6 Mrd. US-Dollar. In Bulgarien gibt es insgesamt zehn UNESCO-Welterbestätten. Staatshaushalt. Der Staatshaushalt umfasste 2016 Ausgaben in Höhe von umgerechnet 17,89 Mrd. US-Dollar, dem standen Einnahmen von umgerechnet 18,44 Mrd. US-Dollar gegenüber. Daraus ergibt sich ein Haushaltsüberschuss in Höhe von 1,3 % des BIP. Die Staatsverschuldung betrug 2016 9,6 Mrd. US-Dollar oder 27,3 % des BIP. Bulgarien gehörte damit zu den am niedrigsten verschuldeten Ländern in der Europäischen Union. 2006 betrug der Anteil der Staatsausgaben (in % des BIP) folgender Bereiche: Gewerkschaften. Die beiden größten Gewerkschaftsbünde sind Mitglieder des Internationalen Gewerkschaftsbundes (IGB) und des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB). Die Zahl der Mitglieder in den zur KNSB gehörenden Einzelgewerkschaften wird mit 200.000 Mitgliedern angegeben, für PODKREPA mit 150.500 (Stand: November 2017). Infrastruktur. Bulgarien ist ein wichtiges Transitland zwischen Mitteleuropa und dem Nahen Osten. Die paneuropäischen Verkehrskorridore IV (Dresden–Budapest–Craiova–Sofia–Thessaloniki), VII (Donau), VIII (Durrës-Tirana–Skopje–Sofia–Burgas) und IX (Helsinki–Moskau–Bukarest–Dimitrowgrad–Alexandropolis) führen durch Bulgarien. Die Achse Sofia-Burgas ist auch Teil des Transeuropäischen Transportnetzes (TEN) der Europäischen Union. Das Land verfügt über ein relativ gut ausgebautes Verkehrsnetz: Eisenbahnnetz (Bulgarische Eisenbahninfrastrukturgesellschaft), Straßennetz (jedoch bislang nur wenige Autobahnen), vier internationale Flughäfen (Flughafen Sofia, Flughafen Warna, Flughafen Burgas und Flughafen Plowdiw), zwei Hochseehäfen (Hafen Burgas, Hafen Warna) und mehrere kleinere Seehäfen (Sosopol, Baltschik) sowie Binnenhäfen (an der Donau). Bis ins späte Mittelalter spielte die Binnenfahrt auf dem Fluss Mariza eine wichtige Rolle. Der Schiffsverkehr auf der Donau spielt für Bulgarien nur eine geringe Rolle. In den Häfen Russe, Widin, Lom und Silistra findet ein begrenzter Güterumschlag statt; in Russe legen Kreuzfahrtschiffe an. Straßenverkehr. Das gesamte asphaltierte Straßennetz umfasste 2011 etwa 19.512 km. Der Verkehr in Bulgarien findet vor allem auf der Straße statt. Zwischen den Großstädten verkehren Busse mehrerer Busunternehmen. Regionalverbindungen in die kleineren Städte gibt es von der jeweiligen Provinzhauptstadt. In der Sommerzeit werden auch direkte Verbindungen von Sofia und anderen Großstädten in die meisten Tourismusorte an der Schwarzmeerküste angeboten. Die Busverbindungen in die Groß- und Hauptstädte der Nachbarländer stellen eine preiswertere Alternative dar und sind gut ausgebaut. Insgesamt hat Bulgarien mit der Türkei drei Grenzübergänge, mit Griechenland vier (ein weiterer in Bau), mit Nordmazedonien drei (weitere drei in Planung), mit Serbien fünf (weitere drei in Planung) und mit Rumänien zwölf (ein weiterer wurde 2013 mit der Donaubrücke 2 eröffnet). Das bulgarische Autobahnnetz befindet sich noch im Ausbau. Durch die Schließung der letzten Lücken der Autobahn Trakia (A 1) besteht seit Mitte 2013 eine direkte Autobahnverbindung zwischen der Hauptstadt Sofia und dem Schwarzen Meer. Anders als in den Nachbarländern gibt man in Bulgarien, geographisch bedingt, statt den Nord-Süd- den Ost-West-Verbindungen die Priorität. Schienenverkehr. Alle großen Städte Bulgariens werden von der Bulgarischen Staatsbahn erschlossen. Die Hauptstrecken werden ausgebaut, jedoch werden Zugverbindungen in kleinere Orte gestrichen. Auf der Strecke Sofia–Burgas (ca. 400 km) dauert eine Zugfahrt etwa sechseinhalb Stunden, während eine Busfahrt nur fünf Stunden benötigt. Aus diesem Grund wird die bulgarische Bahn eher gemieden, ist jedoch auf einigen Strecken preiswerter als eine Busfahrt. Hochgeschwindigkeitsverkehr existiert in Bulgarien wie auch in den Nachbarländern nicht. Eine Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Sofia und Istanbul, via Plowdiw soll als Teil des IV. Paneuropäischen Korridors entstehen und im zweiten Schritt von Sofia via Wraza zur Donaubrücke 2 an der rumänischen Grenze bei Widin fortgeführt werden. Das Projekt soll finanziell bis zur Hälfte von der EU getragen werden. Ein realistischer Zeitpunkt, zu dem es in Betrieb gehen kann, ist nicht bekannt. Einige bulgarische Städte (Sofia, Burgas u. a.) sind Beginn und Ziel mehrerer europäischer Zugverbindungen (siehe: ). Auch der Orient-Express durchquerte Bulgarien. Der bulgarische Schienengüterverkehr hat eine Transportleistung von jährlich 4,5 Milliarden Tonnenkilometern und hat damit einen Anteil am Modal Split von ungefähr einem Fünftel. Das bulgarische Schienennetz ist mit dem der Nachbarländer verbunden. Eine Ausnahme stellt Nordmazedonien dar: hier ist eine Gleisverbindung seit 2017 in Planung. Während des Zweiten Weltkrieges unterstützte die deutsche Wehrmacht den Bau einer direkten Schienenverbindung zwischen den Hafenstädten Burgas und Varna, jedoch konnte sie von Burgas damals nur bis Pomorie fertiggestellt werden. Aktuell (März 2018) gibt es pro Tag zwei direkte Verbindungen mit Regionalzügen zwischen beiden Städten, etwas schneller geht es jedoch in Schnellzügen, trotz einmaligem Umsteigen in Karnobat. Eine Zugfahrt auf der circa 120 km langen Strecke dauert vier bis fünf Stunden. Die bekannteste Schmalspurbahn Bulgariens, die Rhodopenbahn, führt von Septemwri nach Dobrinischte. Ihre Strecke liegt entlang der Gebirge Rhodopen, Rila und Pirin und überquert Awramowo, den höchstgelegenen Bahnhof der Balkanhalbinsel (1267 m). Kultur. Medien. Bulgarien verfügt über je einen staatlichen Radio- und Fernsehsender (BNR und BNT) und eine Vielzahl an privaten Sendern. Die wichtigsten darunter sind: bTV, Nova televizija, SKAT und TV Evropa. Unter den Radiosendern dominiert das private „Darik Radio“. An der Anpassung und Anwendung der EU-Vorschriften zum Übergang zu Digital-Fernsehen und -Hörfunk wird gearbeitet. Die marktführende New Bulgarian Media Group (NBMG) kontrolliert vier überregionale Zeitungen, ein Magazin, einen Fernsehkanal sowie eine Nachrichtenagentur (Stand: 2014). Der Konzern gehört Deljan Peewski, dem ehemaligen Chef des bulgarischen Geheimdienstes (Stand 2017). Die Presselandschaft ist vielfältig. Die größten Tageszeitungen im Land, Trud und 24 Časa gehörten bis Ende 2010 der WAZ-Gruppe; der neue Eigentümer heißt BG Printinvest. Daneben gibt es auch andere ausländische Investoren in diesem Bereich. Weitere bedeutende Tageszeitungen sind Dnevnik, „Monitor“, Standart, „Sega“ und „Duma“. Einflussreiche Wochenzeitungen bzw. Zeitschriften sind Capital, Tema und Politika. Im Jahr 2020 nutzten 70 Prozent der Einwohner Bulgariens das Internet. Belegte Bulgarien am Vorabend des EU-Beitritts 2006 auf der Rangliste der Pressefreiheit von RSF noch einen passablen 36. Rang, rangierte Bulgarien 2021 auf Platz 112 von 180 Ländern. Es ist der schlechte Wert eines Landes in Europa. Die Unabhängigkeit der Presse wird vor allem durch enge Verbindungen zwischen Medien, Politik und einflussreichen Geschäftsleuten untergraben. Der Oligarch Deljan Peewski verkaufte Ende der 2020er Jahre seine Medien, bleibt aber ein einflussreicher Akteur in Bulgarien. Die bulgarische Regierung und Behörden vergeben öffentliche Gelder und EU-Fördermittel intransparent und scheinbar regellos an Medienfirmen, wodurch diese regierungsfreundlich werden. Auf der anderen Seite geht der Staat juristisch gegen Medienunternehmen wie Bivol und die Economedia Group vor. Besonders investigativ arbeitende Journalisten sind Übergriffen von Polizei und Geschäftsleuten ausgesetzt. Kunst und Architektur. Die Kunst hat auf dem Gebiet Bulgariens eine lange Tradition. Aus dem 2. Jahrtausend v. Chr. sind zahlreiche thrakische Hügelgräber (Kurgane) und Goldschmiedearbeiten (siehe hierzu thrakische Kunst) erhalten. Mittelalter und Renaissance. Als wichtigstes Denkmal aus der frühesten bulgarischen Zeit gilt das in der UNESCO-Weltkulturerbe-Liste eingetragene lebensgroße Felsenrelief "Reiter von Madara" (8. Jahrhundert). Die erste Hauptstadt Pliska wurde noch nach römisch-byzantinischem Vorbild mit starken Festungsanlagen umgeben, besaß jedoch auch Paläste, Kirchen, Bäder und andere öffentliche Bauten, deren Bauformen und -technik ihren Ursprung zum Teil in Mittelasien und im Vorderen Orient hatten. Dies genügte jedoch nicht den Herrschaftsanspruch der bulgarischen Zaren und Zar Simeon I., genannt "der Große," verlegte 863 die Hauptstadt in das ebenfalls stark befestigte Preslaw. Von ihren Kirchen und Klöstern ist die "Runde (auch Goldene) Kirche" mit vielfarbigem Schmuck und glasierten Tonplatten (Preslawer Keramik) zu nennen, der für die bulgarische Kunst dieser Periode kennzeichnend ist. Mit der Christianisierung des bulgarischen Reiches wurden auch in anderen Städten Sakralbauten neu errichtet (wie etwa die Sophienkirche (Ohrid) in Ohrid (heute Nordmazedonien) als untypische Pfeilerbasilika errichtet, oder die "Stephanoskirche" in Nessebar) oder umgebaut ("Alte Metropolitenkirche" in Nessebar oder Sophienkirche in Sofia). Im Unterschied zur byzantinischen Kirchenarchitektur zeigte sich bereits vor Mitte des 10. Jahrhunderts die Tendenz zu sehr dekorativem Mauerwerk (Blendbogennischen, Mosaikschmuck, bemalte Keramik, Freskenmalerei). Mit der byzantinischen Herrschaft (1018–1185/86) verstärkten sich auch die Einflüsse von Byzanz in der bulgarischen Kunst. Mit der Restauration des Bulgarischen Reiches im Jahre 1185 fand die Kunst des Ersten Bulgarischen Reiches ihre Fortsetzung. In Tarnowo, der neuen Hauptstadt, entstand ein kleinerer, meist einschiffiger, von Byzanz übernommener Kirchentyp, dessen Gewölbe und Böden zur Kuppel überleiten (Beispiele für Kreuzkuppelkirchen sind die "Nikolauskirche" in Melnik, die "Pantokratorkirche" und "Johannes-Aleiturgetos-Kirche" in Nessebar sowie die "40-Märtyrer-Kirche" in Tarnowo). Sie blieben jedoch im Unterschied zur byzantinischen Kunst in den dekorativen Tendenzen in der sakralen Baukunst bestimmend (buntes, mit glasierter Keramik verziertes Sichtmauerwerk, Blendnischen und -arkaden). Die Außenwände sind durch Blendbögen gegliedert und durch rhythmische Wechsel roter und weißer Steine oder auch Keramik. Größere Selbstständigkeit erreichte die Malerei in den Fresken von Bojana (1259). Die in reiner Freskotechnik ("fresco buono") ausgeführte Malerei in der Kirche von Bojana gehört somit zu der besterhaltenen aus dieser Periode in Südosteuropa und trägt renaissancehafte Züge. Die Fresken der Höhlenkirche von Iwanowo (kurz nach 1232, gestiftet von Iwan Assen II.) bereiteten den Boden für die künstlerische Renaissance unter den Palaiologen Ende des 13./Anfang des 14. Jahrhunderts. Die Fresken der "Johanneskirche" von Zemen (um 1300) sind mit vorikonoklastischen Elementen durchsetzt. Seit dieser Zeit, 13. und 14. Jahrhundert, ist Bulgarien auch für seine Ikonenmalerei bekannt. Die Vertreter der Malschule von Tarnowo überschritten die überlieferten Regeln der traditionellen Ikonenmalerei und schufen damit die bedeutendste eigenständige Schule der ostkirchlichen Kunst. Von den erhaltenen Bilderhandschriften sind die reichlich illustrierten "Tetraevangeliar von Zar Alexander" und die "Manasses-Chronik" des Zaren Iwan Alexander die bekanntesten (die erste befindet sich heute im British Museum in London, die zweite in der Vatikanischen Bibliothek). Bulgarische Wiedergeburt. Nach der osmanischen Eroberung wurde die bulgarische christliche Kunst fast nur in den abgelegenen Klöstern gepflegt. Bulgarische Künstler waren jedoch an der regen osmanische Bautätigkeit von öffentlichen Gebäuden und Bauten in der Zeit nach der Eroberung beteiligt. Vom 15. bis 18. Jahrhundert war die von der Mönchsrepublik Athos ausgehende Kunst bestimmend. Mit der bulgarischen Wiedergeburt am Ende der osmanischen Besatzung entstanden überall in den bulgarischen Ländereien neue Kunstschulen (über 40 sind bekannt), die alle dem so genannten "Wiedergeburtsstil" angehörten. In dieser Zeit entwickelte sich die Holzschnitzerei als spezifische bulgarische Kunst. Die bekanntesten Kunstschulen waren die "Kunstschule von Tschiprowzi," "Kunstschule von Debar" und die "Kunstschule von Samokow". Aus der letzten gingen viele der Maler hervor, welche die Bemalung von vielen Klöstern und Kirchen ausführten, darunter des mittlerweile in der Liste des UNESCO-Welterbes aufgenommenen Rila-Klosters. Wichtig für die neuere Zeit war Jules Pascin, der 1885 in Widin geboren wurde. Eigentlich hieß er Julius Pinkas. Da er lange Zeit in Frankreich verbrachte, wo er auch 1930 starb, wird er als bulgarisch-französischer Maler und Grafiker bezeichnet. Neuzeit. Der bekannteste bulgarische Künstler ist wohl Christo Jawaschew, der unter seinem Vornamen und zusammen mit seiner Frau Jeanne-Claude bekannt wurde. Er verhüllte etwa das Reichstagsgebäude in Berlin und den Pont Neuf in Paris. In der Zeit des Sozialismus wurden in vielen bulgarischen Städten monumentale Bauten zu Ehren der Staatsphilosophie oder ihrer Vertreter errichtet. Gegen die Monumentalskulpturen begehrt eine Gruppe junger Künstler auf, die unter dem Namen "Destructive Creation" diese Skulpturen illegal künstlerisch umwidmet. Dieses Projekt ist Teil eines Dokumentarfilms, den die Regisseurin Susanna Schürmann im Jahr 2019 auf Arte unter dem Titel "Das Rote Erbe – Künstler und die sozialistische Vergangenheit" veröffentlichte. Neben der Künstlergruppe begleitet der Film den Fotografen Nikola Mihov, der seit vielen Jahren diese Skulpturen fotografiert und berichtet über das "Goatmilk-Festival" der bulgarischen Kulturmanagerin und Journalistin Diana Ivanova. Musik. Bulgarien verfügt über eine große Tradition des Chorgesangs. Der staatliche Chor wurde durch einen eigenen Stil sehr erfolgreich, zahllose bulgarische Frauenchöre wie etwa "Angelite" sind heute international bekannt. Das bulgarische Nationalinstrument ist, neben der dreiteiligen Längsflöte "Kaval," der Dudelsack "Gaida". In den meisten Landesteilen wird die hochgestimmte Thrakische Gaida ("Djura Gaida") gespielt, überwiegend zum Tanz, während im rhodopischen Gebirge die tief gestimmte "Kaba Gaida" zur Begleitung meist trauriger Balladen genutzt wird. Seltener sind die kleineren, einteiligen Hirtenflöten "Swirka" und "Duduk". Das Doppelrohrblattinstrument "Zurna" wird traditionell von Roma und der türkischen Minderheit gespielt. Das bekannteste Saiteninstrument ist die gestrichene Kurzhalslaute "Gadulka". Des Weiteren finden die Langhalslaute "Tambura," das Streichinstrument "Gusle" sowie die Trommeln "Tapan" ("Tupan," verwandt mit der türkischen "Davul") und "Tarambuka" ("Darbuka") in der traditionellen bulgarischen Volksmusik Verwendung. Bekannte bulgarische Sänger sind unter anderem Ari Leschnikow, der von 1928 bis zur Auflösung in den 1930er Jahren den Comedian Harmonists als Tenor angehörte und der Opernsänger Boris Christow, der als einer der weltbesten Bassisten galt. Die gebürtige Bulgarin Wesselina Kassarowa gehört heute zu den gefragtesten Mezzosopranistinnen der Welt. Mit Anna-Maria Ravnopolska-Dean kommt eine der bekanntesten Harfenistinnen der Gegenwart aus Bulgarien. Aber auch die bulgarischen Folklorelieder wurden durch die Sängerinnen von " Le Mystère des Voix Bulgares" und Walja Balkanska weltberühmt. Auch die populäre französische Chanson- und Pop-Sängerin Sylvie Vartan ist eine gebürtige Bulgarin. Die bulgarische Volksmusik verfügt über eine große rhythmische Vielfalt. Ungerade Takte, wie zum Beispiel 5/8, 7/8 und 9/8, machen diese Musik schwierig zu spielen. Viele moderne Musiker in den verschiedensten Genres benutzen Elemente bulgarischer beziehungsweise südosteuropäischer Volksmusik. Literatur. Die Anfänge der bulgarischen Literatur wurden im 8./9. Jahrhundert gelegt. Dabei handelte es sich zunächst um Chroniken, Bau- und Grabinschriften bulgarischer Herrscher und Adligen auf Griechisch, selten aber auch in der Sprache der Urbulgaren. Die "altbulgarische Literatur" wurde in der nach der Christianisierung im 10. Jahrhundert in Bulgarien entstandenen kyrillischen Schrift geschrieben. Die altbulgarische Sprache wurde damit in den beiden Schriftformen des mittelalterlichen Bulgarischen Reiches überliefert, dem älteren glagolitischen und dem jüngeren kyrillischen Alphabet. In Pliska, der Residenz des Fürsten Boris I., im westlich gelegenen Ohrid sowie in Weliki Preslaw, wohin Simeon I. die bulgarische Hauptstadt verlegt hatte, waren einige der Schüler der Slawenapostel Kyrill und Method tätig, darunter Kliment von Ohrid, Konstantin von Preslaw, Ioan Exarch und Tschernorizec Hrabar. Der letzte verfasste das auch in Serbien und Russland bekannte Traktat zur Verteidigung der slawischen Schrift „O Pismenach“ (auf Deutsch "Über die Buchstaben"). Die Regierungszeit von Boris I. und Simeon I. gilt als das „goldene Zeitalter“ der bulgarischen Literatur. Die altbulgarische Literatur und das bulgarische Schrifttum bilden das drittgrößte kulturelle und religiöse Gebiet im mittelalterlichen Europa. Die "Mittelbulgarische Literatur" wiederum wurde in "Mittelbulgarisch" (Kirchenslawisch) verfasst. In dieser Zeit wurden Apokryphen, Lebensbeschreibungen, Geschichtschroniken aus dem Griechischen ins Mittelbulgarische übersetzt. Eine zweite Blütezeit erlebte die bulgarische Literatur während des 13. und 14. Jahrhunderts mit einem in der Nähe von Tarnowo 1350 gegründeten Kloster als Zentrum. Zu dieser Schule zählten unter anderem der Mönch Kiprian, Grigorij Camblak und Konstantin Kostenezki, die nach der Eroberung Bulgariens die formalen Prinzipien der bulgarischen Literatur auch in Gebiete der heutigen Staaten Russland, Rumänien und Serbien brachten. Einige der wichtigsten Autoren während der Zeit der osmanischen Herrschaft waren Wladislaw Gramatik, Païssi von Hilandar, Sophronius von Wraza, die Brüder Miladinowi deren Werke vor allem durch die Suche nach der bulgarischen Identität gekennzeichnet waren. Im 18. Jahrhundert bildeten sich zwei Genres heraus, die Histographie und die Autobiographie. Im Zuge der Bulgarischen Wiedergeburt erreichte die bulgarische Literatur einen weiteren Höhepunkt. Die patriotischen Gedichte der Revolutionäre wie Christo Botew, Ljuben Karawelow und die Werke von Jordan Jowkow und dem Patriarchen der bulgarischen Literatur Iwan Wasow haben die Zeit des Kampfes für ein freies Bulgarien und die Zeit danach maßgeblich geprägt. Die Memoirenliteratur wiederum gelangte in den Werken von Sachari Stojanow und Simeon Radew zu ihrer Blüte. Durch symbolistische Dichter wie Nikolai Liliew, Dimtscho Debeljanow, Pejo Jaworow, Christo Jassenow, Teodor Trajanow oder Nikolai Rainow fand die bulgarische Dichtung Anschluss an die moderne Weltliteratur der Jahrhundertwende. Verstärkt wurde dies vor allem durch das Engagement des Expressionisten und Übersetzers Geo Milew, der jedoch 1925 durch regierungsnahe Kräfte ermordet wurde. Nach Autoren wie Atanas Daltschew, Fani Popowa-Mutafowa, Elin Pelin oder Nikola Wapzarow wird die heutige bulgarische Literatur von Autoren wie Nedjalko Jordanow, Jordan Raditsckow, Nikolai Haitow oder Georgi Markow geprägt. Zu erfolgreichen modernen Autoren zählen unter anderem Alek Popow, Emil Andreew, Christo Karastojanow sowie Georgi Gospodinow, der 2023 den international anerkannten Booker Prize gewann. Folklore und Brauchtum. Eine besondere Rolle in der Kulturgeschichte Bulgariens spielt die Folklore und das Brauchtum, die während der osmanisch-türkischen Herrschaft nicht nur zur Bewahrung der nationalen Identität, sondern auch zu den weiteren Entwicklungen der Kunst und der Literatur beitrug. Eng verbunden mit der damaligen Lebensweise und Kämpfen gegen die Osmanen sind vor allem die Volkslieder (Helden-, Hajduken-, Fest-, Ritual-, Liebes- und epische Lieder), die wegen der Vielfalt der Texte und Rhythmen (ungerade Takte wie zum Beispiel 5/8, 5/16, 7/16 etc.) und der originellen Melodik (dorische, phrygische Tonart, mensurische Metrik etc.) auch heute populär sind. In Bulgarien werden Gruppen- und Solotänze unterschieden ("choro" bzw. "ratscheniza"), die vor allem durch komplizierte Tanzschritte gekennzeichnet sind. Die Tänze werden meist von der Hirtenflöte "Kaval," der Sackpfeife "Gajda," der Zylindertrommel "Tapan" sowie den Streichinstrumenten "Gadulka" und "Gusla" begleitet. Ein beliebter Brauch ist das Verschenken von Martenizas (), kleinen rot-weißen Stoffanhängern oder Armbändern, zum Frühlingsanfang am 1. März. Die Martenizas sollen, damit sie Glück und Gesundheit bringen, getragen werden, bis man den ersten Storch sieht. Dann soll man die Marteniza an einen Zweig (vorzugsweise der Kornelkirsche) binden und sich etwas wünschen. Weiter wird im Südosten Bulgariens, in der Region Strandscha, dem Feuerlauf nachgegangen. Zur bäuerlichen Tradition gehören in den Dürreperioden im späten Frühling und im Sommer zwei Regenriten: German ist eine phallische Puppe, die in Nordbulgarien von Frauen rituell bestattet und beweint wird. Im Osten Bulgariens ziehen Paparuda (Regenmädchen) von Haus zu Haus und singen Regenbittlieder. In allen Regionen sind die Karnevalspiele der Kukeri vertreten, die eine Art Volkstheater darstellen. Sie treten in der Woche vor Beginn der orthodoxen Fastenzeit in Ostbulgarien und zwischen Weihnachten und Dreikönigsfest in Restbulgarien auf. Ähnlich wie in Deutschland während der Karnevalszeit, oder während der Rauhnächte werden Straßentänze und verschiedene Bräuche abgehalten, die symbolisch für die Geisteraustreibung oder -beschwörung, Winteraustreibung, für Fruchtbarkeit, Gesundheit, gute Saat und Ernte und Weiteres stehen. Hochentwickelt war im Mittelalter auch das Kunstgewerbe, das man heute vor allem in den phantasiereichen Nationaltrachten (bunte Stoffe mit Stickereien, schwerer metallener Schmuck, verschiedene Kopfbedeckungen) wiederfindet. Das Interesse für die Folklore und das Brauchtum bestand schon während der nationalen Wiedergeburt. In der Zeit der Herrschaft der Kommunisten wurde die Bewahrung der Tradition durch die Organisation mehrerer Folklore-Festivals, folkloristische Orchester, Tanzensembles, eine Hochschule in Kotel und andere Initiativen gefördert, jedoch gerieten Elemente der Volkskultur (Bräuche, Rituale, Sitten), die in das Gesamtbild der sozialistischen Gesellschaft aus ideologischer Sicht nicht passten, in Vergessenheit (unter anderem das Besuchen der Liturgie zu den kirchlichen Feiertagen, wie Ostern oder Weihnachten). Seit der Demokratisierung wurden jedoch die alten Traditionen neu belebt. In Bulgarien gilt abweichend von der sonst europaweiten üblichen Konvention das Kopfnicken als Verneinung, das Kopfschütteln als Bejahung. Der Sage nach geht dies auf das Verhör eines Freiheitskämpfers zurück, der mit unter dem Kinn gehaltener Schwertspitze gefragt wurde, ob er leben bleiben wolle. Küche. Eine typische bulgarische Mahlzeit beginnt mit einem Schopska-Salat () oder Thrakijska-Salat () zu einem Rakija und im Sommer mit der kalten Suppe Tarator (). Als Hauptgericht gelten die Kebaptscheta () oder ein typischer Festtagslammbraten, das Tschewerme (), Kawarma () sowie andere Grillspeisen. Zum Schluss nimmt man die Baniza () zu sich. In der bulgarischen Küche sind zudem das Bohnenkraut Tschubriza () und die kräftig gewürzte, hauptsächlich aus Paprika- und Tomatenpüree bestehende Ljuteniza () sowie die besonderen Wurstarten Lukanka () und Sucuk () sehr beliebt. Gedenktage. Am 19. Januar 2011 beschloss die bulgarische Regierung, den 1. Februar als Gedenktag für die Opfer des Kommunismus einzuführen. Am 2. Juni wird in ganz Bulgarien durch das Einschalten der Luftsirenen am Mittag um 12:00 Uhr und einer Gedenkminute das Leben und Werk des Freiheitskämpfers Christo Botew geehrt. Ein weiterer Gedenktag ist der 18. Februar, Todestag des Revolutionärs und Ideologen Wassil Lewski. Dabei finden am 19. Februar im ganzen Land Gedenkfeiern mit Blumenniederlegungen und Andachtsgottesdiensten statt. Gesellschaft. Wissenschaft/Erfindungen. Der berühmteste Wissenschaftler bulgarischer Herkunft ist wahrscheinlich der in den USA geborene John Vincent Atanasoff. Er ist der Erfinder des elektronischen digitalen Rechners und lehrte mathematische Physik. Ebenfalls ein berühmter US-amerikanisch-österreichisch-bulgarischer Wissenschaftler ist Carl Djerassi, der auch als der Vater der Antibabypille bezeichnet wird. Homosexualität. Homosexuelle Handlungen wurden 1962 in Bulgarien legalisiert. Durch die Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie der EU werden Lesben und Schwule vor Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt geschützt, gleichgeschlechtliche Partnerschaften werden staatlich jedoch nicht anerkannt. Sport. Vor der Wende war Sport Staatspolitik und viele bulgarische Sportler sorgten weltweit für Aufmerksamkeit. Die größten Erfolge wurden in den Individualsportarten erzielt. Nach dem Fall des Realsozialismus und mit dem Wegfall staatlicher Unterstützung konnten sich nur Sportler beweisen, die äußerst große Talente waren und meist aus Sportlerfamilien kamen. Bekanntes Beispiel sind die Maleeva-Schwestern im Tennis, die alle in den Top-10 gestanden haben und deren letztes Mitglied, Magdalena Maleeva, 2005 zurücktrat. In Bulgarien gibt es eine lange Tradition im Schach, Kraftsport (Ringen, Gewichtheben, Boxen), Volleyball, in der Leichtathletik und in der rhythmischen Sportgymnastik. Der Ringer Nikola Stantschew war der erste bulgarische Olympiasieger. Schach. Bulgarien kann eine lange Tradition im Schachspielen vorweisen. Bulgarien hat seit der Einführung des Großmeistertitels 1970 durch den Weltschachbund FIDE 39 Großmeister hervorgebracht (Stand: September 2012). Dazu gehören der ehemalige Schachweltmeister Wesselin Topalow und die ehemalige Schachweltmeisterin Antoaneta Stefanowa, des Weiteren bekannte Schachspieler wie Iwan Tscheparinow, Julian Radulski, Iwan Radulow, Ljuben Spassow und Kiril Georgiew. Volleyball. Volleyball ist nach Fußball die zweite Ballsportart, die nicht nur in Bulgarien beliebt, sondern in der das Land auch international erfolgreich ist. Die Männermannschaft erreichte zuletzt 2007 den dritten Platz bei der Weltmeisterschaft und nimmt zurzeit (August 2016) den 16. Platz der Volleyball-Weltrangliste ein. Die Frauen erreichten den Gipfel ihrer sportlichen Erfolge mit dem Europatitel im Jahre 1981. Zu den bekanntesten bulgarischen Volleyballspielern zählen Plamen Konstantinow, Daniel Peew, Nikolaj Scheljaskow, Ljubomir Ganew, Martin Stoew, Wladimir Nikolow und Matej Kasijski sowie bei den Frauen Zwetana Boschurina und Jordanka Bontschewa. 2012 erreichte Bulgarien bei den Olympischen Spielen in London den vierten Platz bei den Männern. Fußball. Die bulgarische Fußballnationalmannschaft konnte sich mehrmals für Europa- und Weltmeisterschaften qualifizieren. Derzeitiger Nationaltrainer ist der ehemalige Bundesliga-Profi Krassimir Balakow. Der größte Erfolg des bulgarischen Fußballs war der 4. Platz der Nationalmannschaft bei der Fußball-Weltmeisterschaft 1994 in den USA. Unter den Fußballern der „Goldenen Generation“ ist neben Balakow vor allem der Träger des Ballon d’Or, Christo Stoitschkow zu nennen. Der erfolgreichste bulgarische Verein ist ZSKA Sofia, der zweimal im Halbfinale des Europapokals der Landesmeister stand. Weitere wichtige Fußballvereine sind Lewski Sofia, Slawia Sofia, Lokomotive Sofia und Litex Lowetsch. Meister (2011/12) war Ludogorez Rasgrad. Weitere bekannte bulgarische Fußballspieler sind: Emil Kostadinow, Ljuboslaw Penew, Trifon Iwanow, Jordan Letschkow, Georgi Asparuchow, Dimitar Berbatow, Martin Petrow, Stilian Petrow, Waleri Boschinow. Gewichtheben. Bulgarien hat auch eine lange Tradition im Gewichtheben. Bekannteste Gewichtheber sind Iwan Abadschiew, Norair Nurikjan, Milena Trendafilowa oder Iwan Iwanow. Naim Süleymanoğlu und Halil Mutlu sind bekannte Gewichtheber aus der türkischen Minderheit. Beide wanderten in die Türkei aus. Motorradsport. Die Städte Schumen und Targowischte sind die bulgarischen Speedway-Hochburgen und auf diesen Bahnen wurden bereits seit den 1970er Jahren mehrere Qualifikationsrennen zu Weltmeisterschaften ausgetragen. Der bulgarische Motorsport-Verband ist indes bemüht, das Stadion in Targowischte so zu modernisieren, dass ein Speedway-WM-Grand-Prix von Bulgarien dort ausgefahren werden kann. Special Olympics. Special Olympics Bulgarien wurde 1994 gegründet und nahm mehrmals an Special Olympics Weltspielen teil. Der Verband hat seine Teilnahme an den Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin angekündigt. Die Delegation wird vor den Spielen im Rahmen des "Host Town Programs" von Kiel betreut. Weblinks. – Das Wikipedia-Portal zum Einstieg in weitere Artikel
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B. Traven
B. Traven (* 28. Februar 1882 in Schwiebus; † 26. März 1969 in Mexiko-Stadt) ist das Pseudonym eines deutschen Schriftstellers, dessen Werke mehrfach verfilmt und zu Bestsellern wurden. Die wahre Identität Travens war unter Literaturwissenschaftlern lange Zeit umstritten und ist in der Forschung noch immer nicht allgemein akzeptiert. Als gesichert galt lediglich, dass der Schriftsteller ab 1924 in Mexiko lebte, dem Handlungsschauplatz der meisten seiner Romane und Erzählungen. Anerkannt wurde auch, dass er mit dem Theaterschauspieler und Anarchisten Ret Marut identisch sei, der 1924 ebenfalls nach Mexiko floh. Durch Recherchen des Journalisten Will Wyatt im Jahr 1974 und weitere Nachforschungen des Literaturwissenschaftlers Jan-Christoph Hauschild wurde 2012 bestätigt, dass Traven und Marut Pseudonyme des Maschinenschlossers und Gewerkschaftssekretärs Otto Feige sind, der aus Schwiebus in der preußischen Provinz Brandenburg, heute Świebodzin in Polen, stammte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden auch die beiden Personen Berick Traven Torsvan und Hal Croves mit Traven in Verbindung gebracht. Beide gaben sich als seine literarischen Agenten aus, bestritten aber, hinter dem Pseudonym zu stehen. Traven ist Autor von zwölf Romanen, eines Reiseberichts und vieler Erzählungen, in denen sich das Genre der teils in ironisch-sarkastischem Duktus geschriebenen Abenteuergeschichte mit einer kapitalismuskritischen Haltung verbindet. Dabei werden revolutionär-sozialistische und anarchistische Ansichten Travens deutlich. Zu den bekanntesten Werken Travens gehören die Romane "Das Totenschiff" von 1926, "Der Schatz der Sierra Madre" von 1927 und der sogenannte Caoba-Zyklus, eine Gruppe von sechs Romanen aus den Jahren 1930 bis 1939, deren Handlung kurz vor und während der Mexikanischen Revolution Anfang des 20. Jahrhunderts spielt. Travens Romane und Erzählungen waren schon in der Zwischenkriegszeit erfolgreich und blieben es auch nach dem Zweiten Weltkrieg. Seine Werke wurden in über 24 Sprachen übersetzt und erreichten eine geschätzte Gesamtauflage von über 30 Millionen. Werke. Die Romane. Traven betrat die deutsche literarische Bühne 1925, als die Berliner Tageszeitung "Vorwärts", „Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands“, am 28. Februar 1925 seine Erzählung "Wie Götter entstehen" publizierte. Im Juni und Juli desselben Jahres erschien dort sein erster Roman, "Die Baumwollpflücker". Der Buchmeister-Verlag Berlin/Leipzig, welcher der linken, vom Bildungsverband der deutschen Buchdrucker gegründeten Buchgemeinschaft Büchergilde Gutenberg gehörte, brachte 1926 die erweiterte Buchausgabe des Romans unter dem Titel "Der Wobbly" heraus, in Fußnoten als „Mitglied des I.W.W. = Industrial Workers of the World; eine sehr radikale Arbeiter-Organisation“ erklärt. In späteren Ausgaben kehrte man zu "Die Baumwollpflücker" zurück. Das Buch führte die Figur des Gerald Gales ein (in anderen Werken auch Gale oder Gerard Gales), eines US-amerikanischen Seemanns, der in Mexiko Arbeit in verschiedenen Berufen sucht, oft in zwielichtigem Milieu verkehrt und als Opfer und Zeuge kapitalistischer Ausbeutung den Kampfwillen und die Lebenslust trotzdem nicht verliert. In demselben Jahr 1926 veröffentlichte die Büchergilde Gutenberg, die bis 1939 der Hauptverlag B. Travens blieb, seinen zweiten Roman "Das Totenschiff". Der Held des Romans ist wiederum Gerald Gale, als Seemann, der nach dem Verlust seiner Dokumente und damit seiner Identität das Recht auf ein normales Leben und seine Heimat einbüßt und sich schließlich auf einem „Totenschiff“ wiederfindet, das von den Eignern zum Zweck des Versicherungsbetruges auf hoher See versenkt wird. Der Roman ist eine Anklage gegen die Geldgier der kapitalistischen Arbeitgeber und den Bürokratismus der Beamten, die Gale immer wieder aus den Ländern deportieren, in denen er versucht, Zuflucht zu finden. "Das Totenschiff" kann daher auch als Roman mit autobiografischen Elementen betrachtet werden. Wenn man annimmt, dass B. Traven mit dem Revolutionär Ret Marut identisch ist, sind im Werk deutliche Parallelen sichtbar zwischen dem Schicksal Gales und dem Leben seines heimatlosen Autors, der ebenfalls gezwungen worden sein mag, im Kesselraum eines Dampfers auf der Fahrt aus Europa nach Mexiko zu arbeiten. Der neben "Das Totenschiff" bekannteste Roman B. Travens ist "Der Schatz der Sierra Madre" von 1927. Seine Helden sind eine Gruppe US-amerikanischer Abenteurer und Goldsucher in Mexiko. 1948 wurde das Buch von Hollywood-Regisseur John Huston unter demselben Titel mit großem Erfolg verfilmt. Die Figur des Gerald Gales kehrte im vierten Roman Travens – "Die Brücke im Dschungel" – zurück, der 1927 im "Vorwärts" in Fortsetzungen erschien und 1929 als erweiterte Buchausgabe herausgegeben wurde. Im Roman wurde von Traven zum ersten Mal ausführlich die Situation der in Mexiko lebenden Indigenen und die Unterschiede zwischen der christlichen und der indigenen Kultur in Lateinamerika aufgegriffen, Themen, die auch Travens späteren Caoba-Zyklus dominierten. 1929 veröffentlichte B. Traven seinen umfangreichsten Roman – "Die weiße Rose", eine epische, auf Fakten gestützte Geschichte der Enteignung eines indianischen Stammes durch eine US-amerikanische Erdölfirma. Die 1930er Jahre sind vor allem die Zeit, in der Traven den Caoba-Zyklus schuf. Er besteht aus sechs Romanen, die in der Zeit 1931–1939 herausgegeben wurden: "Der Karren" (auch unter dem Titel "Die Carreta" bekannt, 1931), "Regierung" (1931), "Der Marsch ins Reich der Caoba" (1933), "Die Troza" (1936), "Die Rebellion der Gehenkten" (1936) und "Ein General kommt aus dem Dschungel" (1939). Die Romane beschreiben das Leben der mexikanischen Indigenen, die Anfang des 20. Jahrhunderts im Bundesstaat Chiapas in Zwangsarbeitslagern (sog. "monterías") im Dschungel zur Arbeit beim Mahagoniholzfällen gezwungen sind, was schließlich zur Meuterei und zum Ausbruch der Mexikanischen Revolution führt. Nach der Vollendung des Caoba-Zyklus verstummte B. Traven als Autor größerer literarischer Werke. Es folgten Erzählungen, unter anderem 1950 die Novelle (das mexikanische Märchen) "Macario", die 1953 durch die "New York Times" zur besten Kurzgeschichte des Jahres gekürt wurde. 1960 erschien der letzte Roman Travens, "Aslan Norval", die Geschichte einer US-amerikanischen Millionärin, die mit einem alternden Geschäftsmann verheiratet und gleichzeitig in einen jungen Mann verliebt ist. Sie beabsichtigt, als Alternative zu Atomrüstung und Weltraumexploration einen durch die ganzen Vereinigten Staaten verlaufenden Kanal zu bauen. Die von dem sonstigen Schaffen des Schriftstellers ganz abweichende Thematik und Sprache des Romans bewirkten, dass er lange Zeit von Verlegern abgelehnt wurde. Die Urheberschaft Travens wurde bezweifelt; dem Roman wurde „Pornografie“ und „Trivialität“ vorgeworfen. Das Buch wurde erst nach einer gründlichen stilistischen Bearbeitung durch Johannes Schönherr angenommen, der seine Sprache dem Traven-Stil anpasste. Zweifel hinsichtlich "Aslan Norval" bestehen bis heute und komplizieren die Frage der Identität des Schriftstellers und der tatsächlichen Urheberschaft seiner Bücher zusätzlich. Andere Werke. Travens Erzählwerk ist umfangreich. Außer dem genannten "Macario" bearbeitete der Schriftsteller auch eine indianische Legende von der Entstehung der Sonne und des Mondes aus Chiapas ("Sonnen-Schöpfung", zuerst in tschechischer Übersetzung 1934 herausgegeben, das deutsche Original wurde 1936 veröffentlicht). Der Band "Der Busch" von 1928 versammelte zwölf Erzählungen, 1930 wurde die zweite erweiterte Ausgabe veröffentlicht. Viele Erzählungen und Novellen erschienen zu seinen Lebzeiten nur in Zeitschriften und Anthologien in verschiedenen Sprachen. Eine Sonderstellung im Gesamtwerk Travens nimmt die Reportage Land des Frühlings von 1928 ein. Der Bericht über eine Reise in den mexikanischen Bundesstaat Chiapas bot ihm die Gelegenheit, seine links-anarchistische Weltsicht zu entfalten. Die Büchergilde Gutenberg illustrierte das Buch mit Travens eigenen Fotografien, die anteilig die Landschaft von Chiapas einfingen – vor allem aber deren Bewohner, Angehörige verschiedener Maya-Völker. Aussage der Werke B. Travens. Travens Werke lassen sich wohl am besten als „proletarische Abenteuerromane“ beschreiben. Sie handeln von Seeräubern, Indianern und Gesetzlosen und teilen daher viele Motive mit Autoren wie Karl May oder auch Jack London. Anders jedoch als die meisten Vertreter des Western- oder Abenteuer-Genres zeichnet sich Traven nicht nur durch eine sehr detaillierte Charakterisierung des sozialen Milieus seiner Protagonisten aus, sondern er schrieb seine Bücher vor allem konsequent aus der Perspektive der Unterdrückten und Ausgebeuteten. Seine Figuren stehen am Rande der Gesellschaft, entstammen dem proletarischen und lumpenproletarischen Milieu. Stets mehr Antihelden als Heroen, haben sie dennoch eine urtümliche Lebenskraft, die sie immer wieder zum Aufbegehren zwingt. Die „gerechte Ordnung“ oder die christliche Moral, die in vielen Abenteuerromanen durchscheint, gilt Traven und seinen Helden nichts. Stattdessen steht stets das anarchische Element des Aufbegehrens im Mittelpunkt. Immer erfolgt es aus der unmittelbaren Ablehnung der entwürdigenden Lebensumstände der Helden, stets sind es die Entrechteten selbst, die ihre Befreiung oder aber zumindest eine rebellische Geste vollbringen. Politische Programme kommen nicht vor, das vage anarchistische „¡Tierra y Libertad!“ des Caoba-Zyklus ist wohl noch eines der dezidiertesten Manifeste in Travens Romanen. Berufspolitiker, auch auf Seiten der Linken, kommen bei Traven, falls er sie überhaupt erwähnt, besonders schlecht weg und sind das Ziel diverser Beschimpfungen. Dennoch gelten Travens Romane als politische Bücher. Obwohl er ein positives Programm verweigert, scheut er sich doch niemals, die Ursache des Leidens seiner Protagonisten zu nennen. Dieser Quell von Qual, Entwürdigung, Elend und Tod ist für ihn „Cäsar Augustus Imperator“, wie das Diktat des Kapitals in "Das Totenschiff" genannt wird. Traven gelingt es, seine Kapitalismuskritik ohne belehrenden Zeigefinger zu artikulieren und durch die Anknüpfung an Western- und Seemannsmotive auch tatsächlich das proletarische Zielpublikum zu erreichen. Indem er in seiner Kapitalismuskritik die Unterdrückung und Ausbeutung der mexikanischen Indianer in den Mittelpunkt stellt, erwies er sich mit diesen vor allem im Caoba-Zyklus ausgearbeiteten Motiven als für die 1930er Jahre besonders fortschrittlicher Autor, denn die europäischen Intellektuellen interessierten sich damals noch nicht für die Unterdrückung in Lateinamerika. Erst Travens Bücher machten die Befreiungsversuche der Indigenas in Deutschland bekannt. Das Rätsel der Biografie B. Travens. Traven schickte seine Werke selbst oder durch Vertreter zur Veröffentlichung aus Mexiko nach Europa per Post, als Rückadresse gab er sein Postfach auf einem mexikanischen Postamt an. Als Eigentümer der Urheberrechte stand in seinen Büchern „B. Traven, Tamaulipas, Mexiko“. Weder die europäischen noch die US-amerikanischen Verleger Travens lernten ihn persönlich kennen. Die Personen, mit denen sie über das Herausgeben und dann auch die Verfilmung seiner Bücher verhandelten, behaupteten jedenfalls, sie seien nur Sprecher Travens. Die Identität des Schriftstellers selbst sollte ein Geheimnis bleiben. Diese Verweigerung jeder Auskunft über seine Biografie erklärte B. Traven in den Worten, die eines seiner bekanntesten Zitate wurden: Der rätselhafte Autor erfreute sich schnell großer Popularität (die Brockhaus Enzyklopädie widmete ihm schon 1934 einen Eintrag), und Literaturkritiker, Journalisten und andere versuchten, seine Identität zu ermitteln. Sie stellten dabei mehr oder weniger glaubwürdige, manchmal fantastische Hypothesen auf. Der Regisseur Jürgen Goslar drehte 1967 die fünfteilige Dokumentation "Im Busch von Mexiko – Das Rätsel B. Traven", die allen möglichen Theorien nachging und neben nachgestellten Szenen auch historisches Material benutzte. Die dabei aus dem Off ertönende Stimme Travens war die von Günther Neutze. Biografie bis 1924. Sind die Erkenntnisse von Will Wyatt und Jan-Christoph Hauschild zutreffend, was kaum noch bestritten wird, wurde B. Traven als Herrmann Albert Otto Max Feige am 23. Februar 1882 im brandenburgischen Schwiebus (heute Świebodzin, Polen) geboren. Seine Eltern waren der Töpfer Adolf Feige und die Fabrikarbeiterin Hermine Wienecke. Von 1896 bis 1900 absolvierte er eine Ausbildung zum Maschinenschlosser, von 1901 bis 1903 leistete er seinen Militärdienst in Bückeburg ab, von 1904 bis 1906 arbeitete er in Magdeburg und war dort Kandidat des Metallarbeiterverbands am 21. Mai 1905. Im Sommer 1906 wurde er zum Geschäftsführer der Gelsenkirchener Verwaltungsstelle des Deutschen Metallarbeiterverbands berufen. Im Herbst 1907 kündigte er seine Anstellung und verwandelte sich in den Schauspieler Ret Marut aus San Francisco. Er machte sich dabei den Umstand zunutze, dass bei dem Erdbeben in Kalifornien von 1906 nahezu alle behördlichen Akten und Urkunden vernichtet worden waren; seine Abstammung war damit rätselhaft verschleiert. Dass Traven das genau so strategisch geplant hatte, wurde 1990, 21 Jahre nach Travens (angenommenem) Tod, durch seine Witwe bestätigt. Idar und Crimmitschau waren Stationen seiner Schauspielerkarriere. Der Neue Theater-Almanach, herausgegeben von der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger, verzeichnet Ret Marut im Nachtrag der Ausgabe 1911 bei der Berliner „Neuen Bühne“, einem Tournee-Theater für die Provinzen Pommern, Ost- und Westpreußen, Posen und Schlesien. Marut ist dort in mehreren Funktionen genannt, u. a. als Regisseur und Schauspieler. Bei den Damen findet sich Elfriede Zielke, die 1912 in Danzig beider Tochter Irene zur Welt brachte. Im Jahr 1912 wird Ret Marut als Mitglied des Danziger Stadttheaters aufgeführt als Schauspieler wie als Obmann und Kassierer des Künstlerheims. Als Maruts Wohnadresse in Danzig wird Damm 2 genannt. Im Jahrgang 1913 des Theater-Almanachs wohnt Marut in Düsseldorf in der Friedrichstr. 49 und ist am Schauspielhaus Düsseldorf darstellendes Mitglied. In Düsseldorf wurde die Schauspielschülerin Irene Mermet (1892–1956) aus Köln seine Lebensgefährtin, mit der zusammen er im Herbst 1915 den Schauspielberuf aufgab und nach München übersiedelte. Dort wohnte er in Schwabing in der Clemensstrasse 84. Ab dem Sommer 1917 gab er in München die radikal-soziale Zeitschrift "Der Ziegelbrenner" heraus, die mitten im Krieg für Völkerverständigung und -freundschaft eintrat. Anfang 1917 erschien unter dem Pseudonym Richard Maurhut die Kriegsnovelle "An das Fräulein von S…"; unter dem Titel "Der BLaugetupfte SPerlinG" gab er im Sommer 1918 eine Sammlung seiner Kurzgeschichten heraus. Während der kurzen Zeit der Münchner Räterepublik wurde Marut im Frühjahr 1919 Leiter der Presseabteilung des Zentralrats und war treibende Kraft bei der geplanten Sozialisierung der Presse, außerdem engagierte er sich für den Aufbau revolutionärer Strafgerichte. Als am 1. Mai 1919 Regierungstruppen und Freikorpsverbände mit der Niederschlagung der Räteherrschaft begannen, wurde er als Rädelsführer verhaftet. Kurz vor der Verurteilung durch ein Feldgericht konnte er fliehen und lebte seitdem mit wechselnden Stationen im Untergrund. Irene Mermet gelang 1923 die Einwanderung in die USA, Maruts gleichzeitiger Versuch über Kanada scheiterte dagegen an seinem fehlenden Visum, Mermet heiratete später den Juristen John Hanna und hielt sich über ihre Vergangenheit bedeckt. Ende 1923 wurde er in London vorübergehend in Abschiebehaft genommen. Im Sommer 1924 gelang ihm die Einreise in Mexiko; sechs Jahre später wurde er dort als US-amerikanischer Staatsbürger Traven Torsvan offiziell registriert. Rückblick auf die biografische Forschung. Die Ret-Marut-Hypothese. Die erste Hypothese über die Identität B. Travens wurde von dem Anarchisten und Schriftsteller Erich Mühsam aufgestellt, der hinter diesem Pseudonym den Schauspieler und Journalisten Ret Marut vermutete. Dieser Marut, angeblich US-amerikanischer Staatsbürger aus San Francisco, trat seit Ende 1907 auf Theaterbühnen unter anderem in Idar, Suhl, Crimmitschau, Danzig und Düsseldorf auf, sporadisch arbeitete er auch als Regisseur und veröffentlichte Kurzgeschichten. Im Ersten Weltkrieg begann er, sich auch politisch zu engagieren: von 1917 bis 1921 gab er die Zeitschrift "Der Ziegelbrenner" mit einem deutlich anarchistischen Profil heraus. Als in München im April 1919 die Bayerische Räterepublik ausgerufen worden war, wurde Marut zum Leiter der Presseabteilung des Zentralrats der Räterepublik und Mitglied des Propagandaausschusses ernannt. Er lernte so Erich Mühsam kennen, mit dem er sich anfreundete. Nach dem Sturz der Bayerischen Räterepublik wurde Marut am 1. Mai 1919 verhaftet. Es gelang ihm aber zu fliehen und einer standgerichtlichen Verurteilung zu entgehen. 1924 verschwand er spurlos. Von der bayerischen Polizei wurde Ret Marut seit 1919 steckbrieflich gesucht. Als die ersten Romane B. Travens erschienen, kam Mühsam aufgrund sprachlicher und inhaltlicher Parallelen mit den ihm bekannten Schriften Maruts zu der Schlussfolgerung, ihr Autor müsse dieselbe Person sein. Unter dem Titel "Wo ist der Ziegelbrenner" veröffentlichte Mühsam 1927 in seiner Zeitschrift Fanal einen Aufruf an Marut, an die Öffentlichkeit zu treten und über das Geschehen in München aus erster Hand zu berichten. Gleichzeitig erging die Bitte, den Aufruf an Marut weiterzuleiten, sofern sein Verbleib einem Leser bekannt ist. In ausführlicher Form wurde die Ret-Marut-Hypothese erstmals 1966 von Rolf Recknagel, einem DDR-Literaturwissenschaftler, in seiner Traven-Biografie dargestellt. Die Hypothese wird heute weitgehend akzeptiert. Recherchen zu Otto Feige. Es war lange Zeit nicht klar, wie der ehemalige Schauspieler und Anarchist Ret Marut nach Mexiko gelangte, auch über seine frühen Lebensjahre wusste man nichts. Ende der 1970er-Jahre nahmen sich zwei BBC-Journalisten, Will Wyatt und Robert Robinson, dieser Frage an. Die Ergebnisse ihrer Ermittlungen veröffentlichten sie in einem Dokumentarfilm, der im britischen Fernsehen am 19. Dezember 1978 ausgestrahlt wurde, sowie in Wyatts Buch "The man who was B. Traven". Die Journalisten machten im State Department in den USA und im Foreign Office in Großbritannien die Akten Ret Maruts ausfindig und entdeckten, dass Marut 1923 versuchte, aus Europa über England nach Kanada zu gelangen. Er wurde jedoch zurückgeschickt und dann am 30. November 1923 durch die britische Polizei verhaftet und als Ausländer ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung ins Londoner Gefängnis Brixton gebracht. Beim Verhör durch die Londoner Polizei sagte Marut aus, dass sein echter Name Hermann Otto Albert Maximilian Feige sei und dass er am 23. Februar 1882 in Schwiebus (heute Świebodzin, Polen) geboren sei. Wyatt und Robinson stellten bei den polnischen Archiven Recherchen an und bestätigten die Echtheit dieser Behauptungen: Es stimmen sowohl das Geburtsdatum und der Geburtsort als auch die Vornamen der Eltern, die von Marut angegeben wurden. Die britischen Journalisten stellten auch fest, dass Otto Feige um 1904/1905 spurlos verschwand. Seither hat der Literaturwissenschaftler Jan-Christoph Hauschild im Rahmen von zwei sechsmonatigen Arbeitsstipendien der Kunststiftung NRW die Ergebnisse von Will Wyatt bestätigt und darüber hinaus den weiteren Lebensweg von Otto Feige nach 1904 nachgezeichnet. Diese Ergebnisse lassen keine Zweifel mehr an der Identität zu. Ret Marut blieb bis zum 15. Februar 1924 inhaftiert. Nach seiner Entlassung meldete er sich beim Konsulat der USA mit der Bitte um Bestätigung seiner US-amerikanischen Staatsbürgerschaft. Er behauptete, dass er 1882 in San Francisco geboren wurde, im Alter von 10 Jahren als Schiffsjunge angemustert habe und seitdem in der ganzen Welt gereist sei, aber jetzt seine rechtliche Lage regeln wolle. Auch früher, noch in Deutschland, hatte sich Marut dreimal um die US-amerikanische Staatsangehörigkeit bemüht und dabei den Geburtsort San Francisco angegeben, den 25. Februar 1882 und die Eltern William Marut und Helena Marut geb. Ottarent. Die Beamten im Konsulat schenkten dieser Geschichte keinen Glauben, zumal sie von der Londoner Polizei auch die zweite Version des Lebenslaufs Maruts erhalten hatten. Da allgemein bekannt war, dass das große Erdbeben von 1906 die Geburtsurkunden vernichtet hatte, war San Francisco eine beliebte Adresse für falsche Geburtsangaben. Die Hypothese, dass B. Traven mit Ret Marut und Otto Feige identisch ist, wird von sehr vielen, aber nicht allen Forschern akzeptiert. Wenn aber Marut nicht Feige war, ist es schwierig zu erklären, woher er die Einzelheiten seiner Geburt, einschließlich des Geburtsnamens seiner Mutter, kannte. Ankunft in Mexiko. Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis in London gelangte Ret Marut nach Mexiko. Die Umstände dieser Reise sind aber unklar. Nach Rosa Elena Luján, der Witwe von Traven Torsvan, der von vielen Forschern mit B. Traven identifiziert wird (siehe unten), habe ihr Mann nach der Entlassung aus dem Gefängnis als Matrose auf einem „Totenschiff“ (ein schrottreifer Kahn, meist mit vorbestraften Seeleuten bestückt, die anderswo keine Heuer bekamen und deswegen billig waren und keine Fragen stellten) angemustert und sei nach Norwegen gefahren, von dort aus mit einem anderen Seelenverkäufer nach Afrika, und endlich sei er im Sommer 1924 an Bord eines niederländischen Dampfers in Tampico am Golf von Mexiko angekommen. Diese Behauptungen können zum Teil durch erhaltene Dokumente bestätigt werden. Der Name Marut steht auf der Liste der Besatzungsmitglieder des norwegischen Dampfers „Hegre“, der am 19. April 1924 von London auf die Kanarischen Inseln auslief. Der Name ist auf dieser Liste allerdings gestrichen, was suggeriert, dass Marut an der Fahrt schließlich doch nicht teilnahm. Nach der Revolution war Mexiko ein Zufluchtsort für viele US-amerikanische "Wobblies", Sozialisten und Kriegsdienstverweigerer, als die Vereinigten Staaten 1917 in den Ersten Weltkrieg eintraten. Einer der führenden Aktivisten in diesem Milieu war Linn A. E. Gale. Noch in New York begann er die Zeitschrift "Gale's International Monthly for Revolutionary Communism" zu veröffentlichen, die ab Oktober 1918 in Mexiko-Stadt publiziert wurde. Ab 1918 war auch die mexikanische Sektion der anarchosyndikalistischen Organisation Industrial Workers of the World tätig. Dies war gewiss ein günstiges Milieu für einen Flüchtling und Anarchisten aus Europa (oder den USA). Vielleicht kannte Marut Linn Gales Publikation, das mag zu dem Namen „Gerald Gale“ für den Helden vieler Romane Travens, einschließlich "Die Baumwollpflücker" ("Der Wobbly") und "Das Totenschiff", geführt haben. Aus den erhaltenen Notizen B. Travens ergibt sich allerdings nicht, dass er auch unter schwierigen Bedingungen als Tagelöhner auf Baumwollfeldern und Erdölfeldern arbeiten musste. Zur Lösung dieses Widerspruchs schlug der schweizerische Forscher Max Schmid in einer Reihe von acht Artikeln "Der geheimnisvolle B. Traven", die vom 2. November 1963 bis zum 4. Januar 1964 unter dem Pseudonym Gerard Gale in der Samstagsausgabe des Zürcher "Tages-Anzeigers" erschien, die sogenannte „Erlebnisträger-Hypothese“ vor. Ret Marut sei um 1922/1923 aus Europa nach Mexiko gekommen und dort einem US-amerikanischen Tramp (vom Typ „Gerald Gales“) begegnet, der Erzählungen über seine Erlebnisse geschrieben habe. Marut habe die Manuskripte von ihm erschlichen, ins Deutsche übersetzt, Elemente seiner anarchistischen Weltanschauung hinzugefügt und sie unter dem Pseudonym B. Traven deutschen Verlegern als eigene präsentiert. Schmids Hypothese hat sowohl Anhänger als auch Gegner, zurzeit scheint ihre Verifizierung unmöglich zu sein. Jedenfalls war B. Travens (Ret Maruts?) Leben in Mexiko nicht weniger rätselhaft als sein Schicksal in Europa. Hypothese zu Traven Torsvan. Die Forschung identifiziert Traven mit jemandem, der sich Torsvan nannte. Von ihm ist bekannt, dass er 1924 nördlich von Tampico ein Holzhaus mietete und bis 1931 dort oft verweilte und arbeitete. Seit 1930 wohnte er zwei Jahrzehnte lang in einem kleinen Haus mit Gastwirtschaft am Stadtrand von Acapulco, von wo er seine Reisen in Mexiko antrat. 1926 nahm Torsvan als Fotograf neben dem Soziologen Frank Tannenbaum, dem Archäologen Hermann Beyer und dem Entomologen Alfonso Dampf an der dreißig Mann starken Expedition unter Enrique Juan Palacios Mendoza (1881–1953) im Bundesstaat Chiapas teil; von dieser Forschungsreise stammt eines der wenigen Fotos von "Traven Torsvan" (mit Tropenhelm). Nach Chiapas und in andere Regionen Mexikos reiste er auch später oft, er suchte Material für seine Bücher und interessierte sich sehr für die Kultur und Geschichte Mexikos. 1927 und 1928 besuchte er an der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM) Sprachkurse in Spanisch und in Indianersprachen, wie dem Nahuatl der Azteken, und nahm an Vorlesungen über die Geschichte der lateinamerikanischen Literatur und der Geschichte Mexikos teil. 1930 erhielt Torsvan eine offizielle Ausländerkarte, in der er als US-amerikanischer Ingenieur Traven Torsvan bezeichnet wurde. In vielen Quellen erscheint noch ein anderer Vorname Torsvans: Berick oder Berwick. Auch B. Traven liebte es, sich als US-Amerikaner auszugeben. 1933 schickte der Schriftsteller dem New Yorker Verlag Alfred A. Knopf englische Manuskripte seiner Romane "Das Totenschiff", "Der Schatz der Sierra Madre" und "Die Brücke im Dschungel" und gab an, dass dies die Originale und die früher herausgegebenen deutschen Versionen nur ihre Übersetzungen seien. Knopf gab "Das Totenschiff" unter dem Titel "The Death Ship" 1934 heraus, danach wurden in den Vereinigten Staaten und Großbritannien auch andere Bücher Travens publiziert. Ein Vergleich der deutschen und englischen Versionen dieser Bücher zeigt große Unterschiede. Die englischen Texte sind in der Regel länger, in beiden Versionen gibt es Teile, die in der anderen Version fehlen. Der Lektor bei Knopf stöhnte über die vielen Germanismen, aber die deutschen Bücher enthalten umgekehrt Anglizismen. B. Travens Werke erfreuten sich auch in Mexiko immer größerer Beliebtheit. Dazu trug Esperanza López Mateos viel bei, die Schwester des späteren Präsidenten Mexikos Adolfo López Mateos, die seit 1941 acht Bücher Travens ins Spanische übersetzte und später auch seine Bevollmächtigte in Kontakten mit den Verlegern und die Eigentümerin der Urheberrechte war. Verfilmung von "Der Schatz der Sierra Madre", Hypothese zu Hal Croves. Auf Grund des Erfolgs der englischen Ausgabe von "Der Schatz der Sierra Madre", die 1935 von Knopf herausgegeben wurde, erwarb die Filmgesellschaft Warner Bros. 1941 die Filmrechte für den Roman. Mit seiner Verfilmung wurde der Regisseur John Huston beauftragt. Der japanische Angriff auf Pearl Harbor unterbrach die Arbeiten an dem Film, die erst nach dem Kriege wieder aufgenommen wurden. 1946 verabredete Huston ein Treffen mit B. Traven im Hotel Bamer in der Hauptstadt Mexikos, um die Einzelheiten der Verfilmung zu besprechen. Statt des Schriftstellers erschien ein unbekannter Mann, der sich als Hal Croves, Übersetzer aus Acapulco und San Antonio, vorstellte, und zeigte die angebliche Vollmacht von B. Traven, in der der Schriftsteller ihn zu allen Entscheidungen in seinem Namen bevollmächtigte. Croves war anstatt des Schriftstellers auch beim nächsten Treffen in Acapulco und dann, als technischer Berater, die ganze Zeit am Drehort des Films während seiner Realisierung in Mexiko im Jahr 1947 anwesend. Dieses rätselhafte Verhalten des Schriftstellers und seines angeblichen Agenten bewirkte, dass schon beim Drehen des Films ein großer Teil des Teams überzeugt war, dass Hal Croves in Wirklichkeit B. Traven selbst in Verkleidung sei. Als der Film (mit Humphrey Bogart und Walter Huston in den Hauptrollen) nach seiner Premiere am 23. Januar 1948 zum Kassenerfolg wurde und drei Oscars erhielt, brach in den Vereinigten Staaten ein wahres Traven-Fieber aus, in großem Maße aus Marketinggründen durch die Filmgesellschaft Warner Bros. selbst geschürt. Die US-amerikanischen Medien berichteten aufgeregt von einem geheimnisvollen Autor, der inkognito an der Realisierung des Films auf der Grundlage seines Romans teilgenommen haben soll. In vielen Biografien B. Travens wird die These wiederholt, dass auch der Regisseur John Huston von Anfang an überzeugt war, dass Hal Croves B. Traven sei. Das entspricht nicht der Wahrheit. Schon 1948 bestritt Huston, Croves mit Traven zu identifizieren. Auch in seiner Autobiografie, die 1980 verlegt wurde, schrieb Huston, dass er anfänglich noch die Möglichkeit zugelassen habe, Croves möge Traven sein, nach der Beobachtung seines Verhaltens sei er aber zu dem Schluss gekommen, dass dem nicht so sei. Nach den Äußerungen Hustons habe Hal Croves aber bei der Realisierung des Films "Der Schatz der Sierra Madre" ein Doppelspiel getrieben. Von den Mitgliedern des Teams gefragt, ob er Traven sei, habe er das verneint, er habe sich aber so verhalten, dass die Fragenden zu dem Schluss gekommen seien, dass er und B. Traven doch dieselbe Person seien. Die „Enthüllung“ und das Verschwinden Torsvans. Der Medienrummel, der die Premiere des Films "Der Schatz der Sierra Madre" begleitete, und die Aura eines Geheimnisses, von der der Autor des literarischen Originals umgeben war (es kursierten sogar Gerüchte, dass das Magazin „Life“ einen Preis von fünftausend Dollar für die Auffindung des B. Traven aussetzte), bewirkten, dass der mexikanische Journalist Luis Spota beschloss, Hal Croves, der nach der Beendigung der Filmaufnahmen im Sommer 1947 verschwunden war, wieder aufzufinden. Dank der Informationen, die er von der Banco de México erhielt, machte Spota im Juli 1948 einen Mann ausfindig, der unter dem Namen Traven Torsvan bei Acapulco wohnte. Offiziell betrieb er dort eine Gaststätte, sein schäbiges Lokal hatte jedoch nicht viele Kunden; Torsvan selbst war ein Einzelgänger, den seine Nachbarn "El Gringo" nannten, was in lateinamerikanischen Ländern eine übliche Bezeichnung für einen US-Amerikaner ist. Bei den Recherchen in amtlichen Archiven entdeckte Spota, dass Torsvan 1930 in Mexiko eine Ausländerkarte und 1942 einen Personalausweis erhalten hatte; in beiden Dokumenten war als sein Geburtsdatum 5. März 1890 und als Geburtsort Chicago angegeben. Nach Mexiko sollte Torsvan von den USA 1914 gekommen sein und die Grenze in Ciudad Juárez überschritten haben. Teilweise mit unsauberen Methoden (Spota bestach den Briefträger, der Torsvan Briefe zustellte), entdeckte der Journalist, dass Torsvan von einem gewissen Josef Wieder aus Zürich Honorare auf den Namen B. Traven erhielt, auf seinem Schreibtisch fand er auch ein Buchpaket vom US-amerikanischen Schriftsteller Upton Sinclair, das an B. Traven, p. A. Esperanza López Mateos, adressiert war. Als Spota Torsvan direkt fragte, ob er, Hal Croves und B. Traven ein und dieselbe Person seien, verneinte dieser die Frage aufgeregt, nach Meinung des Journalisten wurde Torsvan jedoch durch die Fragen völlig unsicher und gab schließlich indirekt zu, er sei B. Traven. Die Ergebnisse seiner Erforschungen publizierte Spota in einem langen Artikel bei der Zeitschrift "Mañana" vom 7. August 1948; am 14. August erschien bei der Zeitschrift "Hoy" das Dementi Torsvans. Bald danach verschwand Torsvan, wie bereits zuvor Hal Croves. Die einzige Information, die aus späteren Jahren über ihn erhalten blieb, ist, dass er am 3. September 1951 die mexikanische Staatsbürgerschaft erhalten haben soll. B. Travens Agenten. "BT-Mitteilungen". Die schon erwähnte Übersetzerin Esperanza López Mateos arbeitete mit B. Traven wenigstens seit 1941 zusammen, als sie seinen ersten Roman "Die Brücke im Dschungel" ins Spanische übertrug (später übertrug sie auch sieben andere Romane des Schriftstellers). Esperanza, die Schwester des künftigen Präsidenten Mexikos Adolfo López Mateos, spielte in Travens Leben eine immer größere Rolle. 1947 reiste sie nach Europa, um ihn gegenüber seinen Verlegern zu repräsentieren, schließlich war sie seit 1948, immer zusammen mit Josef Wieder aus Zürich, in Travens Büchern als Eigentümerin der Urheberrechte eingetragen. Josef Wieder arbeitete als Mitarbeiter der Büchergilde Gutenberg schon seit 1933 mit dem Schriftsteller zusammen. In diesem Jahr wurde die Berliner Büchergilde Gutenberg, der bisherige Verleger B. Travens, nach der Machtergreifung von Adolf Hitler von den Nationalsozialisten geschlossen (Travens Bücher waren in den Jahren 1933–1945 in Deutschland verboten). Der Autor übertrug die Rechte an seinen Büchern auf die Exilfiliale der Büchergilde in Zürich, wohin die Verleger emigriert waren. Im Jahr 1939 verzichtete Traven auf die weitere Zusammenarbeit mit der Büchergilde; seitdem fungierte Josef Wieder als sein Vertreter, der ehemalige Mitarbeiter des Verlags, der den Schriftsteller jedoch nie persönlich kennenlernte. Esperanza López Mateos beging 1951 Selbstmord; ihre Rechtsnachfolgerin wurde Rosa Elena Luján, die künftige Frau von Hal Croves. Im Januar 1951 begannen Josef Wieder und Esperanza López Mateos (und nach ihrem Tode Rosa Elena Luján), in Zürich auf einem Hektographen das Periodikum „BT-Mitteilungen“ (B. Traven Mitteilungen) herauszugeben, das Werbung für Travens Schaffen machen sollte und das bis zum Tode Wieders im Jahr 1960 erschien. Nach der Meinung von Tapio Helen nutzte diese Publikation zum Teil vulgäre Methoden und veröffentlichte oft evidente Fälschungen, wie bei dem Preis, der durch das Magazin „Life“ ausgesetzt werden sollte, als bereits bekannt war, dass dieser Preis nur ein Marketingkniff war. Im Juni 1952 veröffentlichte diese Zeitschrift die „authentische Biografie“ Travens, nach der der Schriftsteller im Mittleren Westen der USA in einer Familie von Emigranten aus Skandinavien geboren wurde, niemals in seinem Leben die Schule besuchte, vom 7. Lebensjahr an seinen Unterhalt verdienen musste und im Alter von 10 Jahren als Schiffsjunge an Bord eines niederländischen Dampfers nach Mexiko kam. Es wurde auch die oft präsentierte These wiederholt, dass B. Travens Bücher ursprünglich in englischer Sprache geschrieben und erst danach von einem schweizerischen Übersetzer ins Deutsche übersetzt wurden. Rückkehr von Hal Croves. Inzwischen tauchte Hal Croves, der nach den Dreharbeiten zu dem Film "Der Schatz der Sierra Madre" verschwunden war, auf der literarischen Bühne in Acapulco wieder auf. Er trat als Schriftsteller und Agent von B. Traven auf, in dessen Namen er mit Verlegern und Filmgesellschaften über die Ausgaben und Verfilmungen seiner Bücher verhandelte. Seit 1952 war Rosa Elena Luján die Sekretärin von Croves; am 16. Mai 1957 ließen sich beide in San Antonio in Texas trauen. Nach der Trauung zogen sie nach Mexiko-Stadt um, wo sie die „R. E. Luján Literary Agency“ betrieben. Nach dem Tode Josef Wieders im Jahr 1960 war Rosa die alleinige Eigentümerin der Rechte an Travens Büchern. Im Oktober 1959 besuchten Hal Croves und Rosa Elena Luján Deutschland anlässlich der Premiere des Films "Das Totenschiff", der nach dem gleichnamigen Roman Travens gedreht wurde. Die Reporter versuchten, Croves das Geständnis zu entlocken, dass er Traven sei, jedoch ohne Ergebnis. Solche Versuche waren auch später, in den 1960er Jahren, erfolglos. Journalisten versuchten vielmals, in das Haus von Croves in Mexiko zu gelangen, nur wenige wurden aber von Rosa zu ihm vorgelassen, die die Privatsphäre ihres schon sehr betagten, halbblinden und halbtauben Mannes schützte; die Artikel und Interviews mit ihm mussten auch immer von seiner Frau autorisiert werden. Auf die Fragen der Journalisten, ob er Traven sei, antwortete Croves mit Nein beziehungsweise wich der Frage aus und wiederholte Travens Satz aus den 1920er Jahren, dass das Werk und nicht der Mensch wichtig sei. Tod von Hal Croves. Lösung des Rätsels? Hal Croves starb am 26. März 1969 in Mexiko-Stadt. An demselben Tag erklärte seine Witwe, Rosa Elena Luján, auf einer Pressekonferenz, dass der echte Name ihres Ehemannes Traven Torsvan gewesen sei, dass ihr Mann am 3. Mai 1890 in Chicago als Sohn von Burton Torsvan, norwegischer Abstammung, und Dorothy Croves, angelsächsischer Abstammung, geboren wurde, und dass er in seinem Leben auch die Pseudonyme B. Traven und Hal Croves benutzt habe. Diese Informationen las sie direkt aus dem Testament ihres Ehemannes vor, welches er am 4. März 1969, drei Wochen vor seinem Tod, aufgesetzt hatte. Auch die Todesurkunde wurde auf den Namen Traven Torsvan Croves ausgestellt; die Asche des Schriftstellers wurde nach der Einäscherung von einem Flugzeug über dem Dschungel im Bundesstaat Chiapas zerstreut. Dies schien die endgültige Lösung des Rätsels der Biografie des Schriftstellers zu sein – B. Traven erwies sich, wie er immer selbst behauptet hatte, als US-Amerikaner, und nicht als der Deutsche Ret Marut. Diese Lösung war aber nur scheinbar. Einige Zeit nach dem Tod von Croves gab seine Witwe eine weitere Presseerklärung ab, in der sie mitteilte, dass ihr Mann sie ermächtigt habe, die ganze Geschichte seines Lebens darzustellen – auch jene, die er in seinem Testament verschwiegen habe. Sie erklärte, dass Croves in seiner Jugend ein deutscher Revolutionär namens Ret Marut gewesen sei, was sowohl die Befürworter der Theorie seiner US-amerikanischen Abstammung als auch diejenigen versöhnte, die glaubten, Traven sei Deutscher. Im Interview mit der "International Herald Tribune" vom 8. April 1969 präzisierte Rosa Elena Luján diese Informationen und erklärte, dass die Eltern ihres Mannes einige Zeit nach der Geburt ihres Sohnes aus den Vereinigten Staaten nach Deutschland übergesiedelt seien. Dort habe ihr Mann Erfolg mit dem Roman "Das Totenschiff" gehabt und sei danach zum ersten Mal nach Mexiko gereist, dann jedoch nach Deutschland zurückgekehrt, um während des Ersten Weltkriegs eine Antikriegszeitschrift zu redigieren, in einem Land, in dem „der Nazismus an Stärke zunahm“. Daraufhin sei er zum Tode verurteilt worden, es sei ihm aber gelungen zu flüchten und nach Mexiko zurückzukehren. Das Interview mit Luján gibt Anlass zu Zweifeln, vor allem aufgrund der Fehler in der Chronologie – "Das Totenschiff" erschien erst 1926, lange nach dem Ersten Weltkrieg. Andererseits scheint das umfangreiche Archiv des verstorbenen Hal Croves die Hypothese von der deutschen Abstammung B. Travens zu bestätigen. Dieses Archiv stellte Croves Witwe bis zu ihrem Tod im Jahr 2009 nur wenigen Literaturwissenschaftlern zur Verfügung – 1976 recherchierte darin Rolf Recknagel, der einiges daraus an sich nahm, und 1982 Karl Guthke. Die Materialien enthalten Eisenbahnfahrkarten und Banknoten aus verschiedenen Ländern Mittelosteuropas, die Andenken an Ret Maruts Flucht aus Deutschland nach der gescheiterten Revolution in Bayern im Jahr 1919 sein könnten. Ein sehr interessantes Dokument ist ein kleines Notizbuch mit Eintragungen in englischer Sprache. Die erste Eintragung stammt vom 11. Juli 1924, und unter dem Datum 26. Juli wurde im Notizbuch festgehalten: “The Bavarian of Munich is dead” („Der Bayer aus München ist tot“). Der Schriftsteller mag diese Aufzeichnungen nach seiner Ankunft aus Europa in Mexiko begonnen haben, und die Notiz könnte Ausdruck des Bruchs mit seiner europäischen Vergangenheit und des Beginns einer neuen Existenz als B. Traven sein. B. Traven ist Moritz Rathenau, der Halbbruder Walther Rathenaus? Anlässlich des 100. Gedenktags zum Ende der Münchner Räterepublik wandte sich Timothy Heymann, der Ehemann von B. Travens Stieftochter Malú Montes de Oca und Nachlassverwalter B. Travens in einem Artikel in der mexikanischen Zeitschrift "Letras libres" an die Öffentlichkeit, um eine plausible, aber bisher wenig beachtete Theorie erneut ins Spiel zu bringen, wonach B. Traven der uneheliche Sohn des AEG-Gründers Emil Rathenau und damit der Halbbruder des Politikers Walter Rathenau sei. B. Travens richtiger Name sei Moritz Rathenau. Diese Information geht auf die Übersetzerin Esperanza López Mateos zurück, die in einem engen Verhältnis zu B. Traven stand und die den Schriftsteller mit „Mauricio“ ansprach. Sie hatte 1947 – vier Jahre vor ihrem Tod – dem mexikanischen Kameramann Gabriel Figueroa, ihrem Schwager, die wahre Identität enthüllt. Der schwieg jedoch bis 1990. Dann gab er den Namen in einem Artikel in der französischen Tageszeitung "Libération" preis. Figueroa gab weiter an, dass Travens Mutter die irische Schauspielerin Helen Mareck sei, was auch erklären würde, weshalb Traven so gut Englisch beherrschte, ebenso wie dessen Nähe zum Theater. Der Traven-Kenner Karl S. Guthke setzte sich in der Folge in den Schweizer Monatsheften mit dieser Theorie auseinander. Guthke kam zum Schluss, dass die These im Moment zwar nicht beweisbar sei, dass aber viel für sie spräche: „Vertrauenserweckend ist an der Geschichte (…) prinzipiell, dass sie von Esperanza ausgeht und zum anderen, dass es sich um eine entschieden unromantische Identifizierung handelt.“ Dass Traven also nicht, wie andere Herkunftshypothesen unterstellen, Sohn eines Fischers, eines Farmers oder eines Theaterimpresarios sei. Weiter weist Guthke darauf hin, dass Ret Marut ein Anagramm von Moritz Rathenau sei. Emil Rathenaus zweiter Vorname sei Moritz gewesen, auch der Großvater hatte Moritz geheißen. Die Ehe Emil Rathenaus sei nicht sehr glücklich gewesen, er habe sowohl das Theater, als auch Frauen geliebt. Als dritten Punkt nennt Guthke die Tatsache, dass Ret Marut wiederholt angedeutet hatte, auf Theatergagen nicht angewiesen zu sein, auch der „Ziegelbrenner“ könne kaum etwas eingebracht haben. Vieles mache, wenn man davon ausgeht, dass B. Traven Moritz Rathenau ist, Sinn. So sei er in vielem der Widerpart zu seinem Halbbruder gewesen. Traven war Pazifist, der Politiker Walter Rathenau trug Verantwortung für die Kriegsrüstung im Ersten Weltkrieg. Verständlich wäre auch Travens Solidarität mit dem Proletariat in Opposition zur großindustriellen Verwandtschaft, der er, als illegitimer Sohn nicht zugehören durfte. Die Verifizierung seitens der Familie Rathenau sei wohl nicht möglich, führt Guthke 1990 an, da die Hinterlassenschaften Emil Rathenaus 1943 verbrannt seien. Und Walter Rathenaus Nachlass sei verschollen. Seit Guthkes Aufsatz sind knapp 30 Jahre vergangen. Inzwischen hat sich herausgestellt, dass der seit 1939 verschwundene Nachlass Walter Rathenaus in der Folge von 1989 wieder aufgetaucht ist. Er lag in einem bis 1990 geheimgehaltenen Archiv in Moskau und ist nun bei der Walther-Rathenau-Gesellschaft einsehbar. Auch die Suche nach der Mutter Helen Mareck dürfte heute, da man Ahnenforschung problemlos im Internet betreiben kann, nicht ganz aussichtslos sein. Andere Hypothesen. Die oben dargestellten Hypothesen, die B. Traven mit Hal Croves, Traven Torsvan, Ret Marut und eventuell Otto Feige identifizieren, sind nicht die einzigen, die seit Mitte der 1920er Jahre auftauchten. Manche haben bestimmte wissenschaftliche Grundlagen, andere sind ganz der Phantasie entsprungen oder erscheinen gar schlichtweg unglaubwürdig. Im Folgenden werden einige der häufigsten, außer den schon genannten Hypothesen, zusammengestellt:
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Bengalische Sprache
Die bengalische Sprache, auch Bengali (Eigenbezeichnung "" []), gehört zum indoarischen Zweig der indoiranischen Untergruppe der indogermanischen Sprachen. Bengalisch wird von über 200 Millionen Menschen, hauptsächlich in Bangladesch und Indien (Bundesstaat Westbengalen), als Muttersprache gesprochen. Damit gehört das Bengalische zu den meistgesprochenen Sprachen der Welt. Verbreitung und Sprecherzahl. Bengalisch wird in der Region Bengalen im Osten des indischen Subkontinents sowie in der weltweiten Diaspora gesprochen. Es ist die Hauptsprache Bangladeschs und des indischen Bundesstaates Westbengalen. In Bangladesch sprechen laut der Volkszählung 2011 rund 108 Millionen Menschen Bengalisch als Muttersprache. Dies entspricht fast 99 Prozent der Gesamtbevölkerung. In Indien wird Bengali laut der dortigen Volkszählung 2011 von 97 Millionen Menschen als Muttersprache gesprochen. Damit ist das Bengalische die Sprache mit den zweitmeisten Sprechern in Indien; nur Hindi hat mehr. In den Bundesstaaten Westbengalen und Tripura stellen Bengalisch-Sprecher die Bevölkerungsmehrheit. Größere bengalischsprachige Minderheiten gibt es auch in den Bundesstaaten Assam, Jharkhand, Bihar und Odisha. Größere Gruppen von Bengalisch-Sprechern in der Diaspora finden unter anderem in den Vereinigten Staaten (260.000), im Vereinigten Königreich (220.000 allein in England und Wales) sowie in den Golfstaaten. Das Bengalische dient in Bangladesch und in den indischen Bundesstaaten Westbengalen und Tripura als Amtssprache. Auf überregionaler Ebene ist es in Indien als eine von 22 Verfassungssprachen anerkannt. Schrift. Bengalisch wird in einer eigenen Schrift geschrieben. Es handelt sich dabei um eine Brahmi-Schrift, die mit der Devanagari, mit der unter anderem Hindi und Sanskrit geschrieben werden, verwandt ist. Das Alphabet besteht aus elf Vokalen und 36 Konsonanten. Neben zehn Vokalkurzzeichen, die in silbischen Verbindungen den dem Konsonanten folgenden Vokal kennzeichnen, gibt es drei sekundäre Lautzeichen zur Kenntlichmachung der Aussprache des Vokals (nasaliert, behaucht). Es existieren über 200 weitere Schriftzeichen für Konsonant-Vokal-Verbindungen und Konsonantencluster aus zwei oder drei Konsonanten, aus deren Form sich Art und Abfolge der Einzelbuchstaben jedoch weitgehend erschließen lassen. Bengalische Ziffern werden mit eigenen Zahlzeichen geschrieben; zunehmend werden jedoch die international gebräuchlichen Indischen Ziffern verwendet. Grammatik. Bengalisch folgt der Subjekt-Objekt-Verb-Satzstellung. Es verwendet Postpositionen. Es gibt kein grammatikalisches Geschlecht. Adjektive und Substantive verändern sich wenig. Verben verändern sich häufig je nach Person, Zeit und Höflichkeitsform, jedoch nicht nach dem Numerus. Geschichte. Die ältesten literarischen Zeugnisse der bengalischen Sprache sind die Charyapada, eine Sammlung von 47 Liedern verschiedener Dichter, die bereits vor 1000 n. Chr. geschrieben wurde. Dies sind mystische Lieder, die von verschiedenen buddhistischen Seher-Dichtern komponiert wurden: Luipada, Kanhapada, Kukkuripada, Chatilpada, Bhusukupada, Kamlipada, Dhendhanpada, Shantipada, Shabarapada usw. Zwischen den Jahren 1350 bis 1800 wurden viele literarische Werke mit religiösen Themen verfasst. Aufgrund der Sammlungsbemühungen der Nepal Royal Court Library, später auch der Asiatic Society, war eine Wiederentdeckung möglich. Die Zeitleiste der bengalischen Literatur ist in zwei Perioden unterteilt – mittelalterliche (1360–1800) und moderne (nach 1800). Die mittelalterliche bengalische Literatur besteht aus verschiedenen poetischen Genres, darunter hinduistische religiöse Schriften (z. B. Mangalkavya), islamische Epen (z. B. Werke von Syed Sultan und Abdul Hakim (Dichter)), Übersetzungen von Sanskrit, arabischen und persischen Texten, Vaishnava-Texten (z. B. Biografien von Chaitanya Mahaprabhu), und weltliche Texte muslimischer Dichter (z. B. Werke von Alaol). Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Romane in die bengalische Literatur eingeführt. Rabindranath Tagore, Dichter, Dramatiker, Schriftsteller, Maler, Essayist, Musiker und Sozialreformer, ist die weltweit bekannteste Figur der bengalischen Literatur. Er gewann 1913 den Nobelpreis für Literatur. In der Zeit nach der Teilung umfasst die bengalische Literatur die Literaturen von Bangladesch und Westbengalen. Eine sprachwissenschaftliche Untersuchung der bengalischen Grammatik, "", wurde erst in den Jahren 1734–1742 von dem Portugiesen Manuel da Assumpção verfasst, der in Bhawal Missionsarbeit leistete. Im 19. Jahrhundert wurde die Sprache hauptsächlich von Ram Mohan Roy, Ishwarchandra Vidyasagar, und Rabindranath Tagore systematisiert. Vidyasagar schrieb das "Sadhu Bangla", woraus später das "Barna-Parichaya" entwickelt wurde, ein Text, der noch immer eine große Rolle im Sprachunterricht in bengalischen Schulen spielt. Das erste gedruckte Buch in Bengali ist ein Bengeli-Grammatikbuch. Dieses Buch wurde 1776 von Nathaniel Brassey Halhed geschrieben. William Carey von Serampore übersetzte die Bibel ins Bengalische und veröffentlichte sie 1793 und 1801. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begannen auch muslimische Religionsgelehrte zunehmend auf die bengalische Sprache zurückzugreifen. Einer der Pioniere in dieser Hinsicht war Muhammad Naimuddin (1832–1908), der 1873 mit seinem Werk "Jobdātal masāyel" ("Zubdat al-masāʾil"; "Essenz der Streitfragen") das erste islamische Rechtshandbuch auf Bengalisch veröffentlichte und 1892 mit der Publikation einer bengalischen Koranübersetzung begann, die auch einen umfangreichen Kommentar einschloss. Die bengalische Sprache trug zur Herausbildung einer eigenen nationalen Identität im ehemaligen Ostpakistan und schließlich zur Entstehung eines unabhängigen Staates Bangladesch bei. Bangladesch war von 1947 bis 1971 ein Teil Pakistans, das aus den überwiegend islamischen Landesteilen Britisch-Indiens gebildet wurde. In den Jahren 1947–52 versuchte die Zentralregierung Pakistans, Urdu als einzige Amtssprache durchzusetzen. Dagegen agitierte die Bengalische Sprachbewegung, die vor allem von Intellektuellen und Studenten getragen wurde. Besondere Bedeutung erlangten die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen protestierenden bengalischen Studenten und der pakistanischen Polizei am 21. Februar 1952 in Dhaka. Auch im indischen Bundesstaat Assam kam es am 19. Mai 1961 und am 21. Juli 1986 zu Ausschreitungen, jeweils nachdem die Landesregierung Assams versucht hatte, Asamiya als einzige Amtssprache auch für die in Assam lebende bengalische Bevölkerung einzuführen.
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Berliner Luftbrücke
Die Berliner Luftbrücke diente der Versorgung des Westteils der Stadt Berlin durch Flugzeuge der Westalliierten, nachdem die sowjetische Besatzungsmacht die Land- und Wasserwege von der Trizone nach West-Berlin vom 24. Juni 1948 bis 12. Mai 1949 durch die Berlin-Blockade gesperrt hatte. Am 30. September 1949 wurde die Luftbrücke offiziell beendet. Geschichte. Ab Januar 1948 schränkte die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) in wechselnder Dauer und Art wiederholt den Güter- und Personenverkehr sowohl der westalliierten Militärs als auch von Zivilisten von den Westzonen in die Westsektoren Berlins ein. Eine erste Zuspitzung gab es, als auf Anordnung des Chefs der SMAD, Wassili Danilowitsch Sokolowski, ab dem 1. April 1948 eine Reihe von Straßen in der westlichen sowjetischen Besatzungszone, darunter eine wichtige Brücke über die Elbe bei Magdeburg, für Transporte in die Westsektoren blockiert wurden. Briten und US-Amerikaner beantworteten dies ab dem 3. April mit der „kleinen Luftbrücke“, die zwei Tage lang ihre Garnisonen in Berlin versorgen musste. Die am 20. Juni 1948 von den Westalliierten durchgeführte Währungsreform in den drei Westzonen nahm die sowjetische Besatzung dann zum Anlass einer unbefristeten Blockade. Zunächst wurden die Westsektoren Berlins in der Nacht auf den 24. Juni 1948 von der Stromversorgung aus der Sowjetisch besetzten Zone (SBZ) abgeschnitten. Gegen 6 Uhr am 24. Juni folgte die Unterbrechung des gesamten Güterverkehrs als auch des Personenverkehrs auf Straßen, Schienen und einige Tage später (entgegen der schriftlichen Zusage von 1946) auch zu Wasser von den westlichen Besatzungszonen nach West-Berlin. Bei der Ankündigung der Blockade hatte die SMAD betont, dass die Westsektoren nicht aus der SBZ oder Ost-Berlin versorgt und die Belieferung tatsächlich am 25. Juni 1948 eingestellt werden könnte. Die Regierungen der Westmächte hatten zwar mit einer Reaktion auf die Währungsreform gerechnet, aber diese totale Blockade traf sie weitgehend unvorbereitet. Der Militärgouverneur der US-amerikanischen Zone, Lucius D. Clay, setzte sich in den nächsten Tagen mit seinem Engagement für eine Luftbrücke gegen Vorschläge seines britischen Kollegen Sir Brian Robertson durch, die Besetzung Berlins zu Gunsten gesamtdeutscher Wahlen aufzugeben. Versorgungslage. In den westlichen Sektoren Berlins lebten damals etwa 2,2 Millionen Menschen. Hinzu kamen etwa 9000 amerikanische, 7600 britische und 6100 französische alliierte Soldaten mit ihren Angehörigen. Als Millionenstadt musste Berlin nahezu komplett aus dem Umland versorgt werden, bisher war dies zu etwa 75 % durch Importe aus den Westzonen geschehen. Zu Beginn der Blockade lagerten in den Westsektoren Vorräte nur für diese geschätzte Dauer: Dabei beruhten die Schätzungen auf außerordentlich knappen täglichen Rationen. So liegt der mittlere täglich nötige Bedarf an Energie aus Lebensmitteln für Frauen bei 2400 und Männer bei 3100 kcal. Über ihre Lebensmittelkarten erhielten damals „Normale Verbraucher“ (NC) aber nur etwa 1500 kcal. Zwar konnte das auf dem Land nach Schätzungen der Besatzungsmacht durch eigene Erzeugung um 200–500 kcal erhöht werden, aber nicht mitten in einer Millionenstadt wie Berlin. Und während für den bevorstehenden Winter beispielsweise im südlichen Britannien etwa 1730 kg (34 cwt) und selbst den Hamburgern etwa 890 kg Kohle je Haushalt zugeteilt wurden, schätzten die Briten, in ihrem Berliner Sektor selbst unter optimalen Bedingungen jedem Haushalt lediglich etwa 152 kg für den gesamten Winter zuteilen zu können. In Berlin blieb da als Selbsthilfe nur das Abholzen von Bäumen in Straßen, privaten und öffentlichen Anlagen wie dem Tiergarten und, soweit für Zivilisten zugänglich, im Grunewald. Die Luftbrücke beginnt. Am 30. November 1945 waren den westlichen Stadtkommandanten drei Luftkorridore von je etwa 32 km Breite zwischen den westlichen Besatzungszonen und Berlin schriftlich zugesichert worden: der Hamburg Air Corridor (Nordwesten) in Richtung Hamburg, der Bueckeburg Air Corridor (Westen) in Richtung Hannover (damals mit den Flugplätzen Bückeburg, Celle-Wietzenbruch und Faßberg), und der Frankfurt Air Corridor (Südwesten) in Richtung Frankfurt. In einer weiteren schriftlichen Vereinbarung vom 31. Dezember 1945 waren die Nutzungsregeln festgelegt worden. Demnach durften die Korridore völlig frei, zu jeder Tageszeit, ohne vorherige Benachrichtigung der anderen Alliierten und durch alle Arten von Flugzeugen der Besatzungsmächte, auch zivile, genutzt werden. Es stellte sich nun als Vorteil heraus, dass die britischen Alliierten den Plan, den sie Anfang April 1948 in der „Kleinen Luftbrücke“ umgesetzt hatten, bis Juni 1948 mehrfach unter dem Namen „Operation Knicker“ erweitert hatten. Der Chef der britischen Luftwaffenverbände in Berlin Reginald „Rex“ Waite hatte schon Wochen zuvor bei der Erweiterung der "Operation Knicker" überprüfen lassen, ob eine Luftbrücke auch die zivile Bevölkerung Westberlins versorgen könnte. Das Ergebnis zeigte die Machbarkeit der Versorgung der eigenen Truppen und der Berliner Bevölkerung über eine Luftbrücke zumindest für die warme Jahreszeit. Am 24. Juni 1948 wurde Clay darüber unterrichtet. Am Tag darauf befahl er Berlins gewählten Bürgermeister Ernst Reuter zu sich und fragte ihn, ob die Berliner Bevölkerung die eingeschränkte Versorgung durch eine Luftbrücke ertragen würde. Reuter, begleitet von Willy Brandt, entgegnete, Clay solle sich um die Luftbrücke, er werde sich um die Berliner kümmern. Berlin werde zugunsten der Freiheit die notwendigen Opfer bringen – es komme, was wolle. Nach dem Gespräch allerdings äußerte Reuter, er bewundere zwar Clays Entschlossenheit, glaube aber nicht, dass die Versorgung per Luftbrücke möglich sei. Clay ordnete am selben Tag in Absprache mit dem Kommandanten der US Air Forces in Europe Curtis E. LeMay die Errichtung einer Luftbrücke an. Am 26. Juni flogen die ersten Maschinen der US-amerikanischen Luftwaffe von Frankfurt (Rhein-Main Airbase) und Wiesbaden (Flugplatz Wiesbaden-Erbenheim) aus zum Flughafen Tempelhof in Berlin und starteten damit die "Operation Vittles" (Operation Proviant). Die britische Luftwaffe beteiligte sich mit "Operation Plainfare" (zunächst "Operation Carter Patterson" genannt) an der Luftbrücke. Erstmals ließ sie am 28. Juni 1948 von Wunstorf aus „Dakotas“ (Douglas DC-3) zum Flugplatz Gatow fliegen. Ab Anfang Juli bis zum Einsetzen des ersten Frosts im Dezember 1948 nutzten die Briten auch Flugboote, die wegen ihrer Korrosionsfestigkeit bevorzugt mit Salz beladen wurden, auf der Unterelbe bei Hamburg-Finkenwerder starteten und in Berlin auf der Havel und auf dem Großen Wannsee landeten. Australien nahm mit der "Operation Pelican" teil. Die Luftbrücke wird optimiert. Anfangs ging man davon aus, dass allenfalls 750 Tonnen Luftfracht pro Tag möglich seien. Es ist daher verständlich, dass im Juli 1948 von den durch die Westalliierten befragten Berlinern 86 % angaben, Berlin würde trotz der Luftbrücke nicht über den Winter kommen, sondern in einigen Monaten gegenüber den Russen kapitulieren müssen. Das sagten zwar auch die Ost-Berliner Medien voraus. Aber selbst Otto Suhr, damals Vorsteher der Stadtverordnetenversammlung, meinte, die West-Alliierten würden schließlich aufgeben und Berlin verlassen. Es war also offenkundig, dass die materielle und personelle Ausstattung verstärkt und die Abläufe optimiert werden mussten, um die notwendigen Transportmengen zu bewältigen. Dies galt vor allem für den Fall, dass die Luftbrücke auch in der kalten Jahreszeit nötig sein würde, weil dann für Steinkohle vor allem für Kraftwerke und Heizungen nahezu die doppelte Tonnage eingeflogen werden musste. Am 23. Juli 1948 wurde Generalleutnant William Henry Tunner Befehlshaber der in Wiesbaden zur Abstimmung der US Air Force und der Royal Air Force eingerichteten Combined Airlift Task Force (CALTF). Tunner hatte bereits die US-Luftbrücke über den Himalaya (The Hump) organisiert. Dank seiner Erfahrung und seines Engagements war man Ende Juli 1948 schon bei über 2000 Tonnen pro Tag. Etwa zwei Drittel des Transportvolumens bestand aus Steinkohle. Sie wurde überwiegend vom Flughafen Faßberg aus eingeflogen, der in der britischen Zone lag, dessen Flugbetrieb aber nach wenigen Wochen in US-amerikanische Verantwortung überging. Die Briten transportierten rund ein Drittel aller Hilfsgüter nach Berlin. Im Gegensatz zu den US-Amerikanern setzten sie eine Vielzahl verschiedener Flugzeugtypen ein und nahmen außerdem organisiert durch British European Airways (BEA) etwa 25 private Luftfrachtunternehmen unter Vertrag. Schiffe, die Getreide geladen hatten und als Hilfslieferungen aus den USA für Großbritannien bestimmt waren, wurden von den Briten nach Deutschland umgeleitet. Das hatte zur Folge, dass zu Zeiten der Luftbrücke in Großbritannien selbst das Getreide rationiert wurde, was es noch nicht einmal während des Zweiten Weltkriegs gegeben hatte. Anders als es bei den US-Amerikanern die Regel war, beförderten britische Flugzeuge auch vielfach Fracht und Passagiere aus Berlin heraus. So nahmen britische Flugzeuge auf dem Rückflug Kinder aus Berlin mit, die sich zur Wiederherstellung ihrer Gesundheit in Westdeutschland erholen konnten. Die massiven Steigerungen der eingeflogenen Mengen beruhten vor allem auf einer Optimierung hinsichtlich der Flugzeugtypen, der Landebahnen, der Flugzeugwartung, der Entladevorgänge und der Flugrouten. Bei letzteren half ein ausgeklügeltes System: Die drei Luftkorridore wurden als Einbahnstraßen verwendet, wobei im nördlichen (von Hamburg nach Berlin) und im südlichen (von Frankfurt nach Berlin) die Hinflüge abliefen und im mittleren Korridor (von Berlin nach Hannover) die Rückflüge stattfanden. In den Korridoren flogen die Flugzeuge in fünf Ebenen mit einem Höhenabstand von 500 Fuß. Ein dramatisches Erlebnis Tunners am 13. August 1948 („Black Friday“) ließ ihn eine weitere Regel einführen: Von Wiesbaden aus anfliegend war er im Luftraum über Berlin in einen massiven Stau von Frachtflugzeugen geraten, weil diese wegen schlechter Sicht nicht wie geplant in Abständen von drei Minuten in Tempelhof landen konnten. Die nachkommenden Flugzeuge mussten über Berlin in Höhen von 3.000 bis 11.000 Fuß geparkt werden. Schließlich verloren die Fluglotsen die Übersicht. Auf der Landebahn unter Tunners Maschine verunglückten drei Flugzeuge, eines davon brannte aus. Tunner ließ per Funk alle benachbarten Frachtflugzeuge zu ihrer Basis zurückkehren, um den gefährlichen Stau aufzulösen und selbst ungefährdet landen zu können, und ordnete an, dass zukünftig Maschinen, deren Landung misslungen war, zu ihrem Ausgangsflughafen zurückfliegen und sich dort neu in die Kette der nach Berlin fliegenden Flugzeuge einreihen mussten. Mit diesem System war es seitdem möglich, dass in Berlin schließlich alle drei Minuten ein Flugzeug landete. Außerdem wurde durch eine ähnlich straffe Organisation der Wartungsarbeiten der Aufenthalt am Boden von 75 auf 30 Minuten verkürzt. Der Abwurf von Gütern ohne Landung war dagegen nach wenigen Versuchen als unzweckmäßig wieder eingestellt worden. Neben Briten und US-Amerikanern flogen später auch Piloten aus Australien, Neuseeland, Kanada und Südafrika. Frankreich dagegen konnte sich nur mit wenigen Flugzeugen an der Luftbrücke beteiligen, da die Armée de l’air im Indochinakrieg gebunden war. Es konnte lediglich seine eigenen Garnisonen mit Junkers Ju 52/3m versorgen. Stattdessen errichteten die Franzosen in ihrem Sektor den neuen Flughafen Tegel. Mitte Dezember 1948 sprengten französische Pioniere nach erfolglosen Aufforderungen an die sowjetische Seite durch den französischen Stadtkommandanten Jean Ganeval die den Anflug behindernden Sendemasten des Senders Tegel, der den sowjetisch beherrschten Berliner Rundfunk ausstrahlte. Der Sender musste ins brandenburgische Stolpe verlegt werden. Während der Blockade West-Berlins wurde dessen Bürgermeister Ernst Reuter (SPD) zum Symbol des (West-)Berliner Durchhaltewillens. Seine Rede vom 9. September 1948 vor der Ruine des Reichstagsgebäudes „[…] Heute ist der Tag, wo das Volk von Berlin seine Stimme erhebt. Dieses Volk von Berlin ruft heute die ganze Welt. […] Ihr Völker der Welt, ihr Völker in Amerika, in England, in Frankreich, in Italien! Schaut auf diese Stadt und erkennt, daß ihr diese Stadt und dieses Volk nicht preisgeben dürft, nicht preisgeben könnt! […]“ Gut zwei Jahre später, am 18. September 1950, erschien Reuter auf dem Titel des "Time Magazine", das ihm zugleich die Titelstory widmete. Transportleistung. Im zeitlichen Verlauf Durch Erfahrung und Optimieren der Abläufe, Aufstocken von Personal und Ersatzteilen sowie Verbesserung des Materials kam es zu drastischen Erhöhungen der täglich eingeflogenen Mengen. Sie überstiegen ab Ende August 1948 im Monatsmittel den geschätzten Mindestbedarf des im Sommer nötigen Nachschubs von Lebensmitteln, Steinkohle, Benzin und Diesel, Medikamenten und weiteren Bedarfsgütern. Zwar wurde die für einen normalen Winter mindestens für nötig eingeschätzte Frachtleistung im Monatsmittel nie erreicht, der Winter 1948/49 war aber ungewöhnlich mild. Tage mit eingeschränkter Sicht vor allem durch Nebel führten allerdings anfangs zu massiven Einbrüchen der Transportleistung. Dadurch gab es in den Westsektoren Ende 1948 zeitweise nur noch Vorräte für wenige Tage. Um den Jahreswechsel 1948/49 konnte aber auf US-amerikanischer Seite der Instrumentenflug ausreichend vieler Flugzeuge durch GCA und CPS-5 ermöglicht werden. Ein anderes schwerwiegendes Problem war der Mangel an Treibstoff im eingeschlossenen Berlin. Sowjetische Bestände, die in den Westsektoren lagen, waren im November 1948 beschlagnahmt worden. Den Briten gelang es ebenfalls um Jahreswende, ihre Flugzeuge, die Treibstoffe nach Berlin brachten, umfassend mit ihrer Navigationstechnik Rebecca-Eureka auszurüsten, wodurch nun ausreichend Treibstoff eingeflogen werden konnte. Insgesamt entwickelte sich die Transportleistung während der Blockade wie folgt: Aufsummiert Insgesamt waren von Juni 1948 bis September 1949 rund 2,1 Millionen Tonnen Fracht (davon 1,6 Millionen Tonnen durch US-Flugzeuge), davon 1,44 Millionen Tonnen Kohle, 485.000 Tonnen Nahrungsmittel und 160.000 Tonnen Baustoffe zum Ausbau der Flughäfen, aber auch zum Erweiterungsbau des Kraftwerks Reuter, eingeflogen worden. Es wurden soweit möglich dehydrierte Lebensmittel wie Milchpulver, getrocknetes Gemüse, Trockenkartoffeln und Mehl statt fertiger Teigwaren eingeflogen, um Gewicht zu sparen. Außerdem wurden 74.145 Tonnen Fracht aus Berlin ausgeflogen, die zu einem Großteil aus in der Stadt hergestellten Produkten bestand, die mit dem Etikett „Hergestellt im Blockierten Berlin“ versehen waren. Es wurden zudem insgesamt 227.655 Passagiere befördert. Für Zivilpersonen richtete die Royal Air Force Flüge zwischen dem Flugplatz Gatow und Lübeck-Blankensee sowie Wunstorf ein. Insgesamt wurden so von Ende Juni 1948 bis Anfang Mai 1949 etwa 68.000 Passagiere ausgeflogen, die in der Regel hierfür nur eine Gebühr etwa in Höhe der Kosten für eine Bahnkarte zu entrichten hatten. Kinder flogen kostenlos. Der größere Teil der Frachttonnage wurde über Tempelhof abgewickelt, die meisten Flugbewegungen im Laufe der Luftbrücke wurden am Flughafen Gatow registriert. Das Ende der Luftbrücke. Insbesondere wegen der nachteiligen Folgen auf die Wirtschaft der SBZ und von Ost-Berlin durch das Embargo hochwertiger Technologie durch den Westen "(Gegen-Blockade)" und durch den Wegfall des Handels mit den Westzonen und angesichts des mit der Luftbrücke demonstrierten Willens, West-Berlin vor einer sowjetischen Annexion zu bewahren, sah sich die Sowjetunion schließlich veranlasst, die bisherige Blockade aufzuheben. Kurz vor Mitternacht vom 11. auf den 12. Mai 1949 wurden die Westsektoren wieder mit Strom versorgt und um 0:01 Uhr wurde die totale Blockade der Verkehrswege zu Land und Wasser aufgehoben. Es kam mit mehreren erneuten Einschränkungen und entsprechenden Protesten der westlichen Stadtkommandanten schließlich bis zum Herbst 1949 wieder zu einer Lage der Verkehrswege, wie sie vor Beginn der Blockade seitens der sowjetischen Seite zugestanden worden war. Die Anzahl der Flüge der Luftbrücke wurde schrittweise verringert, bis Lagerbestände für etwa zwei Monate erreicht waren. Am 30. September 1949 wurde die Luftbrücke offiziell eingestellt. An diesem Tag landete auf dem Tempelhofer Flughafen der letzte Rosinenbomber mit zehn Tonnen Kohle an Bord. Unfälle. Im Zusammenhang mit der Luftbrücke gab es teils in der Luft, teils am Boden Unfälle mit auch tödlichen Personenschäden. Die Angaben hierzu variieren schon deswegen, weil einige Autoren keinen Zugang zu den militärischen Unterlagen aller beteiligten Nationen hatten. Mehrere Autoren berichten übereinstimmend von 31 US-amerikanischen Toten. Zumindest für die Unfälle des Flugzeugtyps Douglas DC-4 (C-54 bzw. R5D) gibt es vollständige Listen anhand der einzelnen Fabriknummern. Bei 10 Unfällen der USAF bzw. US Navy kamen vom 13. August 1948 bis zum 12. Juli 1949 insgesamt 15 Besatzungsmitglieder ums Leben. Außerdem kamen mindestens 40 Briten und 13 Deutsche (davon sieben als Passagiere) um. Zwar gab es insgesamt im Rahmen der Luftbrücke allein auf US-amerikanischer Seite etwa 120 Unfälle und bei allen Beteiligten mindestens 101 Tote. Tunner weist aber darauf hin, dass die Zahl der Unfälle weniger als 50 % dessen betrug, was für dieselbe Zahl von Flugstunden damals bei der US Air Force zu erwarten war. Konfrontation. Auf einigen Stützpunkten kam es zu Sabotageakten. Auch wurden einige Piloten über der sowjetischen Besatzungszone behindert z. B. durch störende Flugmanöver sowjetischer Jagdflugzeuge, Flak-Beschuss im Grenzbereich der Luftkorridore zur Einschüchterung oder Blenden der Piloten mit Flak­scheinwerfern. Amerikanische Piloten berichteten von 733 Vorkommnissen. Dabei kam es erstmals zur Konfrontation von westalliierten Flugzeugen mit sowjetischen MiG-15. Infrastruktur. Außerhalb Deutschlands. Die Luftbrücke bestand nicht nur aus den Luftkorridoren zwischen West-Deutschland nach West-Berlin, sondern die Hilfsgüter mussten zuerst nach Deutschland gebracht werden. Für damalige Flugzeugtypen war die Flugstrecke für einen Direktflug aus den USA nach Deutschland zu weit. Flugzeuge mit amerikanischen Hilfsgütern mussten somit zwischenlanden. In Grönland erfüllten die Flughäfen Søndre Strømfjord (US Air Force Base „Bluie West Eight“, heute Kangerlussuaq) und Narsarsuaq (US Air Force Base „Bluie West One“) diese Aufgaben. Flugverkehrskontrolle. Als Bezirkskontrollstellen diente für den Luftraum über Berlin das Berlin Air Safety Control Center, das aufgrund des Vier-Mächte-Status der Stadt und der sowjetischen Flugbewegungen über der SBZ auch sowjetisches Personal hatte. Für die US-Zone übernahm das Air Traffic Control Center Frankfurt die Flugverkehrskontrolle und für die britische Zone das Air Traffic Control Center Bad Eilsen. Berlin. In Berlin wurden die Flughäfen Gatow (Britischer Sektor), Tempelhof (Amerikanischer Sektor) und ab Anfang Dezember 1948 auch Tegel (Französischer Sektor) angeflogen. Anfangs gab es in Gatow und Tempelhof lediglich unbefestigte Graspisten, erst im Laufe der Operation wurden Pisten angelegt, die winterfest waren und der Belastung durch die sehr zahlreichen Start- und Landevorgänge gewachsen waren. In Tegel wurden auf einer bis dahin nur als Truppenübungsplatz genutzten Fläche durch bis zu 19.000 überwiegend deutsche Arbeiter (darunter etwa die Hälfte Frauen) im Einsatz rund um die Uhr in der Rekordzeit von 90 Tagen die notwendigsten Gebäude und Einrichtungen und die mit 2400 m damals längste Start- und Landebahn Europas errichtet. In Tempelhof wurde das seinerzeit modernste Radarsystem eingerichtet, um den dichten Flugbetrieb auf den der Luftbrücke dienenden Flughäfen auch bei ungünstiger Witterung und bei Nacht aufrechterhalten zu können. Außerdem landeten die von Hamburg-Finkenwerder kommenden britischen Flugboote auf der Havel und dem Großen Wannsee. Westdeutschland. Die Amerikaner starteten überwiegend von ihren großen Stützpunkten in Wiesbaden (Flugplatz Erbenheim) und der Rhein-Main Air Base am Flughafen Frankfurt Main. Hauptumschlagplatz für das quantitativ bedeutsamste Frachtgut Kohle waren die in der britischen Zone gelegenen Flugplätze von Faßberg, ferner Wunstorf sowie (erst später einbezogen) Lübeck, Celle-Wietzenbruch und Schleswig-Land. Die Flugplätze wurden zum Teil aufwendig ausgebaut und an die Bahn angeschlossen. Die Koordination der Luftbrücke erfolgte durch die "Combined Airlift Task Force" mit Sitz in der Taunusstraße in Wiesbaden. „Veronicas“. Die Blockade Berlins sorgte nicht nur in der eingeschlossenen Stadt, sondern auch anderswo für einen Ausnahmezustand: Rund um die großen Luftwaffenstützpunkte wie Celle blühte die Prostitution. Bis zu 2000 „leichte Mädchen“ befriedigten 1948/49 die Bedürfnisse einiger britischer und vor allem einiger – gemessen am deutschen Lebensstandard jener Zeit hervorragend versorgter – amerikanischer Piloten, Ingenieure und Lademeister. Mit Informationsbroschüren und Plakaten warnte die Militärverwaltung vor Geschlechtskrankheiten – „venereal diseases“, abgekürzt „VD“. Diese Abkürzung sei umgedeutet worden zu „Veronica, Danke schön“. So jedenfalls lautet eine Erklärung dafür, dass die deutschen Prostituierten jener Zeit von ihren Kunden oft „Veronicas“ genannt wurden. Besondere Aktionen. „candy bomber“, „Rosinenbomber“. Der Name „candy bomber“ geht zurück auf den amerikanischen Piloten Gail Halvorsen, der Süßigkeiten () wie Schokoladentafeln und Kaugummis an selbstgebastelte Taschentuch-Fallschirme band und diese vor der Landung in Tempelhof für die wartenden Kinder abwarf. Als Halvorsens Vorgesetzte durch die Berliner Presse von den Abwürfen erfuhren, zog die Aktion bald weite Kreise und viele seiner Kollegen folgten ihm. Air-Force-Flieger und auch zivile Amerikaner sammelten Süßigkeiten und Kaugummis, um damit die "Operation Little Vittles" (kleiner Proviant) zu unterstützen. Organisiert wurde die Aktion später durch Captain Eugene Williams, als Nachfolger von Gail Halvorsen. Insgesamt wurden rund 23 Tonnen Süßigkeiten im Rahmen der "Operation Little Vittles" bis zum 30. September 1949 über Berlin abgeworfen. Die Berliner nannten die Versorgungsflugzeuge auch liebevoll „Rosinenbomber“. Dies soll darauf zurückgehen, dass ein britischer Pilot in der Vorweihnachtszeit 1948 eine Ladung Rosinen für die Weihnachtsbäckerei nach Berlin geflogen hatte. Clarence & Clarissa. Der US-Luftwaffen-Stützpunkt Neubiberg hatte als Football-Maskottchen ein (männliches) Kamel namens Clarence. Mit seiner Hilfe wurden in der US-Zone Geschenke für West-Berliner Kinder gesammelt. Clarence musste wegen eines gebrochenen Beins gegen ein eigens aus Nordafrika besorgtes Kamel ausgetauscht werden, das allerdings weiblich war und eigentlich Clarissa hieß. Clarissa wurde unter dem bekanntgewordenen Namen Clarence am 21. Oktober 1948 zusammen mit mehr als drei Tonnen Süßigkeiten nach West-Berlin geflogen. Aus den gefüllten Packtaschen erhielten die Kinder ihre Geschenke. Operation Weihnachtsmann. Die Westmächte organisierten zu Weihnachten 1948 eine Reihe von besonderen Aktionen. So verteilte „Santa Claus“ Geschenke aus dem Flugzeug heraus. Außerdem gab es spezielle Weihnachtsessen für Berliner Kinder, zu denen die Briten eingeladen hatten. Am 20. Dezember 1948 fand die „Operation Weihnachtsmann“ statt: Vom Stützpunkt Faßberg bei Celle wurden Geschenke für 10.000 West-Berliner Kinder eingeflogen. American Way of Life. Die Herzen auch der erwachsenen West-Berliner wurden umworben und zugleich wurde den Soldaten im Auslandseinsatz Vertrautes aus der Heimat mitgebracht: Der Entertainer Bob Hope besuchte West-Berlin zu Weihnachten 1948 und gab auf dem Flughafengelände Tempelhof drei zusätzliche Aufführungen, zu denen auch Besucher vom Stützpunkt Wiesbaden eingeflogen wurden. Ebenfalls zu Besuch kam die damals bei Männern als Cover Girl beliebte Eugenia Lincoln „Jinx“ Falkenburg, Model, Theaterschauspielerin am Broadway, Filmschauspielerin und Star einer Radio- und ersten Fernseh-Talkshow. Eine Truppe von Tänzerinnen der Radio City „Rockettes“ ergänzte die Show. Der Komponist Irving Berlin schrieb eigens einen Titel "Operation Vittles" und trug ihn selbst vor, wozu GIs den Refrain eingeübt hatten. Oster-Parade. In der durch Tunner initiierten „Oster-Parade“ vom 15. zum 16. April 1949 wurde mit 12.849 Tonnen Fracht und 1398 Flügen in 24 Stunden das größte Frachtaufkommen eines Tages erreicht. Neben Nahrungsmitteln wie Getreide, Trockenmilch, Trockenkartoffeln und Mehl wurden hauptsächlich Kohle als Brennstoff und zur Stromproduktion, Benzin, Medikamente und alle anderen in Berlin benötigten Dinge eingeflogen. Organisatorische Erfahrungen aus dieser befristeten Aktion halfen, in den kommenden Monaten das Frachtvolumen noch weiter zu steigern. Flugzeuge und Wartungspersonal der Berliner Luftbrücke. In der Anfangszeit benutzten die Amerikaner die zweimotorige C-47 Skytrain (in der RAF "Dakota" genannt) beziehungsweise deren ziviles Pendant DC-3. Diese Maschinen erwiesen sich mit einer Zuladung von maximal drei Tonnen Ladung als zu leistungsschwach, so dass sie schnell durch die größeren viermotorigen C-54 Skymaster bzw. deren Zivilversion DC-4 ersetzt wurden, die immerhin neun Tonnen Ladung tragen konnten und auch schneller waren. Insgesamt wurden 380 solcher Maschinen während der Luftbrücke eingesetzt (davon allein 225 Stück bei den Amerikanern), was den größten Anteil der eingesetzten Maschinen ausmachte. Andere amerikanische Maschinen wie die C-97 Stratofreighter und die C-74 Globemaster, die mit einer Zuladung von jeweils rund 20 Tonnen für damalige Verhältnisse gigantisch war, wurden nur vereinzelt eingesetzt. Die weitgehende Beschränkung auf einen Flugzeugtyp bei den Amerikanern vereinfachte und optimierte deren gesamte Logistik. Die Flugzeuge hatten die gleiche Reisegeschwindigkeit und Flugcharakteristik, weshalb der Flugzeugabstand weiter reduziert und die Frequenz von Starts und Landungen erhöht werden konnte. Die Wartung und Ersatzteilbeschaffung waren einfacher und effizienter. Die auf einem Typ ausgebildeten Besatzungen konnten problemlos auf andere Maschinen desselben Typs wechseln. Das Verfahren zum Be- und Entladen konnte vereinheitlicht und mit größerer Routine abgewickelt werden. Die Briten hingegen setzten verschiedenste Flugzeugtypen ein. Viele Flugzeuge waren ehemalige Bomber oder die Zivilversionen britischer Bomber. In Ermangelung eigener Flugzeuge charterte die Royal Air Force zusätzlich viele Flugzeuge ziviler Fluggesellschaften. Eine Besonderheit stellte der Einsatz von Flugbooten dar, die insbesondere für den Transport von Salz genutzt wurden. Diese Flugzeuge waren für den Einsatz auf See konzipiert und deshalb auf Korrosionsbeständigkeit optimiert. In der Winterzeit bei Eis auf den Gewässern übernahmen Halifax-Bomber die Aufgabe des Salztransportes. Auf den Einsatz von Maschinen aus deutscher Produktion wurde, mit Ausnahme eines kurzzeitigen Einsatzes einer Junkers Ju 52 durch Frankreich, aus propagandistischen und insbesondere aus logistischen Gründen verzichtet. Dagegen wurden auf Betreiben Tunners und unter Einbeziehung des ehemaligen Generalmajors der Luftwaffe, Hans-Detlef Herhudt von Rohden, unter Hintanstellung des bestehenden Fraternisierungs- und Beschäftigungsverbots zahlreiche deutsche Flugzeugmechaniker eingestellt, die schließlich die Amerikaner an Zahl übertrafen. Rezeption. Denkmäler/Erinnerungsstätten/Stiftungen. Seit 1951 erinnert in Berlin das von Eduard Ludwig geschaffene Luftbrückendenkmal am Platz der Luftbrücke vor dem Flughafen Tempelhof an die Opfer der Luftbrücke. Später wurden weitere baugleiche Denkmäler beim Flughafen Frankfurt und – in etwas kleinerer Ausführung – im Ortsteil Wietzenbruch der Stadt Celle nahe dem Fliegerhorst Wietzenbruch/Immelmann-Kaserne Heeresflugplatz Celle errichtet. Am Fliegerhorst Faßberg lädt ein Luftbrückenmuseum zur Auseinandersetzung mit der Geschichte ein. Am Fliegerhorst Erding wurde die Militärsiedlung Williamsville nach einem der verunglückten Piloten benannt. Am 11. Mai 2012 wurde vor dem Towergebäude des ehemaligen Flugplatzes Gatow ein neues Denkmal eingeweiht, das die Ausstellung einer auf dem Flugplatz beherbergten Außenstelle des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr ergänzt. Es besteht aus einer C-47 der Royal Australian Air Force, die bei der Berliner Luftbrücke eingesetzt wurde, und einem Gedenkstein. 1959 wurde durch Willy Brandt die gemeinnützige Stiftung „Luftbrückendank“ errichtet. Nach seinem Spendenaufruf kamen rund 1,6 Millionen Mark (kaufkraftbereinigt in heutiger Währung: rund  Millionen Euro) zusammen. Aus den Zinsen des Stiftungskapitals konnten Angehörige der Opfer der Luftbrücke finanziell unterstützt werden. Heute fördert die Stiftung Projekte und Ideen, die sich mit dem Thema „Luftbrücke und Berlin-Blockade“ auseinandersetzen. An die auf dem Friedhof Ohlsdorf in Hamburg beigesetzten Opfer der Berliner Luftbrücke erinnern eine Tafel und ein Ginkgobaum. Besuch Kennedys zum 15. Jahrestag der Luftbrücke. Anlässlich des 15. Jahrestags des Beginns der Luftbrücke, kurz nach dem Bau der Berliner Mauer, besuchte erstmals ein US-Präsident, John F. Kennedy, West-Berlin. Seine berühmte Jubiläumsrede am 26. Juni 1963 vor dem Rathaus Schöneberg „Ich bin ein Berliner“ diente der Bekräftigung der während der Luftbrücke bewiesenen Solidarität und Unterstützung des US-amerikanischen Volkes für den Freiheitswillen der Bevölkerung von (ganz) Berlin. Fest der Luftbrücke. Am 12. Mai 2019 wurde zum 70. Jahrestag der Luftbrücke in den Hangars und auf dem Vorfeld des Flughafens Tempelhof unter dem Motto "Feiern und Erinnern – ein Fest für die ganze Familie" das Fest der Luftbrücke begangen. Unter den zahlreichen Zeitzeugen war auch der 98-jährige amerikanische Luftbrückenpilot Gail Halvorsen. 70. Jahrestag des Endes der Berliner Luftbrücke. Am 10. und 11. Mai 2019 wurde zum 70. Jahrestag der Luftbrücke von der U.S. Army in Wiesbaden eine Großveranstaltung mit 21 historischen Flugzeugen in den Hangars und auf dem Vorfeld der Clay Kaserne ausgerichtet. Darunter 17 Rosinenbomber vom Typ C-47 und DC-3. Unter dem Motto "70th anniversary of the end of the Berlin Airlift" wurde die Veranstaltung durch zahlreiche Verbände und Organisationen sowie die Stadt Wiesbaden unterstützt. Unter den zahlreichen Zeitzeugen war auch der 98-jährige amerikanische Luftbrückenpilot Gail Halvorsen, der mit einer historischen Douglas C-47 eingeflogen und von der Flughafenfeuerwehr mit einer traditionellen Wasserkaskade als Pilot geehrt wurde. Insgesamt 45.000 Teilnehmer besuchten diese Veranstaltung. Radfahrt "Candy B. Graveller". Seit 2017 organisiert Gunnar Fehlau eine jährliche Selbstversorger-Radfahrt ohne Zeitnehmung auf einer für Gravelbikes zugeschnittenen Route entlang des Flugkorridors der ehemaligen „Candy B(omber)“. Die Teilnehmer starten gemeinsamem oder individuell und transportieren ein kleines CARE-Paket vom Luftbrückendenkmal in Frankfurt/Main über Darmstadt, Aschaffenburg und Fulda zum Luftbrückendenkmal in Berlin – 550–640 km weit, teilweise über Singletrails. Weblinks. Videos
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Echter Buchweizen
Der Echte Buchweizen ("Fagopyrum esculentum"), auch Gemeiner Buchweizen, ist eine Pflanzenart aus der Gattung Buchweizen ("Fagopyrum") in der Familie der Knöterichgewächse (Polygonaceae). Manchmal wird er auch in die Gattung "Polygonum" eingeordnet. Buchweizen ist ein Pseudogetreide (Pseudocerealie). In manchen Gegenden wird Buchweizen auch als Heiden, Heidenkorn, Heidegraupen, Blende, Brein, schwarzes Welschkorn, Gricken (lit. Grikiai) oder türkischer Weizen (bei Th. Storm) bezeichnet, was auf die Annahme hindeutet, Buchweizen sei über die Türkei nach Europa gelangt. In den romanischen Sprachen wird der Buchweizen als „sarazenisches Korn“ bezeichnet, z. B.: französisch: "sarrasin". Slawische Sprachen: Der Echte Buchweizen wurde zur Arzneipflanze des Jahres 1999 gewählt. Beschreibung. Vegetative Merkmale. Der Echte Buchweizen ist eine einjährige krautige Pflanze, die als Wildpflanze Wuchshöhen von 20 bis 60 Zentimetern erreicht, unter günstigen Bedingungen (Ackeranbau) auch bis zu 1,2 Meter. Der aufrechte Stängel ist wenig verzweigt und bei der Fruchtreife meistens rot überlaufen. Die Laubblätter sind wechselständig angeordnet. Die unteren Laubblätter sind deutlich gestielt, die oberen sitzen fast dem Stängel an. Typisch für die Knöterichgewächse ist die kurze, tütenartige Hülle (Ochrea), die an der Ansatzstelle des Blattstiels den Stängel umhüllt. Die Blattspreite ist dreieckig spießförmig, herz- bis pfeilförmig, mit einer Länge bis zu 8 Zentimetern meistens etwas länger oder gleich lang als breit und stets zugespitzt. Generative Merkmale. In den Blätterachseln entspringen die Blütenstandsschäfte, über denen die kurzen, traubigen bis schirmrispigen Blütenstände stehen. Die zwittrigen Blüten sind nur etwa 3 Millimeter lang. Die Blütenhülle besteht aus meist fünf, selten auch nur vier 3 bis 4 mm langen, weißen, rosafarbenen bis rötlichen Blütenhüllblättern. Als Frucht wird pro Blüte ein dreikantiges Nüsschen gebildet. Die Nüsschen sind 4 bis 6 Millimeter lang und etwa 3 Millimeter dick mit ganzrandigen, scharfen, ungezähnten Kanten und glatten Flächen. Die Frucht ist ungeflügelt und besitzt eine derbe Schale, die etwa 30 % des Gewichts ausmacht und vor der Nutzung als Nahrungsmittel entfernt werden muss. Die Tausendkornmasse beträgt bei Feldanbau etwa 16 g. Die Chromosomenzahl beträgt 2n = 16. Verbreitung als Wildpflanze und Ökologie. Der Echte Buchweizen ist eine alte Nutzpflanze. Er stammt ursprünglich aus Zentral- bis Ostasien. In Mitteleuropa ist er selten auch verwildert an Wegen und Waldrändern sowie in Schutt- und Unkrautfluren anzutreffen. Die Bestände stammen meist aus Anbau oder Aussaat (z. B. als Wild- oder Bienenfutter) und überdauern oft nur einige Jahre. Der echte Buchweizen bevorzugt lockere, sandige Böden, die basenarm und mäßig sauer sind. Er kommt in Mitteleuropa in Gesellschaften der Klasse Chenopodietea vor. Er ist eine wärmeliebende Pflanze, die bereits bei niedrigen Plusgraden Kälteschäden davonträgt. Verwandte Arten. Eine nahe verwandte Art ist der Tataren-Buchweizen ("Fagopyrum tataricum"). Unterscheidungsmerkmale zum Echten Buchweizen: die Blätter sind meist breiter als lang und der Stängel ist zur Fruchtzeit grün, nicht rot. Weitere Verwandte des Buchweizens sind Sauerampfer ("Rumex acetosa") und Rhabarber ("Rheum rhabarbarum"). Er ist jedoch nicht mit dem Weizen ("Triticum") verwandt. Nutzungsgeschichte. Der Echte Buchweizen wurde wahrscheinlich zuerst in China kultiviert. Archäologisch nachgewiesen sind Buchweizenkörner auch aus skythischen Siedlungen des 7. bis 4. Jahrhunderts vor Christus nördlich des Schwarzen Meeres. In Mitteleuropa erfolgte die Ausbreitung während des späten Mittelalters von Osten nach Westen, Buchweizenpollen und -körner lassen sich frühestens ab dem 12. Jahrhundert nachweisen. In Deutschland stammen die ersten schriftlichen Erwähnungen des Buchweizens aus dem Leinetal (1380) und aus Nürnberg (1396). Ab dem 16. Jahrhundert wurde er dann in ganz Europa in Gebieten angebaut, in denen Klima und Boden eine andere Nutzung erschwerten. Der Schwerpunkt des Anbaus von Buchweizen lag in Mitteleuropa im 17. und 18. Jahrhundert. Vor allem seit im 18. Jahrhundert der Anbau der Kartoffel stark zunahm, die ebenfalls auf relativ schlechten Böden noch gut gedeiht, ging die Bedeutung des Buchweizens als Nahrungslieferant deutlich zurück. Mitte des 20. Jahrhunderts war der Buchweizenanbau in Deutschland völlig bedeutungslos geworden, weil der Einsatz von Kunstdünger den Anbau von ertragreicheren Feldfrüchten auch auf ärmeren Böden ermöglichte. In den letzten Jahrzehnten wird Buchweizen aufgrund geänderter Nahrungsgewohnheiten jedoch wieder als Nischenprodukt angepflanzt. In einigen mittel- und osteuropäischen Ländern erhielt sich Buchweizen eine moderate Beliebtheit bei der Gesamtbevölkerung auch über das 20. Jhdt. hinweg, z. B. in Polen, Russland, Estland, Lettland, Litauen, Belarus und der Ukraine (siehe Kapitel Zubereitung). Anbau und Ernte. Im Anbau stellt Buchweizen wenig Ansprüche an den Boden und gedeiht auch in sonst ziemlich unfruchtbaren Heide- und Moorgegenden. Die Pflanze ist jedoch empfindlich gegen Kälte und erträgt keine Temperaturen unter +3 °C. Zum Keimen benötigt Buchweizen eine Bodentemperatur über 10 °C und kann daher erst ab Mitte Mai bis Anfang Juni ausgesät werden. Aufgrund dieser Ansprüche ist in Europa ein Anbau nur bis etwa 70° nördlicher Breite und in Höhenlagen bis 800 m möglich. Wegen unsicherer Fremdbestäubung bringt der Buchweizen trotz vieler Blüten nur etwa neun Nüsschen pro Pflanze. Zur Gewinnung der Buchweizennüsschen erfolgt die Aussaat in Mitteleuropa zwischen Mitte Mai und Mitte Juni, in wärmeren Tieflagen auch erst im Juli. Die Nüsschen reifen schnell innerhalb von zehn bis zwölf Wochen nach der Aussaat, so dass die Ernte im Mähdreschverfahren zwischen Ende August und Anfang September erfolgen kann. Buchweizen ist stark witterungsempfindlich, weshalb der Ertrag mit weitaus mehr Unsicherheiten behaftet ist als bei üblichen Getreiden. Die Erträge liegen bei etwa 10 bis 25 dt/ha. In besonders guten Lagen (Weinbauklima) kann Buchweizen auch als Zweitkultur nach früh abreifenden Vorfrüchten wie Wintergerste angebaut werden. Bei Saatterminen von Mitte bis Ende Juni ist eine Ernte Ende September möglich. Buchweizen kann aber auch als Zwischenfrucht angebaut werden; der blühende Spross lässt sich innerhalb von sechs bis neun Wochen nach der Aussaat als Grünfutter nutzen, wird jedoch als schlechtes Futter eingestuft. Bei Zwischenfruchtanbau kann die Aussaat in Mitteleuropa je nach klimatischer Lage noch bis Ende Juli erfolgen. Buchweizen ist eine gute Bienentrachtpflanze. Sein Nektar hat einen Saccharose-Gehalt von durchschnittlich 46 Prozent, jede einzelne Blüte produziert in 24 Stunden durchschnittlich 0,1 mg Zucker (Zuckerwert). Honigerträge von bis zu 494 kg pro Hektar Anbaufläche sind möglich und entsprechen daher in etwa den bei Raps oder Phacelia möglichen Werten. Der melasseartig schmeckende Buchweizenhonig ist im frischen Zustand von dunkelbrauner Farbe und zähflüssig, er kristallisiert im Laufe der Zeit grob und hart aus und besitzt dann eine dunkle Farbe. Weltweit ist Buchweizen heute von untergeordneter Bedeutung. Laut FAO wurden 2020 weltweit 1,8 Millionen t Buchweizen geerntet. Lediglich in 18 Ländern wurden Buchweizen produziert. Die größten Anbauländer sind Russland (892.160 t), China (503.988 t) und die Ukraine (97.640 t). Die größten Produzenten in Amerika sind die USA (86.397 t) und Brasilien (65.117 t). In Deutschland wird er (in kleinen Mengen) noch in der Lüneburger Heide, in Schleswig-Holstein, Westfalen, am Niederrhein, in der Eifel, im Hunsrück, in Oberfranken, auf der Schwäbischen Alb und in einigen Alpentälern angebaut. Verwendung in Blühstreifen und als Zwischenfrucht. Häufiger denn als Feldfrucht wird Buchweizen heute in Saatgutmischungen für Blühstreifen, für Agrarumweltmaßnahmen oder als Bienenweide eingesetzt, wo er zu den am häufigsten verwendeten Arten zählt. Die Art ist in fast allen gängigen einjährigen Mischungen, oft in hohen Anteilen, enthalten. Daneben wird Buchweizen zur Gründüngung oder als Zwischenfrucht verwendet. Erwünschte Eigenschaften sind hier die schnelle Jugendentwicklung mit einer intensiven, bis zum ersten Frost anhaltenden Bodenbedeckung. Chemische Zusammensetzung. Samen. Salicylaldehyd (2-Hydroxybenzaldehyd) ist eine charakteristische Verbindung des Buchweizen-Aromas. 2,5-Dimethyl-4-hydroxy-3(2H)-furanon, (E,E)-2,4-Decadienal, Phenylacetaldehyd, 2-Methoxy-4-vinylphenol, (E)-2-Nonenal, Decanal und Hexanal tragen ebenfalls zum Aroma bei. Alle weisen einen Aromawert über 50 auf, isoliert gleicht das Aroma dieser Substanzen Buchweizen jedoch nicht. Fagopyritol A1 und Fagopyritol B1 (Mono-galactosyl-D-chiro-inositol-Isomere), Fagopyritol A2 und Fagopyritol B2 (Di-galactosyl-D-chiro-inositol Isomere), und Fagopyritol B3 (Tri-galactosyl-D-chiro-inositol) Nährwert. Durchschnittlicher Gehalt je 100 g geschälter Buchweizen: Der Brennwert beträgt 1421 kJ (340 kcal) pro 100 g geschälte Ware. Buchweizen enthält kein Gluten (auch als „Kleber“ bezeichnet). Zubereitung. Wegen des fehlenden Glutens eignet sich reiner Buchweizen zwar nicht als alleiniger Inhaltsstoff zum Brotbacken, ist aber zur Ernährung von Menschen mit Glutenunverträglichkeit oder Zöliakie geeignet. Daher gibt es mittlerweile unzählige Rezepte mit Buchweizenmehl und auch fertige Backwaren beim Bäcker. Buchweizen wird hauptsächlich in Naturkostläden, Supermärkten und Drogerien als ganzes geschältes Korn, in Form von Grütze, Flocken oder Mehl angeboten. Vor allem die russische, belarussische, ukrainische und polnische Küche kennt "Buchweizengrütze" (russisch: гречневая каша (grétschnewaja káscha), belarussisch: грэчневая каша (hrečnievaja kaša), ukrainisch: гречана каша (hretschána káscha), polnisch: kasza gryczana) als Beilage auch zu Fleischgerichten, welche in diesen Ländern sehr beliebt ist. So gilt Buchweizen z. B. in Polen als typische Beilage zu Gulasch. In Lettland, Litauen, Polen und Russland kann man Buchweizen in Kochbeuteln [Griķi (Gritji, гречка)] kaufen und man findet ihn nicht, wie häufig in Deutschland und Österreich, nur im Regal speziell mit Naturkost, vegetarischen oder glutenfreien Produkten, sondern neben Reis und anderen beliebten Beilagen. In der norditalienischen und der Bündner Küche findet Buchweizenmehl als "grano saraceno" für Pizzoccheri und Polenta Verwendung. Auch die Französische Küche verwendet Buchweizenmehl (unter dem Namen "blé noir", „schwarzer Weizen“, resp. "sarrasin") für Pfannkuchen, sogenannte Galettes. In den Niederlanden werden etwa münzgroße, aber relativ dicke süße Pfannküchlein, sogenannte Poffertjes, mit einem 1:1-Anteil Weizenmehl und Buchweizenmehl gebacken. Die Moorkolonisten im Emsland bezeichneten Buchweizenpfannkuchen (ostfriesisches Niederdeutsch oder 'Friesenplatt': "Bookweiten-Janhinnerk") als ihr tägliches Brot. Dieses Gericht gibt es auch in der Eifel, in Nord- und Südtirol „Schwarzplentn“; daneben wird in Südtirol auch die "Bozner Buchweizentorte (Schwarzplentener Kuchen)" und der Schwarzplentene Riebler zubereitet. In den USA werden die berühmten Pancakes auch oft aus "buckwheat"-Mehl zubereitet. Die Westfälische Küche kennt Panhas als Fleischpastete mit Buchweizenmehl. In der Steiermark, Kärnten, in Slowenien und in Luxemburg kocht man den Heidensterz, einen kräftigen Sterz aus Buchweizenmehl. In Luxemburg wird der Sterz in kleine Stücke geschnitten („Stäerzelen“) und anschließend, meist mit Speck, in der Pfanne angebraten. In Japan bestehen die sehr beliebten Soba-Nudeln aus namensgebendem Buchweizen. Gesundheitsaspekte. Anwendung und Risiken. Blüten und grüne Pflanzenteile des Buchweizens enthalten Rutoside, die bei Venenleiden medizinische Verwendung finden. Buchweizen ist, wie andere Samen, ein Nahrungsmittel mit viel Eiweiß und Stärke. Da Buchweizen glutenfrei ist, kann er als Diätnahrung bei Zöliakie (Sprue, glutensensitive Enteropathie) verwendet werden. In Versuchen mit diabetischen Ratten hat sich Buchweizen als wirksames Mittel zur Senkung eines erhöhten Blutzuckerspiegels erwiesen. Leicht problematisch kann der rote Farbstoff aus der Fruchtschale, das Fagopyrin, sein. Sofern man ihn isst, kann die Haut empfindlicher gegen Sonnenlicht werden, siehe Buchweizenkrankheit. Bei geschältem Buchweizen ist dies jedoch nicht mehr der Fall. Allergiepotenzial. Buchweizen ist, wie viele andere Samen, ein potenzielles Allergen. Er ist von der Medizinischen Universität Wien im Rahmen des Projektes „Nahrungsmittelallergie – eine harte Nuss zu knacken“ des "Fonds zur Förderung der Wissenschaftlichen Forschung" im Jahre 2018 jedoch nicht unter den 14 wichtigsten Allergenen geführt und befindet sich auch nach den EU-Richtlinien 2003/89/EG und 2006/142/EG nicht unter den 14 in der Europäischen Union kennzeichnungspflichtigen Allergenen. Die Europäische Stiftung für Allergieforschung ("European Centre for Allergy Research Foundation", kurz ECARF) empfiehlt die Aufnahme in die Reihe der kennzeichnungspflichtigen Allergene.
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Benediktiner
Als Benediktiner (, abgekürzt "OSB" oder "O.S.B." – deutsch: "Orden des heiligen Benedikt") werden in einem weiteren Sinn Ordensleute bezeichnet, die nach der "Regula Benedicti" leben, in einem engeren Sinn Mitglieder von Gemeinschaften, die der 1893 errichteten benediktinischen Konföderation, einem kontemplativ ausgerichteten Orden innerhalb der römisch-katholischen Kirche, angehören. Auch im Anglikanismus und vereinzelt im Luthertum gibt es benediktinische Klöster im oben genannten weiteren Sinn. Der Benediktinerorden beruft sich auf Benedikt von Nursia und die ihm zugeschriebene Regel. Die Anfänge des Ordens sind aber historisch schwer aufzuhellen. Als Kurzformel für die benediktinische Lebensweise gilt ein ursprünglich nicht spezifisch benediktinisches, spätmittelalterliches Sprichwort: (lateinisch: „Bete und arbeite und lies“). Drei Gelübde legt der Benediktinermönch im Laufe seines Ordenslebens ab: Als ein Motto der Benediktiner kann das Bibelwort 1 Petr 4,11 gelten: – Auf dass Gott in allem verherrlicht werde“. Die Benediktsregel zitiert diesen Satz aus dem Neuen Testament im Zusammenhang mit den Klosterhandwerkern und dem Verkauf ihrer Produkte. Das benediktinische Mönchtum ist die älteste und bedeutendste klösterliche Bewegung des Abendlandes. Die Missionstätigkeit der Benediktiner vom 7. bis 12. Jahrhundert bewirkte die flächendeckende Christianisierung Europas. Aus dem Benediktinerorden gingen zehn Päpste, fünf Kirchenlehrer und zahlreiche kanonisierte Heilige hervor, mehr als aus jedem anderen Orden. Heute gibt es in der weltweiten benediktinischen Konföderation rund 7000 Mönche und rund 13000 Nonnen. Vielen Klöstern sind Oblaten angeschlossen, die sich an der Spiritualität der Benediktsregel orientieren. Geschichte. Herausbildung des westlichen Mönchtums. Durch seine Sonderstellung als zeitweilig (etwa vom frühen neunten bis zum späten zwölften Jahrhundert) einzig etablierter Orden der westlichen Kirche kann man die Geschichte des Benediktinertums kaum ohne einen Blick auf das westliche Mönchtum insgesamt verstehen. Dieses hatte sich nach Vorbildern aus Ägypten und dem Nahen Osten entwickelt und zu eigener Ausprägung gefunden. Während dort im Wesentlichen das Eremitentum als das eigentliche Mönchtum – die asketische Lebensform, in der der Gläubige eine besondere Gottesnähe ausdrückt und erfährt – verstanden wurde, waren in den weströmischen Städten andere Formen stärker hervorgetreten (Familienaskese, zölibatäre Gemeinschaften christlicher Frauen). Bischof Eusebius († 370) hatte in Vercelli in einer Gemeinschaft mit anderen Priestern zusammen gelebt und so das erste Beispiel eines Klerikerklosters gegeben. Martin von Tours errichtete in Ligugé in der Nähe von Poitiers eines der ersten Klöster des Abendlandes, außerdem 375 in der Nähe von Tours das Kloster Marmoutier. Hieronymus, der das östliche Mönchtum auf seinen Reisen kennengelernt hatte, begünstigte die Weiterentwicklung des römischen Ideals der Vita Rusticana zum monastischen Ideal, in dem sich für ihn Abgeschiedenheit und Studium vereinen sollten. Augustinus von Hippo bezeugt im Jahr 387 Stadtklöster in Rom, aus denen sich später die Einrichtung der Basilikaklöster entwickelte. Das Konzil von Chalcedon entschied 451, die Klöster der bischöflichen Jurisdiktion zu unterstellen. Außerdem wurde kirchenrechtlich fixiert, dass der Mönch an das Kloster gebunden war, in das er eingetreten war ("Stabilitas loci"). Benedikt von Nursia und Gregor der Große. Vor diesem Hintergrund sticht die Gestalt des Benedikt von Nursia (* um 480; † 547), der für das 529 von ihm gegründete Kloster bei Montecassino die nach ihm benannte "Regula Benedicti" (Benediktsregel) verfasste, die auf der "Regula Magistri" und anderen klösterlichen Regeln basiert, kaum hervor. Er und seine Regel sind eingebettet in die „italische Mönchslandschaft.“ Benedikt hatte bei ihrer Abfassung keine ordensartigen Strukturen vor Augen – er wollte, ebenso wie andere Regelautoren, die Verhältnisse in seinem eigenen Haus klären. Die Benediktsregel präsentiert sich dem Leser als eine Anleitung für Anfänger, die im Mönchsleben noch ungeübt sind. Wesentliche Haltungen, die die Regel von den Mönchen verlangt, sind Gehorsam gegenüber ihrem Abt, Schweigsamkeit, Beständigkeit und Demut. Der größte Teil des Tages ist gemeinsamem oder persönlichem Gebet gewidmet oder wird in Stille, mit Meditation und geistlicher Lektüre verbracht. Handwerkliche Arbeit, von der die Mönche leben sollten, schaffte Ausgleich. Der Tagesablauf der Mönche wird gegliedert durch den Gottesdienst, dem nach der Regel nichts vorgezogen werden darf. Wie im Mönchtum üblich wurden Psalmen gebetet, nach der Regel alle 150 innerhalb einer Woche (in der heutigen Zeit oft auf zwei Wochen verteilt). Ein Aspekt, der die spätere Sonderstellung der Regel erklären könnte, ist die Nivellierung von Standesunterschieden: die Rangfolge der Mönche orientierte sich, von durch den Abt bestimmten Ausnahmen abgesehen, einzig daran, wie lange sie dem Orden schon angehörten (sozusagen nach dem Dienstalter; siehe auch Anciennität). Dies konnte den elitären Charakter der Klöster abschwächen, die zuvor eher als Einrichtungen von und für Adlige verstanden worden waren. Sozial niedrig(er) Gestellte sahen im Klostereintritt eine Chance zu gesellschaftlichem Aufstieg. Auch die relative Milde der Regelungen zur Askese und die relative Kürze der Regula Benedicti (Nichtbehandlung sonst üblicher Regelthemen) erleichterte es, diese in anderen Klöstern, Ländern bzw. Klimazonen zu übernehmen. All dies hat wohl zur späteren Beliebtheit der Regel beigetragen. Michaela Puzicha sieht den Vorzug der Benediktsregel „in der spirituellen Durchdringung des Alltagslebens, der klugen Gewichtung von Gebet, Arbeit und geistlicher Lesung, in maßvoller Askese und im positiven Welt- und Menschenbild.“ Damit stehe sie der biblischen Weisheitsliteratur nahe. Die Regel konnte niemals ohne ergänzende Bestimmungen befolgt werden, die sogenannten Consuetudines. Nichts davon sticht jedoch so heraus, dass es Benedikt zu seinem Titel als „Vater des Abendlandes“ hätte verhelfen können. Diese Entwicklung beginnt erst mit der Abfassung seiner Biographie durch Gregor den Großen († 604) im zweiten Buch der "Dialoge". Der zweite Band der Dialoge enthält ausschließlich die Biographie Benedikts. Die Intention, die den vom Mönchtum begeisterten Papst zur Niederschrift bewegte, lässt sich relativ klar herausarbeiten: In Italien gab es viele verschiedene Formen von Mönchtum, und Gregor bekundete hier seine Vorliebe für Mönchsgemeinschaften, die hierarchisch organisiert waren und sich in der Einsamkeit dem Gebet, dem Bibelstudium und der körperlichen Arbeit widmeten. Für all das steht Benedikt und seine gleichfalls idealisierte Schwester Scholastika im Werk Gregors. Daraus ergibt sich folgendes Bild für die Biografie Benedikts: Nach dem Studium der Artes liberales in Rom zog er sich zunächst als Eremit nach Affide zurück. Das Experiment, eine Mönchsgruppe auf ihre Bitte hin als Abt zu leiten, scheiterte. Benedikt gründete zwölf Klosterzellen bei Subiaco und zog zwischen 520 und 530 nach Monte Cassino. Dort zerstörte er pagane Heiligtümer und gründete an ihrer Stelle ein Kloster, das er dem Patronat des heiligen Martin von Tours unterstellte. Für diese Gründung schrieb er seine Regel. Das starke Durchscheinen des Idealtypus durch die Darstellung Gregors hat in der Forschung des 20. Jahrhunderts die Historizität Benedikts in Frage gestellt. Man nimmt heute an, dass Gregors Schilderungen eine reale Biographie zum Kern haben. Auch Gregor, der die Stellung des Mönchtums als Teil der Kirche durch seine Lehren durchaus festigte und ihnen apostolisches Wirken – also Predigten, Seelsorge und karitative Aufgaben – erst ermöglichte, dürfte dabei keine Vorstellung von einem „Ordenswesen“ gehabt haben. Im Verständnis ihrer Zeit war die Vorstellung vom einzelnen Kloster als organisatorisch autarke Einheit noch viel zu tief verwurzelt. Bemerkenswert ist, dass Gregor, obwohl er die Abfassung der Regel erwähnte und sie als vorbildlich lobte, in keiner seiner zahlreichen Schriften zum Mönchswesen Zitate oder Ideen aus ihr verwendete – im Gegensatz zu einigen anderen Mönchsregeln. Es scheint also, als hätte er die Regula Benedicti nicht im Wortlaut gekannt, was vor allem erstaunt, da der Tradition nach die Mönche nach der Zerstörung Montecassinos 577 durch die Langobarden die Regel nach Rom gebracht haben sollen. Zumindest dieser Schritt der Überlieferungstradition der Benediktregel scheint also fragwürdig. Irische Mönche und Mischregelzeitalter. Irland wurde seit dem 4. Jahrhundert sowohl von Britannien als auch von Kontinentaleuropa aus missioniert. Da Städte fehlten, standen die Bistümer in ihrem territorialen Zuschnitt in Kontinuität mit den Gebieten der Clans. Das Mönchtum wurde hier vor allem durch Schreiberklöster von zum Teil beachtlicher Größe repräsentiert. Es war bis ins 6. Jahrhundert unbedeutend und blühte danach auf. Auch die Klöster waren je einem Clan zugeordnet. Die Äbte der großen Klöster wurden mächtiger als der Bischof; da ein Bischof aber kirchenrechtlich unentbehrlich war, ließen sie häufig einen ihnen unterstellten Mönch zum Bischof weihen. Kennzeichnend für das iroschottische Mönchtum war die Verbindung hoher Bildung und harter Askese, wozu die Heimatlosigkeit (Peregrinatio) gehörte, welche die Mönche sozusagen unbeabsichtigt zu Missionaren werden ließ. Meist waren sie in Gruppen unterwegs, bisweilen brachen ganze Klöster auf. Ein solcher Wandermönch war Columban († 612 oder 615). Er reiste aufs Festland und gründete mit seinen Brüdern 590 das Kloster Luxeuil in den Vogesen. In der römischen Kultur war das Christentum fast ausschließlich in Städten verbreitet und die Gläubigen hatten es über Jahrhunderte nicht geschafft, die gallo-römische Landbevölkerung zu bekehren. Dies änderte sich mit Columbans Klostergründungswelle, in deren Folge sich eine – vom fränkischen Adel getragene – Bewegung entwickelte, die im 7. Jahrhundert circa 300 neue Klöster gründete. Die iroschottische Mission auf dem europäischen Festland war sehr erfolgreich. Columban hatte bereits konsequent die Verschränkung des Mönchtums mit den weltlichen Herrschern ihres Gebiets verfolgt und war selbst Autor einer Klosterregel. Diese wurde gemeinsam mit der Regula Benedicti in Form von sogenannten „Mischregeln“ in den meisten Klöstern befolgt. Aber auch andere Regeln kamen dabei zum Einsatz. Es ist bis 670 nur ein einziges Kloster bekannt, das ausschließlich die Regula Benedicti beachtet hat – Altaripa bei Albi. Dort hatte der Gründer Venerandus in den 620er Jahren die Befolgung dieser Regel vorgeschrieben. Auf dem Konzil von Autun wurde festgelegt, dass die Klöster künftig nach der Regel Benedikts geführt werden sollten. Diese Vorschrift ist eine der ersten nachgewiesenen Beschlüsse, der die benediktinische Regel verbindlich macht. Damit wurde der Ordensregel Columbans entgegengewirkt. Nach der Synode von Whitby und dem Konzil von Autun erlangte die Regula Benedicti auf der britischen Insel rasch Beliebtheit, indem sie von Benedict Biscop und Wilfrid bekannt gemacht wurde. Zumeist in Mischform blieben beide Regeln bis Anfang des 9. Jahrhunderts in Gebrauch, bis 817 die fränkischen Klöster durch Abt Benedikt von Aniane mit Unterstützung Ludwigs des Frommen auf die Regel Benedikts verpflichtet wurden. Erst danach wurde sie im Abendland zur maßgebenden Mönchsregel. Ein anderer irischer Peregrinatio-Mönch war Pirmin, der als Erster die von ihm gegründeten Klöster zu einem Verband zusammenfasste (unter anderem Kloster Reichenau, Kloster Murbach und Kloster Hornbach). Die Karolinger, Benedikt von Aniane und das Konzil von Aachen. Von England aus breitete sich die Benediktsregel in Kontinentaleuropa aus, womit die Zeit der Mischregelobservanz endete. Wichtige Impulse gingen hierbei von Italien aus: Unter Abt Petronax wurde 717 das Kloster Montecassino neu gegründet. Es galt als Ideal mönchischen Lebens, so dass viele einflussreiche Mönche (etwa Willibald von Eichstätt oder Sturmi, der erste Abt des Klosters Fulda) es besuchten oder eine Weile dort lebten. Auch Karlmann, ehemals fränkischer Hausmeier und faktischer Herrscher der östlichen Hälfte des Frankenreiches, trat dort ein. 750 gab Papst Zacharias das in Rom befindliche Exemplar der Regula Benedicti, das als Original galt, zurück auf den Montecassino. Die Benediktsregel wurde in der Folgezeit als römische Klosterregel ("Regula Romana") stilisiert, ein wichtiger Faktor für ihre spätere Alleingeltung. Auch im Norden wuchs die Hochachtung vor Benedikt. Pippin der Jüngere und sein Sohn Karl der Große – und mit ihnen die geistlichen Würdenträger – strebten nach Unterstützung der römischen Kirche, und da Benedikt als „römischer Abt“ galt, bedachte man seine Regel mit besonderer Aufmerksamkeit. 744 gründete Bonifatius (* 673; † 754), der „Apostel der Deutschen“ – ein Angelsachse in entfernter Tradition der irischen Peregrinatio-Mönche – das Kloster Fulda, in dem ausdrücklich einzig die Regula Benedicti gelten sollte. 787 ließ Karl der Große eine Abschrift der Regel auf dem Montecassino anfertigen und nach Aachen bringen. Eine für das Kloster St. Gallen angefertigte Kopie dieses Exemplars ist die noch heute verwendete Textgrundlage. Karl hatte konkrete Vorstellungen davon, welche Rolle die Reichskirche, als deren geistlicher Leiter er sich sah, im fränkischen Reich spielen sollte – und ebenso das Mönchtum in ihr. Er unterstellte die Klöster den zuständigen Landesherren. Aber auch die Vereinheitlichung des Mönchtums schien ihm ein notwendiges Zwischenziel. Über sie hoffte er, die Güter und Einkünfte der Klöster in der Reichweite des königlichen beziehungsweise kaiserlichen Arms zu behalten und den Gebetsdienst, dem in seinen Augen staatstragende Bedeutung zukam, sicherzustellen. Außerdem sollten die Mönche eine zivilisatorische Aufgabe wahrnehmen: Klöster wurden häufig in noch nicht vollständig befriedeten und kultivierten Gegenden gebaut, wo sie dabei halfen, den Reichsgedanken und das Christentum zu verbreiten, aber auch „Entwicklungshilfe“ und Kulturarbeit zu leisten. So ordnete Karl 789 an, dass alle Klöster Klosterschulen zu unterhalten hätten. Die Idee der großen Klosterbibliotheken, die die mönchische Lebensform keineswegs voraussetzte, die aber den vollständigen Verlust der antiken Literatur in den Folgejahrhunderten verhinderte, setzte sich allmählich durch. Es ist weitgehend den Mönchen zu verdanken, dass das kulturelle Erbe der Antike über die Jahrhunderte des Frühmittelalters in Westeuropa erhalten blieb. Das Projekt der Vereinheitlichung des Mönchtums wurde erst von Karls Sohn Ludwig dem Frommen vollendet. Er war zuvor Unterkönig in Aquitanien gewesen, wo er bereits die Bekanntschaft mit Benedikt von Aniane gemacht hatte, einem westgotischen Adligen, der nach einem halberemitischen Leben unter der Mischregel ab 787 das aquitanische Großkloster Aniane auf Grundlage der Benediktsregel aufgebaut hatte. Nachdem Ludwig die Nachfolge seines Vaters angetreten hatte, hielt sich Benedikt seit 814 am Aachener Hof auf und war Abt von Maursmünster, ab etwa 816 von Inda (Kornelimünster bei Aachen). Er entwarf Consuetudines, aktualisierende Auslegungen der Regula für das Alltagsleben in einem Kloster des 8./9. Jahrhunderts. Mit Unterstützung des Herrschers organisierte er in den Folgejahren die Vereinheitlichung, die schließlich im Konzil von Aachen 816–819 zur Vollendung gebracht wurde. Die dortigen Beschlüsse verabschiedete Ludwig als Kapitularien. Die Benediktregel wurde dort als einzige Klosterregel verbindlich für alle Klöster des Frankenreichs erklärt und um ebenfalls verbindliche Consuetudines ergänzt. Erwähnenswert ist eine neue Kleiderordnung (die bis heute Gültigkeit hat), die bewusste Entscheidung für das Großkloster und das Bekenntnis zu Karls Idee eines „Kulturklosters“, das also nicht als rein kontemplative Gemeinschaft abseits der Welt existieren durfte, sondern Seelsorge, Schuldienst und Mission betreiben musste. Mönche lasen Messen an Basiliken und Heiligtümern; dafür mussten sie die Priesterweihe empfangen haben. Ab jetzt setzte die Klerikalisierung des Benediktinertums ein. Die Reformdekrete von 816–819 sind aus heutiger Sicht nicht so sehr innovativ und mehr eine Sanktionierung der Veränderungen, die das Mönchtum im Frankenreich bis dahin durchlaufen hatte. Am Anfang war die kultische Reinheit des einzelnen Mönchs das zentrale Anliegen, und nun, rund 150 Jahre später, ging es vorrangig darum, das Kloster als einen heiligen, reinen Raum so einzurichten, dass besonders ausgebildete Asketen ihren religiösen Pflichten darin optimal nachkommen konnten. Dadurch wurde die Klosterarchitektur aufgewertet, denn sie sollte diesen Rahmen schaffen. Machtgewinn, Reformen, neue Orden. „So sehr die enge Verbindung von karolingischer Herrschaft und Benediktinertum, von der beide Teile gleichzeitig profitierten, den Klöstern eine große Zahl geschenkt hatte, so bedingte die Auflösung des karolingischen Reiches auch einen allgemeinen Niedergang des Mönchtums.“ (Karl Suso Frank) Inbegriff dieser Entwicklung ist die Zerstörung von Monte Cassino durch die Sarazenen 883/84. Die Gründung der Abtei Cluny am 11. September 910 durch Wilhelm von Aquitanien unter Abt Berno wurde zum Beginn einer Klosterreform, die eine neue Epoche einleitete. In der Gründungsurkunde wurde der Abtei freie Abtswahl und Unabhängigkeit in doppeltem Sinn garantiert: Exemtion von bischöflicher Aufsicht und Immunität gegenüber weltlichen Herrschern. Konkret lief die Reform in der Regel so ab, dass ein Fürst oder lokaler Herrscher in seinem Territorium zunächst dem zu reformierenden Kloster Güter zurückerstattete, die in der Vergangenheit zweckentfremdet worden waren. Zusammen damit wurden die Freiheiten des Klosters (Exemption, Immunität) bekräftigt. Von den Insassen wurde nun ein Leben strikt nach der Benediktsregel verlangt, mit besonderem Nachdruck auf der persönlichen Armut der Mönche. Wer sich dem widersetzte, wurde aus dem Kloster entfernt. Dann wurden Mönche aus einem vorbildhaften Kloster in das zu reformierende Kloster versetzt, um den Konvent an die neue Lebensweise zu gewöhnen. Der Reformgedanke – getragen von einer starken Betonung der Liturgie – breitete sich im Westen rasch aus, während im sächsischen Kaiserreich das anianisch geprägte Gorzer Mönchtum vorherrschte. Der Zusammenschluss von Klöstern zu einem Klosterverband sollte die Unabhängigkeit zusätzlich sichern und wurde von Cluny konsequent vorangetrieben. Innerhalb eines Jahrhunderts umfasste der Klosterverband von Cluny über 1.000 abhängige Klöster. Die Zugehörigkeit verpflichtete die einzelnen Gemeinschaften zum Gebet füreinander (Gebetsverbrüderung). Sie akzeptierten Mitsprache von außen etwa bei der Abtswahl oder bei Visitationen. Vor allem aber übernahmen sie die gemeinsame Auslegung der Benediktsregel für den Klosteralltag (Consuetudo). Der so entstandene "sacer ordo cluniacensis" war der erste eigentliche Orden in der Geschichte des Mönchtums. Nach Karl Suso Frank war es das im 11. Jahrhundert neu entdeckte Ideal des Eremitenlebens, das dem westlichen Mönchtum neue Impulse gab. Teils führten diese zu Neugründungen; bei den Camaldulensern ist die Herkunft aus dem Benediktinertum offensichtlich. Aber auch innerhalb der benediktinischen Klosterverbände führte das neue Ideal von Armut und Einsamkeit zu Veränderungen: Die Laienbrüder (Konversen) übernahmen den Kontakt zur Außenwelt und bewirtschafteten selbständig die Ländereien des Klosters. Den Chormönchen ermöglichten sie so ein weltabgeschiedenes, asketisches Leben. Die Lebensweise der Mönche von Cluny erregte auch Kritik. Das in der Benediktsregel vorgesehene Gleichgewicht von Gebet und Handarbeit wurde zugunsten des Gebets aufgeweicht. Die Abtei lebte von Messstipendien und Gebetsstiftungen. In ihrer Blütezeit während des 11. Jahrhunderts wurden in Cluny von 400 Mönchen täglich über 200 Psalmen gebetet. Ihre Messen und Prozessionen waren das Prächtigste, was es innerhalb der Kirche gab. Als Robert von Molesme die Reformabtei Molesme gründete, war das nach Frank anfänglich kein Protest gegen den Alltag in den Cluniazenserklöstern, sondern der Versuch einer Rückkehr zu den Ursprüngen. Getreu der Benediktsregel lebten die Mönche weltabgeschieden, einfach und arm. Ihren Unterhalt sollten sie durch Handarbeit statt durch Messstipendien und Stiftungen verdienen. Sein Versuch scheiterte; ein zweiter glückte ihm: In Cîteaux baute Robert ab 1098 ein Reformkloster auf, das er als Abt leitete und das unter seinen Nachfolgern Alberich von Cîteaux und Stephan Harding zum Mutterkloster des Zisterzienserordens wurde. Sowohl die „schwarzen“ als auch die „weißen“ Mönche (Cluniazenser und Zisterzienser, benannt nach der Farbe des Habits) beanspruchten, die ursprüngliche Regel zu befolgen, und bezichtigten die Gegenseite, Neuerungen eingeführt zu haben. Dieser Streit brachte eine Kontroversliteratur hervor; bekannte Vertreter beider Seiten sind Petrus Venerabilis (Cluny) und Bernhard von Clairvaux. Die Zisterzienser setzten dem öffentlichkeitswirksam zelebrierten Gebetsleben der Benediktiner Einsamkeit, Armut und körperliche Arbeit entgegen. Bewusst kehrten sie zu einer einfachen Liturgie zurück. Bis ins Hochmittelalter waren die Benediktiner der bedeutendste Orden, wenn auch zerteilt in rivalisierende Familien. Mit den Augustiner-Chorherren kam allerdings ein Orden hinzu, der sich nicht mehr auf die Benediktsregel bezog, sondern auf die (ältere) Regel des Augustinus von Hippo. Die im 13. Jahrhundert neu entstehenden Bettelorden stellten die Vorherrschaft des Benediktinertums aber viel weitgehender in Frage. Die Benediktiner waren in das Feudalsystem und die Naturalwirtschaft integriert; ihre Arbeit war auf Landwirtschaft und Seelsorge ausgerichtet. Die neu aufkommenden Städte und die sich entwickelnde Geldwirtschaft konnten die Benediktiner nur langsam in ihre Lebensweise integrieren. Bildung genossen und vermittelten die Benediktiner in lokalen Klosterschulen. Die im 12. Jahrhundert neu aufkommenden Universitäten, die ein nicht-sesshaftes Leben der Lehrenden und Studierenden erforderten, waren den Benediktinern fremd. Verschiedene Faktoren gefährdeten die wirtschaftlichen Grundlagen der Benediktinerklöster und führten vielfach zum Ruin: die Große Pest, der Hundertjährige Krieg und die immer zahlreicheren Kommenden. Die Benediktiner reagierten darauf, indem sie das von den Bettelorden praktizierte System der Kongregationen übernahmen. Einen ersten Schritt tat 1336 Papst Benedikt XII.: in seiner Bulle "Summi magistri" (auch bekannt als "Benedictina") verfügte er den Zusammenschluss aller Benediktinerklöster in 30 Provinzen und die Einsetzung von Provinzkapiteln, die alle drei Jahre zusammentreten sollten. Über Visitationen und verbindliche Rechenschaftsberichte sollten die Zustände in den einzelnen Klöstern transparent werden. Diese Regelungen wurden nicht umgesetzt, wirkten aber anregend. Parallel zum Konstanzer Konzil kamen 1417 in der Abtei Petershausen Vertreter von Bendeiktinerklöstern zusammen, um Reformen zu besprechen; dabei bezogen sie sich auf die Bulle von 1336. Direkte Folge war die Melker Klosterreform. Auch von anderen Klöstern gingen im 15. Jahrhundert Reformbewegungen aus, so etwa von Kastl in Bayern. Die Bursfelder Kongregation war aber die erste Benediktinerkongregation strenger Observanz, gekennzeichnet durch jährliche Generalkapitel und eine starke Stellung des Abtes von Bursfelde, der berechtigt war, alle Streitfragen, die in den Einzelklöstern auftraten, verbindlich zu entscheiden. In Italien entspricht dem die Cassinensische Kongregation (ursprünglich bezeichnet als Kongregation von Santa Giustina), die Impulse der Devotio moderna und des Humanismus aufnahm. Sie strahlte nach Spanien aus (Kongregation von Valladolid, 1436). Reformation, Aufklärung und Säkularisation. Die Reformation traf die Benediktiner, wie alle großen Orden, schwer. Etwa die Hälfte der europäischen Benediktinerklöster gingen unter – zunächst durch Selbstauflösung, weil sich die Mönche den Lehren Martin Luthers anschlossen, der das Mönchtum als unchristlich ablehnte, später durch die Erlasse evangelischer Fürsten. In Italien und Spanien trugen die genannten Kongregationen den Neubeginn. In Frankreich waren die Benediktinerklöster von den Hugenottenkriegen (1562–1593) betroffen. Die Reform des französischen Benediktinertums gelang erst im 17. Jahrhundert im Anschluss an das tridentische Rahmengesetz, ausgehend von den Kongregationen St. Vanne (Vannisten, begründet von Didier de la Cour) und St. Maurus (Mauriner). Beide Kongregationen vertraten das Ideal des gebildeten Mönchs und brachten zahlreiche Gelehrte hervor. Obwohl es Bemühungen gab, mit dem westfälischen Frieden die Besitzungen der römisch-katholischen Kirche im Reich wiederherzustellen, blieb es beim Status quo. Innerhalb des Ordens setzten sich die Ideen der Bursfelder Kongregation durch: etwa Einzelklöster, Wahl des Abts auf Lebenszeit. Im deutschsprachigen Raum scheiterten Pläne einer umfassenden Kongregation, vielmehr entstanden die schweizerische, schwäbische, niederschwäbische und bayerische Kongregation, in Österreich die österreichische und salzburgische Kongregation. Viele dieser Klöster wurden Träger der Barockkultur, was sich in den großen Klosteranlagen von Ottobeuren, Weingarten, Einsiedeln, Sankt Gallen, Melk, Göttweig und anderen spiegelt. Sie unterstützten die für den Barock typischen Frömmigkeitsformen durch pastorales und pädagogisches Engagement. 1622 wurde die bedeutende Salzburger Benediktineruniversität gegründet. Forschung und Lehre an dieser Universität waren eine Gemeinschaftsaufgabe, an der sich alle deutschsprachigen Kongregationen beteiligten. Die Krise der Barockkultur traf die Benediktinerklöster hart. Aufklärung und Säkularisierung stellten ihre Grundlagen in Frage. In allen katholischen europäischen Staaten sind Klosterauflösungen zu verzeichnen; Beispiele: Von der Restauration bis zur Gegenwart. Im Zuge der nachfolgenden Restauration kam es zu Neugründungen. Sie gingen von Einzelpersonen aus, die vom klösterlichen Ideal begeistert waren. Prosper-Louis-Pascal Guéranger, ein Weltpriester, der keine Erfahrung im Klosterleben hatte, entwarf allein aufgrund seiner Literaturstudien das Konzept der Abtei Saint-Pierre de Solesmes, die 1832 gegründet wurde und die Gründung einer neuen Benediktinerkongregation inspirierte. Maurus und Placidus Wolter, zwei Brüder, hatten in der römischem Abtei Sankt Paul vor den Mauern den benediktinischen Alltag kennengelernt und gründeten 1863 in Hohenzollern das Kloster Beuron, ebenfalls Zentrum einer eigenen Kongregation. Neben Solesmes und Beuron kam 1850 als drittes Reformzentrum unter dem Abt Pietro Casaretto das alte Kloster Santa Scolastica in Subiaco hinzu (Sublazenser Kongregation). Unter den Neugründungen, die sich dieser Kongregation angeschlossen haben, ist die Abbaye de la Pierre-Qui-Vire in Burgund besonders bekannt geworden, 1850 von dem „monastischen Autodidakten“ Jean-Baptiste Muard gegründet. Im Bayerischen Konkordat von 1817 wurden Klosterneugründungen vereinbart, für die Ludwig I. ab 1825 vor allem Benediktiner heranzog. 1830 entstand als erste Benediktinerabtei das Kloster Metten neu. Zwar gab es Benediktinerklöster außerhalb Europas schon im 16. (Brasilien) und 17. Jahrhundert (Mexiko). Aber die weltweite Ausbreitung erfolgte hauptsächlich seit dem 19. Jahrhundert, und sie war getragen von deutschsprachigen Benediktinern. Ihr Leitbild war das frühmittelalterliche, missionierende Benediktinertum. Andreas Amrhein, ein Beuroner Mönch, gründete 1883 die Benediktinerkongregation von St. Ottilien (Missionsbenediktiner), die zuerst in Südafrika und Korea tätig wurde. Das erste Benediktinerkloster der Vereinigten Staaten war St. Vincent in Pennsylvania, 1847 zur Betreuung deutscher Auswanderer von Bonifaz Wimmer (Abtei Metten) gegründet. Die schweizerisch-amerikanische Kongregation (seit 1969: panamerikanische Kongregation) widmete sich der Mission der indigenen Völker Nordamerikas; Mutterkloster ist das 1854 gegründete Kloster St. Meinrad (Indiana). Papst Leo XIII. schuf 1893 (Breve "Summum semper") die Benediktinische Konföderation ("Confoederatio congregationum monasticarum Ordinis S. Benedicti") als Dachorganisation aller Kongregationen. Die Äbte wählen jeweils auf 12 Jahre den Abtprimas. Dieser hat keine Leitungsfunktion, sondern nur repräsentative Aufgaben. Von 107 Klöstern mit 2765 Mitgliedern im Jahr 1880 wuchs das Benediktinertum bis 1960 auf 237 Klöster mit 12131 Mitgliedern; seitdem sind die Zahlen wie in anderen römisch-katholischen Orden allerdings rückläufig. Als Schwerpunkte benediktinischer Tätigkeit im 20. Jahrhundert gelten die Liturgie (Liturgische Bewegung), die Bibelwissenschaft (Arbeiten zur Vulgata und zur Vetus Latina in der päpstlichen Abtei "San Girolamo in urbe", Rom, bzw. im Kloster Beuron) und die Patristik (Edition der Reihe Corpus Christianorum: Abtei Steenbrugge). Heute gibt es in Deutschland 34 Männer- und 27 Frauenklöster, in Österreich 16 Männer- und 4 Frauenklöster und in der Schweiz 9 Männer- und 12 Frauenklöster der Benediktiner. Die Österreichische Benediktinerkongregation unterhält zudem das Kolleg St. Benedikt in Salzburg, das Studienhaus für die deutschsprachigen Benediktinermönche. Seit 1893 besteht die internationale Hochschule der Benediktiner (San Anselmo) in Rom. Zurzeit gibt es weltweit rund 20.000 Mönche und Nonnen beziehungsweise Schwestern, die zur benediktinischen Ordensfamilie gehören. Spiritualität. Wesentliche Eigenschaft, die ein Mönch nach der Benediktsregel haben muss, ist die Suche nach Gott. Das Leben im Kloster soll dafür den geeigneten Rahmen schaffen. Die Benediktsregel bezeichnet das Kloster als Schule für den Dienst des Herrn. Gehorsam im Sinne des einfühlsamen Hinhörens auf Gott und die Menschen wird als weitere wichtige Eigenschaft eines Mönches in der Benediktusregel genannt. Wert legen die Benediktiner auf "discretio", die Unterscheidungsgabe. Sie wird in der Regel als Mutter aller Tugenden bezeichnet. Der Abt soll sich am Beispiel des biblischen Jakob orientieren, der darauf achtete, seine Herde nicht zu überanstrengen: „So ordne er alles mit Maß, damit die Starken finden, was sie suchen, und die Schwachen nicht weglaufen.“ „Ora et labora et lege“ (lateinisch: „Bete und arbeite und lies“) gilt als Inbegriff benediktinischer Spiritualität. In der Benediktsregel und in der klassischen Literatur des Ordens kommt diese Formulierung nicht vor. Es scheint sich um ein geflügeltes Wort der spätmittelalterlichen (nicht spezifisch benediktinischen) Klosterkultur zu handeln; in einer Unterrichtung für Novizen des Kartäuserordens (15. Jahrhundert) wird die vorbildhafte Lebensweise der spätantiken Wüstenväter so zusammengefasst: <poem style="margin-left:2em"> </poem> In dieser oder ähnlicher Form wurde das Sprichwort auch mit Benedikt, Bonifatius oder Hieronymus in Verbindung gebracht. Eine inhaltliche Nähe lässt sich zu Kapitel 48 der Benediktsregel feststellen, in dem es heißt: „Müßiggang ist ein Feind der Seele. Deshalb sollen sich die Brüder beschäftigen: zu bestimmten Zeiten mit Handarbeit, zu bestimmten anderen Stunden mit heiliger Lesung.“ Erzabt Maurus Wolter, der zu den Wiederbegründern des benediktinischen Mönchtums im 19. Jahrhundert gehörte, bezeichnete "Ora et labora" 1880 in einer Programmschrift als „alte(n) und berühmte(n) Wahlspruch der Mönche“. Gottesdienst und Arbeit seien „die zwei Flügel, mit denen der Mensch sich zu den Höhen der Vollkommenheit aufschwingt.“ Das Klosterleben der Benediktiner ist durch das Gebet geprägt. Im Mittelpunkt steht nicht das Gebet des Einzelnen, sondern das Gebet in der Gemeinschaft. Die Arbeit tritt neben den Gottesdienst und ein großer Teil des Tages ist dem gemeinschaftlichen Chorgebet und Lesung gewidmet. Die Arbeit bietet den nötigen Ausgleich und sichert gleichzeitig den Lebensunterhalt der Gemeinschaft. Der Tagesablauf der Mönche ist durch den Gottesdienst gegliedert, dem nach der Regel nichts vorgezogen werden darf. „Sobald man zur Stunde des Gottesdienstes das Zeichen hört, läßt man alles liegen, was man in Händen hatte, und kommt in großer Eile herbei, jedoch mit Ernst.“ Die Messe wird in Benediktinerklöstern heute täglich gefeiert. Die Magisterregel, die der Benediktsregel als Vorlage diente, sah vor, dass die Mönche sonntags an der Eucharistiefeier der Pfarrkirche teilnahmen; unter der Woche war die Austeilung des Sakraments durch den Abt, einen Laien, vor der Hauptmahlzeit üblich. Die Benediktsregel macht zu diesem Thema keine genauen Angaben. Doch gibt es in der Benediktsregel genaue Vorgaben für das Stundengebet. Sie schreibt eine „geheiligte Siebenzahl“ der Gebetszeiten im Tageslauf vor (Laudes, Prim, Terz, Sext, Non, Vesper und Komplet), zu denen noch die nächtlichen Vigilien hinzukommen. Innerhalb einer Woche sollen alle 150 Psalmen des Alten Testamentes gesungen werden. Die Benediktsregel betrachtet das als ein Mindestmaß und verweist auf das Vorbild der frühen Mönche: „Lesen wir doch, daß unsere heiligen Väter in ihrem Eifer an einem Tag vollbracht haben, was wir in unserer Lauheit wenigstens in einer Woche leisten sollten.“ In Cluny strebte man diesem Ideal nach. Hier wurden im 11. Jahrhundert über 150 Psalmen täglich gebetet. Seit der Neubesinnung in der Ausrichtung der Ordensgemeinschaften im Zuge des Zweiten Vatikanischen Konzils wurden die Gebetszeiten auf sieben beschränkt; die Prim wurde abgeschafft. Heute ist das Psalmengebet der Benediktiner so gestaltet, dass die 150 Psalmen entweder innerhalb einer Woche oder auf zwei Wochen aufgeteilt gebetet werden können. Besonders in den bayrischen und österreichischen Abteien werden die sieben Gebetszeiten aufgrund der Tätigkeiten der Mönche in Schule und Pfarrseelsorge mitunter zusammengefasst. Beispielsweise werden Terz, Sext und Non zu einer sogenannten Tageshore oder Mittagshore zusammengefasst. Kennzeichnend für die Benediktsregel ist, dass sie immer wieder für ein äußeres liturgisches Handeln die entsprechende innere Haltung benennt, meist ist das die Ehrfurcht. Ein Beispiel: „Bedenken wir also, wie wir uns verhalten sollen unter den Augen Gottes und seiner Engel, und stehen wir beim Singen der Psalmen so, daß unser Denken und unser Herz im Einklang mit unserer Stimme sind.“ Tätigkeiten der Benediktiner. Schulen. Die Lehrtätigkeit der Benediktinerklöster hat eine lange Tradition. Die Benediktsregel (Kapitel 59) kennt das Institut der Oblation, d. h. minderjährige Jungen wurden von den Eltern dem Kloster übergeben und gehörten durch diese Darbringung unwiderruflich dem Kloster an. Im Laufe der Jahrhunderte wurden die Benediktinerklöster zu Zentren der Kultur und Bildung und haben nicht selten die Kinder aus Adelshäusern ebenso erzogen wie das einfache Volk. Aus dieser Tradition heraus sind Schulen mit modernen Lehrplänen entstanden. Auch heute noch unterhalten viele Benediktinerklöster Schulen und Internate. Eine der bekanntesten Benediktinerschulen in Deutschland unterhält die Abtei Ettal mit einer Schul- und Internatstradition, die bis in die Barockzeit zurückgeht; vormals als Ritterakademie für junge Knaben aus dem Adelsstand während einer der Blütezeiten des Klosters im 18. Jahrhundert gegründet, wurde die Schultradition um 1900 (nach fast hundertjähriger Unterbrechung durch die Säkularisation) bis heute im Sinne der klassischen humanistischen Bildung fortgeführt. Die bekanntesten Benediktinergymnasien in Österreich sind jenes des Stiftes St. Paul im Lavanttal, das Schottengymnasium in Wien, die Stiftsgymnasien von Stift Melk, Stift Admont, Stift Kremsmünster, Abtei Seckau und Stift Seitenstetten. Das Kloster Einsiedeln, das Kloster Engelberg und das Kloster Disentis in der Schweiz unterhalten ebenfalls eine Schule. Jugendarbeit und Erwachsenenbildung. Neben diesen für den dauerhaften Besuch angelegten Einrichtungen laden verschiedene Jugendbegegnungshäuser und Jugendbildungshäuser der Benediktinerklöster zum Besuch ihrer offenen Angebote ein. Die Arbeit vieler Benediktinerklöster erstreckt sich heute aber auch auf das Gebiet der Erwachsenenbildung, beispielsweise werden Seminare für Manager und Unternehmer veranstaltet. Landwirtschaft. Landwirtschaft insgesamt (Waldwirtschaft, Ackerbau, Viehzucht, Obstgärten, Weinbau, Liköre und Kräuter) ist nach wie vor wichtiger Bestandteil benediktinischer Klöster. Das Kloster Plankstetten in der Oberpfalz stellte 1994 auf organisch-biologische Landwirtschaft um; die Mönche waren damit regional und innerhalb des Ordens Pioniere. Mittlerweile betreiben auch das Benediktinerinnenkloster Kirchschletten und die Benediktinerabtei Niederaltaich Biolandbau. Mission. Darüber hinaus betreibt der Benediktinerorden vor allem in Afrika und Asien zahlreiche Missionsstationen, wie zum Beispiel Peramiho in Tansania. Die Missionsbenediktiner der Benediktinerkongregation von St. Ottilien (Erzabtei Sankt Ottilien, Abtei Schweiklberg, Abtei Münsterschwarzach, Abtei Königsmünster, Abtei St. Otmarsberg) wurden im 19. Jahrhundert mit dem Ziel der Mission gegründet. Dass ein kontemplativ ausgerichteter Orden gezielt Mission betrieb, war damals ein Novum. Die kubanische Regierung gestattete den Benediktinern 2009 eine Klosterneugründung in Jaruco. Die Gründung in Jaruco scheiterte jedoch 2010, weil sich das zugewiesene Grundstück als ungeeignet erwies, so dass die Gemeinschaft weiter in einem provisorischen Haus in Havanna lebt (Stand: 2012). Auch das missionsbenediktinische Institut St. Bonifatius betreibt neben vielen apostolischen Aufgaben in Europa Missionsstationen in Ruanda und im Kongo sowie in Guatemala. Die zu diesem Säkularinstitut gehörigen Frauen versuchen, indem sie mitten in der Welt benediktinische Spiritualität leben, die „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute“ (vgl. Pastoralkonstitution Gaudium et Spes) zu teilen. „Erbe und Auftrag“. Die Beuroner Benediktinerkongregation, vertreten durch die Erzabtei St. Martin, publiziert seit 1959 die Quartalszeitschrift "Erbe und Auftrag. Benediktinische Zeitschrift – Monastische Welt". Schriftenleiter ist der emeritierte Abtpräses Albert Schmidt. Kultur. Zahlreiche Abteien führen bedeutende Museen und sind Mäzene für moderne und klassische Kunst. Überhaupt verfügen die Benediktiner über bedeutende Kunstschätze und berühmte Bibliotheken. Bekannt ist jene 200.000 Bände zählende im Stift Admont, deren 70 Meter langer Prunksaal als größte Klosterbibliothek der Welt gilt. Die bedeutendste Bücher- und Kunstsammlung des Benediktinerordens befindet sich im Kärntner Stift St. Paul im Lavanttal. Die älteste Abschrift der Benediktsregel findet sich in der Bibliothek des ehemaligen Klosters St. Gallen. Berühmt ist ebenso die Klosterbibliothek Metten. Folgende Likörrezepturen mit kulturellem Wert wurden von Benediktinermönchen maßgeblich entwickelt: Bestehende Benediktinerklöster im deutschsprachigen Raum. Für eine Liste der bestehenden und ehemaligen Klöster weltweit siehe Liste der Benediktinerklöster beziehungsweise Liste der Benediktinerinnenklöster. Deutschland. Bayerische Benediktinerkongregation / Föderation der Bayerischen Benediktinerinnen. Siehe: Bayerische Benediktinerkongregation und Föderation der Bayerischen Benediktinerinnenabteien "Männerklöster" "Frauenklöster" Beuroner Benediktinerkongregation. Siehe Beuroner Kongregation "Männerklöster" "Frauenklöster" Benediktinerkongregation von St. Ottilien. Siehe: Benediktinerkongregation von St. Ottilien Kongregation von der Verkündigung der seligen Jungfrau Maria (Congregatio Annuntiationis BMV). Siehe: Kongregation von der Verkündigung der seligen Jungfrau Maria "Männerklöster" Sublacenser Benediktinerkongregation. "Männerklöster" Benediktinerinnen der Anbetung. Siehe: Benediktinerinnen der Anbetung Benediktinerinnen von St. Lioba. siehe: Benediktinerinnen von der heiligen Lioba Benediktinerinnen vom heiligsten Sakrament. siehe: Benediktinerinnen vom Heiligsten Sakrament Österreich. Österreichische Benediktinerkongregation. siehe: Österreichische Benediktinerkongregation "Männerklöster" Beuroner Benediktinerkongregation. "Männerkloster" Benediktinerkongregation von St. Ottilien. "Männerkloster" Schweiz. Schweizer Benediktinerkongregation. siehe: Schweizer Benediktinerkongregation "Männerklöster" "Frauenklöster" Benediktinerkongregation von St. Ottilien. "Männerkloster" Klöster außerhalb von Kongregationen. "Männerkloster" Benediktinerkongregation von Monte Oliveto Maggiore (Olivetaner). Siehe Benediktinerkongregation von Monte Oliveto Maggiore (Olivetaner) "Frauenkloster" Südtirol. Schweizer Benediktinerkongregation "Männerklöster"
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Bambara-Erdnuss
Die Bambara-Erdnuss ("Vigna subterranea"), im deutschen Sprachraum auch Erderbse oder "Angola-Erbse", sowie früher auch "Kriechender Erdbohrer" genannt, ist eine Pflanzenart, die zur Unterfamilie der Schmetterlingsblütler (Faboideae) innerhalb der Familie der Hülsenfrüchtler (Fabaceae oder Leguminosae) gehört. Diese Nutzpflanze ist nahe verwandt mit einer Reihe anderer „Bohnen“ genannter Feldfrüchte. Sie stammt aus Westafrika und wird heute in ganz Afrika, Asien, Australien und Mittel- und Südamerika kultiviert. Ihr deutscher Name leitet sich der ethnischen Gruppe der Bambara her. Hauptanbauländer sind Burkina Faso, Mali, Kamerun und Niger, sowie Nigeria, Tschad und Ghana. Sie ist eine ausgesprochen trockenheitsresistente Pflanze, die auch nährstoffarme Böden verträgt. Ähnlich sind die häufig genutzten Samen der Augenbohne oder der Erdbohne. Die wichtigste umgangssprachliche Bezeichnung im Anbaugebiet (frankophones Westafrika) lautet "Voandzou". Beschreibung und Ökologie. Vegetative Merkmale. Die Bambara-Erdnuss ist eine einjährige, ursprünglich flach kriechende, domestiziert aufrechte, bis etwa 30 Zentimeter hohe krautige Pflanze mit einer Pfahlwurzel. Die dreizähligen Blätter sind wechselständig, mit bis 30 Zentimeter langen Stielen. Die kurz gestielten, bis 10 Zentimeter langen Blättchen sind elliptisch bis eiförmig mit abgerundeter bis eingebuchteter Spitze. Die Nebenblätter (Stipeln) der Fiederblättchen sind sehr klein. Die ein- bis dreiblütigen, haarig gestielten Blütenstände sind nahe dem Boden. Die kurz gestielten, weißlich-gelben und zwittrigen Schmetterlingsblüten haben einen fünflappigen kurzen Kelch und zehn Staubblätter, wovon nur eins frei ist. Der einkammerige Fruchtknoten ist oberständig, mit einem langen, gebogenen, im oberen Teil bärtigen Griffel mit zweiteiliger Narbe. Es sind extraflorale Nektarien vorhanden, oft an einer abortiven Blütenknospen. Generative Merkmale. Die meist rundliche oder selten längliche, bis etwa 2,5–4 Zentimeter lange und hellbräunliche, leicht runzlige Hülsenfrucht enthält meist nur einen oder selten zwei glatte Samen. Die etwa 1 Zentimeter großen, rundlich bis ellipsoiden, teils abgeflachten und harten Samen sind von unterschiedlicher Farbe (hell, rot, orange, schwarz, auch gefleckt). Um das weiße Hilum ist manchmal ein farbiges „Auge“ ausgebildet. Die Hülsen wachsen wie bei der Erdnuss an einem langen Karpophor unter der Erde, sie sind aber härter. Dies ist eine Anpassung an Buschfeuer, die das Verbrennen der Samen verhindert. Es ist also eine geokarpe (boden-, erdfrüchtige) Pflanze. Die Chromosomenzahl beträgt 2n = 22. Nutzung. Man kann die jungen Hülsenfrüchte oder die getrockneten Samen verwenden. Letztere werden entweder eingeweicht und gekocht, oder zu Mehl gemahlen. Systematik. "Vigna subterranea" gehört zur Sektion "Vigna" in der Untergattung "Vigna" innerhalb der Gattung "Vigna". 1648 beschrieb sie erstmals Marcgrave de Liebstad als „Mandubi d'Angola“. Die Erstveröffentlichung erfolgte 1763 unter dem Namen (Basionym) "Glycine subterranea" durch Carl von Linné. Die Neukombination zu "Vigna subterranea" wurde 1980 durch Bernard Verdcourt in "Kew Bulletin", Volume 35, S. 474 veröffentlicht. Synonyme für "Vigna subterranea" sind: "Voandzeia subterranea" Weiter Synonyme waren "Arachis africana" und "Cryptolobus subterraneus"
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Bonn
Die Bundesstadt Bonn (im Latein der Humanisten "Bonna") ist eine kreisfreie Großstadt im Regierungsbezirk Köln im Süden des Landes Nordrhein-Westfalen und Zweitregierungssitz der Bundesrepublik Deutschland. Mit  Einwohnern () zählt Bonn zu den zwanzig größten Städten Deutschlands. Bonn gehört zu den Metropolregionen Rheinland und Rhein-Ruhr sowie zur Region Köln/Bonn. Die Stadt an beiden Ufern des Rheins war von 1949 bis 1973 provisorischer Regierungssitz und von 1973 bis 1990 Bundeshauptstadt und bis 1999 Regierungssitz Deutschlands, danach wurde sie zweiter Regierungssitz. Die Vereinten Nationen unterhalten seit 1951 hier einen Sitz. Bonn kann auf eine mehr als 2000-jährige Geschichte zurückblicken, die auf germanische und römische Siedlungen zurückgeht, und ist damit eine der ältesten Städte Deutschlands. Von 1597 bis 1794 war es Haupt- und Residenzstadt des Kurfürstentums Köln. 1770 kam Ludwig van Beethoven hier zur Welt. Im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die 1818 gegründete Universität Bonn zu einer der bedeutendsten deutschen Hochschulen. 1948/49 tagte in Bonn der Parlamentarische Rat und arbeitete das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland aus, deren erster Parlaments- und Regierungssitz Bonn 1949 wurde. In der Folge erfuhr die Stadt eine umfangreiche Erweiterung und wuchs über das neue Parlaments- und Regierungsviertel mit Bad Godesberg zusammen. Daraus resultierte die Neubildung der Stadt durch Zusammenschluss der Städte Bonn, Bad Godesberg, des rechtsrheinischen Beuel und Gemeinden des vormaligen Landkreises Bonn am 1. August 1969. Nach der Wiedervereinigung 1990 fasste der Bundestag 1991 den Bonn/Berlin-Beschluss, infolge dessen der Parlaments- und Regierungssitz 1999/2000 in die Bundeshauptstadt Berlin und im Gegenzug zahlreiche Bundesbehörden nach Bonn verlegt wurden. Seitdem haben in der Bundesstadt der Bundespräsident, der Bundeskanzler und der Bundesrat einen zweiten Dienstsitz, gemäß dem Berlin/Bonn-Gesetz sechs Bundesministerien ihren ersten Dienstsitz, die anderen acht einen Zweitsitz. Mit dem Namenszusatz "Bundesstadt" stärkt der Bund den Standort Bonn als Zweitregierungssitz. Bonn weist als Sitz von 20 Organisationen der Vereinten Nationen (UN) einen hohen Grad internationaler Verflechtung auf, trägt den Titel UN-Stadt und wird häufig als Welthauptstadt für Nachhaltigkeit und Klimaschutz bezeichnet. Zudem sind die beiden DAX-Unternehmen Deutsche Post und Deutsche Telekom gesetzlich hier ansässig. Besonders wegen der Sitze von Organisationen und Unternehmen wird das Stadtbild neben Kirchtürmen durch mehrere Hochhäuser geprägt. Dies unterstreicht auch die Bedeutung als Büro-Immobilienmarkt mit mehr als vier Millionen Quadratmetern Fläche. Geographie. Topografie und Landschaftsräume. Am Übergang vom Mittelrheingebiet zur Niederrheinischen Bucht, der durch den Godesberger Rheintaltrichter markiert wird, liegt im Südwesten des Landes Nordrhein-Westfalen die Stadt Bonn. Auf 141,1 Quadratkilometer dehnt sie sich zu beiden Seiten des Rheines aus. Dabei bilden die linksrheinischen Stadtteile etwa drei Viertel der Gesamtfläche. Im Süden und Westen umschließen die Ausläufer der Eifel mit dem zum Naturpark Rheinland gehörenden Kottenforst und die Voreifel die Stadt. Nördlich von Bonn öffnet sich das Rheintal in die ab dem Ortsteil Duisdorf bergseitig zur Ville hin vom Vorgebirge begleitete Kölner Bucht. Die hier mündende Sieg stellt im Nordosten die natürliche Grenze dar, das Siebengebirge im Südosten, während im Osten noch einige rechtsrheinische Ortsteile im Pleiser Hügelland liegen. Jenseits des Siebengebirges erstreckt sich südöstlich von Bonn der Westerwald, jenseits der Siegniederung nordöstlich das Bergische Land. Bonn hat seinen geografischen Mittelpunkt am Bundeskanzlerplatz, der sich im Ortsteil Gronau befindet. Die geografische Lage des Platzes ist . Die Bonner Innenstadt, die nicht zum Rhein hin ausgerichtet ist, liegt auf einer Höhe von bis . Die größte Ausdehnung des Stadtgebiets in Nord-Süd-Richtung beträgt 15 Kilometer, in West-Ost-Richtung 12,5 Kilometer. Die Stadtgrenzen haben eine Länge von 61 Kilometer. Auf der rechten Rheinseite liegt der Ennert, der nördliche Ausläufer des Siebengebirges, auf dem Bonner Stadtgebiet. Zu ihm gehört der Paffelsberg, der mit als die höchste Erhebung der Stadt Bonn gilt. Weitere Erhebungen in diesem Höhenzug sind der namensgebende Ennert, Holtorfer Hardt und Röckesberg sowie jeweils mit markanten Steilhängen Rabenlay und Kuckstein, westlich vorgelagert ist der Finkenberg. Auf der linken Flussseite sind die dominierenden Erhebungen Venusberg () und Kreuzberg (), nach Südwesten steigt das Stadtgebiet zum Kottenforst hin auf bis zu an. Der tiefste Bodenpunkt befindet sich mit auf der Landzunge Kemper Werth an der Siegmündung. Nachbargemeinden. Zehn Städte und Gemeinden grenzen an die Gemarkung Bonns, die alle – bis auf Remagen, das im Landkreis Ahrweiler im Land Rheinland-Pfalz liegt – zum nordrhein-westfälischen Rhein-Sieg-Kreis gehören: Stadtgliederung und -zuordnung. Bonn ist eine kreisfreie Stadt mit dem Kraftfahrzeugkennzeichen "BN". Bonn ist nach § 3 der Hauptsatzung in vier "Stadtbezirke" unterteilt, die aus insgesamt 51 "Ortsteilen" bestehen. Jeder Stadtbezirk verfügt über eine eigene Bezirksvertretung mit einem Bezirksbürgermeister. Daneben besteht die Stadt aus 65 "statistischen Bezirken", die teilweise den Ortsteilen im Namen und der Größe ähnlich sind. Zusätzlich wird Bonn von der städtischen Statistikstelle in neun "Stadtteile" aufgeteilt: "Bonner Zentrumsbereich", "Bonn-Südwest", "Bonn-Nordwest", Bundesviertel, "Godesberger Zentrumsbereich", "Godesberger Außenring", "Beueler Zentrumsbereich", "Beueler Außenring" und "Hardtberg". Auf dem Gebiet der Stadt Bonn bestehen 21 Gemarkungen in den Grenzen ehemaliger Gemeinden. Bonn gehört dem Regierungsbezirk Köln an. Die Bezirksregierung mit Sitz in Köln übt als Landesmittelbehörde die Kommunalaufsicht u. a. über den Haushalt der Stadt Bonn aus. Ferner übt die Bezirksregierung die Schulaufsicht über die Schulen Bonns aus. Weiterhin gehört Bonn dem Landschaftsverband Rheinland (LVR) mit Sitz ebenfalls in Köln an. Der LVR nimmt als Teil der kommunalen Selbstverwaltung für Bonn u. a. Aufgaben im Bereich sozialer Einrichtungen, zum Beispiel die Trägerschaft von Fach- und insbesondere psychiatrischen Krankenhäusern oder Förderschulen für behinderte Kinder, wahr. Weiterhin werden zum Beispiel die Aufgaben der Denkmalpflege für Bonn durch den LVR wahrgenommen. Siedlungsgeographie und Raumplanung. Bonn bildet den südlichen Rand der "Metropolregion Rhein-Ruhr", die als ein polyzentrischer Verdichtungsraum in Nordrhein-Westfalen verstanden wird und sich entlang den namensgebenden Flüssen Rhein und Ruhr erstreckt. Die Metropolregion Rhein-Ruhr umfasst ein Gebiet von etwa 7.000 km² mit mehr als zehn Millionen Einwohnern, zählt zu den fünf größten Metropolregionen Europas und ist unter den elf Metropolregionen in Deutschland die bevölkerungsreichste. Sie liegt zudem mitten im zentralen europäischen Wirtschaftsraum, der sogenannten Blauen Banane. Zum Verdichtungsraum Bonn zählen Teile der rechtsrheinischen Städte Sankt Augustin und Königswinter. Klima. Großräumig betrachtet gehört Bonn zum atlantisch-maritimen Klimabereich, d. h. das Klima ist mild sowie allgemein warm und gemäßigt. „Cfb“ lautet die Köppen-Geiger-Klassifikation. Dies bedeutet schneearme Winter mit durchschnittlich 56 Frosttagen (niedrigste Temperatur unter 0 Grad Celsius) und nur zehn Eistagen (Tageshöchsttemperatur unter 0 Grad) bei einer durchschnittlichen Januartemperatur von 2,0 Grad. Die mittlere Temperatur im Juli liegt bei 17,6 Grad Celsius, die durchschnittliche Jahrestemperatur bei 10,0 Grad. Somit zählt Bonn zu den wärmsten Regionen Deutschlands. Entsprechend früh setzen die Blützeiten im Frühling ein. Bezüglich der Niederschläge liegt Bonn im Regenschatten der südlich angrenzenden Mittelgebirgslandschaft. Während die Stadt einen mittleren Jahresniederschlag von nur 742 Millimetern aufweist, liegen die jährlichen Niederschläge in der Eifel bei über 800 Millimetern. Belastend auf die Menschen wirkt sich die stets hohe relative Luftfeuchtigkeit aus. Mit durchschnittlich 35 schwülen Tagen liegt Bonn weit vor anderen deutschen Städten. Im Volksmund wird hierbei vom „Bonner Reizklima“ gesprochen. Bonner wissen, dass dieser Effekt in der tiefsten Stadtlage, in einem ehemaligen Rheinarm, im Gebiet um den Hauptbahnhof, am stärksten wahrgenommen werden kann. Für die übermäßige Schwüle ist unter anderem die unzureichende Luftbewegung im Talkessel verantwortlich, da die meist aus dem Westen stammende Frischluft durch die nördlichen Ausläufer der Eifelberge abgebremst wird. Der Talkessel ergibt sich aus der Topografie: In Bonn endet das Untere Mittelrheintal, das hier in die Kölner Bucht übergeht. Die geringe Luftbewegung beeinflusst wiederum die innerstädtische Erwärmung, so dass die Temperaturen innerhalb des Stadtgebietes beispielsweise im Juli durchschnittlich 3 bis 5 Grad Celsius höher liegen als im Umland. In den Wintermonaten und während der Schneeschmelze tritt der Rhein häufig über seine Ufer. Bei Überschwemmungen sind insbesondere Straßen und Häuser in den Stadtteilen Mehlem (linksrheinisch) und Beuel (rechtsrheinisch) gefährdet. Das regionale Klima mit den Besonderheiten, im Winter schneearm und im Sommer schwül, sorgt auch für typisch lakonische Bonner Redensarten, wie das bekannte: „Entweder es regnet, oder die Schranken sind runter.“ Name. Die erste Erwähnung des römischen Ortes "Bonna" stammt aus den Historien des Tacitus und bezieht sich auf das Jahr 96 n. Chr. Aus dem römischen Ortsnamen ist der heutige Name der Stadt Bonn direkt abzuleiten. Allerdings war die Entwicklung nicht kontinuierlich. So wurde die Stadt im Mittelalter phasenweise als Bern beziehungsweise latinisiert als Verona bezeichnet, was historische Stadtsiegel belegen. Die erste Erwähnung als "oppidum Bonnense", also als „Stadt Bonn“, stammt aus dem Jahr 1211. Geschichte. Chronologie. Im Jahr 1989 feierte Bonn seinen 2000. Geburtstag. Die Stadt erinnerte damit an die Errichtung eines ersten befestigten römischen Lagers am Rhein 12 v. Chr., nachdem bereits 38 v. Chr. der römische Statthalter Agrippa an der Stelle Ubier angesiedelt hatte. Doch lebten im Bereich des heutigen Stadtgebietes schon sehr viel früher Menschen. Davon zeugen das 14.000 Jahre alte Doppelgrab von Oberkassel sowie ein Graben und Holzpalisaden, die im Bereich des Venusberges nachgewiesen wurden und aus der Zeit um 4080 v. Chr. stammen. War in der Zeit vor Christi Geburt die römische Präsenz in "Bonna" noch bescheiden, so sollte sich das nach der Niederlage der Römer in der Varusschlacht im Jahr 9 n. Chr. ändern. In den folgenden Jahrzehnten wurde hier eine Legion stationiert, die im nördlichen Bereich des heutigen Bonn das Legionslager Bonn errichtete. Um das Lager herum und südlich davon entlang der heutigen Adenauerallee siedelten Händler und Handwerker in einem vicus. Mit dem Ende des römischen Reiches ging der Niedergang Bonns in der Spätantike und im Frühmittelalter einher. Während der Raubzüge der Wikinger in den Rheinlanden wurde Bonn 882 zweimal gebrandschatzt und 883 die soeben wieder aufgebaute Stadt ein weiteres Mal von den Normannen überfallen, gebrandschatzt und ausgeplündert. In fränkischer Zeit und endgültig im 9. und 10. Jahrhundert entwickelte sich im Bereich des Bonner Münsters ein geistliches Zentrum, die "Villa Basilika", und im Bereich des heutigen Marktes eine Marktsiedlung. 1243 gilt als das Jahr der Verleihung vollständiger Stadtrechte. Große Bedeutung für die weitere Entwicklung der Stadt hatte der Ausgang der Schlacht bei Worringen im Jahr 1288. Die Kölner Kurfürsten machten Bonn – neben Brühl und Poppelsdorf – zu einem ihrer Wohnsitze und schließlich zu ihrer Residenz. Die von den Kurfürsten im 17. und 18. Jahrhundert erbauten prunkvollen Paläste verliehen der Stadt ihren barocken Glanz. Mit der Besetzung durch französische Truppen am 8. Oktober 1794 endete diese Epoche. Es folgten knapp zwei Jahrzehnte der Besatzung durch die Truppen Napoleons. Die Besatzungsabgaben an Lebensmitteln, Kleidung und Unterkünften sowie der Verlust der kurfürstlichen Landesverwaltung führten zu einer Verarmung der Bevölkerung und einer Abnahme der Einwohnerzahl um rund 20 %. Die Franzosen brachten ein bürgerliches Gesetzbuch (Code civil) und kommunalpolitische Munizipalverfassung nach Bonn. Noch unter französischer Besatzung kam es zur Ansiedlung mittlerer und größerer Industriebetriebe, insbesondere aus der Textilindustrie. Die Franzosen betrieben zudem eine konsequente Säkularisation: Liegenschaften des geistlichen Kurstaates, vor allem die kurfürstlichen Bauten, gelangten in staatlichen Besitz. Rechtsrheinische Gebiete des heutigen Bonn in Vilich kamen in den Besitz des Fürsten von Nassau-Usingen: Oberkassel gehörte zum Herzogtum Berg, einem französischen Satellitenstaat. Durch den Vertrag von Lunéville vom 9. Februar 1801 wurde auch bei Bonn der Rhein zur französischen Ostgrenze. Bonn wurde Sitz einer Unterpräfektur im neugebildeten Rhein-Mosel-Departement. Nach den Niederlagen der französischen Armee in Russland (1812) und bei der Völkerschlacht bei Leipzig räumten die Franzosen im Januar 1814 Bonn. Im Zuge der Beschlüsse des Wiener Kongresses fiel Bonn 1815 an Preußen. Die Stadt wurde in den nächsten Jahrzehnten geprägt von der am 18. Oktober 1818 durch die preußische Regierung neugegründeten Universität. Stifter und Namensgeber war König Friedrich Wilhelm III. von Preußen. Ende des 18. Jahrhunderts hatte es in Bonn eine Universität gegeben, die mit der französischen Besatzung 1794 geschlossen wurde. Die preußische Neugründung schloss nicht an die Hochschule aus kurfürstlicher Zeit an, sondern war Teil eines Gründungsprogramms, zu dem die Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin und die Schlesische Friedrich-Wilhelms-Universität Breslau gehörte. Der Zusatz "Rheinische" im Namen der Bonner Hochschule sollte sie als "Schwester" der Berliner und Breslauer Universitäten ausweisen. Tatsächlich wurde sie in den folgenden 100 Jahren der bevorzugte Studienort der Hohenzollern-Prinzen. Man nannte sie auch „Prinzenuniversität“, weil sowohl der damalige preußische Prinz Friedrich Wilhelm, sein Sohn Prinz Wilhelm, sowie auch dessen vier Söhne dort studierten. Auch andere Söhne hochadeliger Familien bevorzugten im 19. Jahrhundert ein Studium an jener Universität. Vor der Gründung in Bonn war Köln der Rivale für eine Universitätsgründung gewesen. Den Ausschlag gab wohl, dass die „aufgeklärte Tradition“ Bonns gegenüber dem „heiligen Köln“ für eine konfessionell paritätische Hochschule besser geeignet erschien. Aber auch rein praktische Gründe sprachen für Bonn: Mit dem alten kurfürstlichen Schloss und dem Poppelsdorfer Schloss gab es bereits geeignete Liegenschaften. Professoren, Studenten, Beamte und Offiziere kamen ab 1815 nach Bonn. Darunter zahlreiche Protestanten aus den preußischen Provinzen, was im „katholischen“ Rheinland eine Besonderheit darstellte. Die Preußen machten Bonn auch zur Garnisonsstadt. Im Zuge dessen wurde Bonn auch als Ruhesitz von Militärs beliebt. Auch der Fremdenverkehr erhielt nach der Reichsgründung 1871 im Zuge der „Rheinromantik“ jener Jahre einen Aufschwung. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Stadt zunächst von Kanadiern, dann von Briten und schließlich bis 1926 von Franzosen besetzt. Mehr als 1.000 Bonner, zum Großteil Bürger jüdischer Abstammung wurden während der Zeit des Nationalsozialismus ermordet (Holocaust). Etwa 8000 Personen mussten ihre Heimatstadt verlassen, wurden verhaftet oder in Konzentrationslagern eingesperrt. Als am 9. März 1945 mit dem Einmarsch amerikanischer Truppen für Bonn der Zweite Weltkrieg beendet wurde, lag der Zerstörungsgrad der Gebäude bei 30 Prozent. Von diesen waren 70 Prozent leicht bis schwer beschädigt und 30 Prozent vollkommen zerstörte Wohngebäude. Mehr als 4000 Bonner waren bei Bombenangriffen gestorben. Am 28. Mai 1945 wurde Bonn Teil der britischen Besatzungszone, anschließend bestand von 1949 bis 1955 die Enklave Bonn. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte die Stadt einen rasanten Auf- und Ausbau, besonders nach der Entscheidung für Bonn als vorläufiger Regierungssitz der neuen Bundesrepublik Deutschland statt Frankfurt am Main am 29. November 1949 "(siehe Hauptstadtfrage der Bundesrepublik Deutschland)". – Infolge des mit dem Gesetz zur Umsetzung des Beschlusses des Deutschen Bundestages vom 20. Juni 1991 zur Vollendung der Einheit Deutschlands (Berlin/Bonn-Gesetz) verbundenen Wegzugs von Parlament, Teilen der Regierung, einem großen Teil der diplomatischen Vertretungen und vieler Lobbyisten sowie der Privatisierung der Bundespost hat die Stadt zum Jahrtausendwechsel erneut einen Wandel durchgemacht. Die verbliebenen Ministerien, hinzugezogene Bundesbehörden, Verwaltungszentralen großer deutscher Unternehmen, internationale Organisationen und Institutionen der Wissenschaft und der Wissenschaftsverwaltung sind die Träger dieses Strukturwandels, der bisher als erfolgreich gewertet wird und bis heute andauert. Eingemeindungen. Die Stadt Bonn wurde mehrmals durch Eingemeindungen vergrößert. Um 1900 war Bonn stark gewachsen. In der Folge wurden am 1. Juni 1904 die Orte Poppelsdorf, Endenich, Kessenich und Dottendorf eingemeindet, mit denen Bonn baulich zusammengewachsen war. Durch die mit dem Gesetz zur kommunalen Neugliederung des Raumes Bonn („Bonn-Gesetz“) einhergehende Gebietsreform vom 1. August 1969 wurde die Einwohnerzahl der Stadt etwa verdoppelt und der Siegkreis mit dem Landkreis Bonn zum Rhein-Sieg-Kreis zusammengelegt. Die einst selbstständigen Städte Bad Godesberg und Beuel und die Gemeinde Duisdorf wurden eigene Stadtbezirke von Bonn. Der auf der rechten Rheinseite gelegene Stadtbezirk Beuel erhielt zusätzlich die Ortschaften Holzlar, Hoholz und das Amt Oberkassel zugeschlagen, die bis dahin zum Siegkreis gehörten. Bonn selbst wurde um die Orte Ippendorf, Röttgen, Ückesdorf, Lessenich/Meßdorf und Buschdorf des ehemaligen Landkreises Bonn erweitert, Lengsdorf und Duisdorf bildeten zusammen mit einigen Neubaugebieten den Stadtbezirk Hardtberg. Die Stadt Bad Godesberg hatte zuvor ihrerseits mehrere Orte eingemeindet. Bereits 1899 waren Plittersdorf und Rüngsdorf zu Godesberg gekommen, 1904 kam noch Friesdorf hinzu, womit Bad Godesberg faktisch bereits mit Bonn zusammengewachsen war. Im Jahr 1915 war Bad Godesberg nach Südwesten aus dem Tal hinausgewachsen, so dass Muffendorf eingemeindet wurde. Am 1. Juli 1935 wurden Lannesdorf und Mehlem Stadtteile von Bad Godesberg. Bevölkerung. Einwohnerentwicklung. Mit () gehört Bonn zu den mittleren Großstädten und zu den zehn größten Städten in Nordrhein-Westfalen und ist ein Oberzentrum. Die Einwohnerzahl der Stadt Bonn überschritt 1934 erstmals die 100.000-Grenze, womit sie von einer Mittel- zur Großstadt wurde. Durch Eingemeindungen verdoppelte sich die Einwohnerzahl bis 1969. Im Vorfeld des Regierungswegzuges kam es zwischen 1992 und 1995 zu einem leichten Bevölkerungsrückgang, der zeitnah ausgeglichen wurde. Heute gehört Bonn zu den Großstädten in Deutschland mit nach wie vor wachsender Einwohnerzahl – laut Bevölkerungsprognose des Landesamtes für Datenverarbeitung und Statistik Nordrhein-Westfalen wird Bonn im Jahre 2025 etwa 342.232 Einwohner haben. Die Nachfolgeprognose für 2030 sagt für Bonn eine Einwohnerzahl von 351.801 voraus, womit Bonn zur siebtgrößten Stadt in Nordrhein-Westfalen würde. Da im Bereich des Stadtgebietes nur noch vergleichsweise wenig bebaubare Flächen vorhanden sind, ist nicht sicher, dass ein solcher Anstieg der Einwohnerzahlen tatsächlich realisiert werden kann, so dass die Umlandgemeinden das Wachstum aufnehmen müssten. Am 1. Januar 2019 zählten 330.244 Einwohner zur wohnberechtigten Bevölkerung Bonns. Der Anteil an Frauen lag am Stichtag bei 51,7 Prozent, jener der Männer bei 48,3 Prozent. Das Durchschnittsalter lag bei 41,9 Jahren. Der prozentuale Ausländeranteil (melderechtlich registrierte Einwohner ohne deutsche Staatsangehörigkeit) bezifferte sich am 1. Januar 2019 auf 16,9 Prozent (55.704 Personen), während der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund bei 29,3 Prozent (96.919 Personen) lag. Die Zuwanderer stammten aus 177 Ländern. Zu den größten Ausländergruppen zählten Personen aus der Türkei (8.319 Personen bzw. 8,6 Prozent), aus Syrien (7.846 Personen bzw. 8,1 Prozent), Polen (7.218 Personen bzw. 7,4 Prozent) und Marokko (5.742 Personen bzw. 5,9 Prozent). Zum 7. Dezember 2016 lebten 3.017 Asylbewerber und Flüchtlinge aus über 40 Nationen in Bonn; rund ein Drittel der von der Stadt untergebrachten Flüchtlinge stammt aus Syrien. Konfessionsstatistik. Am 31. Dezember 2022 waren 29,6 % der Bonner Bevölkerung römisch-katholisch, 16,8 % evangelisch und 11,5 % islamisch. 3,4 % gehörten einer sonstigen sowie 38,7 % keiner Glaubensgemeinschaft an. Drei Jahre vorher bekannten sich 33,2 % der Bonner Bevölkerung katholisch, 18,6 % evangelisch und 10,8 % islamisch. 3,4 % gehören einer sonstigen sowie 33,9 % keiner Glaubensgemeinschaft an. Christentum. Bonn ist das Zentrum der Altkatholischen Kirche in Deutschland – Bonn ist ihr Bischofssitz – und der Griechisch-Orthodoxen Metropolie von Deutschland – Bonn ist Sitz des Metropoliten. Dialekt. Der Bonner Dialekt ist das ripuarische Bönnsch, ein mittelfränkischer Dialekt, der sich vom eng verwandten Kölsch neben einigen Vokabeln durch den ausgeprägteren Singsang, Weichheit von Konsonanten (im Gegensatz zum sehr harten Aachener Dialekt zum Beispiel) und die gemächlichere Sprechgeschwindigkeit unterscheidet. Belegt ist dies durch den in Köln geborenen Schriftsteller Ludwig Verbeek, der bis zu seinem Tode im Jahr 2020 in Bonn lebte und zu diesem Thema anmerkte: Im Gegensatz zum selbstbewussten Köln der Handwerker war es in „vornehmen“ Kreisen der Residenz- und Universitätsstadt Bonn verpönt, Dialekt zu sprechen, daher ist das Bönnsch im Alltagsleben nicht mehr so präsent wie das Kölsch in Köln. Der hohe Anteil Zugezogener "(Imis)" tat sein Übriges. Bekannt für seine Behandlung des bönnschen Dialekts ist der Kabarettist Konrad Beikircher, der nicht in Bonn, sondern in Südtirol geboren wurde und seit seiner Studienzeit in Bonn lebt. Charakteristisch für Bönnsch sind die rheinische Schärfung, das Verschlucken von Endungen (Beispiel: „Bonner“ = "Bönne"), das Transformieren des „g“ zu „j“ (Beispiele: „der liebe Gott“ = "de liwe Jott oder gut = joot"), Verniedlichung mit der Endung -(s)che(n) (Beispiel: „Schnitte“ = "Schnittschen" oder "Hund" = Hündsche oder „Straßenkehrer“ = "Kehrmännsche"), sowie die Transformation des „ch“ oder „g“ zu „sch“ (Beispiele: „Kirche“ = "Kirsche" oder „Siegburg“ = "Sieschbursch" (im Volksmund „die Stadt mit den drei s“) oder „Technik“ = "Teschnik"). Darüber hinaus gibt es zahlreiche lokale Wortschöpfungen, die Zugereiste vor Probleme stellen können: Ein Käsebrötchen ist ein "Halwe Hahn", ein Fass Bier wird "Pittermännsche" genannt oder ein Roggenbrötchen wird zum "Röggelsche". Aus „Zeit“ wird "Zigg", „weiter“ heißt hierzulande "wigger", „erzählen“ wird zu "verzelle" oder „ziehen und drücken“ wird zu "trecke un deue". Ein Karnevalist ist ein "Jeck" und wenn jemand sich seltsam oder lustig verhält, dann auch als Attribut "wat is der jeck (jeckisch)". Touristen werden auf der Speisekarte über ein "Himmel und Ärd" stolpern, ein Pfannengericht von Blut- und Leberwurst. Ein erfreuter Bonner könnte „Nä, wat is dat schön!“ äußern. Eine Besonderheit, vorzugsweise in der älteren Bevölkerung, ist oder war die Verwendung von Wörtern französischen Ursprungs: Der Polizist kann auch ein "Gendarm" sein und der Tunnel wird durch Dehnung zum "Tunnell". Der Bürgersteig ist ein "Trottowar" (von Französisch le trottoir), der Regenschirm ein "Parraplü" (fr le parapluie), das "Plümmo" ist ein Federbett (fr la plume = die Feder; le plumeau heute belegt als Federbesen, Staubwedel) und eine "Taat" (fr une tarte) ist ein Kuchen vom Blech, Beispiel Prummetaat (Pflaumenkuchen) und etwas aus dem Stegreif machen heißt "us de Lamäng" (fr la main = die Hand). Persönlichkeiten. Mit Bonn verbundene Personen. An der Mauer des Jüdischen Friedhofs im Bonner Norden befindet sich ein Grabrelief des ersten namentlich bekannten Bonners, eines römischen Legionärs, der 35 n. Chr. aus Gallien kam. Die Inschrift lautet, aus dem Lateinischen übersetzt: „Dem Publius Clodius, Sohn des Publius, aus dem Stammbezirk Voltinia "(in etwa heutige Provence)", geboren in Alba "(A. Helviorium, heute Alba-la-Romaine)", Soldat der 1. Legion, 48 Jahre alt, mit 25 Dienstjahren [verstorben]. Er liegt hier begraben.“ Unangefochten angeführt wird die Bonner Prominentenliste von dem Komponisten Ludwig van Beethoven. Sein Geburtshaus in der Bonngasse besuchen Jahr für Jahr viele tausend Touristen aus der ganzen Welt. Neben Beethoven wurden weitere Musiker in Bonn geboren oder haben dort ihre Heimat gefunden. Dazu zählen Andrea Lucchesi und Johanna Kinkel. Der Komponist Robert Schumann verbrachte seine letzten Lebensjahre in der damaligen Nervenheilanstalt (heute Schumannhaus) im heutigen Bonner Stadtteil Endenich und ist auf dem Alten Friedhof begraben. Der italienische Dichter und Literaturnobelpreisträger Luigi Pirandello (1867–1936) studierte in Bonn. Von ihm ist die folgende Hommage überliefert: Bonn als Geburtsort angeben können folgende Maler: Bernhard Gotfried Manskirsch, Peter Joseph Manskirsch und Peter Paul Manskirsch. Wohnort war und ist Bonn für andere Künstler. Dazu zählte in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg August Macke. Heute leben und arbeiten in der Stadt Autoren wie Lars Brandt und Akif Pirinçci. Seit mehr als 200 Jahren hat die Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn dazu beigetragen, dass eine große Zahl von Forschern, Lehrern und Studenten am Rhein ansässig geworden ist. Dazu gehören Ernst Moritz Arndt, August Wilhelm Schlegel, Clemens-August von Droste zu Hülshoff, Carl Schurz, Heinrich Hertz und – in neuerer Zeit – die Nobelpreisträger Wolfgang Paul und Reinhard Selten. Joseph Ratzinger (Papst Benedikt XVI.) war von 1959 bis 1963 Professor für Fundamentaltheologie in Bonn. Neben berühmten Musikern und Wissenschaftlern wurden eine Reihe politischer Prominenter in den vergangenen Jahrzehnten am Rhein geboren oder wurden zu (Wahl-)Bonnern. Gebürtige Bonnerin ist Heide Simonis, "Wahlbonner" sind unter anderem der langjährige Arbeitsminister Norbert Blüm, der ehemalige Bundesfinanzminister Peer Steinbrück sowie der ehemalige Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit, Wolfgang Clement. Zu den namhaften Medienschaffenden mit Geburtsort Bonn gehören Moderator Johannes B. Kerner, Publizist Roger Willemsen, Comedian Luke Mockridge, Sängerin Natalie Horler, Schauspielerin Silke Bodenbender. Ehrenbürger. Siehe auch: Liste der Ehrenbürger von Bonn Politik. Sitz der Stadtverwaltung war jahrelang das im 18. Jahrhundert erbaute Rathaus am Markt, bis er aufgrund der 1969 vollzogenen Eingemeindungen 1978 ins Stadthaus in der Nordstadt verlegt wurde. Die jeweiligen Bonner Oberbürgermeister haben ihren offiziellen Sitz weiterhin im Rathaus am Markt. Stadtoberhäupter. An der Spitze der Verwaltung und Gerichtsbarkeit Bonns standen im 12. Jahrhundert der Vogt und die zwölf Schöffen des Landesherrn. Seit 1331 sind zwei "burgermeistere", später ein "rat" bezeugt. In einer Urkunde vom 24. Juli 1550 wurden zum ersten Mal die "Zwölfter" genannt, als „die zwoelf vann der gemeynden“, die eine Kontrollfunktion innehatten. Sie vertraten nicht nur die Zünfte, sondern die ganze Gemeinde. Die Bürgermeister wurden vom Rat gewählt, der Rat von den Zünften und der Zwölfter von den Gemeinden. Im Salentinischen Vertrag von 1569 wurde verordnet, dass die Stadt von zwei Scheffelbürgermeisteren und zwei Ratsbürgermeisteren verwaltet werden soll, von denen jeweils einer als Regierender Bürgermeister die Geschäfte führte. Der Rat wurde auf 15 Schöffen vergrößert. Zusammensetzung und Kompetenzen des Rates veränderten sich später mehrmals. In der Zeit der französischen Besetzung ab 1794 wurde für den Bürgermeister die Bezeichnung Maire eingeführt. Nachdem die Franzosen aus der Stadt abgerückt waren, wurde am 25. Februar 1814 die französische Bezeichnung Maire durch den Titel "Oberbürgermeister" ersetzt. Anton Maria Karl Graf von Belderbusch hatte seit 1804 das Amt des Maire inne und war ab 1814 erster Oberbürgermeister der Stadt. In preußischer Zeit nach 1815 wurde Bonn Sitz eines Landkreises. An der Spitze der Stadt stand ab 1815 ein Oberbürgermeister, weiterhin gab es einen Rat. Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde der Oberbürgermeister von der NSDAP eingesetzt. Einige Straßen und Plätze wurden nach dem Gusto der Machthaber umbenannt: So wurde der heutige Konrad-Adenauer-Platz von 1934 bis 1945 Adolf-Hitler-Platz genannt. Der Reichskanzler Adolf Hitler wurde 1933 Ehrenbürger der Stadt (aberkannt 1945; 1983 bestätigt). Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte die Militärregierung der Britischen Besatzungszone einen neuen Oberbürgermeister ein und führte 1946 die Kommunalverfassung nach britischem Vorbild ein. Danach gab es einen von den Bürgern gewählten "Rat der Stadt". Der wählte aus seiner Mitte den ehrenamtlichen Oberbürgermeister als Vorsitzenden und Repräsentanten der Stadt und einen hauptamtlichen Oberstadtdirektor als Leiter der Stadtverwaltung. 1996 wurde in Nordrhein-Westfalen die Doppelspitze in den Stadtverwaltungen aufgegeben. Der Oberbürgermeister wird nun direkt gewählt. Er ist als hauptamtlicher Oberbürgermeister Vorsitzender des Rates, Leiter der Stadtverwaltung und Repräsentant der Stadt. In der Funktion als Repräsentant wird der Oberbürgermeister in Bonn von vier Bürgermeistern vertreten. Die erste Direktwahl 1999 gewann Bärbel Dieckmann in der Stichwahl gegen den CDU-Kandidaten Helmut Stahl, 2004 wurde sie im ersten Wahlgang im Amt bestätigt. Dieckmann kandidierte bei der Wahl 2009 nicht wieder. Zu ihrem Nachfolger wurde Jürgen Nimptsch (SPD) gewählt, der sich mit 40,9 Prozent gegen den CDU-Kandidaten Christian Dürig durchsetzte. Die Stichwahl war zuvor durch die Landesregierung NRW abgeschafft worden. Im September 2015 gewann bei der anstehenden Neuwahl Ashok-Alexander Sridharan (CDU) vor den Gegenkandidaten Peter Ruhenstroth-Bauer (SPD) und Tom Schmidt (Grüne). Der bisherige Amtsinhaber Nimptsch trat nicht mehr zur Wiederwahl an. Sridharan wurde am 21. Oktober 2015 vereidigt und in sein Amt eingeführt. Zeitgleich mit den Kommunalwahlen am 13. September 2020 fand die Oberbürgermeisterwahl in Bonn statt, bei der keiner der Kandidaten die erforderliche absolute Mehrheit erzielte. In der Stichwahl am 27. September 2020 unterlag Amtsinhaber Sridharan gegen die grüne Herausforderin Katja Dörner. Ihre Vereidigung und Amtseinführung als Oberbürgermeisterin fand am 5. November 2020 statt. Stadtrat. Der Rat der Stadt Bonn wurde am 13. September 2020 im Rahmen der Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen von den stimmberechtigten Bürgern Bonns gewählt und umfasst 66 Mitglieder. Gegenwärtig regiert in Bonn eine Koalition aus Grüne, SPD, Linke und Volt. Diese sogenannte „Traubenkoalition“ stellte am 17. Januar 2021 ihren Koalitionsvertrag vor, der durch die Mitglieder der jeweiligen Parteien bestätigt wurde und am 30. Januar 2021 in Kraft trat. In der vergangenen Wahlperiode 2014 bis 2020 hatten sich CDU, Grüne und FDP (Schwarz-Grün-Gelb) zu einer Koalition zusammengeschlossen. In der vergangenen Ratsperiode von 2009 bis 2014 bildeten CDU und Grüne eine schwarz-grüne Koalition. Dezernate und Ämter der Stadt Bonn. Die Stadtverwaltung gliedert sich in Dezernate, denen die städtischen Ämter nach Ressorts unterstehen: Die Dezernate I bis V werden von einem Stadtdirektor, der zugleich Vertreter des Oberbürgermeisters ist, einem Stadtkämmerer und drei weiteren Beigeordneten geleitet. Sie sind hauptamtlich tätig und werden vom Bonner Stadtrat gewählt. Wahlen. Landtagswahlen. Fünf Abgeordnete vertreten die Bundesstadt Bonn in dem am 15. Mai 2022 gewählten Landtag von Nordrhein-Westfalen. Direkt gewählte Mitglieder sind Guido Déus im Wahlkreis 29 (Bonn I) und Christos Georg Katzidis (beide CDU) im Wahlkreis 30 (Bonn II). Über die Landesliste von Bündnis 90/Die Grünen sind Tim Achtermeyer und Julia Höller in den Landtag eingezogen. Über die Landesliste der FDP ist Joachim Stamp in den Landtag eingezogen, Stamp war vom 30. Juni 2017 bis zum 28. Juni 2022 zudem stellvertretender Ministerpräsident und Familienminister des Landes Nordrhein-Westfalen. Bundestagswahlen. Bonn bildet den Bundestagswahlkreis Bonn (96). Bei der Bundestagswahl 2021 wurde der Wahlkreis durch Katrin Uhlig erstmals von den Grünen gewonnen. Über die jeweiligen Landeslisten ihrer Parteien wurden Jessica Rosenthal (SPD) und erneut wie 2017 Alexander Graf Lambsdorff (FDP) in den Deutschen Bundestag gewählt. Der bisherige Wahlkreisabgeordnete Ulrich Kelber (SPD) hatte bereits am 6. Januar 2019 sein Mandat niedergelegt und wurde Bundesbeauftragter für den Datenschutz und die Informationsfreiheit. Haushalt. Der Haushalt der Bundesstadt Bonn sieht im Ergebnisplan Erträge (Einnahmen) von 1.347.590.857,81 Euro im Jahr 2020 vor. Dem stehen Aufwendungen (Ausgaben) von 1.393.266.063,48 Euro gegenüber. Das Haushaltssaldo ist mit einem Wert von −45.675.205,67 Euro negativ. Am 24. Juni 2021 hat der Rat der Bundesstadt Bonn den Doppelhaushalt für die Jahre 2021/2022 beschlossen. Zudem hat der Rat der Bundesstadt Bonn eine mittelfristige Finanzplanung für die Jahre 2020 bis 2025 sowie die dritte Fortschreibung des Haushaltssicherungskonzeptes bis 2024 beschlossen. Die mittelfristige Finanzplanung sieht in den Jahren 2021, 2023 und 2024 jeweils Überschüsse im einstelligen Millionenbereich vor (2021: 4,0 Millionen Euro; 2023: 5,2 Millionen Euro; 2024: 1,2 Millionen Euro). Finanzielle Defizite sind in den Jahren 2022 (−33,9 Millionen Euro) und 2025 (−9,0 Millionen Euro) laut mittelfristiger Finanzplanung vorgesehen. Die Bezirksregierung Köln als Aufsichtsbehörde hat den Doppelhaushalt 2021/2022 der Bundesstadt Bonn und die dritte Fortschreibung des Haushaltssicherungskonzeptes bis 2024 ohne Änderungen genehmigt. Die Verschuldung der Bundesstadt Bonn beträgt im Jahr 2021 2,0 Milliarden Euro. Anfang Januar 2021 war jeder Einwohner Bonns mit einem statistischen Wert von 6050 Euro verschuldet. Hoheitssymbole. Die Stadt Bonn führt laut Hauptsatzung ein Wappen, eine Flagge und ein Dienstsiegel. Ferner verwendet die Stadt Bonn für die Öffentlichkeitsarbeit ein Logo. Wappen. Am 4. März 1971 beschloss der Rat der Stadt Bonn aufgrund des Gesetzes zur kommunalen Neugliederung des Raumes Bonn (Bonn-Gesetz) die Einführung eines neuen Wappens, das bis heute Bestand hat. Ein mittelalterliches steinernes Abbild des Wappentiers wurde im Volksmund „Steinernes Wölfchen“ genannt. Die Skulptur zeigt einen Löwen, der einen Eber schlägt. Der Kopf des Löwen ist nicht mehr vorhanden, so dass es unklar bleibt, ob er, wie der Löwe im heutigen Wappen, zum Betrachter schaut. Das Steinerne Wölfchen diente als Gerichtssymbol und befand sich vom Frühmittelalter bis zum Ende der kurfürstlichen Zeit auf der Südseite des Münsterplatzes. Heute befindet sich je ein Abguss der Skulptur am Ende der Vivatsgasse sowie im Vestibül des Alten Rathauses. Das Original ist im Bonner Stadtmuseum zu besichtigen. Flagge. Die Beschreibung der Flagge lautet gemäß Hauptsatzung der Stadt Bonn: „Die Flagge ist gold(gelb)-rot. Die breite goldene (gelbe) Mittelbahn wird von zwei schmalen roten Bahnen begleitet. Die Flagge zeigt in der Mittelbahn das Wappen.“ Logos. Seit 2009 verwendet die Stadt Bonn die Dachmarke „Freude. Joy. Joie. Bonn.“ Bei Themen mit Bezug zur Verwaltung wird der dreisprachige Schriftzug „Stadt. City. Ville. Bonn.“ verwendet. Hierbei finden die deutsche, englische und französische Sprache Berücksichtigung. Laut der Stadt Bonn soll mit der Dreisprachigkeit Bonn als deutsche UNO-Stadt und als internationaler Standort hervorgehoben werden. Beziehungen der Stadt Bonn. Städtepartnerschaften. Die Stadt Bonn unterhält seit 1983 eine Städtefreundschaft mit Tel Aviv-Jaffa in Israel und seit 1988 eine Städtepartnerschaft mit Potsdam. Weitere Stadtteilpartnerschaften und Städtefreundschaften, die teilweise vor der Gebietsreform 1969 entstanden sind, bestehen in den einzelnen Stadtbezirken: Neben Städtepartnerschaften pflegt Bonn "Themen-Projektpartnerschaften". Neben Jugend- und Kulturaustausch besteht teilweise ein Erfahrungsaustausch in den Bereichen Ökologie, Stadtentwicklung und Katastrophenprävention. Projektpartnerschaften bestehen (Stand 2014) mit den Städten Buchara in Usbekistan, Cape Coast in Ghana, Chengdu in der Volksrepublik China, La Paz in Bolivien, Minsk in Belarus und Ulaanbaatar in der Mongolei. Patenschaften. Am 26. Oktober 1955 beschloss der damalige Landkreis Bonn die Übernahme der Patenschaft über die frühere kreisfreie Stadt Stolp und den ehemaligen Landkreis Stolp. Am 1. Juli 1956 begann die Patenschaft während des Stolper Bundestreffens in der Stadthalle Bad Godesberg. Nach der Neuordnung des Bonner Raumes beschloss am 21. Mai 1970 der Rat der Stadt Bonn deren Fortführung. Des Weiteren ist die Stadt Bonn namensgebender Pate für den ICE-2-Triebzug Nummer 208, ein Airbus A350 mit der Registrierung D-AIXD der Lufthansa, ein Containerschiff und den Einsatzgruppenversorger Bonn (A 1413) der Marine. Regionale Kooperation. Bonn, der Rhein-Sieg-Kreis und der rheinland-pfälzische Landkreis Ahrweiler kooperieren insbesondere seit dem Bonn/Berlin-Beschluss von 1991 eng miteinander, auf politischer Ebene durch den Regionalen Arbeitskreis Entwicklung, Planung und Verkehr Bonn/Rhein-Sieg/Ahrweiler (:rak). Die etwa eine Million Einwohner umfassende Region wird häufig „Bonn/Rhein-Sieg“ oder „Bonn/Rhein-Sieg/Ahrweiler“ genannt. Der nördliche Teil des Landkreises Neuwied zählt geographisch zum Raum Bonn, im Speziellen die Verbandsgemeinden Unkel, Linz am Rhein und Asbach. Innerhalb der Region bestehen enge wirtschaftliche Verflechtungen, weshalb sich viele in Bonn und den umgebenden Kreisen gemeinsam tätige Verbände gebildet haben. Bereits seit 1993 kooperiert die Stadt ebenfalls mit der Region Köln/Bonn im Region Köln/Bonn e. V. In diesem interkommunalen Zusammenschluss haben sich die kreisfreien Städte Köln, Bonn und Leverkusen mit den fünf Kreisen Rhein-Sieg-Kreis, Rhein-Erft-Kreis, Rhein-Kreis Neuss, Oberbergischer Kreis und dem Rheinisch-Bergischen Kreis vereinigt, um die strukturpolitische Entwicklung der Region Köln/Bonn gemeinsam zu entwickeln. Aus alter Kooperationstradition ist der Landkreis Ahrweiler ständiger Gast in diesem Gremium. Welthauptstadt für Nachhaltigkeit und Klimaschutz. Seit 2006 veröffentlicht der Oberbürgermeister der Stadt Bonn unterstützt durch die Verwaltung in der Regel alle drei Jahre einen Nachhaltigkeitsbericht. Der erste Bericht, welcher als Standortbestimmung zu verstehen ist, wurde im Jahr 2006 veröffentlicht. 2016 unterzeichnete die Stadt die Musterresolution des Deutschen Städtetages und des Rates der Gemeinden und Regionen Europas zur 2030-Agenda. Seit dem 30. Januar 2012 existiert im Beschaffungsamt des BMI (BeschA) die im Bundeskanzleramt angesiedelte Kompetenzstelle für nachhaltige Beschaffung (KNB). Die Einrichtung der KNB geht auf einen Beschluss des Staatssekretärsausschusses für nachhaltige Entwicklung vom 21. Oktober 2011 zurück. Die KNB ist die zentrale Anlaufstelle für alle Bundesressorts, Bundesländer, Kommunen und sonstige öffentliche Beschaffungsstellen, wenn es um nachhaltige öffentliche Beschaffung geht. Wichtigste Instrumente der KNB sind zum einen die webbasierte Informationsplattform nachhaltige-beschaffung.info und die Beratung von Beschaffenden im einzelnen Vergabeverfahren. Ebenso siedelten sich 2016 mit dem zentralen Kampagnenbüro für die weltweiten Entwicklungsziele und der Regionalen Netzstelle für Nachhaltigkeitsstrategien zwei weitere wichtige Institutionen in Bonn an. Am 8. März 2016 erklärte der damalige Bundesminister des Auswärtigen und spätere Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier: "(…) Diese Stadt hat sich zur Welthauptstadt für Nachhaltigkeit und Klimaschutz entwickelt. Für Menschheitsaufgaben, die heute drängender sind denn je.“" Das Regionale Informationszentrum der Vereinten Nationen (UNRIC) ergänzt weiter:Bonn ist in gut zwei Jahrzehnten zu einem Zentrum für globale Zukunftsthemen geworden, zu einem Nachhaltigkeits-Hub, dessen Herz die Vereinten Nationen in der Bundesstadt sind.Ashok Sridharan (CDU) damaliger Oberbürgermeister der Stadt Bonn erklärte im Vorwort zum Nachhaltigkeitsbericht 2016–2018, welcher im Juni 2020 erschien: Bonn wird mit dem Themenfeld der Nachhaltigkeit verbunden wie keine andere Stadt in Deutschland. (…) Die Stadt Bonn hat sich der Umsetzung der nachhaltigen Entwicklungsziele (Sustainable Development Goals, kurz SDGs) in besonderem Maße verpflichtet.Im Juli 2019 rief der Rat der Stadt Bonn nach einem Bürgerantrag wie viele andere Städte den „Klimanotstand“ aus. Dass Nachhaltigkeit in Bonn einen hohen Stellenwert genießt, zeigt auch die große Anzahl an Initiativen in diesem Bereich, etwa das Zentrallager Sachspenden Bonn (ZeSaBo) oder auch die zahlreichen Reparaturcafés. Am 10. und 11. September 2021 fand veranstaltet vom Verein Bonn im Wandel e. V. im Schauspielhaus in Bad Godesberg das „1. Bonner Klimaforum – Zukunftsbilder für ein lebenswertes und klimaneutrales Bonn 2035“ statt. Das 2. Bonner Klimaforum wurde aufgrund der Corona-Pandemie auf den 10. und 11. Juni 2022 verschoben. Architektur, Kultur und Sehenswürdigkeiten. Architektur. Historische Bauwerke. Am Marktplatz liegt das ab 1737 im Stil des Rokoko erbaute Alte Rathaus, eines der Wahrzeichen der Stadt. In direkter Nachbarschaft des Rathauses befindet sich die ehemalige Hauptresidenz der Kölner Kurfürsten, das Kurfürstliche Schloss – heute das Hauptgebäude der Bonner Universität. Die mit Kastanien bepflanzte Poppelsdorfer Allee verbindet das Kurfürstliche Schloss mit dem Poppelsdorfer Schloss, das in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts als Erholungsort der Kurfürsten erbaut wurde. Unterbrochen wird diese Achse durch die Bahnstrecke mit dem Hauptbahnhof, dessen 1883/84 errichtetes Empfangsgebäude heute unter Denkmalschutz steht. Auf dem Bahnhofsvorplatz befand sich ab den 1970er-Jahren bis 2019 das umstrittene "Bonner Loch", das seitdem durch das Projekt „Urban Soul“ ersetzt wurde. Zwischen dem Kurfürstlichen Schloss und dem Rhein liegt der "Alte Zoll", eine Bastion des ehemaligen Festungsrings. Seine exponierte Lage bietet einen bilderbuchähnlichen Blick auf den Rhein und das Siebengebirge genau am Übergang vom Mittelrhein in die Kölner Bucht. Das Sterntor, das ursprünglich an der Mündung der Sternstraße auf den Friedensplatz stand, wurde wegen des Baus der Straßenbahn durch die Sternstraße um 1900 abgebaut und in stark abgewandelter Form unter Einbeziehung eines Rests der Stadtmauer einige Meter versetzt am Bottlerplatz wieder aufgebaut. Oberhalb von Bad Godesberg steht die Ruine der vermutlich in ihrem Ursprung zuerst als Fluchtburg von den Franken erbauten Godesburg. Das Godesberger Rathaus besteht aus sechs verbundenen Gebäuden, die 1790 bis 1792 durch Kurfürst Max Franz als Logierhäuser für Kurgäste erbaut wurden. Das 1790 bis 1830 erbaute ehemalige kurfürstliche Kammertheater Haus an der Redoute ist heute Außenstelle des Kunstmuseums. Bauwerke in Bundes-Bonn. Ausgewählte Bauwerke. Aufgrund der Vielzahl der zeitgeschichtlich bedeutenden Bauwerke wurde für die Besucher Bonns Informationsstationen am Geschichtsrundweg Weg der Demokratie anlegt. Der Weg der Demokratie ist ein Rundweg, der an mehreren historischen Gebäuden des ehemaligen Regierungsviertels vorbei durch das heutige Bundesviertel, insbesondere den Ortsteil Gronau, führt. Der Pfad wurde am 21. Mai 2004 eröffnet und ist ein Projekt des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und der Bundesstadt Bonn. Das Konzept wurde unter Leitung von Dietmar Preißler, dem Sammlungsdirektor der Stiftung Haus der Geschichte entwickelt. Das Zoologische Forschungsmuseum Alexander Koenig (ZFMK) ist am Weg der Demokratie die Keimzelle der Demokratie nach 1945. Es ist zwar keine Liegenschaft des Bundes, sondern es ist ein Naturkundemuseum und eine Stiftung des öffentlichen Rechts des Landes Nordrhein-Westfalen. Das Museumsgebäude befindet sich direkt an der Bundesstraße 9 am Rande des Bundesviertels, steht als Baudenkmal unter Denkmalschutz und ist eine Station des Geschichtsrundwegs Weg der Demokratie, weil am 1. September 1948 in der großen Halle des Museums der Festakt zum Zusammentritt des Parlamentarischen Rates stattfand. Ein Kernbauwerk der alten Bundeshauptstadt ist das Parlamentsgebäude. Das Bundeshaus war ursprünglich eine pädagogische Akademie, die ab 1948 vom Parlamentarischen Rat und später von Bundestag und Bundesrat genutzt wurde. Ende der 1980er-Jahre wurde der Plenarsaal durch einen Neubau ersetzt. Seit dem Parlamentsumzug wird es als Konferenzzentrum genutzt und heißt seit 2007 World Conference Center Bonn (WCCB). Ein weiterer Teil des WCCB ist das historische Wasserwerk, dessen Pumpenhaus während des Umbaus des Bundeshauses von 1986 bis 1992 als Plenarsaal des Bundestags genutzt wurde. Der Dienstsitz des Bundespräsidenten ist die ab 1861/1862 erbaute spätklassizistische Villa Hammerschmidt mit großem Landschaftsgarten. Die Villa Hammerschmidt in Bonn dient seit 1950 als Amts- und Wohnsitz des Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland, bis 1994 als erster und seither nach Schloss Bellevue als Zweitamts- und -wohnsitz. Das Bundeskanzleramtsgebäude in Bonn war von 1976 bis 1999 Sitz des Bundeskanzleramtes der Bundesrepublik Deutschland und beherbergt seit 2005 das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Es liegt im Ortsteil Gronau an der Adenauerallee 139 (Bundesstraße 9) im Zentrum des Bundesviertels. Zweitsitz des Bundeskanzleramtes ist seit 2001 das zur Liegenschaft gehörende Palais Schaumburg. Es war das erste Bundeskanzleramt und diente von 1949 bis 1976 als Dienstsitz. Das Areal des ehemaligen Bundeskanzleramts, das noch einige weitere Gebäude umfasst, steht als Baudenkmal unter Denkmalschutz. Als Kanzlerbungalow wird das ehemalige Wohn- und Empfangsgebäude des deutschen Bundeskanzlers in Bonn bezeichnet. Es wurde von 1964 bis 1999 zu diesem Zweck genutzt. Architektonisch reizvoll ist das ehemalige, heute denkmalgeschützte Postministerium I (1954–1988). Es wurde zwischen 1953 und 1954 errichtet. Das Gebäude des Bundesministeriums für das Post- und Fernmeldewesen (offiziell Liegenschaft Adenauerallee-Nord; Adenauerallee 81–83) in Bonn war von 1954 bis 1988 Sitz des Bundesministeriums für das Post- und Fernmeldewesen sowie von 1989 bis 1999 Sitz des Auswärtigen Amtes. Seit 2000 ist es Sitz des Bundesrechnungshofs. Am Robert-Schuman-Platz im Bundesviertel liegt das ehemalige Postministerium II (ab 1988). Das Gebäude für das damalige Bundesministerium für das Post- und Fernmeldewesen wurde nach den Plänen der Architekten Heinle, Wischer und Partner errichtet. Es dient heute als erster Dienstsitz des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU). Dieses Gebäude lehnt sich stilistisch an die Form eine Posthorns an, was in Luftaufnahmen erkennbar ist. Unter dem Gebäude befindet sich ein, mittlerweile außer Betrieb genommener, Atombunker. Die Hauptverwaltung der Deutschen Post befindet sich im Post Tower, dem höchsten Bürogebäude in Nordrhein-Westfalen. Das Gebäude steht in direkter Nachbarschaft zum ehemaligen Abgeordnetenhochhaus und Wahrzeichen der Bundes(haupt)stadt, dem "Langen Eugen", der seit 2002 durch die Vereinten Nationen genutzt wird. Zwischen den beiden Hochhäusern befindet sich der Schürmann-Bau, die heutige Zentrale der Deutschen Welle. Dieses ursprünglich als Abgeordnetenbüro geplante Gebäude wurde während der Bauphase durch das Rheinhochwasser 1993 schwer beschädigt. An der Grenze der Stadtbezirke Bonn und Bad Godesberg befindet sich die Kreuzung A562/B9, die zu besonderen Anlässen mit den 191 Fahnen der UN-Staaten beflaggt ist. Rezeption der Bauwerke. Die Bauwerke des Regierungsviertels weisen enorme Altersunterschiede und damit auch der Baustile auf. Während die Villa Hammerschmidt, Palais Schaumburg oder das Museum Koenig aus dem 19. Jahrhundert stammen, das Bundeshaus aus dem frühen 20. Jahrhundert, so kamen zunächst in der jungen Bundesrepublik wenige Gebäude (Baustopp 1955 per Gesetz), ab den 1960er viele neue Gebäude hinzu. Bis zur Wiedervereinigung 1990 erlebte Bundes-Bonn in der Spätphase einen gewissen Bauboom, um den Aufgaben der Verwaltung des Bundes gerecht zu werden und um „Gesicht zu zeigen“. Es gehört wohl zu den Wechselbädern der Geschichte, dass ausgerechnet zum Zeitpunkt des stärksten Ausbaus von „Bundes-Bonn“ die Wiedervereinigung über den Regierungssitz einbrach und die alte Reichshauptstadt Berlin den späteren Anspruch als Bundeshauptstadt anmeldete. Über die Architektur der Bonner Republik gab und gibt es zahlreiche Kommentierungen, wahrscheinlich, weil es sich um einen architektonischen heterogenen „Flickenteppich“ handelt, der Bundes-Bonn den Beinamen „Provisorium“ einbrachte. Es gab reichlich Kritik von allen Seiten: Peter M. Bodes urteilte: „Wohl keine Regierung in der ganzen Welt hat so viel architektonisches Chaos produziert wie der Bund in Bonn.“ Die Architekturkritikerin Ingeborg Flagge meinte, dass „mit der Bonner Staatsarchitektur kein Staat zu machen“ sei. Und der Journalist Johannes Gross kommentierte: „In 40 Jahren wachsenden Wohlstandes hat der Staat Bundesrepublik nicht ein einziges Gebäude von architektonischem Rang errichtet.“ Der Architekturhistoriker Wolfgang Pehnt aber äußerte so etwas wie Verständnis: Vielleicht sei der lange Weg zur Bundeshauptstadt auch ein Abbild der Gesellschaft, „widersprüchlich in ihren Interessen, bald kleinmütig, bald zu großen Zielen aufgelegt, die sich dann wieder nicht realisieren lassen“. In ihrer Dissertation von 2015 (Buchtitel: „Bauten des Bundes 1949–1989“) befasste sich Elisabeth Plessen mit der Architektur des Regierungssitzes und dokumentierte 154 realisierten und 14 geplanten Bundesbauten. Trotz des Negativimage wagte sie die Analyse, dass der Regierungssitz Bonn Ausdruck der „Stufen der Identitätsbildung einer Gesellschaft durch Architektur“ sei. Revitalisierung von alten Industrieflächen. 2003 begannen auf dem Gelände der ehemaligen Oberkasseler Zementfabrik die ersten Bauarbeiten für das Städtebauprojekt Bonner Bogen. Bis Ende 2009 entstanden dort unter der Leitung des Bonner Architekten Karl-Heinz Schommer Wohn- und Bürogebäude, Veranstaltungsräume sowie das Hotel Kameha Grand Bonn. Denkmalgeschützte Gebäude der alten Fabrik blieben erhalten und wurden umfassend saniert, darunter die Direktorenvilla, das Verwaltungsgebäude und der Wasserturm. Eine ungenutzte alte Industrieanlage ist die Auermühle in Graurheindorf. Hohe Bauwerke. Die drei höchsten Bauwerke der Stadt sind der weithin sichtbare Funkmast des Westdeutschen Rundfunks Köln (WDR) auf dem Venusberg (), der Post Tower () und das ehemalige Abgeordnetenhochhaus "Langer Eugen" (). Der Vierungsturm des Bonner Münsters liegt mit auf Platz sieben der höchsten Gebäude. Sakralbauten. Das Stadtgebiet beherbergt sehr viele Kirchen und Gotteshäuser. Nachstehend eine Auswahl: Bonner Münster, Stiftskirche (Bonn), Schlosskirche, Namen-Jesu-Kirche (Bonn), St. Remigius (Bonn), St. Cäcilia (Oberkassel), Helenenkapelle (Bonn), Kreuzkirche (Bonn), St. Maria und Clemens (Schwarzrheindorf), St. Marien (Bonn), St. Peter (Vilich), St. Petri in Ketten (Lengsdorf), Rüngsdorfer Kirchturm, Marienkapelle (Rüngsdorf), St. Laurentius (Lessenich), Michaelskapelle (Bad Godesberg), Elisabeth-Kirche (Bonn-Südstadt), Trinitatiskirche (Endenich), St. Servatius (Friesdorf), St. Evergislus (Plittersdorf), St. Severin (Mehlem), Kreuzbergkirche (Endenich), Synagoge Bonn, Kathedrale Agia Trias (griechisch-orthodox), Al-Muhajirin-Moschee (Tannenbusch), Al-Muhsinin-Moschee (Beuel), Al-Ansar-Moschee (Bad Godesberg). Bonn verfügt über eine Reihe von historisch bedeutenden Kirchenbauten. Ein Wahrzeichen der Stadt ist das im 11. Jahrhundert erbaute Bonner Münster. Es ist die größte aller Kirchen der Stadt und verfügt über einen Kreuzgang. Zu den ältesten Kirchenbauten in Bonn gehört die romanische Doppelkirche St. Maria und Clemens in Schwarzrheindorf. Als eine Besonderheit hat sie ein zweigeschossiges Kirchenschiff. Die Stiftskirche, eine römisch-katholische Pfarrkirche, die den Namen St. Johann Baptist und Petrus trägt und von 1879 bis 1886 erbaut wurde, liegt am Stiftsplatz an der Kölnstraße im Ortsteil Bonn-Zentrum und prägt das Bonner Stadtbild. Die Gemeinde der Pfarrkirche ist die älteste Bonner Kirchengemeinde. In der Remigiuskirche in der Brüdergasse, der früheren „Brüderkirche“, befindet sich das Becken, in dem Beethoven getauft wurde. Oberhalb von Poppelsdorf, am Platz einer vorchristlichen Kultstätte und eines christlichen Wallfahrtsorts, erbaute Christoph Wamser 1627/28 die Kreuzbergkirche. Erzbischof und Kurfürst Clemens August ließ die Kirche in der Mitte des 18. Jahrhunderts von Balthasar Neumann durch den Anbau der "Heiligen Stiege" erweitern. Die Kreuzkirche wurde 1871 als evangelische Hauptkirche der Stadt gegründet und ist heute eines der größten evangelischen Gotteshäuser des Rheinlandes. Die Bonner Synagoge im Bonner Ortsteil Gronau wurde 1958–1959 errichtet. Sie liegt an der Tempelstraße (Hausnummern 2–4) am Nordrand des Bundesviertels, unmittelbar südlich des Auswärtigen Amts. Sie ist die einzige Synagoge der Stadt Bonn und steht als Baudenkmal unter Denkmalschutz. Bis zum Novemberpogrom vom 10. November 1938 standen Synagogen in Bonn-Stadt, Beuel, Bad Godesberg, Mehlem und Poppelsdorf. Die 1957 wieder geweihte Alt-Katholische Kirche St. Cyprian befindet sich in der Adenauerallee. Kathedralkirche des Bischofssitzes Bonn der Altkatholischen Kirche in Deutschland ist die Namen-Jesu-Kirche in Bonn, die nach einer Renovierung am 2. Juni 2012 zur weiteren Nutzung der alt-katholischen Kirche übergeben wurde. Die Namen-Jesu-Kirche in der Bonngasse wurde im Stil der "Jesuiten-Gotik" als nachgotischer Kirchenbau zwischen 1686 und 1717 errichtet und befindet sich im Besitz des Landes Nordrhein-Westfalen. Friedhöfe. Im Bonner Stadtgebiet liegen 40 städtische Friedhöfe mit einer Gesamtfläche von rund 120 Hektar. Weitere Friedhöfe werden als Pfarrfriedhöfe von Kirchengemeinden unterhalten. Bekanntester Friedhof der Stadt ist der an der Grenze zur Nordstadt liegende Alte Friedhof: Zahlreiche Prominentengräber sowie Grab- und Denkmäler bedeutender Bildhauer machen den Alten Friedhof in Bonn zu einem der berühmtesten Friedhöfe in Deutschland. Dort befindet sich zum Beispiel das Grab von Beethovens Mutter und das Denkmal für Robert und Clara Schumann. Im 19. Jahrhundert wurde die Georgskapelle auf den Friedhof transloziert. Sie gehörte seit dem 13. Jahrhundert zu den Gebäuden der Kommende Ramersdorf. Ebenfalls eine Vielzahl an architektonisch interessanten Grabmälern und Prominentengrabstätten findet sich auf dem Poppelsdorfer Friedhof und dem Burgfriedhof in Bad Godesberg. Muslime werden heute auf dem Nordfriedhof beerdigt. Dort liegt außerdem ein chinesisches Grabfeld. Im Sommer 2018 wurde die Anlage eines weiteren Grabfeldes für Jesiden beschlossen. Zahlreiche – teils sehr groß und aufwändig gestaltete – Gräber von Sinti und Roma befinden sich auf dem städtischen Friedhof am Platanenweg in Beuel. Der Jüdische Friedhof in Bonn-Castell wird von Juden als Grabstätte genutzt. Auf dem Friedhof Kottenforst betreibt die jüdische Gemeinde ein Grabfeld. Reste jüdischer Friedhöfe, die von den Nationalsozialisten aufgelöst wurden oder aufgegeben wurden, befinden sich auch in der Stadt. Dazu zählen der Jüdische Friedhof in Schwarzrheindorf, der Jüdische Friedhof am Augustusring, der zu Kurkölnischen Zeiten der größte der Stadt war, der Jüdische Friedhof an der Hainstrasse in Endenich und der Jüdische Friedhof am Godesberg, der Teil des Burgfriedhofs ist. Der älteste evangelische Friedhof weit und breit befindet sich in Bonn-Holzlar mit Gräbern von Leopold Bleibtreu und Johann Hermann Windgassen, dem Gründer der Friedrich-Wilhelms-Hütte; der älteste Grabstein dort ist von 1658. Natur und Parkanlagen. Für die Bundesgartenschau 1979 wurden die Rheinwiesen und landwirtschaftlich genutzten Flächen südlich des damaligen Parlaments- und Regierungsviertels in einen 160 Hektar großen Landschaftspark, die Rheinaue, umgestaltet. Für die Bundesgartenschau 1979 wurde auch Flächen rechtsrheinisch von Beuel-Süd bis zur Südbrücke einbezogen. Heute dienen die Parkflächen als Naherholungsgebiet und werden für Großveranstaltungen wie Freiluftkonzerte, Feste und Flohmärkte genutzt. Zu den historischen Parkanlagen zählen der Hofgarten mit Hofgartenwiese, südlich angrenzend an das Universitätshauptgebäude, unter Einbeziehung der Parkanlagen bis zum Alten Zoll am Rhein nach Osten hin und nach Westen, die Parkachse bis zum Poppelsdorfer Schloss mit dem Botanischen Garten. Weiterhin zählt der kleine Ernst-Moritz-Arndt-Garten zu den beliebten Parkanlagen der Stadt. An beiden Seiten des Rheins, in Bonn und Beuel, erstrecken sich von Nord nach Süd Promenaden mit Grünflächen, die die Sicht auf die Stadt, den Rhein und das Siebengebirge erlauben. Daneben gibt es in der Stadt einige kleinere Parkanlagen, deren größte der "Kurpark" in Bad Godesberg ist. Er wurde ursprünglich für den Kurbetrieb angelegt und beherbergt einige seltene Pflanzenarten. Für Bonn-Oberkassel ist das aus Privatbesitz hervorgegangene Arboretum Park Härle erwähnenswert. Die Rheinaue, das Arboretum Härle, der Alte Friedhof und die Botanischen Gärten der Universität Bonn wurden als besonders beispielhaft in die Straße der Gartenkunst zwischen Rhein und Maas aufgenommen. Die größte Freifläche innerhalb Bonns ist das Meßdorfer Feld zwischen Endenich, Dransdorf, Lessenich und Duisdorf. Es hat als Freifläche in Windrichtung Bedeutung für das Klima der Bonner Innenstadt und ist die einzige landwirtschaftlich genutzte Fläche im Stadtgebiet. Weitere Erholungsgebiete sind Eine natürliche Besonderheit in der Stadt ist die Düne Tannenbusch, bei der es sich um eine 11.000 Jahre alte Binnendüne handelt. Sie entstand durch heftige Winde, die am Ende der letzten Eiszeit den Rheinsand an diese Stelle verwehten. Zum Naturschutzgebiet erklärt wurde die Düne Ende der 1980er-Jahre. In beiden Naturparks laden weitläufige Wanderwege mit attraktiven Aussichten auf die Stadt zu Wanderungen ein. Der Fernwanderweg Rheinsteig beginnt in Bonn und durchquert im weiteren Verlauf das Siebengebirge. Im Norden des rechtsrheinischen Bezirks Beuel grenzt Bonn an die Mündung der Sieg in den Rhein und das umgebende "Naturschutzgebiet Siegaue", das als eine der letzten einigermaßen naturbelassenen Rheinmündungen Schutzstatus nach der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie genießt. Hier finden sich Auenwälder und Altwasser ohne besondere landwirtschaftliche Nutzung, andererseits mit hohem Artenreichtum an Flora und Fauna. In Bonn gibt es insgesamt 47 Bäche, die meisten davon münden in den Rhein. Kunst, Museen, Ausstellungen und Gedenkstätten. Museen und Ausstellungen. Bonn verfügt über eine große Zahl bedeutender Museen. Die Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland "(Bundeskunsthalle)" (erbaut 1986 bis 1992 vom Wiener Architekten Gustav Peichl) und das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gehören seit ihrer Eröffnung zu den zehn meistbesuchten Museen Deutschlands. Jährlich kommen mehr als 500.000 Besucher, bei einzelnen Wechselausstellungen übertrifft die Bundeskunsthalle diese Zahl sogar deutlich. Beide Museen entstanden Anfang der 1990er-Jahre gemeinsam mit dem städtischen Kunstmuseum Bonn und bilden zusammen mit der 1995 eröffneten und sich auf deutsche Forschung und Technik seit 1945 konzentrierenden Bonner Zweigstelle des Deutschen Museums im Wissenschaftszentrum, der "ifa-Galerie" und dem traditionsreichen Museum Koenig die Museumsmeile. Auch das bundespolitische Bonn kann besichtigt werden: Der 1964 entstandene Kanzlerbungalow von Sep Ruf, zwischen der Villa Hammerschmidt und dem Palais Schaumburg unweit des Hauses der Geschichte gelegen, ist nach umfangreicher Renovierung seit 2009 der Öffentlichkeit in Führungen zugänglich. In der Innenstadt haben sich zudem einige Museen zum Verbund der CityMuseen zusammengeschlossen: Das StadtMuseum Bonn (eröffnet 1998) in der Franziskanerstraße 9, die ebenfalls dort untergebrachte Gedenkstätte für Widerstand und Verfolgung, das gegenüberliegende Ägyptische Museum, das Akademische Kunstmuseum, das Beethovenhaus und das Rheinische Landesmuseum. In Geburts-, Wohn- und Sterbehäusern bekannter Persönlichkeiten wurden Museen eingerichtet. Das gilt für das Beethoven-Haus, für das August-Macke-Haus, das Ernst-Moritz-Arndt-Haus, das als Teil des StadtMuseum Bonn neben einem Arndt-Gedenkraum vor allem Sonderausstellungen und Veranstaltungen zu kulturhistorischen Themen des 19. Jahrhunderts bietet, und das Schumannhaus in Endenich, wo seit Jahrzehnten die Musikbibliothek der Stadtbibliothek untergebracht ist. In den Boden der Bonngasse, in der sich das Beethoven-Haus befindet, sind seit 2005 die Porträts von Persönlichkeiten eingelassen, deren Lebensläufe eng mit der Stadt verbunden sind. Im Beethoven-Haus befindet sich als Weltdokumentenerbe ein Teil des Autographen der Symphonie Nr. 9, d-Moll, op. 125 von Ludwig van Beethoven. Die Universität verfügt über zahlreiche Museen und Sammlungen. Bekannt sind vor allem das Ägyptische Museum, eine Sammlung mit circa 3000 Originalobjekten, das Akademische Kunstmuseum, das die archäologische Sammlung der Universität beherbergt, und das Arithmeum, eine umfangreiche Sammlung von Rechenmaschinen. Der Botanische Garten gehört zur Universität. Hier ist unter anderem die größte Blume der Welt, die Titanenwurz zu bestaunen, deren Blüte 2003 als die größte Blume der Welt ins Guinness-Buch der Rekorde eingetragen wurde. Sie blüht regelmäßig, seit 2008 jedes Jahr. Weiterhin zu nennen sind das Goldfuß-Museum, eine Schausammlung von Fossilien, das Mineralogische Museum, eine Edelstein- und Meteoritensammlung, und schließlich das Horst-Stoeckel-Museum, das die Geschichte der Anästhesiologie von der Entdeckung der Äthernarkose im Jahre 1846 bis zur Gegenwart darstellt. Mittlerweile über 40 Jahre alt ist das 1981 gegründete Frauenmuseum. Weltweit war es die erste Institution gleichen Namens oder vergleichbarer Zielsetzung. Heute kann das Frauenmuseum auf über 400 Ausstellungen zurückschauen und ist mit seinen umfangreichen Begleitprogrammen zu einer international anerkannten Institution geworden. Das zwischen 1995 und 2003 komplett umgebaute Rheinische Landesmuseum zeigt bedeutende archäologische Denkmäler zur Kulturgeschichte des Rheinlandes und besitzt eine weniger bedeutende Sammlung zeitgenössischer Kunst aus der Region. In der an der Poppelsdorfer Allee gelegenen Volkssternwarte Bonn werden regelmäßig öffentliche Beobachtungen des Sternhimmels und der Sonne durchgeführt. Auf Initiative und unter Leitung der Bertolt-Brecht-Gesamtschule wurde mit Hilfe des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt und weiteren Sponsoren in zweijähriger Arbeit im September 2002 entlang des Rheins der Bonner Planetenlehrpfad im Maßstab von 1:1 Milliarde eröffnet. Die Sonne (Durchmesser 1,40 Meter) ist Startpunkt des 5946 Meter langen Lehrpfades und steht unterhalb des Wasserwerks. In relativ kurzen Abständen zwischen 50 und 100 Metern stehen Merkur, Venus, Erde und Mars. Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun folgen mit Abständen zwischen 700 Metern und 1,5 Kilometern. Pluto schließt den Weg am nördlichen Ende des Bonner Hafens in Graurheindorf ab. An jedem Planetenstandort sind auf Informationstafeln der Name, eine maßstabsgetreue Halbkugel, das Symbol, Durchmesser sowie alle Informationen in Brailleschrift hinterlegt. NS-Gedenkstätten. In der Franziskanerstraße 9 befindet sich die Gedenkstätte für die Bonner Opfer des Nationalsozialismus – An der Synagoge e. V. Die informative Dauerausstellung wurde 2005 grundlegend überarbeitet und ergänzt. Sie dokumentiert Verfolgung, Leid und Ermordung der Bonner Opfer des Nationalsozialismus. Zur Gedenkstätte gehören eine Präsenzbibliothek, eine Mediothek mit Zeitzeugengesprächen sowie ein umfangreiches Archiv. Kunst im öffentlichen Raum. Im gesamten Bereich der Stadt gibt es eine Fülle von Kunstwerken zeitgenössischer deutscher und internationaler Künstler. Dazu gehören Victor Vasarely mit seiner Fassadengestaltung des Juridicums, Henry Moore mit "Large Two Forms" vor dem ehemaligen Bundeskanzleramt, dem heutigen Bundesministerium für Entwicklung, und Eduardo Chillida mit "De Musica IV" vor dem Münster. "Die Wolkenschale" von Hans Arp wurde 1961 vor der Universitätsbibliothek aufgestellt. Wegen der mehrjährigen Sanierung des Gebäudes war Arps Werk zwischen 2004 und Mai 2009 nicht zu sehen. Begünstigt wurde diese hohe Anzahl an Kunstobjekten durch die Bautätigkeit der öffentlichen Hand im Zusammenhang mit dem Ausbau Bonns zum Regierungssitz. Arbeiten, die als Kunst am Bau entstanden sind sowie Skulpturen vor öffentlichen Einrichtungen wie der Universität und den Museen und nicht zuletzt Spenden privater Mäzene, machen es möglich, dass ein Besucher beim Gang durch die Stadt einen Gang durch die Geschichte der bildenden Kunst der letzten 50 bis 60 Jahre unternehmen kann. Zu Ehren Ludwig van Beethovens steht auf dem Münsterplatz ein Beethoven-Denkmal. Denkmäler zu Ehren einzelner Personen beschreibt die Liste der Personendenkmäler in Bonn. Theater, Musik, Film. Das Beethoven Orchester Bonn veranstaltet regelmäßig Konzerte in der Beethovenhalle und kommt in der Oper zum Einsatz. Es wurde 1897 als "Philharmonisches Orchester Koblenz" gegründet und 1907 von der Stadt Bonn als "Städtisches Orchester Bonn" übernommen. Neben dem städtischen Theater Bonn mit der Oper Bonn und dem im Godesberger Schauspielhaus (ehemals "Kammerspiele") betriebenen Schauspiel gibt es diverse kleinere Privattheater in Bonn. Dazu gehören das in der Innenstadt gelegene Contra-Kreis-Theater, das Euro Theater Central, das in Beuel gelegene Junge Theater Bonn, das "Theater DIE RABEN", das "Kleine Theater Bad Godesberg", das Theater "Die Pathologie" in der Südstadt, die Bonn University Shakespeare Company sowie seit September 2018 Malentes Theater Palast auf der Godesberger Allee. Bonn beheimatet auch namhafte Chöre wie den Bach-Chor, den Bonner Jazzchor, den Chur Cölnischen Chor, das Immortal Bach Ensemble oder den Philharmonischen Chor sowie Vox Bona. Kleinkunst und Kabarett werden unter anderem im Haus der Springmaus, im Pantheon-Theater (seit 2016 in der Halle Beuel), in der Endenicher Harmonie und im "Theater im Ballsaal" dargeboten. Die Figurentheaterkunst pflegen in verschiedenen Bonner Spielstätten die Piccolo Puppenspiele. Seit einigen Jahren etablierte sich in Bonn eine rege Poetry-Slam-Szene: Seit 2001 findet monatlich der Bonner "Rosenkrieg" statt und seit 2009 hat Bonn mit "Sex, Drugs & Poetry" einen zweiten Slam. Von 1997 bis 2011 fanden im Sommer Konzerte mit deutschen und internationalen Künstlern auf dem Museumsplatz an der Bundeskunsthalle als Freiluftkonzerte unter einem Zeltdach statt. Als Nachfolgeplatz wird seit 2012 der "Kunst!rasen" in der Gronau am Rande der Rheinaue betrieben. Kleinere Auftritte finden in der Bad Godesberger Klangstation und der Endenicher Harmonie statt. Mit der Freiluftveranstaltung "Rheinkultur" verfügte das Kulturangebot der Stadt bis 2011 über eines der wichtigsten Festivals Deutschlands, auf dem praktisch alle modernen Stilrichtungen vertreten waren. Das traditionsreiche Kino "Metropol" am Marktplatz wurde im März 2006 geschlossen, nachdem das Gebäude Ende 2005 in die Hand eines neuen Besitzers gewechselt ist. Nach einer scharf geführten Auseinandersetzung um Abriss, Umnutzung oder Weiternutzung der denkmalgeschützten Spielstätte wird das Gebäude nun als Buchhandlung genutzt. Die ebenfalls am Markt gelegenen "Stern Lichtspiele" werden von Cinestar betrieben. In dem 1956 am "Bertha-von-Suttner-Platz" erbauten Gebäude der "Universum-Lichtspiele" ist seit 1998 das "Woki" ansässig. Im Zentrum von Bad Godesberg befindet sich das Multiplex-Kino "Kinopolis". In Bonn gibt es drei Programmkinos: das 1952 in Endenich eröffnete denkmalgeschützte "Rex Lichtspieltheater", die 1933 in Beuel erbaute "Neue Filmbühne" und die im Kulturzentrum "Brotfabrik Bonn" gelegene "Bonner Kinemathek". Regelmäßige Veranstaltungen. Das Beethovenfest ist ein jährlich im Herbst stattfindendes fast vierwöchiges Musikfestival mit über 50 Konzerten in Bonn und der Umgebung. 2005 wurde zum ersten Mal der Beethoven Competition durchgeführt, ein Wettbewerb für junge Pianisten aus der ganzen Welt. Das Bonner Schumannfest dient der Erinnerung an Robert Schumann und findet jährlich seit 1998 statt. Seit dem Jahr 2000 findet monatlich die Orgel- und Kammermusikreihe "am 7. um 7" in der Bonner Kreuzkirche statt. Weitere Orgelfeste sind das "Bonner Orgelfest", das seit 2009 alle 2 Jahre an verschiedenen Orgeln im Bonner Stadtgebiet stattfindet sowie die "Internationalen Orgelkonzerte Bonn-Beuel", die seit der Einweihung der neuen Oberlinger-Orgel im Jahr 1981 in St. Josef Bonn-Beuel dort jährlich mit international renommierten Organisten stattfinden. Seit 2010 findet jährlich im Mai das Jazzfest Bonn an verschiedenen Spielstätten in Bonn statt. Im Arkadenhof der Universität werden jedes Jahr im Sommer während der Internationalen Stummfilmtage restaurierte Stummfilme gezeigt. Auf dem Münsterplatz fand zwischen 2005 und 2013 jährlich im Herbst die Wasserorgel-Veranstaltung Klangwelle Bonn statt. Seither findet die Veranstaltung unter dem Namen "Klangwelle" in der rheinland-pfälzischen Stadt Bad Neuenahr-Ahrweiler statt. In der Rheinaue findet an jedem dritten Samstag im Monat von März bis Oktober der "Große Rheinauen-Flohmarkt" statt. Jährliche Veranstaltungen in der Rheinaue sind das Großfeuerwerk Rhein in Flammen am ersten Mai-Wochenende, eine Bierbörse am letzten Wochenende im Juli sowie das "Internationale Begegnungsfest" im Herbst. Das seit 1983 etablierte Freiluftmusikfestival "Rheinkultur" findet seit 2012 nicht mehr statt. Von 2015 bis 2018 war die Rheinaue Austragungsort des "Rockaue Open Air". Seit 2015 findet dort einmal im Jahr das Festival "Panama Open Air" statt. Seit 2008 findet in Neu-Vilich das "Green Juice Festival" statt. Der größte jährliche Jahrmarkt in Bonn, "Pützchens Markt", findet am zweiten Wochenende im September in Beuel-Pützchen auf einer Festwiese im Osten der Stadt statt. Seine Ursprünge reichen bis ins Jahr 1367. Mit rund 1,2 bis 1,4 Millionen Besuchern zählt Pützchens Markt zu den großen Jahrmärkten im Rheinland. Das Volksfest wird als „umsatzstärkster 5-Tage-Markt in Deutschland“ bezeichnet. Die "AnimagiC", eine der größten deutschsprachigen Anime-Conventions (Veranstaltung für Manga- und Anime-Fans), wurde bis 2016 jährlich in der Beethovenhalle veranstaltet. Mit Beginn der dortigen Sanierungsarbeiten wanderte die Convention nach Mannheim ab. Weitere regelmäßige Veranstaltungen wie die "FeenCon" finden in Bonn-Beuel statt. Die Kirschblüte in der Bonner Altstadt zieht im April und Mai Touristen aus aller Welt an. Waren es früher vorwiegend asiatische Touristen, aus deren Heimat die Bäume stammen, kommen mit wachsendem Bekanntheitsgrad auch Besucher aus anderen Ländern. Vom vorletzten Wochenende im November (pausierend am Totensonntag) bis zum 23. Dezember findet in der Innenstadt ein Weihnachtsmarkt statt. Er erstreckt sich vom Münsterplatz über die Vivatsgasse, den Mülheimer Platz, den Bottlerplatz bis zum Friedensplatz. Von 1970 bis 2011 fand in Bonn ein internationales vielfältiges Kulturprogramm, verteilt über mehrere Sommer-Wochenenden, unter dem Namen "Bonner Sommer" statt. Für Musiker, Künstler und die freie Kulturszene eine gute Gelegenheit an die Öffentlichkeit zu treten. Im Jahre 2011 stimmten im Rahmen einer Bürgerbefragung 690 Bonner gegen die Kultur-Ausgabe (ca. 300.000 Euro jährlich), 629 dafür. Für 2020 beschloss der Stadtrat im Jahr 2019 das seinerzeit beliebte Fest wiederzubeleben und mit den Stadtgartenkonzerten zu verbinden. Brauchtum. Karneval. Bonn zählt zu den rheinischen Karnevalshochburgen, wenngleich es immer etwas im Schatten des größeren Kölner Karnevals steht. Im Beueler Rathaus übernimmt an Weiberfastnacht die Wäscherprinzessin die Regentschaft. Das Alte Rathaus in Bonn wird seit Beginn des 20. Jahrhunderts am Karnevalssonntag von den Bonner Stadtsoldaten in historischen Uniformen im französischen Stil belagert und erobert. Die größte Karnevalssitzung ist die "Alternative Karnevalssitzung" Pink Punk Pantheon mit alljährlich über 10.000 Besuchern. Einheimische definieren die Karnevalszeit zwischen dem 11. November um 11:11 Uhr und dem Aschermittwoch als „fünfte Jahreszeit“. Sportwesen. Sportvereine. Der bekannteste Sportverein Bonns ist der Basketballverein Telekom Baskets Bonn, dessen erste Herren-Mannschaft seit Jahren erfolgreich in der Basketball-Bundesliga spielt und seit 2008 die Heimspiele im 6.000 Zuschauer fassenden Telekom Dome im Ortsteil Duisdorf austrägt. Bonn ist die größte deutsche Stadt, aus der noch nie ein Verein in der Fußball-Bundesliga spielte. Bekanntester Fußballverein ist der Bonner SC, der seine Spiele im Sportpark Nord austrägt und aktuell in der fünftklassigen Mittelrheinliga spielt. In der Saison 1976/77 spielte er einmalig in der 2. Bundesliga. Weitere Sportvereine sind der 1. Badminton Club Beuel (Deutscher Badminton-Meister 1981, 1982 und 2005), der ehemalige Damen-Basketball-Bundesligist "BG Rentrop Bonn" (heute BG Bonn 92), der Baseball-Bundesligist Bonn Capitals (Deutscher Meister der Baseball-Bundesliga 2018 und 2022 und mehrfacher deutscher Meister in den Jugendklassen), der Bonner Tennis- und Hockey-Verein (Hallenhockey-Bundesligist bei den Damen), der Hockey- und Tennis Club Schwarz-Weiß Bonn, der Verein für American Football Bonn Gamecocks (ehemals zweite Bundesliga), der Rugby Club Bonn-Rhein-Sieg (2. Bundesliga West), sowie Bonns größter Sportverein, die Schwimm- und Sportfreunde Bonn 1905 (SSF Bonn), mehrfacher Deutscher Volleyball-Meister und Pokalsieger sowie Heimatverein der Olympiasiegerin im Modernen Fünfkampf 2008, Lena Schöneborn. Ebenso ist die Triathlon-Abteilung des SSF Bonn mit Damen- und Herrenteams in der Triathlon-Bundesliga vertreten. Bester Bonner Handballverein ist die TSV Bonn rrh., die bei den Frauen und Männern 2022/23 in der Handball-Regionalliga Nordrhein spielte. In der Nähe des Sportparks Nord hat der Deutsche Fechter-Bund seine Zentrale mit angeschlossenem Internat für die Nachwuchs-Elite, die zum Teil für den Olympischen Fecht-Club Bonn an den Start geht. Hier trainierten bereits Fechtstars wie Peter Joppich und Benjamin Kleibrink. In Bonn befindet sich seit mehr als 100 Jahren der Turn- und Kraftsportverein 1906 e. V. Duisdorf. Die 1. Ringer-Mannschaft des TKSV Duisdorf trat mehrere Jahre in der ersten Bundesliga an. Der größte Tanzsportverein ist der TSC Blau-Gold Rondo im Stadtteil Beuel, der regelmäßig im Frühjahr das Traditionsturnier "Goldene Rebe" ausrichtet. Die direkte Nähe des Rheins zeigt sich in mehreren Rudervereinen und vier Ruder-Arbeitsgemeinschaften (AG) der Bonner Schulen, welche sich in der AG-Bonner-Schülerrudervereine (AGBS) organisieren. Mit der Eurega hat Bonn eine weit über die Bonner Grenzen hinaus bekannte Ruderregatta, die jährlich am ersten Wochenende im Mai durch den Bonner Ruder Verein ausgerichtet wird. Schwimmbäder. Bonn verfügt über acht Schwimmbäder: Zwei Schwimmhallen, fünf Freibäder und ein kombiniertes Hallen-/Freibad mit angegliedertem Kletterwald wie folgt: Außerdem wurde den Schwimmern des SSF ein schwimmsportliches Trainingszentrum im Sportpark Nord mit einem 50-Meter-Sportbecken und einem Lehrbecken überlassen. Erste Schwimmzüge für Kleinkinder sowie Erwachsene gehören ebenso zum städtischen Kursangebot wie Stilkurse in Kraultechnik oder Aqua-Fitness-Stunden. Sportplätze, Turn- und Sporthallen. Über das Stadtgebiet verteilt sind über 100 städtische Turn- und Sporthallen. Davon sind 81 Einfach-Turnhallen, neun Großturnhallen, neun Dreifachhallen und eine Vierfach-Halle. Des Weiteren gibt es 24 Gymnastikräume und 46 Freiluftsportplätze, darunter 13 Rasenplätze. Außerhalb der städtischen Verfügung stehen 25 privat geführte Sport- und Turnhallen. Sportveranstaltungen. Zu den jährlichen Sportereignissen zählen die German Open im Synchronschwimmen im März, der Bonn-Marathon im April, der Bonn-Triathlon im Juni, eine Station der Beachvolleyball-Meisterschaften in Deutschland im August, sowie das Herrenflorett-Weltcupturnier „Löwe von Bonn“. Gastronomie und Nachtleben. Bonn wurde wiederholt als „Bundesstadt ohne nennenswertes Nachtleben“ bezeichnet. Diese Bezeichnung ist insoweit irreführend, als die Stadt gastronomisch gut entwickelt ist und über eine Anzahl hervorragender Restaurants verfügt. Sie wurde daher 2005 vom Gault-Millau zur „Schlemmerhauptstadt Deutschlands“ gewählt. Mit Rainer-Maria Halbedels "Halbedel’s Gasthaus" in Bad Godesberg hat die Stadt ein Sterne-Restaurant aufzuweisen. Die Restaurants Yunico (im Kameha Grand Hotel), "EQUU" (in Gronau) und "Kaspars" (in Castell) werden ebenfalls mit einem Stern ausgezeichnet. In typischen Gasthäusern wird die rheinische Küche als eine Regionalküche Deutschlands angeboten, oft unter dem Etikett „gutbürgerliche Küche“. Dazu zählen Klassiker wie u. a. Rheinischer Sauerbraten (Soorbrode), Rollbraten, Flönz, Muscheln rheinische Art, Himmel un Ääd und Rievkoche (Reibekuchen). Die „studentischen“ Kneipen, Bars und Diskotheken sind in Bonn dezentral verteilt und finden sich überwiegend in der als „Altstadt“ bezeichneten Nordstadt, in der Südstadt und in Poppelsdorf. Erfahrene Nachtschwärmer wechseln in den frühen Morgenstunden von diesen Standorten zu den Gastronomiebetrieben rund um den Bonner Markt, die zu früher Stunde für die Marktleute ihre Türen öffnen. Verbindungen und Vereinigungen. Freimaurer. Seit 1775 gibt es in Bonn Freimaurerlogen. Ihnen gehörte unter anderem lokale Prominenz an, wie Karl Otto Freiherr von Gymnich, Anton von Belderbusch oder Nikolaus Simrock. Zweimal wurden die Bonner Logen zwangsweise aufgelöst, von 1814 bis 1840 durch den preußischen Kreisdirektor und Freimaurer-Gegner Rehfues und 1935 bis 1945 durch die NSDAP. Die Loge "Beethoven zur ewigen Harmonie" ist eine der wenigen deutschen Logen, die sich der Zwangsauflösung widersetzte und heimlich in einem Privathaus weiter arbeitete. Zurzeit gibt es in Bonn sechs Freimaurerlogen aus den verschiedenen regulären Großlogen. Es existiert außerdem eine Loge für Frauen und Männer namens "Licht und Wahrheit" unter dem Grand Orient de Luxembourg. Korporationen und Verbindungen. Die Schlaraffen sind mit dem Reych "Schlaraffia Castrum Bonnense" vertreten. Daneben gibt es zahlreiche Studentenverbindungen in Bonn (schlagende, nicht-schlagende oder fakultativ schlagende Korporationen) mit eigenen Häusern und unterschiedlicher weltanschaulicher Ausrichtung. Infrastruktur. Verkehr. Luftverkehr. Der nach Konrad Adenauer benannte Flughafen Köln/Bonn liegt circa 15 Kilometer nordöstlich der Stadt und ist über die A 59, eine Schnellbuslinie und die rechtsrheinische Bahnstrecke mit Bonn verbunden. Eine weitere Anbindung an den Luftverkehr existiert durch den Flugplatz Bonn-Hangelar, der in Sankt Augustin unmittelbar an der Grenze zum Stadtbezirk Beuel liegt. Der Flugplatz wird vorwiegend von Geschäftsreisenden und Sportfliegern genutzt. Ein nicht ziviler Flugplatz besteht am Hauptsitz des Bundesministeriums der Verteidigung mit dem Heliport Bonn-Hardthöhe, der jedoch nicht mehr regulär genutzt wird. Einen zivilen Hubschrauberlandeplatz hatte von 1953 bis 1961 an der Römerstraße die belgische Fluggesellschaft Sabena mit Linienflügen über Köln nach Brüssel betrieben. Schienen- und Busverkehr. Hauptknotenpunkte des Schienenverkehrs. Der Bonner Hauptbahnhof ist Fernverkehrshalt der Deutschen Bahn an der linken Rheinstrecke Köln–Bonn–Koblenz; der Bahnhof Siegburg/Bonn an der ICE-Strecke Köln–Rhein/Main ist von der Bonner Innenstadt mit der Stadtbahnlinie 66 in 25 Minuten über die Siegburger Bahn zu erreichen. Bei störungsbedingter Umleitung über die rechte Rheinstrecke wird ersatzweise in Bonn-Beuel gehalten. Als Nahverkehrsstrecke zweigt in Bonn die Voreifelbahn in Richtung Euskirchen von der linken Rheinstrecke ab. Im Bonner Stadtgebiet sind insgesamt 13 niveaugleiche Bahnübergänge vorhanden. Bahnhöfe. Auf Bonner Stadtgebiet gibt es neun Bahnhöfe und Haltepunkte des Schienenverkehrs. Es bestehen im Schienenpersonennahverkehr sechs Linienverbindungen zu den umliegenden Städten im Stundentakt, die sich gegenseitig auf einen 20- bis 30-Minuten-Takt verdichten. Die Voreifelbahn verkehrt werktags im 15- bis 30-Minuten-Takt, abends und sonntags im 30- bis 60-Minuten-Takt. Schienengüterverkehr. Vom lokalen Schienengüterverkehr ist Bonn nahezu abgeschnitten, Transitschienengüterverkehr durch das Bonner Stadtgebiet findet jedoch links- wie rechtsrheinisch in erheblichen Maße statt. Ehemals existierten über zehn Güterbahnhöfe bzw. Hafenbahnhöfe auf Bonner Stadtgebiet, betrieben von drei verschiedenen Eisenbahnen (DB, KBE (Köln-Bonner-Eisenbahn) und die „alte“ RSE (eine Schmalspurbahn auch Bröltalbahn genannt)) und zusätzlich zahlreiche Anschlussgleise von Bonner Unternehmen. Übrig geblieben ist alleine der Güterbahnhof in Bonn-Beuel, der seit einigen Jahren wieder regelmäßigen und umfangreichen Frachtumschlag aufweist und in ganz Bonn und Umgebung die letzte Schnittstelle zwischen Schiene und Straße ist. Einsatzbereite Anschlussgleise für die Industrie existieren in Bonn nicht mehr, alleine ein Oldtimerersatzteil-Großhandel hat noch über ein Gleis des Bonn-Beueler Güterbahnhofs direkten Zugang zum Schienennetz und wird regelmäßig über die Schiene mit Containern beliefert. Ausbau des Schienenverkehrs. In den nächsten Jahren und Jahrzehnten ist ein umfangreicher Ausbau des Schienennetzes in Bonn und der Region geplant. Dazu gehört der Bau der S-Bahn-Linie 13, die bisher Köln und Troisdorf über die 2004 eröffnete Flughafenschleife in dichtem Takt an den Köln/Bonner Flughafen anbindet. Mit der Verlängerung durch das rechtsrheinische Bonn bis Oberkassel sollte sie für Bonn diese Funktion übernehmen. Inzwischen verbindet die Regionalbahn 27 Bonn-Beuel und Bonn-Oberkassel umsteigefrei mit dem Köln/Bonner Flughafen (60-Minuten-Takt). Die S13 soll im 20-Minuten-Takt verkehren und ginge mit dem Neubau von zwei S-Bahnhöfen einher. Die veranschlagten Kosten des 14-Kilometer-Projekts sind von anfänglich 225 auf 434 Millionen Euro gestiegen, daher ist die Verlängerung der S13 nach Oberkassel nicht unumstritten. Nachdem die DB den avisierten Fertigstellungstermin immer wieder nach hinten korrigierte, wurde seit dem Jahr 2011 von Seiten der DB kein verbindlicher Fertigstellungstermin genannt. Im September 2014 begannen vorbereitende Arbeiten im Ortsteil Vilich-Müldorf, die die Verlegung eines Wirtschaftswegs anstelle des geplanten neuen Gleises beinhalten. Im Dezember 2014 wurde ein Finanzierungs- und Realisierungsvertrag für die S13 unterzeichnet, nunmehr ist der Baubeginn für Anfang 2017 vorgesehen. Hauptsächlicher Kritikpunkt an der Verlängerung der S13 ist neben den immensen Kosten die Tatsache, dass das Bonner Zentrum mit dem Hauptbahnhof und dem Bundesviertel mit der S13 nicht zu erreichen sein wird. Eine Direktanbindung des Flughafens über die Südbrücke an die Bonner Innenstadt und den Hauptbahnhof ist gutachterlich in verschiedenen Versionen untersucht und mit sehr schlechten Nutzen-Kosten-Quotienten bewertet worden. Ferner kann die Südbrücke heutige S-Bahnwagen statisch nicht tragen. Eine solche Verbindung muss daher als unrealistisch angesehen werden. Eine Direktanbindung des Flughafens über die Kennedybrücke wäre nach Abschluss der Sanierung der Kennedybrücke (2011) mit Zweisystemwagen (Karlsruher Modell) technisch möglich, wird von der Bonner Ratsmehrheit aber abgelehnt (Stand: 2013) und ist daher bis jetzt (2013) nicht gutachterlich auf einen Nutzen-Kosten-Quotienten untersucht worden. Von 2013 bis 2014 wurde die Voreifelbahn auf durchgängig zwei Gleise, verbunden mit dem Neubau von zwei Haltepunkten auf Bonner Stadtgebiet ("Bonn-Endenich Nord" und "Bonn Helmholtzstraße"), ausgebaut. Ziel ist neben der besseren Erschließung durch den Neubau der Bahnhöfe ein dichterer Takt auf der stark nachgefragten Linie. In Folge ihrer mit Abschluss des Ausbaus zunehmend innerstädtischen Erschließungsfunktion verkehrt die Voreifelbahn zwischen Euskirchen und Bonn ab dem Fahrplanwechsel im Dezember 2014 als S23, womit Bonn erstmals Anschluss an das Netz der S-Bahn Köln erhält. Seit März 2016 entstand der Haltepunkt Bonn UN Campus an der linken Rheinstrecke in Höhe der Museumsmeile im Bundesviertel, um diesen Arbeitsplatzschwerpunkt besser zu erschließen. Dieser wurde am 1. November 2017 in Betrieb genommen. Langfristig ist vorgesehen, nach dem Bau des Kölner S-Bahn-Westrings eine linksrheinische S-Bahn zwischen Köln und Bonn einzurichten, die als S 17 die Rhein-Wupper-Bahn (RB 48) zwischen Köln und Bonn-Mehlem teilweise ersetzt. Eine vom Nahverkehr Rheinland in Auftrag gegebene Machbarkeitsstudie schlägt vor, die Linke Rheinstrecke im Bonner Abschnitt zwischen Bonn-Bad Godesberg und Bonn-Mehlem viergleisig, in den anderen Abschnitten dreigleisig auszubauen, um einen 20-Minuten-Takt realisieren zu können. Die Voreifelbahn S23 soll nach der erfolgten Elektrifizierung bis Bonn-Mehlem durchgebunden und in der Hauptverkehrszeit zu einem 10-Minuten-Takt verdichtet werden. Gleichzeitig ist geplant, den Lärmschutz deutlich auszuweiten sowie die technische Ausrüstung der Strecke zu modernisieren. Zudem sollen im Rahmen des 250-Millionen-Euro-Projekts sämtliche schienengleiche Bahnübergänge im Bonner Stadtgebiet durch Über- und Unterführungen oder Auflassungen ersetzt bzw. entfernt werden. Damit werden die derzeit sehr langen Schrankenschließzeiten von teils bis zu 20 Minuten aufgelöst und der Verkehrsfluss nachhaltig optimiert. Straßenpersonennahverkehr. Im Straßenpersonennahverkehr besitzt Bonn heute ein Stadtbahn-/Straßenbahnnetz mit etwa sechs Linien (je nach Zählweise). In den 1950er-Jahren schrumpfte das Bonner Straßenbahnnetz durch zahlreiche Stilllegungen stark ein. Die Stammstrecke zwischen Bonn und Bad Godesberg ersetzt seit dem Frühjahr 1975 hauptsächlich die Straßenbahnlinie auf der Kaiserstraße und der B 9, sie fährt tagsüber im 10-Minuten-Takt, die abendlichen Taktzeiten wurden 2002 stark ausgedünnt. Neben innerstädtischen Verbindungen bedient die Stadtbahn Bonn Siegburg, Sankt Augustin, Königswinter und Bad Honnef mit der Linie 66. Zwei Linien verkehren auf Eisenbahnstrecken der ehemaligen Köln-Bonner Eisenbahnen nach Köln über Brühl, Hürth, Bornheim und Wesseling im 20-Minuten-Takt. Busnetz. Bonn verfügt ebenfalls über ein sehr dichtes Stadtbusnetz mit 48 Linien (davon 6 Gemeinschaftslinien 537, 541, 550, 551, 640 und SB55), das weitestgehend im 20-Minuten-Takt bedient wird. Teilweise entstehen durch Linienbündelung Taktzeiten von fünf Minuten, zu Stoßzeiten und im Schulverkehr wird das Busnetz durch mit E gekennzeichneten „Ergänzungslinien“ unterstützt. Der Spätverkehr wurde 2002 auf Beschluss der Ratsmehrheit stark ausgedünnt. Im Zuge des neuen Busnetzes wurde der Spätverkehr Ende 2008 bis zum Beginn des Nachtverkehrs wieder gestärkt. Daneben existiert ein Nachtbusnetz mit zehn Linien, die stündlich untereinander Anschlüsse herstellen. Das Nachtbus-Netz wird zum Teil durch Sponsoring finanziert, d. h. jede Sponsorlinie trägt den Namen eines Sponsors, der Bus (tagsüber im normalen Linienverkehr) trägt passende Ganzreklame. Von 1951 bis 1971 verkehrte außerdem der Oberleitungsbus Bonn in der Stadt, der einen Teil des Straßenbahnnetzes ersetzte und seinerseits von Omnibuslinien abgelöst wurde. Verkehrsverbund (VRS). Bonn gehört zum Tarifgebiet des Verkehrsverbunds Rhein-Sieg (VRS). Straßennetz. Bonn ist über die Bundesautobahnen 59, 555, 562, und 565 sowie die Bundesstraßen 9, 42 und 56 an das Fernstraßennetz angebunden. Da das Stadtgebiet vom Rhein durchtrennt wird, haben die drei Rheinbrücken der A 562 (Südbrücke, Konrad Adenauer-Brücke), A 565 (Nordbrücke, Friedrich Ebert-Brücke) und B 56 (Kennedybrücke) sowie die Rheinfähren Mehlem–Königswinter, Bad Godesberg–Niederdollendorf und Graurheindorf–Mondorf besondere Bedeutung für den innerstädtischen Verkehr. Dasselbe gilt für die Bahnunterführungen und die Viktoriabrücke, die Norden und Süden des linksrheinischen Stadtgebietes verbinden. In Bonn sind 184.582 Kraftfahrzeuge zugelassen, darunter 156.398 Personenkraftwagen. Das Radwegenetz der Stadt Bonn wurde zwischen 1994 und 1999 stark ausgebaut. Einige Radwege wurden jedoch inzwischen wieder zurückgebaut und teilweise durch Radfahrstreifen oder Schutzstreifen ersetzt. Bonn ist Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft fußgänger- und fahrradfreundlicher Städte, Gemeinden und Kreise in Nordrhein-Westfalen und hat die Zielsetzung, künftig zur "Fahrrad-Hauptstadt" zu werden (in Anlehnung an die "Radlhauptstadt" in München). Dafür ist unter anderem ein stadtweites Netz von Fahrradstraßen konzipiert worden. Wasserstraßen und Häfen. Im Norden, im Ortsteil Graurheindorf, liegt der Binnenhafen der Stadt Bonn (Hafen Bonn). Vorher war er am "Alten Zoll" beheimatet, in der Nähe der Kennedybrücke. Als dieser Platz für die Umschlagskapazitäten nicht mehr ausreichte, wurde er in den 1920er Jahren an einen damals noch siedlungsfreien Standort verlegt. Vorgesehen war damit die Schaffung einer größeren Industrieansiedlung sowie eines Hafenbeckens. Beides wurde nicht umgesetzt. Bis 1974 war der Hafen über eine in Buschdorf abzweigende Stichstrecke der Rheinuferbahn an das Schienennetz der KBE angebunden. Mittlerweile ist der Hafen Bonn vom Ortsteil Graurheindorf landseitig komplett umschlossen. An diesem Stromhafen werden heute überwiegend Container für den Überseetransport umgeschlagen. Die Jahresumschlagsleistung liegt über alle Güter bei circa 0,5 Mio. t. Personenschifffahrt wird von Bonn aus von den Flotten der Köln-Düsseldorfer und der Bonner Personen Schiffahrt betrieben, zu Letzterer gehört das auffällige, einem Wal nachempfundene Schiff Moby Dick. Belastungen durch den Verkehr. Das Zusammentreffen von mehreren großen Verkehrsadern bringt es mit sich, dass nach einer Studie des Fraunhofer-Instituts für Bauphysik aus dem Jahr 2011 Bonn die lauteste Stadt in Nordrhein-Westfalen ist und die viertlauteste in Deutschland. Versorgungsnetze. Die Bonner Stadtwerke versorgen mit Ausnahme der Ortsteile Holzlar, Hoholz und Ungarten das Stadtgebiet mit Wasser aus der Wahnbachtalsperre. Das Gasnetz ist seit einigen Jahren im Besitz der Stadtwerke, seit 2011 wird das Stromnetz wieder vollkommen kommunal betrieben, der Stadtrat hat die Konzession des RWE für die Stadtbezirke Beuel und Bad Godesberg nicht verlängert. Nachdem Bonn Regierungssitz geworden war, wurde das Stromversorgungsnetz zum Ring- und Maschennetz umgebaut. Die gewachsenen Strukturen dieser Netze gewährleisten eine höhere Ausfallsicherheit als vergleichbare in anderen Städten. Trinkwasserversorgung. Die Trinkwasserversorgung wird von den Stadtwerken Bonn übernommen. Jährlich werden 22 Mio. m³ Trinkwasser abgegeben. Die Stadtwerke beziehen ihr Wasser vom Wahnbachtalsperrenverband, welcher es zu 65 % aus der Wahnbachtalsperre und aus den Grundwassergewinnungsanlagen Meindorf (27 %) und Hennefer Siegbogen (8 %) gewinnt. Das Talsperrenwasser wird in der Aufbereitungsanlage Siegelsknippen folgenden Verfahrensschritten unterzogen: Das Wasser aus dem Hennefer Siegbogen wird ebenfalls in Siegelsknippen aufbereitet, in Meindorf steht eine eigene Aufbereitung zur Verfügung. Im Anschluss wird das Trinkwasser aus den drei Quellen vermischt und an das Versorgungsgebiet (insgesamt 800.000 Einwohner) abgegeben. Mit einer Gesamthärte von 4,3 bis 7,1 °dH fällt das Bonner Trinkwasser in den Härtebereich „weich“. Der Brutto-Verbrauchspreis liegt bei 1,79 Euro je Kubikmeter. Abwasserentsorgung. Die Ableitung und Reinigung des anfallenden Abwassers fällt in den Zuständigkeitsbereich der Stadt Bonn. Das 967 Kilometer lange Mischkanalsystem mit 80 Pumpwerken befördert das Abwasser zu vier Klärwerken: Die gereinigten Abwässer werden anschließend in den Rhein abgegeben. Die zentrale Klärschlammbehandlung findet auf der Kläranlage Salierweg statt. Die Schlämme der Anlagen Salierweg, Bad Godesberg und Beuel werden hier in Faultürme gegeben, nach 30 Tagen entwässert und der werkseigenen Verbrennungsanlage zugeführt. Auch der bereits ausgefaulte und entwässerte Schlamm aus der Kläranlage Duisdorf wird hier verbrannt. Reststoffe und Asche werden mit LKW abgefahren und dienen der Stabilisierung von Bergwerksstollen. Das bei der Faulung entstehende Klärgas wird zur Stromerzeugung verwendet. Wirtschaft. Wirtschaftsstandort. Von Mitte 1991, dem Zeitpunkt des Bonn/Berlin-Beschlusses des Bundestages, bis Mitte 2002 ist die Zahl der beschäftigten Arbeitnehmer in der Stadt Bonn um annähernd 11.400 Personen und somit 8,5 Prozent auf 145.558 angestiegen. Für 2003 gibt die Stadt noch einmal einen Zuwachs um 3118 Arbeitsplätze auf 149.016 an. Umzugsbedingte Arbeitsplatzverluste konnten ähnlich wie im benachbarten Rhein-Sieg-Kreis ausgeglichen und neue Arbeitsplätze geschaffen werden. 2013 nannte die Stadt Bonn einen Kaufkraftindex von 109,6 Prozent (Bundesdurchschnitt: 100 Prozent). Somit verfügten die Einwohner Bonns zusammen über eine allgemeine Kaufkraft in Höhe von 7,3 Milliarden Euro bzw. 22.746 Euro pro Einwohner. Der überdurchschnittliche Kaufkraftindex ist auf einen hohen Beschäftigungsgrad, einen hohen Anteil hoch qualifizierter Arbeitnehmer und einkommensstarke Arbeitsplätze zurückzuführen. Der benachbarte Rhein-Sieg-Kreis kam auf eine marginal niedrigere Kaufkraft in Höhe von 21.367 Euro pro Einwohner. Im Jahre 2016 erbrachte Bonn, innerhalb der Stadtgrenzen, ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 22,824 Milliarden € und belegte damit Platz 12 innerhalb der Rangliste der deutschen Städte nach Wirtschaftsleistung. Das BIP pro Kopf lag im selben Jahr bei 71.222 Euro pro Kopf (Nordrhein-Westfalen: 37.416 Euro, Deutschland 38.180 Euro) und damit weit über dem regionalen und nationalen Durchschnitt. In der Stadt waren 2016 etwa 243.200 Erwerbstätige beschäftigt. Die Arbeitslosenquote lag im Dezember 2018 bei 6,1 Prozent und damit unter dem Durchschnitt von Nordrhein-Westfalen mit 6,4 Prozent. In den meisten Städteplatzierungen zur zukünftigen Entwicklung belegen Bonn und die Region Plätze mindestens im oberen Drittel. Dass die Region ein prosperierender Wirtschaftsstandort ist, zeigt sich daran, dass die Einwohnerentwicklung seit Jahren positiv ist. Ermöglicht wurde die positive Entwicklung unter anderem durch die Ausgleichszahlungen des Bundes an die Region, die sich insgesamt auf etwa 1,4 Milliarden Euro belaufen. Gefördert wurden im Speziellen Wissenschaftsprojekte und Baumaßnahmen. Zudem zogen zahlreiche Bundesbehörden nach Bonn um, außerdem siedelten sich in der Bundesstadt viele internationale Institutionen und Nichtregierungsorganisationen an, unter anderem zwölf der Vereinten Nationen. Auch die Konzentration der Deutschen Post und Deutschen Telekom in Bonn trug dazu bei. Die Dienstleistungen (ohne öffentliche Verwaltung) erreichten einen Zuwachs von 27,1 Prozent, also circa 22.400 Beschäftigten, von Juni 1991 bis Juni 2002. Mit 105.171 Beschäftigten und einem Anteil von 72,3 Prozent an allen Beschäftigten hat dieser Bereich seine dominierende Stellung in Bonn ausgebaut. Dagegen hat die öffentliche Verwaltung in diesem Zeitraum fast ein Drittel ihrer Beschäftigten verloren. Wirtschaftsforschungsinstitute gehen davon aus, dass in Bonn in den nächsten Jahren die Zahl der Arbeitsplätze weiter steigt. Im Zukunftsatlas 2016 belegte die Stadt Bonn Platz 37 von 402 Landkreisen und kreisfreien Städten in Deutschland und zählt damit zu den Orten mit „sehr hohen Zukunftschancen“. In der Ausgabe von 2019 lag sie auf Platz 28 von 401. Tourismus. Der Tourismus in Bonn wurde während der Zeit als Regierungssitz überwiegend durch Polittourismus geprägt. Seit den 1990er-Jahren weist dieser Wirtschaftszweig hohe Wachstumsraten auf, vor allem ist die Zahl der Übernachtungen seit 1993 um 40 Prozent und sind die Ankünfte von Besuchern um 58 Prozent gestiegen. Entscheidend für den Zuwachs ist unter anderem, dass sich der Fremdenverkehr und die dort tätigen Betriebe an die neuen Gegebenheiten – im Speziellen den Regierungsumzug – angepasst haben. Der Erfolg des Bonner Tourismus wird heute neben der landschaftlich günstigen Lage an Rhein und Siebengebirge wesentlich durch den Anstieg des Passagieraufkommens am Flughafen und das Kongresswesen begründet. So entfielen von den 1,16 Millionen Hotelübernachtungen im Jahr 2005 mit 300.000 über ein Viertel auf Kongressbesucher. Die Anzahl der Tagestouristen liegt mit neun Millionen noch wesentlich höher. Insgesamt werden durch die Touristen 176 Millionen Euro jährlich in Bonn ausgegeben. In Bonn und dem Rhein-Sieg-Kreis sind – mit steigender Tendenz – 10.475 Personen im Tourismus beschäftigt. Arbeitsmarkt. Bonn hat seit Jahren eine der niedrigsten Arbeitslosenquoten in Nordrhein-Westfalen, im Oktober 2010 betrug sie 6,9 Prozent. Ein großer Teil der in Bonn Beschäftigten kommt als Pendler aus dem Umland, hauptsächlich aus dem Rhein-Sieg-Kreis, dem Kreis Euskirchen und dem rheinland-pfälzischen Landkreis Ahrweiler, darüber hinaus aus dem Rhein-Erft-Kreis und aus Köln. Täglich fahren 80.000 Menschen nach Bonn zur Arbeit, während 30.000 Bonner außerhalb der Stadtgrenze ihrer Beschäftigung nachgehen. Damit hat Bonn nach Köln und der Landeshauptstadt Düsseldorf den dritthöchsten Pendlerüberschuss in Nordrhein-Westfalen. Geprägt wird der Arbeitsmarkt der Region unter anderem von den zahlreichen Bundesministerien und -behörden verbunden mit mehreren Bundesverbänden und -organisationen – der Bund ist der größte Arbeitgeber in der Region – sowie den Schwergewichten Deutsche Post AG, Deutsche Telekom und Deutsche Bank mit ihrer Niederlassung Postbank. Neben den Arbeitsplätzen im Bereich der Funktionen Bundesstadt und UN-Stadt mit den internationalen Organisationen gibt es in Bonn vergleichsweise viele im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie sowie der Wissenschaft mit mehreren Forschungseinrichtungen. Strukturwandel im Einzelhandel. Wie in zahlreichen anderen Städten der Bundesrepublik gab es ab den 1990er-Jahren im stationären Einzelhandel einen Strukturwandel. Zahlreiche ehemals inhabergeführte, alteingesessene Einzelhandelsgeschäfte verschwanden und machten Filialen von Handelsketten Platz. Auch verschwanden einige Spezialgeschäfte mit hochspezialisierten Sortimenten. Nicht zuletzt auch der zunehmende Internethandel führten zu dieser Entwicklung. Bekannte Bonner Unternehmen. Die bedeutenden Unternehmen in Bonn sind privatisierte Staatsunternehmen: Deutsche Telekom AG, Deutsche Post AG, Postbank und Autobahn Tank & Rast GmbH. Drittgrößter Arbeitgeber der Stadt Bonn ist die Universität Bonn (einschließlich der Universitätskliniken) und als bedeutender Arbeitgeber folgen ebenfalls die Stadtwerke Bonn. Zum anderen sitzen in Bonn einige traditionsreiche, überregional bekannte Privatunternehmen wie die Genussmittelproduzenten Verpoorten und Kessko, die Orgelmanufaktur Klais. Der größte Süßwarenhersteller Europas, Haribo, hat seinen Gründungssitz (gegründet 1922) und einen Produktionsstandort in Bonn. Der Firmensitz befindet sich heute in der rheinland-pfälzischen Gemeinde Grafschaft. Weitere Unternehmen von überregionaler Bedeutung sind die Weck Glaswerke (Produktionsstandort), Fairtrade, Eaton Industries (ehemals Klöckner & Moeller), die IVG Immobilien AG, Kautex Textron, SolarWorld, der Smoothie Hersteller True Fruits, Vapiano und die SER Group. Medien. Hörfunk und Fernsehen. Der mit Abstand größte Medienbetrieb in Bonn ist die Deutsche Welle. Sie hat ihre Zentrale im Schürmann-Bau und produziert dort Hörfunksendungen, die in die ganze Welt ausgestrahlt werden, sowie ein Online-Angebot in derzeit (April 2012) 30 Sprachen. Zudem hat der Fernsehsender Phoenix seine Zentrale in der Bundesstadt, im ehemaligen Hauptstadtstudio des ZDF. Der WDR unterhält in Bonn ein Bundesstudio und ein Regionalbüro. Am 1. Februar 2007 startete die lokale Berichterstattung in Bonn/Rhein-Sieg mit einer eigenen "Lokalzeit aus Bonn". In Bonn senden außerdem der Lokalradiosender Radio Bonn/Rhein-Sieg mit Rahmenprogramm von Radio NRW und das Hochschulradio BonnFM als Kooperationsprojekt der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg. Druckmedien. Mit Abstand größte Tageszeitung in Bonn ist der "General-Anzeiger". Er gehört zur Rheinischen Post Mediengruppe. Lokale Berichterstattung findet der Leser außerdem in der "Bonner Rundschau", im "Rhein-Sieg-Anzeiger" und in dem Boulevardblatt "Express". Diese drei Zeitungen gehören alle zu der Kölner Mediengruppe "Gruppe M. DuMont Schauberg". 2004 untersagte das Bundeskartellamt der Mediengruppe, am Bonner "General-Anzeiger" einen Aktienanteil zu erwerben. Nach Ansicht der Kartellbehörde hätte das Geschäft zu einer Verstärkung der marktbeherrschenden Stellung auf den Leser- und Anzeigenmärkten geführt. Am 6. Juli 2005 hob das Oberlandesgericht Düsseldorf das Veto des Bundeskartellamts auf, so dass DuMont 18 Prozent Anteile erwerben konnte. Im Gegenzug erwarb die Neusser GmbH, der Verlag des General-Anzeigers, im Rahmen einer Überkreuzbeteiligung Anteile in Höhe von 9,02 Prozent an der DuMont-Gruppe. Diese Beteiligung wurde inzwischen wieder aufgelöst. Seit dem 1. Juni 2018 ist der General-Anzeiger Teil der Rheinischen Post Mediengruppe. Eine starke Stellung im Bereich Druckerzeugnis haben die Verlagsgruppe Rentrop (unter anderem mit dem Verlag für die Deutsche Wirtschaft) und der Stollfuß-Verlag in den Bereichen Steuer, Wirtschaft und Recht. Beide gehören zu den 100 größten deutschen Verlagen. Mit der Herausgabe von musikalischer Fachliteratur, Noten und Lehrbüchern zu Musikinstrumenten gehört der Voggenreiter Verlag zu den bekanntesten Unternehmen dieser Sparte. Monatlich erscheinen in Bonn die Stadtmagazine "Schnüss" (rheinisch für „Schnauze“) und "Szene Köln-Bonn". Die überregionale Wochenzeitung "Rheinischer Merkur" stammte ebenfalls aus Bonn und wurde 2010 auf Initiative der Deutschen Bischofskonferenz als Mitgesellschafter in eine Beilage der Wochenzeitung "Die Zeit" umgewandelt. Internetangebote. Online-Angebote mit lokalen Nachrichten produzieren die Bonner Tageszeitungen, der WDR und Radio Bonn/Rhein-Sieg. Nachrichtenagenturen. Die Bundespressekonferenz hat ihre einzige Außenstelle im "Tulpenfeld". Hier befindet sich eine Niederlassung der Deutschen Presse-Agentur (DPA). Außerdem arbeiten in der UN-Stadt eine Reihe von Nachrichtenagenturen im Umfeld der hier angesiedelten internationalen Organisationen, wie zum Beispiel die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA). Übertragungstechnik. Die Rundfunkversorgung erfolgt unter anderem über die Sendemasten auf dem Venusberg und dem Großen Ölberg. Über den Sender Bonn-Venusberg auf dem Venusberg wird die Region Bonn seit 2004 mit dem digitalen Antennenfernsehen DVB-T versorgt, das die analoge Ausstrahlung ersetzte. Öffentliche Einrichtungen. UN- und Bundesstadt. UN-Stadt (Standort von UN-Behörden). Der 20. Juni 1996 gilt als Geburtsstunde der Bezeichnung UN-Stadt Bonn. An diesem Tag wurde vor dem Haus Carstanjen zur Einweihung als UN-Niederlassung die UN-Flagge gehisst. Bonn selbst bezeichnet sich als „die UN-Stadt am Rhein“. Für 19 Organisationen, Büros und Programme der Vereinten Nationen arbeiten hier inzwischen rund 1.000 Mitarbeiter. Bonn ist auch Sitz des UN-Klimasekretariates (UNFCCC). Die meisten Organisationen verbindet der Einsatz für eine nachhaltige Entwicklung der Erde. Sie waren zunächst hauptsächlich im Bad Godesberger Haus Carstanjen ansässig, das den wachsenden Sekretariaten auf Dauer zu wenig Platz bot. Deshalb hat die Bundesregierung 2003 entschieden, den „Langen Eugen“ und das Bundeshaus als ehemalige Parlamentsgebäude den Vereinten Nationen zur dauerhaften Nutzung zu überlassen und dort einen UN-Campus zu bilden. Der Campus hat den Status eines exterritorialen Gebietes. Seit der offiziellen Eröffnung des UN-Campus im Juli 2006 sind – bis auf eine – alle anderen (18) Organisationen in den „Langen Eugen“ eingezogen. Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel übergab am 11. Juli 2006 offiziell an damaligen UNO-Generalsekretär Kofi Annan. Im Oktober 2013 konnte das Klimasekretariat den umgebauten Südflügel des Bundeshauses – das alte Abgeordnetenhochhaus – beziehen. Jüngste UN-Organisation in Bonn ist das am 3. März 2016 eingeweihte "Wissenszentrum für nachhaltige Entwicklung" der Fortbildungsakademie des Systems der Vereinten Nationen (UNSSC), welches wahrscheinlich im „kurzen Eugen“ untergebracht ist. Der 17 geschossige Neubau gilt als energetischer Vorzeigebau und kostete etwa 75 Millionen Euro. Lars Heyltjes regte daher in Kölner Stadtanzeiger den Spitznamen „Teurer Eugen“ an. Die Ansiedlungen der Vereinten Nationen führten zu einem Anstieg der in Bonn tätigen internationalen Institutionen und Nichtregierungsorganisationen, von denen sich in Bonn inzwischen ungefähr 170 niedergelassen haben. Darunter befinden sich unter anderem der Deutsche Entwicklungsdienst (DED), das Deutsche Institut für Entwicklungspolitik (DIE) und die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), bedeutende Institute der Entwicklungshilfe, die in der Wahrnehmung ihrer Aufgaben vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) mit Hauptsitz in Bonn unterstützt werden. Am UN-Standort Bonn sind rund 150 Nichtregierungsorganisationen (NGOs) als Interessensvertretungen angesiedelt. Bundesstadt (Standort von Bundesbehörden). Seit der Verlegung des Regierungssitzes nach Berlin, geregelt durch das Berlin/Bonn-Gesetz vom 26. April 1994, haben sechs Bundesministerien weiterhin ihren ersten Dienstsitz in Bonn. Weil sich hier die Bundesrepublik Deutschland 1949 konstituierte, die Stadt für mehrere Jahrzehnte Parlaments- und Regierungssitz wurde (somit bis 1990 vorläufig die Funktion einer Bundeshauptstadt wahrnahm) und Bonn das Verwaltungszentrum, d. h. Zentrum der Ministerialverwaltung des Bundes bleiben sollte, trägt die Stadt fortan den bundesweit einmaligen Titel "Bundesstadt". Zudem dürfen in den Berliner Ministerien nicht mehr Mitarbeiter beschäftigt werden als in den Bonner Ministerien, in denen etwa 10.000 Personen arbeiten. Ebenfalls durch das Gesetz geregelt wurde der Umzug von 22 Bundesbehörden aus Berlin und dem Rhein-Main-Gebiet in die Bundesstadt. Außerdem legte der Bund die Ansiedlung der Deutschen Telekom, der Deutschen Post und der Postbank per Gesetz fest. Ihren ersten Dienstsitz in Bonn haben folgende sechs Bundesministerien: das Bundesministerium der Verteidigung (BMVg); die Bundesministerien für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL); für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ); für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (BMUB); für Gesundheit (BMG) und für Bildung und Forschung (BMBF). Die acht Bundesministerien mit erstem Dienstsitz in Berlin haben in Bonn einen Zweitsitz. Viele weitere Bundesbehörden wie beispielsweise das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), die Bundesanstalt Technisches Hilfswerk (THW), das Bundeskartellamt (BKartA), der Bundesrechnungshof (BRH), die Bundesnetzagentur (BNetzA), die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE), das Bundesamt für Naturschutz (BfN), die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin), das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI), die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA) und das Eisenbahn-Bundesamt (EBA) sind ebenfalls in Bonn angesiedelt. Mit dem Bundesrat und dem Bundespräsidenten haben zudem zwei Verfassungsorgane ihren zweiten Dienstsitz in der Bundesstadt. Zu Zeiten als Bundeshauptstadt entstanden im Süden der Stadt, zwischen Bonn und Bad Godesberg, zahlreiche Bauten für Bundesangelegenheiten und wichtige Institutionen, wie der Deutsche Bundestag und die Dienstsitze von Bundeskanzler und Bundespräsident und nicht zuletzt auch einige Botschaften lagen ab 1949 im Gebiet der Rheinaue. Im Volksmund sprachen daher die Bonner von Bonn, wenn sie die Stadt meinten und von Bundes-Bonn, wenn es um die Liegenschaften des Bundes ging. Diese räumliche Abgrenzung war allerdings schon deswegen schwierig, weil zahlreiche Ministerien und Dienststellen aus Raumnot über die ganze Stadt verteilt waren. Wissenschaft, Bildung und Forschung. Die Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn wurde 1777 als Akademie gegründet und 1798 geschlossen. 1818 wurde sie neu gegründet und gehört seitdem zu den größten Universitäten Deutschlands. Zusammen mit ihrer Universitätsklinik gehört sie zu den größten Arbeitgebern in Bonn. Im Mai 2019 waren über 38.000 Studierende immatrikuliert und liegt nach der Anzahl der Studierenden auf Platz 13 (von 426) der deutschen Universitäten. Die frühere Sternwarte der Universität beherbergt heute das Institut für Kommunikationswissenschaften sowie die Volkssternwarte Bonn. Die Hochschule Bonn-Rhein-Sieg wurde 1995 gegründet. Obwohl sie Bonn in ihrem Namen trägt, befindet sich innerhalb der Stadt kein Studienstandort. Sitz der Hochschule ist Sankt Augustin, weitere Standorte befinden sich in Rheinbach und Hennef (Sieg). Außerdem befinden sich in Bonn die Max-Planck-Institute für Mathematik, Radioastronomie und zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern. Seit 2012 ist die Stadt Bonn „Korporativ Förderndes Mitglied“ der Max-Planck-Gesellschaft. Des Weiteren ist Bonn seit 2009 Verwaltungssitz des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE). Als Ausgleichsmaßnahme für den Umzug nach Berlin wurde 1998 das Forschungszentrum caesar gegründet. Das Deutsche Institut für Entwicklungspolitik, das 1964 in Berlin gegründet worden war, zog 2000 nach Bonn um. Auf dem UN-Campus ist ein Institut der Universität der Vereinten Nationen (UNU) – das "Institute for Environment and Human Security (UNU-EHS)" – angesiedelt. Die Fernuniversität in Hagen, die DIPLOMA – FH Nordhessen sowie die FOM Hochschule für Oekonomie & Management unterhalten Außenstellen in Bonn. Bis 2004 beherbergte Bonn die "Fachhochschule für das öffentliche Bibliothekswesen Bonn". Diese Fachhochschule war 1921 vom Borromäusverein gegründet und 1947 vom Land Nordrhein-Westfalen staatlich anerkannt worden. Seit 1982 trug sie ihren zuletzt bekannten Namen. Im Jahre 2004 wurde die Fachhochschule jedoch aufgelöst. Die Bibliothek für Hugenottengeschichte wurde 2008 gegründet. Die Fortbildungsakademie des Innenministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen ist eine landesweite Fortbildungsstelle für die Beschäftigten der Kommunen sowie der Landesverwaltung. Ihren Sitz hat sie in Herne. In Bad Godesberg befindet sich die hiervon unabhängige Bildungseinrichtung der Finanzverwaltung des Landes Nordrhein-Westfalen. Sie trägt den Namen "Fortbildungsakademie der Finanzverwaltung NRW (FortAFin)". Nach der Verlagerung der FortAFin zum 1. Oktober 2018 wird am bisherigen Standort in Bonn-Bad Godesberg eine Dependance der Landesfinanzschule Wuppertal entstehen. Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD), die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), die Alexander-von-Humboldt-Stiftung, die Studienstiftung des deutschen Volkes, das Cusanuswerk, die Friedrich-Ebert-Stiftung sowie der Arbeitskreis selbständiger Kultur-Institute (AsKI) haben ihre Geschäftsstellen in Bonn. Des Weiteren haben im politischen Bereich das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), das Sekretariat der Kultusministerkonferenz (KMK), die Hochschulrektorenkonferenz (HRK), das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB), die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (BLK), das Deutsche Institut für Erwachsenenbildung (DIE) und die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) ihren Sitz in Bonn. Brandschutz. Die Feuerwehr Bonn besteht aus der 1941 gegründeten Berufsfeuerwehr, der 1863 gegründeten Freiwilligen Feuerwehr und der Jugendfeuerwehr, die sich jeweils aus verschiedenen Einheiten mit verschiedenen Wachen zusammensetzen. Gesundheitswesen. Die über 15 Krankenhäuser sind über die ganze Stadt verteilt. Den bedeutendsten Betrieb stellt das Universitätsklinikum Bonn dar, das über 30 Kliniken in 12 Abteilungen betreibt. Fast alle sind auf dem Venusberg untergebracht, im restlichen Stadtgebiet bestehen drei weitere Standorte. Eine weitere Großklinik ist die LVR-Klinik Bonn (bis 2009 "Rheinische Kliniken Bonn", bis 1997 "Rheinische Landesklinik Bonn") des Landschaftsverbandes Rheinland in Bonn-Castell. Seit 2013 besteht mit den "GFO Kliniken Bonn" ein weiteres Gemeinschaftskrankenhaus. Justizbehörden. Bonn ist Sitz des Landgerichtes Bonn, dem sechs Amtsgerichte unterstehen, darunter das Amtsgericht Bonn. Daneben sind in der Stadt ein Arbeitsgericht und die Staatsanwaltschaft Bonn ansässig. Das in Bonn beheimatete Bundeszentralregister ist zum 1. Januar 2007 mit der Außenstelle des Bundesjustizministeriums im neugebildeten Bundesamt für Justiz mit Sitz in Bonn aufgegangen. Dort wird unter anderem das Bundesgesetzblatt herausgegeben. Gemäß dem Berlin/Bonn-Gesetz behält das Bundesjustizministerium weiterhin eine Außenstelle mit etwa 30 Mitarbeitern in Bonn. Arbeitsmarktbehörden. Bonn ist außerdem Standort der Zentralen Auslands- und Fachvermittlung (ZAV) der Bundesagentur für Arbeit (BA). Im Stadtteil Duisdorf befindet sich der Hauptsitz der ZAV mit ihren bundesweit 18 Standorten.
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Brettspiel
Ein Brettspiel ist ein Gesellschaftsspiel, dessen kennzeichnendes Element ein Spielplan/-brett ist, auf dem Spieler mit Figuren, Steinen oder anderem Material agieren. Auch ein Spiel, bei dem eine reine Auslage entsteht (wie bei "Carcassonne"), wird oft zum Genre der Brettspiele gezählt, obwohl es sich streng genommen um ein Legespiel handelt. Das Spielbrett muss nicht zwangsläufig aus Holz oder aus einem Stück sein. Bei manchen Spielen, etwa bei "Die Siedler von Catan", ist es variabel und wird vor jeder Partie neu zusammengesetzt. Die Bedeutung des Spielbretts ist in den einzelnen Spielen verschieden. Bei manchen Titeln – die in vielen Fällen an der Grenze zum reinen Karten- oder Würfelspiel stehen – stellt es eine angepasste Punktetabelle oder Karten- und Würfelablage dar, bei anderen ist es das spielbestimmende Element. Eine besondere Qualitätsauszeichnung für Gesellschaftsspiele ist der Preis „Spiel des Jahres“. Er gilt als die weltweit bedeutendste Spieleauszeichnung und wird an deutschsprachige Spiele verliehen. Geschichte. Klassische Brettspiele. Die ersten Brettspiele wurden mit einfachen Materialien gespielt. Ein Spielfeld wurde in den Sand gezeichnet und Stöcke, Steine und Muscheln als Spielsteine benutzt. Erste vollständige Aufzeichnungen über Spiele wurden erst im 13. Jahrhundert gegeben. Als eines der ältesten, bekannten Brettspiele gilt das "Königliche Spiel von Ur" (2600 v. Chr.) Das ägyptische Senet ist für etwa 2600 v. Chr. nachgewiesen. Aus der Zeit des Mittleren Reiches ist "Hunde und Schakale" belegt. Zu den klassischen Brettspielen zählen Ein besonders kompliziertes Brettspiel des Mittelalters war das „Philosophenspiel“ "Rithmomachie". Eine Gruppe von asymmetrischen Brettspielen gibt es seit dem "Hnefatafl" der Wikinger, ein späteres Beispiel ist "Fuchs und Gänse". Neuzeitliche Brettspiele. Neuzeitliche Brettspiele wurden, beginnend in den USA ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, durch Verlage wie Parker und Milton Bradley (MB) über den Handel vermarktet. Inzwischen ist bei fast allen Brettspielen der Autorenname angegeben. Wird der Begriff des "Brettspiels" ausgedehnt verstanden, so sind die Gattungen der neuzeitlichen Brettspiele und die der "Gesellschaftsspiele" weitgehend identisch, sofern der letztgenannte Begriff eng interpretiert wird, nämlich dadurch gekennzeichnet, dass Kartenspiele ausgeschlossen werden. 19./20. Jahrhundert. Zu den Klassikern, die im 19. oder 20. Jahrhundert auf den Markt gebracht wurden, gehören Brettspiele wie Im 20. Jahrhundert hatten breite Bevölkerungsschichten in Europa und Amerika erstmals freie Zeit, die nicht mit Arbeit und Haushaltsführung ausgefüllt war. Dadurch wurden Brettspiele populär. Zudem wurde beispielsweise "Mensch ärgere Dich nicht" im Ersten Weltkrieg an die Lazarette verschickt, damit sich die Soldaten die Zeit vertreiben konnten. "Monopoly" wurde als Zeitvertreib für die Zeit der Beschäftigungslosigkeit während der Weltwirtschaftskrise populär. "Monopoly" wurde in Deutschland nach seinem Erfolg in den Vereinigten Staaten von Amerika 1936 bis 1938 und wieder ab 1953 von Schmidt Spiele herausgegeben. In Österreich wurden ab 1936 ähnliche Spiele unter anderen Namen herausgebracht. "Monopoly" gehört zu den erfolgreichsten Brettspielen in Deutschland und der Schweiz und die ab 1940 herausgegebene "Monopoly"-Variante "DKT – Das kaufmännische Talent" zu den erfolgreichsten Brettspielen in Österreich. 1990er Jahre – Autoren- und Designerspiele. Brettspiele wie "Scotland Yard" (erschienen 1983), "Das verrückte Labyrinth" (1986), "Siedler von Catan" (1995), "Carcassonne" (2000, eigentlich eher ein Legespiel), "Einfach Genial" (2004) oder "Puerto Rico" (2002) werden auch als Autorenspiele bezeichnet, da verantwortliche Spieleautoren namentlich bekannt sind und sich oft haupt- oder nebenberuflich mit Spielen beschäftigen. Oft gibt es zu erfolgreichen Autorenspielen mehrere Aufbausets, Erweiterungen sowie abgeleitete Spiele (wie das Kartenspiel "San Juan" bei "Puerto Rico" oder die Erweiterung "Seefahrer" bei "Siedler von Catan"). Während in den meisten Ländern vor allem klassische Brettspiele gespielt werden, hat sich im deutschsprachigen Raum eine vielfältige Szene um Autorenspiele gebildet. In den Vereinigten Staaten hat dies dazu geführt, dass Brettspiele auch als „German Games“ und später „Eurogames“ bezeichnet werden. Nach Angaben des Vorsitzenden des Verbandes „Fachgruppe Spiel“ Ernst Pohle kommen in Deutschland jährlich etwa 350 Spiele neu auf den Markt, mehr als in jedem anderen Land. Die Internationalisierung des Phänomens der Renaissance von Brettspielen in neuer Vielfalt geht dabei rasch voran. In den USA, den Niederlanden, Frankreich und Teilen Asiens formieren sich lebendige Spieleszenen. Mehr als 600 Neuheiten werden Jahr für Jahr auf den Spielemessen in Essen (im Oktober) und Nürnberg (im Februar) vorgestellt. Außerdem wird jährlich von einer Spielejournalisten-Jury die weltweit bedeutendste Spiele-Auszeichnung Spiel des Jahres vergeben, die in der Folgezeit für Katalogwerbung wie auch für das Design der Verpackung ein wertvolles Gütesiegel darstellt. Ab 2000 – Wachstum des Brettspielmarktes. Beginnend mit "Siedler von Catan" und "Carcassonne" war seit den 2000er Jahren eine zunehmende Beliebtheit von Brett- und Kartenspielen zu sehen. Seit den 1980er Jahren war die Anzahl jährlicher Neuveröffentlichungen relativ konstant, sie stieg Mitte der 2000er und dann der 2010er Jahre zunehmend an. Zeugnis dieses Wachstums ist auch die Entwicklung der Besucherzahlen der Spiele-Messe SPIEL. Als weiterer Vertriebskanal etablierte sich in den 2010er Jahren das Crowdfunding, vor allem durch die US-amerikanische Plattform Kickstarter. Kleine Verlage oder Privatpersonen nutzen hier die Möglichkeit, mit überschaubarem finanziellen Risiko Projekte zu realisieren, die in den Programmen traditioneller Verlage kaum Aussicht auf Veröffentlichung gehabt hätten. Förderlich ist dies besonders für Nischen-Themen, anspruchsvolle und damit teure Materialien oder bei ausgefallenen Spielkonzepten. Seit Mitte der 2010er Jahre wird das Crowdfunding professioneller. Auflagen und Finanzierungssummen werden größer und nähern sich denen klassischer Verlage an. Viele ehemals kleine Verlage wurden Industriegrößen. Häufig werden die Plattformen als "Preorder"-, Marketing- und Kommunikationskanal genutzt, ohne auf die ursprünglichen Vorteile – relativ geringes Investitionsrisiko, Experimentierfreudigkeit – angewiesen zu sein. Im Jahr 2017 lag die eingenommene Summe der "erfolgreichen" Kickstarter-Kampagnen bei 137 Mio. US-Dollar, und damit deutlich über denen der Videospiele (17 Mio. US-Dollar). Typen von Brettspielen. Für Brettspiele existiert kein als allgemeinverbindlich angesehenes Klassifikationsschema. Neben den bereits beschriebenen Typen von Brettspielen wurden Einteilungen insbesondere für Sammlungen und Datenbanken vorgenommen. Unabhängig davon sind Teilabgrenzungen von Brettspielen nach gemeinsamen Eigenschaften möglich: Brettspiele am Computer und im Internet. Viele klassische und zunehmend auch moderne Brettspiele erscheinen in digitaler Form, sei es als PC- oder Konsolen-Spiel, als Webanwendung im Browser, oder als "App" auf mobilen Endgeräten. Besitzt ein Spiel nicht von sich aus einen Solo-Modus, so stellen Implementierungen meist einen Computergegner bereit („Künstliche Intelligenz“, KI). Mehrspielerpartien werden meist über einen Netzwerkmodus realisiert, in dem Menschen global verteilt in Echtzeit oder rundenbasiert (vgl. Fernschach) über das Internet miteinander spielen – oder alternativ über einen "Hot-Seat-Modus", d. h. mehrere Spieler wechseln sich vor einem Gerät in der Bedienung ab. Die Software kann die Spielregeln forcieren und überwachen oder diese Aufgabe den Spielern überlassen und nur die virtuelle Umgebung und die benötigten Spielmaterialien zur Verfügung stellen („Sandbox“). Beispiele für Online-Plattformen mit einer Vielzahl von Spielen: Elektronische Brettspiele. Zudem gibt es vollständig elektronische Brettspiele (mit Sensoren und Sprachausgabe) und DVD-Brettspiele (normale Brettspiele mit Zusatz-DVD). Als „Hybrides Spiel“, „Hybridspiel“ oder auch interaktives Spiel werden Spiele bezeichnet, bei denen die Spieler wie bei einem herkömmlichen Brettspiel spielen, aber Würfeln, Züge, Zugauswertungen oder andere Spielmerkmale vom Computer berechnet werden. Anders als beim Computerspiel kann der Rechner nicht das Spielfeld ersetzen, sondern hilft bei der Auswertung der Züge, sodass sich Geschwindigkeit und Genauigkeit des Spiels erhöhen lassen. Ein Alleinspiel ist ebenfalls möglich, sofern der Spieler die Figuren auf dem Brett rückt. Klassiker dabei sind Schachcomputer. Didaktische Brettspiele. Mit didaktischen Brettspiele lassen sich bestimmte Lernprozesse initiieren und fördern. Sie nutzen die Attraktivität des Spielens als Methode, um Wissen, Können und Verhaltensweisen einzuüben. Didaktische Brettspiele gibt es für zahlreiche Fachinteressen. Im hohen Alter können Seniorenspiele dazu dienen, kognitive Fähigkeiten zu trainieren. In dieser Gruppe lassen sich grundsätzlich zwei Formen unterscheiden. Das rezeptive didaktische Brettspiel. Das rezeptive Lernspiel greift auf vorhandene, meist im Lehrmittelhandel erhältliche, Spielformen zurück. Diese kennzeichnen sich als weitestgehend programmierte Spielabläufe und vorgegebene gewünschte Lösungen. Die Spielenden betätigen sich als reine Nutzer des Spieltyps und handeln entsprechend den Anweisungen und Regelvorgaben. Sie profitieren dabei von den richtigen Spiellösungen, die es zu finden gilt, indem sie vordergründig Punkte sammeln und gegen Mitspieler gewinnen können, hintergründig ihr Wissen und Können bereichern. Das schon seit dem 19. Jahrhundert bekannte „Klappenspiel“ (engl. „Shut the Box“) kann dem Vertrautwerden mit dem Zahlensystem im elementaren Rechenunterricht dienen. Das kreative didaktische Brettspiel. Das kreative Lernspiel setzt die Spiel- und Lernprozesse bereits beim Erschaffen des Brettspiels an. Die Spielenden gehen einer Spielidee nach und kreieren dabei selbst gefundene Regeln, die sie in ein Brettspiel nach den eigenen Vorstellungen umsetzen. Das selbst entwickelte Spiel kann wiederum als Übungsspiel genutzt, aber auch jederzeit durch neue (verbesserte) Regeln weiter aus- und umgestaltet werden. Beim kreativen Brettspiel werden nicht nur fertige Spielvorlagen entsprechend fremder Handlungsvorgaben abgespielt. Es verfolgt den doppelten Zweck, zunächst in einem ersten Lernprozess im entdeckenden Spielen ein eigenes Brettspiel zu entwerfen und zu konstruieren, um dann in einem zweiten, einem übenden Folgeprozess es spielerisch zu nutzen und dabei die gewonnenen Erkenntnisse zu festigen und zu vertiefen. Ein solches Beispiel aus der Verkehrserziehung ist das Schulwegspiel, ein von der Spielgruppe selbst erstelltes Brettspiel. Es folgt dem Gedanken, die Kinder bei ihren eigenen Verkehrserfahrungen abzuholen, sie zum selbstverantwortlichen Absolvieren ihres Schulwegs als Fußgänger zu ermuntern und sie dazu über die Entwicklung eines eigenen Brettspiels zu befähigen. Auszeichnungen. Aus Deutschland stammende und international beachtete Auszeichnungen sind die Kritikerpreise Spiel des Jahres, Kennerspiel des Jahres, und Kinderspiel des Jahres, sowie der von einem Fachpublikum vergebene Deutsche Spiele Preis.
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https://de.wikipedia.org/wiki?curid=644
Berufsverband Deutscher Tanzlehrer
Der Berufsverband Deutscher Tanzlehrer e. V. (BDT) wurde 1991 gegründet und bildet seit seiner Gründung haupt- und nebenberuflich in dreijährigen Ausbildungsgängen Tanzlehrer für Gesellschaftstanz aus. Er unterstützt seine Mitglieder durch regelmäßige Kongresse und Fortbildungen. Nach eigenen Angaben gehören dem Verband rund 150 Tanzschulen und 250 Tanzlehrer aus Deutschland, den Niederlanden, Österreich, Frankreich sowie der Schweiz an. Geschichte. Nachdem Anfang der 1990er Jahre die Vereinigung Deutscher Tanzschulen (VDT) in den Allgemeinen Deutschen Tanzlehrerverband (ADTV) integriert wurde und sich die Sezession moderner Tanzlehrer (SMT) dem BDT anschloss, existieren zurzeit (Stand 2021) nur noch der BDT und der ADTV. 1993 erfolgte die Gründung der Tanzsport- und Turnierabteilung des BDT "Deutsches Amateur Turnieramt" (DAT) zur Ausrichtung von Turnieren und Meisterschaften in verschiedenen Disziplinen. Neben dem klassischen Gesellschaftstanz unterstützt und fördert der BDT ebenfalls intensiv die tänzerischen Bereiche Kindertanzen, Videoclip, HipHop, Discofox sowie die Latino-Tänze. Darüber hinaus führte der BDT ein Medaillen-System für Tanzschüler ein, um sich bei Medaillen-Prüfungen das BDT-Tanzabzeichen in Bronze, Silber, Gold und Goldstar in unterschiedlichen Disziplinen ertanzen zu können. Im Jahr 2010 wurde der Schwesterverband "Deutsche Tanzschulinhabervereinigung" (DTIV) e.V. gegründet. Dieser Verband kümmert sich um die Belange der Tanzschulinhaber aus unternehmerischer Sicht. Wesentlicher Bestandteil ist ein Pauschalvertrag mit der Gema. Das geschäftsführende Präsidium des BDT besteht aus dem Präsidenten, dem Vizepräsidenten sowie dem Schatzmeister. Der Verband schuf bereits früh mehrere Ressorts und beauftragte Ressortleiter zur Leitung der Fachbereiche im Sinne des Präsidiums. Aus- und Weiterbildungen. Ausgebildet werden Tanzlehrer für die Fachbereiche Gesellschaftstänze, Discofox, Latino-Tänze, HipHop sowie Kindertanz. Die Ausbildungen dauern zwischen einem und drei Jahren bzw. werden als seminaristische Ausbildungen angeboten. Bei der dreijährigen Ausbildung zum BDT Tanzlehrer Gesellschaftstänze findet nach jedem Ausbildungsjahr eine Zwischenprüfung statt, nach dem dritten Ausbildungsjahr eine Abschlussprüfung zum BDT-Tanzlehrer. Die Weiterbildung zum BDT Tanzsport-Trainer dauert ein Jahr und ist eine seminaristische Schulung mit dem Ziel Paaren aus den BDT Tanzschulen den Weg zum Turniertanz zu ebnen. Deutsches Amateur Turnieramt. Die Gründung des DAT wurde im April 1993 auf der BDT Mitgliederversammlung beschlossen und ins Leben gerufen. Zu dieser Zeit bestand ein großes Interesse daran, Tanzschülern neben weiterführenden Kursen und Medaillen-Prüfungen eine Plattform zu bieten, um sich mit anderen Paaren tänzerisch zu messen. Zweck des DAT die Förderung des Amateurtanzsports. Die Leitung hat derzeit (Stand 2021) Dennis Ewerth inne, Sportdirektor ist Thorsten Schrock-Opitz. Die Leitung des DAT unterliegt dem Präsidium des Berufsverbandes Deutscher Tanzlehrer (BDT) und wird von diesem bestimmt. Es werden unter anderem Turniere in folgenden Disziplinen ausgerichtet: Standardtänze, Lateinamerikanische Tänze, Smooth, Rhyhm, Discofox, Salsa, Latino-Tänze, West Coast Swing, Line Dance, Formationstanz und HipHop. Den Titel des Deutschen Meisters ist der höchste Titel, den man sich im DAT ertanzen kann. Darüber hinaus gibt es auch Deutschland Cups, regionale Meisterschaften, Landesmeisterschaften und Bundesland Cups. Es gibt bei DAT-Turnieren keine festen Leistungsklassen und dazugehörige Auf- und Abstiegsregelungen. Es wird lediglich eine Einteilung in Hobby-League, Rising Star, SupaLeague und ProfiLeague vorgenommen. Das Wertungsgericht als unabhängige Instanz besteht ausschließlich aus ausgebildeten und geprüften Tanzlehrern, die zusätzlich regelmäßig an Wertungsrichterschulungen teilnehmen.
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https://de.wikipedia.org/wiki?curid=645
Bata Illic
Bata Illic (; * 30. September 1939 in Belgrad) ist ein aus Jugoslawien stammender deutscher Schlagersänger. Leben. Illic wurde als Sohn eines Finanzbeamten geboren. Nach seinem Schulabschluss studierte er Philologie, Englisch und Italienisch und war danach zwei Jahre als Lehrer tätig. In dieser Zeit lernte er den Musiker Andreas Triphan kennen, der mit ihm eine Band (zumeist als „Bata Illic & Band“, einzelne Auftritte als „Kommando Iffets“) gründete und diese als Schlagzeuger sowie finanzieller Förderer unterstützte. Ihre Wege trennten sich 1961. Andreas Triphan sah für die Gruppe die Perspektive in Frankreich. Illic wollte ihm aber nicht für mehrere Monate nach Lille folgen. Nach einem Auftritt in der amerikanischen Botschaft in Belgrad bekam Illic im Jahr 1963 mit seiner Band „Grandpa's Whites“ einen mehrmonatigen Gastspielvertrag für den amerikanischen Club „Twister“ in Bad Kissingen. Weitere Verpflichtungen für Clubs in Bad Hersfeld, Poppenburg, Fulda und West-Berlin folgten. Im Mai 1966 trafen sich Triphan und Illic zufällig bei einem kleinen Musikfestival in Bern wieder. Zwar hatten sie von Juni bis August einige gemeinsame Auftritte in Süddeutschland, jedoch konnten sich beide keine längere Zusammenarbeit in einem gemeinsamen Projekt mehr vorstellen. Im Jahr 1967 nahm Illic seine erste Schallplatte auf. Seine ersten Erfolgstitel in den Hitparaden waren 1968 "Mit verbundenen Augen" und "Schuhe, so schwer wie ein Stein". Im Jahr 1972 hatte er seinen größten Erfolg mit "Michaela". Er trat in zahlreichen Musiksendungen auf, unter anderem in der "ZDF-Hitparade", und präsentierte "Michaela" und die nachfolgende Singleauskopplung "Solange ich lebe" auch im 1973 erschienenen Film "Blau blüht der Enzian". Auch die folgenden Jahre waren sehr erfolgreich für ihn als Schlagersänger. Anfang der 1980er-Jahre wurde es etwas ruhiger um ihn. In den 1990er-Jahren versuchte Illic ein Comeback. Er tritt heute noch in Rundfunk und Fernsehen auf, bevorzugt mit Songs von Charles Aznavour, Adriano Celentano oder Burt Bacharach in deutschsprachigen Versionen. Aber auch seine alten Hits singt er bei diesen Auftritten. Vom 11. Januar 2008 bis 26. Januar 2008 war der Schlagersänger in der Sendung "Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!" auf RTL zu sehen. Er belegte in der Reality-Show den dritten Platz hinter Michaela Schaffrath und dem Gewinner Ross Antony. Am 7. Februar 2008 ist die Retro-POP-Single "Tschewaptschitschi" als Downloadtrack veröffentlicht worden. Von einem 2008 aufgenommenen Album stammt als erste Single-Auskopplung das Duett "Wie ein Liebeslied", das Bata Illic zusammen mit seinem Dschungel-Kollegen Eike Immel aufgenommen hat. Damit erreichte Bata Illic die Top 20 der Deutschen Single-Charts, das erste Mal seit 33 Jahren. Die Maxi-CD und ein – nicht zur Single gehörendes – aktuelleres Album namens "Herzgeschichten" sind am 29. Februar 2008 erschienen, das offizielle neue Album – wie die Single ebenfalls "Wie ein Liebeslied" betitelt – folgte am 7. März 2008. Bata Illic ist seit 1963 mit Olga Illic verheiratet. Mit ihr wohnte er zunächst in Frankfurt am Main und seit 1978 in Gräfelfing bei München.
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https://de.wikipedia.org/wiki?curid=646
Bernhard Grzimek
Bernhard Klemens Maria Hofbauer Pius Grzimek [] (* 24. April 1909 in Neiße, Provinz Schlesien; † 13. März 1987 in Frankfurt am Main) war ein deutscher Tiermediziner, Zoologe, Tierschützer und Verhaltensforscher, langjähriger Direktor des Frankfurter Zoos, Tierfilmer, Autor sowie Herausgeber von Tierbüchern, einer nach ihm benannten Enzyklopädie des Tierreichs sowie Präsident der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt. In den 1960er- und 1970er-Jahren war er mit regelmäßigen Fernsehmoderationen für den Hessischen Rundfunk der bekannteste Tierfachmann Deutschlands. Sein Dokumentarfilm "Serengeti darf nicht sterben" wurde 1960 als erster deutscher Film nach dem Zweiten Weltkrieg mit einem Oscar ausgezeichnet. Er veröffentlichte anfangs auch unter dem Pseudonym "Clemens Hoffbauer". Leben und Wirken. Familie. Bernhard Grzimek kam als jüngstes Kind des Rechtsanwalts und Notars Paulfranz (Paul Franz Constantin) Grzimek (* 18. September 1859 in Schwesterwitz; † 6. April 1912 in Neiße), Justizrat zu Neiße, und dessen zweiter Ehefrau Margarete (Margot) Wanke (* 4. April 1876 in Rybnik; † 11. Oktober 1936 auf der Durchreise in Leipzig), Trägerin des Verdienstkreuzes für Kriegshilfe, zur Welt. Er hatte fünf Geschwister: Brigitte (1903–1937), Franziska (* 1904), Notker (1905–1945) und Ansgar (1907–1986) sowie eine ältere Halbschwester namens Barbara aus der ersten Ehe des Vaters. Grzimek gibt in seiner Autobiographie von 1974 zu seinen Vornamen an, dass jedes seiner Geschwister den Namen des regierenden Papstes erhielt, er erhielt dazu noch den vollständigen Namen des heiliggesprochenen Wiener Redemptoristen Klemens Maria Hofbauer als Vornamen. Bernhard hieß er nach seinem Großvater mütterlicherseits. Noch als Student heiratete Grzimek am 17. Mai 1930 in Wittenberg Hildegard Prüfer, die Tochter des Lehrers Max Prüfer und dessen Ehefrau Meta Fritsche. Bernhard und Hildegard Grzimek hatten drei Söhne: Rochus (* 1931), Michael (1934–1959) und den Adoptivsohn Thomas (1950–1980). Michael Grzimek starb im Januar 1959 während der Dreharbeiten zu dem erfolgreichen Dokumentarfilm "Serengeti darf nicht sterben" bei einem Flugzeugabsturz. Thomas Grzimek beging 1980 Suizid. Bernhard Grzimeks erste Ehe wurde 1973 geschieden. Am 30. Mai 1978 heiratete er seine Schwiegertochter Erika Schoof (* 31. Juli 1932; † 9. Februar 2020), die Witwe seines Sohnes Michael, und adoptierte deren Kinder. Aus einer langjährigen außerehelichen Beziehung gingen Grzimeks Kinder Monika Karpel (* 1940) und Cornelius (* 1945) hervor. Schule und Studium. Grzimek besuchte von 1915 bis 1919 die Volksschule und von 1919 bis zum Abitur (Ostern 1928) ein Realgymnasium in seiner Heimatstadt. Mitschüler gaben ihm den Spitznamen "Igel". Dieses Tier wurde später zu seinem Wappentier, das er auch auf seiner Krawatte eingestickt hatte. Er wurde schon mit 19 Jahren für volljährig erklärt, da sein Vater bereits 15 Jahre zuvor gestorben war und er seinen Lebensunterhalt als Leiter eines landwirtschaftlichen Betriebs mit Geflügelfarm und Spargelplantage bei Erkner verdienen musste. Ab 1928 studierte er Tiermedizin, zunächst in Leipzig, wo er der katholischen Studentenverbindung K.D.St.V. Burgundia Leipzig beitrat, bald aber an der Tierärztlichen Hochschule Berlin, wo er im Herbst 1932 sein Staatsexamen bestand und im Februar 1933 mit einer Dissertation über "Das Arteriensystem des Halses und Kopfes, der Vorder- und Hintergliedmaße von Gallus domesticus" zum Dr. med. vet. promoviert wurde. Berlin, 1933 bis 1945. Von Februar 1933 bis Herbst 1933 war er als Sachverständiger im Preußischen Landwirtschaftsministerium beschäftigt, danach bis 1937 als Referent im Reichsnährstand. Im Juli 1933 trat er der SA bei, in welcher er bis 1935 verblieb, und zum 1. Mai 1937, nach Ende des Aufnahmestopps, schloss er sich der NSDAP an (Mitgliedsnummer 5.919.786). Von Januar 1938 bis zur Auflösung aller deutschen Regierungsstellen am 8. Mai 1945 war er als Regierungsrat im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft und dort vor allem (und erfolgreich) mit Rinder- und Geflügelseuchenbekämpfung beschäftigt sowie mit der Verbesserung der Lagerung von Hühnereiern. Mit der Senkung des Anteils fauler Eier von zuvor vier Prozent auf 0,0016 Prozent wurde die Voraussetzung für die Kühlhauslagerung deutscher Eier geschaffen, zuvor konnten dafür ausschließlich Importeier verwendet werden. Sein "Handbuch der Geflügel-Krankheiten" wurde noch in den 1960er-Jahren neu aufgelegt. Seine Habilitationsschrift über "Gewichtsverlust und Luftkammervergrößerung von Eiern in handelsüblichen Packungen, sowie über den Einfluß des Waschens von Eiern" wurde jedoch 1936 als ungeeignet und wissenschaftlich unzureichend beurteilt. Nach Forschungen der Wissenschaftshistorikerin Tania Munz hat Grzimek 1941 mutmaßlich zugunsten des späteren Nobelpreisträgers Karl von Frisch interveniert und ihn so vor Entlassung und Kriegsdienst geschützt. Neben seinem „Brotberuf“ beschäftigte sich Bernhard Grzimek intensiv mit verhaltenskundlichen Themen, speziell mit Menschenaffen und Wölfen; seine Studien erschienen u. a. in der renommierten "Zeitschrift für Tierpsychologie," außerdem schrieb er Kolumnen über Verhaltensforschung für das in Frankfurt am Main erscheinende "Illustrierte Blatt." Überliefert ist, dass Grzimek dank seines verhaltenskundlichen Fachwissens eine Tigergruppe des Zirkus Sarrasani mehrfach allein dem Publikum vorführte. Im Zweiten Weltkrieg wurde Grzimek Veterinär in der Wehrmacht. Er nutzte diese Tätigkeit unter anderem für Studien über die Farbwahrnehmung und zum Heimfindeverhalten von Militärpferden. Außerdem arbeitete er mit Elefanten. In den Kriegsjahren war er meist einer militärischen Dienststelle in Berlin zugeordnet, damit er noch stundenweise im Reichsernährungs­ministerium arbeiten konnte. Grzimek lebte von 1937 bis 1945 in Berlin-Johannisthal. Anfang 1945 durchsuchte die Gestapo seine Wohnung, da er wiederholt versteckte Juden mit Lebensmitteln versorgt hatte. Daraufhin flüchtete Grzimek aus Berlin, kam zunächst nach Detmold und im März nach Frankfurt am Main. Frankfurt am Main, 1945 bis 1974. In Frankfurt hatte die US-Militärregierung am 28. März den ehemaligen Hauptschriftleiter des Frankfurter "Illustrierten Blattes," Wilhelm Hollbach, als provisorischen Oberbürgermeister eingesetzt. Grzimek wurde im April Hollbachs persönlicher Referent und nach eigenen Angaben von den US-Behörden als Nachfolger des SA-Führers Fritz Stollberg zum Frankfurter Polizeipräsidenten ernannt. Er lehnte diese Tätigkeit aber ab und wurde stattdessen am 1. Mai 1945 von Hollbach zum Direktor des Zoologischen Gartens berufen. In dieser Funktion war er Hollbach direkt unterstellt. Grzimek nutzte seine Position dazu, die bereits verfügte, dauerhafte Schließung des Frankfurter Zoos zu unterlaufen. Nur zwanzig größere Tiere hatten die Luftangriffe auf Frankfurt am Main überlebt. Der völlig zerstörte Zoo sollte aus dem dichtbesiedelten Frankfurter Ostend herausgenommen und am Stadtrand neu errichtet werden. Pläne hierfür lagen bereits seit 1926 in den Akten des Magistrats. An deren Verwirklichung in absehbarer Zeit glaubte Grzimek nicht. Stattdessen ließ er kurzerhand einige der beschädigten Zoogebäude provisorisch wieder herrichten und die Bombentrichter auf dem Zoogelände beseitigen. Schon am 1. Juli 1945 wurde der Zoo wieder eröffnet und wies Ende 1945 mit 563.964 Besuchern bereits mehr als doppelt so viele auf wie in der Vorkriegszeit. Mit Volksfesten, Tanzveranstaltungen und Schaustellern hatte Grzimek die Frankfurter Bevölkerung in den Zoo gelockt und so die Zustimmung der provisorischen Stadtverwaltung und der US-Militärs zum Erhalt des Frankfurter Zoos bewirkt, der bis Ende 1947 zugleich der größte Vergnügungspark Hessens war. Nebenbei war Grzimek von 1945 bis 1946 kommissarischer Leiter der damaligen Staatlich anerkannten Vogelschutzwarte Frankfurt am Main. Sein wissenschaftlicher Assistent war von 1946 bis 1950 der spätere Nürnberger Zoodirektor, Alfred Seitz. Ende 1947 warf die US-Militärregierung Grzimek vor, seine Mitgliedschaft in der NSDAP verschwiegen zu haben, und belegte ihn unter anderem mit einer rechtskräftigen Geldstrafe von 5000 Reichsmark. Grzimek stritt einen Beitritt oder eine Anwartschaft zur NSDAP stets ab. Die Frankfurter Spruchkammer sah seine Mitgliedschaft aufgrund bestimmter Indizien nicht als erwiesen an und bescheinigte ihm am 23. März 1948 aufgrund mehrerer Zeugenaussagen im Gegenteil, „dass er wiederholt und fortgesetzt aktiven Widerstand gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft geleistet hat“ und daher „in die Gruppe der Entlasteten eingereiht“ werde. Daraufhin wurde die ihm auf Weisung der US-Behörden bereits schriftlich mitgeteilte Amtsenthebung wieder zurückgenommen. Mehrfache weitere Vorwürfe und Klagen, vor allem vorangetrieben durch den damaligen Münchner Zoodirektor Heinz Heck, veranlassten Grzimek, sich Ende der 1940er Jahre nach anderen Wirkungsfeldern, zum Beispiel im Zoo Schweinfurt, umzusehen. Bis zu seiner Pensionierung am 30. April 1974 blieb Bernhard Grzimek jedoch Direktor des Frankfurter Zoos. 1954 gründete er mit seinem Sohn Michael die Okapia KG, eine bis heute erfolgreiche Bildagentur. Gemäß eigener Aussage in seiner Autobiographie war sie eine regelmäßige Einkommensquelle und wirtschaftliche Absicherung gegen politischen Druck auf seine Amtsführung und herausgeberische Tätigkeit. Von 1970 bis 1973 war Bernhard Grzimek der Beauftragte der deutschen Bundesregierung für den Naturschutz. 1975 gründete er zusammen mit Horst Stern und 19 anderen Umweltschützern den Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND); bis zu seinem Tode 1987 war er Präsident der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt. Nach der Pensionierung. Seit der Pensionierung als Direktor des Frankfurter Zoos nutzte Grzimek von 1974 bis zu seinem Tod 1987 eine Mühle am Fuße des Steigerwaldes bei Donnersdorf im Landkreis Schweinfurt als seinen Altersruhesitz, pendelte aber oft noch nach Frankfurt und reiste um die Welt. Zudem gilt er als Mitbegründer der Idee für einen Nationalpark Steigerwald. 1975 erwarb er zehn Hektar an den vorgeschlagenen Nationalpark angrenzende Waldflächen und Feuchtwiesen bei Michelau im Steigerwald, um sie sich selbst zu überlassen. Öffentliches Wirken. Anfang der 1950er Jahre hatte Bernhard Grzimek Afrika bereist – zum einen, um Tiere für seinen Frankfurter Zoo zu fangen, zum anderen, um das Verhalten afrikanischer Tiere in freier Natur zu studieren und um hieraus Rückschlüsse ziehen zu können für eine artgerechtere Haltung der Tiere in einem Zoo. Der drohende Untergang der afrikanischen Tierwelt durch übermäßige Jagd und die Zerstörung ihrer Lebensräume durch den Siedlungsdruck der Menschen, der ihm bei diesen Exkursionen bewusst wurde, veranlasste ihn zu einem lebenslangen Engagement für die Wildtiere Afrikas. Hierfür nutzte Grzimek geschickt auch das aufkommende neue Massenmedium Fernsehen. Seine regelmäßigen Fernsehsendungen machten Bernhard Grzimek seit Ende der 1950er Jahre landesweit bekannt und beliebt. Legendär wurden seine Liveauftritte als Autor und Moderator der am 28. Oktober 1956 erstmals ausgestrahlten hr-Sendereihe "Ein Platz für Tiere", zu denen er stets ein Tier aus dem Frankfurter Zoo mitbrachte und an sich umherklettern ließ – häufig auch Raubtiere – und am Schluss jeder Sendung unter genauer Angabe der Kontonummer zur „Hilfe für die bedrohte Tierwelt“ aufforderte. 1980 wurde die 150. Folge der Sendereihe ausgestrahlt, und sie war nicht die letzte; die Reihe erreichte schließlich circa 175 Folgen. Auch als Buchautor und Tierfilmer hatte Grzimek großen Erfolg. Für seine Projekte in der afrikanischen Serengeti-Steppe lernten er und sein Sohn Michael fliegen. Es entstanden 1956 zunächst das Buch "Kein Platz für wilde Tiere" und anschließend der gleichnamige Tier- und Urwaldfilm, der den Bundesfilmpreis und den Goldenen Bären erhielt. Das Buch wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und trug ganz erheblich zur Einrichtung von Naturreservaten in Afrika bei. 1958/59 entstand der im folgenden Jahr mit einem Oscar ausgezeichnete Film "Serengeti darf nicht sterben," dessen Dreharbeiten mit umfangreichen wissenschaftlichen Erhebungen über die Zahl der Wildtiere in Ostafrika und über deren Wanderungen verbunden waren. Grund dazu waren Pläne, einen Teil des Naturparks abzutrennen und durch Angliederung anderer Gebiete auszugleichen. Die Ergebnisse zeigten, dass in den abzutrennenden Gebieten Teile der jährlichen Wanderwege der Tiere lagen, während das Ersatzgebiet kaum in Anspruch genommen wurde. Während der Dreharbeiten verunglückte Michael Grzimek im Januar 1959 bei einem Flugzeugabsturz tödlich; er wurde im Ngorongoro-Krater am Rande der Serengeti beigesetzt. Die Ergebnisse der hauptsächlich von Michael Grzimek durchgeführten Forschungsarbeiten zu den Tierwanderungen in der Serengeti wurden von Bernhard Grzimek posthum zusammengefasst und veröffentlicht. Ende 1967 wandte sich Grzimek an den damaligen Bundeslandwirtschafts­minister Hermann Höcherl, um gegen den Bau des Hühnerhochhauses in Berlin-Neukölln, in dem 250.000 Legehennen auf engstem Raum gehalten werden sollten, zu protestieren. Es war der erste öffentliche Einsatz von Grzimek gegen die Käfighaltung von Hühnern, viele weitere folgten. Zwischen 1967 und 1974 zeichnete Bernhard Grzimek für die Enzyklopädie "Grzimeks Tierleben" in 13 Bänden als Herausgeber verantwortlich. Grzimek machte auch auf Probleme der menschlichen Bevölkerungszunahme aufmerksam. So versah er Briefköpfe mit dem lateinischen Satz "ceterum censeo progeniem hominum esse diminuendam" („Im übrigen bin ich der Meinung, dass die Nachkommenschaft der Menschen abnehmen muss“). Loriot setzte dem Zoologen schon zu dessen Lebzeiten ein kleines Denkmal: Er zeichnete im Rahmen der sechsteiligen Fernsehserie "Loriot" als Parodie auf die grzimeksche Sendereihe einen Trickfilm über die Steinlaus und spielte eine Imitation der Sendereihe. Beider Wirken wurde über lange Jahre sogar mit einem Eintrag des fiktiven Tieres im Pschyrembel gewürdigt. Tod und Nachleben. Bernhard Grzimek starb am 13. März 1987 in Frankfurt am Main als Zuschauer während der Tigervorstellung des Zirkus Althoff. Seine Urne wurde später nach Tansania überführt und neben seinem Sohn Michael auf dem Kraterrand des Ngorongoro-Kraters beigesetzt. Nach Grzimeks Tod verhinderten Erbstreitigkeiten über viele Jahre die Verwendung seines materiellen und schöpferischen Nachlasses. Seit 2013 wird zu Ehren seines Andenkens durch die KfW-Stiftung in Frankfurt am Main alle zwei Jahre der mit 50.000 Euro dotierte KfW-Bernhard-Grzimek-Preis für herausragende Verdienste um den Erhalt von Biodiversität verliehen. Sein Enkel Christian Grzimek ist Mitglied der Jury. Kritik. Der Naturkundler und Tierfilmer Henry Makowski warf Grzimek 1960 vor, durch dessen strikte Ablehnung einer zielgerichteten Bestandsregulierung auch mittels Jagd in den eingerichteten Schutzgebieten Ostafrikas das ökologische Gleichgewicht zum Nachteil der eigentlich zu schützenden Tiere sowie der Landschaft negativ zu beeinflussen.
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Babel
Babel ist: Babel ist der Familienname folgender Personen: Siehe auch:
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Babylon
Babylon oder Babel war als Hauptstadt Babyloniens eine der wichtigsten Städte des Altertums. Sie lag am Euphrat, etwa 90 km südlich Bagdads im heutigen Irak (Provinz Babil). Die Ruinen der Stadt sind unter anderem von Robert Koldewey Anfang des 20. Jahrhunderts teilweise freigelegt worden. Der Ort war die Hauptstadt des gleichnamigen Stadtstaates, der zeitweise über weite Teile des südlichen Zweistromlandes herrschte. Die Blütezeit der antiken „Weltstadt“ Babylon lag zwischen 1800 und 140 v. Chr. Etymologie. Der akkadische Name Babylons lautete als piktographisches Sumerogramm geschrieben "KÁ.DINGIR.RAKI" (, , "=a(k)" Genitiv, Determinativ für Städtenamen), in akkadischer Silbenschrift jedoch . Ab Anfang des zweiten Jahrtausends v. Chr. wechselte er in die aus dem Sumerogramm hergeleitete babylonische Entsprechung ( [sc. von ], [Gen. von ]), wovon sich später ableitete. Bei der gebräuchlichen mesopotamischen Übersetzung von "Babillu, Babilim, Babilani" als ,Tor des Gottes‘, ‚Gottestor’ handelt es sich aber wahrscheinlich um eine volksetymologische Ableitung der Urform, wobei die alte Bedeutung des akkadischen Stadtnamens nach wie vor unklar bleibt. Spätestens unter Naram-Sin findet sich die Schreibung (noch ohne das Genitivsuffix "=a(k)"), die Naram-Sin als ‚Tor des Gottes’ deutete. In der Ur-III-Zeit ist die um den Genitiv erweiterte schriftliche Form belegt, gesprochen als . In der altbabylonischen Sprache ist daneben als weitere Variante bezeugt. Ins Griechische wurde der Name aus der Form übernommen, wobei die Abdumpfung des "ā" zu "ō" verrät, dass die Griechen den Namen offenbar aus einem westsemitischen Dialekt übernommen haben, in dem der Name , bzw. ausgesprochen wurde. Die im Zusammenhang der alttestamentlichen Erwähnung Babylons hergestellte Namenserklärung basiert ebenfalls auf späteren Überlieferungen und zugleich auf anderen Motiven. Das in verwendete hebräische Verb , „verwirren“ mit der Grundbedeutung „verrühren, vermischen“, bezieht sich auf den "Turmbau zu Babel". Die entsprechende Übersetzung von Babylon als „Durcheinander“ gründet sich daher primär auf die „Sprachverwirrung“ beziehungsweise auf das „Durcheinander der Sprachen“ und kann deshalb nicht als etymologischer Beleg zur Klärung herangezogen werden. Geschichte. Altbabylonisches Reich. Es gibt schon gegen Ende des 3. Jahrtausends v. Chr. erste Erwähnungen Babylons, jedoch nur als unbedeutende Kleinstadt. Šumu-abum (1894–1881 v. Chr.), Begründer der I. Dynastie von Babylon, machte die Stadt zum Verwaltungszentrum seines Reiches. Unter dem König Hammurapi I. (1792–1750 v. Chr.), dem bekanntesten altbabylonischen Herrscher, erlebte Babylon seine erste Blütezeit. Texte der ersten Dynastie aus Babylon selbst sind selten; keiner von ihnen stammt aus dem bisher unentdeckten Palastarchiv. Die Eroberung Babylons durch die Hethiter unter König Muršili I. (1620–1595 v. Chr.) ist nur schlecht belegt, das genaue Datum ist unbekannt. Sie fand unter der Herrschaft von Samsu-ditana statt, der der letzte Herrscher der 1. Dynastie war. Nach der mittleren Chronologie wird der Fall 1595 angesetzt, nach Gasches ultrakurzer Chronologie 1499. Nach dem Fall Babylons setzen schriftliche Dokumente ganz aus, die nächsten stammen aus der Zeit der Kassitenherrschaft und sind vermutlich etwa 100 Jahre später anzusetzen. In der Folge, vielleicht nach einer Episode unter Gulkišar, einem König der Meerlanddynastie, übernahmen die Kassiten für 400 Jahre die Herrschaft über die Stadt. Als im 14. Jahrhundert v. Chr. König Kurigalzu I. (1390–1370 v. Chr.) die Residenzstadt Dur-Kurigalzu gründete, blieb Babylon geistig-religiöses Zentrum. Um 1225 v. Chr. wurde Babylon durch den assyrischen König Tukulti-Ninurta I. (regierte ca. 1233–1197 v. Chr.) erobert, der die Statue des Stadtgottes Marduk wiederum verschleppte, diesmal nach Assyrien. Kurz darauf überfiel der elamische König Šutruk-Naḫunte (1190–1155 v. Chr.) die Stadt und raubte viele Kunstwerke und Götterbilder, die er in seine Hauptstadt Susa (Persien) brachte. Damit endete die Herrschaft der Kassiten in Babylon. Babylon erstarkte unter König Nebukadnezar I. (1126–1104 v. Chr.) aus der II. Dynastie von Isin, der die Marduk-Statue zurückholte. Später eroberten assyrische Truppen unter Tiglat-pileser I. (1115–1076 v. Chr.) die Stadt. Nebukadnezar I. schaffte es jedoch, Babylon wieder von der assyrischen Herrschaft zu befreien. Babylon verlor mit dem Aufstieg Assyriens stark an Bedeutung und wurde im 7. Jahrhundert v. Chr. zweimal von den Assyrern zerstört, 689 v. Chr. durch Sanherib. Neubabylonisches Reich. 626 v. Chr. wurde Nabopolassar zum König ausgerufen und besiegte die Assyrer, deren Hauptstadt Ninive er 612 v. Chr. mit Hilfe der Meder zerstörte. Nebukadnezar II., sein Sohn, wehrte eine Invasion der Ägypter ab und regierte über ein Gebiet von Palästina bis an den Persischen Golf. In seiner Regierungszeit stiegen Stadt und Reich zu neuer Blüte auf. Jedoch währte diese Blütezeit nicht sehr lange. König Nabonid bestieg 556 v. Chr. den Thron Babylons. Er führte die von Nebukadnezar II. begonnenen Wirtschaftsreformen durch und entzog den Tempeln der Marduk-Priesterschaft die Ländereien. Zusätzlich setzte er Sin, den Mondgott, als oberste Gottheit ein. Dies führte dazu, dass die ihm nun feindlich gesinnte Priesterschaft Babylons mit dem Perserkönig Kyros II., der sich zu Marduk bekannte, bei dessen Eroberung der Stadt 539 v. Chr. kooperierte und maßgeblich an seinem Sturz und dem Babyloniens beteiligt war. Alexander der Große eroberte die Stadt nach dem Sieg bei Gaugamela und wurde als Befreier begrüßt. Alexander machte Babylon später zum Sitz seines Reiches, wo er dann auch am 10. Juni 323 v. Chr. verstarb. In der Zeit der Diadochen gehörte Babylon zum Seleukidenreich, verlor unter makedonischer Herrschaft jedoch an Macht, als die neue Hauptstadt Seleukia gebaut wurde und viele Bewohner Babylons dorthin umgesiedelt wurden. Umstritten ist, ob Babylon im Hellenismus eine Polis griechischen Typs gewesen ist. Fraglos verfügte Babylon spätestens seit Antiochos IV. über die typischen Bauwerke (Theater, Gymnasion, Agora), überdies werden "politai" ‚Bürger‘ erwähnt, doch andererseits fehlt bislang jeder Hinweis auf die typischen Institutionen einer Polis (Volksversammlung, Rat, Magistrate). Lange Zeit nahm man in der Forschung an, Babylon habe unter den Seleukiden einen Niedergang erlebt und sei spätestens unter parthischer Herrschaft endgültig verlassen worden. Der römische Kaiser Trajan soll hier um 115 n. Chr. nur noch Ruinen gesehen haben. Inzwischen sind aber Zweifel an dieser Sichtweise aufgekommen; so nennt der wohl im ersten Jahrhundert entstandene so genannte 1. Brief des Petrus (5,13) Babylon als einen Wirkungsort des Petrus, und in der Spätantike erwähnt Prokopios von Caesarea Babylon (De Aed. 1,1,53) als Produktionsstätte von Asphalt. Wann genau Babylon jede Bedeutung verlor, wird daher inzwischen wieder kontrovers diskutiert. Der Hinweis im Petrusbrief wurde allerdings schon in der Antike als Hinweis auf Rom gedeutet, und die Bemerkung von Prokopios bezieht sich streng genommen auf Babylon zur Zeit von Semiramis. Es wird geschätzt, dass Babylon von ca. 1770 bis 1670 v. Chr. und wiederum von ca. 612 bis 320 v. Chr. die größte Stadt der Welt war. Sie war vielleicht die erste Stadt, die eine Bevölkerung von mehr als 200.000 Einwohnern erreichte. Die Schätzungen über die maximale Ausdehnung der Stadtfläche reichen von 890 bis 900 Hektar. Aufbau der Stadt. Der Aufbau Babylons im dritten und zweiten Jahrtausend vor Christus ist wenig bekannt. Entsprechende Nachforschungen scheiterten lange Zeit am hohen Grundwasserspiegel in diesem Areal und in jüngerer Vergangenheit an der Sicherheitslage im Irak. Neubabylonische Zeit. Antike Berichte. Laut dem antiken griechischen Historiker Herodot war Babylon . Babylon wurde von einem riesigen Festungsgürtel umschlossen. Diese Stadtmauern von Babylon besaßen laut Herodot angeblich eine Länge von 86 Kilometern mit einhundert Toren. Ausgrabungen Koldeweys ergaben, dass die Mauern „nur“ 18 Kilometer lang waren. Außerdem soll es in der Stadt auch drei- und vierstöckige Gebäude gegeben haben. Im Tempelbezirk befand sich seinen Berichten zufolge auch ein Turm, von dem es im Alten Testament heißt, man wollte damit den Himmel erreichen. Er erwähnte jedoch nicht die Hängenden Gärten. Ausgrabungsergebnisse. Koldewey begriff schon bald nach Beginn seiner Ausgrabungen, dass die Größenangaben Herodots stark übertrieben waren, auch wenn der Umfang der Stadt mit 18 Kilometern immer noch imposant erscheint. Babylon war auf beiden Seiten des Euphrat errichtet. Die Stadt war von einer inneren Doppelmauer und einem äußeren Mauerring auf dem Ostufer umgeben, die im Norden durch eine Festung noch zusätzlich geschützt wurden, welche auch als Sommerresidenz des Königs diente. Die eigentliche Stadt befand sich jedoch im Inneren der doppelten Befestigungsmauer mit einem rechteckigen Grundriss von 1,5 × 2,5 km. Das "Ischtar-Tor", eines der neun Tore, kann man heute im Berliner Pergamonmuseum besichtigen. Direkt neben dem Tor stand der Ninmach-Tempel. Eine Prozessionsstraße führte hindurch in die Stadt, vorbei am Palast des Königs zum Marduktempel und dem Zikkurat von Etemenanki, besser bekannt als der Turm zu Babel. Der von Nabopolassar (gestorben 605 v. Chr.) erbaute Palast hatte den des assyrischen Königs Sanherib zum Vorbild. Er besaß einen quadratischen Innenhof, drei kleine Privaträume und zwei große Säle, war also von verhältnismäßig bescheidener Größe. Nebukadnezar II. (regierter 605 bis 562 v. Chr.) ließ drei weitere identische Gebäude errichten und sie durch Gänge mit dem ursprünglichen Komplex verbinden; eines von ihnen beherbergte den 52 Meter langen Thronsaal des Königs. Daneben wurden neue Wohnräume für die Bediensteten, aber auch Verwaltungs- und Vorratsräume gebaut. Vermutlich waren auch die Hängenden Gärten dort untergebracht. Der Tempel des Marduk mit dem Namen Esagila befand sich im heiligen Bezirk Babylons. Das Gebäude war ähnlich wie eine Festung mit quadratischem Umriss aufgebaut. Nach dem Betreten des Tempels kamen die Priester in den Raum, in dem sich die heilige Statue Marduks befand. In dem Heiligtum wurden jedoch auch viele andere Götter verehrt, die alle Marduk dienen sollten. Neben dem Tempel ragte der zuvor bereits angesprochene Turm auf. Wohnbauten konnten im Merkes-Viertel, das sich südlich des Ischtar-Tores befand, ausgegraben werden. Vor allem die Häuser der neubabylonischen Zeit waren gut erhalten: Bauten mit massiven Lehmziegelmauern und einem Hof im Zentrum. Hellenistische Zeit. Aus der Seleukidenzeit (3. bis 2. Jahrhundert v. Chr.) sind nur wenige Neubauten erhalten, doch sind überall in der Stadt Umbauten festzustellen. Eine griechische Inschrift (OGIS 253) aus dem Jahr 166 v. Chr. bezeichnet Antiochos IV. als Gründer Babylons, womit gemeint sein dürfte, dass dieser König einen Teil der Stadt in eine griechisch-makedonischen Polis umwandelte, wie er es auch in Jerusalem tat. Die neubabylonischen Häuser im Merkesviertel sind im Laufe der seleukidischen Periode wieder bewohnt worden, nachdem sie anscheinend einige Zeit leer gestanden hatten. In einem Haus fanden sich im Hof vier Säulenbasen, die andeuten, dass dort ein Peristyl griechischen Stils eingebaut wurde. Die Säulen sind nicht erhalten, bestanden aber einst vielleicht aus Holz. Im selben Haus wurde auch ein Türdurchgang vermauert und eine Badewanne in der so entstandenen Nische eingebaut. Im Osten der Stadt wurde ein hellenistisches Theater errichtet, und die alten Paläste wurden weiterhin benutzt, zeigen aber architektonische Elemente, die offensichtlich griechisch sind. In fast allen Palästen der Stadt fanden sich so Antefixe, die belegen, dass diese Bauten weiterhin benutzt und teilweise griechischem Geschmack angepasst wurden. Unter parthischer Herrschaft. Bald nach der Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. geriet Babylonien unter die Herrschaft der parthischen Arsakiden. Nach Aussage literarischer Quellen erlebte die Stadt unter den Parthern einen langsamen Niedergang, während gleichzeitig Ktesiphon zur wichtigsten Metropole im Zweistromland aufstieg. Allerdings gibt es vor allem in der Wohnstadt zahlreiche Befunde, die bezeugen, dass die Stadt weiter bewohnt wurde. Da die parthischen Schichten zuoberst liegen, sind sie aber meist nur schlecht erhalten. Es ist vor allem zu beobachten, dass die Straßenführung der alten Stadt aufgegeben wurde und durch eine neue ersetzt wurde. Das griechische Theater bestand weiter und wurde sogar renoviert. Andere öffentliche Gebäude können dieser Zeit bisher nicht mit Sicherheit zugeordnet werden. Aus den parthischen Schichten stammen viele Bestattungen, die vor allem unter den Fußböden der Häuser stattfanden. Da, wie erwähnt, noch Prokopios im 6. Jahrhundert Babylon möglicherweise als bewohnte Stadt erwähnt (s. o.), scheint der Ort auch noch unter den Sassaniden besiedelt gewesen zu sein. Forschungsgeschichte. Obwohl Babylon seit jeher nicht nur bei Autoren der klassischen Antike, sondern auch bei vielen Reisenden auf großes wissenschaftliches Interesse stieß, stellen doch erst die systematischen Ausgrabungen des Briten Claudius James Rich in den Jahren 1811 bis 1817 die Anfänge archäologischer Aktivitäten an diesem Ort dar. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden die Arbeiten mit Unterbrechungen weitergeführt: 1830 fanden zwei Grabungskampagnen unter Robert Mignan statt, 1850 wurde Austen Henry Layard in Babylon aktiv, und ab 1851 begann ein drei Jahre andauerndes Großprojekt der Franzosen Fulgence Fresnel, Jules Oppert und Félix Thomas. Henry Creswicke Rawlinson führte 1854, wenn auch nur äußerst oberflächlich, die Arbeiten seiner französischen Vorgänger fort. Auch William Beaumont Selby (1859), Henri Pacifique Delaporte (1862) und Hormuzd Rassam (1879) beschränkten ihre archäologischen Aktivitäten in Babylon auf Kurzkampagnen. 1899 begann eine langfristig angelegte Forschungsmaßnahme im Auftrag der ein Jahr zuvor gegründeten Deutschen Orient-Gesellschaft unter der Leitung des Architekten Robert Koldewey. Dieser betrieb erstmals für die Archäologie in Mesopotamien Bauaufnahmen, in der die Lage der einzelnen Steine und Mauern erkennbar blieb und nachfolgende Archäologen daraus die Grundrisse in ihrer historischen Abfolge beurteilen können. Abgesehen vom allgemeinen Interesse für die freigelegten Großbauten waren vor allem die Grabungen im Wohngebiet Merkes (Markaz) durch ihre besondere Vorgehensweise für die Fachwelt richtungsweisend. Neben anderen grub hier 1907 und 1908 Oscar Reuther, dem es primär um die Schichtenabfolge ging. Hierzu legte er Grabungsquadrate an, zwischen denen drei Meter breite Grabungsstege stehenblieben, an denen die Schichten beurteilt werden konnten. Nachdem stattliche Häuser aus neubabylonischer Zeit zum Vorschein gekommen waren, ging man 1912 dazu über, eine sich auf diese Schicht konzentrierende Flächengrabung durchzuführen. Die Ausgrabungen liefen 18 Jahre fast ohne Unterbrechungen. Erst im Jahre 1917, gegen Ende des Ersten Weltkrieges, kamen die Arbeiten angesichts der gegen Bagdad vorrückenden britischen Truppen zum Erliegen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die Grabungstätigkeit wiederaufgenommen, vor allem durch die irakische Antikenverwaltung. Außerdem fanden Ausgrabungen des Deutschen Archäologischen Institutes unter der Leitung von Hansjörg Schmid (ab 1962) und Jürgen Schmidt (1967–1973) statt. Die irakischen Aktivitäten in Babylon konzentrierten sich auf Rekonstruktionen öffentlicher Bauwerke. Darüber hinaus ließ der irakische Diktator Saddam Hussein, der sich als Nachfolger des babylonischen Königs Nebukadnezar II. verstand, für sich einen neuen Palast bauen. Heutige Nutzung. Nach dem Irak-Krieg richteten US-amerikanische Truppen im April 2003 einen Stützpunkt um Babylon ein, um die antike Stadt vor Plünderern und Grabräubern zu schützen. Polnische Truppen stießen einige Monate später hinzu und übernahmen am 3. September 2003 die Lagerführung. Der Stützpunkt beherbergte bis zu 2000 Soldaten. Beim Bau des Lagers wurden Flächen für Park- und Hubschrauberlandeplätze freigeräumt und mit Schotter aufgeschüttet. Zudem wurden Schützengräben gebaut und Sandsäcke mit Sand aus den Ausgrabungsstätten gefüllt. Laut zweier Berichte des Konservators des Britischen Museums John Curtis aus den Jahren 2003 und 2005 wurde die Ruinenstadt erheblich beschädigt. Unter anderem seien die Drachen des Ischtar-Tors bei dem Versuch eines Unbekannten, Steine herauszubrechen, in Mitleidenschaft gezogen worden. Zudem sei die 2600 Jahre alte gepflasterte Prozessionstraße durch die Befahrung mit schweren Militärfahrzeugen zerstört worden. Mohammed Tahir al-Shahk Hussein, Archäologe des irakischen Staatsrates für Antiquitäten und Kulturerbe und ehemaliger Museumsdirektor, relativiert hingegen die Kriegsschäden und sieht das größere Problem in den unter Saddam Hussein errichteten Neubauten. Tausende von Menschen leben derzeit in Babylon innerhalb der alten äußeren Stadtmauern, und die Bevölkerung wächst schnell. Gesetze schränken den Bau ein. Rezeption. Sieben Weltwunder. Die Stadt war Zentrum Babyloniens und ist auch durch die "Hängenden Gärten der Semiramis", eines der Sieben Weltwunder der Antike, bekannt. Ursprünglich gehörte auch die mächtige Stadtmauer zu den Weltwundern. Wie oben erwähnt, beschrieb Herodot die Stadt ausführlich. Platon. In der wissenschaftlichen Literatur über Platons Atlantis-Dialoge "Timaios" und "Kritias" wird Babylon als eine mögliche Vorlage für Platons Atlantisbeschreibung diskutiert. Tora. In der jüdischen Tora und dem christlichen Alten Testament wird für das antike Babylon der hebräische Name "Babel" verwendet, gedeutet als angelehnt von bâlal' „überfließen, vermischen, verwirren“. Es wird ein gewaltiger Turmbau zu Babel erwähnt . Um die Macht der Menschen zu beschränken, habe Gott die Menschen verwirrt und ihnen verschiedene Sprachen gegeben . Aufgrund dieser Kommunikationsstörung mussten sie dann den Bau beenden. Diese Geschichte ist der Ursprung der Redensart „babylonisches Sprachgewirr“ oder „babylonische Verwirrung“. Um 600 v. Chr. eroberte Nebukadnezar II. Jerusalem und veranlasste die Umsiedelung von Teilen der Bevölkerung, vor allem der Oberschicht, nach Babylon. Dieses babylonische Exil war ausschlaggebend für die Entwicklung eines Identitätsgefühls als jüdisches Volk und wird in der Bibel ausführlich beschrieben: Babylon wird als Ort des Unglaubens, der Unzucht und der Unterdrückung dargestellt, eine Sichtweise, die sich später im Neuen Testament wiederfindet. Dabei ist zu bedenken, dass die Bibelautoren das Exil als große Gefahr für den jüdischen Glauben ansahen, dementsprechend negativ gefärbt ist ihre Beschreibung des Aufenthalts, der als Sklaverei wahrgenommen wurde. Die meisten Hebräer führten jedoch ein angenehmes Leben in der Metropole; babylonische Keilschrifttafeln zeigen, dass viele von ihnen hohe Positionen in Militär und Wirtschaft einnahmen. Im Folgenden ein Überblick über die relevantesten namentlichen Erwähnungen Babylons im Tanach: Christentum. Im Neuen Testament wird der Name "Babylon" bzw. das Attribut "babylonisch" zwölfmal erwähnt. Dies geschieht zum einen in Rückblicken auf die Geschichte Israels, zum anderen in den prophetischen Reden über die Zukunft der Welt. Babylon bezeichnet hier das irdische widerchristliche Machtzentrum im Gegensatz zur Stadt Gottes, dem "himmlischen Jerusalem". In der Offenbarung des Johannes wird ihre Zerstörung in den letzten Gerichten Gottes vorausgesagt. In 1. Petrus grüßt der apostolische Schreiber seine Gemeinde "aus Babylon". Manche Ausleger vermuten, dass hier Babylon als ein Pseudonym für Rom gebraucht wird. Andere hingegen verweisen auf den nicht genau feststellbaren Zeitpunkt des Verfalls der Stadt und nehmen die Bezeichnung "Babylon" wörtlich. Sie glauben, dass Paulus, als Apostel für die Nationen, und nicht Petrus in Rom war. In der von der Offenbarung des Johannes geprägten christlichen Symbolik gilt Babylon als gottesfeindliche Macht und Hort der Sünde und Dekadenz. Martin Luther deutete das ihm verhasste Papsttum als "Hure Babylon". In Offenbarung 17:3–5 wird Babylon die Große als eine in Purpur und Scharlach gekleidete, reichgeschmückte Frau beschrieben, die auf einem scharlachfarbenen wilden Tier mit sieben Köpfen und zehn Hörnern sitzt. Auf ihrer Stirn steht ein Name geschrieben, „ein Geheimnis: ‚Babylon die Große, die Mutter der Huren und der abscheulichen Dinge der Erde‘ “. Auch wird von ihr gesagt, sie sitze auf „vielen Wassern“, die „Völker und Volksmengen und Nationen und Zungen“ darstellen (Off 17:1–15). Professor Morris Jastrow jr. sagt in seinem Werk "The Religion of Babylonia and Assyria" (1898, S. 699–701) diesbezüglich folgendes: „Im Altertum, noch bevor das Christentum aufkam, verspürten Ägypten, Persien und Griechenland den Einfluß der babylonischen Religion. … Der persische Mithrakult weist eindeutig babylonische Vorstellungen auf; und wenn man bedenkt, welche wichtige Rolle die mit diesem Kult verbundenen Mysterien schließlich unter den Römern spielten, kann ein weiteres Verbindungsglied zwischen den Verzweigungen antiker Kulturen und der Zivilisation des Euphrattales hergestellt werden.“ Abschließend spricht er von „der großen Wirkung, die die bemerkenswerten Äußerungen religiösen Gedankenguts in Babylonien und die religiöse Tätigkeit in diesem Gebiet auf die antike Welt gehabt haben“. Musikalische Rezeption. Zumeist bauen Lieder, die mit Babylon zu tun haben, auf die Bedeutung der Stadt im Alten Testament als ein Ort des Exils und der Versklavung. Der Bezug zum geschichtlichen Hintergrund, der eine Versklavung nicht bestätigt, wird meistens nicht hergestellt. Gelegentlich nehmen Lieder aber auch den neutestamentlichen theologischen Mythos der Stadt als Zentrum des Bösen auf. Georg Friedrich Händel hat 1745 in seinem Oratorium "Belshazzar" (deutsch: "Belsazar") die Eroberung der Stadt durch Kyros und die Befreiung der Juden aus der babylonischen Gefangenschaft verewigt. Giuseppe Verdi vertonte 1842 in "Nabucco" ebenfalls eine Episode aus dem jüdischen Exil in Babylon. William Walton komponierte 1930/31 mit "Belshazzars Feast" ein Chorwerk, dessen Libretto Bibeltexte über Belsazars Gastmahl in Babylon zum Thema hat. Bertold Hummel benannte den 2. Satz seiner 1996 entstandenen 3. Sinfonie "JEREMIAS" mit dem Namen der Stadt Babylon. 2012 wurde die Oper "Babylon" von Jörg Widmann auf ein Libretto von Peter Sloterdijk an der Bayerischen Staatsoper uraufgeführt. Bekannt ist die Vertonung des Lieds "By the waters of Babylon" von Don McLean, eine Nachdichtung des 137. Psalms. Der Song Rivers of Babylon der jamaikanischen Band The Melodians, der in der Version von Boney M. große Bekanntheit erlangte, behandelt ebenfalls den Text des 137. Psalms. Ebenso nahm Leonard Cohen in seinem Song "By the Rivers Dark" auf Babylon Bezug: Babylon ist anknüpfend an die jüdische und christliche Symbolik sowohl Ort des Exils (Gottesferne) als auch Sinnbild sündigen, verblendeten Lebenswandels sowie zugleich Stätte einer mysteriösen Erfahrung. Die deutsche Vertonung "Die Legende von Babylon" von Bruce Low handelt jedoch vom Turmbau zu Babel und hat nichts mit dem babylonischen Exil zu tun. Durch die Etablierung der Reggae-Musik in den 1970er Jahren wurde der Rastafari-Begriff "Babylon-System" weltweit populär und hat heute einen festen Platz in der schwarzen Musik und anderen Stilen der Pop-Musik. Bekannt wurde der Begriff erstmals durch den Song "Babylon System", komponiert vom jamaikanischen Reggaemusiker Bob Marley und auf dem Album "Survival" veröffentlicht, der vom westlichen „vampirischen“ System handelt, das die Menschheit unterdrückt und vor der Einheit zurückhält. Vorher jedoch ging schon Desmond Dekker in seinem Lied The Israelites auf das Thema ein und erzählt die Leidensgeschichte des Israeliten in Ägypten im Vergleich zum Leben als schwarzer Sklave auf Jamaika. Die griechische Band Aphrodite’s Child befassten sich in ihrem Konzeptalbum 666 unter anderem mit Babylon, zu dem es auch ein Stück auf dem Album gibt. Vordergründig ist das Album eine Adaption von Abschnitten der Offenbarung des Johannes ("666"), in der Lyrik und im Aufbau jedoch sehr experimentell gestaltet. Das Album wird stilistisch dem Progressive Rock zugeordnet. In ihrem 2004 veröffentlichten Lied "On Ebay – From Babylon back to Babylon" prangert die britische Popband Chumbawamba den Raub von Ausstellungsstücken, zu denen auch solche aus Babylon gehörten, aus dem Irakischen Nationalmuseum an. Babylon-System bei den Rastafari. In der unter Nachfahren schwarzer Sklaven in Jamaika entstandenen Rastafari-Bewegung ist "Babylon-System" oder kurz "Babylon" – in Anlehnung an die biblische Verwendung des Begriffs – ein Ausdruck für das herrschende „westliche“ Gesellschaftssystem, das als korrupt und unterdrückend wahrgenommen wird. Die Rastafari erkannten in der biblischen Geschichte vom babylonischen Exil der Israeliten Parallelen zur Verschleppung ihrer eigenen afrikanischen Vorfahren nach Amerika und münzten "Babylon-System" (auch: "shitstem") als Ausdruck für die westliche Welt. Durch den Erfolg der Reggae-Musik wurde der Begriff weltweit etabliert. Je nach persönlichem, politischem und kulturellem Hintergrund variiert die Auslegung des Begriffs. Literatur. Ausgrabungsberichte:
649
2458679
https://de.wikipedia.org/wiki?curid=649
Buch
Ein Buch (lateinisch "liber") ist nach traditionellem Verständnis eine Sammlung von bedruckten, beschriebenen, bemalten oder auch leeren Blättern aus Papier oder anderen geeigneten Materialien, die mit einer Bindung und meistens auch mit einem Einband (Umschlag) versehen ist. Über einen langen historischen Zeitraum dominierte die Form der Schriftrolle. Im 2. bis 4. Jahrhundert fand ein Wechsel zur Kodex-Form des Buches statt, hierbei sind die Blätter gefaltet und ggf. am Rücken geheftet oder gebunden. Laut UNESCO-Definition sind (für Statistiken) Bücher nichtperiodische Publikationen mit einem Umfang von 49 Seiten oder mehr. Zudem werden einzelne Werke oder große Text­abschnitte, die in sich abgeschlossen sind, als "Buch" bezeichnet, insbesondere wenn sie Teil eines Bandes sind. Das ist vor allem bei antiken Werken, die aus zusammengehörigen Büchersammlungen bestehen, der Fall – Beispiele hierfür sind die Bibel und andere normative religiöse Heilige Schriften, die Aeneis sowie diverse antike und mittelalterliche Geschichtswerke. Das Buch ist ein Kulturprodukt, das die Überwindung der Illiteralität zur Voraussetzung hat und die Entwicklung der geschriebenen Sprache zur Grundlage nimmt. Seine Verwendung als kommunikatives Mittel setzt eine Schreibkompetenz bzw. Drucktechnik und Lesefähigkeit voraus. Elektronisch gespeicherte Buchtexte nennt man in ihrer lesbaren visuellen Form „digitale Bücher“ oder E-Books. Eine weitere, allerdings nicht lesbare digitale Variante ist das Hörbuch. Derzeit findet ein langsamer medialer Wechsel von der traditionellen Kodex-Form hin zu den neueren digitalen Buchformen statt. Etymologie. Das Wort "Buch" (althochdeutsch "buoh", mittelhochdeutsch "buoch") war ursprünglich eine Pluralform und bedeutete wahrscheinlich zunächst „Runenzeichen“, dann allgemeiner „Schriftzeichen“ oder „Buchstabe“, später „Schriftstück“. Eine Verwandtschaft zu "Buche" könnte darauf beruhen, dass Runen in Buchen oder in Buchenholz eingeritzt wurden, dieser Zusammenhang ist aber unsicher (siehe dazu auch Buchstabe). Die Brüder Grimm sehen sich bestärkt in der Annahme, dass der Ursprung des Wortes "Buch" aus Buche stammt. Geschichte. Papyrusrolle und Kodex. Die ältesten Vorläufer des Buches waren die Papyrusrollen der Ägypter, von denen die ältesten bekannten Exemplare aus dem 3. Jahrtausend v. Chr. stammen. Die Griechen und Römer übernahmen die Papyrusrollen, bis sie ab dem 1. Jahrhundert allmählich der "Kodex" ablöste. Der "Kodex" bestand aus mehreren Lagen Pergament, die zweiseitig fortlaufend beschrieben in der Mitte gefaltet und mit einem Faden aneinander befestigt wurden. Erst später wurden die Seiten gebunden und mit einem festen Umschlag versehen. Der "Kodex" ist der unmittelbare Vorläufer unseres heutigen Buches. Die 1945 im ägyptischen Nag Hammadi entdeckten spätantiken Kodizes einer koptischen Bibliothek bestehen aus in Leder gebundenen Papyrusblättern und gelten in Fachkreisen als die ältesten Bücher. Ab dem 14. Jahrhundert wurde das Pergament allmählich durch das billigere und viel einfacher zu produzierende Papier ersetzt. Die erste Papiermühle in Deutschland war die des Ulman Stromer in Nürnberg im Jahr 1390. Zeitalter des Buchdrucks. Die nach der Erfindung des Buchdrucks (ca. 1450) durch Johannes Gutenberg bis zum Jahr 1500 gedruckten Bücher werden Inkunabeln oder Wiegendrucke (aus der Zeit, als der Buchdruck noch in der Wiege lag) genannt. In der Buchdruck-Revolution vervielfachte sich der Ausstoß an Büchern in Europa. In Korea wurde rund 200 Jahre vor Johannes Gutenbergs Erfindung in Europa der Buchdruck mit beweglichen Lettern aus Metall entwickelt, vermutlich als Weiterentwicklung chinesischer Drucktechnik mit Tonlettern, blieb aber wenig genutzt. Die schnelle Verbreitung der neuen Technik in ganz Europa und die stetige Verbesserung und Weiterentwicklung des Buchdrucks und der Herstellung von Papier machten das Buch zur Massenware, was eine wesentliche Voraussetzung für die Reformation und später für die Aufklärung wurde. Wissen wurde zum Allgemeingut im Abendland. Schrift und Bild waren im Buch des Mittelalters eine Einheit. Künstler des Bauhauses schufen im 20. Jahrhundert Bücher von hohem gestalterischen Niveau, die dem Bereich Druckgrafik zuzurechnen sind. Diese Künstlerbücher erscheinen in kleinen limitierten Auflagen. Gegenwart. Der Digitaldruck erlaubt mit Print-on-Demand Auflagen in konventioneller Buchform (paperback, hardcover) ab einem Exemplar aufwärts. Seit ein paar Jahren bieten einige Dienstleister im Internet die Erstellung von Fotobüchern an, diese können dann einzeln bestellt werden. Seit dem Jahr 2009 können in der Wikipedia Artikel zum Print-on-Demand zusammengefasst werden. Seit dem Jahr 2000 erscheint das digitale Buch auf dem Online-Buchmarkt. Auch das Internet konkurriert mit dem klassischen Buch. Der Internetkonzern Google schätzte (Stand August 2010), dass es rund 130 Millionen verschiedene Bücher auf der Welt gibt, räumte aber ein, dass dies auch eine Frage der Definition sei. Die UNESCO legte 1995 den 23. April als Welttag des Buches fest. Das Buch als Produkt. Materialien. Das Buch ist heute in erster Linie ein Gebrauchsgegenstand. Das heißt, dass das Buch gewissen Nutzungsbedingungen ausgesetzt ist. Diesen muss das Material entsprechen. Es soll strapazierfähig, reißfest, biegsam, leicht, ästhetisch und vieles mehr sein. Einige Materialien sind hier aufgeführt: Bestandteile. Ein Buch muss beweglich, aber auch stabil sein. In der Buchherstellung durchläuft es viele Prozesse, die Einzelteile werden meist getrennt hergestellt und schließlich zusammengefügt. Der Buchblock mit seinen bedruckten Seiten wird durch den Vorsatz mit dem Einband verbunden. Dabei befindet sich jeweils ein Vorsatz an der oberen und unteren Seite des Buchblocks. Diese sind durch Gaze und Leim mit dem Buchrücken sowie durch den Spiegel mit der Buchdecke verbunden. Um die Buchdecke legt sich das Bezugsmaterial. Der Streifen des Überzugmaterials, der auf der inneren Seite der Spiegel verklebt, nennt man Einschlag. Zusammen ergeben diese Elemente den Bucheinband. Die nach außen „abklappbaren“ Elemente des Einbandes nennen sich Deckel. Bei gebundenen Büchern, oft auch Hardcover genannt, wird um den Bucheinband noch ein Schutzumschlag gelegt. Die drei Kanten des Buchblocks, an denen man das Buch öffnen kann, nennen sich Kopfschnitt (oben), vorderer und unterer Schnitt. Ein farblich gestalteter Schnitt hat Schnittverzierungen. Das farbige Bändchen oben und unten am Buchrücken nennt sich Kapitalband, das Lesezeichen – oben im Buchrücken befestigt – nennt sich Lesebändchen. Buchgestaltung. Durch die Buchgestaltung wird das gesamte Aussehen, der Aufbau und die Materialien des Buches konzipiert. Durchgeführt wird sie in der Regel von einem Buchgestalter, Künstler und/oder Typografen. Neben Schrift, Titelei, Pagina, Papiersorte, Lesebändchen und Kapitalband wird auch der Einband gestaltet – die heute vermutlich wichtigste Aufgabe: Der Einband muss neugierig machen, spannend sein und die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Der Einband soll den potentiellen Leser zum Kauf oder Verleih einladen. Gliederung. Inhaltliche Gliederung von Büchern. Zu den Abschnitten eines Buches gehören (teilweise optional, auch die Reihenfolge kann variieren): Statistik und Rekorde. Buchbesitz und Lesen in Deutschland. In einer Studie aus dem Jahre 2008 haben 57 % der Befragten angegeben, dass in ihrem Haushalt weniger als 50 Bücher vorhanden seien. In 23 % der Haushalte waren 50–100 Bücher, in 12 % 100–250 Bücher und in 6 % mehr als 250 Bücher vorhanden. Nach einer Forsa-Umfrage aus dem Jahre 2017 lesen 27 % der Deutschen mehr als 10 Bücher pro Jahr, 19 % lesen 6–10 Bücher, 39 % lesen bis zu 5 Bücher, und 14 % lesen überhaupt keine Bücher. Eine der umfangreichsten Studien zum Lesen in Deutschland hatte 2008 das Bundesministerium für Bildung und Forschung bei der Stiftung Lesen in Auftrag gegeben. Meistgedrucktes Buch. Die Bibel ist das meistgedruckte und am weitesten verbreitete Buch der Welt. Nach Angaben der Deutschen Bibelgesellschaft liegen Übersetzungen der gesamten Bibel in 542 Sprachen vor und Teilübersetzungen in 2344 weiteren Sprachen (Stand Januar 2015). Kleinstes und größtes Buch. Das kleinste Buch, das jemals im Auflagendruck hergestellt worden ist, stammt aus dem Leipziger Verlag Faber & Faber. Mit 2,4 auf 2,9 Millimetern ist es so groß wie ein Streichholzkopf. Die 32 Seiten sind mit Buchstabenbildern im Offset bedruckt und in Handarbeit ledergebunden Im Jahr 2004 brachte der Autohersteller Mazda einen Bildband mit dem bis dahin größten Format der Welt heraus: 3,07 m × 3,42 m. Seither gibt es jedoch verschiedene weitere Rekorde, die sich in der Definition eines Buches unterscheiden, sowie darin, ob es Einzelwerke sind oder lieferbare Bücher mit einer gewissen Auflage. Sprachliches. Die Vorsilbe „Biblio-“. Das aus dem Griechischen stammende Wortbildungselement "Biblio-" (bzw. bei Adjektiven "biblio-") bedeutet „Buch“ oder „Bücher“. Beispiele:
650
779406
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Babylonien
Babylonien (assyrisch: Karduniaš; altägyptisch: Sangar) bezeichnet eine Landschaft am Unterlauf der Flüsse Euphrat und Tigris, zwischen der heutigen irakischen Stadt Bagdad und dem Persischen Golf. Das kulturelle Zentrum dieser fruchtbaren Ebene im Altertum war die Stadt Babylon, die im Laufe ihrer Existenz von Herrschern aus zahlreichen Volksstämmen erobert und regiert wurde. Altbabylonisches Reich. Das erste babylonische Reich wurde 1894/1830 v. Chr. vom semitischen Stamm der Amoriter unter Sumu-abum gegründet. Er ließ um die Stadt die Mauer Imgur-Enlil errichten, die allerdings erst durch seinen Nachfolger Sumulael fertiggestellt wurde. Hammurapi war von 1792 v. Chr. an für die Dauer von 43 Jahren der 6. König. Er verstand es zunächst ohne kriegerische Auseinandersetzungen mit den benachbarten Stadtstaaten und Reichen, deren politische Situation auszunutzen und kontrollierte bald durch die schmalste Stelle zwischen Euphrat und Tigris wichtige Handelswege. In wenigen Jahren stieg Babylon, der bis dahin unbedeutende Stadtstaat, zu einer Vormacht in der Region auf. Aus den ersten 28 Jahren der Regentschaft Hammurapis ist wenig überliefert. Der König hielt sich aus Kriegen weitgehend heraus und eroberte keine neuen Gebiete. Innenpolitisch erließ er zu Anfang Schulden. Damit verschaffte er sich die Loyalität seiner Untertanen. Babylon wurde mit Verteidigungsanlagen, insbesondere mit einer hohen Stadtmauer ausgebaut. Hammurapi legte umfangreiche Bewässerungsanlagen an und ließ großartige Bauten errichten; er organisierte das Land durch eine straffe Verwaltung und verfasste eine einheitliche Rechtsordnung, den Codex Hammurapi. Dieses Gesetzeswerk, mit 282 Paragraphen, hielt die Rechte aller Klassen fest. Die Gesetze wurden auf Stelen und Tontafel geschrieben und öffentlich in den Städten aufgestellt. Den Stadtgott von Babylon, Marduk, erhob Hammurapi zum Hauptgott des Landes. Gegen Ende des dritten Jahrzehnts seiner Herrschaft änderte sich Hammurapis Politik ab 1765 v. Chr. grundlegend. Er erkannte Eroberungsabsichten des Nachbarreichs Elam, da dieses Babylon als Verbündeten gegen Larsa, gleichzeitig aber Larsa als Verbündeten gegen Babylon gewinnen wollte. Hammurapi ergriff die Initiative und verbündete sich mit Larsa und Mari gemeinsam gegen Elam. Die ausgeklügelte Bündnisstrategie wurde durch Boten auf Tontafeln festgehalten und zwischen den Reichen übermittelt; diese Tafeln wurden 1930 in Mari gefunden. Hammurapi wurde mit diesen Zeitdokumenten als einer der ersten außenpolitisch aktiv agierenden Politiker der Geschichte erkennbar. Als Elam den in der Folge ausgebrochenen Krieg zu gewinnen schien, retteten Aufstände und Meutereien im Gebiet und in der Armee Elams Babylon vor der Eroberung und möglichen Zerstörung. Hammurapis Bündnispolitik hatte sich bewährt. Als nächstes eroberte er gemeinsam mit Mari Larsa, da dieses nicht wie zuvor vereinbart Truppen gegen Elam bereitgestellt hatte. Diese Eroberung dehnte sein Reich auch über die ehemaligen Königreiche Sumer und Akkad aus. Durch die Schwächung Elams und die weiteren geschickt taktierten Unterwerfungen von Mari, Subartu und Eschnunna wurde Hammurapi auch Herrscher von Assur. Damit wurde Babylonien zum dominierenden Reich in Mesopotamien. Schon sein Sohn musste gegen die aufständischen Stämme im Süden des Reiches in den Krieg ziehen. Nach und nach verlor das Reich an Einfluss und Herrschaftsbereich. Durch zahlreiche innere Unruhen und durch Angriffe von außen geschwächt, wurde es schließlich von dem Hethiterkönig Muršili I. 1595/1531 v. Chr. eingenommen. Das sogenannte Altbabylonische Reich fand damit sein Ende. Nachfolgedynastien. Die nachfolgende Zeit wird als dunkle Periode der babylonischen Geschichte bezeichnet, weil Schriftzeugnisse selten sind. Die Kassiten regierten etwa 400 Jahre lang (siehe Königsliste). Sie erweiterten das Reich vom Euphrat bis zum Zagrosgebirge und machten das Land zur Großmacht. Im 15. Jahrhundert v. Chr. gehörte es zu den vier wichtigsten Mächten in Vorderasien (neben den Ägyptern, Mittani und Hethitern). Kurze Zeit später löste sich Assyrien vom Mittanireich und begann eine territoriale Expansion, die auch babylonisches Gebiet berührte. 1155 v. Chr. wurde die Stadt von den Elamitern erobert. Sie plünderten und brandschatzen und brachten unter anderem die Gesetzesstele Hammurapis in ihre Hauptstadt Susa. König Nebukadnezar I. von Isin gelang es 1137 v. Chr., die Kassitendynastie abzusetzen und die zweite Dynastie von Isin in Babylon zu etablieren. Anschließend ging er gegen die Elamiter vor, die nach einem jahrelangen Krieg unterlagen. Ihre Hauptstadt Susa wurde völlig zerstört. Jeder Versuch Nebukadnezars, das Reich auszudehnen, wurde von den Assyrern beobachtet und zum Teil verhindert. Eine direkte Konfrontation gab es jedoch nicht. Kurze Zeit später eroberte Assur aber Babylon. Die Zerstörung eines babylonischen Tempels wurde von den Assyrern als Sakrileg empfunden. König Salmanassar III. (858–824 v. Chr.) verheiratete seinen Sohn Schamschi-Adad V. mit der Babylonierin Šammuramat. Es ist anzunehmen, dass sie eine Tochter oder jedenfalls nahe Verwandte von König Marduk-zākir-šumi I. gewesen ist. Umstritten ist, ob sie nach dem Tod ihres Mannes als Mitregentin des minderjährigen Sohnes selbst für einige Jahre die Macht übernahm, bis Adad-nīrārī III. für den Antritt seines Erbes alt genug war. Sicher ist, dass die in einem Bündnis gipfelnde freundschaftliche Annäherung beider Reiche unter Salmanassar III. nicht von Dauer war. Zwar leistete Marduk-zākir-šumi I. seinem Bündnispartner beim Aufstand dessen ältesten Sohnes Unterstützung und schloss nach dessen Tod auch einen Vertrag mit dem Thronfolger, versuchte aber die Schwäche der Assyrer auszunutzen und behandelte ihn als Vasallen. Nicht zuletzt unter tatkräftiger Mitwirkung von Šammuramat, die als Vorbild der Legende von Semiramis gilt, fand das assyrische Reich bald zu seiner Stärke zurück und zwang nun umgekehrt den Thronerben in Babylon in die Rolle des Vasallen. Versuche der Babylonier, die Macht der Assyrer mit Hilfe der Elamiter zu brechen, blieben erfolglos. 689 v. Chr. zerstörte der Assyrer Sanherib die Stadt gänzlich. Sein Sohn Assurhaddon versuchte, die Stadt wieder aufzubauen und im alten Glanz erstrahlen zu lassen. Zu diesem Zeitpunkt änderte Assyrien die Politik gegenüber Babylon und schlug einen harten Kurs ein. Die Folge waren Kriege und Zerstörung. 648 v. Chr. musste sich Babylon nach einer zweijährigen Belagerung dem assyrischen König Assurbanipal geschlagen geben. Nach dem Tod Assurbanipals, des letzten großen Königs Assyriens, brach dessen Reich aber auseinander. Neubabylonisches Reich. In Babylon bestieg der General Nabopolassar 626 v. Chr. den Thron. Mit ihm begann das sogenannte Neubabylonische Reich. Er vereinigte die lokalen Volksstämme und verbündete sich mit den Medern, die das Erbe der Elamiter im Osten antraten. Die beiden Reiche schlossen in diesem Zusammenhang ein Bündnis. Außerdem heiratete der Sohn Nabopolassars die Enkelin des Mederkönigs. Durch den Bündnisvertrag war der Weg nach Ninive, der assyrischen Hauptstadt, frei. Sie konnte 612 v. Chr. nach einer dreimonatigen Belagerung eingenommen werden. Bis zum Jahr 610 v. Chr. wurden auch die restlichen versprengten assyrischen Heeresteile gänzlich aufgerieben. Nach Nabopolassars Tod trat Nebukadnezar II. (605–562 v. Chr.) die Thronfolge an. Er entwickelte außerordentliche Fähigkeiten als Staatsmann, Heerführer, Friedensstifter und Bauherr. Nebukadnezar ließ die Tempel in allen Städten des Landes wieder aufbauen, errichtete Kanäle, die sogenannte Medische Mauer und die Prozessionsstraße mit dem Ischtar-Tor. Mit Syrien und Jehuda führte Nebukadnezar Krieg. Die unterworfenen Länder wurden tributpflichtig und hatten hohe Abgaben an Babylon abzuliefern. Jehuda versuchte mehrere Aufstände, die nach ihrer Niederschlagung zu einer zweimaligen Eroberung und schließlich 587 v. Chr. zur vollständigen Zerstörung Jerusalems und des Tempels Salomons, des höchsten Heiligtums der Juden, führten. Teile der Bevölkerung wurden in das babylonische Exil geführt, das erst in der Perserzeit aufgegeben wurde. Im Jahr 562 v. Chr. starb Nebukadnezar nach 40 Regierungsjahren. Der rasche Niedergang des babylonischen Reichs begann. In kurzer Folge wechselten sich die Nachfolger ab. Amel-Marduk, der Sohn Nebukadnezars, folgte auf den Königsthron. Nach nur zwei Jahren wurde Amel-Marduk bei einem Aufstand getötet und der babylonische General Nergal-šarra-usur bestieg den Thron. Starke Streitigkeiten mit der Priesterschaft führten dazu, dass sich 556 v. Chr. Nabonid des Throns bemächtigte. Nabonid war Anhänger des Gottes Sin und wollte die Macht der Marduk-Priesterschaft eindämmen. Das brachte ihm heftige Auseinandersetzungen bei der Neuordnung des Landwirtschafts- und Pachtsystems ein. Nabonid überließ den Schutz des Reiches seinem Sohn Belsazar und zog sich in die Oase Tayma zurück, 1000 Kilometer entfernt von Babylon. Dadurch kontrollierte er zwar die wichtigen Handelswege und konnte wirtschaftlichen Druck auf Ägypten ausüben. Gleichzeitig fielen jedoch durch die Abwesenheit des Königs die traditionsreichen Neujahrsfeste in Babylon und damit auch die Verehrung des Gottes Marduk aus. Priester und Volk wandten sich daher von Nabonid ab. Nachdem die Perser die Lydier bezwungen hatten, war Babylonien vom Persischen Reich eingeschlossen und wurde 539 v. Chr. von Kyros II. nach einer kurzen militärischen Auseinandersetzung besiegt. Folgezeit. Nach dem Sieg der Perser wurde Babylonien zu einer wichtigen Satrapie des Achämenidenreiches. Die aramäische Sprache wurde Amtssprache. Die Wissenschaftler nutzten weiterhin die akkadische Sprache und Schrift. Viele Gelehrte aus Ägypten, Persien, Indien und Griechenland kamen, um ihr Wissen zu erweitern. Im 5. Jahrhundert v. Chr. errechneten die Astronomen Babylons das Sonnenjahr und entwickelten im Jahr 410 v. Chr. das erste Horoskop. Während dieser Zeit wurde aus den Astrallehren der Babylonier die chaldäische Astrologie entwickelt, die später den Boden für die hellenistische bildete. Alexander der Große traf 333 v. Chr. auf die persischen Streitkräfte und besiegte sie in den Schlachten von Issos und Gaugamela. Das Perserreich der Achämeniden wurde anschließend in das Alexanderreich annektiert. Die Griechen tolerierten die babylonische Kultur und erweiterten sie um das Theater und zusätzliche Errungenschaften der griechischen Zivilisation. Nach dem Tode Alexanders des Großen verwüsteten Kriege seiner zerstrittenen Heerführer das gesamte Gebiet. Plünderungen und Zerstörungen führten zu einer Hungersnot. Nach Verdrängung der griechisch-makedonischen Seleukiden übernahmen die iranischen Parther die Macht in Babylonien gegen Ende des 2. Jahrhunderts v. Chr.
651
175404
https://de.wikipedia.org/wiki?curid=651
Babylonische Sprache
652
13625
https://de.wikipedia.org/wiki?curid=652
Babylonisch
Babylonisch bezeichnet
653
1740224
https://de.wikipedia.org/wiki?curid=653
Belgische Euromünzen
Die belgischen Euromünzen sind die in Belgien in Umlauf gebrachten Euromünzen der gemeinsamen europäischen Währung Euro. Am 1. Januar 1999 trat Belgien der Eurozone bei, womit die Einführung des Euros als zukünftiges Zahlungsmittel gültig wurde. Umlaufmünzen. Alle Münzen wurden bis 2017 in der "Monnaie Royale de Belgique / Koninklijke Munt van België / Königlichen Belgischen Münzprägeanstalt" in Brüssel geprägt, seit 2018 werden sie in der niederländischen Prägestätte "Koninklijke Nederlandse Munt" in Utrecht gefertigt. Erste Prägeserie (1999–2007). Alle acht Münzen haben das gleiche Motiv: das Porträt von König Albert II. und sein königliches Monogramm. Das Design enthält auch die zwölf Sterne der EU und das Prägejahr. Wie die meisten Euroländer prägte Belgien bereits ab 2007 seine Euromünzen mit der neu gestalteten Vorderseite (neue Europakarte). Der Entwurf der Bildseite stammt von Jan Alfons Keustermans. Zweite Prägeserie (2008). Bereits 2007 hatte Belgien die neu gestaltete gemeinsame Vorderseite (neue Europakarte) auf seine Münzen geprägt. 2008 begann Belgien mit der von der EU angeregten Neugestaltung der Euromünzen. Die nationale Seite der Münzen der zweiten Prägeserie 2008 unterscheiden sich von denen der ersten durch folgende Details: Das Porträt von König Albert II. wurde aktualisiert und rechts davon befinden sich sein Monogramm sowie das Landeskennzeichen "BE". Die Jahreszahl steht nun unterhalb des Porträts, zusammen mit dem Zeichen der belgischen Prägestätte in Brüssel – Erzengel Michael mit einem Kreuz als Helmzier – und einer Waage für den Münzmeister Romain Coenen. Der Entwurf der zweiten Prägeserie stammt von Luc Luycx. Unterschiede in der Gestaltung sind am Wangenknochen sowie am Haarwirbel neben der Stirn des Königs zu erkennen. Dritte Prägeserie (2009–2013). Für die Prägungen 2009–2013 wurde das Porträt von König Albert II. noch einmal verändert, und zwar wurde wieder, wie bei der ersten Prägeserie, der Entwurf von Jan Alfons Keustermans verwendet. Nach den am 19. Dezember 2008 von der Kommission der Europäischen Gemeinschaften für die nationalen Seiten von Euro-Umlaufmünzen empfohlenen Leitlinien ist es gestattet, Münzmotive, die das Staatsoberhaupt darstellen, alle fünfzehn Jahre zu aktualisieren, um Änderungen im Erscheinungsbild des Staatsoberhaupts Rechnung zu tragen. Der neuen Leitlinie nach kam die Aktualisierung 2008 jedoch zu früh und war deshalb zu revidieren. Die übrigen Änderungen der Neugestaltung von 2008 wurden dagegen beibehalten. Das Amt des Münzmeisters hatte 2009 bis 2012 Serge Lesens inne, so dass die Kursmünzen von 2010 bis 2012 eine Feder als sein Münzmeisterzeichen tragen. Ab 2013 wird nun eine Katze für den amtierenden Münzmeister Bernard Gillard auf die Münzen geprägt. Vierte Prägeserie (seit 2014). Seit Albert II. am 21. Juli 2013 abgedankt hat, ist sein Sohn Philippe König der Belgier. 1- und 2-Cent-Münzen. Das belgische Kabinett stimmte am 7. Februar 2014 einem Gesetzentwurf zu, der vorsieht, bei auf 1, 2, 6 oder 7 Cent lautenden Gesamtbeträgen auf ein Vielfaches von 5 Cent abzurunden, bei 3, 4, 8 oder 9 Cent aufzurunden. Diese Maßnahme tritt jedoch erst nach Vorliegen eines entsprechenden königlichen Dekrets in Kraft. Sammlermünzen. Es folgt eine Auflistung aller Sammlermünzen Belgiens bis 2021.
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Balearische Inseln
Die Balearischen Inseln (, ) oder Balearen sind eine Inselgruppe im westlichen Mittelmeer und eine autonome Gemeinschaft Spaniens. Zur autonomen Gemeinschaft gehören neben den Gymnesischen Inseln Mallorca, Menorca und Cabrera auch die "Pityusen" mit Ibiza und Formentera. Neben diesen fünf bewohnten Inseln umfasst die autonome Gemeinschaft der Balearen auch 146 unbewohnte Inseln. Zu ihnen gehören die unter Naturschutz stehenden Felseninseln Dragonera und Pantaleu. Größte Insel ist Mallorca mit 3.603,716 Quadratkilometern. Der Name der Inselgruppe leitet sich vom altgriechischen "bállein" „werfen“ ab, womit die in der Antike gefürchteten Steinschleuderer "Els Foners Balears", griechisch "Baliarides", der Inseln gemeint waren, die sich als Söldner auf den Kriegsschauplätzen der Antike verdingten. Geologie. Unter geologischen Gesichtspunkten betrachtet, sind die Balearen die östliche Verlängerung der Betischen Kordillere. Sie sind damit der Iberischen Kleinplatte zuzurechnen. Die lokale Geologie der Balearen ist stark von der alpidischen Gebirgsbildung geprägt. Im Oligozän – vor etwa 30 Millionen Jahren – erfuhr das Betische Orogen seine Haupthebungsphase. Nachfolgend, ab der Oligozän-Miozän-Wende, wurden die Balearen durch Dehnungstektonik von der Iberischen Platte abgerissen, und die heutige geographische Situation bildete sich heraus. Der Grabenbruch zwischen dem Nordwestrand der Inselkette und dem spanischen Festland wird als "Valencia-Trog" (span.: "") bezeichnet. Er ist die geologische Entsprechung des Balearen-Meeres. Auf Menorca sind mit devonischen und karbonischen Gesteinen die ältesten Gesteine der Balearen zu finden, die schon während der Variszischen Gebirgsbildung einmal gefaltet wurden. Geschichte. Vorgeschichte. Die Urbevölkerung der Balearen ist vermutlich von der Iberischen Halbinsel oder dem heutigen Südfrankreich aus eingewandert bzw. ist per Schiff übergesetzt; erste Spuren menschlicher Siedlungen stammen aus dem 4. Jahrtausend vor Christus. Der erste menschliche Fund stammt von iberischen Steppennomaden ab und wird auf rund 2400 v. Chr. datiert. Einzelne Kulturphasen, darunter das Talayotikum, sind inzwischen gut erforscht. Altertum. In der Antike hießen die Inseln "Balearides" oder "Gymnesiae", man verstand darunter die Inseln Mallorca (Balearis major) und Menorca (Balearis minor). Sie waren zuerst von den Phöniziern abhängig. Die Einwohner (Balearici) zeichneten sich als Krieger besonders durch ihre Geschicklichkeit im Schleudern mit an zwei Enden spitz geformten Bleigeschossen aus und dienten zahlreich in den karthagischen wie später in den römischen Heeren. Durch seeräuberische Unternehmungen erregten die Bewohner den Zorn der Römer; der Konsul Quintus Caecilius Metellus, nachmaliger „Balearicus“, eroberte sie 123 v. Chr. und siedelte dort romanisierte Südspanier an, die die Städte Palma und Polentia auf Mallorca gründeten. Im Jahre 425 n. Chr. nahmen die Vandalen unter Gunderich die Inseln in Besitz; nach der Vernichtung des Vandalenreiches waren sie ein Teil der byzantinischen Provinz Spania. Mittelalter. Seit der Mitte des 8. Jahrhunderts übte das Fränkische Reich eine Art Schutzherrschaft über die politisch wieder weitgehend selbstständig gewordenen Inseln aus und zu Beginn des 10. Jahrhunderts wurden sie dem Kalifat von Córdoba einverleibt. Mallorca und Ibiza wurden 1229 bzw. 1235 unter Jakob I. von Aragón (katalanisch "Jaume I.") erobert, Menorca unter seinem Nachfahren Alfons III. Die Balearen gehörten nun ebenso wie Katalonien zur Krone Aragon. Zeitweise bildeten sie zusammen mit Teilen Kataloniens einen von einer Nebenlinie des aragonesischen Königshauses regierten selbständigen Staat, das Königreich Mallorca. 1344 eroberte Peter IV. von Aragón das Königreich Mallorca. Nun wurden die Inseln wieder mit den Stammländern der Dynastie vereinigt. Durch die Vereinigung der Kronen von Aragonien und Kastilien wurden sie schließlich Teil der spanischen Monarchie. 18. Jahrhundert. 1708 wurde Maó von den Briten erobert. Der Friede von Utrecht (1713), mit dem der spanische Erbfolgekrieg beendet wurde, sprach Menorca dem britischen Empire zu. Dieses musste im Frieden von Versailles (1783) die Insel an Spanien zurückgeben, bis 1802 blieb sie jedoch britisch besetzt. 19. und 20. Jahrhundert. 1833 wurde die spanische Provinz der Balearischen Inseln gegründet. Im ausgehenden 19. Jahrhundert gab es Ansätze einer regionalen Unabhängigkeitsbewegung, die sich jedoch nicht festigen konnte. Bereits 1931 wurde für die Provinz der Autonomie-Status vorgeschlagen, den sie allerdings erst 1983, nach dem Ende der Franco-Diktatur, erhielt. Am 1. März 1983 trat das Autonomiestatut für die Balearen in Kraft. Anlässlich dieses Ereignisses wurde der 1. März als "Dia de les Illes Balears" zum Feiertag erklärt. 21. Jahrhundert. Im Zuge der Eurokrise sind seit etwa 2011 die autonomen Regionen Spaniens im öffentlichen Fokus in Spanien und in anderen Ländern der Eurozone, der EU und des IWF. 2012 bekundete die Region Katalonien, stärker von Spanien unabhängig werden zu wollen. Die Region Katalonien ist wie die Region Balearen relativ wohlhabend und trotzdem relativ hoch verschuldet. Am 19. Oktober 2012 wurde bekannt, dass die Region Balearen bei der Zentralregierung in Madrid einen Hilfskredit aus deren Hilfsfonds (Fondo de Liquidez Autonómica) in Höhe von 355 Mio. Euro beantragt hat. Vor den Balearen hatten bereits sechs der insgesamt 17 Regionen um Hilfe gebeten, namentlich Katalonien, Andalusien, Valencia, Kastilien-La Mancha, die Kanarischen Inseln und Murcia. Als achtes Land tat dies kurz darauf Asturien. Der Hilfsfonds für finanzschwache Regionen umfasst insgesamt 18 Milliarden Euro. Mit den bisher vorliegenden Hilfsgesuchen würden mehr als 90 Prozent der Mittel aufgebraucht. Geographie. Die gebirgige Inselgruppe der Balearen (Höchster Berg: Puig Major, 1445 Meter) liegt ca. 90 bis 200 km östlich bzw. südöstlich der Iberischen Halbinsel im westlichen Mittelmeer. Die drei großen Hauptinseln Ibiza, Mallorca und Menorca sind über fast 300 Kilometer entlang einer südwest-nordost verlaufenden Achse aufgereiht. Zwischen der Inselgruppe und dem katalanischen Festland erstreckt sich das mehr als 2000 Meter tiefe Balearen-Meer, wohingegen die Meeresstraße zwischen Ibiza und dem Cabo de la Nao (Valencia) nicht viel tiefer als 1000 Meter ist. Die Meerenge zwischen Mallorca und Menorca wird Menorcakanal genannt. Bevölkerung. Übersicht. Die Einwohnerzahl beläuft sich auf Personen (Stand: ), das entspricht etwas mehr als 2,3 % der spanischen Gesamtbevölkerung. Rund 79 % davon, 869.067 Einwohner, fallen auf die mit Abstand größte Insel Mallorca. Die Balearen sind für spanische Verhältnisse recht dicht besiedelt. Die Bevölkerungsdichte ist mit Einwohnern pro Quadratkilometer mehr als doppelt so hoch wie im Landesdurchschnitt (83 Einw./km²) und auch im Vergleich zur Europäischen Union (119 Einw./km²) beachtlich. Dazu kommen etwa zehn Millionen Touristen, die jährlich die Balearen besuchen. Der Großteil davon, rund neun Millionen, reisen ausschließlich auf die Insel Mallorca. 167.751 Ausländer sind auf den Balearen ansässig, was 16,8 % der Gesamtbevölkerung entspricht. Deutsche Bevölkerungsanteile. Laut der Bevölkerungserhebung aus dem Jahre 2006 waren 26.293 Deutsche mit Wohnsitz auf den Balearen offiziell gemeldet (zum Vergleich: 17.637 Briten). Sie stellen etwa 16 % aller auf den Balearen lebenden Ausländer und rund 31 % der aus Europa stammenden Zuwanderer. Unter Berücksichtigung der saisonal bewohnten Zweitwohnungen geht man sogar davon aus, dass tatsächlich mehr als 60.000 Deutsche permanent oder temporär auf den Balearen leben, rund 80 % davon auf Mallorca. Sprachen. Amtssprachen der Balearen sind "gemäß Artikel 3 des Autonomiestatuts" Spanisch "(castellano)" und Katalanisch "(català)". Zugleich besteht ein Diskriminierungsverbot hinsichtlich der Verwendung einer dieser Sprachen und ein Fördergebot zur Schaffung der Voraussetzung, beide Sprachen zu erlernen und zu benutzen. Darüber hinaus gibt es inselspezifische Dialekte des Katalanischen wie Mallorquinisch, Menorquinisch und Ibizenkisch, die manchmal unter der Bezeichnung Balearisch zusammengefasst werden. Die letzte Umfrage der Regionalregierung zum Sprachgebrauch war eine Stichprobenerhebung 2003, die sich an Personen ab 15 Jahren richtete. Zur Frage nach der Muttersprache gaben 47,7 % Spanisch, 42,6 % Katalanisch, 1,8 % beide und 7,9 % der Befragten keine von beiden an. Weiter gaben 93,1 % der Befragten an, Katalanisch zu verstehen, 74,6 % es sprechen, 79,6 % es lesen und 46,9 % es schreiben zu können. Bildungswesen. Die Balearischen Inseln verfügen über 394 Schulen, davon sind 263 Schulen in öffentlicher Trägerschaft. 112 Schulen sind Vertragsschulen und 20 Schulen sind reine Privatschulen. Im Schuljahr 2002/03 wurden rund 150.000 Schüler unterrichtet. Darüber hinaus gibt es 17 Einrichtungen zur Erwachsenenbildung auf den Balearen. Neben der Nationalen Universität für Fernlehre (UNED) bietet vor allem die Universität der Balearen (UIB) ein breites Ausbildungsspektrum mit Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften. Im Studienjahr 2002/2003 waren 14.323 Studenten in 15 verschiedene Fächersparten an der UIB immatrikuliert. Seit 1995 ist auf dem Gelände der UIB in Palma auch die Hotelfachschule der Balearen untergebracht. Politik. Status. Die Balearen sind als eine der 17 autonomen Gemeinschaften "(comunidades autónomas)" Spaniens teilautonom. Als gemeinsame Institution verfügen die Balearen über ein Parlament, eine Regierung "(Govern)" und einen Präsidenten der autonomen Gemeinschaft. Die Verwaltung der einzelnen Inseln obliegt den jeweiligen Inselräten "(consells insulars)". Die vier großen bewohnten Inseln (Mallorca, Menorca, Ibiza, Formentera) verfügen über einen eigenen Inselrat, Formentera erst seit 2007. Cabrera mit nur 20 Einwohnern gehört administrativ zur Gemeinde Palma auf der größten Insel Mallorca. Die untere Verwaltungsebene wird von den 67 Gemeinden mit Verwaltungssitz "(municipis)" gebildet, in denen jeweils ein Gemeinderat besteht. Die wichtigsten Kompetenzen der autonomen Gemeinschaft sind Bildung und Gesundheit. Außerdem besitzt sie Zuständigkeiten u. a. in den Bereichen Umweltschutz, Tourismus, Soziales, Industrie, Handel und Energieversorgung, ihre Kompetenzen finden sich in den Art. 30 bis 38 des Autonomiestatuts. Nach Art. 33 besteht auch die Möglichkeit der Bildung einer eigenen Polizei "(Policía Autonómica)," was bis jetzt allerdings noch nicht umgesetzt wurde. Politische Institutionen. Parlament. Das Parlament repräsentiert das Volk der Balearen, übt die gesetzgebende Gewalt aus, verabschiedet den Haushalt, wählt den Präsidenten und kontrolliert die Regierung. Zusätzlich wählt das Parlament aus seiner Mitte einen Parlamentspräsidenten. Die Wahlen sind geheim und erfolgen nach dem Prinzip der Verhältniswahl. Die Wahlperiode beträgt vier Jahre. Die ersten Wahlen zum Parlament der Balearen fanden am 8. Mai 1983 statt. Der Sieger war damals der Partido Popular (PP). Präsident. Der "president de les Illes Balears" wird vom Parlament aus dessen Mitgliedern gewählt und anschließend vom König ernannt (Art. 54 des Autonomiestatuts). Der Präsident ernennt und entlässt die Regierungsmitglieder, leitet und koordiniert die Regierungspolitik und ist der höchste Repräsentant der autonomen Gemeinschaft nach außen, als der Vertreter des spanischen Staates auf den Balearen. Seit dem 2. Juli 2015 ist Francina Armengol (PSOE-PSIB) Präsidentin der autonomen Gemeinschaft. Sie stützt sich auf eine gemeinsame Koalition von PSOE-PSIB, Podemos und MÉS. Regierung. Die Exekutive der Balearen wird gemäß dem Autonomiestatut von dem "Govern de les Illes Balears" gebildet, der ein Kollegialorgan ist, welches sich aus dem Präsidenten, gegebenenfalls eines Vizepräsidenten und den Regierungsräten oder Ministern "consellers" zusammensetzt. Die Arbeitsabläufe und Organisationsstrukturen innerhalb der Regierung werden durch das Parlamentsgesetz geregelt. Der "Govern" erstellt den Haushalt und verfügt zur Durchführung seiner Verwaltungsaufgaben über die Befugnis, Normen, also über die Rechtsverordnung, und Verwaltungsakte zu erlassen, die im "Butlletí Oficial de les Illes Baleares" veröffentlicht werden. Inselräte. Die "consells insulars" von Mallorca, Menorca, Ibiza und Formentera sollen die Eigenständigkeit der jeweiligen Inseln sowie deren besondere Interessen wahren und vertreten. Ein Aufgabenkatalog wurde im Art. 70 und 71 des Autonomiestatuts festgeschrieben und garantiert ihnen insoweit eine Reihe von Verwaltungszuständigkeiten hinsichtlich des lokalen Gemeinwesens. Formentera besteht nur aus einer Gemeinde und dort ist der "consell insular" gleichzeitig der Gemeinderat. In die Kompetenz der "consells insulars" fällt vor allem der Bausektor. Sie sind zuständig für Flächennutzung, Städte- und Straßenbau. Eine Ausnahme beim Straßenbau bilden die Autobahnen, die von der Zentralregierung in Madrid finanziert wurden. Weitere Aufgaben der Inselräte sind die Abfallentsorgung, der Jugendschutz, der Betrieb von Altenheimen und die Verwaltung des spanischen "TÜVs". Wirtschaft. Mit dem Ausbau der Tourismuswirtschaft ging eine starke Steigerung der Wirtschaftskraft der balearischen Inseln einher. Das Pro-Kopf-Einkommen der Einwohner der Balearen ist eines der höchsten in ganz Spanien und beträgt etwa 110 % des Landesdurchschnitts. Im Vergleich mit dem Bruttoinlandsprodukt der EU ausgedrückt in Kaufkraftstandards erreichte die Region im Jahr 2015 einen Index von 93 (EU-28:100). Die Arbeitslosenquote lag 2005 bei 7,2 %. Während der Finanzkrise ab 2007 stieg sie wie im übrigen Spanien stark an. Im Jahre 2017 betrug die Arbeitslosenquote 12,4 %. Der mit weitem Abstand größte Anteil an der Wertschöpfung wurde nach einer Statistik des Jahres 2005 mit rund 81 % durch den Dienstleistungssektor erwirtschaftet, allein 48 % (11,420 Mio. Euro) entfielen auf den Tourismusbereich. Dies stellt die höchste Quote aller autonomen Gemeinschaften Spaniens dar. Etwa 76,5 % der ansässigen Unternehmen und 73,4 % der arbeitenden Bevölkerung waren im Dienstleistungsbereich tätig. Zentraler Beschäftigungsfaktor ist der Tourismus mit einer Beherbergungskapazität von insgesamt über 410.000 Plätzen. Im Jahr 2007 besuchten 13,27 Mio. Touristen die Balearen, 5,5 % mehr als im Jahr zuvor. 29,4 % (3,9 Mio.) der Touristen kamen aus Deutschland. Insgesamt stieg die Touristenzahl seit 1993 (6,8 Mio.) um 95,1 %. Von den Beschäftigten der Inseln bezogen in der Hochsaison etwa 39,5 %, in der Nebensaison 31,5 % ihre Einkünfte direkt aus dem Tourismus. Von der Zunahme des Tourismus hat vor allem auch die Bauwirtschaft profitiert. Einhergehend mit dem starken Bevölkerungswachstum durch Zuzug auch aus anderen Landesteilen Spaniens stieg der Bedarf an Wohngebäuden deutlich an. Inzwischen existieren auf den Balearen über eine halbe Million Wohneinheiten. Der Anteil der Baubranche an der Gesamtwertschöpfung lag im Jahr 2005 bei etwa 10,4 %, der Anteil der in diesem Bereich tätigen Unternehmen bei 16,3 %. Von etwa 2002 bis 2007 gab es auf den Balearen (wie in ganz Spanien) eine Immobilienblase. Der Industriesektor war überwiegend durch kleinere und mittlere Betriebe geprägt, die vor allem Bedarfsgegenstände wie Schuhe, Modeschmuck, Lederwaren und Textilien herstellen, nicht zuletzt für den Export. Ein beachtlicher Teil der Industrieexporte entfiel auf die Produktsparten Maschinen und Metallwaren. Auf den Industriebereich entfielen 2005 etwa 7,5 % der Gesamtwertschöpfung der Balearen bei 6,2 % der Zahl der Betriebe an den hier insgesamt tätigen Unternehmen. Der Anteil des Agrarsektors am Bruttoinlandsprodukt lag bei 1,1 % mit 0,9 % der ansässigen Unternehmen.
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Balkankrieg
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Buddy Holly
Buddy Holly (* 7. September 1936 als "Charles Hardin Holley" in Lubbock, Texas; † 3. Februar 1959 bei Mason City, Iowa) war ein US-amerikanischer Rock-’n’-Roll-Musiker und -Songschreiber. Zu seinen bekanntesten Songs gehören "That’ll Be the Day," "Peggy Sue," "Oh Boy!", "Everyday" und "It Doesn’t Matter Anymore". Biografie. Geboren und aufgewachsen in Lubbock im westlichen Texas trat Holly (damals noch mit bürgerlichem Nachnamen "Holley") bereits im Alter von 13 Jahren bei kleineren Veranstaltungen auf. Er war das jüngste von vier Kindern und entstammte einer musikalischen Familie. Mit 15 Jahren spielte er bereits Gitarre, Banjo und Mandoline und bildete mit seinem Freund Bob Montgomery das Duo „Buddy and Bob“. Anfänge. In diese Zeit fallen auch Hollys erste Versuche als Songschreiber mit Montgomery sowie ab 1952 zahlreiche Demo-Aufnahmen eigener Kompositionen der beiden. 1954 und 1955 hielten sie sogar Sessions im Nesman Recording Studio in Wichita Falls, Texas ab, wo unter anderem die Montgomery-Kompositionen "Gotta Get You Near Me Blues", "Soft Place in My Heart" und "Door to My Heart" aufgenommen wurden. Ab 1955 spielten sie mit dem Bassisten Larry Welborn zusammen, der bald von Jerry Allison am Schlagzeug unterstützt wurde. Anfang des Jahres trat das Duo als Vorgruppe von Elvis Presley und Bill Haley auf, was einen bleibenden Eindruck auf den jungen Holly hinterließ. In dieser Zeit wurde er stark vom Blues und Rhythm and Blues beeinflusst und war der Meinung, dass diese beiden Genres mit Country-Musik vereinbar seien. Holly und Montgomery nannten ihre Musik daher auch „Western & Bop“. Im Herbst 1955 verließ Montgomery, der mehr in Richtung traditioneller Country-Musik tendierte, das Duo, komponierte aber weiterhin Songs mit Holly. Dieser spielte daraufhin weiter mit Allison und Welborn sowie mit Gitarrist Sonny Curtis und Bassist Don Guess. Zusammen mit Ben Hall traten Holly und die Band auch bei den Radiosendern KSEL und KDAV auf. Erste Erfolge. Buddy Hollys professionelle Karriere begann Ende 1955, als er von dem Talentsucher Jim Denny entdeckt wurde. Am 7. Dezember 1955 wurden im Nesman Recording Studio Demo-Aufnahmen gemacht, die zu Decca Records geschickt wurden. Seine ersten Aufnahmen für Decca Records sang Holly am 26. Januar 1956 unter Zeitdruck ein. Es begleiteten ihn Sonny Curtis an der E-Gitarre, der Studiomusiker Grady Martin an der Gitarre, Don Guess am Kontrabass und Jerry Allison am Schlagzeug. Aus dieser Session wurden das von Holly und Sue Parrish komponierte "Love Me" sowie Ben Halls "Blue Days – Black Nights" veröffentlicht. Das Billboard Magazine urteilte in seiner Ausgabe vom 21. April 1956 wie folgt über "Love Me": "Cedarwood succumbs to rock and roll, too. If the public will take more than one Presley or Perkins, as it well may, Holly stands a strong chance." Die B-Seite wurde ähnlich gut bewertet: "Warbler, tune, guitar, etc., are patterned very closely after Elvis Presley. Good material and fine production on both sides. Should do fine." Trotz der vielversprechenden Voraussagen von Billboard erreichte die Single nicht die Charts. 1956 spielten Holly und seine Band entweder in Bradley’s Studio A oder in Norman Pettys Studio in Clovis, New Mexico zahlreiche weitere Songs ein, darunter die erste Version von dem späteren Hit "That’ll Be the Day". Diese Version, die deutlicher dem Rockabilly entsprach, wurde von Decca jedoch zurückgehalten, da man aufgrund von Hollys heiserer Stimme und einem zu dominanten Echo-Effekt mit der Aufnahme unzufrieden war. Ende 1956 veröffentlichte Decca Hollys zweite Single "Modern Don Juan" zusammen mit "You Are My One Desire". Aufgrund des fehlenden Erfolges verlor Decca im weiteren Verlauf des Jahres das Interesse an einer Zusammenarbeit und verlängerte den Vertrag nicht. Holly suchte daraufhin nach einem für seine musikalischen Ideen geeigneten Produzenten. Seit dem Frühjahr hatten er und seine Band in Norman Pettys Studio zahlreiche Demobänder aufgenommen, und fortan entwickelte sich aus der Zusammenarbeit mit Petty eine neue Perspektive für die Band. Gitarrist Sonny Curtis wurde Ende 1956 gegen Niki Sullivan ausgewechselt, während Don Guess erst von Larry Welborn am Bass vertreten und später im Frühjahr 1957 durch Joe B. Mauldin ersetzt wurde. Am 25. Februar 1957 spielten Holly am Mikrofon und an der E-Gitarre und seine Band, bestehend aus Larry Welborn am Bass und Jerry Allison am Schlagzeug, erneut das Stück "That’ll Be the Day" ein, das Petty für vielversprechend hielt. Die Titelzeile entnahm Holly dem im Vorjahr erschienenen sehr erfolgreichen John-Ford-Western "The Searchers" (deutsch: "Der Schwarze Falke"), in welchem Hauptdarsteller John Wayne diesen Ausspruch mehrmals tätigt (deutsch: „Der Tag wird kommen“). Als B-Seite wurde Hollys Eigenkomposition "I’m Looking for Someone to Love" aufgenommen. Diese Aufnahmen waren zunächst nicht zur Veröffentlichung gedacht, gelangten aber dennoch in die Produktion und auf den Markt, da man sie für Master-Bänder hielt. Durch Murray Deutsch, einen befreundeten Verlagsmitarbeiter Pettys, gelangten die Bänder zu Bob Thiele, einem leitenden Angestellten von Coral Records, der ebenfalls Potenzial in den Aufnahmen sah. Jedoch gab es vor der Veröffentlichung einige Hürden: Hollys Decca-Vertrag erlaubte es ihm nicht, Stücke einzuspielen, die er bereits für Decca aufgenommen hatte. Zudem war Coral ein Tochterunternehmen von Decca, so dass die Veröffentlichung der Single schnell hätte gestoppt werden können. Trotz alledem konnte Thiele sich durchsetzen und "That’ll Be the Day" mit "I’m Looking for Someone to Love" im Mai 1957 auf Brunswick Records erscheinen, einem weiteren Tochterlabel von Decca, das sich eher auf Jazz und Rhythm and Blues konzentrierte. Jedoch wurde die Platte unter dem Bandnamen The Crickets veröffentlicht, um Hollys Mitarbeit zu verschleiern und Decca zu täuschen. Auf den Namen für die Band sollen alle gemeinsam gekommen sein, weil über den Aufnahmen von leisen Musikpassagen in Pettys kleinem Studio immer das Zirpen von Grillen (engl. "crickets") zu hören war. Trotz der Namensänderung wurde Decca darauf aufmerksam, so dass sich ein Rechtsstreit anbahnte. Durchbruch. Im Sommer 1957 zeigte sich, dass Thiele recht behalten sollte und "That’ll Be the Day" zu einem Hit wurde. Nach einer guten Bewertung von Billboard im Juni („Fine vocal by the group on a well-made side that should get play. Tune is a medium-beat rockabilly. Performance is better than material.“) erreichte der Song Platz eins der Billboard Hot 100. Zu diesem Zeitpunkt wusste Decca bereits, dass Holly der Sänger war, konnte sich jedoch von Bob Thiele überzeugen lassen, ihn aus seinem Vertrag zu entlassen. Gleichzeitig veröffentlichte man nun auch die ältere, 1956 eingespielte Version von "That’ll Be the Day", um vom Erfolg Hollys zu profitieren. Da Petty vom kommerziellen Erfolg seiner Schützlinge überzeugt war, schlug er vor, spätere Schallplatten zweigleisig zu veröffentlichen. Thiele stimmte zu, und Holly bekam einen separaten Plattenvertrag mit Coral Records, so dass nun folglich Aufnahmen bei Brunswick unter dem Namen The Crickets und bei Coral unter Hollys Namen veröffentlicht wurden. Petty wurde zeitgleich mit dem Erfolg von "That’ll Be the Day" auch Manager der Crickets. In ihm hatte Holly zudem jemanden gefunden, der für innovative Studioexperimente offen war. Holly arbeitete zum Beispiel gerne mit der Technik des Overdubbing oder ersetzte, wie auf "Everyday" zu hören ist, das Schlagzeug durch das Schlagen der Hände auf die Oberschenkel und ein Glockenspiel. Die nächste erfolgreiche Produktion folgte am 29. Juni 1957 in Pettys Studio mit "Peggy Sue". Veröffentlicht im späten Sommer desselben Jahres, erschien der Song zusammen mit "Everyday" nun unter Hollys Namen auf dem Coral-Label und erreichte im Anschluss Platz drei der Billboard-Charts. Fast auf Anhieb waren "That’ll Be the Day" und "Peggy Sue" im Sommer 1957 weltweite Erfolge geworden. Es folgten erfolgreiche Tourneen und mehrere Fernsehauftritte in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien. 1958 heiratete Buddy Holly Maria Elena Santiago (* 1932), der er schon zur ersten Verabredung einen Heiratsantrag gemacht hatte. Kurz darauf trennte er sich von den Crickets und Norman Petty. Die anderen Gruppenmitglieder erhielten von ihm die Namensrechte und konnten somit weiterhin unter dem Namen Crickets auftreten. 1958 erschienen mit "It’s So Easy" und "Think It Over" noch zwei Crickets-Singles mit Buddy Holly. Als Solokünstler veröffentlichte Holly im selben Jahr "Rave On", "Early in the Morning" und "Well … All Right". Im Sommer 1958 erwarb Holly eine eigene Bandmaschine und produzierte seine Musik-Demos fortan selbst. Er plante, Schauspielunterricht zu nehmen, ein eigenes Musikstudio zu bauen, und begann als unabhängiger Produzent andere Künstler zu fördern. Im Oktober 1958 nahm Holly in New York vier Stücke mit Orchesterbegleitung auf: "True Love Ways", "Moondreams", "Raining in My Heart" und "It Doesn’t Matter Anymore". Im Dezember 1958 und Januar 1959 bereitete sich Holly auf ein neues Album vor und komponierte eine Reihe von Liedern, von denen er Demoversionen aufnahm, so die Stücke "Peggy Sue Got Married", "That’s What They Say", "Crying Waiting Hoping" und "Learning the Game". Im Januar 1959 begann er mit seiner neuen Band (zu der auch der Bassist Waylon Jennings gehörte) eine US-Tournee mit anderen bekannten Künstlern, darunter Ritchie Valens, The Big Bopper (Künstlername von Jiles Perry Richardson) und Frankie Sardo. Sein letztes Konzert spielt er am Abend vor seinem Tod im „Surf Ballroom“ in Clear Lake (Iowa). Tod. Am 3. Februar 1959 starben Holly, Valens und The Big Bopper auf dem Weg zu einem Auftritt in Moorhead bei einem Flugzeugabsturz in der Nähe von Mason City. Die Unfallursache war vermutlich ein Instrumentenablesefehler des Piloten Roger Peterson, der dabei ebenfalls ums Leben kam. 1971 setzte Don McLean diesem Unglück in seinem Lied "American Pie" ein Denkmal, als er diesen Tag mit der Textzeile „The Day the Music Died“ den Tag nannte, „an dem die Musik starb“. Die beim Absturz verstreuten Habseligkeiten, darunter Hollys blutige FAOSA-Brille, wurden von der Bundespolizei sichergestellt, um die Absturzursache klären zu können. Sie gerieten in Vergessenheit und wurden den Familien der Absturzopfer erst Jahre später übergeben. Die laufende Tournee wurde von Jimmy Clanton und Frankie Avalon beendet. Holly wurde vier Tage später in seiner Heimatstadt beigesetzt. Am 24. April 1959 erreichte sein Song "It Doesn’t Matter Anymore" die Spitze der britischen Charts und blieb dort drei Wochen lang. 1986 wurde Holly posthum in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen. Equipment. Die Gitarre, mit der Buddy Holly meistens in Verbindung gebracht wird, ist die Fender Stratocaster. Er besaß fünf verschiedene Exemplare, von denen ihm die meisten kurz nach ihrem Erwerb gestohlen wurden. An akustischen Gitarren setzte er eine Gibson J-45, eine Gibson „Jumbo“, sowie eine Guild Navarre ein. Holly verwendete auf der Bühne und im Studio ausschließlich Verstärker von Fender. Anfangs benutzte er einen Fender Pro, später wechselte er zum deutlich stärkeren Fender Bassman, der Pro kam aber noch bei kleineren Gigs zum Einsatz. Kurz vor seinem Tod bekam er von Fender zwei „Twin“-Verstärker im Zuge eines Endorser-Vertrages geschenkt. Als Mikrofon setzte er live oft ein Shure 55 ein, im Studio dagegen ein Modell von Telefunken. Postumer Ruhm. Hollys Heimatstadt Lubbock reagierte erst spät auf die Tatsache, dass sie einen der herausragendsten Künstler der Rock-’n’-Roll-Epoche hervorgebracht hat. Inzwischen gibt es in Lubbock einen Buddy Holly Park, eine Buddy Holly Avenue und das Buddy Holly Center. Dort ist ein Museum entstanden, das einerseits viele Erinnerungsstücke zum Thema Buddy Holly zeigt, andererseits aber auch Begegnungsstätte für Fans zu verschiedenen Anlässen ist. Ferner gibt es in Lubbock eine Themenstadtführung und eine Buddy-Holly-Statue. Sein Grab auf dem Friedhof in Lubbock ist eine Pilgerstätte für Fans. An der Absturzstelle des Flugzeuges, einer damals zwölf Jahre alten Beechcraft Bonanza, in der Holly, seine Freunde und der Pilot Roger Peterson starben, ließ Holly-Fan Ken Paquette ein Edelstahlmonument aufstellen, das aus einer Gitarre und drei Schallplatten besteht. 1988 gab die Deutsche Bundespost eine Buddy-Holly-Briefmarke heraus. Am 7. September 2011 wurde Holly mit einem Stern auf dem Hollywood Walk of Fame geehrt. An der Zeremonie nahmen unter anderem Hollys Witwe sowie Phil Everly teil. Der "Rolling Stone" listete Holly auf Rang 13 der 100 größten Musiker, auf Rang 29 der 100 größten Songwriter, auf Rang 48 der 100 größten Sänger und auf Rang 80 der 100 größten Gitarristen aller Zeiten. Damit ist er einer von acht Künstlern, die in allen diesen vier Listen vertreten sind. Gedenkveranstaltungen. Jedes Jahr finden zahlreiche Gedenkveranstaltungen statt, wie beispielsweise die "Buddy Holly Week", die Paul McCartney organisiert hatte oder die "Winter Dance Party", die alle Stationen Hollys letzter Tournee einbezieht und im Surf Ballroom in Clear Lake (Iowa) endet, wo sein letzter Auftritt stattfand. Auch das "Clovis Music Festival" und die "Fifties in February" erinnern an Buddy Holly. Film, Musical und Tribute-Shows. Buddy Hollys Leben wurde verfilmt, wofür Gary Busey für einen Oscar nominiert wurde. Die Geschichte wurde als Musical u. a. am Broadway und im Theater im Hafen Hamburg sowie im Colosseum Theater in Essen aufgeführt. Weitere Produktionen sind Shows wie "A Tribute to Buddy" und die "Buddy Holly Rock ’n’ Roll Show". Reminiszenzen anderer Künstler. Nach seinem Tod widmeten sich auch andere Künstler dem Thema Buddy Holly: Die Ärzte sangen über "Buddy Hollys Brille," Bernd Begemann den Titel "Buddy, nimm lieber den Bus", und Weezer schrieben einen Tribut-Song namens "Buddy Holly". Weitere Stücke über Holly sind Eddie Cochrans "Three Stars", Mike Berrys "Tribute to Buddy Holly", Alvin Stardusts "I Feel Like Buddy Holly", das von Mike Batt geschrieben wurde, Gyllene Tiders schwedischer Song "Ska vi älska så ska vi älska till Buddy Holly" oder Garland Jeffreys "Hail Hail Rock'n'Roll". Graham Nash nannte die Bewunderung für Buddy Holly als einen Grund für die Wahl des Bandnamens The Hollies. 2011 kam zum 75. Geburtstag eine CD "Listen To Me: Buddy Holly" mit Coverversionen seiner Lieder von bekannten Musikern wie Brian Wilson, Ringo Starr und Chris Isaak heraus. Terry Pratchett würdigt die Bedeutung von Buddy Holly für die Rock-’n’-Roll-Musik in seinem Roman "Rollende Steine" durch die Figur Imp y Celyn, deren Name soviel wie „Bud of the Holly“ (Knospe der Stechpalme) bedeutet. In seiner Nobelpreisrede würdigte Bob Dylan die Bedeutung Hollys für sein Werk und Leben. Der deutsche Künstler Schmyt veröffentlichte 2022 ein Lied mit dem Titel "Buddy Holly". Werk. Hollys Einfluss auf die Entwicklung der Rockmusik war beträchtlich. Er war der erste erfolgreiche Musiker, der die Standard-Formation einer Rockband mit Leadgitarre, Rhythmusgitarre, Bass und Schlagzeug etablierte, was die Beatles so übernahmen. Paul McCartney erwarb alle Verlagsrechte an Hollys Kompositionen, und bei der Welt-Tournee 1994/1995 eröffneten die Rolling Stones jedes Konzert mit dem Holly-Stück "Not Fade Away," das sie 1964 schon als Single veröffentlicht hatten. Die Beatles – damals noch unter dem Namen The Quarrymen – nahmen 1958 für eine selbstproduzierte Single Buddy Hollys größten Hit, "That’ll be the Day" (veröffentlicht auf der "Beatles Anthology"), auf. Sie erklärten, dass die ersten 40 Titel, die sie komponiert hatten, unter dem direkten Einfluss von Buddy Hollys Musik geschrieben wurden. Buddy Holly schrieb fast alle seine Stücke selbst, von denen viele musikalisch anspruchsvoller waren als andere Titel dieser Zeit. Seine Stücke wurden auch von anderen Musikern nachgespielt. Einer der ersten war Bobby Vee, der beim Konzert am Tag des Unglücks für Buddy Holly einsprang und dessen Titel sang. Erfolgreich war auch Linda Ronstadt mit ihrer Fassung von "That'll Be the Day". Das Lied "Peggy Sue Got Married" lieferte den Titel für den gleichnamigen Film "Peggy Sue hat geheiratet" mit Kathleen Turner. Im Studio griff Holly oft auf die Technik des Overdubbings zurück, das heißt, er fügte eine oder mehrere Tonaufnahmen über eine bereits bestehende Tonaufnahme hinzu. Damit konnte Holly mit sich selbst im Duett singen; beispielhaft für diese Aufnahmetechnik ist der Titel "Words of Love". Zudem war Holly nach der Trennung von den Crickets und Norman Petty der erste erfolgreiche Independent-Musiker, der seine Stücke unabhängig von Plattenfirmen selbst produzierte. Buddy Holly war ein sehr produktiver Künstler, was das Schreiben und Aufnehmen betraf, wenn meist auch nur in Form von Demoaufnahmen. So nahm er zwischen 1953 und 1959 zahlreiche Stücke privat ("Good Rockin’ Tonight, Rip It Up, Blue Suede Shoes, Two Timin’ Woman, Wait Till the Sun Shines Nellie, Smokey Joe’s Cafe"), im Studio ("Love’s Made a Fool of You, Baby Won’t You Come Out Tonight, Because I Love You, Bo Diddley, Brown Eyed Handsome Man") oder auch nicht verwendete Master ("Reminiscing, Come Back Baby, That’s My Desire") auf, was viel Raum für jahrelange Veröffentlichungen, überarbeitet und in der Rohfassung, gab. So wurden 1959/1960 sechs Eigenkompositionen, die Holly als Demos aufgenommen hatte, überarbeitet und veröffentlicht. Seit 1962 erschienen regelmäßig Alben von Holly mit Aufnahmen, die Norman Petty nachträglich mit mehr oder weniger Erfolg kommerzialisierte. Diese Aufnahmen erschienen auf den Alben "Showcase, Giant, Holly in the Hills, It Doesn’t Matter Anymore" und "Reminiscing". Ab den 1980ern erschienen immer mehr Bootlegs mit den Originalfassungen der Stücke. Außerdem hatte Buddy Holly ab 1953 immer wieder als Gastmusiker bei Aufnahmen anderer Künstler mitgewirkt. Posthume Veröffentlichungen. Auch lange nach dem Tod des Künstlers existiert eine treue Fangemeinde, die weiter mit seiner Musik lebt. Die anhaltende Bedeutung Hollys zeigt sich in regelmäßigen Wiederveröffentlichungen seiner Werke. Neben den LPs, CDs und MCs, die schon seit Jahrzehnten in Fankreisen kursieren, hat das Medium DVD bereits einen großen Stellenwert eingenommen. Alte Aufnahmen aus dem US-Fernsehen, der Film "Die Buddy Holly Story" oder auch Gedenksendungen sind mittlerweile erhältlich. Im Oktober 2004 kam eine CD mit dem Titel: "Stay all night – The Country Roots of Buddy Holly" auf den Markt. Im Juni 2005 brachte die Firma Universal Music eine DVD mit CD heraus: "The Music of Buddy Holly and the Crickets," die die Karriere des Rock-’n’-Roll-Pioniers in Bild und Ton nachzeichnet. Im September 2007 veröffentlichte die Firma Rollercoaster Records eine 2-CD-Box mit dem Titel "Ohh, Annie!," auf der durch Zufall entdeckte, bisher unveröffentlichte Aufnahmen von Buddy Holly aus dem Jahr 1956 neben den bekannteren in technisch verbesserter Tonqualität enthalten sind. Kurz vor seinem Tod hatte Holly in seinem New Yorker Apartment auf Tonband die „Apartment Tapes“ aufgezeichnet. Nur von seiner Gibson-Akustikgitarre begleitet, erlebt man hier den Sänger unplugged. Diese Titel wurden offiziell nur auf einer 9-LP-Box veröffentlicht, nie auf CD. Dies öffnete einem grauen Markt Tür und Tor; es kursierten unzählige Pressungen, auf denen die Lieder veröffentlicht wurden. Erst 2009 schloss Geffen Records mit "Buddy Holly – Not Fade Away" mit CDs und Buch diese Lücke.
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Blutgruppe
Eine Blutgruppe ist eine Beschreibung der individuellen Zusammensetzung von Strukturen auf der Außenhaut der roten Blutkörperchen (Erythrozytenmembran) von Wirbeltieren innerhalb eines Blutgruppensystems. Die Oberflächen der Außenhaut (Membran) unterscheiden sich durch verschiedene Glykolipide oder Proteine, die als Antigene wirken und somit zu einer Immunreaktion führen können. Eine besondere Bedeutung kommt den Blutgruppen in der Transfusions- und Transplantationsmedizin zu (Blut- und Organübertragung). Wird einem Patienten Blut einer ungeeigneten Blutgruppe übertragen, so reagiert sein Immunsystem mit Abwehrmaßnahmen, die zur Verklumpung (Agglutination) des Blutes führen und schwere Schäden bis hin zum Tod bewirken können. In der Transplantationsmedizin kann es u. a. zu Abstoßungsreaktionen gegen das transplantierte Organ kommen. Blutgruppen werden genetisch vererbt und wurden früher im Rahmen von sogenannten Abstammungsgutachten verwendet, um Verwandtschaftsverhältnisse auszuschließen. Für die Klassifikation von Blut werden die Ausprägungen bestimmter Antigene zu sogenannten "Blutgruppensystemen" zusammengefasst. Aufgrund ihrer weltweit großen Bedeutung bei der Beurteilung der Verträglichkeit von Bluttransfusionen und Organtransplantationen sind die beiden wichtigsten Blutgruppensysteme das AB0-System und das Rhesussystem. Insgesamt werden von der Internationalen Gesellschaft für Bluttransfusion (ISBT) 43 Blutgruppensysteme anerkannt und beschrieben (Stand 2021, siehe unten). Als Entdecker der Blutgruppen gilt seit 1901 Karl Landsteiner. Am bekanntesten sind die Blutgruppen O, A, B und die von Adriano Sturli mitentdeckte „vierte“ Blutgruppe AB. Blutgruppensysteme. Definition. Ein Blutgruppensystem kann aus einem oder mehreren Antigenen bestehen, die auf der Außenmembran der roten Blutkörperchen liegen und gegen die andere Individuen der gleichen Spezies Antikörper (so genannte Allo-Antikörper nach der griechischen Vorsilbe allo-, hier im Sinne von „fremd“) bilden können. Die Zuordnung von Antigenen zu einem Blutgruppensystem erfolgt über die für sie codierenden Gene. Laut Definition muss jedes Blutgruppensystem genetisch von anderen unterscheidbar sein. Dies ist auf zwei Arten möglich: AB0-System. Das AB0-System wurde im Jahr 1900 durch den Wiener Arzt Karl Landsteiner definiert, wofür ihm 1930 der Nobelpreis für Medizin verliehen wurde. Die Hygienekommission des Völkerbundes beschloss 1928, die Blutgruppen in der ganzen Welt einheitlich zu bezeichnen. Man entschied sich für das AB0-System. Das AB0-System ist bis heute das wichtigste Blutgruppenmerkmal bei Bluttransfusionen und in der Transplantationsmedizin. Es umfasst die Merkmale A und B, die zu den Hauptgruppen A, B, AB und 0 (weder A noch B) kombiniert werden können. Die Antikörper gegen nicht kompatibles Fremdblut werden beim Menschen während des ersten Lebensjahres ausgebildet. Jeder Mensch besitzt für jedes die Blutgruppe bestimmende Gen zwei Antigen-Merkmale, eines von der Mutter und eines vom Vater. Welches davon vererbt wird, unterliegt dem Zufall. Blutgruppen werden deshalb auch als reinerbig (homozygot) oder mischerbig (heterozygot) bezeichnet. Vererbt ein Elternteil Blutgruppe A, das andere B, so hat das Kind die Blutgruppe AB. Diese Kombination wirkt kodominant, so dass phänotypisch beide Antigene, A und B, im Blut vorhanden sind. Menschen mit Blutgruppe AB bilden keine Antikörper gegen andere Blutgruppen (da ihr Immunsystem sonst ihr eigenes Blut verklumpen lassen würde) und können daher (sofern rhesus-positiv) bei Transfusionen Blut aller anderen Blutgruppen erhalten („Universalempfänger“). Die Blutgruppe 0 wird rezessiv vererbt, kommt also nur dann zur Ausprägung, wenn von beiden Elternteilen Blutgruppe 0 vererbt wird. Menschen mit Blutgruppe 0 haben weder für A noch für B Antigene. Ihr gespendetes Blut kann (sofern rhesus-negativ) daher bei allen Empfängern verwendet werden („Universalspender“). Sie bilden aber selbst für A, B und AB Antikörper und können daher nur Spendeblut der Gruppe 0 erhalten. Die Blutgruppe im AB0-System wird durch ihre besondere Bedeutung im Zusammenhang mit Transfusions- und Transplantationsmedizin zur Vermeidung von Transfusionszwischenfällen bzw. primärer Transplantatabstoßung gemeinsam mit dem Rhesusfaktor D seit Jahrzehnten weltweit vor jeder Transfusion oder Transplantation bestimmt. In vielen Ländern wird die Blutgruppe 0 als Blutgruppe O bezeichnet. Außerdem werden in einigen Ländern die Gruppen mit den römischen Ziffern I, II, III und IV (statt 0, A, B und AB) bezeichnet. Rhesus-System. Der Name "Rhesusfaktor" bezieht sich auf Versuche mit Rhesusaffen, bei denen der Begründer des AB0-Systems Karl Landsteiner diesen Faktor im Jahr 1937 entdeckt hatte. Dabei benannte er die zuerst gefundenen Antikörper mit A und B und die folgenden mit C, D und E. Medizinisch besonders relevant ist unter diesen der Rhesusfaktor D. Der Rhesusfaktor wird dominant vererbt, deshalb ist das Blutgruppenmerkmal Rhesus-negativ (Rhesus-Merkmal fehlt) selten. Ca. 85 % der Bevölkerung sind Rhesus-positiv, 15 % Rhesus-negativ. Erythrozyten Rhesus-positiver Menschen tragen auf ihrer Oberfläche ein „D-Antigen“ (Rhesusfaktor „D“). Rhesus-negative Menschen haben dieses Antigen nicht. Die Antikörper gegen den Rhesusfaktor D werden bei Menschen ohne diesen Faktor nur gebildet, wenn sie mit ihm in Berührung kommen, d. h. wenn Rhesus-positive Blutbestandteile eines Menschen in den Blutkreislauf einer Rhesus-negativen Person gelangen. Das kann bei Bluttransfusionen geschehen, unter bestimmten Voraussetzungen in der Schwangerschaft oder während einer Geburt, wenn die Mutter Rhesus-negativ und das Kind Rhesus-positiv ist. Normalerweise sind die Blutkreisläufe von Mutter und Kind in der Schwangerschaft durch die Plazentaschranke voneinander getrennt, die verhindert, dass Blutzellen des Kindes in den mütterlichen Blutkreislauf gelangen. Ist dies dennoch der Fall, etwa bei kleinen Verletzungen (Mikrotraumata) der Plazenta während der Schwangerschaft, bei invasiven vorgeburtlichen Eingriffen in der Gebärmutter am Kind (Fötus), bei vorgeburtlichen Untersuchungen (Pränataldiagnostik) oder z. B. im Fall einer Verletzung des Kindes, der Nabelschnur oder der Plazenta bei der Geburt, kann die Mutter Antikörper gegen das Rhesus-Antigen des Kindes bilden. Erheblich häufiger erfolgt eine Sensibilisierung bei vorangegangener Fehlgeburt und vorgenommener Ausschabung, bei induziertem Abort bzw. Schwangerschaftsabbruch und durch sonstige invasive Eingriffe im Uterus, einer Chorionzottenbiopsie (CVS), Amniozentese (AC) oder einer Nabelschnurpunktion. Das Risiko für die Bildung von Antikörpern und nachfolgender Immunreaktion steigt dabei je nach Umfang der Invasivität bzw. dem Verletzungs- und Blutungsrisiko. Tritt ein solcher Fall während der Schwangerschaft ein, verläuft die Immunreaktion relativ langsam und führt bei der "ersten" Schwangerschaft üblicherweise noch nicht zu gravierenden Abstoßungsreaktionen. Möglicherweise werden in geringem Maße rote Blutkörperchen im Körper des Kindes zerstört, was die typischerweise nach der Geburt auftretende leichte Gelbsucht etwas verstärken kann. Ist die Mutter jedoch vom ersten Kind „sensibilisiert“, das heißt, ihr Immunsystem hat Gedächtniszellen gebildet, dann kann erneuter Blutkontakt in der "nächsten" Schwangerschaft (erneut mit einem Rhesus-positiven Kind) sehr schnell zur Bildung von Antikörpern bei der Mutter führen. D-Antikörper sind Immunglobuline vom Typ G (IgG-Immunglobuline) und können durch einen speziellen Transportmechanismus durch die Plazentaschranke in den Blutkreislauf des Kindes übergehen. Dort werden die mit D-Antikörpern der Mutter beladenen Erythrozyten des Kindes in dessen Milz vorzeitig abgebaut. Es kommt zu einer hämolytischen Anämie und entsprechenden Folgen. Dies kann zum Morbus haemolyticus neonatorum, schlimmstenfalls zu Missbildungen oder zum Tod des Kindes führen. In leichten Fällen wird die verstärkte Gelbsucht z. B. mittels Phototherapie behandelt. Größeren Komplikationen kann durch Blutaustausch entgegengewirkt werden. Die gegen diese Sensibilisierung des mütterlichen Immunsystems und ihre Folgen beim Kind (s. Rhesus-Inkompatibilität#Pathogenese) üblicherweise präventiv verabreichten Medikamente (etwa Rhophylac® oder Rhesonativ®) sind Blutprodukte, die Anti-D-Antikörper enthalten und deshalb als „Anti D“ bzw. „Anti-D-Prophylaxe“ bezeichnet werden. Die Antikörper werden zeitnah nach einem Erstkontakt von mütterlichem und kindlichem Blut verabreicht und zerstören Rhesus-positive Erythrozyten, bevor die Mutter eine Sensibilisierung ausbilden kann. Eine kräftig blutende Wunde (etwa vaginale Wunde bei Dammriss) verhindert außerhalb des Körpers hingegen im Regelfall den Eintritt fremden Blutes in den Blutkreislauf. Aktuell wird bei Rhesus-negativen Schwangeren das fetale Blut routinemäßig schon im Vorfeld nicht-invasiv auf das Vorliegen des Rhesusfaktors überprüft, um unnötige Prophylaxemaßnahmen zu vermeiden. Weitere Systeme. Kell-System. Das Kell-System ist das drittwichtigste System bei Bluttransfusionen. Bei Blutspendern in Deutschland, Schweiz und Österreich wird regelmäßig auf Kell-Antikörper getestet. 92 % der Menschen sind Kell-negativ (kk) und sollten nur Kell-negatives Blut erhalten. 7,8 % sind mischerbig Kell-positiv (Kk) und können Blut mit positivem und negativem Kellfaktor erhalten. Nur 0,2 % der Menschen sind reinerbig Kell-positiv (KK) und brauchen Kell-positives Blut. 99,8 % aller Menschen können mit Kell-negativem Blut versorgt werden, trotzdem benötigen Krankenhäuser sowohl Kell-negatives als auch Kell-positives Blut. Blutspenden mit einem positiven Kell-Faktor (KK oder Kk) können nur in wenigen Ausnahmefällen (wie z. B. Schwangerschaft) nicht verwendet werden. Die Vererbung ist noch nicht vollständig geklärt. Ausgegangen wird von vier antigenen Typen, die stark polymorph sind, was ähnlich den MHC-Genen zu starker Variation auch bei enger Verwandtschaft führt (). Der Kell-Antikörper (Anti-K, K1) wird genetisch gemeinsam mit dem Cellano-Antikörper (Anti-k, K2) zum KC-System zusammengefasst, da die Proteine sehr ähnlich sind. Die Namen dieser Antikörper vom IgG-Typ sind jeweils nach schwangeren Patientinnen benannt – Antikörper des Kell-Cellano-Systems können zu schweren Zwischenfällen bei Transfusionen und Schwangerschaften führen. MN-System. Im MN-System existieren drei Phänotypen, verursacht durch drei Genotypen, die durch die Kombination von zwei kodominanten Allelen entstehen: Das MN-System wird mit den weiteren Antigenen S, s und U zum MNS-System zusammengefasst. Duffy-System. Der Duffy-Faktor ist ein Antigen und zugleich ein Rezeptor für "Plasmodium vivax", den Erreger der Malaria tertiana. Duffy-negative Merkmalsträger sind resistent gegen diesen von der Anophelesmücke übertragenen Erreger, da der veränderte Rezeptor den Kontakt mit der Wirtszelle verhindert (). "Cellano", "Kidd" (Jk; als Faktorengruppe entdeckt 1951 durch die Amerikaner Allen, Diamond und Niedziela), "Lewis", "Lutheran" (Lu), MNSs, P und Xg sind die Bezeichnungen für weitere Blutgruppensysteme. Sie stehen für weitere Antikörper gegen Blutbestandteile, die in der Regel nach den Patienten benannt worden sind, bei welchen sie zuerst beobachtet wurden. Weist ein Patient die entsprechenden Antikörper im Blut auf, kann es zu gefährlichen, wiederholbaren Komplikationen nach einer Bluttransfusion kommen. Zumeist ist nur der Antikörper bekannt, der mit einem Test (Verklumpung mit Testblut) nachgewiesen werden kann, während die genetischen Ursachen noch nicht bekannt sind. Bei der Untersuchung auf Blutgruppen erfolgt regelmäßig die Untersuchung auf seltene Antikörper. Deren positives Ergebnis muss bei der klinischen Angabe der Blutgruppe jeweils einzeln vermerkt werden. Diesen Patienten kann nur Eigenblut oder Blut von anderen Trägern mit der gleichen Besonderheit gegeben werden. Übersicht aller Blutgruppensysteme nach ISBT. Die International Society of Blood Transfusion (ISBT) kategorisiert (Stand Juni 2021) folgende Blutgruppen: Häufigkeit der Blutgruppen. Weltweit betrachtet ist die Blutgruppe „0“ am häufigsten anzutreffen, die Verteilung der vier Blutgruppen ist regional unterschiedlich. So kommt in bestimmten Gebieten Asiens B am häufigsten vor, in Europa  A, in Südamerika und einigen afrikanischen Ländern Blutgruppe 0. Zusammenhänge mit der Resistenz gegenüber regional verbreiteten Erkrankungen werden diskutiert. Dass das Merkmal „0“ genetisch (in der sog. Allelfrequenz) weitaus häufiger als alle anderen Merkmale auftritt, deutet auf einen Selektionsvorteil hin. Als seltenste Blutgruppe wird Rh-null, auch als Goldenes Blut bezeichnet, angesehen. Hiervon sind keine 50 Personen weltweit bekannt. Evolution der Blutgruppen. Als gemeinsames Merkmal aller Blutgruppen kommt in der Außenhaut (Glykokalix) der Erythrozyten das Kohlenhydrat N-Acetylglucosamin vor. An diesem bindet eine Galactose- und eine Fucosegruppe. Diese bilden die Blutgruppe 0 und damit die gemeinsame biochemische Basis aller Blutgruppen. Zusätzlich kann an der Galactose eine weitere N-Acetylgalactosamin-Gruppe (Blutgruppe A) oder eine weitere Galactosegruppe binden (Blutgruppe B). Diese genetisch vererbten Varianten (Polymorphismen) treten bei Menschen und anderen Altweltaffen auf. Molekularbiologischen Forschungen zufolge ist Blutgruppe 0 vor ca. fünf Millionen Jahren infolge einer genetischen Mutation aus Blutgruppe A entstanden. Die Träger von Blutgruppe 0 haben im Fall einer Malaria-Infektion (Plasmodium falciparum) eine höhere Überlebenschance. Dieser Selektionsvorteil könnte dazu beigetragen haben, dass in den feucht-tropischen Zonen Afrikas und auf dem amerikanischen Kontinent die Blutgruppe 0 häufiger vorkommt als in anderen Weltregionen. Welche weiteren Faktoren die Verbreitung der verschiedenen Blutgruppen beeinflussten, wird noch erforscht. Die Häufigkeitsverteilungen auf verschiedenen Kontinenten lassen vermuten, dass unterschiedliche Umweltbedingungen zu Selektionsvor- oder -nachteilen geführt haben. Übertragung von Blutbestandteilen (Transfusion). Um eine Zerstörung von Empfänger-Erythrozyten (Hämolyse) durch Antikörper gegen A und B im Serum eines Spenders zu vermeiden (Minor-Reaktion), verabreicht man möglichst kein Vollblut, sondern nur die benötigten Bestandteile wie Erythrozyten-, Granulozyten-, Thrombozytenkonzentrate, Blutplasma etc. Ein Kreuz in der Tabelle bedeutet, dass eine Transfusion von Blutbestandteilen vom Spender zum Empfänger möglich ist. Bei Transfusion von Vollblut, also Übertragung sämtlicher Blutzellen und zusätzlich des Blutplasmas in Notfallsituationen, sind die verschiedenen Blutgruppen des AB0-Systems immer miteinander unverträglich. Reine Blutplasmatransfusionen sind hingegen grundsätzlich unproblematisch, da sie keine Antigene enthalten. Als Universalspender gilt in der Transfusionsmedizin ein Blutspender mit der Blutgruppe 0−. Erythrozyten dieser Blutgruppe weisen keine Antigene A oder B auf. Blutgruppen bei Haus- und Nutztieren. Auch Tiere haben verschiedene Blutgruppen, z. B.:
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Bewusstsein
Bewusstsein (abgeleitet von dem mittelhochdeutschen Wort "bewissen" im Sinne von „Wissen über etwas habend“, „Mitwissen“ und "syneídēsis" „Miterscheinung“, „Mitbild“, „Mitwissen“, "synaísthēsis" „Mitwahrnehmung“, „Mitempfindung“ und "phrónēsis" von "phroneín" „bei Sinnen sein, denken“) ist im weitesten Sinne das Erleben mentaler Zustände und Prozesse. Eine allgemein gültige Definition des Begriffes ist aufgrund seines unterschiedlichen Gebrauchs mit verschiedenen Bedeutungen schwer möglich. Die naturwissenschaftliche Forschung beschäftigt sich mit definierbaren Eigenschaften bewussten Erlebens. Bedeutung des Begriffs. Das Wort „Bewusstsein“ wurde von Christian Wolff als Lehnübersetzung des lateinischen "conscientia" geprägt. Das lateinische Wort hatte ursprünglich eher Gewissen bedeutet und war zuerst von René Descartes in einem allgemeineren Sinn gebraucht worden. Der Begriff "Bewusstsein" hat im Sprachgebrauch eine sehr vielfältige Bedeutung, die sich teilweise mit den Bedeutungen von Geist und Seele überschneidet. Im Gegensatz zu letzteren ist der Begriff "Bewusstsein" jedoch weniger von theologischen und dualistisch-metaphysischen Gedanken bestimmt, weswegen er auch in den Naturwissenschaften verwendet wird. Es erschwert viele Diskussionen, dass Bewusstsein grundsätzlich zwei Bedeutungen hat. Die erste ist, dass wir überhaupt etwas wahrnehmen und nicht bewusstlos sind. Die zweite, dass wir etwas bewusst wahrnehmen oder tun, also darüber nachdenken beim Wahrnehmen bzw. Tun. Weiterhin ist Bewusstsein keine binäre Eigenschaft, die man hat oder nicht hat. Es gibt Abstufungen, je nach Definition. Michio Kaku definiert es so: „Bewusstsein ist der Prozess, unter Verwendung zahlreicher Rückkopplungsschleifen bezüglich verschiedener Parameter (z. B. Temperatur, Raum, Zeit und in Relation zueinander) ein Modell der Welt zu erschaffen, um ein Ziel zu erreichen.“ Er unterscheidet 4 Stufen des Bewusstseins, von Pflanzen bis zum Menschen – abhängig von der von Stufe 0 bis Stufe 3 exponentiell ansteigenden Zahl der Rückkopplungsschleifen. Man unterscheidet heute in der Philosophie und Naturwissenschaft verschiedene Aspekte und Entwicklungsstufen: Die Verwendung des Begriffes Bewusstsein ist in der Regel auf eine dieser Bedeutungen und damit auf eine Eingrenzung angewiesen. Auch drücken sich in den verschiedenen Verwendungsweisen oft unterschiedliche Weltanschauungen aus. Bewusstsein in der Philosophie. Bewusstsein als Rätsel. In einem materialistischen Weltbild entsteht das Rätsel des Bewusstseins anhand der Frage, wie es prinzipiell möglich sein kann, dass aus einer bestimmten Anordnung und Dynamik von Materie die Vorstellung von Bewusstsein entsteht. In einem nicht-materialistischen Weltbild kann aus dem Wissen über die physikalischen Eigenschaften eines Systems keine Aussage über das Bewusstsein abgeleitet werden. Hier wird angenommen: Auch wenn zwei verschiedene Lebewesen A und B sich in exakt dem gleichen neurophysiologisch funktionalen Zustand befänden (der Naturwissenschaftlern komplett bekannt sei), könne A bewusst sein, während B es nicht sei. Die theoretische Möglichkeit eines solchen „Zombies“ ist unter Philosophen höchst umstritten. Philosophischen Gedankenexperimenten zufolge könne ein Mensch genauso funktionieren, wie er es jetzt tut, ohne dass er es bewusst erlebe (siehe: Philosophischer Zombie). Genauso könne eine Maschine sich genauso verhalten wie ein Mensch, ohne dass man ihr Bewusstsein zuschreiben würde (siehe: Chinesisches Zimmer). Die Vorstellbarkeit dieser Situationen lege offen, dass das Phänomen des Bewusstseins aus naturwissenschaftlicher Sicht noch nicht verstanden sei. Und schließlich scheine es anders als bei anderen Problemen ungeklärt, anhand welcher Kriterien eine Lösung des Problems überhaupt als solche erkennbar sein könnte. In der Philosophie war das Rätsel des Bewusstseins schon lange bekannt. Es geriet aber in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter dem Einfluss des Behaviorismus und der Kritik von Edmund Husserl am Psychologismus weitgehend in Vergessenheit. Dies änderte sich nicht zuletzt durch Thomas Nagels 1974 veröffentlichten Aufsatz "What is it like to be a bat?" ("Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?"). Nagel argumentierte, dass wir nie erfahren würden, wie es sich anfühlt, eine Fledermaus zu sein. Diese subjektiven Vorstellungen seien aus der Außenperspektive der Naturwissenschaften nicht erforschbar. Heute teilen manche Philosophen die Rätselthese – etwa David Chalmers, Frank Jackson, Joseph Levine und Peter Bieri, während andere hier kein Rätsel erkennen – etwa Patricia Churchland, Paul Churchland und Daniel Dennett. Für die Vertreter der Rätselhaftigkeit des Bewusstseins äußert sich diese in zwei verschiedenen Aspekten: "Zum einen" hätten Bewusstseinszustände einen Erlebnis­gehalt, und es sei nicht klar, wie das Gehirn Erleben produzieren könne. Dies sei das Qualiaproblem. "Zum anderen" könnten sich Gedanken auf empirische Sachverhalte beziehen und seien deshalb wahr oder falsch. Es sei aber nicht klar, wie das Gehirn Gedanken mit solchen Eigenschaften erzeugen könne. Das sei das Intentionalitäts­problem. Das Qualiaproblem. Qualia seien Erlebnisgehalte von mentalen Zuständen. Man spricht auch von Qualia als dem „phänomenalen Bewusstsein“. Das Qualiaproblem bestehe darin, dass es keine einsichtige Verbindung zwischen neuronalen Zuständen und Qualia gebe: Warum erleben wir überhaupt etwas, wenn bestimmte neuronale Prozesse im Gehirn ablaufen? Ein Beispiel: Wenn man sich die Finger verbrenne, würden Reize zum Gehirn geleitet, dort verarbeitet und schließlich ein Verhalten produziert. Nichts aber mache es zwingend, dass dabei ein Schmerzerlebnis entstehe. Die zum Teil unbekannte Verbindung zwischen den neuronalen Prozessen und den angenommenen Qualia scheine fatal für die naturwissenschaftliche Erklärbarkeit von Bewusstsein zu sein: Wir hätten nämlich nur dann ein Phänomen naturwissenschaftlich erklärt, wenn wir auch seine Eigenschaften erklärt haben. Ein Beispiel: Wasser hat die Eigenschaften bei Raumtemperatur und normalem Luftdruck flüssig zu sein, bei 100 °C zu kochen usw. Wenn man einfach nicht erklären könnte, warum Wasser normalerweise flüssig ist, so gäbe es ein „Rätsel des Wassers“. Analog dazu: Wir hätten einen Bewusstseinszustand genau dann erklärt, wenn Folgendes gelte: Aus der wissenschaftlichen Beschreibung folgen alle Eigenschaften des Bewusstseinszustands – also auch die Qualia. Da die Qualia aber eben aus keiner naturwissenschaftlichen Beschreibung folgten, blieben sie ein „Rätsel des Bewusstseins“. Es gebe viele verschiedene Möglichkeiten, auf das Qualiaproblem zu reagieren: Das Intentionalitätsproblem. Die Annahme des Intentionalitätsproblems ist analog der Annahme des Qualiaproblems. Die grundlegende argumentative Struktur ist die gleiche. Auf Franz Brentano und seine Aktpsychologie geht die Ansicht zurück, dass die meisten Bewusstseinszustände nicht nur einen Erlebnisgehalt hätten, sondern auch einen Absichtsgehalt. Das heißt, dass sie sich auf ein Handlungsziel beziehen. Ausnahmen seien Grundstimmungen wie Langeweile, Grundhaltungen wie Optimismus und etwa nach Hans Blumenberg auch Formen der Angst. Beim Intentionalitätsproblem werden ähnliche Lösungsvorschläge vertreten wie beim Qualiaproblem. Doch es gibt noch weitere Möglichkeiten. Man kann nämlich auch versuchen zu erklären, wann sich eine neuronale Aktivität auf etwas (etwa X) bezieht. Drei Vorschläge sind: Manche Philosophen, etwa Hilary Putnam und John Searle, halten Intentionalität für naturwissenschaftlich nicht erklärbar. Innenperspektive und Außenperspektive. Es wird oft zwischen zwei Zugängen zum Bewusstsein unterschieden. Zum einen gebe es eine unmittelbare und nicht-symbolische Erfahrung des Bewusstseins, auch Selbstbeobachtung genannt. Zum anderen beschreibe man Bewusstseinsphänomene aus der Außenperspektive der Naturwissenschaften. Eine Unterscheidung zwischen der unmittelbaren und der symbolisch vermittelten Betrachtungsweise wird von vielen Philosophen nachvollzogen, auch wenn einige Theoretiker und Theologen eine scharfe Kritik an der Konzeption des unmittelbaren und privaten Inneren geübt haben. Baruch Spinoza etwa nennt die unmittelbare, nicht-symbolische Betrachtung „Intuition“ und die Fähigkeit zur symbolischen Beschreibung „Intellekt“. Es wird manchmal behauptet, dass die Ebene der unmittelbaren Bewusstseinserfahrung für die Erkenntnis der Wirklichkeit die eigentlich entscheidende sei. Nur in ihr sei der Kern des Bewusstseins, das "subjektive" Erleben, zugänglich. Da diese Ebene allerdings nicht direkt durch eine "objektive" Beschreibung zugänglich sei, seien auch den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen auf dem Gebiet des Bewusstseins Grenzen gesetzt. Bewusstsein, Materialismus und Dualismus. Die aufs Bewusstsein bezogenen antimaterialistischen Argumente basieren meist auf den oben diskutierten Konzepten Qualia und Intentionalität. Die argumentative Struktur ist dabei folgende: Wenn der Materialismus wahr sei, dann müssten Qualia und Intentionalität reduktiv erklärbar sein. Sie seien aber nicht reduktiv erklärbar. Also sei der Materialismus falsch. In der philosophischen Debatte wird die Argumentation allerdings komplexer. Ein bekanntes Argument stammt etwa von Frank Cameron Jackson. In einem Gedankenexperiment gibt es die Superwissenschaftlerin Mary, die in einem schwarz-weißen Labor aufwächst und lebt. Sie hat noch nie Farben gesehen und weiß daher nicht, wie Farben aussehen. Sie kennt aber alle physikalischen Fakten über Farbensehen. Da sie aber nicht alle Fakten über Farben kenne (sie wisse nicht, wie sie aussehen), gebe es nicht-physikalische Fakten. Jackson schließt daraus, dass es nicht-physische Fakten gebe und der Materialismus falsch sei. Gegen dieses Argument sind verschiedene materialistische Erwiderungen vorgebracht worden (vgl. Qualia). Gegen derartige dualistische Argumente sind zahlreiche materialistische Repliken entwickelt worden. Sie beruhen auf den oben beschriebenen Möglichkeiten, auf die Konzepte von Qualia und Intentionalität zu reagieren. Es existiert daher eine Vielzahl von materialistischen Vorstellungen vom Bewusstsein. Funktionalisten wie Jerry Fodor und der frühe Hilary Putnam wollten das Bewusstsein in Analogie zum Computer durch eine abstrakte, interne Systemstruktur erklären. Identitätstheoretiker wie Ullin Place und John Smart wollten Bewusstsein direkt auf Gehirnprozesse zurückführen, während eliminative Materialisten wie Patricia und Paul Churchland Bewusstsein als gänzlich unbrauchbaren Begriff einstufen. Detailliertere Beschreibungen finden sich im Artikel Philosophie des Geistes. Bewusstsein in den Naturwissenschaften. Überblick. Erleben löst Verhalten aus, wird von Neurowissenschaften beschrieben und neuronale Prozesse sind auf einem Computer simulierbar. Dies ist ein Arbeitsgebiet der künstlichen Intelligenz. An der Erforschung des Bewusstseins sind viele Einzelwissenschaften beteiligt, da es eine große Anzahl verschiedener, empirisch beschreibbarer Phänomene gibt. Ob und in welchem Maße die Naturwissenschaften damit zu einer Klärung der in der Philosophie diskutierten Probleme Qualia und Intentionalität beitragen, gilt als umstritten. Neurowissenschaften. In den Neurowissenschaften wird u. a. der Zusammenhang von Gehirn und Bewusstsein untersucht. Der Neurowissenschaftler António R. Damásio definiert Bewusstsein wie folgt: „Bewusstsein ist ein Geisteszustand, in dem man Kenntnis von der eigenen Existenz und der Existenz einer Umgebung hat.“ Ein zentrales Element der neurowissenschaftlichen Erforschung des Bewusstseins ist die Suche nach neuronalen Korrelaten von Bewusstsein. Man versucht bestimmten mentalen Zuständen neuronale Abläufe gegenüberzustellen. Dieser Suche nach Korrelaten kommt die Tatsache entgegen, dass das Gehirn funktional gegliedert ist. Verschiedene Teile des Gehirns (Areale) sind für verschiedene Aufgaben zuständig. So wird davon ausgegangen, dass das Broca-Zentrum (bzw. die Brodmann-Areale 44 und 45) im Wesentlichen für Sprachproduktion zuständig sind. Schädigungen dieser Region führen nämlich oft zu einer Sprachproduktionsstörung, der sogenannten Broca-Aphasie. Messungen der Hirnaktivität bei Sprachproduktion zeigen außerdem erhöhte Aktivität in dieser Region. Des Weiteren kann die elektrische Reizung dieses Areals zu vorübergehenden Sprachproblemen führen. Zuordnungen von mentalen Zuständen zu Hirnregionen sind jedoch fast immer unvollständig, da Reize in der Regel in mehreren Hirnregionen gleichzeitig verarbeitet werden und dabei selten komplett aufgezeichnet werden. Die begriffliche und methodische Unterscheidung von neuronalen Korrelaten des Bewusstseins und unbewusster Gehirnaktivität ermöglicht die Untersuchung der Frage, welche neuronalen Prozesse an die Bewusstwerdung eines internen Zustandes gekoppelt sind und welche nicht. Während tiefen Schlafs, einer Narkose oder einiger Arten von Koma und Epilepsie, zum Beispiel, sind weite Teile des Gehirns aktiv, ohne von bewussten Zuständen begleitet zu werden. In den vergangenen Jahren nahm die Wahrnehmungsforschung eine dominierende Position innerhalb der neurobiologischen Grundlagenforschung des Bewusstseins ein. Einige visuelle Illusionen etwa erlauben es, zu untersuchen, wie das bewusste Erleben der Sinneswelt mit den physikalischen Vorgängen der Reizaufnahme und -verarbeitung zusammenhängt. Ein Paradebeispiel hierfür ist das Phänomen der binokularen Rivalität, bei dem ein Beobachter nur eines von zwei gleichzeitig präsentierten Bildern bewusst wahrnehmen kann. Die neurowissenschaftliche Erforschung dieses Phänomens hat ergeben, dass weite Teile des Gehirns von den nicht bewusst wahrgenommenen Sehreizen aktiviert werden. Andererseits erlebt sich der Mensch auch dann als bewusst, wenn seine sinnliche Wahrnehmung und seine Aufmerksamkeit äußerst reduziert sind, wie zum Beispiel während einer luziden Traumphase. Worin daher beim Menschen der eigentümliche Zustand, bewusst zu sein, besteht, wurde von der Hirnforschung noch nicht befriedigend beantwortet. Der Bestimmung der Gehirnaktivität, die bewusstes Erleben anzeigt, kommt zunehmend ethische und praktische Bedeutung zu. Mehrere medizinische Problemfelder, so die Möglichkeit zeitweiliger intraoperativer Wachheit während einer Vollnarkose, die Einordnung von Koma-Patienten und ihre optimale Behandlung, oder die Frage nach dem Hirntod sind hiervon direkt betroffen. Psychologie. Das Bewusstsein ist ein zentraler Begriff für die Psychologie. Es ist einerseits "die Gesamtheit der Erlebnisse, d. h. der erlebten psychischen Zustände und Aktivitäten (Vorstellungen, Gefühle usw.)" und zum anderen "das Bewusst-Sein als besondere Art des unmittelbaren Gewahrseins dieser Erlebnisse, die man auch als innere Erfahrung bezeichnet." Das phänomenale Bewusstsein und das Zugriffsbewusstsein sind von größter Bedeutung, da die beiden Phänomene das Wahrnehmen, Denken und Entscheiden umfassen. Außerdem ist die Unterscheidung von Bewusstem und Unbewusstem wichtig. Beides sind in der kognitiven Psychologie "Pole des Wissensstandes über Vorhandenes und dessen Mitteilbarkeit" wo "viele Klarheitsgrade, die im Zusammenhang mit Absicht (Handlungsentwurf), Konzentration, kritischem Selbstbezug, Wachheit, Vorerfahrungen, Einordnungs-, Unterscheidungsfähigkeit und Affektstrebungen. Bewusstsein" stehen. Es gibt einige psychologische Ansätze, die einen Beitrag zur Bewusstseinsforschung liefern: An den psychologischen Ansätzen lässt sich kritisieren, dass sie nicht beantworten, durch welche Mechanismen bzw. Prozesse im Gehirn das phänomenale Bewusstsein entsteht. Diese Kritik gilt allen Ansätzen, die phänomenales Bewusstsein als Vorliegen einer mentalen Repräsentation in einem bestimmten System beschreiben. Die Psychologie hat bis heute keine Theorie, die erklären kann, wie und warum phänomenales Bewusstsein mit mentalen Repräsentationen zusammenhängt. Kognitionswissenschaft. Da viele Einzelwissenschaften an der Erforschung von Bewusstsein beteiligt sind, ist eine umfassende Erkenntnis nur durch einen interdisziplinären Austausch möglich. Die Wissenschaftsgeschichte spiegelt dies mit dem Begriff der Kognitionswissenschaft wider. Sie wird als Zusammenarbeit von Informatik, Linguistik, Neurowissenschaft, Philosophie und Psychologie verstanden. Ein besonderer Schwerpunkt aktueller kognitionswissenschaftlicher Forschung besteht dabei in der Zusammenführung von empirischen Ergebnissen der Lebenswissenschaften und den Methoden und Erkenntnissen der modernen Informatik. Zwei Beispiele: Experimente zum Bewusstsein. Zeitliche Verzögerung von bewusstem Erleben. Das sehr häufig zitierte Libet-Experiment (1979) und weitergehende Nachfolgeexperimente zeigten, dass bewusstes Erleben eines Ereignisses zeitlich nach neuronalen Prozessen auftritt, die bekannterweise mit dem Ereignis korrelieren. Während die Konsequenzen dieser Experimente für das Konzept der Willensfreiheit noch nicht als abschließend geklärt gelten, besteht Einigkeit darüber, dass bewusstes Erleben relativ zu einem Teil der dazugehörenden neuronalen Prozesse zeitverzögert auftreten kann. Unterschied zwischen bewussten und unbewussten Gehirnaktivitäten. Ein Teil von Libets Experimenten zeigte, dass der Unterschied zwischen bewussten und unbewussten Erlebnissen von der Dauer der Gehirnaktivitäten abhängen kann. Bei diesen Experimenten wurden den Versuchspersonen Reize auf die aufsteigende sensorische Bahn im Thalamus gegeben. Die Versuchspersonen sahen zwei Lampen, die jeweils eine Sekunde lang abwechselnd leuchteten. Die Versuchspersonen sollten sagen, welche der beiden Lampen leuchtete, als der Reiz verabreicht wurde. Wenn der Reiz kürzer als eine halbe Sekunde andauerte, nahmen sie den Reiz nicht bewusst wahr. Die Versuchspersonen wurden jedoch gebeten, auch wenn sie keinen Reiz bewusst wahrnahmen, zu raten, welche Lampe leuchtete, während der Reiz verabreicht wurde. Dabei zeigte sich, dass die Versuchspersonen, auch wenn sie den Reiz nicht bewusst wahrnahmen, sehr viel häufiger als nach Zufallswahrscheinlichkeit (50 Prozent) richtig rieten. Wenn der Reiz 150 bis 260 Millisekunden anhielt, rieten die Versuchspersonen in 75 Prozent der Fälle richtig. Damit die Versuchspersonen den Reiz bewusst wahrnahmen, musste der Reiz 500 Millisekunden andauern. Nach Libets Time-on-Theorie beginnen alle bewussten Gedanken, Gefühle und Handlungspläne unbewusst. D. h. alle schnellen Handlungen, z. B. beim Sprechen, beim Tennis usw. werden unbewusst vollzogen. Die Dauer der Gehirnaktivitäten ist nicht der einzige Unterschied zwischen bewussten und unbewussten Erlebnissen. Die visuelle Wahrnehmung liefert über die eine Hälfte der Fasern des Sehnervs den bewussten Anteil der fovealen Wahrnehmung. Die andere Hälfte der Nervenfasern überträgt den Hintergrund, die periphere Wahrnehmung. Gleichzeitig werden – zusätzlich zu den visuellen Sinneseindrücken – auch noch Geräusche, Gerüche, Gefühle, Berührungen, innerkörperliche Eindrücke usw. (meist unbewusst) wahrgenommen. Experiment zum Bewusstsein bei Patienten mit schweren Hirnverletzungen. Obwohl angenommen wird, dass Patienten mit einem apallischen Syndrom kein Bewusstsein haben, liefern vereinzelte Studien gegenteilige Evidenz. Beispielsweise zeigte eine Patientin, die aus dem Koma erwachte und keinerlei Anzeichen von Bewusstsein aufwies, ähnliche Gehirnaktivitäten wie gesunde Freiwillige in fMRT-Scans, wenn ihr Sätze vorgesprochen wurden. Auch bei der Aufforderung der Forscher, sich vorzustellen, dass sie gerade Tennis spiele oder durch ihr Haus laufen würde, zeigten sich Gehirnaktivitäten im Motorkortex, die sich nicht von denen gesunder Freiwilliger unterschied. In einer weiteren Studie zeigten 4 von 23 Patienten mit einem apallischen Syndrom ebenfalls sinnvoll interpretierbare Gehirnaktivitäten, als ihnen Fragen gestellt wurden. Durch derartige Studien wird die Frage aufgeworfen, ob Kommunikation mit schwer hirngeschädigten Patienten, denen eigentlich kein Bewusstsein zugesprochen wird, nicht doch möglich ist. Indem die Patienten sich bei der Antwort „ja“ das Tennisspielen vorstellen und bei „nein“ das Herumlaufen im eigenen Haus, könnten die Forscher durch fMRT-Scans eventuell eine Verständigung mit den Patienten ermöglicht haben. Dies würde allerdings der Annahme widersprechen, dass jene Patienten kein Bewusstsein haben. Selbstbewusstsein. Unter der Vielfalt der Bewusstseinsphänomene hat das Selbstbewusstsein in den philosophischen, empirischen und religiösen Diskussionen eine herausgehobene Stellung. Dabei wird Selbstbewusstsein nicht im Sinne der Umgangssprache als positives Selbstwertgefühl verstanden, sondern beschreibt zwei andere Phänomene. Zum einen wird hierunter das Bewusstsein seiner selbst als ein Subjekt, Individuum oder Ich (griech. und lat. "Ego") verstanden. Zum anderen bezeichnet Selbstbewusstsein aber auch das Bewusstsein von den eigenen mentalen Zuständen. Hierfür wird auch oft der Begriff "Bewusstheit" verwendet. Selbstbewusstsein als Bewusstsein vom Selbst. Philosophie. Selbstbewusstsein im ersten Sinne ist insbesondere durch René Descartes ein zentrales Thema der Philosophie geworden. Descartes machte das gedankliche Selbstbewusstsein durch seinen berühmten Satz „cogito ergo sum“ („ich denke, also bin ich“) zum Ausgangspunkt aller Gewissheit und damit auch zum Zentrum seiner Erkenntnistheorie. Descartes Konzeption blieb allerdings an seine dualistische Metaphysik gebunden, die das Selbst als ein immaterielles Ding postulierte. In Immanuel Kants transzendentalem Idealismus blieb die erkenntnistheoretische Priorität des Selbstbewusstseins bestehen, ohne dass damit Descartes Metaphysik übernommen wurde. Kant argumentierte, dass das Ich die „Bedingung, die alles Denken begleitet“ (KrV A 398), sei, ohne dabei ein immaterielles Subjekt zu postulieren. In der Philosophie der Gegenwart spielt die Frage nach dem Bewusstsein vom Selbst nicht mehr die gleiche zentrale Rolle wie bei Descartes oder Kant. Dies liegt auch daran, dass das Selbst oft als ein kulturelles Konstrukt aufgefasst wird, dem kein reales Objekt entspreche. Vielmehr lernten Menschen im Laufe der ontogenetischen Entwicklung ihre Fähigkeiten, ihren Charakter und ihre Geschichte einzuschätzen und so ein Selbstbild zu entwickeln. Diese Überzeugung hat zu verschiedenen philosophischen Reaktionen geführt. Während etwa die Schriftstellerin Susan Blackmore die Aufgabe der Konzeption vom Selbst fordert, halten manche Philosophen das Selbst für eine wichtige und positiv zu bewertende Konstruktion. Prominente Beispiele sind hier Daniel Dennetts Konzeption vom Selbst als einem „Zentrum der narrativen Gravitation“ und Thomas Metzingers Theorie der Selbstmodelle. Psychologie. Der konstruktivistische Blick auf das Selbst hat auch wichtige Einflüsse auf die empirische Forschung. Insbesondere die Entwicklungspsychologie beschäftigt sich mit der Frage, wie und wann wir zu den Vorstellungen von einem Selbst kommen. Dabei spielt das Untersuchen äußerer Einflüsse eine große Rolle, wodurch es beispielsweise zur dissoziativen Identitätsstörung mit der Eigenwahrnehmung mehrerer Selbste kommen kann. Den Verlauf struktureller Persönlichkeitseigenschaften untersuchte der Ansatz der Ich-Entwicklung. In sequentieller Abfolge wurden hier universelle und qualitativ verschiedene Entwicklungsstufen angenommen, die im Potential einer jeden Person lägen und das Fundament ihres Selbstbildes wie ihrer Haltung zur Welt hin bildeten. Auch das Konzept des dialogischen Selbst beleuchtet Fragen zur Entstehung, Entwicklung und den Eigenschaften des Selbst. Selbstbewusstsein als Bewusstsein von mentalen Zuständen. Mit „Selbstbewusstsein“ kann auch das Bewusstsein von eigenen mentalen Zuständen gemeint sein, also etwa das Bewusstsein der eigenen Gedanken oder Emotionen. In der künstlichen Intelligenz wird eine analoge Perspektive durch den Begriff der Metarepräsentationen eröffnet. Ein Roboter müsse nicht nur die Information repräsentieren, dass sich vor ihm etwa ein Objekt X befinde. Er sollte zudem „wissen“, dass er über diese Repräsentation verfüge. Erst dies ermögliche ihm den Abgleich der Information mit anderen, eventuell widersprechenden, Informationen. In der Philosophie ist es umstritten, ob sich das menschliche Selbstbewusstsein in ähnlicher Weise als Metarepräsentation begreifen lässt. Bewusstsein bei Tieren. Ein Thema, das in den letzten Jahrzehnten an Popularität gewonnen hat, ist die Frage nach dem möglichen Bewusstsein bei anderen Lebewesen. An seiner Erforschung arbeiten verschiedene Disziplinen: Ethologie, Neurowissenschaft, Kognitionswissenschaft, Linguistik, Philosophie und Psychologie. Beispielsweise können Hunde, wie alle höher entwickelten Tiere, zwar Schmerz empfinden, aber wir wissen nicht, inwieweit sie ihn bewusst verarbeiten können, da sie eine derartige bewusste Verarbeitung nicht mitteilen können. Dazu bedarf es Gehirnstrukturen, die sprachlich gefasste Vorstellungen verarbeiten können. Bei Schimpansen, die Zeichensysteme erlernen können, und Graupapageien etwa ist dies teilweise beobachtet worden. Der Gradualismus, der die plausibelste Position zu sein scheint, prüft für jede Spezies von neuem, welche Bewusstseinszustände sie haben kann. Besonders schwierig gestaltet sich dies bei den Tieren, die eine von der menschlichen stark verschiedene Wahrnehmung besitzen. Lange Zeit wurde vermutet, dass Ich-Bewusstsein allein bei Menschen vorkomme. Inzwischen ist jedoch erwiesen, dass sich auch andere Tiere, wie etwa Schimpansen, Orang-Utans, Rhesusaffen, Schweine, Elefanten, Delfine und auch diverse Rabenvögel im Spiegel erkennen können, was einer weit verbreiteten Auffassung zufolge ein mögliches Indiz für reflektierendes Bewusstsein sein könnte. Ein Gradualismus in Bezug auf die Existenz von Bewusstsein steht nicht vor dem Problem, zu klären, wo im Tierreich Bewusstsein anfängt. Vielmehr geht es hier darum, die Bedingungen und Beschränkungen von Bewusstsein für jeden Einzelfall möglichst genau zu beschreiben. Experimente einer Forschergruppe um J. David Smith deuten möglicherweise darauf hin, dass Rhesusaffen zur Metakognition fähig sind, also zur Reflexion über das eigene Wissen. Bewusstsein in den Religionen. Im Zusammenhang mit religiösen Vorstellungen von einer Seele und einem Leben nach dem Tod (siehe z. B. Judentum, Christentum und Islam) spielen die Begriffe Geist (Gottes) und Seele eine wesentliche Rolle für das Verständnis von Bewusstsein. Demnach könne menschliches Bewusstsein nicht – wie von den Wissenschaften versucht – allein als Produkt der Natur oder Evolution, sondern ausschließlich im Zusammenhang mit einer transpersonalen oder transzendenten Geistigkeit verstanden und erklärt werden. Diese göttliche Geistigkeit sei es, welche – wie alles natürlich Belebte – auch das Bewusstsein „lebendig mache“ bzw. „beseele“, d. h. zur menschlichen Ich-Wahrnehmung befähige. Generell wollten alle mystisch-esoterischen Richtungen in den Religionen (z. B. Gnostizismus, Kabbala, Sufismus u. a.) eine Bewusstseinsveränderung des Menschen bewirken. Tatsächlich zeigen neurotheologische Forschungen mit bildgebenden Verfahren, dass durch langjährige Ausübung von Meditation, wie zum Beispiel im Zen-Buddhismus üblich, ungewöhnliche neuronale Aktivitätsmuster und sogar neuroanatomische Veränderungen entstehen können. Abrahamitische Religionen. Im Tanach heißt es, die „rûah“ (hebräisches Wort für Geist, oder synonym auch im Zusammenhang mit „næfæsch“, Seele, gebraucht) haucht dem Geschöpf Leben ein. Sie ist es, welche die Lebensfunktionen geistiger, willensmäßiger und religiöser Art ausübt. Auch im Neuen Testament wird erklärt, dass der Leib erst durch den Geist Gottes zum eigentlichen Leben kommt. Es heißt z. B.: „Der Geist (Gottes) ist es, der lebendig macht; das Fleisch nützt nichts“ . Bei Paulus war die Unterscheidung zwischen dem Reich des Geistes (vgl. ewiges Ich) und dem Reich des Fleisches (sterbliche Natur) zentral. Sinngleiches findet sich auch im Koran, wo es z. B. heißt, dass Gott Adam von seinem Geist (vgl. arabisches Wort "rūh" ) einblies und ihn auf diese Weise lebendig machte (Sure 15:29; 32:9; 38:72). Im Lehrsystem des basrischen Muʿtaziliten an-Nazzām (st. 835–845) wird der Geist als Gestalt bzw. Wesen dargestellt, die sich wie ein Gas mit dem Leib vermischt und ihn bis in die Fingerspitzen durchdringt, sich beim Tode aber wieder aus dieser Verbindung löst und selbständig (vgl. „ewiges Ich“) weiterexistiert. Im Christentum werden die Begriffe Seele und Geist (auch „Heiliger Geist“) scharf vom Geist des Menschen unterschieden. Dies ergibt sich auch daraus, dass erstere Begriffe in ihrer Bedeutung näher an der Metaphysik klassischer christlicher Fundamentaltheologie und Philosophie sind: Sie legen nämlich die Existenz eines nichtmateriellen Trägers von Bewusstseinszuständen nahe. Dennoch spielt der Begriff des Bewusstseins auch in modernen christlichen Debatten eine Rolle. Dies geschieht etwa im Kontext von Gottesbeweisen. So wird argumentiert, dass die Interaktion zwischen immateriellen Bewusstseinszuständen und dem materiellen Körper nur durch Gott erklärbar sei oder dass die interne Struktur und Ordnung des Bewusstseins im Sinne des teleologischen Gottesbeweises auf die Existenz Gottes schließen lasse. Hinduismus und Buddhismus. Verschiedene buddhistische Traditionen und hinduistische Yoga-Schulen haben gemeinsam, dass hier die direkte und ganzheitliche Erfahrung des Bewusstseins im Mittelpunkt steht. Mit Hilfe der Meditation oder anderer Übungstechniken würden bestimmte Bewusstseinszustände erfahren, indem personale und soziale Identifikationen abgebaut würden. Eine besondere Unterscheidung wird hier zur Bewusstheit getroffen, die ein volles Gewahrsein ("awareness") des momentanen Denkens und Fühlens bedeute. Sie solle erreicht werden durch die Übung der Achtsamkeit. Einsichten in die Natur des Bewusstseins sollen so über eine eigene Erfahrung gewonnen werden, die über einen rein reflektierten und beschreibenden Zugang hinausgehe. Das Konzept der Trennung von Körper und Geist oder Gehirn und Bewusstsein werde als eine Konstruktion des Denkens erfahren. Literatur. Einführungstexte zum Rätsel des Bewusstseins Systematische philosophische Literatur (Populär-)Wissenschaftliche Literatur Bewusstsein bei Tieren Fachpublikation Online-Zeitschriften Weblinks. Allgemein Literaturzusammenstellungen Spezielleres Multimedialinks Videos
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Bosnische Sprache
Die bosnische Sprache (Eigenbezeichnung "bosanski jezik"/босански језик) ist eine Standardvarietät aus dem südslawischen Zweig der slawischen Sprachen und basiert wie Kroatisch und Serbisch auf einem štokavischen Dialekt. Bosnisch wird von ca. 1,87 Millionen Menschen in Bosnien und Herzegowina, wo es eine der drei Amtssprachen ist, als Muttersprache der Bosniaken gesprochen. Daneben wird es auch in Serbien und Montenegro von etwa 168.000 Menschen gesprochen, in Westeuropa und den USA von etwa 150.000 Auswanderern, sowie von mehreren zehntausend Aussiedlern in der Türkei. Die offiziellen Schriften von Bosnien und Herzegowina sind kyrillisch und lateinisch. Die Bezeichnung „Bosnisch“ ist im ISO-639-Standard festgelegt. Sowohl grammatikalischen Kriterien zufolge als auch im Wortschatz ist die bosnische Sprache der kroatischen und serbischen Sprache so ähnlich, dass sich alle Bosnischsprecher mühelos mit Sprechern des Serbischen und Kroatischen verständigen können (siehe auch: "Deklaration zur gemeinsamen Sprache"). Aufgrund dessen ist politisch umstritten, ob Bosnisch eine eigenständige Sprache oder eine nationale Varietät des Serbokroatischen ist. Aufgrund der gemeinsamen Geschichte von Bosnien und Herzegowina, Kroatien und Serbien ist die Auffassung bezüglich der Eigenständigkeit der Sprache stets auch eine politisch gefärbte und wird daher abhängig vom politischen Standpunkt unterschiedlich bewertet. Geschichte. Das Bosnische hat im Laufe seiner geschichtlichen Entwicklung neben lateinischer und kyrillischer Schrift auch verschiedene andere Alphabete verwendet: Bosančica (eine spezielle kyrillische Schrift, die vor allem in Bosnien-Herzegowina, aber auch in Dalmatien verwendet wurde; auch Begovica genannt), Arebica (eine erweiterte arabische Schrift angepasst an das bosnische Alphabet) und in einigen Gebieten auch die Glagoliza. Die in Bosnien gesprochenen Dialekte sind zwar linguistisch homogener als die in Kroatien oder Serbien, jedoch wurde es während des 19. Jahrhunderts aus geschichtlichen Gründen versäumt, eine Standardisierung der Sprache durchzuführen. Das erste bosnische Wörterbuch war ein bosnisch-türkisches Wörterbuch von Muhamed Hevaji Uskufi aus dem Jahr 1631. Während die Arbeit Uskufis ein Einzelstück blieb, wurden beispielsweise kroatische Wörterbücher regelmäßig erweitert und neu aufgelegt. Dies hatte vor allem folgende Ursachen: Ursache für den letzteren Punkt dürfte die Tatsache sein, dass Bosnien und Herzegowina lange Zeit abwechselnd mal zum Okzident, mal zum Orient gehörten. Das erklärt auch die Herkunft der arabischen Wörter, die in einer slawischen Sprache sonst eher selten anzutreffen sind. Da der Orient im Mittelalter kulturell und intellektuell weiter vorangeschritten war als der Okzident, verwundert es nicht, dass die Elite orientalische Sprachen bevorzugte – stammte sie doch größtenteils aus eben jenem Raum. Die Kodifizierungen der bosnischen Sprache während des 19. und 20. Jahrhunderts wurden meist außerhalb Bosnien-Herzegowinas entwickelt. Zum Jahrhundertwechsel kam es zur sogenannten „Bosnischen Renaissance“, auf der die bosnische Sprache bis heute aufbaut: Es wurden vor allem Begriffe normiert, die eher der kroatischen als der serbischen Form ähnelten, das heißt, es wurde die westlich-štokavisch-ijekavische Form mit lateinischer Schrift als Regel festgelegt, wobei aber auch viele spezifisch bosnische Begriffe eingebaut wurden. Die wichtigsten bosnischen Autoren dieser Zeit, die zur Normierung der Sprache beigetragen haben, waren Safvet-beg Bašagić, Musa Ćazim Ćatić und Edhem Mulabdić. Während der Periode des sozialistischen Jugoslawiens wurde nur der Begriff Serbokroatisch verwendet. Innerhalb des Serbokroatischen überwog jedoch das Serbische, wobei die lateinische Schrift beibehalten wurde. Seit dem Zerfall Jugoslawiens in verschiedene Nationalstaaten werden die vorher als Varianten bezeichneten Formen als verschiedene Sprachen anerkannt. Im Bosnischen wurden großteils die Regeln aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg („Bosnische Renaissance“) wiederhergestellt. Das Bosnische zeichnet sich gegenüber dem Serbischen und Kroatischen vor allem durch eine etwas höhere Anzahl von Fremd- und Lehnwörtern aus dem Türkischen, Arabischen und Persischen (Turzismen) aus. Außerdem ist die Betonung des Buchstabens 'h' stärker ausgeprägt als in den anderen beiden südslawischen Sprachen. Unterschiede zu anderen Standardvarietäten. Orthographie. Die bosnische Rechtschreibung ist der kroatischen oder der serbischen großteils ähnlich. Ein häufiger vorkommender Unterschied ist bei der Verwendung der Zukunfts-Form (Futur) gegeben. Während im Serbischen der Infinitiv mit dem Hilfswort verschmolzen wird, werden im Bosnischen und Kroatischen diese Wörter separat geschrieben, z. B. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass fremdsprachliche Eigennamen im Bosnischen einmal in der originalen, unveränderten Schreibweise wiedergegeben (z. B. '), ein andermal transkribiert werden (z. B. '), während diese Wörter im Serbischen immer transkribiert "()" und im Kroatischen immer im Original übernommen werden "()". Morphologie. Die bosnische Sprache verwendet (wie auch großteils Kroatisch) ausschließlich die ijekavische Aussprache, welche neben der dort vorherrschenden ekavischen Aussprache auch im Serbischen gebräuchlich ist, z. B.: Daneben ist das ‚h‘ in mehr Verbindungen zugelassen, teils als Reflex eines altslawischen Velars: Bei Lehnwörtern gibt es einige Unterschiede, zum Beispiel bei abgeleiteten Verben: Einige Wörter haben im Bosnischen – wie auch im Serbischen – ein grammatikalisch weibliches Geschlecht, während sie im Kroatischen grammatikalisch männlich sind, z. B.: Eine Reihe von weiteren morphologischen Unterschieden lässt sich systematisch schwer einordnen. Hier einige Beispiele: Vokabeln. Es gibt einige Vokabeln im Bosnischen, die sich grundsätzlich von den kroatischen oder serbischen Wörtern unterscheiden, davon viele mit türkischer bzw. arabischer Wortherkunft. Andererseits gibt es Vokabeln, die entweder die kroatische oder die serbische Form bevorzugen. Es existiert keine erlernbare Regel, in welchem Fall die kroatische und in welchem Fall die serbische Version zu verwenden ist. Dazu im Anschluss noch einige Beispiele: Monatsnamen im Bosnischen sind ähnlich jenen im Deutschen, dagegen sind kroatische Monatsnamen an altslawische Jahreszeitbezeichnungen angelehnt. Kroatische Monatsnamen können nach dem Reglement aber als Synonyme verwendet werden, was in der Praxis jedoch selten getan wird (z. B. Tageszeitungen verwenden beide Monatsbezeichnungen). Im Serbischen sind die Monatsnamen dem Bosnischen weitgehend ähnlich, bis auf drei Ausnahmen: Akzentuierung. Die Akzentuierung, also die Betonung der Wörter, ist in Bosnien und Herzegowina (aber auch in Kroatien, Serbien und Montenegro) je nach Region stark ausdifferenziert. Die Betonung der Wörter ist somit nicht an Standardsprachen gebunden, seien dies Bosnisch, Kroatisch oder Serbisch, sondern an die unterschiedlichen Regionen. Grammatik. Im Kroatischen wird nach modalen Hilfsverben mehrheitlich die Infinitivkonstruktion gewählt, die im Bosnischen und Serbischen oft mit „da“ (dass) umschrieben wird. Im Bosnischen sind aber grundsätzlich jeweils beide Varianten zulässig, z. B. Daneben gibt es in der bosnischen Sprache Unterschiede bei Zahlwörtern: Alphabet und Aussprache. Das bosnische Alphabet hat 30 Buchstaben: a, b, c, č, ć, d, dž, đ, e, f, g, h, i, j, k, l, lj, m, n, nj, o, p, r, s, š, t, u, v, z, ž. Diese werden auf Kyrillisch folgendermaßen geschrieben: а, б, ц, ч, ћ, д, џ, ђ, е, ф, г, х, и, ј, к, л, љ, м, н, њ, о, п, р, с, ш, т, у, в, з, ж. Die Buchstaben q, w, x, y kommen nur in fremdsprachigen Eigennamen vor, was vor allem bei Fremdwörtern auffällt (z. B. Phönix = "feniks", nicht "fenix"). Die Digraphen dž, lj und nj werden in der alphabetischen Ordnung jeweils als ein einziger Buchstabe behandelt. Es gibt nur eine sehr geringe Anzahl von Wörtern, in denen diese Zeichengruppen zwei getrennte Laute bezeichnen und deshalb als zwei Buchstaben behandelt werden müssen (z. B. „nadživjeti“ – jemanden überleben). Die Mehrzahl der Buchstaben werden im Großen und Ganzen wie im Deutschen ausgesprochen. Grammatik. Grammatikalisch betrachtet hat das Bosnische sieben Fälle (Kasus): Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ, Vokativ, Instrumental und Lokativ. Die Grammatik ist – bis auf wenige Ausnahmen – fast identisch mit jener des Kroatischen und des Serbischen. Sprachbeispiel. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Artikel 1: Kontroversen. Die Bezeichnung „bosnische Sprache“ (bosn. ) ist teils umstritten. Einige serbische oder kroatische Strömungen bevorzugen die Bezeichnung „bosniakische Sprache“ (), weil es sich nach ihrer Ansicht nicht um die Sprache aller Bosnier, sondern nur um jene der Bosniaken handelt, während die bosnischen Serben und Kroaten ihre Sprache als „Serbisch“ bzw. „Kroatisch“ bezeichnen. Jedoch entspringen solche Standpunkte oft eher politischen als linguistischen Argumentationen. Die Bezeichnung „Bosnisch“ ist allerdings international anerkannt und wird auch im Dayton-Vertrag verwendet.
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Bernstein
Bernstein bezeichnet einen seit Jahrtausenden bekannten und insbesondere im Ostseeraum weit verbreiteten klaren bis undurchsichtigen gelben Schmuckstein aus fossilem Harz. Damit ist überwiegend nur ein bestimmtes fossiles Harz gemeint, dieser Bernstein im engeren Sinne ist die Bernsteinart mit dem wissenschaftlichen Namen "Succinit". Die Bezeichnungen "Succinit" und "Baltischer Bernstein" werden oft synonym verwendet, da Succinit den weitaus überwiegenden Teil des Baltischen Bernsteins ausmacht. Die anderen fossilen Harze im "Baltischen Bernstein" stammen von unterschiedlichen Pflanzenarten und werden auch als „Bernstein im weiteren Sinne“ bezeichnet. Manche kommen mit dem Succinit zusammen vor, z. B. die schon lange aus den baltischen Vorkommen bekannten Bernsteinarten Gedanit, Glessit, Beckerit und Stantienit. Diese werden auch als akzessorische Harze bezeichnet. Andere fossile Harze verschiedener botanischer Herkunft bilden hingegen eigenständige Lagerstätten unterschiedlichen geologischen Alters, wie z. B. der Dominikanische Bernstein und der Libanon-Bernstein. Von der großen Gruppe der Kopale gehören nur die fossilen, aus der Erde gegrabenen Vertreter (z. B. der „Madagaskar-Kopal“) entsprechend der Definition (siehe Abschnitt Bernsteinarten) trotz ihres geologisch jungen Alters zu den Bernsteinen. Dieser Beitrag behandelt das Thema Bernstein im Allgemeinen und wegen ihrer überragenden wissenschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Bedeutung die häufigste baltische Bernsteinart, den Succinit, im Besonderen. Der älteste bekannte Bernstein stammt aus etwa 310 Millionen Jahre alten Steinkohlen. Seit dem Paläozoikum ist das Harz damaliger Bäume als feste, amorphe (nicht kristalline) Substanz erhalten geblieben. Von der International Mineralogical Association (IMA) ist Bernstein aufgrund seiner nicht eindeutig definierbaren Zusammensetzung nicht als eigenständige Mineralart anerkannt. Er bildet aber in der Systematik der Minerale innerhalb der Klasse der Organischen Verbindungen eine eigene Mineralgruppe, die in der 9. Auflage der Systematik nach Strunz unter der System-Nr. "10.C" (Diverse organische Mineralien) zu finden ist (8. Auflage: IX/C.01) Bereits seit vorgeschichtlichen Zeiten wird Bernstein als Schmuck und für Kunstgegenstände genutzt. Einige in Ägypten gefundene Objekte sind z. B. mehr als 6000 Jahre alt. Das berühmteste Kunstobjekt aus Bernstein war das Bernsteinzimmer, das seit dem Zweiten Weltkrieg verschollen ist. In den Jahren 1979 bis 2003 haben russische Spezialisten im Katharinenpalast bei Puschkin das für die Öffentlichkeit wieder zugängliche Bernsteinzimmer mit Bernstein aus Jantarny detailgetreu rekonstruiert, nachdem bis dahin unbekannte Fotografien gefunden worden waren, die dieses einzigartige Projekt ermöglichten. Für die Wissenschaft, insbesondere für die Paläontologie, ist Bernstein mit Einschlüssen, den sogenannten Inklusen, von Interesse. Diese Einschlüsse sind Fossilien von kleinen Tieren oder Pflanzenteilen, deren Abdrücke, in seltenen Fällen auch Gewebereste, im Bernstein seit Jahrmillionen perfekt erhalten sind. Etymologie und Bezeichnungen. Die deutsche Bezeichnung "Bernstein" (in Preußen früher auch "Börnstein" genannt) ist eine frühneuhochdeutsche Entlehnung von (von "bernen" „brennen“) und auf die auffällige Brennbarkeit dieses „(Edel-)Steins“ zurückzuführen. Eine Reihe von belegten Deutungsalternativen stellt Christel Hoffeins vor. Andere im deutschsprachigen Raum historisch verwendete Namen sind "agstein, agtstein, agetstein, agatstein, augstein, ougstein, brennstein, cacabre, carabe, karabe, glaere, lynkurer, gismelzi" und "amber". Das altgriechische Wort für Bernstein ist (), was mit „Hellgold“ übersetzt werden kann. Die Wurzel des Wortes stammt aus der indogermanischen Ursprache und hat die eigentliche Bedeutung „hell, glänzend, strahlend“. In vornehmen antiken Haushalten diente ein größerer Bernstein als Kleiderbürste; durch das Gleiten am Stoff lud er sich elektrostatisch auf und zog dann die Staubteilchen an sich. Das Phänomen der statischen Elektrizität beim Reiben von Bernstein mit bestimmten Materialien war bereits dem griechischen Philosophen Thales bekannt. Damit konnte das griechische Wort für Bernstein zum modernen Namensgeber des Elementarteilchens Elektron und der Elektrizität werden. Dieses einfache elektrostatische Aufladen von Bernstein wurde auch für frühe Versuche zur Elektrizität benutzt. In der griechischen Antike wurde Bernstein auch als "Lyncirium" („Luchsstein“) bezeichnet, möglicherweise weil man annahm, er sei aus dem Urin des Luchses entstanden, der bei starker Sonneneinstrahlung hart geworden sei. Allerdings wird in der Literatur auch die Ansicht vertreten, dass diese Bezeichnung lediglich eine Verballhornung des Wortes "ligurium" darstellt, mit dem in der Antike Bernstein bezeichnet und zum Ausdruck gebracht wurde, dass es sich um ein ligurisches Produkt handelt. Es wurde für wahrscheinlich gehalten, dass die mit Bernstein Handel treibenden Phönizier ihre Ware von den Ligurern erhielten, die während des ersten vorchristlichen Jahrtausends lange Zeit am südlichen Endpunkt (Rhonedelta) einer der antiken Bernsteinstraßen siedelten. Die Römer bezeichneten den Bernstein mit dem griechischen Fremdwort oder nannten ihn (wie auch die spätere Fachsprache) (wohl nach „dicke Flüssigkeit, Saft“) in der richtigen Vermutung, er sei aus Baumsaft entstanden. Weitere (mittellateinische) Bezeichnungen sind („brennender Stein“) und . Die germanische Bezeichnung des Bernsteins lautete nach Tacitus "glesum", in dem das Wort Glas seinen Ursprung hat. Im Arabischen wird Bernstein als "anbar" bezeichnet; hieraus leitet sich die heutige Bezeichnung für Bernstein in einigen Sprachen ab (z. B. , , , ). Bernsteinarten und -varietäten, Naturformen und Sorten. Allgemeine Definitionen. In der rezenten Pflanzenwelt, besonders häufig in den Tropen und Subtropen, sind hunderte Pflanzenarten bekannt, die Harz absondern. Von einigen, häufig inzwischen ausgestorbenen Arten ist das Harz fossil erhalten geblieben. Im wissenschaftlichen Sprachgebrauch wird seit langem der Name Bernstein als Sammelbegriff für alle feste Partikel bildenden fossilen Harze verwendet. Für das von einer bestimmten Pflanzenart stammende fossile Harz hat sich der Begriff Bernsteinart eingebürgert. Obwohl Bernsteine keine Minerale sind, wird in Anlehnung an die häufige Namensgebung der Minerale für die Bernsteinarten die Endsilbe "-it" verwendet. Bereits seit 1820 trägt die häufigste baltische Bernsteinart, der Bernstein im engeren Sinne, den Namen "Succinit". Gebräuchlich ist auch die Verbindung mit Namen von Regionen oder Orten, z. B. „Baltischer Bernstein“, „Dominikanischer Bernstein“, „Bitterfelder Bernstein“. Ursprünglich wurden damit nur ganz allgemein Fundorte von Bernsteinen bzw. Kollektive von Bernsteinarten gekennzeichnet. In der baltischen Bernsteinlagerstätte sind andere Bernsteinarten sehr selten, so dass für die dominierende Bernsteinart Succinit umgangssprachlich der Name Bernstein verwendet wird, früher war auch der Begriff „deutscher Bernstein“ gebräuchlich. Die häufig verwendete Bezeichnung „Baltischer Bernstein“ für Succinit ist wegen der vor einiger Zeit bekannt gewordenen zahlreichen Funde in Mitteldeutschland wissenschaftlich nicht haltbar und sollte zur Vermeidung von Irrtümern nicht verwendet werden. Denn auch in der weltweit zweitgrößten Bernsteinlagerstätte Bitterfeld ist der Succinit die häufigste Bernsteinart und ein sich dann ergebender Name „Baltischer Bernstein aus Bitterfeld“ würde zu Missverständnissen führen. Für die Bernsteinart Succinit ist zur Verknüpfung der umgangssprachlichen mit der wissenschaftlichen Bezeichnung der Name Bernstein (Succinit) am besten geeignet. Da in beiden Lagerstätten auch andere Bernsteinarten vorkommen, müsste die Bezeichnung „Baltischer Bernstein“ auf die regionale Herkunft beschränkt werden. Gleichermaßen ist der „Ukrainische Bernstein“ (auch „Rovno-Bernstein“) ein Kollektiv von Bernsteinarten, und auch dieser Begriff sollte nur zur Kennzeichnung des regionalen Vorkommens Anwendung finden. Bei den Bernsteinarten werden wie bei den Mineralen nach ihrer Farbe, Transparenz und anderen Merkmalen Varietäten unterschieden. Sie sind substanziell identisch und stammen von derselben Erzeugerpflanze ab. Nach der äußeren Erscheinung sind Naturformen zu unterscheiden: Ihre Gestalt geht auf die unmittelbare Absonderung des Harzes sowie die Veränderung der Gestalt beim Transport vom Erzeugerbaum bis in die Lagerstätte zurück. Zur Kennzeichnung bei der technischen Gewinnung und Verarbeitung des Succinit werden Sorten und Handelssorten unterschieden. Bernsteinarten. Weltweit sind mehr als 80 Bernsteinarten bekannt, die zumeist aber nur in geringer Menge vorkommen. Eine Auswahl findet sich im Artikel Bernsteinvorkommen. Die häufigste Bernsteinart ist der Succinit, allein im Baltikum sollen es nach einer Schätzung noch mehr als 640.000 t sein. Von den baltischen Vorkommen sind schon seit dem 19. Jahrhundert die akzessorischen Bernsteinarten "Gedanit, Glessit, Beckerit" und "Stantienit" bekannt. Über die im Abfall (Brack) bei der Bernsteingewinnung in Bitterfeld gefundenen akzessorischen fossilen Harze gab es langjährige und auch konträr geführte Diskussionen, z. B. Inzwischen wurden die durch die große Seltenheit verursachten Irrtümer revidiert. In der Bitterfelder Bernsteinlagerstätte kommen neben dem mit 99,9 % dominierenden Succinit die Bernsteinarten "Gedanit, Glessit, Beckerit, Stantienit," Goitschit, Bitterfeldit, Durglessit und Pseudostantienit sowie weitere elf noch nicht namentlich gekennzeichnete fossile Harze vor. Die Kopale, soweit nicht auch von Bäumen gesammeltes rezentes Harz einbezogen wird, sind junge fossile Harze der Tropen und Subtropen in West- und Ostafrika, Madagaskar, dem Malaiischen Archipel, Neuseeland und Kolumbien. Sie werden von manchen Autoren trotz ihres geringen Alters ebenfalls als Bernsteinart angesehen. Ihre gegenüber älteren Bernsteinarten geringere Härte und größere Löslichkeit sind nicht, wie häufig angenommen wird, eine Folge der „Unreife“, sondern wie bei den ähnlich weichen älteren Bernsteinarten "Goitschit" und "Bitterfeldit" aus Bitterfeld eine Eigenschaft des Ausgangsharzes. Bernsteinvarietäten. Von der Bernsteinart Succinit werden Varietäten insbesondere nach dem Grad einer Trübung unterschieden, charakteristisch sind die fließenden Übergänge und Vermischungen in den einzelnen Stücken: Auch von selteneren Bernsteinarten, z. B. Glessit und Bitterfeldit, sind Varietäten bekannt. Naturformen. Bei den Naturformen sind die primären von den sekundären zu unterscheiden. Die primären Naturformen entstanden beim Ausfluss des Harzes, sie werden deshalb häufig als "Flussformen" bezeichnet: Sekundäre Naturformen entstanden durch Verwitterungsprozesse und die Beanspruchung beim Transport vom Entstehungsort bis in die Lagerstätte: Sorten und Handelssorten. Der industriell gewonnene Bernstein (Succinit) kommt insbesondere nach der Größe und den Varietäten sortiert in den Handel. Nicht für die Schmuckherstellung, sondern allenfalls für die Bernsteindestillation geeigneter, verunreinigter oder zu feinkörniger Bernstein wird als "Brack, Schlack" oder "Firnis" bezeichnet. "Rohbernstein" trägt in der Regel noch eine Verwitterungskruste, sofern diese nicht durch längeres Treiben am Meeresgrund abgeschliffen wurde. Dieser und geschliffener und polierter Bernstein, dessen innere Struktur oder Farbe nicht künstlich verändert wurde, werden als "Naturbernstein" bezeichnet. Im Handel erhältlicher Bernsteinschmuck enthält oft "klargekochten" Bernstein. Es handelt sich dabei um ursprünglich "trüben, unansehnlichen" Naturbernstein, welcher in heißem Öl gekocht wurde. Öl hat einen deutlich höheren Siedepunkt als Wasser, daher werden Temperaturen erreicht, bei denen das fossile Harz weich und durchlässiger wird und die winzigen Luftbläschen mit Öl ausgefüllt werden. Der Lichtbrechungsfaktor von Öl ist mit dem des Bernsteins nahezu identisch, somit sind die Bläschen nach der Abkühlung des Bernsteins nicht mehr sichtbar. Das Ergebnis ist ein glasklarer, einheitlich gefärbter „Stein“. Das Verfahren hat jedoch einen Schönheitsfehler: Der derart behandelte Bernstein ist während des Abkühlvorganges sehr empfindlich. Wird das Material nicht Grad für Grad behutsam abgekühlt, entstehen darin sogenannte „Sonnenflinten“, mehr oder weniger halbkreisförmige, goldglänzende Sprünge. Diese sind in unbehandeltem Bernstein nur sehr selten und allenfalls an Bruchstellen zu finden. Mitunter wird der Abkühlungsprozess aber auch ganz bewusst so gesteuert, dass sich dekorative und attraktive "Flinten" bilden. Zur Klärung kann anstelle des „Klarkochens“ in Öl auch eine Erhitzung des Bernsteins in einem "Sandbad" erfolgen. Bei diesem Verfahren füllen sich die Bläschen mit einer harzigen Masse, die der Bernstein selbst liefert. Geklärter Bernstein ist kein reines Naturprodukt mehr. "Pressbernstein" wird im Handel missverständlich als "Echtbernstein, echter Bernstein" oder "Ambroid" angeboten. Damit ist jedoch nicht der natürlich entstandene Bernstein gemeint, sondern ein Produkt, das aus Schleifresten und kleinen Stücken in einem Autoklav gefertigt wurde. "Pressbernstein" wird hergestellt, indem gereinigte Bernsteinbröckchen erwärmt und dann unter starkem Druck zusammengepresst werden. Das geschieht unter Luftabschluss und bei einer Temperatur von 200 °C bis 250 °C. Bei einem Druck bis 3000 bar wird die Masse zu stangen- oder bogenförmigen Körpern verfestigt. Durch Variation von "Hitze" und "Druck" lassen sich unterschiedliche Farbtöne und sowohl klarer als auch trüber Pressbernstein herstellen. Neben diesen Formen von Bernstein wird im Handel "Echtbernstein extra" angeboten, ein "Pressbernstein", der bis auf seine unregelmäßigen "Blitzer" aufgrund seiner geringen und feingliedrigen Schlierenverteilung visuell kaum vom Naturbernstein zu unterscheiden ist. Er kann nur durch gemmologische Untersuchungsmethoden eindeutig bestimmt werden. Eigenschaften. Die Farbe des Bernsteins (Succinit) reicht von "farblos" über "weiß, hell"- bis "goldgelb" und "orange" bis hin zu "Rot"- und "Brauntönen", bei getrübten Stücken können durch Lichtbrechungseffekte selten auch "grünliche" und "bläuliche" Töne auftreten. Dunkelbraune bis schwarzgraue Stücke enthalten größere Mengen pflanzlicher und mineralischer Einschlüsse. Der "Trübungsgrad" hängt von der Anzahl der in ihm enthaltenen mikroskopisch kleinen Bläschen ab. Die Varietät "Knochen" (Weißharz) hat die größte Bläschendichte (Größe: 0,0002 mm bis 0,0008 mm, Anzahl: bis zu 900.000 pro mm²). Veraltet ist die Ansicht, dass die Bläschen mit „Wasser und terpenhaltigem Öl gefüllt“ sein sollen, also der Zellsaft der "Bernsteinbäume" erhalten geblieben sei. Im "bergfrischen" Zustand sind die Bläschen mit Wasser gefüllt. Da Bernstein nicht gasdicht ist, verdunstet das Wasser an der Luft mehr oder weniger rasch. Bei größeren Hohlräumen kann dabei zwischenzeitlich wie bei einer Wasserwaage eine Libelle entstehen. Bei anderen Bernsteinarten ist das Farbspiel wesentlich größer, z. B. tiefschwarze (Stantienit, Pseudostantienit), dunkelblaugraue (Glessit) und auch blutrote Farben. Allseits bekannt ist der "Blauschimmer", der beim "Dominikanischen Bernstein" häufig auftritt. Bernstein (Succinit) kann im Gegensatz zu Imitationen aus Kunstharz leicht angezündet werden und zeigt während des Brennens eine gelbe, stark rußende Flamme. Dabei duftet er harzig-aromatisch und verläuft an der Flamme zu einer schwarzen, spröde erhärtenden Masse. Der harzige Geruch entsteht, weil flüchtige Bestandteile (ätherische Öle) des Bernsteins verbrennen. Deshalb eignet er sich zum Räuchern und wird in vielen Kulturen seit Jahrhunderten als Räuchermittel verwendet. So dient es zum Beispiel in Indien als Weihrauchersatz für sakrale Zwecke oder kommt in den traditionellen Ritualen des Sufismus zum Einsatz. Physikalische Eigenschaften. Bernstein (Succinit) hat eine Mohshärte von 2 bis 2,5 und ist damit ein recht weiches Material. Es ist möglich, mit einer Kupfermünze eine Furche in die Oberfläche zu ritzen. Manche andere Bernsteinarten sind viel weicher (etwa Goitschit, Bitterfeldit, Kopale) oder sehr viel härter, zum Beispiel die "Braunharze", die sich kaum mit einer Stahlnadel ritzen lassen. Andere haben eine gummiartige Konsistenz (etwa Pseudostantienit) oder sind außerordentlich zäh (etwa Beckerit). Bernsteine sind nur wenig dichter als Wasser. Wegen ihrer geringen Dichte (um 1,07 gcm−3) schwimmen sie in gesättigten Salzlösungen. Diese Eigenschaft wurde bei der Bernsteingewinnung in Bitterfeld genutzt, um im Siebrückstand >3 mm den Bernstein von Fremdbestandteilen zu trennen. Bernstein (Succinit) hat keinen Schmelzpunkt, bei 170 °C bis 200 °C wird er weich und formbar, und oberhalb von 300 °C beginnt er sich zu zersetzen. Bei der trockenen Destillation, die früher in großem Umfang durchgeführt wurde, entstehen als Hauptprodukte Bernsteinöl und "Bernstein-Kolophonium". Bernsteinöl wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts für die Flotation von Erz verwendet, und das Kolophonium war ein begehrter Lackrohstoff. Beide Substanzen haben ihre wirtschaftliche Bedeutung im Wesentlichen verloren und sind nur noch Nischenprodukte, Bernsteinöl z. B. als Naturheilmittel. Bernstein (Succinit) hat einen sehr hohen elektrischen Widerstand und eine sehr niedrige Dielektrizitätskonstante von 2,9 als Naturbernstein oder 2,74 als Pressbernstein. In trockener Umgebung kann er durch Reiben an textilem Gewebe (Baumwolle, Seide) oder Wolle elektrostatisch aufgeladen werden. Dabei erhält er eine negative Ladung, das heißt, er nimmt Elektronen auf. Das Reibmaterial erhält eine positive Ladung durch Abgabe von Elektronen. Man bezeichnet diese Aufladung auch als Reibungselektrizität. Diese Eigenschaft kann als zerstörungsfreier, wenn auch – gerade bei kleineren Stücken – nicht immer einfach durchzuführender Echtheitstest verwendet werden: Der aufgeladene Bernstein zieht kleine "Papierschnipsel, Stofffasern" oder "Wollfussel" an. Dieser Effekt war bereits in der Antike bekannt und wurde durch die Werke von Plinius dem Älteren bis ins Spätmittelalter überliefert. Der englische Naturforscher William Gilbert widmete ihm in seinem im Jahr 1600 erschienenen Werk "De magnete magneticisque corporibus" ein eigenes Kapitel und unterschied ihn vom Magnetismus. Von Gilbert stammt auch der Begriff „Elektrizität“, den er aus dem griechischen Wort "ἤλεκτρον ēlektron" für Bernstein ableitete. Bernstein (Succinit) leuchtet unter Ultraviolettstrahlung (Wellenlänge 320 bis 380 nm) in unverwittertem oder frisch angeschliffenem Zustand blau und in verwittertem Zustand in einem matten Olivgrün. Succinit glänzt, wenn er feucht oder geschliffen ist, da er bei glatter Oberfläche eine hohe Lichtbrechung aufweist. Er lässt bei Schichten bis zu 10 mm Dicke Röntgenstrahlung fast ohne Verlust passieren. Eine Klassifizierung nach ihren physikalischen Eigenschaften haben "Fuhrmann & Borsdorf" vorgelegt, neben einer Succinitgruppe (Succinit, Gedanit) wird eine Glessitgruppe (Glessit, Bitterfeldit, Durglessit, Goitschit), eine "Beckeritgruppe" (Beckerit, Siegburgit) und eine "Stantienitgruppe" (Stantienit, Pseudostantienit) unterschieden. Sehr einfach durchzuführende infrarotspektrometrische Untersuchungen unterstützen diese Gliederung, die häufigste Bernsteinart Succinit zeichnet sich z. B. durch einen unverwechselbaren Abschnitt im "IR-Spektrogramm", die sogenannte „Baltische Schulter“ aus. Chemische Eigenschaften. Die Entschlüsselung der chemischen Eigenschaften der Bernsteinart Succinit hat eine lange Geschichte. So war beispielsweise bereits im 12. Jahrhundert das Destillationsprodukt "Bernsteinöl" bekannt; Agricola gewann im Jahre 1546 Bernsteinsäure, und dem russischen Universalgelehrten W. Lomonossow gelang es Mitte des 18. Jahrhunderts, einen wissenschaftlichen Beweis für die Natur des Bernsteins als fossiles Baumharz zu liefern. Berzelius fand 1829 mit schon modern anmutenden chemischen Analysemethoden heraus, dass Bernstein sich aus löslichen und unlöslichen Bestandteilen zusammensetzt. Nach der Elementaranalyse bestehen Bernsteine zu 67–81 % aus Kohlenstoff, der Rest ist Wasserstoff und Sauerstoff sowie manchmal etwas Schwefel (bis 1 %). Durch Einlagerung von mineralischen Bestandteilen können weitere Elemente vorkommen. Bernstein ist ein Gemisch verschiedener organischer Stoffe, die in langen Fadenmolekülen gebunden sind. Nachgewiesene lösliche Bestandteile sind zum Beispiel Abietinsäure, Isopimarsäure, Agathendisäure sowie Sandaracopimarsäure. Der unlösliche Bestandteil des Bernsteins ist ein Ester, der als Succinin (oder Resen, Sucinoresen→Succinate) bezeichnet wird. Bisher sind über 70 organische Verbindungen nachgewiesen, die am Aufbau des Bernsteins (Succinit) beteiligt sind. Die meisten Bernsteinarten verwittern durch Einwirkung von Luftsauerstoff und UV-Strahlung. Dabei dunkeln beim Succinit zuerst die äußeren Schichten nach und verfärben sich rot (Varietät "Antik"). Von der Oberfläche und vorhandenen Hohlräumen ausgehend bilden sich kleine polygonale Risse, mit der Zeit wird die Oberfläche rau und bröckelig, und schließlich wird das gesamte Stück zersetzt. Dadurch werden auch vorhandene Einschlüsse zerstört. Viele Bernsteinarten sind in organischen Lösungsmitteln nur wenig löslich. Bernstein (Succinit) reagiert nur an der Oberfläche mit Ether, Aceton und Schwefelsäure; bei längerer Einwirkungsdauer wird sie matt. "Pressbernstein" ist weniger widerstandsfähig. Bei längerem Kontakt mit den oben genannten Substanzen wird er "teigig" und "weich". Dasselbe gilt prinzipiell auch für Kopal und Kunstharz, nur dass bei diesen schon ein wesentlich kürzerer Kontakt ausreicht. Die Nomenklatur fossiler Harze ist unübersichtlich. Die Bezeichnung der Bernsteinarten sowohl mit regionalen Namen nach Ländern und Regionen als auch nach ihren Eigenschaften in Analogie zu den Mineralen mit der Endsilbe -it kann zu Missverständnissen führen (siehe Abschnitt Bernsteinarten). In einem ersten veralteten Versuch zur Unterscheidung anhand der chemischen Zusammensetzung wurden Succinite mit 3 % bis 8 % Bernsteinsäure von den Retiniten mit bis 3 % Bernsteinsäure abgetrennt. "Anderson & Crelling" haben 1995 die folgende Klassifizierung nach den chemischen Grundbausteinen aufgestellt: (Übersetzung eng angelehnt an "Christoph Lühr") Die Einordnung unbekannter Bernsteinarten in diese Klassifikation erfordert sehr aufwendige massenspektrometrische, gaschromatographische oder kernspinresonanzspektroskopische Untersuchungen. Die Bestimmung der botanischen Herkunft anhand der chemischen Zusammensetzung ist problematisch, weil die geringe Löslichkeit der hochpolymeren Verbindungen analytisch extreme Schwierigkeiten bereitet, denn die bei der zwangsweise pyrolytischen Aufspaltung entstehenden Bruchstücke sind meist nicht identisch mit den ursprünglichen Substanzen. Die botanische Herkunft eines fossilen Harzes kann gesichert nur mit paläobotanischen Untersuchungen bestimmt werden, wie z. B. beim Gedanit. Weltweites Vorkommen von Bernstein. Zur Kennzeichnung der weltweit verbreiteten Bernsteinvorkommen wurden vor längerer Zeit Namen nach Ländern oder ganzen Regionen eingeführt, z. B. "Rumänischer Bernstein" (Rumänit) oder "Sibirischer Bernstein". Ursache für diese Vereinfachung war häufig die unzureichende Kenntnis der physikalisch-chemischen Eigenschaften und nicht selten auch die geringe Menge des gefundenen fossilen Harzes. Daneben gibt es schon sehr lange die wissenschaftliche Kennzeichnung von definierten Bernsteinarten anhand der substanziellen Eigenschaften, erkennbar an der Namensendsilbe -it. Das Alter ist am Bernstein selbst nicht bestimmbar, sondern nur das Alter des ihn einschließenden Sediments. Die dazu benötigten Fossilien oder anderen Bestandteile, an denen Altersbestimmungen möglich sind, müssen aber nicht das gleiche Alter haben. Ein Beispiel dafür ist die „Blaue Erde“ der baltischen Bernsteinlagerstätte. Fossilien belegen ein obereozänes Alter von etwa 35 Millionen Jahren. Das an radioaktiven Isotopen bestimmte wesentlich höhere Alter bis 50 Millionen Jahre ist sehr wahrscheinlich durch Umlagerungen zu erklären. Bernstein kann nur in einem Wald gebildet worden sein. Fossile Waldböden mit eingeschlossenem Bernstein sind aber nur selten erhalten, z. B. unmittelbar unter dem "obereozänen" Braunkohlenflöz in der Nähe von Bitterfeld oder einige Kopalvorkommen Ostafrikas. Im Gegensatz zu diesen autochthonen Vorkommen sind die meisten Vorkommen in jüngere Sedimente eingebettet, sie sind allochthon. Succinit ist gegenüber Luftsauerstoff aber wenig beständig, im belüfteten Waldboden kann er allenfalls einige Jahrtausende überdauern. Durch die erforderliche baldige Einbettung in ein für seine Erhaltung geeignetes Sediment ist der Altersunterschied zum einschließenden Sediment im geologischen Maßstab relativ unbedeutend, die Vorkommen sind deshalb parautochthon. Die bekannteste Fundregion von Bernstein in Europa ist der südöstliche Ostseeraum, das Baltikum, insbesondere die Halbinsel Samland (Kaliningrader Gebiet, Russland) zwischen Frischem und Kurischem Haff. Die reichste und auch heute noch wirtschaftlich genutzte Fundschicht, die sogenannte „Blaue Erde“, wurde im "Obereozän" vor etwa 35 Millionen Jahren abgelagert. Daneben führen im Deckgebirge die nur etwa 20 Millionen Jahre alten miozänen Schichten der sogenannten „Braunkohlenformation“ Bernstein, der auch zeitweise genutzt wurde (siehe Abschnitt Gewinnung). So junger miozäner Bernstein ist auch aus Nordfriesland und der Lausitz bekannt. In Mitteldeutschland sind inzwischen zahlreiche Fundstellen bekannt, denn der Braunkohletagebau Goitzsche ist nicht der einzige Fundort von Bernstein in den "tertiären" Schichten. Der älteste Bernstein (Succinit) wurde unter dem "obereozänen" "Braunkohleflöz Bruckdorf" westlich von Bitterfeld gefunden; er ist damit etwa gleich alt wie der Bernstein der „Blauen Erde“ des Samlandes. Weitere Einzelfunde stammen aus dem Flözniveau des Unteroligozäns bei Breitenfeld nördlich von Leipzig sowie bei Böhlen. Im gesamten Raum Leipzig-Bitterfeld wurden auf einer Fläche von 500 Quadratkilometern mehr als 20 Bernsteinvorkommen "oberoligozänen" Alters gefunden. An größeren Vorkommen sind neben der bekannten Bernsteinlagerstätte Bitterfeld im "Tagebaufeld Breitenfeld" 1.500 t und im "Tagebaufeld Gröbern" bei Gräfenhainichen beachtliche 500 t Bernstein prognostiziert worden. Nur einige Forscher halten nach wie vor an der Meinung fest, dass der mitteldeutsche Bernstein aus der „Blauen Erde“ des Baltikums umgelagert oder dass zumindest die Herkunft noch unsicher sei. Alle diese Vorkommen sind eingeschlossen in eine im "paläogeographischen" Umfeld sehr gut bekannte Schichtenfolge, deren mineralische Bestandteile unzweifelhaft durch Flüsse aus südlicher Richtung in das Meeresbecken eingetragen wurden. Eine Umlagerung aus nordöstlicher Richtung über mehr als 600 Kilometer ist schon deshalb nicht möglich, weil dann auch die den Bernstein einschließenden mehr als 15 Milliarden Kubikmeter Sand hätten mit von dort verlagert werden müssen. Die ältesten Bernsteinfunde Mitteleuropas stammen aus Braunkohletagebauen bei Helmstedt, des Geiseltales südlich von Halle sowie bei Aschersleben und Profen bei Zeitz. Bei diesen Funden aus "mitteleozänen" Schichten handelt es sich nicht um Succinit, sondern um die Bernsteinarten Krantzit und "Oxikrantzit", die möglicherweise von ausgestorbenen Vertretern der Storaxbaumgewächse stammen. Allgemein bekannt sind die zahlreichen Funde von Bernstein an den Küsten der Nord- und Ostsee sowie in quartären Sedimenten im gesamten nordmitteleuropäischen Raum. Diese rein allochthonen Vorkommen stehen in keiner Beziehung zu den im Tertiär "parautochthon" entstandenen Bernsteinvorkommen. Sie können auch keinen Beitrag zur Erforschung der Bernsteinentstehung leisten. Nicht nur die baltischen, sondern auch die "nordfriesischen" und "mitteldeutschen" Bernsteinvorkommen unterlagen während der "quartären" Vereisungen einer starken Abtragung. Die Bernstein führenden Schichten wurden durch die Inlandgletscher ausgeschürft, ganze Schollen der Bernstein führenden Schichten, aber auch durch Schmelzwässer aus dem Verband gelöster Bernstein wurden weit über das gesamte nördliche Mitteleuropa verstreut. An der "niederländischen, deutschen" und "dänischen" Nordseeküste, im dänischen Jütland "(jütländischer Bernstein)," auf den dänischen Inseln sowie an der schwedischen Küste kann nach Stürmen aus "quartären" Sedimenten ausgespülter Bernstein von Strandgängern gefunden werden. In Deutschland gibt es auch größere binnenländische Vorkommen in märkischen Gebieten – z. B. im Naturpark Barnim zwischen Berlin und Eberswalde (Brandenburg), man fand sie bei Regulierungen und Kanalbauten im nach Toruń ziehenden Urstromtal. Durch bis zu viermalige Umlagerung ist dieser rein "allochthone" Bernstein in allen "quartären" Schichten bis zum Holozän anzutreffen. Es handelt sich dabei überwiegend nur um Einzelfunde ohne größere Bedeutung. Auch aus anderen Teilen Europas sind Bernsteinvorkommen bekannt geworden, einige mit wesentlich höherem Alter, im östlichen Mitteleuropa (Tschechien, Ungarn) und auch in Rumänien, Bulgarien und der Ukraine. Am bekanntesten sind der "Mährische Bernstein" (Walchowit), der etwa 100 Millionen Jahre alt ist, der "Ukrainische Bernstein", der zum größten Teil aus Succinit besteht, sowie der "Rumänische Bernstein" (Rumänit), der in verschiedenen Lagerstätten auftritt und je nach Lagerstätte zwischen 30 und 100 Millionen Jahren alt sein soll. Bernsteinvorkommen sind auch aus der Schweiz, Österreich, Frankreich und Spanien bekannt. Bernstein aus den Schweizer Alpen ist etwa 55 bis 200 Millionen Jahre alt, solcher aus Golling etwa 225 bis 231 Millionen Jahre. Bernstein in jurassischen Schichten (Kantabrikum) bei Bilbao ist etwa 140 Millionen Jahre alt. Der bekannte "Sizilianische Bernstein" (Simetit) ist dagegen erst vor 10 bis 20 Millionen Jahren gebildet worden. Der älteste europäische Bernstein ist der "Middletonit", er ist etwa 310 Millionen Jahre alt und stammt aus Steinkohlengruben von Middleton bei Leeds. In Küstenländern Ost- und Westafrikas, vor allem aber auf Madagaskar, kommt Kopal vor. Der sogenannte "Madagaskar-Bernstein" ist etwa 100 Jahre bis 1 Million Jahre alt. Bernstein aus verschiedenen geologischen Zeitabschnitten ist in Nigeria, Südafrika und Äthiopien gefunden worden. Amerikas bekanntester Bernstein ist der wegen seiner Klarheit und seines Reichtums an fossilen Einschlüssen begehrte Bernstein aus der Dominikanischen Republik (Dominikanischer Bernstein). Auch aus Kanada (u. a. Chemawinit vom Cedar Lake) und dem US-Bundesstaat New Jersey (Raritan) sind Bernsteinvorkommen bekannt. In Asien findet man Bernstein vor allem im vorderen Orient (Libanon, Israel und Jordanien) und in Myanmar (früheres Birma/Burma). Der "Libanon-Bernstein" ist etwa 130 bis 135 Millionen Jahre und der auf sekundärer Lagerstätte liegende "Burma-Bernstein" (Birmit) vermutlich etwa 90–100 Millionen Jahre alt. Im australisch-ozeanischen Raum wird Bernstein in Neuseeland und im malayischen Abschnitt der Insel Borneo "(Sarawak-Bernstein)" gefunden. Während der Bernstein auf Borneo 15 bis 17 Millionen Jahre alt ist, kann Neuseeland-Bernstein ein Alter von bis zu 100 Millionen Jahren haben. Das größte bisher bekannte Bernsteinstück wurde 1991 im Rahmen einer deutsch-malayischen Forschungsexpedition von "Dieter Schlee" in Zentral-Sarawak (Indonesien) entdeckt. Es wog im Ursprungszustand etwa 68 kg und bedeckte eine Fläche von 5 m². Es konnten jedoch nur mehrere Teilstücke geborgen werden, von denen sich die beiden größten mit einem Gesamtgewicht von etwa 23 kg im Staatlichen Museum für Naturkunde in Stuttgart befinden, das auch im Besitz einer Guinnessbuch-Urkunde (1995) für den größten Bernsteinfund ist. Weitere sehr große Bernsteinstücke sind aus Japan bekannt. Aus der Lagerstätte bei Kuji (Kuji-Bernstein) wurde 1927 ein Bernsteinstück mit einem Gewicht von 19,875 kg geborgen, ein weiteres 1941 mit 16 kg. Beide Stücke werden im Nationalmuseum der Naturwissenschaften von Tokio aufbewahrt. Bernstein (Succinit). Abgrenzung zu anderen Bernsteinarten. Der Bernstein im engeren Sinne, der Succinit, ist die kommerziell weitaus wichtigste und am besten erforschte Bernsteinart. Seine Bedeutung hängt mit der im Vergleich zu anderen fossilen Harzen großen Häufigkeit und Verbreitung zusammen, seiner schon vorgeschichtlichen Verwendung, seinem reichhaltigen Fossilinhalt und seinen günstigen Eigenschaften, die eine Verarbeitung zu allerlei Zwecken (Schmuck, Kultgegenstände usw.) ermöglicht. Sein wissenschaftlicher Name Succinit wurde 1820 vom deutschen Mineralogen August Breithaupt unter Verwendung des römischen Namens eingeführt. Andere Bernsteinarten sind in den baltischen Vorkommen außerordentlich selten. Seit ihrer Beschreibung im 19. Jahrhundert sind in den letzten 130 Jahren bei einer gewonnenen Bernsteinmenge von etwa 40.000 t keine Neufunde gemeldet worden. Sie werden deshalb häufig vergessen, und vereinfachend wird die total überwiegende Bernsteinart Succinit als „Baltischer Bernstein“ bezeichnet. Wie bereits weiter oben begründet, sollte zur Vermeidung von Missverständnissen die Bezeichnung "Baltischer Bernstein" nur zur regionalen Kennzeichnung verwendet werden. Die Abgrenzung des Succinit von anderen fossilen Harzen erfolgt, wie im Abschnitt Eigenschaften näher beschrieben, nach den physikalischen und chemischen Eigenschaften. Entstehung. Die Erzeugerpflanze des Bernsteins (Succinit) ist immer noch nicht bekannt. Vor 165 Jahren hatten Heinrich Robert Göppert und Georg Carl Berendt anhand von Harzeinschlüssen in Holz mit einer ähnlichen Struktur wie die von rezenten Kieferngewächsen (Familie Pinaceae) geschlussfolgert, dass der Erzeuger des Succinit, der „Bernsteinbaum“, ein ausgestorbener Vertreter der heutigen einheimischen Nadelbäume sei, und gaben ihm den Namen "Pinites succinifer". Hugo Conwentz kam 45 Jahre später zum gleichen Ergebnis, er engte aber die Herkunft auf eine ausgestorbene „Bernsteinkiefer“ ("Pinus succinifera") ein. Von "Kurt Schubert" wurde schließlich 1961 diese Annahme im Wesentlichen noch einmal bestätigt. Neuere chemische Untersuchungen schließen einen solchen Ursprung aus, aber trotz einer Vielzahl einbezogener rezenter Vertreter der Araukariaceae, der Gattungen "Pseudolarix" (Goldlärche) und "Cedrus" (Zedern) sowie der Pflanzenfamilie der Sciadopityaceae (Schirmtannen) ist die Herkunft immer noch unklar. Ursache dafür ist die bereits im Abschnitt Eigenschaften beschriebene Schwierigkeit, anhand des hochpolymeren Bernsteins die ursprünglichen chemischen Grundbausteine des Ausgangsharzes zu rekonstruieren. Da sich die Beschaffenheit des Harzes dieser vermuteten rezenten Verwandten sehr stark vom harten und splittrigen Succinit unterscheidet, lag es nahe, dass das so weiche Harz erst durch einen Millionen Jahre dauernden Versteinerungsprozess zum Bernstein wurde. Das gehäufte Vorkommen in marinen Sedimenten ließ außerdem die Vermutung aufkommen, dass dabei dieses besondere geochemische Milieu eine Rolle gespielt hat. Noch spekulativer wird es schließlich, wenn versucht wird, die abweichenden Eigenschaften der Bernsteinarten mit einem unterschiedlichen „Reifegrad“ ein und derselben Pflanze zu erklären. Das überwiegend stark getrübte Harz einheimischer Nadelbäume initiierte auch die Vorstellung, dass der klare Succinit durch Sonneneinstrahlung aus stark getrübtem Harz entstanden sei. Diese beiden so logisch erscheinenden Annahmen finden sich seit mehr als 100 Jahren in der gesamten einschlägigen Literatur. Untersuchungen am Succinit aus Bitterfeld, der in seinen Eigenschaften und auch im Merkmal der „Baltischen Schulter“ des Infrarotspektrogramms nicht vom Succinit der „Blauen Erde“ unterschieden werden kann, haben diese Annahmen nicht bestätigt. Viele Stücke der Varietät "Bunt" werden von Spalten durchzogen, die durch jüngere Harzflüsse wieder verschlossen wurden. An einigen Belegstücken sind mehrere Generationen von Spalten zu beobachten. Unzweifelhaft können die jüngeren Harzflüsse nur vom lebenden Baum stammen. Dass die Aushärtung des Harzes bereits am Baum weitgehend abgeschlossen war, zeigt das Bild der durchtrennten Spinne. Nur wenn der Bernstein bereits eine splittrige Beschaffenheit hatte, konnte sie so messerscharf durchtrennt werden. Die Härte des Succinit ist also eine primäre Eigenschaft des Harzes, und das weist auf eine nicht sehr enge Verwandtschaft mit rezenten Vertretern der Nadelbäume hin. Mit der praktisch vollständigen und so raschen Aushärtung des Harzes erklärt sich auch die unveränderte Körperform der zarten tierischen Inklusen, die niemals verbogen oder verzerrt sind (siehe auch Abschnitt Einschlüsse). Eine langsame, Millionen Jahre andauernde Aushärtung hätte bei den Belastungen während des anzunehmenden längeren Transportweges zumindest bei einem Teil der Inklusen unweigerlich zu Formveränderungen führen müssen. Am abgebildeten Stück ist klares Harz mit stark getrübtem Harz der Varietät "Knochen" bei scharfer Begrenzung zusammengeflossen. Das ist nur so zu erklären, dass der „Bernsteinbaum“ zwei Harzarten erzeugt hat und der klare Succinit nicht durch Sonneneinstrahlung entstanden sein muss. Das stark getrübte Harz, die Trübung wurde primär sicher durch wässrige Gewebesafttröpfchen verursacht, war vollständig mit dem klaren Harz mischbar. Diese Eigenschaft passt nicht zum hydrophoben Harz der einheimischen Kieferngewächse. Die Stammpflanze des Succinit ist wahrscheinlich eher eine Verwandte der ausgestorbenen Koniferenart "Cupressospermum saxonicum". Diese wurde als Erzeugerbaum des Gedanit, einer nah verwandten Bernsteinart des Succinit, identifiziert. Denkbar ist auch, dass der Succinit von mehreren Arten einer Pflanzengattung gebildet wurde und die geringen substanziellen Unterschiede des Harzes mit den derzeitigen analytischen Verfahren noch nicht erkannt werden können. Die Herkunft von mehreren Arten einer Succinit bildenden Pflanzengattung würde auch die Bedenken von Paläontologen entkräften, dass eine einzelne Art nicht über die nachgewiesene Bildungszeit des Succinit, fast 20 Millionen Jahre vom Obereozän (Priabonium) bis zum Mittelmiozän, existiert haben kann. Bernsteinwald. Der Bernstein kann nur in einem Wald gebildet worden sein. Für die baltische Bernsteinlagerstätte kann der Standort dieses "Bernsteinwaldes" nicht mehr rekonstruiert werden, weil die Inlandgletscher der pleistozänen Vereisungen alle Spuren beseitigt haben. Die unbekannte und nicht rekonstruierbare Lage war und ist Anlass für allerlei Vermutungen, bei denen auch die beachtliche Größe der baltischen Bernsteinvorkommen eine Rolle spielt. Zusätzlich verkomplizierend wirkt die scheinbar lange Zeitspanne zwischen der Entstehung des Bernsteins im Bernsteinwald und der Einbettung in der „Blauen Erde“. Bis in die neuere Zeit wurde angenommen, dass die Bildung im "Obereozän" und die Einbettung erst etwa 10 Millionen Jahre später im "Unteroligozän" (Rupelium) erfolgte. Nach aktuellen Annahmen konzentrieren sich Entstehung und Einbettung zwar auf das "Obereozän", aber nach geophysikalischen Altersbestimmungen soll der Zeitunterschied nun sogar bis zu 20 Millionen Jahre betragen. Der Succinit übersteht unbeschadet nur wenige Jahrtausende im belüfteten Boden, wie etwa der sehr stark verwitterte Bernsteinschmuck der mykenischen Königsgräber zeigt. Er müsste deshalb zwischenzeitlich in einer Lagerstätte luftdicht vor der Zerstörung bewahrt worden sein. Da es zu einem solchen „Zwischenlager“ nicht einmal Hinweise gibt, ist es viel wahrscheinlicher, dass der Succinit direkt aus dem Bernsteinwald in das marine Sediment der „Blauen Erde“ gelangte. Es gibt nur zwei Möglichkeiten, wie der Bernstein in die „Blaue Erde“ gelangte, entweder wurde er durch einen Fluss in das Meeresbecken eingetragen, oder der Bernsteinwald wurde durch das Meer überflutet. Die dazu vorliegenden Hypothesen können sich wiederum nicht auf konkrete Fakten stützen, bisher liegen nicht einmal sedimentologische Untersuchungen der „Blauen Erde“ vor. Durch denkbare Überflutungskatastrophen (Sturmfluten oder Tsunamis) könnte eine so mächtige und großflächig verbreitete Schicht nicht gebildet werden, und Transgressionen verlaufen viel zu langsam für die großflächige Anreicherung eines so verwitterungsanfälligen Materials. Wahrscheinlicher ist deshalb die schon länger vorliegende Hypothese, dass der Bernstein über einen Fluss aus nördlicher Richtung ins Meer gelangte. Für diesen Fluss wurde in Anlehnung an die griechische Mythologie der Name Eridanos verwendet. Das Einzugsgebiet mit dem Bernsteinwald könnte das gesamte östliche heutige Skandinavien umfasst haben. Wenn in einem so riesigen Gebiet der Fluss den bernsteinhaltigen Waldboden durch Mäandrierung umpflügt, dürfte selbst für die große Bernsteinmenge der baltischen Lagerstätte eine krankhafte Harzung, die sogenannte Succinose, durch besondere Ereignisse (Klimakatastrophen, Parasitenbefall u. a.) nicht erforderlich sein. Für die zahlreichen mitteldeutschen Bernsteinvorkommen des "Oberoligozäns" (siehe Abschnitt Weltweites Vorkommen von Bernstein) ist die Rekonstruktion ihrer Herkunft durch konkrete Befunde gesichert. Der Bernstein und die ihn einschließenden Sedimente wurden durch ein Flusssystem aus südlicher Richtung in ein gezeitenfreies Meeresbecken, eine „Paläo-Ostsee“ eingetragen. Im Flusstal dieses „Sächsischen Bernsteinflusses“ wurde der Bernstein gebildet. Nach anderen Vorstellungen wird der Bernsteinwald im Delta dieses Flusses vermutet. Die zahlreichen Einzelfunde in "quartären" Sedimenten, ebenso wie in "quartäre" Schichtfolgen eingeschlossene Schollen Bernstein führender "tertiärer" Sedimente, haben mit der Entstehung des Bernsteins selbst nichts zu tun, sie sind nur eine Folge der Zerstörung primärer (parautochthoner) Vorkommen während der "pleistozänen" Vereisungen. Geschichtliche Bedeutung. Der Bernstein hat den Menschen schon immer fasziniert. Er galt in allen bedeutenden Dynastien und zu allen Zeiten als Zeichen von Luxus und Macht. Daher wurde er schon früh als Schmuck verarbeitet. Steinzeit. Bernstein konnte bereits, wenn auch nur selten, in der Altsteinzeit nachgewiesen werden. Er wurde allerdings noch nicht bearbeitet und sein damaliger Zweck ist unbekannt. Aus Nordfriesland sind Anhänger und Perlen aus Baltischem Bernstein bekannt, deren Alter auf rund 12.000 Jahre datiert wurde und eine Nutzung im Jungpaläolithikum belegen. Rechnet man auch die Lagerstätten in der Ukraine zum Baltischen Bernstein, ist dieser bereits vor rund 20.000 Jahren verarbeitet worden (Ausgrabungen bei Kaneva am Flusslauf des Ros). Bernstein ähnlichen Alters wurde auch in der Höhle von Altamira gefunden, wobei dieser Bernstein sehr wahrscheinlich aus Nordspanien stammt, mithin kein "Baltischer Bernstein" ist. Für die Mittelsteinzeit (ab ca. 9600 v. Chr.) lässt sich an der Nord- und Ostseeküste vermehrt die Verarbeitung von Bernstein feststellen. In der Jungsteinzeit wurde das fossile Harz eine begehrte Handelsware und verbreitete sich von der Ostsee bis nach Ägypten. Zu dieser Zeit gab es viele Bernsteinfunde, was mit der Bildung des Litorinameeres (ein nacheiszeitlicher Anstieg des Meeresspiegels, führte zu einer Versalzung des damals mit Süßwasser gefüllten Ostseebeckens) zusammenhängt. Damals war es möglich den Bernstein am Strand aufzusammeln. In Dänemark und dem südlichen Ostseegebiet wurde ab 8000 v. Chr. Bernstein zur Herstellung von Tieramuletten und Schnitzereien mit Tiermotiven genutzt. Schamanen nutzen ihn als Weihrauch, so dass ihm rituelle Bedeutung zukam. Als um 4300 v. Chr. jungsteinzeitliche Bauern an die nördlichen Küsten gelangten, war Bernstein nach wie vor ein begehrter Rohstoff. Sie begannen im großen Maße, Bernstein zu sammeln, der zu Ketten und Anhängern verarbeitet und getragen oder zu rituellen Zwecken (Opfergaben, Grabbeigaben) verwendet wurde. Die Erbauer der Großsteingräber fertigten die für die Zeit und diesen Kulturkreis typischen kleinen Axtnachbildungen aus Bernstein an. Bernstein-Depotfunde, besonders in Jütland, belegen die Bedeutung des Bernsteins als Handelsgut. Manfred Rech führt in Dänemark 37 Depots auf. Zur Bearbeitung des Bernsteins existierten hochentwickelte Werkzeuge aus Geweihen, Feuerstein, Sandstein und Tierfellen, mit denen der Bernstein bearbeitet und poliert werden konnte. Bronzezeit. In der Bronzezeit nahm das Interesse am Bernstein zunächst ab, obwohl das Material eine beliebte Grabbeigabe blieb. Aufgrund der gängigen Praxis der Einäscherung der Toten blieben allerdings nur wenige Stücke erhalten. Ein Collierfund in einem mehr als 3000 Jahre alten Depotfund bei Ingolstadt zeigte eine Halskette aus etwa 3000 Bernsteinperlen, die von unschätzbarem Wert gewesen sein muss. Warum das Collier in einem Tonkrug vergraben wurde, ist ungeklärt. Bernstein wurde schon in der Bronzezeit auf einer sogenannten Bernsteinstraße von der Ostsee in den Mittelmeerraum transportiert. In Qatna fand man einen Löwenkopf aus Bernstein in einer spätestens 1340 v. Chr. entstandenen Königsgruft. Bernstein war neben Salz und Rohmetall (Bronze und Zinn) eines der begehrtesten Güter. In Depotfunden und bei Grabfunden taucht er regelmäßig auf. Durch ihn sind weitreichende Beziehungen nachgewiesen worden. Zwei breite Goldringe, in die je eine Bernsteinscheibe eingelassen war, fanden sich in Südengland (Zinnvorkommen), und ein beinahe identisches Exemplar ist aus dem griechischen Bronzezeit-Zentrum Mykene bekannt (Blütezeit vom 15. bis 13. Jahrhundert v. Chr.). Auch in einem frühbronzezeitlichen (um 1700 v. Chr.) "Hortfund" von Dieskau (Saalekreis) befand sich eine Kette aus Bernsteinperlen. Auf dem im späten 14. Jahrhundert v. Chr. vor der kleinasiatischen Südwestküste untergegangenen Schiff von Uluburun befanden sich unter anderem auch Bernsteinperlen aus dem Ostseeraum. Antike. In der Eisenzeit gewann Bernstein durch die Wertschätzung der Phönizier, Griechen, Skythen, Ägypter, Balten und Slawen als „Tränen der Sonne“ beziehungsweise „Tränen oder Harn der Götter“ wieder an Bedeutung. Später hielt man ihn für „Harn des Luchses“, „versteinerten Honig“ oder „erstarrtes Erdöl“. Auch wurde er als „Gold des Nordens“ oder auch als „Tränen der Sonnentöchter“ (Ovid, Metamorphosen II, 340–366) bezeichnet. Er hatte große Bedeutung in Sonnenkulten, da er aufgrund von Unebenheiten und Rissen von innen zu leuchten scheint. Die Griechen schätzten den Bernstein als Edelstein, den sie als Tauschmittel für Luxusgüter aller Art nutzten, wie bei Homer erwähnt und beschrieben. Die Römer nutzten ihn als Tauschmittel und für Gravuren. In der griechisch-römischen Antike wurde erkannt, dass Bernstein sich elektrostatisch aufladen kann. Der griechische Philosoph Aristoteles deutete die Herkunft des Bernsteins als Pflanzensaft und erwähnte das Vorkommen von "Zooinklusen". Pytheas von Massila hatte auf einer seiner Reisen um 334 v. Chr. die sogenannten "Bernsteininseln" erreicht (gemeint sind wohl die West-, Ost- und Nordfriesischen Inseln in der Nordsee). Man nennt diese Inseln auch die Elektriden. Die Römer Tacitus und Plinius der Ältere schrieben über den Bernstein sowie seine Herkunft und seinen Handel. Kaiser Nero soll Bernstein in großen Mengen zu Repräsentationszwecken genutzt haben. Im Rom der Kaiserzeit trieb nicht nur der Kaiser, sondern auch das Volk mit dem Bernstein einen verschwenderischen Luxus. Man trank aus Bernsteingefäßen, er zierte alles, was von Wert war, und wohlhabende Frauen färbten ihr Haar bernsteinfarben. Plinius der Ältere tadelt, dass ein kleines Figürchen aus Bernstein teurer als ein Sklave sei. In der römischen Antike wurde zudem der Handel mit samländischem Bernstein erschlossen. Antike Handelswege. Bereits zur Bronzezeit war der Baltische Bernstein ein wertvolles Tauschobjekt und Handelsgut, das südwärts gelangte. In mykenischer Zeit (etwa 1600 bis 1050 v. Chr.) wurde in Griechenland Schmuck aus importiertem Bernstein getragen, wie eine Reihe von Funden aus dieser Zeit zeigen. Die Handelswege des Bernsteins werden als Bernsteinstraßen bezeichnet. Sie verlaufen bündelförmig nach Süden zum Mittelmeer: Mittelalter. Aus der Zeit des 5. und 6. Jahrhunderts sind im Bernsteinmuseum von Klaipėda ausgestellte Halsketten überliefert, die in der Region des heutigen Baltikums als gesetzliches Zahlungsmittel gültig waren. Im Mittelalter und für katholische Gebiete auch danach wurde der Bernstein hauptsächlich zur Herstellung von Rosenkranz-Gebetsketten genutzt. Wegen seines hohen Wertes stellten Feudalherren die Gewinnung und Veräußerung allen Bernsteins Ost- und Westpreußens bald unter Hoheitsrecht (Bernsteinregal). Das Sammeln und der Verkauf von Bernstein auf eigene Rechnung wurde geahndet, zeitweilig wurde in besonders schweren Fällen die Todesstrafe verhängt. Die Küstenbewohner hatten die Pflicht, unter der Bewachung seitens "Strandreiter" und "Kammerknechte" Bernstein zu sammeln und abzuliefern. Bernstein wurde im Mittelalter in Europa oder China auch erhitzt, um es als wasserabweisende Firnis als Holzschutz einzusetzen. Im 10. Jahrhundert war Bernstein auch bei Wikingern ein begehrtes Material, das als Räucherwerk benutzt oder kunstvoll verarbeitet wurde. Aus dieser Zeit sind Funde von Perlen für gemischte Ketten, Spinnwirtel, Spielbrettfiguren und Würfel aus Bernstein bekannt. Auch weiter im Landesinneren vorkommende Bernsteinlagerstätten wurden bereits im Mittelalter genutzt. In der Kaschubei lassen sich bei Bursztynowa Góra (Bernsteinberg) Trichter von bis zu 40 m Durchmesser und 15 m Tiefe in der Landschaft ausmachen. Der Abbau ist dort erstmals aus dem 10. Jahrhundert bezeugt. Neuzeit. In der Neuzeit wurde Bernstein nach alter Tradition zu Schmuck verarbeitet und auch für Schatullen, Spielsteine und -bretter, Intarsien, Pfeifenmundstücke und andere repräsentative Sachen verwendet. Im 16. und 17. Jahrhundert sank der Bedarf an Bernsteinrosenkränzen, weshalb nun auch andere Gegenstände aus Bernstein gefertigt wurden. Zu Beginn kamen diese Objekte weiterhin aus dem religiösen Bereich. Dies änderte sich jedoch mit dem Beginn der Reformation. Die preußischen Herrscher nutzten den Bernstein für Repräsentationszwecke und ließen verschiedene Zier- und Gebrauchsgegenstände daraus fertigen. Der preußische Hof gab hunderte von Bernsteinkunstgegenständen in Auftrag, vor allem Pokale, Dosen, Konfektschalen und Degengriffe, die als Hochzeits- und Diplomatengeschenke in viele Kunstsammlungen europäischer Fürsten- und Herrscherhäuser gelangten. Die Bernsteine wurden dabei oft in Kombination mit Schildpatt, Elfenbein und Edelsteinen kombiniert. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts waren die gefertigten Gegenstände aufgrund der geringen Größe des Bernsteins und dem fehlenden Wissen die Teile zu verschweißen noch relativ klein. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts wurde es dann aber auch möglich größere und aufwendigere Kunstwerke herzustellen. Hierzu gehörten vor allem Schmuckschatullen, die aus kleinen reliefierten Bernsteinplättchen bestehen, die zusammengeklebt oder über einen silbernen Rahmen zusammengehalten werden. Aus dieser Zeit stammen auch die ersten größeren Bernsteinmöbel. Zum Beginn des 17. Jahrhunderts wurde mit der Konstruktion von Bernsteinobjekten auf Holzrahmen begonnen. Die Bernsteinplättchen wurden hierbei oft mit Blattgold hinterlegt um die eingeschnitzten Reliefs zu betonen. Farben und Kontraste der Bernsteine wurden so ausgewählt, dass schöne mosaikhafte Effekte entstanden oder zum Beispiel um Felder auf Spielbrettern unterscheiden zu können. Typische Bernsteinwerke des 17. Jahrhunderts sind beispielsweise Griffe von Essbesteck, Kerzenständer, Spielbretter oder auch Gegenstände für den religiösen Gebrauch wie Hausaltare. Im 18. Jahrhundert kam das Sammeln von Bernsteinobjekten in Kuriositätenkammern in Mode, was nochmal zur Steigerung dessen Prestige führte. Das Bernsteinhandwerk gehörte zu den führenden und meistangesehenen Berufen. Es entstanden große Werke, wie das Bernsteinzimmer, welches der preußische König Friedrich I. für sein Charlottenburger Schloss in Berlin fertigen ließ, das 1712 fertiggestellt wurde. 1716 verschenkte sein Sohn das Zimmer an den russischen Zaren Peter I. Später wurde es in den Katharinenpalast bei St. Petersburg eingebaut, im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen geraubt und nach Königsberg gebracht. Seit 1945 ist es verschollen. Ob es verbrannte oder erhalten blieb, ist ungeklärt. Es gibt allerdings Gerüchte, wonach das Bernsteinzimmer noch immer in unterirdischen Stollen eingelagert sein soll. Hauptsächlich wurden aber kleine Gegenstände wie verzierter Schmuck oder Spiele für gesellschaftliche Anlässe gefertigt. Durch den Fortschritt der Naturwissenschaften wurde erkannt, dass der Bernstein als fossiles Harz nicht mystischen, sondern natürlichen Ursprungs ist. Deswegen ging das höfische Interesse am Bernstein nach 1750 zurück. Im 19. Jahrhundert nahm die Bernsteingewinnung und -verarbeitung industrielle Ausmaße an. Rohbernstein wurde in großen Mengen in die ganze Welt geliefert. Hergestellt wurden beispielsweise Pfeifenmundstücke und andere Raucherutensilien, sowie kleine Schachteln, Kettenanhänger, Halsketten und Broschen. Bis ins 19. Jahrhundert wurde Bernstein hauptsächlich durch Strandlese gewonnen. 1862 konnten beispielsweise mit dieser Methode 4000 kg gesammelt werden. Im Jahre 1837 überließ der preußische König Friedrich Wilhelm III. die gesamte Bernsteinnutzung von Danzig bis Memel gegen die Summe von 30.000 Mark den Gemeinden des ostpreußischen Samlandes. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Abbau zunehmend maschinisiert. Pioniere auf diesem Gebiet waren die beiden Unternehmer Friedrich Wilhelm Stantien und Moritz Becker, die 1858 ihre Firma Stantien & Becker in Memel gegründet hatten. Sie begannen zunächst, das Kurische Haff bei Schwarzort systematisch auszubaggern (Fundstätte ab 1900 bereits erschöpft). 1875 dann errichteten sie bei Palmnicken das wohl weltweit erste Bernsteinbergwerk. Im Jahr 1890 konnten auf diese Weise bereits über 200.000 kg gefördert werden. Bernsteinschmuck wurde nun mehr und mehr zu einem Produkt auch der wohlhabenden Bürgerschicht. Der noch heute existierende "Bernsteinladen" am Münchner Marienplatz geht auf das Jahr 1884 zurück. "Stantien & Becker" hatten weltweit Verkaufsniederlassungen (u. a. in Indien, Mexiko und Tokio). Seit 1881 gab es "Pressbernstein", so dass Schmuck für alle Bevölkerungsschichten erschwinglich wurde. In manchen Regionen Europas gehörten facettierte Bernsteinketten zur Hochzeitstracht der Bauern. 1899 ging die profitable Produktion wieder in staatlichen Besitz über. Allein 1912 wurden 600 t Bernstein gefördert. Insgesamt wurden im Samland von 1876 bis 1935 über 16.000 t Baltischen Bernsteins bergbaulich gefördert. 1926 entstand in Ostpreußen die weltgrößte Manufaktur, die "Staatliche Bernstein-Manufaktur Königsberg" (SBM), in der bis 1945 künstlerische Produkte und Gebrauchsgegenstände aus Bernstein gefertigt wurden. Daher wurde Bernstein auch schnell „Preußisches Gold“ genannt. Aus der jüngeren Vergangenheit ist insbesondere der polnische Künstler "Lucjan Myrta" zu erwähnen. Zahlreiche seiner Werke, bei denen es sich oft um Arbeiten im Stil des Barock handelt und deren künstlerischer Rang in der Fachwelt nicht unumstritten ist, sind im Historischen Museum der Stadt Danzig zu sehen. Sehr viele der oft ungewöhnlich großen Kunstwerke hat der in Sopot lebende Künstler in seinem persönlichen Besitz behalten. Vermutlich unterhält der Künstler die weltgrößte, allerdings nicht öffentlich zugängliche Sammlung von Bernsteinartefakten. In einem der in seinem Privatbesitz verbliebenen großvolumigen Werke ist mehr "Rohbernstein" verarbeitet als im gesamten Bernsteinzimmer. Bernsteingewinnung. Vorbergbauliche Zeit. Zur Gewinnung des Bernsteins im Samland in der Zeit vor Beginn des Bernsteinbergbaus liegen zahlreiche Schriften vor, eine umfangreiche neuere Darstellung stammt von "Rainer Slotta". Vor 1860 wurde Bernstein im Samland überwiegend nur durch Aufsammeln des an der Küste angespülten Bernsteins gewonnen. Die fortschreitende Erosion der Steilküste durch das Meer sorgte für den ständigen Nachschub aus den Bernstein führenden Schichten. Eine geringere Rolle spielte eine bergmännische Gewinnung, die sich aus technischen Gründen aber auf die grundwasserfreien Deckschichten der „Blauen Erde“ beschränken musste. Der Abbau in dieser Weise erfolgte nach einem zeitgenössischen Bericht aus dem Jahre 1783 offenbar bereits über Jahrhunderte an verschiedenen Orten der samländischen Küste, wenn auch in Abhängigkeit von der Ergiebigkeit oftmals nur für überschaubare Zeit, in kleinräumigen Gräbereien, die insbesondere "nesterartige" Anreicherungen der Bernstein führenden miozänen sogenannten „Braunkohlenformation“ nutzten. Kleinere aktive Tiefbaue aus dieser Zeit sind urkundlich von 1781 bis 1806 belegt. In einem Kontrakt zur Verpachtung des Bernsteinregals an ein Konsortium, dem unter anderem hohe Staatsbeamte und einige Kaufleute angehörten, wurde den Pächtern für die Dauer der Pacht (1811 bis 1823) neben der Förderung von Bernstein aus dem Meer ausdrücklich die Bernsteingewinnung in offenen Gruben in den sogenannten „Seebergen“ in einem Gebiet gestattet, das sich von Polsk (Narmeln) auf der Frischen Nehrung bis nach Nimmersatt (heute Nemirseta in Litauen) erstreckte. Die Förderung von Bernstein aus diesen Gruben soll besonders gewinnträchtig gewesen sein. Über die durch Sammeln gewonnenen Bernsteinmengen an der sogenannten Bernsteinküste wird in einigen Chroniken berichtet. So soll die jährliche Menge durch Aufsammeln an den Stränden 20 bis 30 Tonnen betragen haben. Nach heftigen Stürmen konnte die Menge des im Verlaufe eines Tages angespülten Bernsteins auch 1000 Kilogramm und mehr erreichen. Das einfache Sammeln von Bernstein am Spülsaum der Küste war die am weitesten verbreitete und wohl ergiebigste Methode zur Bernsteingewinnung. Aber auch andere Methoden führten zum Erfolg: Das Aufsammeln von Bernstein im Küstenbereich wurde im Samland mit der Aufnahme der bergbaulichen Gewinnung durch die Firma "Stantien & Becker" im Jahre 1871 wirtschaftlich zunehmend bedeutungslos. Das "Bernsteintauchen" zum Beispiel wurde 1883 eingestellt. Für den Übergang zur bergbaulichen Gewinnung spielte die "Bernsteinbaggerei" durch die Firma "Stantien & Becker" von 1862 bis 1890 an der Kurischen Nehrung bei Schwarzort (jetzt Juodkrantė) eine bedeutende Rolle. Jährlich wurden bis zu 75 t Bernstein gewonnen. Im Zuge dieser Bernsteinbaggerei wurde 434 Stücke jungsteinzeitlichen Bernsteinschmucks gefunden. An der deutschen Nordseeküste wurde insbesondere im Gebiet Eiderstedt bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts viel Bernstein gefunden. Im Watt und auf einigen besonders fündigen Sandbänken wurde Bernstein durch sogenannte Hitzläufer und "Bernsteinreiter" gesammelt. Geschickte Reiter verstanden es, mit einem kleinen, an einer Stange befestigten Netz den Bernstein aus dem Flachwasser zu fischen, ohne vom Pferd abzusteigen. Fundorte mit bergbaulicher Gewinnung. Mindestens 75 % der Weltproduktion von Bernstein (Succinit) entstammt derzeit dem regulären Bergbau auf der Halbinsel des Samlandes (Oblast Kaliningrad, Russland; ehemals Ostpreußen). In Polen wird seit langem insbesondere aus der Weichselniederung bei Danzig in "Quartärsedimenten" enthaltener umgelagerter Bernstein in zahllosen vorwiegend illegalen Kleingräbereien gewonnen. Die gewonnene Gesamtmenge wird für den Zeitraum 1945 bis 1995 mit 930 t angegeben, die durchschnittliche jährliche Fördermenge beträgt etwa 20 t. Der Abbau aus kleineren Lagerstätten in der Nordukraine, zum Beispiel bei Klessiw, gewinnt derzeit offensichtlich zunehmend an Bedeutung. Die Bernsteingewinnung im "Braunkohlentagebau Goitzsche" bei Bitterfeld hatte in den Jahren 1975 bis 1990 mit insgesamt 408 t zeitweise bis 10 % des Weltaufkommens betragen, die noch vorhandenen Restvorräte von 600 t bilden eine sichere Basis für eine erneute bergbauliche Aktivität. Samland. Die Hauptförderung von Bernstein erfolgt seit 1871 bei der Ortschaft Jantarny (ehemals Palmnicken) im Samland, 40 km westlich von Kaliningrad (ehemals Königsberg). Große, von der Steilküste bis weit ins Inland reichende Bernsteinvorkommen bilden die Grundlage. Die Hauptfundschicht, die „Blaue Erde“, liegt meist unter dem Niveau des Meeresspiegels, im Bereich des Strandes bis 10 m, im Inland aber bis 55 m unter der Geländeoberfläche. Das Flöz der „Blauen Erde“ ist ein mehrere Meter mächtiger sandiger Ton, dessen grünlichgraue Farbe vom enthaltenen Glaukonit verursacht wird. Der Bernsteingehalt schwankt sehr stark zwischen 23 und 0,5 kg pro Kubikmeter, in den besten Jahren waren es durchschnittlich zwei bis drei Kilogramm. Im Jahre 1870 begann die bergbauliche Erschließung der „Blauen Erde“ durch die Firma "Stantien & Becker". In den ersten Jahren erfolgte der Abbau ausschließlich von Hand in einem 10 m tiefen Tagebau am Strand, dieser wurde auch in die Steilküste hineingetrieben. Ab 1875 musste aus wirtschaftlichen Gründen zum Tiefbau übergegangen werden, die Strecken wurden zunächst vom Tagebau aus aufgefahren. Mit ab 1883 angelegten Schachtanlagen wurde Bernstein bis zum Jahre 1923 im Tiefbau gewonnen. Im Jahre 1916 wurde dann im neu angelegten "Tagebau Palmnicken" die Bernsteingewinnung aufgenommen. Der Abbau erfolgte mit großen Eimerkettenbaggern, wie sie auch in den mitteldeutschen Braunkohletagebauen üblich waren. Empfindliche Absatzkrisen beim Rohstoff für Schmuckwaren wurden durch den Ersten Weltkrieg verursacht, und in den 1930er-Jahren verschlechterte sich die Wirtschaftlichkeit, weil das überwiegende Feinkorn nicht mehr für die Herstellung von Lackrohstoffen benötigt wurde. Nach 1945 wurde das sowjetisch gewordene Palmnicken nach dem russischen Wort für Bernstein, jantar, in Jantarnyi umbenannt und die zum Erliegen gekommene Bernsteingewinnung wieder aufgenommen. Im Jahre 1976 erfolgte die endgültige Stilllegung des seit 1916 genutzten Tagebaus, und der heute noch genutzte "Tagebau Primorskoie" wurde in Betrieb genommen. Die Jahresproduktion erreichte in einigen Jahren 780 t, von 1951 bis 1988 wurden insgesamt rund 18.250 t gefördert. In den 1970er-Jahren, beim Übergang auf den neuen Tagebau, sank die Förderung infolge technischer und organisatorischer Probleme. Auch der politische Umbruch in den 1990er-Jahren hatte starke Auswirkungen, die zu einer zeitweiligen Einstellung des Abbaus führten. Die Abbautechnologie wurde verändert, zeitweilig kamen ausschließlich Hydromonitoren zum Einsatz. Derzeit wird nach Abtrag des mächtigen Abraums der Rohstoff mittels Schürfkübelbagger gelöst, das abgesetzte Haufwerk mit Hydromonitoren aufgeschlämmt und der Schlamm von großen Pumpen über eine kilometerlange Rohrleitung in die Aufbereitungsanlage befördert. Dort wird der Bernstein ausgesiebt. Der Schlammrückstand wird über ein Rohrsystem am Ostseestrand verspült. Bitterfeld und Mitteldeutschland. Bernstein in "tertiären", Braunkohle führenden Schichten ist bereits seit 1669 von Patzschwig bei Bad Schmiedeberg bekannt. Als „Sächsischer Bernstein“ beschrieben ist er auch zeitweise gewonnen worden. Aus dem 19. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts liegen Fundmeldungen über einzelne Bernsteine in Braunkohlengruben bei Bitterfeld vor. Im Jahre 1955 wurden im Braunkohlentagebau Goitzsche östlich von Bitterfeld die Bernstein führenden Schichten für kurze Zeit angeschnitten, aber die zu Tage tretenden, zum Teil großen Brocken nicht als Bernstein (Succinit) erkannt, sondern als Retinit bezeichnet. Erst im Jahre 1974 wurde bei einem erneuten Anschnitt die Bedeutung des Bernsteinvorkommens erkannt. Die im gleichen Jahr begonnene geologische Erkundung führte zum Nachweis einer nutzbaren Lagerstätte. Als geologischer Vorrat wurden 1979 2.800 t Bernstein berechnet. Der Abbau begann bereits 1975. Grund für die so schnell aufgenommene Förderung war der starke Rückgang der Bernsteinimporte aus der Sowjetunion, die in den 1970er-Jahren ihre jährlichen Bernsteinlieferungen von zehn Tonnen auf eine senkte und damit die Schmuckproduktion im „VEB Ostseeschmuck“ in Ribnitz-Damgarten gefährdete. Von 1975 bis 1993 wurden im "Tagebau Goitzsche" jährlich bis zu 50 t gewonnen, insgesamt 408 t. Der Bernsteinabbau wurde 1990 wegen der starken Umweltbelastung zunächst storniert und 1993 aus ökonomischen Gründen endgültig eingestellt. Zu diesem Zeitpunkt standen noch 1.080 t gewinnbarer Vorrat in den Büchern. Nach Sanierung der Böschungen wurde das Restloch des "Tagebaues Goitzsche" ab 1998 geflutet. Durch die Sanierung der Böschungen wurden zwar Teile der Vorratsfläche blockiert, aber nach einer Studie ist noch der Zugriff auf 600 t Bernstein möglich. Die Wasserbedeckung von 20 bis 25 m ist technisch kein Hindernis, und nach einem limnologischen Gutachten wäre die Gewinnung auch umweltverträglich. Zur Gewinnung des Bernsteins im Braunkohlentagebau Goitzsche liegen ausführliche Beschreibungen vor. Der gewonnene Rohbernstein wurde an der Aufbereitungsanlage im Tagebau gereinigt, getrocknet und der nicht zur Herstellung von Schmuck verwendbare Anteil von Hand ausgelesen. Der verwendbare Rohbernstein wurde durch Siebung nach der Größe in vier Sorten getrennt und an den „VEB Ostseeschmuck“ geliefert. Der zur Schmuckherstellung nicht verwendbare Anteil wurde als Abfall (Brack) verworfen. Dieser enthielt neben ungeeigneten Varietäten des Succinit, z. B. "Knochen, Schaum, Schwarzfirnis" (siehe Abschnitt Bernsteinvarietäten), auch die sehr seltenen akzessorischen Bernsteinarten, die bereits Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Untersuchungen waren (siehe Abschnitt Bernsteinarten). Wegen der Verwitterungskruste sind Inklusen beim Bitterfelder Succinit erst bei der Verarbeitung im „VEB Ostseeschmuck“ sichtbar geworden. Sie wurden zur wissenschaftlichen Untersuchung dem Museum für Naturkunde (Berlin) übergeben. Bereits 1989 umfasste diese Sammlung mehr als 10.000 Stück. Übereinstimmungen mit einigen auch im baltischen Succinit gefundenen Tiergruppen spielen eine große Rolle bei der Diskussion zur Herkunft des Bitterfelder Bernsteins, siehe dazu Abschnitt Geschichte der Inklusenforschung. Polen. Polen ist ein wichtiger Exporteur von Bernsteinprodukten. Der polnische Bernstein stammt hauptsächlich aus Możdżanowo bei Ustka an der pommerschen Ostseeküste, wo er bereits Ende des 18. Jahrhunderts abgebaut wurde. Er wird dort in vielen unterschiedlichen Farbtönen gefunden. 60 % der Fundstücke sind durchsichtig. Auch an der Verbindungsstelle zur Halbinsel Hel findet sich Bernstein in 130 m Tiefe. Ferner wurde ein Bernsteinvorkommen auf der Lubliner Hochebene entdeckt. Die Vorräte polnischer Bernsteinlagerstätten werden auf 12.000 t geschätzt. Der größte Teil des in Polen verarbeiteten Bernsteins stammt allerdings nicht aus eigener Produktion, sondern wird aus dem Kaliningrader Gebiet und aus der Ukraine importiert. Nordukraine. Seit 1979 sind die Bernsteinvorkommen im Norden der Ukraine, in der Nähe von Dubrowyzja an der weißrussischen Grenze bekannt. Nach Erlangung der Unabhängigkeit beschloss die ukrainische Führung 1993, diese Vorkommen unter staatlichem Monopol auszubeuten. Da die Vorkommen an der Oberfläche in sandigen Schichten anstehen, sind sie sehr leicht zu fördern, und so hat sich seither eine beträchtliche nicht-staatliche (und damit illegale) Förderung entwickelt (etwa 90 % der ukrainischen Produktion), die ihre Produkte zur Weiterverarbeitung über die Grenze nach Polen und Russland schmuggeln lässt. Die ukrainischen Vorkommen enthalten außergewöhnlich große Einzelstücke. Der in der Ukraine gefundene Bernstein ist vermutlich gleicher Genese wie der Succinit aus der „Blauen Erde“ des Samlandes. Aktuelle Marktsituation. Die Preise für ein Kilogramm russischen Rohbernsteins aus Jantarny lagen im März 2011 in Polen bei 260 € für Stücke zwischen 2,5 und 5 Gramm und rund 550 € für Stücke zwischen 50 und 100 Gramm. Verminderte Fördermengen, die Einführung von Exportrestriktionen durch die russische Regionalregierung sowie eine deutlich gesteigerte Nachfrage aus China nach Rohbernstein bestimmter Qualitäten haben in den folgenden Jahren zu einer Vervielfachung des Preises geführt (Stand Mitte 2014: Stücke von 50 bis 100 Gramm ca. 3000 EUR für ein Kilogramm). Einzelstücke Baltischen Bernsteins. Krumbiegel führt in einem Beitrag aus dem Jahre 2003 Stücke aus "quartären" Sedimenten nordeuropäischer Vereisungsgebiete mit einem Gewicht von mehr als 2 Kilogramm auf. Aus dieser Liste von 28 Stücken nachfolgend eine Auswahl: Außerdem zu erwähnen: Einschlüsse (Inklusen). Entstehung. Bewunderung lösen immer wieder die vorzüglich erhaltenen Einschlüsse im Bernstein aus. Insbesondere die Inklusen zart geflügelter Insekten bestechen durch ihre feinsten Details. Sie sind weder zusammengedrückt noch anderweitig verformt, wie viele Fossilien in Sedimentgesteinen. Selbst Spuren des Todeskampfes sind unverändert erhalten. Bei einigen Tieren ist eine "Trübewolke" (Verlumung) um massigere Körperteile zu beobachten, eine Folge austretender Gase und Flüssigkeiten bei der Verwesung des Tierkörpers. Deren beschränkte Ausbreitung ist wie der detailgetreue Abdruck nur bei einer sehr raschen Aushärtung vorstellbar, wie sie sonst nur bei schnell härtenden Kunststoffen auftritt. Die Inklusen sind nur der Abdruck des ehemaligen Lebewesens, im entstandenen Hohlraum sind in der Regel keine Bestandteile seines Körpers erhalten. Wie bereits im Abschnitt Entstehung beschrieben, können die bisherigen Vorstellungen über eine langsame Aushärtung durch die Untersuchungsergebnisse an Succinitstücken von Bitterfeld nicht aufrechterhalten werden. Der Succinit härtete bereits am Baum praktisch vollständig aus, dazu passt auch die formgetreue Erhaltung der Inklusen. Häufigkeit. Organische Einschlüsse sind von den meisten Bernsteinarten bekannt, wenn auch in unterschiedlicher Häufigkeit. Bei der geologischen Erforschung der Bitterfelder Bernsteinlagerstätte wurde auch die Häufigkeit der Inklusen untersucht: Eine Tonne des Bitterfelder Succinit enthält schätzungsweise 4500 tierische Inklusen. Beim Succinit sind die sogenannten „Schlaubensteine“ besonders ergiebig. Die aus Harzflüssen außen am Baumstamm entstandenen "Schlauben" sind schichtartig aufgebaut (jede Schicht entspricht einem Harzfluss), wobei sich die Einschlüsse zumeist an den Trennflächen der Harzflüsse befinden. Oft handelt es sich bei den Funden allerdings nur um Fragmente der eingeschlossenen Organismen. "Zooinklusen" sind häufig beschädigt, vermutlich durch Vogelfraß, als das Tier noch nicht vollständig vom Harz eingeschlossen war. Nicht selten sind auch einzelne Beine langbeiniger Gliederfüßer (zum Beispiel Weberknechte) zu finden, die in der Lage waren, in Notsituationen ihre Beine abzuwerfen. Organische Reste aus zerfallenem Pflanzenmaterial und Holzmulm mit meist nicht identifizierbarer botanischer Herkunft treten häufig auf. Stücke mit vollständig erhaltenen Zeugnissen des damaligen Lebens sind aus wissenschaftlicher Sicht besonders wertvoll. Inklusen sind im Allgemeinen nur in transparenten oder zumindest halbtransparenten Stücken zu finden. Mit Hilfe der Synchrotronstrahlung ist es jedoch gelungen, auch in opaken Stücken organische Einschlüsse zu entdecken. Im Falle kreidezeitlichen Bernsteins aus Frankreich konnten durch eine Forschungsgruppe um den Paläontologen Paul Tafforeau unter Zuhilfenahme dieser Methode 3D-Modelle von Inklusen in "opaken" Bernsteinstücken aufgenommen werden. Tiere und Pflanzen im Bernstein. Die in Bernstein konservierten Lebensformen sind überwiegend Waldbewohner gewesen. Häufige Formen tierischer Einschlüsse (Zooinklusen) sind verschiedene Gliederfüßer (Arthropoden), vor allem Insekten wie Fliegen, Mücken, Libellen, Ohrwürmer, Termiten, Heuschrecken, Zikaden und Flöhe, aber auch Asseln, Krebstiere, Spinnen und Würmer sowie vereinzelt Schnecken, Vogelfedern und Haare von Säugetieren. Im "oberkreidezeitlichen" kanadischen Bernstein wurden einige sehr gut erhaltene Federn gefunden, die aufgrund ihrer strukturellen Merkmale von Dinosauriern stammen könnten. Mehrere Stücke mit Teilen von (lacertiden) Eidechsen, darunter ein weitgehend vollständiges Exemplar, wurden ebenfalls gefunden, (vgl. dazu auch den Abschnitt Fälschungen und Manipulationen). Besonders vollständige und detailreiche Inklusen von Echsen sind aus Myanmar bekannt geworden. Falsch ist die Behauptung, es gebe Einschlüsse von Meereslebewesen im Bernstein. Bei den eingeschlossenen Lebewesen handelt es sich ausschließlich um Landbewohner (70 % aller Inklusen) und Süßwasserlebewesen (30 %) der Bernsteinwaldgebiete. Die einzigen Ausnahmen sind Einschlüsse von Asseln der Gattung "Ligia", die in der Spritzwasserzone mariner Felsstrände leben, sowie eine in einem kleinen "kreidezeitlichen" Bernsteinstück aus Südwestfrankreich gefundene Fauna aus marinen Mikroorganismen (u. a. Kieselalgen und Foraminiferen). Auch gibt es eine Vielzahl von pflanzlichen Inklusen (Phytoinklusen): Pilze, Moose und Flechten, aber auch Pflanzenteile, die von Lärchen, Fichten, Tannen, Palmen, Zypressen, Eiben und Eichen stammen. Der weitaus häufigste organische Einschluss im Succinit ist das sogenannte „Sternhaar“, das sich in fast allen "Schlauben" findet. Es sind winzige, mit bloßem Auge kaum sichtbare, "strahlenförmig verästelte" Pflanzenhaare (Trichome), die mit großer Wahrscheinlichkeit von Eichen stammen. Diese Einschlüsse werden als charakteristisches Merkmal des Succinit aus Lagerstätten des Baltischen Bernsteins angesehen. Manchmal werden Inklusen mit Wassertropfen oder Lufteinschlüssen gefunden. Für Bernsteinstücke mit verschiedenen organischen Einschlüssen hat der polnische Paläoentomologe Jan Koteja den Begriff Syninklusen geprägt. Solche Bernsteinstücke sind einzigartige Beweisstücke über das zeitgleiche Vorkommen verschiedener Lebewesen in einem Habitat. Fossilisation. Unter Luftabschluss in Bernstein konservierte Inklusen sind zwar Fossilien, aber im Gegensatz zu den meisten Fossilien wurde ihre Substanz während der Fossilisation nicht oder nicht vollständig mineralisiert. Dass aus DNA einer inkludierten Mücke, die Dinosaurierblut aufgenommen hat, mit Hilfe der Gentechnik ein lebendiger Dinosaurier erzeugt werden kann, wie dies im später als "Jurassic Park" verfilmten Buch "DinoPark" von Michael Crichton dargestellt wird, ist Gegenstand der Fiktion. Tatsächlich wurde wiederholt publiziert, dass aus Bernstein nicht nur sequenzierbare aDNA (alte DNA) isoliert werden kann, auch aus Chloroplasten-DNA, sondern auch Proteine und sogar lebensfähige Organismen. Die Frage des aDNA-Nachweises wird jedoch kontrovers geführt. Wissenschaftler äußerten in der Vergangenheit ernste Zweifel an der Erhaltung von aDNA über Jahrmillionen und vermuteten Kontaminationen mit rezenter DNA. Eine Erhaltungsmöglichkeit von aDNA, z. B. innerhalb fossilierter Knochen, wird prinzipiell nahezu ausgeschlossen, da die DNA nach dem Tod eines Lebewesens rasch zerfällt und nach spätestens 6,8 Mio. Jahren ohne Luftabschluss nicht mehr nachweisbar ist. Dieser Ansicht widersprechen andere Wissenschaftler und belegen, dass es durchaus Erhaltungsmöglichkeiten für sehr alte aDNA gebe. aDNA-Extraktionen und deren Analysen seien auch an sehr alten Fossilien möglich. Allerdings wurde festgestellt, dass bei sehr alter aDNA, etwa aus dem Miozän, gehäuft mit Veränderungen zu rechnen sei, da die ursprüngliche Base Cytosin dann als Uracil vorliegen könne, was die Interpretation erschwere. Geschichte der Inklusenforschung. Schon in der Antike bestand Gewissheit über den organischen Charakter zahlreicher Einschlüsse in Bernstein. Allerdings stehen zu der Zeit noch biologisch zutreffende Wahrnehmungen neben Dichtung und Mythos, wie sich beispielhaft an den Titeln zweier Epigramme des Martial zeigen lässt: "Über eine Biene in Bernstein" und "Über eine Viper in Bernstein". Sein Epigramm über eine Ameise in Bernstein ist im Kapitel "Bernstein in Mythologie und Dichtung" vollständig wiedergegeben. Die naturwissenschaftliche Erforschung der Einschlüsse setzte allerdings erst im 18. Jahrhundert ein, was nicht zuletzt mit der Verfügbarkeit deutlich verbesserter technischer Hilfsmittel (insbesondere Mikroskope) sowie dem enormen Fortschritt in der biologischen Forschung zusammenhängt. Im 19. Jahrhundert erschienen die ersten Monografien über Tier- und Pflanzengruppen (zu nennen sind hier insbesondere folgende Autoren von bis heute wichtig gebliebenen Arbeiten über Einschlüsse in Baltischem Bernstein: "Heinrich Göppert", Georg Carl Berendt, "Hugo Conwentz", Robert Caspary, Richard Klebs, Anton Menge und Fernand Meunier). Eine bedeutungsvolle Rolle in der Bernsteinforschung spielen die reichhaltigen Inklusen des Bitterfelder Succinits. Die bei der Untersuchung bei einigen Tiergruppen, insbesondere Spinnen, festgestellten Übereinstimmungen mit denen aus den Sammlungen baltischen Succinits führte zur Annahme, dass der Bernstein der Bitterfelder Lagerstätte nur umgelagerter "Baltischer Bernstein" sei. Die umfassende Kenntnis zu den Bernsteinvorkommen in Mitteldeutschland schließt aber eine solche Möglichkeit aus (siehe Abschnitt Weltweites Vorkommen von Bernstein). Bereits seit langem wird es für möglich gehalten, dass in die Sammlungen des Baltischen Bernsteins auch Inklusen aus den miozänen Schichten des Samlands, die in der Anfangsphase der Gewinnung abgebaut wurden (siehe Abschnitt Bernsteingewinnung in der vorbergbaulichen Zeit), geraten sind, also eine vermischte Fauna vorliegt. Eine endgültige Klärung kann nur durch neue Aufsammlungen aus der aktuellen Bernsteingewinnung in Jantarny erfolgen, denn diese erfolgt allein aus der "obereozänen" „Blauen Erde“. An Darstellungen der Tier- und Pflanzenwelt im "Baltischen Bernstein" jüngeren Datums sind beispielsweise zu nennen die wissenschaftlichen, aber weithin noch allgemeinverständlichen Arbeiten von Wolfgang Weitschat und Wilfried Wichard "(Atlas der Pflanzen und Tiere im Baltischen Bernstein)," George O. Poinar jr. "(Life in amber)" sowie die streng wissenschaftliche Arbeit von Sven Gisle Larsson "(Baltic Amber – a Palaeobiological Study)". Die größten Inklusensammlungen aus Baltischem Bernstein. Die wohl größte jemals existierende Sammlung organischer Einschlüsse in "Baltischem Bernstein" dürfte mit etwa 120.000 Stücken die der Albertus-Universität Königsberg gewesen sein. Der größte Teil dieser Sammlung ist in den Wirren des Zweiten Weltkrieges untergegangen, der erhaltene Teil befindet sich heute im Institut und Museum für Geologie und Paläontologie (IMGP) der Universität Göttingen. Von erheblicher Bedeutung war vor dem Zweiten Weltkrieg auch die Sammlung des Westpreußischen Provinzial-Museums Danzig, deren Bestand deutlich mehr als 13.000 Exemplare umfasst haben muss. Zu den größten Sammlungen unserer Tage zählen die der folgenden Institutionen: Gebrauchsgegenstände und technische Geräte. In der chemischen Industrie wurde zunächst nicht für die Schmuckindustrie geeigneter Bernstein für die Herstellung von "Bernsteinlack, Bernsteinöl" und Bernsteinsäure verwendet. Lacke setzten sich zumeist aus Kolophonium (verbleibende feste Masse geschmolzenen Bernsteins nach Destillation von "Bernsteinöl" und "Bernsteinsäure"), Terpentinöl und Leinölfirnis, mitunter ergänzt um Bleiglätte, in unterschiedlichen Rezepturen je nach Verwendung des Endproduktes (zum Beispiel als Schiffslack oder Fußbodenlack) zusammen. Zeitweilig wurden die Pferdehaare des Geigenbogens mit reinem Kolophonium bestrichen („Geigenharz“). Reines Bernsteinöl diente als Holzschutzmittel, das sich als sehr wirksam erwiesen hat, Bernsteinsäure fand Verwendung bei der Herstellung bestimmter Farben. Heute werden diese Produkte nahezu ausschließlich synthetisch erzeugt. Ende des 17. Jahrhunderts entstanden Techniken, Bernstein zu entfärben. Das klare Endprodukt wurde als Rohmaterial für optische Linsen verwendet. Optische Geräte, in denen Bernsteinlinsen verwendet wurden, blieben bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in Gebrauch. Bis zum Zweiten Weltkrieg (zum Teil noch – etwa in Hamburg – bis 1950) wurden bei Bluttransfusionen aus Bernstein gefertigte Gefäße verwendet, da auf diese Weise der Blutgerinnung entgegengewirkt werden konnte. Ein weiteres sehr seltenes Einsatzgebiet waren elektrische Isolatoren, da der spezifische Widerstand von Bernstein mit ungefähr 1014 bis 1018 Ω·m größer als der von Porzellan ist. Pressbernstein. Der in den 1870er Jahren in Königsberg entwickelte "Pressbernstein" wurde in industriellem Maßstab seit 1881 in Wien und später auch in der "Staatlichen Bernstein-Manufaktur Königsberg" zur Herstellung von Gebrauchsgegenständen wie Zigarettenspitzen, Mundstücken von Tabakpfeifen oder der türkischen Tschibuk, Nippes (Kunsthandwerk) und billigem Schmuck verwendet. Nach Afrika exportierter "Pressbernstein" wurde auch abschätzig als Negergeld bezeichnet. Der preisgünstige "Pressbernstein" wurde nach einiger Zeit von dem billigeren Kunststoff ersetzt. Es begann mit Bakelit, durch den Pressbernstein fast vollständig verdrängt wurde. Mythologie und Dichtung. Abgesehen von den zahlreichen prosaischen Textstellen antiker Schriften (unter anderem Herodot, Plato, Xenophon, Aristoteles, Hippokrates, Tacitus, Plinius der Ältere, Pytheas; Waldmann führt 31 erhaltene antike Textstellen auf und verweist auf "Plinius", der in seinem Traktat über Bernstein weitere 30 Textstellen erwähnt, die uns nicht erhalten sind), in denen es zumeist darum geht, Bernstein zu beschreiben und seine Herkunft zu erklären, hat das fossile Harz auch in Mythologie und Dichtung seinen festen Platz. Dazu gehörten ohne Zweifel einige Schriften der zahlreichen von Plinius dem Älteren erwähnten Autoren, die sich mit Baumharz auf irgendeine Art beschäftigt haben, deren Werke aber nicht überliefert sind. Die frühesten uns überlieferten dichterischen Erwähnungen von Bernstein sind Mythen und Sagen, in denen Wesen mit übernatürlichen Kräften (Götter, Halbgötter und Gestalten der Unterwelt) durch ihr Handeln zur Entstehung des Bernsteins beigetragen haben. Ein Beispiel dafür sind "Tränen der Heliaden", die in den auf Euripides’ Trauerspiel "Der bekränzte Hippolytos" zurückgehenden "Metamorphosen" Ovids flossen, als Phaeton, der Bruder der Heliaden, in seinem Sonnenwagen der Erde zu nah kam, da ihm die Pferde durchgingen und er von einem Blitzstrahl des Zeus getroffen wurde, nachdem die Erde sich bei ihm über Phaetons Verhalten beklagt hatte. Die goldenen Tränen der zu Pappeln verwandelten trauernden Schwestern erstarrten zu "electron" (Bernstein). Dieser Mythos findet sich auch in Homers "Odyssee" wieder, als das Schiff der Argonauten in den Fluss Eridanos getrieben wurde, aus dem noch die Rauchschwaden des an dieser Stelle in das Wasser gestürzten Sonnenwagens des Phaeton emporstiegen. Dieser Fluss kehrt in antiken Schriften immer wieder als der Ort zurück, von dem aller Bernstein stammen soll. So heißt es zum Beispiel bei Pausanias in seiner Beschreibung Griechenlands: Ähnlich dramatisch wie im Mythos der "Tränen der Heliaden" verlaufen die Ereignisse in der aus dem Gebiet des heutigen Litauen stammenden Legende von Jūratė und Kastytis, an deren Ende die Zerstörung eines auf dem Meeresgrund befindlichen Schlosses aus Bernstein steht, womit die sich stetig erneuernden Strandfunde an der Ostsee mit dichterischen Mitteln erklärt sind. Auch über in Bernstein eingeschlossene Insekten sind bereits aus römischer Kaiserzeit dichterische Darstellungen bekannt. Beispielsweise verfasste der römische Dichter Martial zur Regierungszeit des Kaisers Titus folgenden Vers, in dem wiederum der vom Blitz getroffene Phaeton erscheint, um den die Heliaden ihre zu Bernstein erstarrten Tränen vergossen hatten: Ein frühes Beispiel dichterischer Bearbeitung in der deutschen Literatur gibt der im ostpreußischen Neidenburg geborene Dichter Daniel Hermann mit seinen in Latein verfassten Versen auf einen "Bernsteinfrosch" und eine "Bernsteineidechse" aus der Sammlung des Danziger Kaufmanns "Severin Goebel", der offenbar Fälschungen aufgesessen war. In zahlreichen späteren Werken ostpreußischer Heimatdichtung bis in das 20. Jahrhundert steht immer wieder das „Gold des Nordens“ im Mittelpunkt von Versen. Maria Schade "(Ostpreußenland)," Rudolf Schade "(Samlandlied)," Johanna Ambrosius "(Ostpreußenlied)," Hans Parlow "(Pillauer Lied)" und Felix Dahns "(Die Bernsteinhexe)" sowie eine der bekanntesten Dichterinnen ostpreußischer Herkunft, Agnes Miegel ("Das war ein Frühling" und "Das Lied der jungen Frau"), sollen hier nur stellvertretend für viele andere erwähnt werden. Neben der reichhaltigen Fachliteratur und den vielen, meist in deutscher, polnischer oder englischer Sprache erschienenen populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen sind in jüngerer Zeit auch immer wieder Dokumentationen und erzählerische Werke rund um das Thema Bernstein erschienen, die einem größeren Publikum bekannt wurden. An dieser Stelle seien – ohne jegliche Wertung – einige dieser Titel erwähnt: "Die Bernsteinzimmer-Saga" von Günter Wermusch, "Die Bernsteinsammlerin" von Lena Johannson, "Die Mücke im Bernstein" von Else G. Stahl, "Das Bernstein-Amulett" von Peter Prange. Legendäre Heilkräfte und Schutzzauber. Thales setzte die elektrostatischen Eigenschaften des Bernsteins mit magnetischen Kräften gleich, die nicht nur Staub und Gewebefasern anziehen, sondern auch andere winzige Gebilde, die schädlich auf die menschliche Gesundheit einwirken können (heute würden wir dazu "Krankheitserreger" sagen). Nicht zuletzt deswegen wird Bernstein seit alters her als Heilmittel eingesetzt. So schreibt Plinius der Ältere in seiner Naturalis historia, dass auf der Haut getragene Bernsteinamulette vor Fieber schützen. Der griechische Arzt Pedanios Dioskurides beschrieb im 1. Jahrhundert n. Chr. in seinem Werk Materia medica die Heilwirkung von Bernstein bei Podagraschmerzen, Dysenterie und Bauchfluss. Die Menschen der Urgeschichte und des Altertums fanden für die außergewöhnlichen Eigenschaften des Bernsteins keine einleuchtende Erklärung. Dies führte dazu, dass dem fossilen Harz vielerorts eine dämonenabwehrende Wirkung als Apotropaion zugeschrieben wurde. Der Bernstein wurde am Körper getragen, oft mit einem Band um den Hals befestigt. Später kamen Formgebung und Verzierung hinzu, die zunächst figurative Darstellungen waren, durch die Heilkräfte und Schutzzauber des Bernsteins verstärkt und kanalisiert werden sollten; später verselbständigten sich diese dekorativen Bearbeitungen zu Schmuck, beispielsweise in Gestalt von Anhängern. Nach mittelalterlichen Manuskripten (12. Jahrhundert), die Hildegard von Bingen zugeschrieben werden, galt Bernstein als eines der wirksamsten Medikamente gegen eine ganze Reihe von Erkrankungen und Beschwerden (zum Beispiel Magenbeschwerden, Blasendysfunktion). Aus der gleichen Zeit stammt das Verbot, mit weißem Bernstein zu handeln, ausgesprochen vom Deutschen Orden, der die Bernsteingewinnung und -nutzung kontrollierte, da ihm besondere heilende Kräfte zugeschrieben wurden und er vom Orden selbst für medizinische Zwecke verwendet wurde. Georgius Agricola empfahl in seiner Schrift „De peste“ (1554) verschiedene Bernsteinmixturen als vorbeugendes Mittel gegen die Pest. Einige Autoren veröffentlichten genaue Rezepturen: Nicholas Culpeper (1654) empfahl ca. 0,7 Gramm Bernstein zur Einnahme als Mittel bei erschwertem Urinieren; William Salmon (1696) hielt eine Mischung aus 2,3 Gramm Bernsteinpulver mit 0,14 Liter Weißwein für heilsam gegen Epilepsie, und Jan Freyer (1833) mischte Bernsteinöl mit sechs Teilen destilliertem Wasser und verschrieb dieses Mittel in unterschiedlicher Dosis und Zubereitungsform als Arznei zur äußerlichen und innerlichen Anwendung bei einer Vielzahl von Erkrankungen und Beschwerden (Krämpfe, Bandwürmer, Rheuma und vieles andere mehr). Der Mediziner und Mikrobiologe Robert Koch analysierte im Jahre 1886 Bernsteinsäure und kam zu dem Ergebnis, dass Bernsteinsäure einen positiven, unter anderem immunitätssteigernden Einfluss auf den menschlichen Organismus haben kann und, selbst in großen Mengen verabreicht, den Organismus nicht schädigt. Medikamente mit dem Wirkstoff "Bernsteinsäure" sind noch heute – insbesondere in den USA und in Russland – im Handel. Auch in der Homöopathie werden Präparate verwendet, die Bernsteinextrakte enthalten. Da Bernsteinsäure in der Verwitterungskruste des Rohbernsteins angereichert ist, wird in der Naturheilkunde oftmals empfohlen, unbearbeiteten Bernstein direkt auf der Haut zu tragen. Der Glaube an die „Kraft des Steins“ findet sich auch in magischen Vorstellungen der Neuzeit wieder – etwa, wenn empfohlen wird, Ehefrauen nachts Bernstein auf die Brust zu legen, um sie so zum Gestehen schlechter Taten zu bringen. Im Volksaberglauben gilt Bernstein als Schutz vor bösem Zauber und soll Dämonen, Hexen und Trolle vertreiben. In der Esoterik gilt Bernstein als Heil- und Schutzstein, der Ängste nehme und Lebensfreude schenke. Um seine volle Wirkung zu entfalten, müsse er lange ohne Unterbrechung auf der Haut getragen werden. Wissenschaftliche Belege gibt es dafür nicht. Ferner wird Bernstein von Esoterikern als "Zahnungshilfe" eingesetzt: Eine Bernsteinkette, um den Hals des Babys gelegt, erleichtere dem Kind das Zahnen und nehme ihm die Schmerzen. Bernstein entfalte angeblich eine entzündungshemmende Wirkung. Wahrscheinlicher ist, dass Bernstein aufgrund seiner Beschaffenheit als "Beißring" taugt, wenn das Baby die Kette in den Mund nimmt. Ebenfalls wird "eine Aura aus positiven Schwingungen" in der Steinheilkunde erwähnt, die vom Bernstein ausgehe. Allerdings gehen von Bernsteinketten auch Gefahren für die Kleinkinder aus. So kann es zur Strangulation durch die Kette selbst kommen, oder abgebrochene Teile des Bernsteins können eingeatmet werden und die Atemwege verletzen oder gar verstopfen. Hypothesen zur Herkunft. Der Königsberger Konsistorialrat Johann Gottfried Hasse, ein früher Verfechter der zu seiner Zeit nicht unbestrittenen Ansicht, dass Bernstein pflanzlicher Herkunft ist, beschäftigte sich auch mit Methoden der Mumifizierung und kam durch seine Kenntnis von Bernsteininklusen zu der Ansicht, dass in der Antike Bernstein als Konservierungsmittel eine Rolle spielte. In einer 1799 veröffentlichten Schrift bringt er sein Bedauern darüber zum Ausdruck, dass dieses Wissen offenbar verloren gegangen ist und, wäre es noch vorhanden, „[…] so hätte man Friedrichs des Zweyten irdische Reste für die Nachwelt verewigen sollen […]“. Verarbeitung und Pflege von Bernstein. Bernstein wurde schon in der Steinzeit bearbeitet. Durch seine geringe Härte (Mohshärte >2,5) ist das ohne maschinellen Aufwand möglich. Werkzeug. Zur Bearbeitung von Bernstein wird Nass-Schleifpapier mit Körnungen von 80 bis 1000 verwendet sowie Nadelfeilen mit Hieb 1 und 2, Schlämmkreide (Alternative: Zahnpasta), Brennspiritus, Wasser, Leinen- oder Baumwolllappen, Fensterleder (Ledertuch), eine kleine Bohrmaschine und Spiralbohrer (max. 1 mm), eine mittelstarke Laubsäge (zum Zerschneiden großer Bernsteinstücke) und eine Angelsehne (zum Auffädeln einer Kette). Verarbeitungsprozess. Im ersten Schritt wird der Bernstein gefeilt und poliert. Dabei wird die unerwünschte Verwitterungskruste mit der Nadelfeile oder Nass-Schleifpapier der Körnung 80 bis 120 entfernt. Zum Aufbau des Schliffs werden mit dem Bernstein oder dem Schleifpapier kreisende Bewegungen ausgeführt. Dabei wird die Körnung stufenweise bis auf 1000 erhöht. Diese Bearbeitung erfordert etwas Geduld, da die gröberen Schleifspuren des vorherigen Schleifpapiers glatt geschliffen sein müssen, bevor die nächstfeinere Körnung benutzt werden kann. Zudem sollte der Bernstein vor jedem Wechsel des Schleifpapiers gründlich mit Wasser abgespült werden, um ihn nicht zu überhitzen (dadurch kann eine klebrige Oberfläche entstehen) und um Kratzer zu vermeiden. Im zweiten Schritt wird der Bernstein der Politur, dem letzten Arbeitsgang beim Schleifen, unterzogen. Dazu wird ein Leinen- bzw. Baumwolltuch mit Spiritus angefeuchtet und mit Schlämmkreide bestrichen. Mit dem so präparierten Tuch wird der Bernstein in kreisenden Bewegungen poliert und anschließend unter Wasser ausgewaschen. Zum Schluss wird der Bernstein mit einem Fensterleder nachpoliert. Im dritten Schritt wird in den Bernstein, falls gewünscht, ein Loch gebohrt. Der Bohrer wird in eine elektrische Handbohrmaschine eingespannt. Die verwendete Drehzahl sollte niedrig sein, und eine gewisse Übung in der Handhabung von Bohrern ist nicht nur aus Sicherheitsgründen von Vorteil. Der Bohrer darf nicht verkanten oder mit großem Druck durch den Bernstein getrieben werden, da Bernstein sehr druckempfindlich und damit die Bruchgefahr sehr groß ist. Sollte der Bernstein doch einmal brechen, hilft ein handelsüblicher Sekundenkleber. Matte, wenig glänzende, stumpfe oder ältere Bernsteine bekommen mit etwas Möbelwachs einen schönen Glanz. Eine weitere Form der Ver- oder Bearbeitung stellt die Arbeit des "Bernsteindrechslers" dar. In Deutschland wird diese Spezialisierungsrichtung des Drechslers nur noch in einem Betrieb in Ribnitz-Damgarten gelehrt – der Ribnitzer Bernstein-Drechslerei GmbH. Pflege und Konservierung. Unter Einfluss von Luftsauerstoff und Feuchtigkeit entwickelt Bernstein eine Verwitterungskruste (durch Oxidation). Dieser oftmals in der Lagerstätte des Bernsteins bereits einsetzende Prozess (sogenannter Erdbernstein trägt zumeist eine kräftige Verwitterungskruste) setzt sich fort, wenn Bernstein als Schmuck- oder Sammlungsstück aufbewahrt wird. Bis heute ist keine Methode bekannt, mit der dieser Prozess völlig unterbunden werden könnte, ohne nachteilige Auswirkungen anderer Art hervorzurufen (z. B. Einschränkung der Untersuchungsmöglichkeiten bei Eingießung in Kunstharz; Gefahr des Eindringens von Substanzen aus der Konservierungsmatrix in das fossile Harz usw.). Alle bisher bekannten Konservierungsmethoden können mithin lediglich den Verwitterungsprozess verlangsamen. Für den Hausgebrauch genügt es im Allgemeinen, Bernstein dunkel, kühl und trocken aufzubewahren. Schmuckstücke aus Bernstein sollten regelmäßig unter fließend warmem Wasser gespült und nicht in die Sonne gelegt werden, da Bernstein schnell brüchig wird. Außerdem sollten weder Seife bzw. Putzmittel noch chemische Substanzen verwendet werden, da durch den Kontakt mit diesen Stoffen irreparable Schäden entstehen können. Stücke von besonderem (wissenschaftlichen) Wert sollten hingegen fachkundig konserviert werden. Dazu bedarf es in der Regel der Unterstützung durch einen Spezialisten (z. B. einen Konservator an einem naturkundlichen Museum). Einige gängige Konservierungsmittel und -methoden werden von K. Kwiatkowski (2002) beschrieben. Fälschungen, Manipulationen und Imitationen. Bernsteinnachbildungen (Imitationen) sind in sehr vielfältiger Form im Handel. Das trifft vor allem auf den Baltischen Bernstein zu. Meist handelt es sich um Nachbildungen auf der Grundlage verschiedenartiger Kunstharze, deren Eigenschaften zur Herstellung von Objekten, die das Erscheinungsbild von Bernstein haben, sich im Laufe mehrerer Jahrzehnte mehr und mehr verbessert haben. Um Fälschungen handelt es sich nach allgemeinem Sprachgebrauch stets dann, wenn Bernstein in der Absicht nachgebildet wird, ihn als Naturbernstein oder echten Bernstein auszugeben und er als solcher angeboten wird. Nach dem "Gesetz zum Schutz des Bernsteins" durfte nur Naturbernstein als Bernstein bezeichnet werden, und die Kennzeichnung als Bernstein durfte nur durch den ersten Verkäufer bzw. den Hersteller von Bernsteinerzeugnissen erfolgen. Das Gesetz wurde 2006 aufgehoben, da der bezweckte Schutz ausreichend durch andere Rechtsvorschriften, insbesondere das Recht des unlauteren Wettbewerbs, gewährleistet sei. Aufgrund der Wertschätzung, die seit alters her organischen "Bernsteineinschlüssen" entgegengebracht wird, sind Inklusen naturgemäß besonders häufig Gegenstand von Fälschungen. Schon aus dem 16. Jahrhundert sind gefälschte Bernsteineinschlüsse bekannt. Man versuchte damals, Tiere wie Frösche, Fische oder Eidechsen als Inklusen im Bernstein unterzubringen, eine Praxis, die auch heute noch üblich ist. Göbel berichtet 1558 über Nachbildungen (ein Frosch und eine Eidechse), die ein Danziger Händler einem italienischen Adeligen aus Mantua verkaufte. Im Jahre 1623 erhielt der polnische König Sigismund III. Wasa, ein Kunstsammler und -mäzen, anlässlich seines Besuchs der Stadt Danzig einen in Bernstein eingeschlossenen Frosch von den Bürgern der Stadt als Gastgeschenk. Auch in der umfangreichen Sammlung von August dem Starken befanden sich nach einer von Sendelius im Jahre 1742 veröffentlichten Bestandsaufnahme (in der diese noch als authentisch angesehen wurden) zahlreiche Fälschungen, zumeist Wirbeltiere oder riesige Insekten. Dabei fällt es auch der Wissenschaft nicht immer leicht, zu einem sicheren Ergebnis zu kommen. Ein bekanntes Beispiel dafür ist die sogenannte „Bernstein-Eidechse von Königsberg“, die erstmals 1889 schriftlich erwähnt wird. Später tauchten wiederholt Zweifel an der Echtheit des Stückes auf – es wurde vermutet, die Eidechse sei von Menschenhand in Kopal eingebettet worden –, bis es am Ende des Zweiten Weltkrieges verschollen war. Nachdem das Stück Ende der 1990er Jahre im "Geologisch-Paläontologischen Institut" der Georg-August-Universität Göttingen wieder auftauchte und erneut gründlich untersucht wurde, ist jetzt seine Echtheit bestätigt. Dabei spielten im Bernsteinstück vorhandene Syninklusen (in diesem Fall Eichensternhaare) eine nicht unerhebliche Rolle. Nicht selten wird auch der "Bernstein selbst" gefälscht, das trifft vor allem für Bernsteinvarietäten zu, die aufgrund ihrer Farbe, Transparenz oder Größe in der Natur nur selten vorkommen. Abgesehen von ihrem Brenngeruch und ihrer geringen Härte bzw. Dichte sind manche Bernsteinsorten nur schwer von entsprechend gefärbten Kunststoffen zu unterscheiden. Solche Nachbildungen bestehen meist aus Materialien, die den Kunststoffgruppen der Thermoplasten und Duroplasten angehören. Darunter fallen Stoffe wie Zelluloid, Plexiglas, Bakelit, Bernit (Bernat) und Casein. Gängige Handelsnamen dafür sind unter anderem Galalith, "Alalith" oder "Lactoid". Auch der in der DDR produzierte künstliche Bernstein aus Polyester und Bernsteinstücken, der als Polybern verkauft wurde, gehört zu diesen Kunststoffnachbildungen. In jüngerer Zeit sind häufig Bernsteinnachbildungen aus Polyesterharzen im Handel zu finden, oft ist dem Polyesterharz zuvor eingeschmolzener Naturbernstein zugefügt. In solche Objekte werden nicht selten rezente Insekten oder Spinnen eingefügt, die als Bernsteininklusen ausgegeben werden. Solche Nachbildungen werden besonders in Ländern mit reichen Bernsteinvorkommen und entsprechend umfangreichem Warenangebot hergestellt und im Handel angeboten (Polen, Russland). Mischungen von Bernstein und Kunstharzen sind mitunter an den Trennlinien der verwendeten Materialien zu erkennen, wenn Fragmente von Naturbernstein in das Kunstharz eingefügt wurden, ohne ihn zuvor zu schmelzen. Weniger leicht zu identifizieren sind Rekonstruktionen aus pulverisiertem Schleifabfall oder kleinen Bruchstücken des puren Bernsteins, die miteinander verschmolzen werden. Bernsteinrekonstruktionen dürfen als „Echt Bernstein“ verkauft werden, da die Grundlage tatsächlich echter Bernstein(staub) ist. Er ist auch als "Pressbernstein" bekannt. Zum "Prüfen", ob es sich bei einem Bernstein um ein Original oder ein Imitat handelt, kann eine "glühende Nadel" verwendet werden. Diese hält man an den Stein und zieht sie mit etwas Druck darüber. Bildet sich eine Rille und wird der Stein schmierig bzw. riecht er harzig, während die Nadel an einer Stelle bleibt, ist es Bernstein. Andernfalls ist es ein Imitat. Alternativ kann man auch die Dichte des Bernsteins zum Test nutzen. Bernstein sinkt in Süßwasser (z. B. normalem Leitungswasser), schwimmt jedoch in konzentriertem Salzwasser. Man benutzt zwei Gefäße, eines mit Süßwasser, eines mit Salzwasser (etwa zwei Esslöffel Salz auf einen Viertelliter Wasser). Bernstein versinkt im ersten Glas, schwimmt jedoch im zweiten. Plastik schwimmt auch auf Süßwasser, Steine und Glas versinken auch im Salzwasser. Zur Prüfung der Echtheit von Bernstein eignet sich auch die Fluoreszenz-Methode, da Bernstein unter UV-Licht weiß-blau strahlt, Plastik jedoch nicht. Künstlich geklärte Bernsteine sind keine Seltenheit. Dabei werden trübe Naturbernsteine (95 % der Naturbernsteine) über mehrere Tage langsam in Raps- oder Leinöl erwärmt, um sie zu klären. Durch geschickte Temperaturregelung während des Klärungsprozesses können auch "Sonnenflinten, Sonnensprünge" und "Blitzer", die in Naturbernsteinen äußerst selten vorkommen, gezielt hergestellt werden. Oft wird auch ein hohes Alter des Steins vorgetäuscht. Beim sogenannten "Antikisieren" wird das Material in einem elektrischen Ofen in gereinigtem Sand mehrere Stunden auf 100 °C erhitzt, um einen warmen Braunton zu erzeugen. Alle diese Manipulationen sind nur schwer nachzuweisen. Bernstein wird oft mit durchscheinendem gelbem Feuerstein verwechselt, dessen Oberfläche auch glänzt. Aber im Gegensatz zum leichten und warmen Bernstein ist Feuerstein kalt und härter als Glas. Um selbst gefundene Bernsteine von Feuerstein zu unterscheiden (bei kleineren Splittern ist das Gewicht nicht ohne weiteres zu bestimmen), kann man mit dem Stein "vorsichtig" gegen einen Zahn klopfen. Ergibt sich ein weicher Ton, wie er zum Beispiel entsteht, wenn man mit dem Fingernagel gegen den Zahn klopft, so ist es kein Feuerstein. Seit den letzten Jahren wird Bernstein oft durch den „Kolumbianischen Ambar“ ersetzt: Dieser Kopal ist zwar nur an die 200 Jahre alt, erfährt aber durch verschiedene Verarbeitungsstufen eine künstliche Alterung. Im Endprodukt ist für Laien und die meisten Fachleute keine Unterscheidung zwischen alt und jung mehr möglich. Nach Auskunft kolumbianischer Kopalhändler werden mehrere Tonnen pro Monat zur "Bernsteinschmuckverarbeitung" weltweit exportiert. Gefahr durch Ähnlichkeit mit weißem Phosphor. Auf Usedom und in einigen weiteren Gegenden der Ostsee kommt es in seltenen Fällen zur Anspülung von Klumpen weißen Phosphors aus alten Brandbomben aus dem Zweiten Weltkrieg. Diese Klumpen weisen eine gewisse Ähnlichkeit mit Bernstein auf. Wenn die feuchte Oberfläche des Phosphors trocknet, entzündet er sich bei Körpertemperatur von selbst, was bei Sammlern zu schweren Verbrennungen führen kann. Zudem ist weißer Phosphor bereits in geringen Mengen hochgiftig. Auf Usedom sind daher Warnschilder aufgestellt. Unerfahrenen Sammlern wird geraten, ihre Funde nicht in der Hosentasche, sondern in einem Marmeladengläschen aufzubewahren.
664
2016745
https://de.wikipedia.org/wiki?curid=664
Boson
Bosonen (nach dem indischen Physiker Satyendranath Bose) sind alle Teilchen, die sich gemäß der Bose-Einstein-Statistik verhalten, in der u. a. mehrere ununterscheidbare Teilchen den gleichen Zustand einnehmen können. Dem Spin-Statistik-Theorem zufolge haben sie einen ganzzahligen Eigendrehimpuls (Spin) in Einheiten des reduzierten planckschen Wirkungsquantums formula_1. Daran kann man sie unterscheiden von den Fermionen mit halbzahligem Spin und den Anyonen mit beliebigem (auch gebrochenzahligem) Spin; beide Typen haben damit einhergehend andere statistische Eigenschaften. Im Standardmodell der Teilchenphysik sind die Austauschteilchen, die die Kräfte zwischen den Fermionen vermitteln, elementare Bosonen mit einem Spin von 1, wie z. B. das Photon als Überträger der elektromagnetischen Kraft. Auch das hypothetische Graviton als Träger der Gravitation ist ein Boson, allerdings mit einem Spin von 2. Darüber hinaus existiert mit dem Higgs-Boson im Standardmodell ein Boson mit einem Spin von 0. Andere Bosonen sind aus mehreren Teilchen zusammengesetzt wie z. B. die Cooper-Paare aus Elektronen und Phononen als Ladungsträger im Supraleiter, Atomkerne mit einer geraden Nukleonenzahl oder die Mesonen, also subatomare Quark-Antiquark-Paare. Des Weiteren können auch Quasiteilchen bosonische Eigenschaften zeigen, wie die bereits erwähnten Phononen oder die Spinonen. Einteilung nach dem Spin. Die elementaren Bosonen werden je nach Spin verschieden bezeichnet. Grundlage dieser Bezeichnung ist ihr Transformationsverhalten unter den „eigentlichen orthochronen Lorentz-Transformationen“. Elementarteilchen können, außer in einer nichtlokalen oder einer Stringtheorie, maximal einen Spin von 2 aufweisen, denn masselose Teilchen unterliegen dem Low-Energy-Theorem, das die Kopplung von hohen Spins an Ströme anderen Spins ausschließt, sowie einem Verbot für Selbstwechselwirkungen und für massive Teilchen wurde die generelle Nichtexistenz 2017 gezeigt. Bosonen mit höherem Spin sind daher physikalisch weniger relevant, da sie nur als zusammengesetzte Teilchen auftreten. Makroskopische Quantenzustände. Eine besondere Eigenschaft der Bosonen ist, dass sich bei Vertauschung zweier gleicher Bosonen die quantenmechanische Wellenfunktion nicht ändert (Phasenfaktor +1). Im Gegensatz dazu ändert sich bei einer Vertauschung zweier gleicher "Fermionen" das Vorzeichen der Wellenfunktion. Die Begründung für die Invarianz der Wellenfunktion bei Bosonen-Vertauschung erfolgt über das relativ komplizierte Spin-Statistik-Theorem. Anschaulich erhält man nach zweimaligem Vertauschen (d. h. einer Spiegelung bzw. Anwendung des Paritätsoperators) wieder den ursprünglichen Zustand; einmaliges Vertauschen kann also nur einen Faktor vom Betrag 1 erzeugen, der quadriert 1 ergibt – also entweder 1 oder −1 –, wobei die 1 den Bosonen entspricht. Eine Konsequenz ist, dass sich gleichartige Bosonen zur selben Zeit am selben Ort (innerhalb der Unschärferelation) befinden können; man spricht dann von einem Bose-Einstein-Kondensat. Mehrere Bosonen nehmen dann den gleichen Quantenzustand ein, sie bilden makroskopische Quantenzustände. Beispiele sind: Zusammengesetzte Teilchen. Fermionisches oder bosonisches Verhalten zusammengesetzter Teilchen kann nur aus größerer Entfernung (verglichen mit dem betrachteten System) beobachtet werden. Bei näherer Betrachtung (in einer Größenordnung, in der die Struktur der Komponenten relevant wird) zeigt sich, dass ein zusammengesetztes Teilchen sich entsprechend den Eigenschaften (Spins) der Bestandteile verhält. Beispielsweise können zwei Helium-4-Atome (Bosonen) nicht denselben Raum einnehmen, wenn der betrachtete Raum vergleichbar mit der inneren Struktur des Heliumatoms (≈10−10 m) ist, da die Bestandteile des Helium-4-Atoms selbst Fermionen sind. Dadurch hat flüssiges Helium ebenso eine endliche Dichte wie eine gewöhnliche Flüssigkeit. Supersymmetrische Bosonen. In dem Modell der Elementarteilchen, das um die Supersymmetrie erweitert ist, existieren weitere elementare Bosonen. Auf jedes Fermion kommt rechnerisch ein Boson als supersymmetrisches Partnerteilchen, ein so genanntes "Sfermion", so dass sich der Spin jeweils um ±1/2 unterscheidet. Die Superpartner der Fermionen werden allgemein durch ein zusätzliches vorangestelltes "S-" benannt, so heißt z. B. das entsprechende Boson zum Elektron dann "Selektron". Genau genommen wird zunächst im Wechselwirkungsbild jedem fermionischen Feld ein bosonisches Feld als Superpartner zugeordnet. Im Massebild ergeben sich die beobachtbaren oder vorhergesagten Teilchen jeweils als Linearkombinationen dieser Felder. Dabei muss die Zahl und der relative Anteil der zu den Mischungen beitragenden Komponenten auf der Seite der bosonischen Superpartner nicht mit den Verhältnissen auf der ursprünglichen fermionischen Seite übereinstimmen. Im einfachsten Fall (ohne oder mit nur geringer Mischung) kann jedoch einem Fermion (wie dem Elektron) ein bestimmtes Boson bzw. Sfermion (wie das Selektron) zugeordnet werden. Darüber hinaus benötigt bereits das minimale supersymmetrische Standardmodell (MSSM) im Unterschied zum Standardmodell (SM) mehrere bosonische Higgs-Felder inklusive ihrer Superpartner. Bisher wurde keines der postulierten supersymmetrischen Partnerteilchen experimentell nachgewiesen. Sie müssten demnach eine so hohe Masse haben, dass sie unter normalen Bedingungen nicht entstehen. Man hofft, dass die neue Generation der Teilchenbeschleuniger zumindest einige dieser Bosonen nachweisen kann. Anzeichen sprechen dafür, dass die Masse des leichtesten supersymmetrischen Teilchens (LSP) im Bereich einiger hundert GeV/c² liegt.
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Biorhythmus (Mantik)
Biorhythmus ist in der Mantik eine unbelegte Hypothese, die besagt, dass die physische und die intellektuelle Leistungsfähigkeit sowie der Gemütszustand des Menschen bestimmten Rhythmen unterworfen sind, die bei allen Menschen gleich sind und mit dem Tag der Geburt beginnen. Diese werden in einem Biorhythmogramm dargestellt. Biorhythmushypothese. Die Biorhythmik nach Swoboda/Fließ geht von drei „Rhythmen“ mit unterschiedlicher Periodendauer aus: Bei der Geburt sollen diese Rhythmen wellenartig mit ihrer ersten Periode positiv anfangen, nach einer halben Periodenlänge die Null–Linie überqueren und dann in eine negative Phase gehen. Am Ende der Periode erfolgt wieder ein Umschlag in den positiven Bereich. Alle Übergänge, das heißt von positiv zu negativ und umgekehrt, sollen "kritische Tage", also potentiell „schlechte“ Tage, sein. Kommt es nun bei allen drei Phasen zu einem Übergang am selben Tag, kann das laut der biorhythmischen Lehre krisenhafte Folgen haben – während das Zusammentreffen positiver Tage besonders gute Tage zur Folge haben soll. Die Basis für diese simple Rechnung wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch den Wiener Psychologen Hermann Swoboda und den Berliner Arzt Wilhelm Fließ gelegt. Fließ glaubte, in den Krankenakten seiner Patienten übereinstimmend Regelmäßigkeiten entdeckt zu haben und formulierte diese zunächst in seiner "Periodenlehre". Sie versuchten, so hinter den „guten“ und „schlechten“ Momenten eines Lebens eine Gesetzmäßigkeit zu entdecken. Der Biorhythmus nach Swoboda/Fließ wiederholt sich alle 23 × 28 × 33 Tage, entsprechend etwa 58 Jahren und 2 Monaten, im Laufe eines durchschnittlichen Menschenlebens also höchstens einmal. Hohe Popularität erlangte der Biorhythmus nach Swoboda/Fließ in den 1980er Jahren mit dem Aufkommen der ersten programmierbaren Taschenrechner und Heimcomputer. Das Lebensalter in Tagen und der daraus resultierende Biorhythmuszustand konnte durch einfach zu schreibende und zu bedienende Programme schnell berechnet werden. Heute sind Arbeitsblätter mit Berechnungsformeln für gängige Tabellenkalkulationsprogramme verfügbar. Die dabei verwendeten Berechnungsformeln gehen dabei immer auf dieselbe Hypothese (Swoboda/Fließ) zurück. Kurvenform. Überwiegend werden die drei Biorhythmen nach Swoboda/Fließ mit einer einfach zu berechnenden Sinuskurve dargestellt. Die Autoren Paungger / Poppe postulieren dagegen eine asymmetrische Kurvenform. Diese soll langsamer ansteigen und erst kurz vor dem Nulldurchgang ihr Maximum erreichen, um dann abrupt abzufallen. Da die sich hier kurz vor den Wechseltagen ergebenden Hoch- und Tief-Phasen am wirkungsstärksten seien, könne dieser als ursprünglich angenommene Verlauf auch „erspürt“ werden. Abgrenzung. Von der unbelegten Biorhythmushypothese nach Swoboda/Fließ abzugrenzen sind die biologischen Rhythmen der Chronobiologie, die mit naturwissenschaftlichen Methoden die zeitliche Organisation von Lebewesen untersucht. Chronobiologische Rhythmen, die in Biologie und Medizin beschrieben werden, unterliegen natürlichen Schwankungen, weshalb diese streng periodischen Zyklen des Biorhythmus nach Swoboda/Fließ für die wissenschaftliche Biologie und Medizin nicht plausibel sind und zudem Erkenntnissen der biologischen Wissenschaften widersprechen. Daher werden in der Chronobiologie die starren und vom Zeitpunkt der Geburt abgeleiteten Rhythmen der Biorhythmushypothese abgelehnt. Die von der Biorhythmushypothese postulierten Langzeitrhythmen sind nicht messbar und wissenschaftlich nicht belegt; so hob sich in einer Studie die Trefferquote bei der Voraussage der Wahrscheinlichkeit eines Unfalls mittels der Methoden der Biorhythmushypothese in einer Studie, bei der 3000 Verkehrsunfälle ausgewertet wurden, nicht von statistischen Zufallswerten ab. Um Missverständnisse zu vermeiden, wird innerhalb der Chronobiologie der Begriff "biologische Rhythmen" verwendet, was sich allerdings im alltäglichen Sprachgebrauch nicht durchgesetzt hat.
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Brauner Zwerg
Braune Zwerge sind Himmelskörper, die eine Sonderstellung zwischen Sternen und Planeten einnehmen. Ihre Massen sind weniger als 75 Jupitermassen und reichen daher nicht aus, um wie in den leichtesten Sternen, den Roten Zwergen, eine Wasserstofffusion in ihrem Inneren in Gang zu setzen. Andererseits sind sie mit mindestens 13 Jupitermassen (d. h. massereicher als planetare Gasriesen) schwer genug für den Beginn der Deuteriumfusion. Abgrenzung. Als Braune Zwerge werden alle Objekte eingestuft, die unter der Massengrenze für Wasserstofffusion und über der Massengrenze für die Deuteriumfusion liegen: Objekte mit weniger als 13 Jupitermassen nennt man Viele bekannte Exoplaneten weisen – neben großen Massen, die teilweise sogar im Bereich der Braunen Zwerge liegen könnten – mit hohen Exzentrizitäten und geringen Abständen vom Zentralgestirn Bahnparameter auf, die man eher von einem stellaren Begleiter als von Planeten erwarten würde; tatsächlich wird mindestens ein Exoplanet auch als Kandidat für einen Braunen Zwerg eingestuft. Bei den Objekten unter dem 13-fachen der Jupitermasse ist jedoch noch keine einheitliche Benennung absehbar. In den ersten Untersuchungen zu Braunen Zwergen wurde das "Entstehungskriterium" angewandt: man nannte alle Objekte Braune Zwerge, die wie die Sterne durch Kontraktion einer Gaswolke (H-II-Gebiet, Molekülwolke) entstehen, in denen aber keine Wasserstofffusion einsetzt – im Gegensatz zu den Gesteins- und Gasplaneten, die in den Akkretionsscheiben der Sterne entstehen. Diese Definition ist jedoch sehr problematisch, da vor allem die Entstehungsgeschichte der leichteren Objekte, wenn überhaupt, nur mit sehr hohem Aufwand geklärt werden kann. Das Fusionskriterium wird zwar noch nicht allgemein verwendet, aber es wird Anfang des 21. Jahrhunderts deutlich häufiger verwendet als das Entstehungskriterium, das nur noch von einigen älteren Pionieren dieses Forschungsgebiets angewandt wird. Entstehung. Der Entstehungsprozess der Braunen Zwerge ist bisher noch nicht eindeutig geklärt, im Wesentlichen bestehen jedoch sechs Möglichkeiten: In der Sternentstehungsregion "Chamaeleon I", die erst wenige Millionen Jahre alt ist, wurden 34 Braune Zwerge gefunden; bei dreien konnte zusätzlich eine Akkretionsscheibe nachgewiesen werden, die typisch für junge Sterne ist. Auch der Nachweis einer T-Tauri-Phase bei mehreren Braunen Zwergen, die bisher nur bei jungen Sternen auf ihrem Weg zur Hauptreihe bekannt war, ist ein Beleg dafür, dass zumindest ein Teil der Braunen Zwerge die gleiche Entstehungsgeschichte hat wie Sterne. Eigenschaften. Braune Zwerge weisen eine vergleichbare Elementzusammensetzung auf wie Sterne. In Akkretionsscheiben entstandene Braune Zwerge könnten einen Gesteinskern besitzen, wobei für diesen Entstehungsweg aber bisher keine Belege existieren. Für sehr leichte Zwergsterne stellt sich im Kern unabhängig von der Masse eine Gleichgewichtstemperatur von etwa 3 Millionen Kelvin ein, bei der die Wasserstofffusionsprozesse sprunghaft einsetzen. Die Konstanz der Temperatur bedeutet annähernd Proportionalität zwischen Masse und Radius, d. h., je geringer die Masse, desto höher die Dichte im Kern. Bei steigender Kerndichte üben die Elektronen einen zusätzlichen Druck gegen die gravitative Kontraktion aus, der durch eine teilweise Entartung der Elektronen aufgrund des Pauli-Prinzips hervorgerufen wird und zu einer geringeren Aufheizung des Kerns führt. Dies führt mit einer Metallizität ähnlich zur Sonne bei weniger als dem 75-fachen der Jupitermasse dazu, dass die notwendigen Temperaturen zur Wasserstofffusion nicht mehr erreicht werden und ein Brauner Zwerg entsteht. Da weder der Verlauf der Elektronen-Entartung noch die Eigenschaften der leichtesten Sterne in allen Aspekten verstanden sind, variieren ältere Literaturwerte zwischen dem 70-fachen und 78-fachen der Jupitermasse, neuere zwischen dem 72-fachen und dem 75-fachen. Die Fusionsprozesse liefern zwar bei jungen Braunen Zwergen einen Beitrag zur Energiebilanz, sie sind jedoch in keiner Entwicklungsphase mit dem Beitrag der Gravitationsenergie vergleichbar. Dies führt dazu, dass Braune Zwerge bereits gegen Ende der Akkretionsphase beginnen abzukühlen, die Fusionsprozesse verlangsamen diesen Prozess nur für etwa 10 bis 50 Millionen Jahre. Wärmetransport. Bei Braunen Zwergen und Sternen mit weniger als dem 0,3-fachen der Sonnenmasse bildet sich "keine" Schalenstruktur aus wie bei schwereren Sternen. Sie sind vollständig konvektiv, das heißt, es findet ein Materietransport vom Kern bis zur Oberfläche statt, der zu einer vollständigen Durchmischung führt und die Temperaturverteilung im gesamten Inneren bestimmt. Untersuchungen der Methanzwerge wie z. B. Gliese 229 B legen allerdings die Vermutung nahe, dass bei älteren, kühleren Braunen Zwergen diese Konvektionszone nicht mehr bis zur Oberfläche reicht und sich stattdessen möglicherweise eine den Gasriesen ähnliche Atmosphäre ausbildet. Größe. Die Entartung der Elektronen führt bei Braunen Zwergen zu einer Massenabhängigkeit des Radius von Diese schwache reziproke Massenabhängigkeit bewirkt einen über den gesamten Massenbereich annähernd konstanten Radius, der in etwa dem Jupiterradius entspricht; dabei sind die leichteren Braunen Zwerge "größer" als die schwereren. Erst unterhalb der Massengrenze der Braunen Zwerge verliert die Entartung an Bedeutung, und bei konstanter Dichte stellt sich eine Massenabhängigkeit von formula_2 ein. Spektralklassen. Die für Sterne definierten Spektralklassen sind im engeren Sinne "nicht" auf Braune Zwerge anwendbar, da es sich bei ihnen nicht um Sterne handelt. Bei Oberflächentemperaturen über 1800 bis 2000 K fallen sie bei der Beobachtung jedoch in den Bereich der L- und M-Sterne, da die optischen Eigenschaften nur von der Temperatur und der Zusammensetzung abhängen. Man wendet die Spektralklassen deshalb auch auf Braune Zwerge an, wobei diese allerdings keine direkte Aussage über die Masse, sondern nur über die Kombination von Masse und Alter liefern. Ein schwerer junger Brauner Zwerg startet im mittleren M-Bereich bei etwa 2900 K und durchläuft alle späteren M- und L-Typen, leichtere Braune Zwerge starten bereits bei einem späteren Typ. Das untere Ende der Hauptreihe ist nicht genau bekannt, es liegt aber vermutlich zwischen L2 und L4, d. h. bei Temperaturen unter 1800 bis 2000 K. Bei späteren, kühleren Typen handelt es sich mit Sicherheit um Braune Zwerge. Für die kühleren Braunen Zwerge wie z. B. Gliese 229B mit einer Temperatur von etwa 950 K wurde mit dem "T-Typ" eine weitere Spektralklasse eingeführt, die mit Temperaturen unter etwa 1450 K nicht mehr auf Sterne anwendbar ist. Da das Spektrum in diesem Temperaturbereich vor allem von starken Methanlinien geprägt ist, nennt man Braune Zwerge vom T-Typ meist "Methanzwerge". Bis 2011 galt 2MASS J04151954-0935066 als kühlster bekannter Brauner Zwerg. Er weist bei einer Temperatur von 600 bis 750 K als T9-Zwerg bereits Abweichungen von den anderen T-Zwergen auf. Vor 2MASS J0415-0935 galt Gliese 570D mit etwa 800 K als kühlster bekannter Brauner Zwerg. 2011 wurde dann für extrem kalte Braune Zwerge die Spektralklasse Y eingeführt. Da sie lediglich Oberflächentemperaturen von 25 bis 170 °C haben, senden sie kein sichtbares Licht, sondern nur Infrarotstrahlung aus und sind nur sehr schwierig zu beobachten. Sie wurden daher lange Zeit nur theoretisch vorhergesagt, ehe 2011 die erste Beobachtung durch das Wise-Observatorium gelang. Einer dieser Y-Zwerge, WISE 1828+2650, besitzt nach den Messungen des Satelliten eine Oberflächentemperatur von 27 °C. Das 2014 gefundene WISE 0855−0714 hat sogar eine Oberflächentemperatur von höchstens −13 °C, wobei aufgrund der geringen Masse (3 bis 10 Jupitermassen) unklar ist, ob es als Brauner Zwerg oder als Objekt planetarer Masse einzustufen ist. Rotationsperioden. Alle Braunen Zwerge mit einem Alter von mehr als 10 Millionen bis zu einigen Milliarden Jahren haben Rotationsperioden von weniger als einem Tag und entsprechen in dieser Eigenschaft eher den Gasplaneten als den Sternen. Während die Rotationsperiode von "Roten" Zwergen wahrscheinlich aufgrund von magnetischer Aktivität mit dem Alter länger wird, wird dieser Zusammenhang bei Braunen Zwergen "nicht" beobachtet. Veränderlichkeit. Die niedrigen Temperaturen in den Atmosphären von Braunen Zwergen mit einem Spektraltyp von spätem L bis T lässt erwarten, dass es zu Wolkenbildungen kommt. In Kombination mit der Rotation der Braunen Zwerge sollte eine veränderliche Leuchtkraft im nahen Infrarot wie bei Jupiter nachweisbar sein, wobei die Rotationsdauer in der Größenordnung von Stunden liegen dürfte. Im Fall von 2MASS J21392676+0220226 mit einem Spektraltyp T1,5 konnte eine Periode von 7,72 Stunden über mehrere Nächte nachgewiesen werden. Die Veränderlichkeit der Amplitude von Zyklus zu Zyklus unterstützt die Interpretation, dass es sich um eine Folge einer kontrastreichen Wolkenbildung in der Atmosphäre von Braunen Zwergen handelt. Daneben zeigen Braune Zwerge auch Schwankungen in der Intensität ihrer Radiostrahlung. Von 2MASS J10475385+2124234 mit einem Spektraltyp von T6.5 sind Flares beobachtet worden in Kombination mit einer sehr geringen Grundintensität. Als Ursache dieser Phänomene wird eine magnetische Aktivität angenommen, die aber nicht durch einen Alpha-Omega-Dynamo angeregt werden kann, da den vollständig konvektiven Braunen Zwergen die notwendige Tachocline-Region fehlt. Häufigkeit. Es gibt eine einfache Massenfunktion zur Beschreibung der relativen Anzahl sternähnlicher Objekte bezüglich ihrer Masse, die Ursprüngliche Massenfunktion. Diese Massenfunktion sollte sich unverändert in den Bereich der schwereren Braunen Zwerge fortsetzen, da zumindest die Anfangsphase des Sternentstehungsprozesses mit dem Kollabieren einer Gaswolke unabhängig von der Art des entstehenden Objekts ist; d. h., die Wolke kann nicht „wissen“, ob am Ende ein Stern oder ein Brauner Zwerg entsteht. Diese Massenfunktion wird jedoch im Bereich der leichteren Braunen Zwerge Abweichungen zeigen, da zum einen auch die anderen Entstehungsprozesse einen Beitrag liefern könnten ("siehe Abschnitt Entstehung"), und zum anderen nicht viel über die Mindestmassen der Objekte bekannt ist, die bei Sternentstehungsprozessen entstehen können. Eine genaue Bestimmung der Häufigkeit bzw. der Massenfunktion der Braunen Zwerge ist deshalb nicht nur für die Entstehungsprozesse der Braunen Zwerge wichtig, sondern trägt auch zum Verständnis der Sternentstehungsprozesse im Allgemeinen bei. Seit der Entdeckung von Gliese 229B wurden mehrere hundert Braune Zwerge gefunden, vor allem bei den Sterndurchmusterungen 2MASS (), DENIS () und SDSS () sowie bei intensiven Durchmusterungen von Offenen Sternhaufen und Sternentstehungsgebieten. Das im Februar 2017 gestartete Citizen-Science-Projekt "Backyard Worlds: Planet 9" der NASA zur Auswertung von Aufnahmen des Weltraumteleskops Wide-Field Infrared Survey Explorer (WISE) erbrachte mit Stand August 2020 die Entdeckung von 95 Braunen Zwergen innerhalb eines Umkreises von 65 Lichtjahren. Dies weise auf die Existenz von bis zu 100 Milliarden Brauner Zwerge in der Milchstraße hin. Nachweismethoden. Braune Zwerge haben eine sehr niedrige Leuchtkraft und sind deshalb schwierig zu beobachten, in frühen Entwicklungsstadien sind sie zudem leicht mit Roten Zwergen zu verwechseln. Für den eindeutigen Nachweis Brauner Zwerge bestehen mehrere Möglichkeiten: Verteilung. Sternhaufen. Viele Braune Zwerge wurden bereits in jungen Sternhaufen wie z. B. den Plejaden nachgewiesen, aber bisher wurde noch kein Haufen komplett durchsucht. Zudem sind in diesen Bereichen viele weitere Kandidaten bekannt, deren Zugehörigkeit zu den Braunen Zwergen bzw. dem Sternhaufen selbst noch nicht geklärt ist. Erste Analysen lassen sich im Rahmen der Fehlerabschätzung mit der stellaren Massenfunktion vereinbaren, jedoch gibt es teilweise starke Abweichungen. Es ist noch zu früh, um daraus eindeutig auf eine veränderte Massenfunktion im Bereich der Braunen Zwerge zu schließen. Sternentstehungsgebiete. In Sternentstehungsgebieten gestaltet sich der Nachweis Brauner Zwerge sehr schwierig, da sie sich aufgrund ihres geringen Alters und der damit verbundenen hohen Temperatur nur wenig von leichten Sternen unterscheiden. Ein weiteres Problem in diesen Regionen ist der hohe Staubanteil, der durch hohe Extinktionsraten die Beobachtung erschwert. Die hier angewendeten Methoden sind stark modellabhängig, deshalb sind erst sehr wenige Kandidaten zweifelsfrei als Braune Zwerge bestätigt. Die bisher abgeleiteten Massenfunktionen weichen zum großen Teil sehr stark von der stellaren Massenfunktion ab, sind jedoch noch mit hohen Fehlern behaftet. Doppelsysteme. Bei Systemen mit Braunen Zwergen bietet sich nach ersten Ergebnissen der Sterndurchmusterungen folgendes Bild: Obwohl die Zahlenwerte der Ergebnisse noch sehr unsicher sind, gilt ein grundlegender Unterschied zwischen den beiden Systemen F-M0-Stern/Brauner Zwerg und L-Zwerg/Brauner Zwerg als sicher. Die Ursachen liegen vermutlich im Entstehungsprozess der Braunen Zwerge, vor allem die Anhänger der „verstoßenen Sternembryos“, d. h. der Entstehung in einem Mehrfachsystem und dem Hinauskatapultieren in einer frühen Entwicklungsphase, betrachten diese Verteilungen als natürliche Konsequenz dieser Theorie. Isolierte Braune Zwerge. Die 2MASS- und DENIS-Durchmusterungen haben bereits Hunderte Brauner Zwerge gefunden, obwohl die Durchmusterungen noch nicht abgeschlossen sind. Erste Analysen deuten darauf hin, dass sich die stellare Massenfunktion sehr weit in den Bereich der Braunen Zwerge fortsetzt. Der Entstehungsprozess der Braunen Zwerge, mit Ausnahme der sehr leichten, scheint also sehr eng mit den Sternentstehungsprozessen zusammenzuhängen, die deshalb vermutlich auch die Population der Braunen Zwerge erklären. Altersbestimmung junger Sternhaufen. Der Lithiumtest liefert für Sternhaufen als „Nebeneffekt“ eine Massengrenze, bis zu der Lithium nachgewiesen werden kann und die genannt wird. Mit dieser Masse kann man das Alter des Haufens bestimmen. Diese Methode funktioniert jedoch nur, wenn der Haufen jünger als etwa 250 Millionen Jahre ist, da die Massengrenze sonst konstant beim 65-Fachen der Jupitermasse liegt. Auf diese Weise hat man 1999 das Alter der Plejaden um mehr als 50 Prozent auf etwa 125 Millionen Jahre nach oben korrigiert. Vergleichbare Korrekturen erfolgten danach für weitere Sternhaufen, u. a. für die α-Persei-Gruppe und IC 2391. Obwohl Braune Zwerge in größeren Entfernungen nur schwierig nachweisbar sein werden und der Lithiumtest nur bei sehr jungen Haufen zur Altersbestimmung angewendet werden kann, ermöglicht diese Methode trotzdem eine sehr gute Kalibrierung anderer Datierungsmethoden. Geschichte. "Shiv Kumar" stellte 1963 erstmals Überlegungen an, dass beim Entstehungsprozess der Sterne auch Objekte entstehen könnten, die aufgrund ihrer niedrigen Masse nicht die zur Wasserstofffusion erforderliche Temperatur erreichen, der Name "Brauner Zwerg" wurde jedoch erst 1975 von Jill Tarter vorgeschlagen. Der Name ist zwar im eigentlichen Sinne nicht richtig, da auch Braune Zwerge rot erscheinen, aber der Begriff Roter Zwerg war schon für die leichtesten Sterne vergeben. In den 1980ern wurden verschiedene Anläufe unternommen, diese hypothetischen Körper zu finden, aber erst 1995 wurde mit Gliese 229 B der erste Braune Zwerg zweifelsfrei nachgewiesen. Entscheidend hierfür waren zum einen deutliche Fortschritte in der Empfindlichkeit der Teleskope, zum anderen wurden auch die theoretischen Modelle verbessert, die eine bessere Unterscheidung von schwach leuchtenden Sternen ermöglichten. Innerhalb weniger Jahre wurden mehrere hundert Braune Zwerge nachgewiesen, die Anzahl weiterer möglicher Kandidaten liegt ebenfalls in dieser Größenordnung. Die beiden sonnennächsten Braunen Zwerge bilden das Doppelsystem Luhman 16 in 6,6 Lichtjahren Entfernung (Stand 2017). Die Untersuchung der Braunen Zwerge steht noch am Anfang, hat aber, vergleichbar der Öffnung neuer Beobachtungsfenster oder der Entdeckung anderer neuer Effekte, bereits heute viel zu unserem Wissen und Verständnis des Universums beigetragen.
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Bad Soden am Taunus
Bad Soden am Taunus (bis 1922 "Soden") ist eine Stadt mit  Einwohnern () im hessischen Main-Taunus-Kreis im Regierungsbezirk Darmstadt. Die Stadt liegt an den Südhängen des Taunus und ist ein Teil der Stadtregion Frankfurt, der größten Agglomeration im Rhein-Main-Gebiet. Als Reichsdorf war es im Mittelalter bekannt für Salz- und Warmquellen, später, bis zu den 1990er-Jahren, als ein international bekannter Kurort. Heute ist Bad Soden ein Ort mit Heilquellenkurbetrieb sowie ein wichtiger Wohn- und Arbeitsraum westlich der Stadt Frankfurt am Main. Wie die benachbarten Städte Königstein im Taunus und Kronberg im Taunus (beide Hochtaunuskreis) ist Bad Soden für seine gehobenen und teuren Wohnlagen mit einer Reihe von Villen bekannt. Zudem wies die Stadt Bad Soden am Taunus im Jahr 2020 einen weit überdurchschnittlichen Kaufkraftindex von 170,3 % des Bundesdurchschnitts auf und nimmt damit einen bundesweiten Spitzenplatz ein. Geografie. Geografische Lage. Bad Soden am Taunus liegt am Südhang des Taunus, 15 Kilometer nordwestlich von Frankfurt am Main und 20 Kilometer nordöstlich von Wiesbaden. Die Gemarkungsfläche umfasst insgesamt 1247 Hektar. Hiervon sind 231 Hektar bewaldet. Auf den Stadtteil Bad Soden (Kernstadt) entfallen 479 Hektar, auf den Stadtteil Neuenhain 454 Hektar und auf den Stadtteil Altenhain 314 Hektar. Die Höhe variiert zwischen 130 und . Der tiefste Punkt befindet sich im Bereich der Straße "Auf der Krautweide", der höchste Punkt im Bereich der Kreuzung B 519/L 3266 an der nördlichen Gemarkungsgrenze. Durch die Stadt fließen zwei Bäche. Der Sulzbach durchfließt das Stadtzentrum sowie den Quellenpark. Beim zweiten handelt es sich um den Waldbach, welcher durch das zum Ortsteil Neuenhain gehörende, "Im Süßen Gründchen" genannte Tal fließt. In Schwalbach mündet er in den gleichnamigen Schwalbach. Nachbargemeinden. Bad Soden grenzt im Norden an die Stadt Königstein im Taunus (Hochtaunuskreis), im Osten an die Stadt Schwalbach am Taunus und die Gemeinde Sulzbach (Taunus), im Süden an die Gemeinde Liederbach am Taunus sowie im Westen an die Stadt Kelkheim (Taunus). Stadtgliederung. Die Stadt Bad Soden besteht seit der Gebietsreform von 1977 aus den drei Stadtteilen Altenhain, Bad Soden und Neuenhain. Die ursprünglich vom Land Hessen zusätzlich geplante Eingemeindung der Gemeinde Sulzbach wurde nicht realisiert. Aufgrund des Widerstandes von Bevölkerung und Politik in Sulzbach und der vergleichsweise guten Finanzsituation der Gemeinde durch das Main-Taunus-Zentrum wurde der Erhalt der Eigenständigkeit durchgesetzt. Im Mittelalter bestand auf nun Altenhainer Gebiet der Weiler Beidenau, der seit dem 16. Jahrhundert eine Wüstung ist. Geschichte. Römerzeit und erste Erwähnung. In Bad Soden findet man an vielen Stellen Quellen darunter viele Warm- und Salzquellen. Dies war auch zu Zeiten der Römer so. Man geht davon aus, dass schon die Römer in den warmen Quellen in Soden badeten und teilweise Salz damit gewannen. Es gibt jedoch keine urkundliche Erwähnung aus dieser Zeit. Bei Bohrungen an den Quellen VI und VII fand man aber Scherben von Tongefäßen, welche vermutlich die Arbeit von Römern war. Des Weiteren befinden sich auf dem Burgberg in Soden auch alte Reste einer Burg, die offenbar teilweise aus alten römischen Backsteinen gebaut wurden. Jedoch sind keine weiteren Beweise erhalten geblieben. Auch für die Zeit der Völkerwanderung wurden keine Nachweise von Soden gefunden. Erstmals wurde das Dorf Soden im Jahr 1190 in einer Urkunde des Klosters Retters erwähnt, welche seine Güter aufzählte. Auf dem heutigen Burgberg befand sich ein Weinberg des Klosters. Zwischen 1222 und 1475 werden mehrere Adlige aus Sulzbach genannt, welche eine Burg in Soden besaßen, die sich auf dem Burgberg befand. Soden als „Reichsdorf“. Im Jahr 1434 erhob Kaiser Sigismund Soden und Sulzbach und die Dörfer Sennfeld und Gochsheim (bei Schweinfurt) zu Reichsdörfern. Als freies Reichsdorf war es bis 1803 keiner unmittelbaren Landesherrschaft unterstellt. 1437 wurden die Sodener Salzquellen in einer kaiserlichen Urkunde erwähnt. 1486 wurde in Soden die erste Salzsode erbaut und 1494 ließ man den Gesundbrunnen mit einer Einfassung versehen. Am 24. Mai 1547 ließ Feldherr Graf Maximilian von Egmond die Dörfer Soden und Sulzbach in Brand setzen, da Frankfurt den Durchmarsch und Lieferungen verweigerte. Kurze Zeit später ließ Albrecht von Brandenburg-Kulmbach ebenfalls die beiden Reichsdörfer niederbrennen, aufgrund einer erfolglosen Belagerung von Frankfurt. Bei einer Untersuchung des Dorfes Soden wurden von Baumeistern vier Salzquellen und eine warme Quelle festgestellt. 1605 bekamen die Gebrüder Gaiß die Erlaubnis der Stadt Frankfurt zur Anlegung einer Saline. Doch für die Erbauung waren viele Verpflichtungen zu erfüllen. Im Vordergrund stand die Deckung des Salzbedarfs der Stadt Frankfurt. Außerdem war ein Verkauf der Saline auch nur durch den Senat möglich. Bis dahin versuchten viele den Bau einer Saline. Doch ohne Einigung mit dem Magistrat der Stadt Frankfurt konnte auch nichts gebaut werden. Zunächst waren die Sodener Bürger noch ruhig. Doch nach und nach kam eine Unzufriedenheit auf, da sie ihre Eigentumsrechte verletzt sahen. Im Dezember 1612 kam es zu einem Aufruhr. Die Bevölkerung kappte die Leitungen nach Frankfurt. Nachdem auch das Militär den Aufruhr nicht niederschlagen konnte, einigte man sich mit der Stadt Frankfurt darauf, die Salzzufuhr zu senken und der Sodener Saline mehr Freiraum zu gewähren. Während des Dreißigjährigen Krieges (1618–1648) wurde auch Soden ein Opfer von Brandschatzungen und Plünderungen. Dutzende Häuser, meist aus Holz, wurden niedergebrannt. Die Kriegsvölker durchquerten das Dorf und plünderten die Bevölkerung aus. 1680 erwarb David Malapert die Saline. Er errichtete „in der Sültz“ eine neue Saline. 1715 wurde der Grundstein für die evangelische Kirche in der Altstadt gelegt. Ein knappes Jahr später wurde diese feierlich eröffnet. 1770 wurde der erste Gasthof, der spätere Nassauer Hof, erbaut. 1792 besetzte der französische General Custin den Raum Mainz und ließ Soden und die angrenzenden Städte ausrauben und niederbrennen. 19. Jahrhundert und der Beginn des Kurbetriebs. Ab 1806 gehörte Soden zum Herzogtum Nassau. Die Chaussee von Höchst nach Königstein (die heutige Königsteiner Straße) entstand 1817, 1847 eröffnete die Sodener Bahn von Soden nach Höchst. Soden zählte im Jahr 1820 500 Seelen. 1828 wurde das erste Haus an der Königsteiner Straße in Bad Soden gebaut, der Gasthof „Zum Adler“. 1817 und 1847 kam es in Raum Bad Soden zu Missernten, aufgrund von schlechter Witterung. Dadurch stiegen die Preise für Brot und andere Grundnahrungsmittel stark an. Doch Herzogin Pauline von Nassau half der Sodener Bevölkerung. Da sie im Jahr 1847 in das Paulinenschlösschen zog, ließ sie elf Malter (circa 1100 kg) Kartoffeln an die Bürger verteilen. 1840 wurde der neue Sodener Friedhof angelegt, welcher sich an der heutigen Niederhofheimer Straße befindet. Ab 1841 wurde der Arzt Otto Thilenius nach Soden berufen und fungierte hier als Brunnenarzt. Seit 1701 gibt es in Soden Kurbetrieb. Das erste Kur- und Badehaus wurde 1722 erbaut. Zunächst war dieser Bau bekannt als das „Bender’sche Haus“. 1813 wurde es in „Frankfurter Hof“ umbenannt und ist heute als das „Haus Bockenheimer“ in das Hundertwasserhaus eingegliedert und befindet sich am heutigen Franzensbader Platz. Weitere prägende Kurbauten entstanden. 1822 wurde der alte Kurpark im Stil eines englischen Gartens angelegt. 1849 wurde das Neue Kurhaus im schweizerischen Stil am Alten Kurpark erbaut und eröffnet. In der Mitte des 19. Jahrhunderts war Soden bereits ein internationaler Kurort mit prominenten Gästen aus ganz Europa. Berühmte Besucher und Kurgäste im 19. Jahrhundert waren zum Beispiel Herzogin Pauline von Nassau (1844), August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1844), Felix Mendelssohn Bartholdy (1844/1845), Victoire von Sachsen-Coburg-Saalfeld – Mutter der britischen Königin Victoria (1847), Otto von Bismarck und Johanna von Bismarck (1856), Friedrich Stoltze (1860), Richard Wagner (1860), Kaiser Wilhelm I. (1861). Während 1839 nur knapp 360 Kurgäste die Kurstadt besuchten, waren es 1865 bereits 2840. Um diese große Anzahl von Gästen unterbringen zu können, entstanden Mitte des 19. Jahrhunderts zahlreiche Kurvillen und Kurhotels. Die größten waren zunächst einmal das Kurhaus am Alten Kurpark (1971 abgerissen), der „Europäischer Hof“ in der Königsteiner Straße (1965 abgerissen), das Hotel „Colloseus“ (1945 zerstört), der „Frankfurter Hof“ (heute „Haus Bockenheimer“) und der „Nassauische Hof“ (1900 abgerissen). Des Weiteren gab es noch jede Menge kleinere Villen wie die in der heutigen Alleestraße („Villa Stolzenfels“, „Villa Rheinfels“, „Villa Sanssouci“ und „Villa Westfalia“) oder den Villen an der Königsteiner Straße („Hotel Adler“, „Haus Quisisana“, „Parkhotel“ oder „Haus Haßler“). 1870 entstand in Bad Soden eine Gasfabrik, welche für die Straßenbeleuchtung erbaut wurde. Bereits 1897 aber wurde die Straßenbeleuchtung von Gas auf Elektrizität umgestellt. Damit war Bad Soden die erste Gemeinde in Nassau mit elektrischer Straßenbeleuchtung. Als 1870 der Deutsch-Französische Krieg begann, wurden in Bad Soden 29 Männer einberufen, wovon aber nur einer gefallen ist. Während des Krieges fanden im 14-Tage-Takt Betgottesdienste statt. 1871 wurde das Badehaus eingeweiht und es entstand auch die erste selbstständige katholische Pfarrei. Nachdem der Krieg 1871 gewonnen war, fand am 4. März ein Festzug mit anschließendem Feuer auf dem Dachberg statt. In den weiteren Jahren wurden die Badeanstalten weiter ausgebaut, wobei ein Inhalatorium im alten „Krug Haus“ im Alten Kurpark angelegt wurde. Später wurde in der heutigen Parkstraße das heutige „Medico Palais“ erbaut. Weiters wurde der Brunnenwasserversand ausgebaut und die ersten Sodener Pastillen wurden hergestellt, welche bei Husten und Heiserkeit halfen. 1885 wurde im Eichwald der „Wilhelmsplatz“ eingeweiht, wo sich die Bismarck- und die Friedrichs-Eiche befanden. 1887 wurde die Trinkhalle am Quellenpark eingeweiht. 20. Jahrhundert. Bei der Volkszählung 1900 wurden in Bad Soden 1.768 Einwohner gezählt. Weiters wurde im gleichen Jahr der Burgbergturm auf dem Burgberg eröffnet. 1909 erwarb die Stadt das Paulinenschlösschen und richtete hier das Rathaus ein. 1911 wurde der Wasserturm auf der Wilhelmshöhe eröffnet. Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs ging die Zahl der Kurgäste zurück. Hotels und Gaststätten waren zeitweise leer. Die ersten französischen Kriegsgefangenen halfen damals in Neuenhain in verschiedenen landwirtschaftlichen Betrieben aus. Während des Rückmarsches der deutschen Truppen durchquerten sie auch teilweise Bad Soden. Der gesamte Alte Kurpark war angefüllt mit alten Karren, verletzten Soldaten und Pferden. Auch die Königsteiner Straße wurde zum Abstellen von Artilleriegeschossen und anderen militärischen Waffen genutzt. Im Dezember 1918 besetzten die Franzosen einen rechtsrheinischen Brückenkopf mit 30 Kilometer Radius um Mainz im Rahmen der Alliierten Rheinlandbesetzung. Dazu zählten auch Bad Soden, Neuenhain und Altenhain. Zu dieser Zeit wurde die Königsteiner Straße öfters für Paraden genutzt, um die Stärke der Besatzer zu demonstrieren. Weiters mussten alle Personen über zwölf Jahre einen mehrsprachigen Personalausweis mit sich führen, und der gesamte Schriftverkehr musste auf Deutsch und Französisch abgefasst werden. Seit 1922 darf sich Soden "Bad" nennen. 1926 übernahmen die Briten dieses Gebiet. 1927 wurde das Freibad im Altenhainer Tal eröffnet. Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde die jüdische Bevölkerung von Bad Soden drangsaliert. 1935 wurde das Erholungsheim „Aspira“, welches 1911 vom jüdischen Arzt Kallner erbaut worden war, beschlagnahmt. Daraufhin zog die Deutsche Arbeitsfront (DAF) in das Gebäude ein. Am 10. November 1938 wurde die israelitische Kuranstalt in der Talstraße angezündet und kurz darauf abgerissen. Während des Zweiten Weltkrieges kam es auch in Bad Soden zu gelegentlichen Angriffen. Der erste Bombenangriff traf die Stadt in der Nacht vom 7. zum 8. Juli 1941. Dabei wurden das Areal am Schwimmbad sowie die Gärtnerei Jung schwer beschädigt. In der Nacht vom 24. zum 25. August 1942 wurde das Gebiet am alten Kurpark und Kronbergstraße bombardiert. Dabei wurde das Frankfurter Kinderheim in der Kronbergerstraße zerstört, wobei mehrere Kinder ums Leben kamen. Ebenfalls wurde das Badehaus getroffen und im ganzen Umkreis zersprangen die Fenster, z. B. in der katholischen Kirche oder im Kurhaus. Die größte Zerstörung richtete ein Angriff amerikanischer Kampfflugzeuge in der Nacht vom 2. auf den 3. Februar 1945 an. Ein großer Teil der Gebäude an der Königsteiner Straße, wie das Hotel „Colloseus“ (heutiger Standort des Rathauses) und das ehemalige Parkinhalatorium wurden zerstört. Auch das Badehaus im Alten Kurpark wurde teilweise vernichtet. Ebenfalls wurde die alte kath. Kirche am Rande des alten Kurparks schwer in Mitleidenschaft gezogen. Nach dem Krieg wurde der "Gemeinde Bad Soden/Taunus" mit Kabinettsbeschluss vom 21. Mai 1947 durch das Hessische Staatsministerium die Bezeichnung "Stadt" verliehen. 1955 begann der Bau der neuen katholischen Kirche in der Nähe des Bahnhofs. Gleichzeitig wurde der Neue Kurpark angelegt und 1961 für die Öffentlichkeit freigegeben. Ab den 1960er-Jahren entwickelte sich die Stadt zum bevorzugten Wohnort im Westen Frankfurts. 1970 wurde das Kreiskrankenhaus eröffnet. Seit dem 6. November 1972 wird der Sodener Bahnhof von der Limesbahn angefahren, womit die Stadt einen weiteren Bahnanschluss nach Frankfurt am Main bekam (zuvor nur nach Höchst). Seit 1978 verkehrt diese als S-Bahn (S3) direkt nach Frankfurt (zunächst nur bis zur Hauptwache, ab 1997 bis Darmstadt Hauptbahnhof). 1991 begann der Bau des Hundertwasserhauses, welches kurz darauf eröffnet wurde. Es befindet sich am heutigen Quellenpark. Bis 1997 wurde die gesamte Altstadt saniert, wobei die Straßen neu gepflastert und die alten Wasserleitungen ersetzt wurden. 21. Jahrhundert. 2001 wurde die Kur-GmbH aufgelöst und kurze Zeit später das Thermalbad geschlossen. Damit endete die fast 200-jährige Kurgeschichte der Stadt Bad Soden. 2004 wurde der ökologische Lehrpark „Rohrwiese“ angelegt. Hier können das Ökosystem „Teich“ und Bienennester erkundet werden. In den Jahren 2006/2007 wurde das Freibad renoviert und in „FreiBadSoden“ umbenannt. In der Nacht vom 10. zum 11. Juni 2007 kam es zu einem großen Unwetter in Bad Soden und Umkreis. Schätzungen nach gingen bis zu 60 Liter pro Quadratmeter auf die Erde nieder. Wassermassen wälzten sich von der Königsteiner Straße in die Innenstadt hinunter. Dabei stand ein großer Teil der Altstadt knöcheltief unter Wasser. 130 Keller und Tiefgaragen liefen voll. Bis Ende 2011 wurde die Salinenstraße umgestaltet, wobei die Parkplatzgestaltung geändert wurde sowie eine Reihe neuer Häuser entstand. Am Bahnhof wurde 2011 die neue Zentrale der Messer Group eingeweiht. Derzeit stehen in Bad Soden zwei städtische Erneuerungen an. Zunächst soll das Bahnhofsgelände renoviert und ein neues Parkhaus gebaut werden. Des Weiteren war die Planung eines neuen Rathauses im Gespräch. Inzwischen ist geplant, dass das Rathaus 2025 in das Medico-Palais umziehen soll. Hessische Gebietsreform. Im Zuge der Gebietsreform in Hessen wurde am 1. August 1972 ein Gebiet mit damals fast 200 Einwohnern an die Nachbarstadt Königstein im Taunus abgetreten. Am 1. Januar 1977 schloss sich die Stadt Bad Soden (Taunus) mit den bis dahin selbstständigen Gemeinden und heutigen Stadtteilen Neuenhain und Altenhain zur neuen Stadt "Bad Soden am Taunus" zusammen. Ortsbezirke nach der Hessischen Gemeindeordnung wurden nicht errichtet. Staats- und Verwaltungsgeschichte im Überblick. Die folgende Liste zeigt die Staaten, in denen Bad Soden lag, bzw. die Verwaltungseinheiten, denen es unterstand: Bevölkerung. Einwohnerstruktur 2011. Nach den Erhebungen des Zensus 2011 lebten am Stichtag dem 9. Mai 2011 in Bad Soden am Taunus 21.061 Einwohner. Nach dem Lebensalter waren 3570 Einwohner unter 18 Jahren, 8586 zwischen 18 und 49, 3864 zwischen 50 und 64 und 5040 Einwohner waren älter. Unter den Einwohnern waren 2749 (13,1 Prozent) Ausländer, von denen 1241 aus dem EU-Ausland, 756 aus anderen Europäischen Ländern und 754 aus anderen Staaten kamen. Von den deutschen Einwohnern hatten 13,2 Prozent einen Migrationshintergrund. Bis zum Jahr 2020 erhöhte sich die Ausländerquote auf 20,3 Prozent. Die Einwohner lebten in 10.458 Haushalten. Davon waren 4356 Singlehaushalte, 2964 Paare ohne Kinder und 2421 Paare mit Kindern, sowie 516 Alleinerziehende und 204 Wohngemeinschaften. In 2742 Haushalten lebten ausschließlich Senioren und in 6858 Haushaltungen leben keine Senioren. Einwohnerentwicklung. 1 nach der Eingemeindung von Neuenhain und Altenhain Religion. Evangelische Kirchengemeinde. Die evangelische Kirchengemeinde besteht aus ca. 3000 Gemeindemitgliedern (Stand Mitte 2022). Die Gemeinde wird von Pfarrer Pfarrer Andreas Heidrich (seit April 2002) und Pfarrerin Marlene Hering (seit September 2022) betreut. Der Kirchenvorstand besteht aus 13 Mitgliedern, die Vorsitzende ist Uta Bormann-Kuhles. Die Gottesdienste finden i. d. R. sonntags um 10.00 Uhr in der Ev. Kirche, Zum Quellenpark 26 statt. Jüdische Gemeinde. Bad Soden besaß bis in die Mitte der 1930er-Jahre eine größere jüdische Gemeinde. Diese Gemeinde besaß eine Synagoge, eine Religionsschule und ab 1873 einen jüdischen Friedhof an der Niederhofheimer Straße. Die Synagoge wurde 1846 eingeweiht und befand sich in der heutigen Enggasse. 1938 wurde sie in der Reichspogromnacht im Inneren zerstört. Später wurde das Gebäude als Lagerhalle genutzt und 1981 im Zuge der Altstadtrenovierung abgerissen. Heute steht hier eine Seniorenwohnanlage. Katholische Kirchengemeinde. Die katholischen Kirchen sind geweiht auf die Namen St. Katharina (Bad Soden), "Maria Hilf" (Neuenhain), "Maria Geburt" (Altenhain). Die Gottesdienste finden in Bad Soden jeden zweiten Samstag um 18.00 Uhr sowie sonntags um 11:00 Uhr statt. Die Kirche St. Katharina ist ein Bau aus den 1950er-Jahren und wurde persönlich vom Geheimrat Max Baginski gestiftet. Neuapostolische Gemeinde. Die erste neuapostolische Kirche in Bad Soden entstand im Jahr 1970 in der Joseph-Haydn-Straße. 30 Jahre später wurde ein Neubau auf dem gleichen Gelände erbaut. Die Gemeinde beherbergt heute genau 130 Mitglieder. Zurzeit ist Priester Ohland der Vorsteher der Gemeinde. Politik. Stadtverordnetenversammlung. Die Kommunalwahl am 14. März 2021 lieferte folgendes Ergebnis, in Vergleich gesetzt zu früheren Kommunalwahlen: Bürgermeister. Bürgermeister ab 1806: Hoheitssymbole. Die Stadt Bad Soden am Taunus führt ein Dienstsiegel, ein Wappen und eine Flagge. Ferner verwendet die Stadt ein Logo. Flagge. Die Flagge wurde am 26. April 1954 durch das Hessische Innenministerium genehmigt. Flaggenbeschreibung: „Auf der Trennungslinie des zweifeldrigen blau-goldenen Flaggentuches das Stadtwappen: in Blau einen roten, golden bereiften Reichsapfel, bekrönt mit einem goldenen Kleeblattkreuz.“ Städtepartnerschaften. Die Stadt Bad Soden am Taunus unterhält Städtepartnerschaften mit folgenden Orten: Sehenswürdigkeiten. Bauwerke. Badehaus. Das "Badehaus" ist ein ehemaliges Kurgebäude im Herzen des Alten Kurparks. Es befindet sich auf dem ehemaligen Gelände der Saline. Das Gebäude wurde 1870/71 erbaut und immer weiter um- bzw. ausgebaut. Seit 1997 befinden sich hier das Stadtmuseum sowie die Stadtbibliothek. Bahnhofsgebäude. Das "Bad Sodener Bahnhofsgebäude" wurde 1847 erbaut. Seitdem wurde es mehrmals erweitert, wobei 1914 der Uhrturm und ein Anbau hinzugefügt wurden. Seitdem hat sich das Gebäude kaum verändert. Es befindet sich in der Stadtmitte, in der Nähe der Königsteiner Straße. Heute halten hier zwei Züge, die S-Bahn-Linie S3 (nach Darmstadt über Frankfurt) und die Regionalbahnlinie RB 11 (nach Frankfurt-Höchst über Sulzbach). Burgbergturm. Der 10 Meter hohe "Burgbergturm" ist ein Aussichtsturm, welcher 1900 vom Taunusclub errichtet wurde. Er befindet sich oberhalb des alten Kurparks. Evangelische Kirche. Die "Evangelische Kirche" befindet sich in der Bad Sodener Altstadt direkt neben dem Quellenpark. Auf dem Platz der heutigen Kirche entstand 1482/83 ein erster kirchlicher Bau in Form einer Kapelle. Die Sakristei ist der älteste Teil des aktuellen Kirchenbaus und stammt aus dem Jahre 1510. Das restliche Kirchengebäude ohne Glockenturm wurde 1715 erbaut. Der Glockenturm wurde 1878 angebaut. 1995/96 wurde sie aufwendig saniert, wobei man auf alte barocke Tafelbilder aus den Jahren um 1720 stieß. Ende 2011, Anfang 2012 wurde der Dachstuhl umfangreich saniert. Haus Reiss. Das "Haus Reiss" ist eine Villa aus dem 19. Jahrhundert. Der Bau des Gebäudes begann 1839 im Auftrag vom Frankfurter Kaufmann Enoch Reiss. Kurze Zeit lebte auch Pauline von Nassau in dem Haus. 1941 wurde das Gebäude bei einem Luftangriff schwer zerstört, konnte aber nach kurzer Zeit wieder aufgebaut werden. Das Haus Reiss befindet sich in der Sodener Altstadt "Zum Quellenpark 8". Hundertwasserhaus. Das "Hundertwasserhaus" wurde von dem im Februar 2000 gestorbenen Friedensreich Hundertwasser entworfen. Der Wiener Künstler ist weltweit durch farbenfrohe Malerei bekannt. Seit 1983 gestaltete er auch Häuser architektonisch, die bekanntesten sind das „Hundertwasser-Wohnhaus“ und das „Kunst-Haus-Wien“ in Wien. Das Wohnhaus, dessen Grundstein im November 1990 gelegt wurde, bezieht das erste Bad Sodener Kurhaus, das Haus Bockenheimer, aus dem Jahre 1722 mit ein. 17 völlig unterschiedliche Wohnungen von 120 bis 230 Quadratmeter befinden sich in dem Haus, das einen neunstöckigen, 30 Meter hohen Turm besitzt. Die Räume sind großzügig gefasst, gehen oftmals ineinander über und sind mit Parkettböden ausgestattet, die teilweise von Fliesen unterbrochen werden. Zusätzlich stehen noch 650 Quadratmeter Nutzfläche für Gewerberäume zur Verfügung. Medico-Palais. Das "Medico-Palais" war einst das größte Inhalatorium Europas. Das Gebäude wurde 1912 auf Initiative der damaligen Ärzte in der Parkstraße gebaut. Heute befindet sich hier immer noch ein Inhalatorium sowie mehrere Arztpraxen. Paulinenschlösschen. Das "Paulinenschlösschen" ist heute ein denkmalgeschütztes Gebäude in der Innenstadt von Bad Soden und beherbergt das Bürgerbüro. Das Gebäude selbst entstand 1847 auf Wunsch von Pauline von Nassau, da sie Bad Soden zu ihrer Sommerresidenz wählte. Nach ihrem Tod wurde das Paulinenschlösschen als Hotel genutzt und ab 1909 als Rathaus der Stadt Bad Soden. Zum Gesamtkomplex gehören auch die Krug’sche Villa und die Parkvilla. St. Katharina-Kirche. Die "St. Katharina-Kirche" ist eine katholische Kirche im Neuen Kurpark. Sie wurde 1957 erbaut und wurde persönlich vom Geheimrat Max Baginski gesponsert. Am 1. Januar 2012 haben sich die Pfarrgemeinden von Bad Soden, Neuenhain, Altenhain und Sulzbach zur „St. Marien und St. Katharina Pfarrei“ zusammengeschlossen. Mit 8394 Katholiken bildet diese Pfarrei die größte des Main-Taunus-Kreises. Wasserturm. Der Bad Sodener "Wasserturm" ist heute ein denkmalgeschütztes Gebäudes am Ortsausgang an der Niederhofheimer Straße. Der Turm wurde 1911 für die Sinai-Gärtnerei erbaut. Im Jahr 2000 wurde er von Grund auf saniert und wird heute als Aussichtsturm und als Ausstellungsraum für naturkundliche Themen verwendet. "Für weitere Bauten siehe: Liste der Kulturdenkmäler in Bad Soden am Taunus" Parkanlagen. Alter Kurpark. Der "Alte Kurpark" befindet sich in der Innenstadt, direkt an der Königsteiner Straße. Er wurde ab 1823 im Stil eines englischen Landschaftsparks angelegt. Hier befinden sich zahlreiche exotische Bäume sowie mehrere Brunnen, wie der Schwefelbrunnen oder der „Neue Sprudel“. Hier befand sich ebenfalls das 1971 abgerissene Kurhaus, an dessen Stelle sich jetzt das „Ramada Hotel“ befindet. Ebenfalls befindet sich im Alten Kurpark das Badehaus, welches früher zu Kurzeiten erbaut wurde. Heute befinden sich hier das Stadtarchiv, die Stadtbibliothek und das Stadtmuseum. Des Weiteren befinden sich hier das Paulinenschlösschen sowie die Konzertmuschel, wo regelmäßig Konzerte und Veranstaltungen (wie z. B. Direktübertragung von Veranstaltungen oder Gottesdienste) angeboten werden. Außerdem befindet sich hier der Schwefelbrunnen, der Wilhelmsbrunnen (seit 2001 außer Betrieb) und der „Neue Sprudel“. Neuer Kurpark. Der "Neue Kurpark" wurde 1961 angelegt hat eine Fläche von 43.884 m². Er liegt zwischen dem Eichwald und dem Innenstadtbereich. Zu finden sind hier unter anderem die katholische Kirche St. Katharina und die Kindergartenstätte "St. Katharina". Jedoch sind hier keine Kur- und Quellanlagen aufzufinden. Am Rande der Parkanlage befinden sich zahlreiche Gründerzeitvillen sowie die ehemaligen Kurhotels. Quellenpark. Der "Quellenpark" befindet sich in der Altstadt der Stadt Bad Soden. Er wurde 1872 angelegt, nachdem die Stadt die notwendigen Grundstücke erworben hatte. Das Kernstück des Parks bildet der Solbrunnen, welcher früher zur Salzgewinnung genutzt wurde. Heute ist er als Kur- und Trinkbrunnen in Benutzung. Die Statue Sodenia ist heute ein Wahrzeichen der Stadt Bad Soden. Durch den Quellenpark fließt der Sulzbach. Direkt am Park befindet sich das „Haus Bockenheimer“. Dieser Bau war das erste Badehaus der Stadt. Es wurde 1813 in „Frankfurter Hof“ umbenannt. Auf der anderen Seite befindet sich der Sauerbrunnen. Wilhelmspark. Der "Wilhelmspark" wurde 1911 im Auftrag der Gemeinde von den Gartenarchitekten Gebrüder Siesmayer geschaffen. Der "Franzensbader Platz" und die Straße "Zum Quellenpark" trennen ihn vom Quellenpark. Im Wilhelmspark befinden sich drei Brunnen, darunter der Winklerbrunnen, Glockenbrunnen, Champagnerbrunnen. Bis 1924 hieß er „Kaiser-Wilhelms-Park“. Seit 1987/88 heißt er wieder „Wilhelmspark“. Kultur. Stadtgalerie. Ganzjährig interessante und sehenswerte Ausstellungen, meist im monatlichen Wechsel, zeigen seit 2000 Arbeiten von regional- und überregional bekannten Künstlern mit Malerei, Zeichnungen, Grafiken, Skulpturen in der Stadtgalerie. Das im Alten Kurpark gelegene Badehaus beherbergt hierzu im ersten Obergeschoss die Stadtgalerie mit großzügigen, lichtdurchfluteten Räumlichkeit. Stadtmuseum. Das Stadtmuseum befindet sich seit 1998 im Badehaus im Alten Kurpark. Hier sind verschiedene Funden aus frühgeschichtlicher Zeit ausgestellt sowie die Geschichte der Stadtteile Neuenhain und Altenhain. Ebenso ist der ehemaligen Saline in Bad Soden eine Ausstellung gewidmet, die bis 1812 ein großer wirtschaftlicher Faktor darstellte. Weitere Sonderausstellungen finden im Obergeschoss des Gebäudes statt. Regelmäßige Veranstaltungen. Sodener Weintage. Zehn Tage lang findet dieses Event im alten Kurpark statt und beginnt am Freitag vor Pfingsten. Weinbauern aus dem Rheingau, aus Franken und von der Mosel bieten ihre verschiedenen Weine an. Sommernachtsfest. Das Sommernachtsfest bildet einen kulturellen Höhepunkt in Bad Soden. Es findet jeweils am dritten Samstag im August statt. Das Fest erstreckt sich vom alten Kurpark hinüber in die Altstadt: Adlerstraße, Königsteiner Straße und „Zum Quellenpark“. Weihnachtsmarkt. Der Bad Sodener Weihnachtsmarkt findet jährlich am zweiten Adventswochenende statt. Genau wie die vorher genannten Feste, findet auch der Weihnachtsmarkt im alten Kurpark statt. Er bietet jede Menge Glühweinstände sowie eine Weihnachtskrippe und einen Streichelzoo. Bildung. Bad Soden verfügt über vier Grundschulen Feuerwehr. Die Freiwillige Feuerwehr der Stadt Bad Soden ist in drei Feuerwehren untergliedert und unterhält in jedem Stadtteil einen Standort. Wirtschaft. In Bad Soden am Taunus befinden sich zehn staatlich anerkannte Heilquellen. Mit einem Kaufkraftindex von 170,3 des Bundesdurchschnitts verfügte die Stadt Bad Soden am Taunus im Jahr 2020 über das höchste Pro-Kopf-Einkommen im Main-Taunus-Kreis. Damit belegt Bad Soden am Taunus heute einen bundesweiten Spitzenplatz. In Bad Soden hatten die Kartographischen Verlage Haupka und zeitweise auch Ravensteins Geographische Verlagsanstalt (unter dem Namen "CartoTravel") ihren Sitz, die 2007 von MairDumont (Falk-Pläne) übernommen und liquidiert wurden. Das Kreiskrankenhaus in Bad Soden ist Teil der Kliniken des Main-Taunus-Kreises. Seit September 2011 hat die Messer Group ihren Hauptsitz in der Innenstadt direkt zwischen Alten und Neuen Kurpark. Die Messer Group gehört zu den größten Industriegasspezialisten weltweit. Verkehr. Der öffentliche Nahverkehr in Bad Soden wird im Auftrag und zu den Tarifen des Rhein-Main-Verkehrsverbundes (RMV) betrieben. Vom Kopfbahnhof Bad Soden bestehen mit der Regionalbahnlinie RB 11 Verbindungen nach Süden über Sulzbach und Sossenheim nach Frankfurt-Höchst sowie mit der S-Bahn nach Osten über Schwalbach, Eschborn (Limesbahn, Kronberger Bahn) und Frankfurt Hauptbahnhof nach Langen und zum Hauptbahnhof Darmstadt. Mit dem Bus bestehen Verbindungen nach Frankfurt-Höchst (Linie 253), Königstein (Linien 253, 803 und 811), zum Main-Taunus-Zentrum (Linie 253 und 803), nach Eschborn (Linien 810, 812 und 813) und Hofheim am Taunus (Linie 812). Des Weiteren bietet die Stadt den Stadtbus 828 an, welcher durch die ganzen Wohnviertel vom Bahnhof aus fährt. Südlich des Ortes verläuft die A 66, westlich die vierspurig ausgebaute B 8, über die L 3014 in Ost-West-Richtung und die L 3266 in Nord-Süd-Richtung ist die Ortsmitte zu erreichen. Der nächste Flughafen ist der Flughafen Frankfurt Main. Persönlichkeiten. Ehrenbürger. ¹ Die Zahlen in der Klammer geben jeweils das Jahr des Erhalts des Ehrenbriefs wieder.
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https://de.wikipedia.org/wiki?curid=670
Blauer Riese
Ein Blauer Riese ist ein Riesenstern der Spektralklasse O oder B mit der 10- bis 50-fachen Sonnenmasse. Die Leuchtkraft Blauer Riesen ist höher als die der Hauptreihensterne. Charakteristika. Während ein Roter Riese seine Ausdehnungsgröße erst im Endstadium seiner Sternentwicklung erreicht und sich dabei um ein Vielfaches ausdehnt, erreicht ein Blauer Riese diese Größe bereits im normalen Entwicklungsstadium. Die hohe Masse führt zu einer hohen Dichte, hohem Druck und hoher Temperatur der Materie im Sterninneren. Daraus resultiert eine im Vergleich zu masseärmeren Sternen hohe Kernreaktionsrate. Die daraus resultierende Energiefreisetzung bewirkt eine Oberflächentemperatur, die mit bis zu 30.000 bis 40.000 K deutlich über der der Sonne mit etwa 5750 K liegt. Durch diese hohe Temperatur liegt das Emissionsmaximum (nach dem Wienschen Gesetz für einen Schwarzen Körper) im ultravioletten Teil des Lichtspektrums, was den blauen Farbeindruck dieser Sterne und somit ihren Namen erklärt. Die absolute visuelle Helligkeit "M"V erreicht −9,5 und liegt in derselben Größenordnung wie die integrale Helligkeit von Kugelsternhaufen und einigen Zwerggalaxien. Durch eine Windimpuls-Leuchtkraft-Relation kann die absolute Helligkeit mit einer Genauigkeit von 25 % bestimmt werden. Diese Sterne sind damit hellere Entfernungsindikatoren als die klassischen Cepheiden durch die Perioden-Leuchtkraft-Beziehung. Im Gegensatz zu den zahlreich vorhandenen masseärmeren Sternen, die eine Lebensdauer von mehreren Milliarden Jahren haben, so z. B. die Sonne mit etwa 10 Milliarden Jahren, durchlaufen Blaue Riesen ihre Wasserstoffbrennphase aufgrund der hohen Reaktionsrate in nur einigen zehn Millionen Jahren. Danach blähen sie sich zum Roten Überriesen auf und enden in einer Typ-II-Supernova. Die Entwicklung Blauer Riesen vom Spektraltyp O ist stark beeinflusst von der Anwesenheit eines Begleiters in einem Doppelsternsystem. Bei 70 % der O-Sterne wurden Begleiter mit Umlaufdauern von weniger als 1500 Tagen gefunden. Diese Doppelsterne tauschen während oder kurz nach der Hauptreihenphase Materie und Drehimpuls aus. 20 bis 30 % aller massiven Sterne in Doppelsternen werden innerhalb einiger Millionen Jahre verschmelzen. 50 % aller O-Sterne verlieren entweder ihre wasserstoffreiche Atmosphäre und entwickeln sich zum Beispiel in Wolf-Rayet-Sterne oder gewinnen von ihrem Begleiter substanzielle Mengen an Materie. Röntgenstrahlung und Sternwind. Röntgenstrahlung wird häufig von Blauen Riesen und Überriesen emittiert und steht in Verbindung mit den Sternwinden dieser heißen Sterne. Die Sternwinde werden radiativ getrieben und sind eine Folge des Strahlungsdrucks. Der Wechselwirkungsquerschnitt ist für schwere Elemente meist höher und daher werden diese Elemente stärker beschleunigt. Durch Stöße in dem Sternwind wird die kinetische Energie gleichmäßig verteilt, wodurch Geschwindigkeiten von einigen tausend Kilometern pro Sekunde erreicht werden. Die Winddichte ist dabei abhängig von der chemischen Zusammensetzung der Atmosphäre des Blauen Riesen und kann bei Wolf-Rayet-Sternen bis zu 10−3 Sonnenmassen pro Jahr erreichen. Die Röntgenstrahlung entsteht als Bremsstrahlung bei einer Interaktion des Sternwinds mit der interstellaren Materie, Stoßwellen im Sternwind nahe der Sternoberfläche oder bei der Kollision von Sternwinden in Doppelsternsystemen. Blaue Riesen und Überriesen sind Komponenten in Röntgendoppelsternen hoher Masse. Der Sternwind des Blauen Riesen wird dabei von einem Schwarzen Loch, einem Neutronenstern oder recht selten von einem Weißen Zwerg akkretiert. Die Materie wird beim Fall durch das Gravitationsfeld des kompakten Sterns beschleunigt und erzeugt vor der Oberfläche eine Stoßwelle, in der die Materie abrupt abgebremst wird. Im Gegensatz zu der Röntgenstrahlung aus reiner Windwechselwirkung, die weich ist, ist die Röntgenstrahlung aus Röntgendoppelsternen deutlich energetischer (härter). Neben der Bremsstrahlung kommt es auch zu Bursts, wenn die wasserstoff- oder heliumreiche Materie auf der Oberfläche des kompakten Sterns eine Dichte erreicht, bei der eine ungebremste thermonukleare Reaktion einsetzt. Nicht auf Sternwinde zurückzuführen sind die Röntgendoppelsterne, die aus einem Be-Stern und einem kompakten Begleiter bestehen. Aufgrund der hohen Rotationsgeschwindigkeit und eventuell Pulsationen bildet sich in der Rotationsebene um den Be-Stern eine Scheibe aus von der Oberfläche abgeflossenem Gas. Wenn der kompakte Stern durch die Scheibe läuft, sammelt er die Materie auf und die Röntgenhelligkeit schwankt mit der Umlaufdauer des Doppelsternsystems. Veränderlichkeit. Blaue Riesen zeigen häufig veränderliche Helligkeit als eruptive Veränderliche und/oder pulsierende Veränderliche. Bei pulsierenden Veränderlichen ist die Atmosphäre instabil gegen Schwingungen aufgrund des Kappa-Mechanismus. Zu ihnen gehören die Während alle diese Sternklassen innerhalb der Instabilitätsstreifen liegen, scheint es eine kleine Gruppe von frühen B-Überriesen zu geben, die knapp außerhalb der bekannten Instabilitätsstreifen zu finden sind und deren Linienprofile mit Perioden von weniger als zwei Stunden veränderlich sind. Dies wird meist als eine nicht-radiale Schwingung interpretiert, da diese Perioden für eine Rotationsmodulation zu kurz sind. Zu den eruptiven Veränderlichen mit unregelmäßigem Lichtwechsel unter den Blauen Riesen und Überriesen gehören die Supernova und Gamma Ray Burst. Entgegen ursprünglichen Erwartungen explodieren Blaue Riesen auch direkt als Kernkollaps-Supernova. Das bekannteste Beispiel ist die Supernova 1987A, deren Vorläuferstern als B-Überriese mit der Bezeichnung "Sanduleak −69° 202" katalogisiert worden war und seit der Explosion nicht mehr nachweisbar ist. Neben einem Teil der Supernova vom Typ II, deren Atmosphäre zum Zeitpunkt der Supernovaexplosion wasserstoffreich ist, haben auch die Supernovae vom Typ Ib und Ic Blaue Überriesen als Vorläufer. Diese haben durch starke Sternwinde große Teile ihrer Atmosphäre bereits an das interstellare Medium verloren, daher ist in den Spektren dieser Supernovae kein Wasserstoff mehr nachzuweisen. Ein Teil der Gamma Ray Bursts entsteht in Blauen Überriesen bei einer Supernovaexplosion. Gamma Ray Bursts sind extrem leuchtstarke Energiefreisetzungen überwiegend im Bereich der Gammastrahlung mit einer Dauer von wenigen Sekunden bis Minuten in kosmologischen Entfernungen. Sie werden unterteilt in kurze, harte und lange, weiche Gamma Ray Bursts, wobei bei einem Teil der Letzteren ein Supernovaausbruch vom Typ Ic einige Tage später am Ort des Gamma Ray Bursts nachgewiesen werden konnte. Diese Bursts entstehen wahrscheinlich bei einer Supernova, bei der sich ein energiereicher Jet durch die Atmosphäre bohrt und genau in Richtung der Erde zeigt. Massenobergrenze. Blaue Riesen sind die Sterne mit den größten beobachteten Massen von bis zu 250 Sonnenmassen wie z. B. bei dem Überriesen R136a1. Die Massenobergrenze sollte erreicht werden, wenn der Strahlungsdruck im Gleichgewicht mit dem Druck der Gravitationskraft ist. Diese Eddington-Grenze liegt aber bei einem Wert von nur 60 Sonnenmassen. Viele Blaue Riesen haben deutlich höhere Massen, da in ihrem Kern der konvektive Energietransport überwiegt und folglich ein Gleichgewicht auch noch bis zu Massen von 150 Sonnenmassen möglich ist. Diese obere Massengrenze ist dabei abhängig von der Metallizität und gilt für Protosterne während der Sternentstehung. Der hohe Strahlungsdruck führt zu einem schnellen Sternwind, wodurch es zu einem Massenverlust von circa der halben Ursprungsmasse innerhalb von 10 Millionen Jahren kommt. Noch größere Sternmassen von bis zu 250 Sonnenmassen können nur durch Verschmelzungen von zwei massiven Sternen in einem Doppelsternsystem entstehen. Die für diese Verschmelzungen benötigten Sterndichten liegen nur in jungen Sternhaufen vor wie in R136 oder dem Arches-Sternhaufen. Beispiele. Blaue Riesen sind auch aufgrund ihrer kurzen Lebensdauer relativ selten.
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Bad Homburg vor der Höhe
Bad Homburg vor der Höhe (amtlich Bad Homburg v. d. Höhe, bis 1912 "Homburg vor der Höhe") ist die Kreisstadt des Hochtaunuskreises mit  Einwohnern () und liegt in der Metropolregion Frankfurt/Rhein-Main. International bekannt geworden ist die Stadt durch ihre zahlreichen Wasserquellen als Kur- und späterer Kongressort und auf Grund der bereits 1841 gegründeten Spielbank, die „Mutter von Monte-Carlo“ genannt wird. Bad Homburg ist eine von sieben Städten mit Sonderstatus im Land Hessen und gemäß hessischem Landesentwicklungsplan als Mittelzentrum ausgewiesen. Mit einem Kaufkraftindex von 156,4 lag Bad Homburg vor der Höhe 2020 im bundesweiten Spitzenbereich. Geographie. Die Stadt Bad Homburg liegt in 137 bis , im Mittel bei 194 Metern. Nachbargemeinden. Bad Homburg grenzt im Norden an die Gemeinde Wehrheim und die Stadt Friedrichsdorf, im Osten an die Städte Rosbach vor der Höhe und Karben (beide Wetteraukreis), im Süden an die kreisfreie Stadt Frankfurt am Main (Stadtteil Nieder-Eschbach), im Südwesten an die Stadt Oberursel (Taunus), im Westen (zu einem minimalen Teil) an die Gemeinde Schmitten im Taunus sowie im Nordwesten an die Stadt Neu-Anspach. Stadtgliederung. Gemäß § 4 der "Hauptsatzung der Stadt Bad Homburg v.d.Höhe" verfügt Bad Homburg über sieben Ortsbezirke. Für jeden Ortsbezirk existiert ein Ortsbeirat. Die Ortsbezirke lauten wie folgt: Geschichte. Der Name der Stadt "Homburg" leitet sich von der Burg "Hohenberg" ab. „Die Höhe“ ist der traditionelle Name des Taunus, dessen heutige Bezeichnung sich erst ab dem 18. Jahrhundert durchsetzte. Die Stadt Homburg, das heutige Bad Homburg, ist urkundlich erstmals um 1180 nachgewiesen. Archäologische Untersuchungen haben für den gleichen Zeitraum Nachweise von Besiedlung erbracht. Die Zuschreibung einer Erwähnung "Villa Tidenheim" = „Dietigheim“ im Lorscher Codex aus dem Jahr 782 für die Stadt ist daher unwahrscheinlich. Für die Annahme, Homburg habe um 1330 Stadt- und Marktrecht erhalten, gibt es ebenfalls keine eindeutigen Beweise, denn eine entsprechende Urkunde liegt nicht vor. 1335 gestattete allerdings Kaiser Ludwig IV., genannt "der Bayer", den Herren von Eppstein, in dem zu ihrem Territorium gehörenden „Dal und Burg zu Hoenberg“ ebenso wie in Steinheim und Eppstein je zehn Juden anzusiedeln. Da Ludwig den beiden ebenfalls genannten Orten bereits Stadtrechte verliehen hatte, wird angenommen, dass dies auch für Homburg zutraf; im 15. Jahrhundert wird Homburg nur noch Stadt genannt. 1486 verkaufte Gottfried X. von Eppstein Burg, Amt und Stadt Homburg für 19.000 Gulden an Graf Philipp I. von Hanau-Münzenberg. 1504/1521 verlor Hanau Homburg in Folge des Landshuter Erbfolgekriegs, bei dem es auf der Seite der Verlierer stand, wiederum an die Landgrafschaft Hessen. Mit deren Teilung nach dem Tod des Landgrafen Philipp I. fiel Homburg an Hessen-Darmstadt, 1622 an die Nebenlinie Hessen-Homburg. 1866 fiel Homburg nach dem Aussterben des Landgrafengeschlechts von Hessen-Homburg an das Großherzogtum Hessen-Darmstadt zurück, wurde jedoch im gleichen Jahr infolge des Preußisch-Österreichischen Kriegs preußisch. Mit Aufkommen des Kurbetriebs ab Mitte des 19. Jahrhunderts, der sehr von der Einrichtung einer Spielbank profitierte, wandelte sich die Stadt zu einem international berühmten Bad. Nach 1888 wurde Bad Homburg Sommerresidenz von Kaiser Wilhelm II. Aufgrund einer landespolizeilichen Anordnung des Wiesbadener Regierungspräsidenten durfte "Homburg vor der Höhe" ab 1912 seinem Namen ein „Bad“ voranstellen und sich "Bad Homburg vor der Höhe" nennen. Zum Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Bad Homburg am 30. März 1945 von Truppen der 3. US-Armee besetzt. Der Kurbetrieb in Bad Homburg ging vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem auch das Kurhaus durch Bomben schwer beschädigt wurde, stark zurück. Führende Hotels wurden zudem von der Militärregierung beansprucht. Die Bedeutung der Stadt als Sitz von Behörden und Verwaltungen nahm zu. Schon im Herbst 1946 ordnete die Militärregierung die Gründung bizonaler Behörden an. Sitz der Verwaltungsstelle für Finanzen wurde Bad Homburg. Hier richtete am 23. Juli 1947 der Wirtschaftsrat der Bizone zur Vorbereitung der Währungsreform die „Sonderstelle Geld und Kredit“ ein, deren Leiter Ludwig Erhard wurde. Nach der Gründung der Bundesrepublik mit der Hauptstadt Bonn blieben in Bad Homburg noch die Bundesschuldenverwaltung, die 2002 in Bundeswertpapierverwaltung umbenannt wurde und seit 1. August 2006 Teil der Deutschen Finanzagentur ist, das Amt für Wertpapierbereinigung und das Bundesausgleichsamt. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts war Bad Homburg zu einem bevorzugten Wohnsitz wohlhabender Frankfurter Familien geworden, eine Tendenz, die sich als Folge der Kriegszerstörungen in Frankfurt verstärkte. Am 30. November 1989 verübten Terroristen einen Bombenanschlag auf den in Bad Homburg wohnenden Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen. Sie ermordeten ihn mit einer Sprengfalle: sein Dienstwagen fuhr durch eine Lichtschranke; diese zündete eine Bombe. Die Eingemeindung der umliegenden Dörfer setzte 1901 mit Kirdorf ein, 1937 folgte Gonzenheim. Am 31. Dezember 1971 wurden im Zuge der Gebietsreform in Hessen Ober-Eschbach sowie Dornholzhausen auf freiwilliger Basis eingegliedert. Am 1. August 1972 wurde Ober-Erlenbach kraft Landesgesetz eingegliedert. Für das Gebiet der eingegliederten Gemeinden Dornholzhausen, Ober-Eschbach und Ober-Erlenbach wurden per Hauptsatzung Ortsbezirke mit Ortsbeirat und Ortsvorsteher errichtet. Die Grenzen der Ortsbezirke Ober-Eschbach und Ober-Erlenbach folgen den seitherigen Gemarkungsgrenzen. Der Ortsbezirk Dornholzhausen umfasst neben der Gemarkung Dornholzhausen die Teile der Gemarkungen Bad Homburg v. d. Höhe und Kirdorf, die westlich der Bundesstraße 456 (Saalburgchaussee/Hohemarkstraße) liegen. Bereits in mittelalterlicher Zeit kam es zur Übernahme des Dorfes Mittelstedten, wobei hier lediglich die Bevölkerung in die Stadt umgesiedelt und das Dorf aufgegeben wurde. Neben den Eingemeindungen sind vor allem die in der Zeit der Hugenottenansiedlung von Homburg ausgehende östlich gelegene heute selbständige Neugründung Friedrichsdorf sowie die Wiederbesiedlung des Gebietes der Wüstung Dornholzhausen, das heute wieder Stadtteil von Bad Homburg ist, zu nennen. Religion. Katholische Kirchengemeinden. Zum Bistum Limburg gehören: Zum Bistum Mainz gehören: Jüdische Gemeinde. In Bad Homburg bestand seit dem späten Mittelalter eine jüdische Gemeinde. 1639 werden elf Juden gezählt. Die Zahl der Juden stieg im weiteren Verlauf deutlich an. 1803 waren es 105 Familien und um 1925 bestand die jüdische Gemeinde aus etwa 400 Personen, rund 2,5 Prozent der damals etwa 16.000 Einwohner. Die jüdische Gemeinde hörte nach der Zerstörung der Synagoge in der Pogromnacht 1938 und der Deportation der letzten vier jüdischen Bürger durch die Nationalsozialisten am 20. Mai 1943 auf zu existieren. Seit 2013 gibt es wieder ein jüdisches Zentrum mit einem festen Rabbiner in Bad Homburg, das sich in provisorischen, angemieteten Räumlichkeiten befand. Aktuell leben ca. 300 Juden in Bad Homburg, vornehmlich aus der ehemaligen Sowjetunion, sowie weitere 300 jüdische Bürger im Umland von Bad Homburg. Betreut und verwaltet wird das Zentrum von der jüdischen Gemeinde Frankfurt. Am 11. November 2018 wurde die neue Synagoge eingeweiht. Die Stadt Bad Homburg hat für das Gebäude einen Erbbaurechtsvertrag mit dem Verein „Freunde und Förderer der jüdischen Kultur und Religion Bad Homburg“ abgeschlossen. Am Standort der ehemaligen Synagoge in der Elisabethenstraße befindet sich heute eine Freifläche, die als Spielplatz genutzt wird. Ein Denkmal und eine Bronzetafel erinnern an die Synagoge und die jüdischen Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Der Platz davor wurde in „Platz der ehemaligen Synagoge“ umbenannt. Muslimische Gemeinde. In der Gartenfeldstraße befindet sich die Al-Hikma-Moschee. Der "Marokkanisch-Islamische Verein Hochtaunus e. V." führt die Moschee. Sie ist sunnitisch geprägt und bietet diverse soziale Programme und Lernangebote. Sie existiert seit 2009. Die Ar-Rahman-Moschee wurde 2010 in der Louisenstraße eröffnet. Sie wird vom "Deutsch-Islamischen Verein e. V. Hochtaunus" geführt. Die Ulu-Moschee in der Innenstadt von Bad Homburg ist ebenfalls sunnitisch geprägt. Sie gehört zum türkischen Dachverband Ditib. Sie bietet auch zahlreiche soziale Programme an. Die Moschee wurde 1990 gegründet und ist die einzige Moschee in Bad Homburg mit einem Minarett. Politik. Stadtverordnetenversammlung. Die Kommunalwahl am 14. März 2021 lieferte folgendes Ergebnis, in Vergleich gesetzt zu früheren Kommunalwahlen: Oberbürgermeister. Die Bürgermeister von Homburg, dem Hauptort der Landgrafschaft Hessen-Homburg, wurden ursprünglich von dem jeweiligen Landesherren ernannt. Nachdem Stadt und Landgrafschaft ab 1866 an Preußen fiel, verlieh Kaiser Wilhelm II., der regelmäßig im Schloss residierte, als König von Preußen den seit 1892 amtierenden Bürgermeistern als persönliche Auszeichnung den Titel "Oberbürgermeister", wenn auch zum Teil erst ein bis zwei Jahre nach ihrem Amtsantritt als Bürgermeister. Nach dem Ende der Monarchie wurde diese Bezeichnung den Stadtoberhäuptern nicht mehr verliehen. Georg Eberlein durfte nach 1945 aufgrund Bestimmung der Besatzungsbehörden die Dienstbezeichnung "Oberbürgermeister" führen; seinem Nachfolger Karl Horn gestattete das die Landesregierung. Seit 1979 tragen alle Stadtoberhäupter die Amtsbezeichnung "Oberbürgermeister", da Bad Homburg zu einer „Stadt mit Sonderstatus“ wurde. Oberbürgermeisterwahl 2009. Ursula Jungherr (CDU) war von Dezember 2003 bis September 2009 Oberbürgermeisterin. Seit der Kommunalwahl im Jahr 2006 regierte eine schwarz-gelbe Koalition. Bei der Oberbürgermeisterwahl am 26. April 2009 erhielt Ursula Jungherr 39,0 Prozent, der Herausforderer Michael Korwisi (Grüne), der als Unabhängiger angetreten war, 39,3 Prozent. Der Kandidat der Sozialdemokraten, Karl Heinz Krug, erzielte 21,7 Prozent der Stimmen. Am 10. Mai 2009 kam es zu einer Stichwahl zwischen Ursula Jungherr und Michael Korwisi. Bei dieser erreichte Ursula Jungherr 40,5 Prozent, Herausforderer Michael Korwisi 59,5 Prozent der Bad Homburger Wählerstimmen. Die Wahlbeteiligung war mit 45,8 Prozent einige Prozentpunkte höher als beim ersten Wahlgang. Die Amtszeit von Michael Korwisi begann am 18. September 2009. Nach der Kommunalwahl 2011 gründete Korwisi ein Minderheitenbündnis aus Grünen, SPD, BLB und NHU, das mit Hilfe der Linken einen neuen Bürgermeister und einen neuen hauptamtlichen Stadtrat wählte. Im Sommer 2014 zerbrach das Bündnis aufgrund geheimer Gespräche der SPD mit der CDU. Seither wurde in der Stadtverordnetenversammlung mit wechselnden Mehrheiten regiert. Oberbürgermeisterwahl 2015. Bei der Oberbürgermeisterwahl am 14. Juni 2015 erhielt Michael Korwisi, der erneut als Unabhängiger angetreten war, 29,8 Prozent der abgegebenen Stimmen. Bürgermeister Krug (SPD) kam auf 22,2 Prozent und der Fraktionsvorsitzende der CDU in der Stadtverordnetenversammlung, Alexander Hetjes, 48,0 Prozent. In der Stichwahl am 28. Juni 2015 erzielte Alexander Hetjes 61,5 Prozent der Stimmen. Amtsinhaber Michael Korwisi erreichte 38,5 Prozent. Die Wahlbeteiligung lag bei 46,1 Prozent und damit fast auf dem Niveau des ersten Wahlgangs. Die Amtszeit von Alexander Hetjes begann am 18. September 2015. Oberbürgermeisterwahl 2021. Bei der zeitgleich mit den hessischen Kommunalwahlen stattfindenden Oberbürgermeisterwahl am 14. März 2021 trat Amtsinhaber Hetjes gegen drei Kandidaten von SPD, Grünen und der Bürgerliste Bad Homburg an. Bereits im ersten Wahlgang setzte er sich mit 59,6 Prozent der Stimmen durch und konnte damit als erster Bad Homburger Oberbürgermeister seit 1995 sein Amt verteidigen. Hoheitszeichen. Die Stadt Bad Homburg vor der Höhe führt ein Siegel, ein Wappen und eine Flagge. Partnerstädte/Patenstadt. Die Stadt Bad Homburg v. d. Höhe unterhält folgende Partnerschaften: Ehemalige Partnerstadt. Im Jahr 1956 wurde eine Städtepartnerschaft zwischen Bejaia und Bad Homburg vor der Höhe vereinbart. Es war damals die einzige Städtepartnerschaft mit Algerien und nur eine von sechs zwischen Deutschland und Afrika. Mit der Machtergreifung Ben Bellas 1963 wurde diese Städtepartnerschaft von algerischer Seite beendet. Der Versuch einer Reaktivierung der Städtepartnerschaft durch den Bürgermeister Bejaias im Jahr 1975 scheiterte. Wirtschaft und Infrastruktur. Bad Homburg verfügte im Jahr 2020 über einen weit überdurchschnittlichen Kaufkraftindex von 156,4 des Bundesdurchschnitts. Die überdurchschnittlich hohe Kaufkraft der ansässigen Bevölkerung ist für den Bad Homburger Einzelhandel sehr vorteilhaft, ein geringer Teil fließt in den angrenzenden Frankfurter Einzelhandel ab. Politisch wird die Innenstadt attraktiv gehalten; Ansiedlungen, zum Beispiel von Billigläden in Stadtrandlage, sind verboten. Dies führte zu einer rapiden Expansion der an das Bad Homburger Stadtgebiet angrenzenden Industriegebiete in den Frankfurter Stadtteilen Nieder-Eschbach und Kalbach-Riedberg. Inzwischen überragt gemessen an Nachbarorten mit ebenfalls hoher Kaufkraft Bad Homburg, rund 96 von 100 Euro werden auch hier ausgegeben. Zum Vergleich sind es in Oberursel knapp 66 Euro, in Königstein 51 Euro und in Kronberg 30 Euro. Die als besonders hoch angesehene Lebensqualität Bad Homburgs führt dazu, dass die Bodenpreise in der Kurstadt zu den höchsten in der ganzen Bundesrepublik zählen. Bad Homburg ist Sitz einer Reihe von Unternehmen, deren Belegschaft aus mehr Auswärtigen (rund 27.000 Einpendler) als Einheimischen (rund 12.000 Auspendler) besteht. In der Stadt haben unter anderem folgende Unternehmen ihren Sitz: Amadeus Germany, die Basler Securitas Versicherung, Bridgestone Deutschland, Delton, die Deutsche Leasing, Feri-Gruppe, Fresenius, Hewlett-Packard, Ixetic, Lilly Deutschland, Kawasaki Gas Turbine Europe, Kewill, WD-40 Company, Linotype, MEDA Pharma, PIV-Drives, Ringspann, die Verwaltung der Quandt-Gruppe sowie die Syzygy. Horex war eine bekannte deutsche Motorradmarke der "Horex – Fahrzeugbau", die 1923 von Fritz Kleemann in Bad Homburg gegründet wurde. In Bad Homburg entstand daher ein Horex-Museum. Der 1,6 Millionen Euro teure Neubau in der Nähe der inzwischen abgetragenen Horex-Fabrik wurde im September 2012 eröffnet. Daneben ist die Stadt Sitz der Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs, der AOK Hessen und der Spielbank Bad Homburg. Ferner ist hier die Zentrale der Raiffeisenbank im Hochtaunus und der Taunus Sparkasse. Mit der Landgräflich Hessischen concessionierten Landesbank in Homburg war Bad Homburg zwischen 1855 und 1876 Sitz einer Notenbank. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten das Bundesausgleichsamt und die Bundesschuldenverwaltung ihren Sitz in Bad Homburg. Kurbetrieb und Fremdenverkehr. Ein wichtiger Wirtschaftsfaktor ist der Kurbetrieb, der auf die zahlreich vorhandenen Heilquellen gründet. Zentrum des Kurbetriebs ist das 1982 bis 1984 errichtete, postmoderne neue Kurhaus. Das traditionelle Kaiser-Wilhelms-Bad liegt im Kurpark Bad Homburg, einem 44 Hektar großen Park im englischen Landschaftsstil nach einem Entwurf von Peter Joseph Lenné am Ostrand der Innenstadt. Der untere Teil des Parks ist vor allem für die vielen Brunnen bekannt, die verhältnismäßig dicht beieinander liegen, jedoch zum Teil sehr unterschiedliche Mineraliengehalte aufweisen. Eine Reihe von Kliniken bieten Heilbehandlungen aller Art an. Neben den Hochtaunus-Kliniken, den Kliniken des Hochtaunuskreises sind dies unter anderem die Wickerklinik, Klinik Wingertsberg, Klinik Dr. Baumstark und die Paul-Ehrlich-Klinik. Neben dem Kurbetrieb bietet Stadt und Umgebung insbesondere Tagesgästen bekannte Sehenswürdigkeiten: Freizeitbad und Therme. Bad Homburg verfügt über zwei bekannte Freizeitbäder: das Seedammbad und die Taunus-Therme. Das Seedammbad ist ein stadteigenes Erlebnis- und Freizeitbad. Im Hallenbereich stehen ganzjährig neben Solarien und Saunaangeboten ein 50-Meter-Sportbecken, eine Wassertretanlage, Whirlpools, mehrere Kinderbecken und eine Röhrenrutsche zur Verfügung. Die Besonderheit des Seedammbades ist das sogenannte „Abenteuerbecken“. Dieses Becken mit Wasserpilzen, Spritzen, Massagedüsen, Rutschen, Karussell, Tunnel und Strömungskanal befindet sich als Teil des Hallenbades unter einer Glaskuppel, die bei gutem Wetter geöffnet werden kann. Bei geöffneter Kuppel ist dieses Becken Teil des großen Freibades. Das Freibad verfügt über zusätzliche drei Schwimmbecken, Sprungturm, Kinderbecken, Kinderspielplatz riesige Liegewiesen mit FKK-Bereich. Zur Beliebtheit des Bades trägt bei, dass die Eintrittspreise durch die Stadt hochsubventioniert sind. Die Taunus-Therme liegt dem Seedammbad direkt gegenüber am Rande des Kurparks. Das privat betriebene Erholungs- und Gesundheitsbad bietet neben der vollumfänglichen FKK-Saunawelt mit separatem Damensaunabereich, "Traumwelt 1001 Nacht" mit Hamam-Paradies, Dufttempeln und einem Oasen-Rundgang, einen Thermalbadbereich mit verschiedenen Innen- und Außenbecken mit Thermalwasser aus der Viktoria-Louise-Quelle. Dort befinden sich zudem verschiedene Whirlpools, ein Wildbach, Sprudelliegen, Liegegärten und ein gastronomisches Angebot. Als ein weiteres Merkmal für Gesundheitssuchende gilt die Therapie im Bewegungsbad, welche mehrmals täglich in enger Kooperation mit der Deutschen Rheuma-Liga durchgeführt wird, die regelmäßigen Yoga-Stunden und die "Salzgrotte" in der Saunawelt. Verkehr. Bad Homburg ist durch die S-Bahn-Linie S5 auf der "Homburger Bahn" mit Frankfurt verbunden. Der Bahnhof Bad Homburg ist außerdem Endbahnhof der Regionalbahn-Linie RB 15. Sie verbindet die Kreisstadt mit den Orten des Hintertaunus und wird in den Hauptverkehrszeiten über Oberursel nach Frankfurt Hauptbahnhof durchgebunden. In Bad Homburg existiert ein Stadtbusnetz mit 22 Linien. Betreiber war im Auftrag der Stadt bis 2008 Alpina Bad Homburg und vom 1. Januar 2009 bis 31. Dezember 2015 die Verkehrsgesellschaft Mittelhessen. Am 1. Januar 2016 hat Transdev die Bedienung für neun Jahre übernommen. Ferner bestehen acht Regionalbuslinien, welche die Stadt mit Schmitten im Taunus, Weilrod, Grävenwiesbach, Friedrichsdorf, Karben, Bad Vilbel, Weilmünster, Weilburg, Kronberg und Königstein verbinden. Seit 1995 gehörten alle Verbindungen zum Rhein-Main-Verkehrsverbund. Von 1899 bis 1935 gab es die elektrische Straßenbahn Bad Homburg vor der Höhe der Elektrizitäts-AG vormals W. Lahmeyer & Co. Dazu gehörte die 1900 eröffnete Saalburgbahn zum Römerkastell Saalburg im Taunus. Von 1910 bis 1962 fuhren elektrische Züge der Frankfurter Lokalbahn von Frankfurt kommend entlang der Louisenstraße bis zum Markt, dann nur noch zum Alten Bahnhof, dem heutigen Rathaus. Die Strecke wird seit dem 19. Dezember 1971 von der Stadtbahnlinie U2 bis Gonzenheim befahren. Derzeit läuft das Planfeststellungsverfahren, um diese Stadtbahnlinie zum Bad Homburger Bahnhof weiterzuführen. Frühere Überlegungen, die U-Bahn durch Bad Homburg bis zum Sportzentrum Nordwest und sogar über die Saalburg in den Hintertaunus zu verlängern, um den Pendlern auf der überlasteten Bundesstraße 456 einen Anreiz zum Umstieg auf den öffentlichen Personennahverkehr zu geben, werden derzeit nicht mehr verfolgt. Bad Homburg liegt am Fuß des Saalburgpasses, der Straßenverbindung zwischen Frankfurt und dem Usinger Land. Heute verläuft hier die vielbefahrene Bundesstraße 456. Der Umbau der Peters-Pneu-Kreuzung in Bad Homburg, durch eine Tunnellösung zur Vermeidung des täglichen Staus, ist in Bad Homburg politisch hoch umstritten. Drei Abfahrten der Bundesautobahn 661 erschließen Bad Homburg. Das Bad Homburger Kreuz stellt die Kreuzung zwischen der A 661 und A 5 dar. Medien. Außerdem war Bad Homburg von 2003 bis 2014 Standort des regionalen Fernsehsenders Rheinmaintv für das Rhein-Main-Gebiet. Behörden, Gerichte und Einrichtungen. Bad Homburg verfügt über folgende Behörden, Gerichte und Einrichtungen: Kultur und Sehenswürdigkeiten. Denkmäler. Um das Schloss Bad Homburg erstreckt sich der Schlosspark Bad Homburg, ein nach englischem Vorbild entstandener Landschaftsgarten und Teil der Landgräflichen Gärten Bad Homburg, die sich bis zum Gotischen Haus aufreihen. Im Kurpark stehen unter anderem Denkmäler für Friedrich Hölderlin, Fjodor Dostojewski, Samuel Agnon, Peter Joseph Lenné, Wilhelm Filchner, Maximilian Oskar Bircher-Benner, die Kaiser Wilhelm I., Wilhelm II. und Friedrich III. sowie seiner Gattin Victoria. Ein Mahnmal in der Elisabethenstraße erinnert an die 1938 während des Novemberpogroms zerstörte neue Synagoge von 1864 und die Deportation der Bad Homburger Juden im Jahr 1942. Im Forstgarten befindet sich das Naturdenkmal "Krausbäumchen", eine Süntel-Buche. Das heutige junge Bäumchen ist allerdings nur eine Ersatzpflanzung für das ursprüngliche Exemplar, das 1966 einem Sturm zum Opfer fiel. Die "Felsengruppe Rabenstein", ebenfalls ein Naturdenkmal, ist bei Kirdorf zu finden. An der Gemarkungsgrenze zwischen Kirdorf und Bad Homburg befindet sich der Gluckenstein. Auf dem Waisenhausplatz wurde 1875 das Kriegerdenkmal 1870/71 errichtet. Zwischen Taunus-Therme und Seedammbad erinnern drei Basaltstelen an den an dieser Stelle ermordeten Alfred Herrhausen. Etwa sieben Kilometer nordwestlich des Stadtzentrums erhebt sich mit 591 Metern der Herzberg mit einem Aussichtsturm. Kulturelle Veranstaltungen. Seit über 40 Jahren findet jährlich in der Innenstadt der internationale Stadtfest statt. Bei diesem Fest steht die kulturelle Vielfalt Bad Homburgs im Mittelpunkt. Diverse kulturelle Vereine bieten an diesem Tag kulinarische und musikalische Angebote. Das Stadtfest verdeutlicht nun mehr die Bedeutung der Vielfalt in Deutschland. Seit 1997 findet alle zwei Jahre im Kurpark eine Skulpturenausstellung mit renommierten Bildhauern der Gegenwart verbunden mit einem Förderpreiswettbewerb unter dem Namen "Blickachsen" statt. Außerdem wird seit 1989 jedes Jahr am 6. Juni, dem Vortodestag Friedrich Hölderlins, zusammen mit einem Förderpreis der Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg verliehen. Seit 1995 findet alle zwei Jahre "Fugato", ein internationales Orgelfestival mit weltbekannten Musikern sowie einem weiteren Förderpreis statt. Außerdem findet seit 1935 (zwischenzeitlich wegen des Zweiten Weltkrieges unterbrochen) immer am ersten Septemberwochenende das Laternenfest Bad Homburg statt. Im Jahr 2000 wurden die Bad Homburger Schlosskonzerte wieder ins Leben gerufen. Das Tennisturnier WTA Bad Homburg (Bad Homburg Open), das in der Saison als Generalprobe vor dem Grand-Slam-Turnier in Wimbledon gilt, wurde in Bad Homburg 2021 erstmals veranstaltet. 2021 wurden die Bad Homburg Open vom 20. Juni bis 26. Juni ausgetragen. Spielstätte für das Turnier ist der Tennis Club Bad Homburg im Kurpark. Das Teilnehmerfeld umfasst 32 Spielerinnen (Einzel) und 16 Paare (Doppel). Bad Homburger Stiftungen. In Bad Homburg existieren die Bleib-Gesund-Stiftung, die den "Oskar-Kuhn-Preis" verleiht, die Else-Kröner-Fresenius-Stiftung, die Flersheim-Stiftung, die Fritz-Acker-Stiftung zur Förderung der medizinischen Forschung zum Nutzen der Allgemeinheit, die Herbert-Quandt-Stiftung der Altana, die Johanna-Quandt-Stiftung, die Martin-Carl-Adolf-Böckler-Stiftung, die die „Homburger Gespräche“ organisiert, die gemeinnützige Patienten-Heimversorgung sowie die Stiftung, die Johann Christian Rind 1776 testamentarisch verfügte. Außerdem die Rotary-Bad Homburg-Schloss-Stiftung und die Werner-Reimers-Stiftung. Sportveranstaltungen. Das Gordon-Bennett-Rennen 1904 rückte Bad Homburg in den Mittelpunkt der Sportwelt. Skulpturenallee. Die sogenannte "Skulpturenallee" zwischen Bahnhof und Rathaus in Bad Homburg ist eine Grünanlage neben dem Gebäude der ehemaligen Bundesschuldenverwaltung, dem heutigen Technischen Rathaus der Stadtverwaltung, in dem eine Reihe von Skulpturen namhafter Künstler ausgestellt sind. Bad Homburg als Romanstoff. Der Roman "In Sachen Mensch", geschrieben von der seit 1948 dort lebenden Ursula Rütt, ihr Mann Walter leitete die örtliche Kriminalpolizeistelle, erschien 1955 im Zürcher Steinberg-Verlag. Seine knapp 300 Seiten erregten erhebliches Aufsehen und standen zwischen 1955 und 1958 im Mittelpunkt dreier Gerichtsverfahren; der Titel wurde zeitweise beschlagnahmt. Die Autorin, wegen Beleidigung und Verleumdung angeklagt, wird später freigesprochen, die Beschlagnahme des Buches aufgehoben. Rütt schildert in ihrem Buch das Agieren der Stadtverwaltung und anderer lokaler Behörden sowie das Leben in der Stadt, die nie mit Namen genannt wird. Rütt benutzt für die handelnden Figuren Decknamen und beschreibt eine „unheilvolle Mixtur aus Vetternwirtschaft und Korruption, Ehebruch und Homosexualität“, so die Frankfurter Rundschau. Nach dem Erscheinen des Buches war, so der Lokalhistoriker Dieter Metz, „der Alltag für viele der Betroffenen nicht mehr auszuhalten“. 1960 erschien ein weiterer Roman der Schriftstellerin „Nachtgesellschaft“, der im Milieu von Spielbanken handelt und sich mit den Schicksalen von Glückspielern beschäftigt. Das Ehepaar Rütt starb 2002 unter ungeklärten Umständen in der Provence, in der es seit einigen Jahren gelebt hatte.
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Budapest
Budapest (ungarische Aussprache []; ) ist die Hauptstadt und zugleich größte Stadt Ungarns. Mit über 1,7 Millionen Einwohnern ist Budapest die neuntgrößte Stadt der Europäischen Union und die drittgrößte Stadt Mitteleuropas (nach Berlin und Wien). Laut dem britischen Marktforschungsunternehmen "Euromonitor International" gehört sie zu den zwanzig am häufigsten von Touristen besuchten Städten Europas. Die Einheitsgemeinde Budapest entstand 1873 durch die Zusammenlegung der zuvor selbstständigen Städte Buda (dt. "Ofen"), Óbuda "(Alt-Ofen)," beide westlich der Donau, und Pest östlich der Donau. Der Name "Budapest" selbst tauchte zuvor nicht auf, üblich im Sprachgebrauch war "Pest-Buda." Das Donauufer, das Burgviertel und die Andrássy-Straße gehören heute zum UNESCO-Welterbe. Geographie. Lage. Budapest liegt an der Donau, die an dieser Stelle das ungarische Mittelgebirge verlässt und in das ungarische Tiefland fließt. Die höchste Erhebung in Budapest ist der zu den Budaer Bergen zählende 527 Meter hohe János-Berg (ungarisch János-hegy). Weitere Budaer Berge sind der Gellértberg (Gellért-hegy), der Burgberg (Várhegy), der Rosenhügel (Rózsadomb), der Sonnenberg (Naphegy), der Adlerberg (Sashegy), der Martinsberg (Mártonhegy), der Schwabenberg (Svábhegy) und der Széchenyiberg (Széchenyi-hegy). Geotektonisch gesehen liegt die Stadt auf einer Bruchstelle, deshalb ist besonders Buda so reich an Thermalquellen. Klima. Wegen der Binnenlage und der abschirmenden Wirkung der Gebirge hat Budapest ein relativ trockenes Kontinentalklima mit kaltem Winter und warmem Sommer. Die mittleren Temperaturen liegen im Januar bei −1,6 °C sowie im Juli bei 21 °C. Im Frühsommer sind die ergiebigsten Niederschläge zu verzeichnen. Die mittlere Niederschlags­menge beträgt im Jahr rund 500 bis 600 Millimeter. Geschichte. Erstes Jahrtausend. Römerzeit. Budapests Geschichte beginnt um 89 mit der Gründung eines römischen Militärlagers in ehemals vom keltischen Stamm der Eravisker besiedeltem Gebiet. In der Folge entstand um das Lager die römische Siedlung Aquincum, die zwischen 106 und 296 Hauptstadt der Provinz Pannonia inferior war. Unter römischer Herrschaft prosperierte die Stadt, es lassen sich ein Statthalterpalast, mehrere Amphitheater und Bäder nachweisen, außerdem wurde die an der gefährdeten römischen Donaugrenze gelegene Stadt mit einer Mauer versehen. Völkerwanderung. Am Ende des 4. Jahrhunderts kam es im Zuge der Völkerwanderung vermehrt zu Einfällen germanischer und hunnisch-alanischer Stämme; nach dem Untergang des Römischen Reiches und dem Ende der Völkerwanderung siedelte hier zunächst eine slawische Bevölkerung, die aber ab 896 von Ungarn, uralischen Völkern, die in die pannonische Tiefebene einwanderten, verdrängt wurden. Mittelalter. Frühes Mittelalter. Die später christianisierten und sesshaft gewordenen Ungarn wohnten in Dörfern mit Kirchen und betrieben Ackerbau und Viehzucht. Im Zentrum wichtiger Verkehrswege gewann Pest immer mehr an Bedeutung. Bereits zu dieser Zeit entstand über die Donau (etwa bei der heutigen Elisabethbrücke) ein reger Fährverkehr zum gegenüberliegenden Buda. Mit der Krönung Stephans I. (am Weihnachtstag 1000 oder 1. Januar 1001) zum ersten König von Ungarn bauten die Ungarn ihre Vorherrschaft aus. Durch den Einfall der Mongolen (Mongolensturm) 1241 kam es nach der Schlacht bei Muhi fast zur völligen Zerstörung. Die königliche Residenz wurde zunächst nach Visegrád verlegt. 1308 wurde die Stadt erneuert und 1361 Hauptstadt des Königreiches. 1514 fand ein Bauernaufstand statt. Türkische Besatzung. Ab 1446 griffen die Osmanen immer wieder Ungarn an, was in der Besetzung des größten Teils des Landes gipfelte. So fiel Pest 1526 und das durch die Burg etwas geschützte Buda 15 Jahre später. Die Hauptstadt des noch unbesetzten Ungarns, das fast nur noch aus Oberungarn (im Wesentlichen das Gebiet der heutigen Slowakei) bestand, wurde von 1536 bis 1784 Preßburg (Bratislava). Während Buda (Ofen) zum Sitz eines türkischen Paschas wurde, fand Pest kaum mehr Beachtung und verlor einen großen Teil seiner Einwohner. Am 18. Mai 1578 explodierte die Pulverkammer des Burgpalastes nach einem Blitzeinschlag. Etwa 2000 Menschen starben; der Palast wurde zerstört. Habsburgerzeit. Schließlich gelang es den Habsburgern, die seit 1526 Könige von Ungarn waren, die Osmanen zu vertreiben und Ungarn wiederherzustellen (siehe auch: Belagerung von Ofen (1684/1686)). Für die Bevölkerung von Buda und Pest änderte sich allerdings nur wenig; sie wurde weiterhin von Fremden verwaltet und musste sehr hohe Steuern zahlen. Die Einwohner wehrten sich in einem Aufstand, der aber niedergeschlagen wurde. Neuzeit. Sitz des Königs. Pest war seit 1723 der Sitz der administrativen Verwaltung des Königreiches. Es wurde trotz der widrigen Verhältnisse und eines verheerenden Hochwassers 1838 mit 70.000 Opfern zu einer der am schnellsten wachsenden Städte des 18. und 19. Jahrhunderts. 1780 wurde Deutsch von den Habsburgern als Amtssprache eingeführt. Dies geschah auch, um die immer wieder aufflammenden revolutionären Bewegungen besser kontrollieren zu können. Damit wurde man auch den regelmäßig ins Land gerufenen deutschen Siedlern gerecht, die mittlerweile große Teile der Stadt besiedelten. Das Kernland der Kroaten, etwa das Gebiet des heutigen Kroatiens, war Budapest unterstellt. Brückenbau. Einer der Hauptgründe für den Aufschwung Budapests war die Existenz einer Brücke im Sommer, welche aus aneinander befestigten Booten bestand. Die Kettenbrücke (ungarisch Széchenyi Lánchíd) überspannt hier in Budapest die Donau. Sie wurde in der Zeit von 1839 bis 1849 als erste feste Brücke auf Anregung des ungarischen Reformers Graf István Széchenyi erbaut. Angeregt wurde er dazu, nachdem er eine Woche lang warten musste, um zum Begräbnis seines Vaters ans andere Ufer zu kommen. Den ungarischen Namen trägt sie ihm zu Ehren. Sie ist die älteste und bekannteste der neun Budapester Brücken über die Donau. Revolution 1848/49. Während der ungarischen Revolution 1848 war Budapest einer der Hauptplätze der Unruhen, mit denen die Ungarn gegen die reformfeindliche Unterdrückung durch die Habsburger ankämpften. Zwar wurde der Aufstand letztlich mit Hilfe Russlands blutig niedergeschlagen, aber die Ereignisse von 1849 führten 1867 indirekt in den Ausgleich zwischen Österreich und Ungarn. Damit wurde Ungarn weitgehend unabhängig. Symbol des Ausgleichs war der jährliche mehrwöchige Aufenthalt Kaiser Franz Josephs in Budapest. Als König von Ungarn residierte er auf der Budaer Burg und nahm in dieser Zeit – in ungarischer Sprache und in eine ungarische Uniform gekleidet – mit den Ministern Ungarns und dem königlich ungarischen Reichstag seine ungarischen Ämter wahr. Zusammenlegung Buda/Pest. Die Zusammenlegung von Buda, Óbuda und Pest war schon 1849 unter der revolutionären Regierung Ungarns verordnet worden. Als die Habsburger ihre Macht wiederherstellten, widerriefen sie diesen Beschluss. Erst 1873, sechs Jahre nach dem Österreichisch-Ungarischen Ausgleich von 1867, kam es endgültig zur Vereinigung der beiden Stadthälften. Vorausgegangen war bereits 1870 die Gründung eines "Hauptstädtischen Rates für öffentliche Arbeiten", der die bauliche und infrastrukturelle Entwicklung der Gesamtstadt koordinieren sollte. 20. Jahrhundert. Anfang 20. Jahrhundert. Zur Jahrtausendfeier der Landnahme der Ungarn (dem sogenannten Millennium) 1896 wurden im Zusammenhang mit der Budapester Millenniumsausstellung 1896 zahlreiche Großprojekte, etwa der Heldenplatz und mit der Földalatti die erste U-Bahn auf dem europäischen Festland, fertiggestellt. Die Einwohnerzahl im gesamten Stadtgebiet versiebenfachte sich zwischen 1840 und 1900 und stieg auf rund 730.000. Erster Weltkrieg und Folgezeit. Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg mit den daraus resultierenden Todesopfern erfolgte 1918 der Zusammenbruch der Habsburgermonarchie. Mit dem Vertrag von Trianon verlor Ungarn fast drei Viertel seines Reichsgebiets. Nach der dreitägigen Asternrevolution im Oktober 1918 wurde die kommunistische Ungarische Räterepublik unter Béla Kun im März 1919 gegründet. Sie hatte nur vier Monate Bestand und brach zusammen, als rumänische Truppen im Ungarisch-Rumänischen Krieg Budapest und weite Teile Ungarns Anfang August besetzten, worauf Mitglieder der Räteregierung nach Wien flohen. Der Sozialist Gyula Peidl war kurzzeitig Ministerpräsident, seine Regierung wurde jedoch am 6. August 1919 bei einem bewaffneten Putsch rechter Kräfte abgesetzt. Nachfolgestaat wurde das Königreich Ungarn unter Miklós Horthy. Nach seinem Sieg zog Horthy an der Spitze der konservativen Truppen am 16. November 1919 in Budapest ein und wurde Reichsverweser (Regent; ungarisch: kormányzó) Ungarns, das formell noch immer ein Königreich war. Zweiter Weltkrieg. Ungarn war im Zweiten Weltkrieg seit 1941 ein Verbündeter des nationalsozialistischen Deutschen Reiches. Die deutsche Besetzung Ungarns (Operation Margarethe) begann am 19. März 1944 und erfolgte nach dem Versuch Ungarns, sich vom verbündeten NS-Deutschland zu lösen. Rund ein Drittel der etwa sechshunderttausend Juden in Ungarn wurde bis Kriegsende umgebracht. Die meisten von ihnen wurden ab 1944 von den Nazis nach Auschwitz deportiert. Allerdings rettete der Einsatz mehrerer Diplomaten, darunter des Schweden Raoul Wallenberg und des Schweizers Carl Lutz, zahlreichen Budapester Juden das Leben und bewahrte sie vor der Deportation. Im selben Jahr wurden Teile Budapests durch amerikanische und britische Luftangriffe zerstört. Die stärksten Verwüstungen erfolgten, als sowjetische Streitkräfte von Ende Dezember 1944 bis Anfang Februar 1945 die Stadt während der "Schlacht um Budapest" bis zur Einnahme belagerten. Die eingeschlossenen deutschen und ungarischen Truppen sprengten bei ihrem Rückzug auf die Budaer Seite des Kessels sämtliche Brücken über die Donau. 38.000 Zivilisten starben noch in dieser Kriegsphase. Nachkriegszeit. Nach dem Krieg wurden 1946 die Republik und 1949 die Volksrepublik Ungarn ausgerufen. Eine kurze Episode bildete 1945–1951 das Jugendprojekt Gaudiopolis. 1956 war Budapest der Ausgangspunkt des gegen die Sowjetunion gerichteten Volksaufstandes. Nach dessen blutiger Niederschlagung kam es zu Säuberungswellen im ganzen Land. Wendezeit seit 1989. Am 23. Oktober 1989 wurde in Budapest die Republik Ungarn ausgerufen. Dies war neben anderem wegbereitend für den Zerfall der Sowjetunion sowie des ganzen Ostblocks. Im Jahre 2000 fanden ungarnweit Feierlichkeiten zum tausendjährigen Jubiläum der Staatsgründung statt. Aus diesem Anlass wurde auch die Hauptstadt verschönert. Die Parkanlage und das Kulturzentrum Millenáris-Park sowie der Millenniumsstadtteil mit dem Nationaltheater wurden errichtet. Die Budaer Donauseite mit dem Campus der Technischen Universität wurde modernisiert. Der EU-Beitritt Ungarns am 1. Mai 2004 wurde mit vielen Festen im ganzen Land, besonders in der Hauptstadt Budapest, gefeiert. Bevölkerung. Einwohnerentwicklung. Nachfolgend sind die Einwohnerzahlen nach dem jeweiligen Gebietsstand aufgeführt. Bis 1860 handelt es sich meist um Schätzungen, bis 2001 um Volkszählungsergebnisse und 2006 um eine Schätzung des Ungarischen Zentralamts für Statistik. Die Zahlen vor 1873 beziehen sich auf die drei Städte Buda, Pest und Óbuda. Deren endgültiger Zusammenschluss erfolgte am 17. November 1873, nachdem die erste Zusammenlegung am 24. Juni 1849 kurze Zeit später wieder rückgängig gemacht worden war. Der starke Anstieg der Bevölkerung zwischen 1949 und 1960 ist auf die Eingemeindung von sieben Städten und 16 Gemeinden in der Umgebung zurückzuführen. So stieg die Einwohnerzahl am 1. Januar 1950 um 582.000 Personen auf 1,64 Millionen, die Fläche von 206 Quadratkilometer auf 525 Quadratkilometer, die Zahl der Stadtbezirke von 14 auf 22. Entwicklung der ethnischen Zusammensetzung. Im 15. Jahrhundert war die Bevölkerung von Pest mehrheitlich ungarisch. Nach dem Ende der osmanischen Herrschaft über Ungarn wurde besonders Buda von Deutschen dominiert. Religionen. Die folgende Übersicht zeigt den prozentualen Anteil der Gläubigen verschiedener Konfessionen an der Gesamtbevölkerung 1870 bis 1949. und 2011. Politik. Als Hauptstadt eines Einheitsstaats ist Budapest Regierungssitz und politisches Zentrum Ungarns. Hier befinden sich der Amtssitz des Präsidenten der Republik und des Ministerpräsidenten. Das ungarische Parlament, die Ministerien, das Oberste Gericht ("Kúria"), das Verfassungsgericht und die ungarische Nationalbank haben hier ihren Sitz, sowie internationale Organisationen, wie die CEPOL (ehemals Europäische Polizeiakademie) und die Donaukommission. Politisches System. Politisch nimmt Budapest als Hauptstadt einen besonderen Status in Ungarn ein, das daneben in 19 Komitate eingeteilt ist. Sein politisches System unterscheidet sich von dem eines Komitats oder einer Stadt mit Komitatsrecht. An der Spitze der Stadtverwaltung steht der Oberbürgermeister ("főpolgármester"). Er wird zusammen mit den Bürgermeistern der 23 Stadtbezirke durch eine einfache Mehrheit auf eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt. Der Stadtrat ("fővárosi közgyűlés") setzt sich aus dem Oberbürgermeister, den Bürgermeistern der Bezirke und neun durch Listenwahl gewählten Vertretern zusammen. Seit 2019 ist Gergely Karácsony Oberbürgermeister von Budapest. Wappen und Flagge. Das Wappen von Budapest entstand 1873 mit der Zusammenlegung der Stadt aus den Wappen von Buda und Pest. Es zeigt in einem roten Schild geteilt durch einen silbernen Wellenbalken, der die Donau darstellt, im oberen Feld eine goldene Burg mit einem Turm und einem offenen Tor, das den Stadtteil Pest repräsentiert. Im unteren Feld steht eine goldene Burg mit drei Türmen und zwei offenen Toren, welche für den Stadtteil Buda steht. Schildhalter ist heraldisch rechts ein goldener Löwe, links ein goldener Greif. Auf dem Schild ruht die Stephanskrone. Als Flagge von Budapest wurde 1873 die rot, gelb, blaue Flagge von Pest gewählt. Im August 2011 beschloss die Stadtversammlung auf Veranlassung von Oberbürgermeister István Tarlós die Einführung einer neuen Stadtflagge. Die Farben der bisherigen waren zufällig, wenn auch in anderer Anordnung, ebenfalls die Farben von Rumänien, was angesichts des nicht eben einfachen Verhältnisses zum Nachbarland als anstößig empfunden wurde. Die neue Flagge zeigt auf einem weißen Grund das Wappen von Budapest. Im oberen und unteren Ende sind jeweils Dreiecke in den Farben rot und grün angeordnet. Städtepartnerschaften. Budapest unterhält mit folgenden Städten Partnerschaften: Verwaltung. Stadtteile. Die Stadt besteht aus drei ehemals selbstständigen Städten, die erst 1873 zur Gemeinde Budapest vereint wurden. Auf der östlichen, flachen Seite der Donau liegt Pest, das zwei Drittel der Stadtfläche einnimmt, auf der westlichen, bergigen Seite Buda (dt. "Ofen") und Óbuda (dt. "Alt-Ofen") das restliche Drittel der Stadt. Bezirke. Budapest ist verwaltungsrechtlich in 23 Bezirke eingeteilt. Am 1. Januar 1950 wurde die Stadt in 22 Bezirke geteilt, der 23. (XXIII.) wurde später aus dem 20. (XX.) ausgegliedert. Ausgehend vom ersten Bezirk um das Burgviertel (Várnegyed) werden die Bezirke im Uhrzeigersinn mit römischen Zahlen durchnummeriert, wobei mehrmals die Donau übersprungen wird. Bezirke in grün liegen in Pest, Bezirke in rot in Buda, die in gelb auf der Insel Csepel. Die Margareteninsel gehörte bis 2013 zum 13. (XIII.) Bezirk, wird aber seither direkt von der Stadt verwaltet. Sehenswürdigkeiten und Kultur. Bauwerke, Straßen und Statuen. Viele nennenswerte Bauwerke der Stadt stehen am Ufer der Donau. Auf der westlichen, Budaer Seite erhebt sich der felsige Gellértberg mit der Freiheitsstatue und der Zitadelle. Am Fuß des Berges befindet sich das Hotel Gellért mit seinem berühmten Thermalbad sowie weiter flussabwärts der Hauptbau der Technischen und Wirtschaftswissenschaftlichen Universität. Nördlich des Gellértberges liegt der Burgberg mit dem ehemaligen königlichen Schloss, dem Burgpalast. Der Palast beherbergt die Nationalbibliothek, die Nationalgalerie sowie das Historische Museum. Neben der Burg hat im klassizistischen Palais Sándor der ungarische Staatspräsident seinen Sitz. Am Fuße des Burgbergs liegt der Burggarten-Basar als Abschluss der Burganlage zur Donau hin. Im nördlichen Teil des Burgbergs erhebt sich die Matthiaskirche und, ihr zur Donau hin vorgelagert, die Fischerbastei. Das Budaer Burgviertel und das Donauufer stehen seit 1987 auf der Liste des UNESCO-Weltkulturerbes. Unter dem Burgviertel verläuft ein teils öffentlich zugängliches Labyrinthsystem. Am östlichen Donauufer, auf der flachen Pester Seite, erheben sich das Parlamentsgebäude, die Akademie der Wissenschaften, eine Reihe großer Hotels am sogenannten Donaukorso, das Konzerthaus Pesti Vigadó, die Corvinus-Wirtschaftsuniversität Budapest und weiter südlich das Nationaltheater sowie der Kunstpalast. Die Donau ist die eigentliche Hauptattraktion Budapests und wird im Stadtgebiet von neun stadtbildprägenden Brücken überspannt. Die bedeutendste, weil älteste und zugleich Wahrzeichen der Stadt, ist die Kettenbrücke. Von hier aus führt auf Pester Seite der kleine Ring (Kiskörút) zur Freiheitsbrücke, vorbei an der Großen Synagoge, dem Nationalmuseum und der Großen Markthalle. Die in der Dohány utca gelegene Synagoge markiert den Zugang zum historischen jüdischen Viertel Budapests, gelegen zwischen Kleinem und Großem Ring (Nagykörút). Der Kleine Ring folgt in etwa dem Verlauf der früheren Pester Stadtmauer, deren letzte Stadttore Ende des 18. Jahrhunderts abgebrochen wurden. Reste der Stadtmauer stehen allerdings noch. Zwischen dem Kleinen Ring und der Donau liegt die eigentliche Innenstadt Budapests. Parallel zum Fluss verläuft mit der Váci utca die älteste Handelsstraße und heute bekannteste Flaniermeile der Stadt. Sie verbindet die Große Markthalle mit dem Vörösmarty tér. Nördlich der Innenstadt, aber noch im zentralen V. Bezirk gelegen, erhebt sich der höchste Kirchenbau Budapests, die St.-Stephans-Basilika. Der Große Ring wurde zwischen 1872 und 1906 errichtet. Er führt von der Petőfibrücke zur Margaretenbrücke und ist eines der bedeutendsten Architekturensembles seiner Zeit in Europa. Der hier gelegene Westbahnhof "(Nyugati pályaudvar)" ist gemeinsam mit dem Ostbahnhof "(Keleti pályaudvar)" Zeugnis prächtiger Bahnhofsarchitektur. Am Großen Ring, dessen Abschnitte die Namen des Heiligen Stefan sowie der angrenzenden Bezirke Teréz-, Erzsébet-, József- und Ferencváros tragen, stehen mehrere Theaterbauten (bis zu seiner Sprengung 1965 stand hier, am Blaha-Lujza-Platz, auch das Nationaltheater) und viele Filmtheater, von denen einige Ende der 1990er Jahre schließen mussten, da am Westbahnhof und anderen Stellen der Stadt die Multiplexkinos mehr Zuschauer anlocken konnten. Der Ring wird beim achteckigen Oktogon-Platz von der Andrássy út gekreuzt, die den Stadtkern mit dem Stadtwäldchen verbindet. Die Andrássy út ist eines der herausragendsten städtebaulichen Vorhaben der ungarischen Hauptstadt. In nur 14 Jahren, von 1871 bis 1885, wurde eine 2,3 Kilometer lange Allee errichtet, die von üppig ausgestatteten, sechsgeschossigen Miethäusern im Historismus, der Ungarischen Staatsoper, dem Haus des Terrors und mehreren Plätzen gesäumt wird. Sie führt auf den Heldenplatz zu, der seinerseits von der Kunsthalle und dem Museum der Schönen Künste eingefasst wird. Auf diesem Platz steht das Millenniumsdenkmal, das 1896 anlässlich des Jubiläums der ungarischen Landnahme errichtet wurde. Südlich des Heldenplatzes liegt der langgestreckte "Platz der 56-er", auf dem das Mahnmal des Aufstandes von 1956 steht. Ein aus verschieden hohen Stahlstelen sich verengender Keil schiebt sich scheinbar vom Stadtwäldchen kommend unter den Belag des Platzes genau an der Stelle, wo 1956 ein Standbild Stalins gestürzt wurde und über Jahrzehnte die Aufmärsche zum 1. Mai stattfanden. 50 Jahre nach dem Aufstand von 1956 wurde das Mahnmal am 23. Oktober 2006 um 19:56 Uhr enthüllt. Seit 2002 gehört auch die Andrássy út zum Weltkulturerbe. Unter ihr verkehrt die erste Budapester U-Bahnlinie, sie ist eine der ersten elektrischen U-Bahnen der Welt und nach der London Underground eine der ältesten weltweit. Weiter östlich stadtauswärts, direkt hinter dem Heldenplatz, liegen im Stadtwäldchen die Burg Vajdahunyad, die zur Budapester Millenniumsausstellung 1896 errichtet wurde, der Zoo, der Zirkus, die Eiskunstlaufbahn sowie das Széchenyi-Heilbad. Zusammen mit dem Gellért-Bad zählt es zu den bekanntesten der Budapester Thermalbäder. Die Gül-Baba-Türbe befindet sich auf dem Rosenhügel in Buda, Mecset út 14 (). Die Türbe hat eine achteckige Form und wurde um 1545 errichtet. Gül Baba (* Ende des 15. Jahrhunderts in Merzifon, Provinz Amasya; † 1. September 1541) war ein türkischer Bektaschi-Derwisch und Dichter des 16. Jahrhunderts. Außerhalb des Stadtzentrums, am westlichen Donauufer gelegen, sind im Aquincum Museum Reste der römischen Siedlung Aquincum zu sehen. Aus jüngerer Zeit gibt es hier den Memento Park mit Denkmälern und Statuen aus der Periode des Sozialistischen Realismus. Am Ostufer befindet sich das Mahnmal "Schuhe am Donauufer", das an die Pogrome an Juden im Zweiten Weltkrieg erinnert. Theater und Konzertgebäude. Das bedeutendste Theater ist das Ungarische Nationaltheater (Nemzeti Színház), kurz Nemzeti genannt, das sich seit 2002 im Bajor-Gizi-Park befindet. Die bekannte Bühne des Landes musste oft ihren Sitz wechseln. 1837 bis 1908 stand das erste, schlichte Gebäude in der damaligen Kerepesi út, heute Rákóczi út, gegenüber dem Hotel Astoria. Der ursprüngliche Name war Pesti Magyar Színház (Pester Ungarisches Theater). Seit 1840 heißt das Theater Nemzeti Színház. Am Hevesi-Sándor-Tér befindet sich das Magyar Színház (Ungarisches Theater). Für ein junges Publikum sind die Vorstellungen des Katona József Theaters in der Petőfi Sándor-utca (hier arbeitet oft der ungarische Bühnenregisseur Tamás Ascher) und die des Új-Theaters (Neues Theater) gedacht. Eine alternative Bühne für ungewöhnliche Theaterprojekte ist das Krétakör Theater des ungarischen Regisseurs Árpád Schilling. Musical- und Operettenfreunde besuchen gern das Operettszínház am "ungarischen Broadway" in der Nagymező utca. Eine traditionsreiche Bühne ist das Vígszínház ("Lustspieltheater") am Körút auf der Pester Seite. Opernfreunde schätzen die eher traditionell inszenierten Vorstellungen der Ungarischen Staatsoper Magyar Állami Operaház, deren Haus in der Andrássy-út viele Ähnlichkeiten mit der Wiener Staatsoper aufweist. Für Kinder sind die Vorstellungen des Puppentheaters Bábszínház, ebenfalls in der Andrássy-út, interessant. Das bekannteste Konzerthaus ist der Jugendstil-Festsaal der Musikakademie am Liszt-Ferenc-Platz. Den modernsten akustischen Forderungen entspricht die moderne Bartók-Béla-Konzerthalle, die sich in der Nähe des Nationaltheaters befindet. Auch in den Räumen des Kongresszentrums Budapest finden Konzerte statt. Museen. Die größte Kunstsammlung, das Museum der Bildenden Künste Budapests, befindet sich am Heldenplatz. Sie umfasst eine antike Sammlung, eine Galerie Alter Meister, eine ägyptische Sammlung, eine Sammlung aus dem 19.–20. Jahrhundert, eine Barockskulpturensammlung, eine Sammlung deutscher, österreichischer, niederländischer und flämischer Malerei. Außer den permanenten Ausstellungen werden regelmäßig temporäre Ausstellungen von internationaler Bedeutung durchgeführt, wie die Ausstellung zu Vincent van Goghs Werken Ende 2006, die einen gewaltigen Besucheransturm zu verzeichnen hatte. Gegenüber dem Museum steht die Kunsthalle Budapest für moderne Kunstprojekte. Die ungarische Malerei wird in der Nationalgalerie im Burgpalast ausgestellt. Das Budapester Ludwig-Museum ist seit 2005 im Palast der Künste in der Nähe des neuen Nationaltheaters beheimatet. An der Üllői út findet sich das Jugendstilgebäude des Ungarischen Museums für Kunstgewerbe und am Kossuth-Lajos-Platz das Ethnographische Museum. Seit 2004 befindet sich in der Páva-Synagoge und dem anschließenden Neubau von István Mányi das Holocaust-Dokumentationszentrum. Neben mehr als 30 Museen verfügt das kulturelle Zentrum Ungarns über viele kleine Galerien, von denen die meisten in der Innenstadt oder im Burgviertel zu finden sind, sowie das Polizeimuseum. Kulturelle Ereignisse. Alljährlich finden in Budapest zwei große Kulturfestivals statt, in deren Rahmen vor allem Programme für die Liebhaber klassischer Musik angeboten werden: das Budapester Frühlingsfestival und das Budapester Herbstfestival. Für Filmfreunde gibt es im Februar die Ungarische Filmschau und im April das Internationale Filmfestival Titanic, außerdem ein internationales Theaterfestival. Im August findet das Inselfestival Sziget mit vielen Konzerten für vor allem jugendliche Besucher statt. Ein neues Kulturzentrum auf der Budaer Seite ist der Millenáris-Park, der im Jahre 2000 anlässlich der Millenniumsfeierlichkeiten zur Staatsgründung auf einem alten Fabrikgelände errichtet wurde. Hier finden im Sommer Konzerte, Ausstellungen und andere kulturelle Ereignisse statt. Der Kinderspielplatz hat handgeschnitzte, einem Volksmärchen entnommene Figuren. Seit Oktober 2005 hat auch das ungarische Kindermuseum "Palast der Wunder" hier ein neues Zuhause. Sonstige Freizeitbeschäftigungen. Die bergige Umgebung Budapests bietet viele Ausflugsmöglichkeiten wie die malerische Kleinstadt Szentendre nördlich von Budapest und das Schloss in Gödöllő, der Lieblingsort von Königin und Kaiserin Sisi. Das Donauknie erstreckt sich bis Esztergom. Südlich der Stadt, auf der Csepel-Insel bei Halásztelek erhebt sich der Sendemast Lakihegy. In den Budaer Bergen, deren höchste Erhebung mit 527 Metern der Jánosberg ist, verkehrt die Kindereisenbahn. An der Endhaltestelle der Kindereisenbahn endet der Internationale Bergwanderweg Eisenach-Budapest. In der mit Parks unterversorgten Stadt nimmt die Margareteninsel als Erholungsgebiet eine zentrale Rolle ein. Sport. Fußball. In Budapest gibt es zahlreiche Fußballvereine. Der bekannteste Verein aus Budapest ist Ferencváros Budapest. Daneben spielen noch Újpest Budapest, Honvéd Budapest und Vasas Budapest in der höchsten ungarischen Liga (Nemzeti Bajnokság). Der national zweiterfolgreichste Verein MTK Budapest musste in der Saison 2010/11 absteigen, konnte jedoch den direkten Wiederaufstieg fixieren und ist derzeit wieder in der höchsten Spielklasse anzutreffen. Boxen. Budapest hat einen traditionell hohen Stellenwert im Boxsport. Von 1923 bis 2003 wurden die Ungarischen Meisterschaften fast ausschließlich in Budapest ausgetragen, seit 2003 vermehrt auch in anderen Städten. Zudem war die Stadt Austragungsort der 9. Weltmeisterschaften von 1997, der 11. Junioren-Weltmeisterschaften 2000, sowie der Europameisterschaften der Jahre 1930, 1934 und 1985. Sie ist neben Berlin die einzige Stadt Europas, die bereits dreimal Europameisterschaften veranstaltete. Der aus Budapest stammende László Papp gilt zudem als einer der international erfolgreichsten Amateurboxer aller Zeiten und war der erste Boxer, der bei drei aufeinanderfolgenden Olympischen Spielen Goldmedaillen gewann. Im Profiboxen fand in Budapest am 11. September 2004 der Weltmeisterschaftskampf der WBO im Halbschwergewicht zwischen Zsolt Erdei und Alejandro Lakatos statt. Einen weiteren WBO-WM-Kampf in Budapest bestritt Erdei am 16. Juni 2007 gegen George Blades. Ein weiteres WM-Ereignis gab es am 22. August 2009, als Károly Balzsay seinen WBO-Titel gegen Robert Stieglitz verteidigte. Marathon. Seit 1984 finden jährlich der Budapest-Marathon und der Budapest-Halbmarathon statt, an denen jeweils mehrere Tausend Läufer teilnehmen. Eishockey. Die Eishockeyvereine Újpesti TE und Ferencvárosi TC nehmen seit 2008 und der Verein MAC Budapest seit 2015 an der Erste Liga teil. Wirtschaft und Infrastruktur. Ansässige Unternehmen. Eine Vielzahl von Unternehmen hat in Budapest ihren Sitz, wie beispielsweise Staatsdruckerei OAG Ungarn, Magyar Telekom, Zwack, Orion Electronics, MOL und Ikarus. Einzelhandel. Die wichtigsten Einkaufsstraßen von Budapest befinden sich im V. Bezirk (Innenstadt). Die bekannteste von ihnen ist die Váci utca, in der fast alle großen Modelabels der Welt vertreten sind. Am Vörösmarty-Platz wird jedes Jahr ein Weihnachtsmarkt veranstaltet, der dem am Wiener Rathausplatz ähnlich ist (hier fungieren die Fenster des Gerbeaud-Kaffeehauses als Adventskalender). Seit das Warenhaus "Luxus" am Vörösmarty-Platz 2005 in Konkurs ging, gibt es kaum noch traditionelle Warenhäuser. Bekannt war auch die Warenhauskette Skála, die in den 1970er Jahren als verhältnismäßig gut sortiert bezeichnet werden konnte. An der Stelle des ersten Skála-Kaufhauses im XI. Bezirk wurde 2006 ein modernes Einkaufszentrum errichtet. Inner- und außerhalb der Stadt werden große Einkaufszentren nach amerikanischem Muster ("Plazas") errichtet, die den Konsumenten außer langen Öffnungszeiten eine Auswahl an Dienstleistungen aller Art und Gastronomie bieten. Weiterhin sind große Hypermärkte inner- und außerhalb der Stadt sehr beliebt. Südlich von Budapest (in Budaörs) gibt es seit einigen Jahren nach dem Vorbild der Shopping City Süd bei Vösendorf (Österreich) eine Art "Shopping City". 2007 wurde die "Arena Plaza" gegenüber dem Keleti pályaudvar (Ostbahnhof) fertiggestellt. Gegen die starke Amerikanisierung gibt es Bürgerbewegungen, die den Kauf ungarischer Produkte propagieren und die Verbreitung der übergroßen Einkaufszentren ablehnen. In den Budapester Innenbezirken und in den Einkaufszentren ist an Wochen- und Samstagen bis maximal 21 Uhr und an Sonntagen bis 18 Uhr geöffnet. Es gibt auch eine Reihe von Supermärkten, die 24 Stunden täglich geöffnet und nur an den großen gesetzlichen Feiertagen geschlossen sind. Bäder. Die Geschichte der Budapester Bäder kann auf eine Vergangenheit von 2000 Jahren zurückblicken. Bereits die Römer nutzten die Quellen der Stadt. Aus dem Jahr 1178 gibt es Hinweise auf eine Siedlung Felhéviz auf dem Gebiet vom heutigen Óbuda – der Name bedeutet Heilquelle. Am Gellértberg wird die Elisabeth-Quelle erwähnt (die heilige Elisabeth war die Tochter von König Andreas). Die Herrschaft der Osmanen brachte unter anderem eine andere Badekultur in die Stadt, die Baudenkmäler dieser Zeit sind bis heute in Gebrauch. Im 18. Jahrhundert, nach einem Erlass von Maria Theresia begann man sich mit der Analyse der Heilquellen der Stadt auseinanderzusetzen. Im Jahr 1812 begann man auf Vorschlag von Pál Kitaibel damit, die Quellen zu systematisieren, er schrieb auch eine Hydrografie der Stadt. Im Jahr 1930 wurde Budapest als Stadt mit den meisten heilenden Quellen der Titel Badestadt verliehen. Die wichtigsten Heil- und Freibäder sind: Csepeli (Freibad), Csillaghegyi (Freibad), Dagály (Heil- und Freibad), Dandár (Heilbad), Gellért (Heil-, Frei- und Erlebnisbad), Király (Heilbad, türkisches Bad), Lukács (Heilbad, Schwimmbad, türkisches Bad), Palatinus (Heil- und Freibad, Jugendstilbau auf der Margaretheninsel), Paskál (Freibad), Pesterzsébeti (Freibad), Pünkösdfürdői (Freibad), Római (Frei- und Erlebnisbad), Rudas (Heilbad, türkisches Bad), Széchenyi (Heilbad, Schwimmbad), Újpesti (Freibad), Veli Bej (Heilbad, türkisches Bad). Einige der Bäder haben eine Subkultur: Kundige Besucher spielen im Széchenyi-Bad im warmen Wasser stundenlang Schach, das Lukács-Bad ist traditionell ein Treffpunkt von Schauspielern und Künstlern. Das Palatinus, Pala genannt, ist ein traditionelles Bad für Jugendliche. Es gibt auch viele Schwimmbäder in Budapest, am bekanntesten ist das Császár in Buda und das Sportschwimmbad auf der Margaretheninsel, das nach Olympiasieger Alfréd Hajós benannt ist. 2008 hat einer der größten überdachten Wasserthemenparks Europas eröffnet, das Ramada Resort. Gastronomie. Ähnlich wie in Wien blühte im 19. Jahrhundert und um die Jahrhundertwende in Budapest eine rege Kaffeehauskultur. Eines der literarischen Zentren war das mehr als einhundert Jahre alte "kávéház" Café New York, das im Sommer 2006 nach einer umfangreichen Renovierung wiedereröffnet wurde; in der Zeit des Kommunismus existierte es unter dem Namen Hungária Kávéház. Ein Schauplatz der Revolution im Jahre 1848 war das Pilvax-Kaffeehaus, in dem sich die Anhänger von Sándor Petőfi versammelten. Die Kaffeehäuser dienten auch als Arbeitsplatz für Schriftsteller, Dichter, Journalisten – Ferenc Molnár war beispielsweise ein häufiger Besucher dieser Kaffeehäuser. Diese wurden in der Zeit des Kommunismus verstaatlicht und umfunktioniert, viele verschwanden oder wurden vernachlässigt. Zu diesen Zeiten waren die verrauchten kleinen Presszó-s (Espressos) die einzigen Lokale, in denen man einen Fekete, einen kleinen schwarzen, stark gekochten ungarischen Kaffee genießen konnte. Das Café Centrál am Ferenciek tere wurde im Jahr 2000 wieder eröffnet und glänzt in alter Pracht. Im Café Museum am Múzeum körút ist heute (2019) ein Nobelrestaurant. Als vornehmstes und schönstes Kaffeehaus gilt das Café Gerbeaud am Vörösmarty tér. Die zwei ältesten Konditoreien in Buda sind die Konditorei Ruszwurm im Burgviertel und die Konditorei August neben dem Budaer Fény-utca-Markt. Erwähnenswert ist auch das Café New York, welches auch als das schönste der Welt bezeichnet wird. Eine Besonderheit in Budapest ist die große Anzahl der sogenannten Ruinen-Kneipen. Eine der ersten war das "Szimpla kert" im ehemaligen Jüdischen Viertel, dem VII. Bezirk von Budapest. Wintersalami aus Budapest hat den Status geschützte geografische Angabe (g.g.A.) erhalten. Verkehr. Donaubrücken. Budapest ist trotz der enormen Breite des Stroms (etwa 300 m) mit zahlreichen Brücken ausgestattet. Von Nord nach Süd geordnet: Straßenverkehr. Obwohl der Anteil des Individualverkehrs am gesamten Verkehrsaufkommen der Stadt eher gering ist, kommt es täglich zu Staus in und um die ungarische Hauptstadt. Mehr als 600.000 zugelassene PKW nutzen das Budapester Straßennetz mit einer Länge von über 4.000 Kilometern. Die Innenstadtbezirke und Teile von Buda sind Kurzparkzonen. Verschärft wird die Situation durch einen eklatanten Mangel an Parkhäusern. Das historische Straßennetz Budapests ist durch Ring- und Radialstraßen gekennzeichnet. Zwischen diesen breiten Straßen liegen eher schmale, heute nur noch für den Einbahnstraßenverkehr geeignete Verkehrswege. Die meisten Autostraßen Ungarns führen über Budapest. Das Straßennetz muss somit neben dem Stadt- auch den Durchgangsverkehr aufnehmen. Die Donaubrücken sind dem Verkehrsaufkommen nicht mehr gewachsen. Zudem verfügt die Stadt über nur wenige und zu schmale Zubringerstraßen. Der wesentliche Teil des Autobahnringes, die M0, um die Stadt ist inzwischen inklusive der Megyeri-Brücke, einer neuen großen Autobahnbrücke, im Norden der Stadt fertiggestellt worden. Die vollständige Schließung des Ringes im Nord-Westen der Stadt wird zwar vorangetrieben, wird aber durch die schwierigeren geographischen Bedingungen (Buda-Berge) noch länger auf sich warten lassen. Vorrangig ist die Erweiterung des südwestlichen Stückes zwischen der M1 und der M5, welches völlig überlastet ist. Da der Automobilverkehr einen Beitrag zur Luftverschmutzung des im Winter mit Smog verhangenen Budapest leistet, gibt es seit 2009 ein Gesetz, nachdem das Autofahren an bestimmten Tagen verboten werden kann. Bei deutlich zu hohen Feinstaubwerten ist das Fahren an ungeraden Tagen nur für Autos mit einer ungeraden Endziffer auf dem Kennzeichen erlaubt, an geraden Tagen entsprechend nur für Autos mit gerader Endziffer. Die Polizei kann Verstöße nicht mit Bußgeldern ahnden, sondern nur an die Autofahrer appellieren. Im Januar 2009 trat ein solches Fahrverbot erstmals in Kraft. Der Automobilverkehr reduzierte sich um rund 18 Prozent. Fahrradverkehr. Der Anteil der Radfahrer am Gesamtverkehr ist in Budapest mit etwa ein bis zwei Prozent relativ gering. Im gesamten Stadtgebiet gibt es weniger als 200 Kilometer an Radwegen (weniger als ein Fünftel dessen, was im etwa gleich großen Wien besteht), wovon zwei Drittel nur aus einer auf den Gehsteig gepinselten Linie bestehen. Zweimal im Jahr demonstrieren in Budapest Radfahrer im Rahmen einer Critical Mass für bessere Bedingungen für Radfahrer. Mit bis zu 80.000 Teilnehmern ist sie weltweit die größte Veranstaltung dieser Art. Schienenverkehr. Budapest ist ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt im Schienenverkehr und liegt am südlichen Endpunkt der Magistrale für Europa. Hierbei handelt es sich um ein wichtiges transeuropäisches Projekt, mit dem zwischen Paris und Budapest eine Eisenbahn-Hochgeschwindigkeitsstrecke realisiert werden soll. Anstatt eines zentralen Hauptbahnhofs besitzt Budapest drei Kopfbahnhöfe, die durch die Metró miteinander verbunden sind. Die Bezeichnungen dieser Bahnhöfe spiegeln dabei die jeweiligen Hauptfahrtrichtungen zur Zeit der Eröffnungen wider und entsprechen nicht mehr den heutigen Gegebenheiten. Daneben gibt es weitere, kleinere Personen- und Güterbahnhöfe. Wichtigster Bahnhof ist der östlich der Innenstadt im Stadtteil Pest gelegene Ostbahnhof "Keleti pályaudvar". Von hier verkehren die meisten internationalen Fernzüge. Daneben bestehen von hier aus auch viele nationale Verbindungen. Zudem ist dieser Bahnhof über Verbindungs- und Ringstrecken von allen Budapest erreichenden Bahnlinien direkt erreichbar. Nördlich des Ostbahnhofs, ebenfalls auf der Pester Seite, befindet sich der Westbahnhof "Nyugati pályaudvar", dessen Bahnbetriebswerk als Bahnhistorischer Park Budapest Europas größtes interaktives Eisenbahnmuseum ist. Von hier bestehen Verbindungen in den Osten des Landes und in Richtung Ukraine. Auf der Budaer Seite befindet sich der Südbahnhof "Déli pályaudvar", von dem aus Züge in den Südwesten des Landes, beispielsweise zum Plattensee, verkehren. Nahverkehr. 3,8 Millionen Fahrgäste bewegen sich täglich auf dem insgesamt über 2.000 Kilometer langen Streckennetz des Öffentlichen Nahverkehrs in Budapest. Das Budapester Verkehrsunternehmen (BKV) unterhält Metró- (U-Bahn-), Straßenbahn-, Bus-, Oberleitungsbus- und HÉV-Linien (S-Bahn-ähnliches Angebot). Im Budapester ÖPNV gilt der Verbundtarif des BKK ("Budapesti Közlekedési Központ", Zentrum für Budapester Verkehr). EU-Bürger ab 65 Jahren können Verkehrsmittel in Budapest mit Altersnachweis kostenlos benutzen. Dies gilt auch für Staatsbürger der Schweiz. Neben der 1896 fertiggestellten U-Bahn "Földalatti vasút" (älteste U-Bahn auf dem europäischen Kontinent), die als Linie 1, Millenniums-U-Bahn oder gelbe Metrólinie bezeichnet wird und zwischen Vörösmarty tér und Mexikói út Fahrgäste befördert, verkehren drei weitere Metrólinien, die rote Linie M2 zwischen Déli pályaudvar und Örs vezér tere sowie die blaue Linie M3 zwischen Újpest und Kőbánya Kispest. Die grüne Linie M4 zwischen Kelenföld vasútállomás und Keleti pályaudvar ist seit 28. März 2014 in Betrieb, eine fünfte ist geplant. Zurzeit werden 22 Prozent aller Wege mit der Metró zurückgelegt. 41 Prozent aller Fahrtwege sind Busfahrten, weitere 26 Prozent Straßenbahn- "(villamos)" und fast 5 Prozent O-Bus-Fahrten. Demnach werden fast drei Viertel aller Wege mit straßengebundenen Verkehrsmitteln bewältigt. Auf die fünf Linien der HÉV, einer Art S-Bahn in die Budapester Vororte, entfallen 6 Prozent. Die Straßenbahnlinien 4 und 6, die mit Ausnahme des einen Streckenendes im Süden von Buda dieselbe Strecke ringförmig um die Altstadt von Pest herum befahren, gehören zu den meistbenutzten Straßenbahnlinien. Sie wurden im Frühjahr 2006 erneuert und seitdem mit den zeitweise längsten Straßenbahnwagen der Welt (den Niederflurwagen Combino Plus von Siemens) bedient. Die seit 2016 auf der Linie 1 eingesetzten neunteiligen CAF Urbos 3 sind mit 56 Metern Länge neuer Rekordhalter. Weitere Verkehrsmittel sind noch die Seilbahn zum János-hegy, die Kindereisenbahn, die Zahnradbahn zum Svábhegy und die Standseilbahn zum Burgberg. Luftverkehr. Der internationale Flughafen Budapest Liszt Ferenc (bis März 2011 Ferihegy) liegt etwa 15 Kilometer außerhalb des Stadtzentrums. Mit dem Einstieg mehrerer Billigfluggesellschaften in den ungarischen Markt steigen die Passagierzahlen seit 2004 stark an. Der Flughafen ist mit einem Zubringerbus "(reptér-busz)" oder über eine Schnellstraße erreichbar. Seit 2007 existiert auch eine Zugverbindung von Ferihegy Terminal 1 zum Westbahnhof (Nyugati pályaudvar). Allerdings ist Terminal 1 stillgelegt, so dass man mit dem Bus zu den anderen Terminals fahren muss. Eine Schnellbahn- oder Metróverbindung von den Terminals 2A und 2B und vom geplanten 2C ins Zentrum ist vorgesehen. Schiffsverkehr. Der Schiffsverkehr hat zunehmende Bedeutung. Neben von einheimischen Reedereien veranstalteten Ausflugsfahrten gibt es Linienfahrten mit Tragflügelbooten nach Bratislava und Wien. Außerdem betreibt auch die BKV Zrt. zwei Fähren und eine Schiffslinie, die alle ein bis zwei Stunden verkehren. Flusskreuzfahrtschiffe, flussabwärts etwa aus Passau sowie flussaufwärts vom Schwarzen Meer bringen jährlich hunderttausende Touristen an die Anlegestellen. So wurden in der Sommersaison 2010 täglich insgesamt bis zu 100 verschiedene Fahrgast-Schiffe an den Ufern der Stadt gezählt. Der Freihafen für den Güterumschlag umfasst drei Hafenbecken sowie Containerterminals und Lagerhallen, wo auch RoRo-Schiffe beladen werden können. Er bedeckt eine Fläche von über 150 ha. Bildung. Studium in Budapest. Die erste ungarische Universität wurde 1635 von Kardinal Péter Pázmány, als Jesuitenkolleg in Tyrnau (damals zum Königreich Ungarn gehörig) gegründet. Anfänglich gab es lediglich eine geisteswissenschaftliche und eine theologische Fakultät. Einen grundlegenden Schritt in der Entwicklung der Universität stellte die Gründung der Fakultät der Rechtswissenschaften 1667 dar. Nach der Gründung der Medizinischen Fakultät 1769 glich die Struktur der Universität derjenigen anderer europäischer Hochschulen. Am 1. Februar 1777 unterzeichnete Königin Maria Theresia die Erlaubnis, die Universität nach Buda zu verlegen. Innerhalb der Geisteswissenschaftlichen Fakultät wurde 1782 das Institut für Ingenieurwesen gegründet, das aber 1857 von der Polytechnischen Universität übernommen und schließlich 1871 Teil der Technischen Universität wurde. Heute finden sich in Budapest zahlreiche erfolgreiche Universitäten und Hochschulen wie z. B.: Corvinus-Universität Budapest, Central European University, Technische und Wirtschaftswissenschaftliche Universität Budapest, Loránd-Eötvös-Universität, Franz-Liszt-Musikakademie, Ungarische Akademie der Bildenden Künste, Semmelweis-Universität, Wirtschaftshochschule Budapest, die deutschsprachige Andrássy Universität Budapest, die ausschließlich Studienprogramme auf Deutsch anbietet, sowie zahlreiche weitere nichtstaatliche Institutionen und die Ungarische Akademie der Wissenschaften.
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Blut
Blut ( Sanguis; ) ist eine Körperflüssigkeit, die mit Unterstützung des Herz-Kreislauf-Systems die Funktionalität der verschiedenen Körpergewebe über vielfältige Transport- und Verknüpfungsfunktionen sicherstellt. Blut wird als „flüssiges Gewebe“, gelegentlich auch als „flüssiges Organ“ bezeichnet. Blut besteht aus speziellen Zellen sowie dem proteinreichen Blutplasma, das im Herz-Kreislauf-System als Träger dieser Zellen fungiert. Blut wird vornehmlich durch mechanische Tätigkeit des Herzens in einem Kreislaufsystem, dem Blutkreislauf, durch die Blutgefäße des Körpers gepumpt. Unterstützend wirken Venenklappen in Kombination mit Muskelarbeit. Dabei werden die Gefäße, die vom Herzen wegführen, als Arterien und jene, die zurück zum Herzen führen, als Venen bezeichnet. Das Gefäßsystem des erwachsenen menschlichen Körpers enthält etwa 70 bis 80 ml Blut pro kg Körpergewicht, dies entspricht ca. 5 bis 6 l Blut. Durchschnittlich haben Männer etwa 1 l mehr Blut als Frauen, was vor allem auf Größen- und Gewichtsunterschiede zurückzuführen ist. Aufgrund der Gemeinsamkeiten in der Funktion ist Blut bei allen Wirbeltieren ähnlich. Auf bestehende Unterschiede zwischen menschlichem und tierischem Blut wird im Artikel hingewiesen. Zu Unterschieden in Aufbau und Funktion der Zellbestandteile des Blutes sei auf die betreffenden Artikel verwiesen. Der Verlust von Blut wird als Bluten (von mittelhochdeutsch "bluoten") oder Blutung bezeichnet. Etymologie. Das gemeingermanische Wort „Blut“ (von mittelhochdeutsch und althochdeutsch "bluot") gehört wahrscheinlich im Sinne von „Fließendes“ zu indogermanisch "bhlê-" „quellen“, und "bhel-" „schwellen, knospen, blühen“ (vergleiche englisch "blow"). Nach alter Tradition gilt Blut als der Sitz des Lebens, daher entstanden Zusammensetzungen wie "Blutrache", "Blutschuld". Evolution. Jede Zelle ist für den Erhalt ihres Stoffwechsels auf den stofflichen Austausch mit ihrer Umgebung angewiesen. Da mit der Entwicklung komplexerer Vielzeller nicht mehr jede Zelle mit der Körperoberfläche in direktem Kontakt steht und die Diffusion ein sehr langsamer Vorgang ist, dessen Zeitbedarf sich proportional zum Quadrat der Entfernung verhält, wird mit zunehmender Größe des Lebewesens ein Transportmedium für diese Austauschprozesse notwendig. Diese Flüssigkeit bringt die Stoffe also in die Nähe der Zielzellen und verkürzt damit die notwendige Diffusionsstrecke. Bei den Tieren mit offenem Blutkreislauf (z. B. Gliederfüßern oder Weichtiere) sind Blut- und interstitielle Flüssigkeit (Flüssigkeit im Gewebszwischenraum) nicht voneinander getrennt. Die hier zirkulierende Flüssigkeit wird als Hämolymphe bezeichnet. Den Nachteil des relativ langsamen Blutflusses in einem offenen Kreislauf kompensieren Insekten dadurch, dass die Hämolymphe nicht dem Sauerstofftransport dient, sondern dieser über Tracheen gewährleistet wird. Bei allen Tieren mit einem geschlossenen Blutkreislauf, unter anderem allen Wirbeltieren, wird die zirkulierende Flüssigkeit „Blut“ genannt. Zusammensetzung und Eigenschaften. Blut besteht aus zellulären Bestandteilen (Hämatokrit, ca. 44 %) und Plasma (ca. 55 %), einer wässrigen Lösung (90 % Wasser) aus Proteinen, Salzen und niedrig-molekularen Stoffen wie z. B. Monosacchariden (Einfachzuckern). Weitere Bestandteile des Blutes sind Hormone, gelöste Gase sowie Nährstoffe (Zucker, Lipide und Vitamine), die zu den Zellen, und Stoffwechsel- und Abfallprodukte (z. B. Harnstoff und Harnsäure), die von den Zellen zu ihren Ausscheidungsorten transportiert werden. Aus chemisch-physikalischer Sicht ist Blut eine Suspension, also ein Gemisch aus der Flüssigkeit Wasser und zellulären Bestandteilen. Es stellt eine nichtnewtonsche Flüssigkeit dar. Dies begründet seine besonderen Fließeigenschaften. Blut hat aufgrund der enthaltenen Erythrozyten (rote Blutzellen) eine gegenüber Plasma erhöhte Viskosität. Je höher der Hämatokritwert und je geringer die Strömungsgeschwindigkeit ist, desto höher ist die Viskosität. Aufgrund der Verformbarkeit der roten Blutkörperchen verhält sich Blut bei steigender Fließgeschwindigkeit nicht mehr wie eine Zellsuspension, sondern wie eine Emulsion. Der pH-Wert von menschlichem Blut liegt bei 7,4 und wird durch verschiedene Blutpuffer konstant gehalten. Fällt er unter einen bestimmten Grenzwert (ca. 7,35), so spricht man von einer Azidose (Übersäuerung), liegt er zu hoch (ca. 7,45), wird dies Alkalose genannt. Seit 1842 ist bekannt, dass Blut auch aus Blutplättchen besteht. Blut verdankt seine rote Farbe dem Hämoglobin, genauer gesagt seinem sauerstoffbindenden Anteil, der Hämgruppe. Deshalb zählt Hämoglobin zur Gruppe der Blutfarbstoffe. Mit Sauerstoff angereichertes Blut hat einen helleren und kräftigeren Farbton als sauerstoffarmes Blut, da die Hämgruppe nach der Aufnahme des Sauerstoffs eine Konformationsänderung vollzieht, in der sich die Position des Eisens in der Hämgruppe relativ zu seinen Bindungspartnern ändert. Dies hat eine Veränderung des Absorptionsspektrums des Lichts zur Folge. Mit Hilfe der Spektralanalyse des Bluts wies Felix Hoppe-Seyler 1865 die Kohlendioxydvergiftung nach. 1879 entwickelte der Neurologe Gowers ein Messgerät zur Bestimmung des Hämoglobingehaltes des Blutes. 1902 verbesserte Hermann Sahli diesen. Als chemische Komponente, die den typisch metallischen Geruch von Blut bei Säugetieren ausmacht und Raubtiere anzieht, wurde im Jahr 2014 der Aldehyd "trans-4,5-Epoxy-(E)-2-Decenal" identifiziert. Tritt durch eine Verletzung von Blutgefäßen Blut ins Gewebe über, zersetzt sich darin langsam das Hämoglobin zu den Gallenfarbstoffen; in zeitlicher Abfolge von mehreren Tagen wird ein „Blauer Fleck“ dabei grün und gelb. Auf Neuguinea leben Echsenarten, deren Blut eine so hohe Biliverdin-Konzentration aufweisen, dass sie äußerlich grün erscheinen. Die Körperfärbung bei einer Gelbsucht beim Menschen rührt von einem hohen Bilirubin-Spiegel her. Plasma. Die im Plasma enthaltenen Ionen sind vorwiegend Natrium-, Chlorid-, Kalium-, Magnesium-, Phosphat- und Calciumionen. Der Anteil der Proteine beträgt etwa 60 bis 80 g/l, entsprechend 8 % des Plasmavolumens. Sie werden nach ihrer Beweglichkeit bei der Elektrophorese in Albumine und Globuline unterschieden. Letztere werden wiederum in α1-, α2-, β- und γ-Globuline unterschieden. Die Plasmaproteine übernehmen Aufgaben des Stofftransports, der Immunabwehr, der Blutgerinnung, der Aufrechterhaltung des pH-Wertes und des osmotischen Druckes. Blutplasma ohne Gerinnungsfaktoren wird als Blutserum bezeichnet. Serum wird gewonnen, indem das Blut in einem Röhrchen nach vollständigem Gerinnen zentrifugiert wird. Im unteren Teil des Röhrchens findet sich dann der so genannte Blutkuchen, im oberen die als Serum bezeichnete, meist klare Flüssigkeit. Das Serum enthält auch Substanzen, die im Plasma nicht enthalten sind: insbesondere Wachstumsfaktoren wie PDGF, die während des Gerinnungsvorgangs freigesetzt werden. Serum besteht zu 91 % aus Wasser und 7 % Proteinen. Der Rest sind Elektrolyte, Nährstoffe und Hormone. Durch gelöstes Bilirubin ist es gelblich gefärbt. Zelluläre Bestandteile. Die im Blut enthaltenen Zellen werden unterschieden in Erythrozyten, die auch "rote Blutkörperchen" genannt werden, in Leukozyten, die als "weiße Blutkörperchen" bezeichnet werden, und in Thrombozyten oder "Blutplättchen". Blut hat bei Männern einen korpuskulären Anteil (Zellanteil) von 44 bis 46 %, bei Frauen von 41 bis 43 %. Da die hämoglobintragenden Erythrozyten den Hauptteil des korpuskulären Blutes ausmachen, wird dieses Verhältnis Hämatokrit genannt. Beim Neugeborenen beträgt der Hämatokrit ca. 60 %, bei Kleinkindern nur noch 30 %. Bis zur Pubertät steigt er dann auf die Werte für Erwachsene an. Genaugenommen bezeichnet der Hämatokrit also nur den Anteil an Erythrozyten. Die Leukozyten und Thrombozyten können nach dem Zentrifugieren der zellulären Bestandteile als feiner heller Flaum (buffy coat) über den ganz unten befindlichen Erythrozyten (Hämatokrit) und unter dem Plasmaanteil beobachtet werden, sie machen weniger als 1 % des Blutvolumens beim Gesunden aus. Die Erythrozyten oder roten Blutkörperchen dienen dem Transport von Sauerstoff und Kohlendioxid. Sie enthalten Hämoglobin, ein Protein, das für Sauerstoffbindung und -transport im Blut verantwortlich ist und aus dem eigentlichen Eiweiß "Globin" und der "Häm"-Gruppe, die mit Eisen einen Komplex bildet, besteht. Dieses Eisen verleiht dem Blut von Wirbeltieren seine rote Farbe ("Siehe auch": Blutfarbstoff). Bei anderen Tieren wie den Kopffüßern, Spinnentieren oder Krebsen erfüllt eine Kupferverbindung (Hämocyanin) diese Funktion. Deshalb ist deren Blut bläulich. Etwa 0,5 bis 1 % der roten Blutkörperchen sind Retikulozyten, das heißt, noch nicht vollständig ausgereifte Erythrozyten. Die Leukozyten oder weißen Blutkörperchen werden noch einmal in Eosinophile, Basophile und Neutrophile Granulozyten, Monozyten und Lymphozyten unterteilt. Die Granulozyten werden nach dem Färbeverhalten ihres Protoplasmas benannt und dienen, genau wie die Monozyten, der unspezifischen Immunabwehr, während die Lymphozyten an der spezifischen Immunabwehr teilnehmen. Thrombozyten dienen der Blutungsstillung und bilden damit die Grundlage der ersten Phase der Wundheilung. Die zahlenmäßige Zusammensetzung der Blutzellen kann zwischen den einzelnen Wirbeltierarten variieren. Besonders hohe Erythrozytenzahlen haben Ziegen (bis 14 Mio/µl), besonders niedrige das Geflügel (3–4 Mio/µl). Die Leukozytenzahlen haben ähnlich große Variationen: Rinder, Pferde und Menschen haben etwa 8.000/µl, während Schafe (bis zu 17.000/µl) und Vögel (bis 25.000/µl) besonders hohe Anteile an weißen Blutkörperchen haben. Auch der Anteil der einzelnen Untertypen der Leukozyten variiert beträchtlich. Während bei Menschen und Pferden die Granulozyten dominieren "(granulozytäres Blutbild)", sind es bei Rindern die Lymphozyten "(lymphozytäres Blutbild)"; bei Schweinen ist das Verhältnis von Granulo- zu Lymphozyten ausgeglichen "(granulo-lymphozytäres Blutbild)". Auf- und Abbau der Zellen des Blutes. Alle Zellen des Blutes werden in einem Hämatopoese genannten Vorgang im Knochenmark gebildet. Aus pluripotenten Stammzellen, aus denen jede Zelle reifen kann, werden multipotente Stammzellen, die auf verschiedene Zelllinien festgelegt sind. Aus diesen entwickeln sich dann die einzelnen zellulären Bestandteile des Blutes. Die Erythropoese bezeichnet als Unterscheidung zur Hämatopoese nur die Differenzierung von Stammzellen zu Erythrozyten. Der Prozess der Reifung und Proliferation der Zellen wird durch das in Niere und Leber produzierte Hormon Erythropoietin gefördert. Eine wichtige Rolle bei der Erythropoese spielt Eisen, das zur Bildung von Hämoglobin benötigt wird. Außerdem spielen Vitamin B12 (Cobalamine) und Folsäure eine Rolle. Kommt es zu einem Sauerstoffmangel im Körper, zum Beispiel auf Grund eines Höhenaufenthalts, so wird die Hormonausschüttung erhöht, was längerfristig zu einer erhöhten Anzahl an roten Blutkörperchen im Blut führt. Diese können mehr Sauerstoff transportieren und wirken so dem Mangel entgegen. Dieser Gegenregulationsvorgang ist auch messbar: Man findet eine erhöhte Anzahl von Retikulozyten (unreifen roten Blutkörperchen). Der Abbau der roten Blutkörperchen findet in der Milz und den Kupffer’schen Sternzellen der Leber statt. Erythrozyten haben eine durchschnittliche Lebensdauer von 120 Tagen. Das Hämoglobin wird in einem Abbauprozess über mehrere Schritte (über Bilirubin) zu Urobilin und Sterkobilin abgebaut. Während Urobilin den Urin gelb färbt, ist Sterkobilin für die typische Farbe des Kots verantwortlich. Funktionen. Transportfunktion. Das Blut mit seinen einzelnen Bestandteilen erfüllt viele wesentliche Aufgaben, um die Lebensvorgänge aufrechtzuerhalten. Hauptaufgabe ist der Transport von Sauerstoff und Nährstoffen zu den Zellen und der Abtransport von Stoffwechselendprodukten wie Kohlenstoffdioxid oder Harnstoff. Außerdem werden Hormone und andere Wirkstoffe zwischen den Zellen befördert. Blut dient weiterhin der Homöostase, das heißt der Regulation und Aufrechterhaltung des Wasser- und Elektrolythaushaltes, des pH-Werts sowie der Körpertemperatur. Abwehrfunktion. Als Teil des Immunsystems hat das Blut Aufgaben in Schutz und Abwehr gegen Fremdkörper (unspezifische Abwehr) und gegen Antigene (spezifische Abwehr) durch Phagozyten (Fresszellen) und durch Antikörper. Weiter ist das Blut ein wichtiger Bestandteil bei der Reaktion auf Verletzungen (Blutgerinnung und Fibrinolyse). Zudem hat Blut eine Stützwirkung durch den von ihm ausgehenden Flüssigkeitsdruck. Wärmeregulierung. Die ständige Zirkulation des Blutes gewährleistet eine konstante Körpertemperatur. Diese liegt beim gesunden Menschen bei ca. 36–37 °C. Dabei geht man im Allgemeinen von der Temperatur im Innern des Körpers aus. Atmung. Eine Funktion des Blutes ist der Transport von Sauerstoff von der Lunge zu den Zellen und von Kohlenstoffdioxid – dem Endprodukt des oxidativen Kohlenstoffwechsels – zurück zur Lunge. Im Rahmen der Atmung gelangt der in der Luft enthaltene Sauerstoff über die Luftröhre in die Lunge bis hin zu den Lungen­bläschen. Durch deren dünne Membran gelangt der Sauerstoff in die Blutgefäße. Das Blut wiederum wird im Rahmen des Lungenkreislaufes vom Herzen zur Lunge geführt. Das zunächst sauerstoffarme Blut gibt in der Lunge Kohlenstoffdioxid (CO2) ab und nimmt dort Sauerstoff auf. Das nun sauerstoffreiche Blut fließt über mehrere Lungenvenen (Venae pulmonales) wieder zurück zum Herzen, genauer zum linken Vorhof. Von dort wird das Blut über ein geschlossenes Netz aus Blutgefäßen an die meisten stoffwechselnden Zellen innerhalb des Körpers verteilt (vgl. auch Blutkreislauf). Ausgenommen davon sind u. a. Zellen der Hornhaut des Auges und der Knorpel, die keinen direkten Anschluss an das Gefäßsystem haben und wie bei primitiveren Organismen über Diffusion ernährt werden (bradytrophe Gewebe). Funktionell wichtig für den oben beschriebenen Gasaustausch ist der in den roten Blutkörperchen enthaltene Blutfarbstoff Hämoglobin. Jedes Hämoglobinmolekül besteht aus vier Untereinheiten, die jede eine Hämgruppe enthalten. Im Zentrum der Hämgruppe ist ein Eisen-Ion gebunden. Dieses Eisen übt eine starke Anziehungskraft (sog. Affinität) auf Sauerstoff aus, wodurch der Sauerstoff an das Hämoglobin gebunden wird. Hat dies stattgefunden, so spricht man von "oxygeniertem" Hämoglobin. Die Affinität des Hämoglobins für Sauerstoff wird durch eine Erhöhung des Blut-pH-Werts, eine Senkung des Partialdrucks von Kohlendioxid, eine geringere Konzentration des im Rapoport-Luebering-Zyklus gebildeten 2,3-Bisphosphoglycerats und eine niedrigere Temperatur erhöht. Ist die Affinität des Hämoglobins für Sauerstoff hoch und der Partialdruck von Sauerstoff ebenso, wie es in den Lungen der Fall ist, dann begünstigt dies die Bindung von Sauerstoff an Hämoglobin, ist jedoch das Gegenteil der Fall wie im Körpergewebe, so wird Sauerstoff abgegeben. 98,5 % des im Blut enthaltenen Sauerstoffs sind chemisch an Hämoglobin gebunden. Nur die restlichen 1,5 % sind physikalisch im Plasma gelöst. Dies macht Hämoglobin zum vorrangigen Sauerstofftransporter der Wirbeltiere. Unter normalen Bedingungen ist beim Menschen das die Lungen verlassende Hämoglobin zu etwa 96–97 % mit Sauerstoff gesättigt. Desoxygeniertes Blut ist immer noch zu ca. 75 % gesättigt. Die Sauerstoffsättigung bezeichnet das Verhältnis aus tatsächlich gebundenem Sauerstoff zu maximal möglichem gebundenem Sauerstoff. Kohlenstoffdioxid wird im Blut auf verschiedene Art und Weise transportiert: Der kleinere Teil wird physikalisch im Plasma gelöst, der Hauptteil jedoch wird in Form von Hydrogencarbonat (HCO3−) und als an Hämoglobin gebundenes Carbamat transportiert. Die Umwandlung von Kohlenstoffdioxid zu Hydrogencarbonat wird durch das Enzym Carboanhydrase beschleunigt. Blutstillung und -gerinnung. Die Prozesse, die den Körper vor Blutungen schützen sollen, werden unter dem Oberbegriff der Hämostase zusammengefasst. Dabei wird zwischen der primären und der sekundären Hämostase unterschieden. An der "primären Hämostase" sind neben den Thrombozyten verschiedene im Plasma enthaltene und auf der Gefäßwand präsentierte Faktoren beteiligt. Das Zusammenspiel dieser Komponenten führt bereits nach zwei bis vier Minuten zur Abdichtung von Lecks in der Gefäßwand. Dieser Zeitwert wird auch als Blutungszeit bezeichnet. Zuerst verengt sich das Gefäß, dann verkleben die Thrombozyten das Leck, und schließlich bildet sich ein fester Pfropfen aus Fibrin, der sich nach abgeschlossener Gerinnung zusammenzieht. Die Fibrinolyse ist später für ein Wiederfreimachen des Gefäßes verantwortlich. Die "sekundäre Hämostase" findet durch Zusammenwirkung verschiedener Gerinnungsfaktoren statt. Dies sind, bis auf Calcium (Ca2+), in der Leber synthetisierte Proteine. Diese im Normalfall inaktiven Faktoren werden in einer Kaskade aktiviert. Sie können entweder "endogen", das heißt durch Kontakt des Blutes mit anionischen Ladungen des subendothelialen (unter der Gefäßinnenoberfläche gelegenen) Kollagens, oder "exogen" aktiviert werden, das heißt durch Kontakt mit Gewebsthrombokinase, die durch größere Verletzungen aus dem Gewebe in die Blutbahn gelangt ist. Ziel der sekundären Blutgerinnung ist die Bildung von wasserunlöslichen Fibrinpolymeren, die das Blut zu „Klumpen“ gerinnen lassen. Als "Fibrinolyse" wird der Prozess der Rückbildung der Fibrinklumpen bezeichnet. Dies findet durch die Aktion des Enzyms Plasmin statt. Soll aufgrund verschiedener medizinischer Indikationen wie zum Beispiel Herzrhythmusstörungen die Gerinnungsfähigkeit des Blutes herabgesetzt werden, so setzt man Antikoagulantien (Gerinnungshemmer) ein. Diese wirken, indem sie entweder das zur Gerinnung notwendige Calcium binden (jedoch nur im Reagenzglas, z. B. Citrat oder EDTA), indem sie die Interaktion zwischen den Gerinnungsfaktoren hemmen (z. B. Heparin) oder indem sie die Bildung der Gerinnungsfaktoren selbst unterbinden (z. B. Cumarine). Medizinische Aspekte. Erkrankungen. Viele Krankheiten lassen sich an bestimmten Veränderungen der Blutbestandteile im Blutbild erkennen und in ihrem Schweregrad einordnen, weshalb das Blut die am häufigsten untersuchte Körperflüssigkeit in der Labormedizin ist. Eines der ersten umfangreicheren Werke über Blutkrankheiten und Blutdiagnostik erschien 1908 von Otto Naegeli. Eine bedeutende Untersuchung ist die Blutsenkungsreaktion (BSR), bei der anhand der Zeit, in der sich die festen Bestandteile in mit Gerinnungshemmern behandeltem Blut absetzen, Rückschlüsse auf eventuell vorhandene Entzündungen gezogen werden können. Außer Krankheiten, die sich durch Veränderungen im Blutbild äußern, gibt es auch Krankheiten, die das Blut (bzw. Blutbestandteile) selbst befallen. Das Fachgebiet der Medizin, das sich mit diesen Erkrankungen befasst, ist die Hämatologie. Zu den wichtigsten zählen die Anämie oder Blutarmut, die Hämophilie oder Bluterkrankheit und die Leukämie als Blutkrebs. Bei einer Anämie kommt es, aufgrund vielfältiger Ursachen, zu einer Unterversorgung des Körpers mit Sauerstoff (Hypoxie). Bei Hämophilien ist die Blutgerinnung gestört, was in schlecht oder nicht stillbaren Blutungen resultiert. Bei einer Leukämie werden übermäßig viele weiße Blutkörperchen gebildet und bereits in unfertigen Formen ausgestoßen. Dies führt zu einer Verdrängung der anderen zellulären Bestandteile des Blutes in Knochenmark und Blut selbst. Eine übermäßige Bildung von Blutzellen nennt man "Zytose" oder "Philie", die je nach Zellart in Erythrozytose und Leukozytose (Unterformen sind Granulozytose: Eosinophilie, Basophilie, Neutrophilie; Monozytose; Lymphozytose; Thrombozytose) unterteilt wird. Einen Mangel an roten Blutzellen nennt man Erythropenie (Anämie), an weißen Leukopenie (je nach Zellart Eosinopenie, Basopenie, Neutropenie, Monopenie, Lymphopenie, Thrombozytopenie). Solche Verschiebungen der Proportionen der Zellzahlen werden im Differentialblutbild untersucht und geben zum Teil Hinweise auf die Art und das Stadium einer Krankheit. Durch die Rolle des Blutes in der Versorgung der Zellen besteht bei einer fehlenden oder nicht ausreichenden Blutversorgung immer die Gefahr von Zellschädigung oder -sterben. Bei einer körperweiten Minderversorgung mit Blut, beispielsweise durch einen großen Blutverlust, spricht man von Schock. Durch Blutgerinnsel (aber auch andere Ursachen) kann es zu einer Thrombose, Embolie oder einem Infarkt (z. B. Herz- oder Hirninfarkt) kommen. Um dies zu verhindern, können Wirkstoffe wie Acetylsalicylsäure, Heparin oder Phenprocoumon angewendet werden, die die Gerinnung hemmen. Blut selbst hat, wenn es in größeren Mengen in den Magen-Darm-Trakt gelangt, eine abführende Wirkung. Blutgruppen. In der Zellmembran der roten Blutkörperchen sind Glycolipide verankert, die als Antigene wirken. Sie werden als Blutgruppen bezeichnet. Kommt es zu einer Vermischung von Blut verschiedener Blutgruppen, so tritt oft eine Verklumpung des Blutes ein. Deswegen muss vor Bluttransfusionen die Blutgruppe von Spender und Empfänger festgestellt werden, um potenziell tödliche Komplikationen zu vermeiden. Die medizinisch bedeutsamsten Blutgruppen des Menschen sind das "AB0-System" und der "Rhesus-Faktor" (beide im 20. Jahrhundert von Karl Landsteiner und Mitarbeitern zuerst beschrieben). Jedoch gibt es beim Menschen noch rund 20 weitere Blutgruppensysteme mit geringerer Bedeutung, die ebenfalls Komplikationen verursachen können. Im "AB0-System" findet man die Blutgruppen "A", "B", "AB" und "0". Die Bezeichnung sagt aus, welche Antigene auf den Erythrozyten gefunden werden (bei A: nur A-Antigene, bei B: B-Antigene, bei AB: A- und B-Antigene und bei 0: keine der beiden) und welche Antikörper (des Typs IgM) im Serum vorhanden sind (bei A: B-Antikörper, bei B: A-Antikörper, bei AB: keine Antikörper und bei 0: A- und B-Antikörper). "Rhesusfaktoren" können in den Untergruppen "C", "D" und "E" auftreten. Medizinisch relevant ist besonders der Faktor D. Ist das D-Antigen vorhanden, so spricht man von "Rhesus-positiv", fehlt es, spricht man von "Rhesus-negativ". Beim Rhesussystem entstehen die Antikörper (der Gruppe IgG) im Blut erst, nachdem der Körper das erste Mal auf Blut mit Antigenen trifft. Da IgG-Antikörper die Plazenta durchqueren können, besteht die Möglichkeit von Komplikationen während der zweiten Schwangerschaft einer Rhesus-negativen Mutter mit einem Rhesus-positiven Kind. Hierbei kommt es zunächst zu einer Auflösung (Hämolyse) der kindlichen Erythrozyten und einer anschließenden krankhaft gesteigerten Neubildung, die als fetale Erythroblastose bezeichnet wird. Die Blutgruppen sind neben ihrer Relevanz bei Transfusionen und Organtransplantationen sowie in der Schwangerschaft auch von Bedeutung in der Rechtsmedizin zur Identitäts- und Verwandtschaftsbestimmung, auch wenn die Aussagekraft von darauf beruhenden Tests weitaus geringer ist als bei der DNA-Analyse und sich auf Ausschlussnachweise beschränkt. Bluttransfusionen. Bei großen Blutverlusten, bei verschiedenen Krankheiten wie dem myelodysplastischen Syndrom und oft zur Bekämpfung von Nebenwirkungen bei allen Chemotherapien werden meist Bluttransfusionen durchgeführt, um das Blutvolumen aufzufüllen oder bestimmte Blutbestandteile, an denen ein Mangel vorliegt, gezielt zu ergänzen. Hierbei ist zu beachten, dass das Blut von Spender und Empfänger hinsichtlich der Blutgruppen und des Rhesusfaktors bestimmte Bedingungen erfüllen muss, da es sonst zu schweren Transfusionszwischenfällen kommen kann. Um Transfusionen zu ermöglichen, sind jedoch Blutspenden nötig. Es wird zwischen Vollblutspenden, Eigenblutspenden und Spenden nur einzelner spezifischer Blutbestandteile (z. B. Blutplasma oder Thrombozyten) unterschieden. Bei einer Vollblutspende werden dem Spender ca. 500 ml venöses Blut entnommen; dieses Blut wird dann konserviert, untersucht und bei entsprechender Eignung in verschiedene Blutprodukte aufgetrennt. Diese werden in einer Blutbank eingelagert. Eigenblutspenden dienen der Bereitstellung von Blut vor einer Operation, das bei eventuell auftretendem Blutverlust ohne Komplikationen dem Patienten wieder verabreicht werden kann. Eine Blutspende kostet den Empfänger bzw. dessen Krankenkasse in Deutschland 109,90 €. Hauptbestandteil dieses Betrages ist die Durchführung der Blutspende, weitere Kostenpunkte sind Laboruntersuchungen, Haltbarmachung, Verteilung und Verwaltung. Alternativen zur Blutspende sind künstliches Blut, das aus lang haltbaren gefriergetrockneten roten Blutkörperchen in einer isotonischen Lösung besteht, und Blutersatz, das starken Blutverlust ausgleichen soll, wenn keine Blutkonserven verfügbar sind. Blutersatzmittel können entweder das noch vorhandene Restblut verdünnen und somit das für einen funktionierenden Blutkreislauf notwendige Volumen wiederherstellen (sog. "Volumenexpander") oder das Blut durch aktives Übernehmen des Sauerstofftransports unterstützen. Auch bei den übrigen Säugetieren gibt es verschiedene Blutgruppensysteme (bei Haustieren 7 bis 15) mit jeweils einer Mehrzahl von Blutgruppenfaktoren. Im Gegensatz zum Menschen gibt es allerdings bei der ersten Bluttransfusion kaum Reaktionen auf diese Blutgruppenunterschiede. Daraufhin gebildete Antikörper rufen erst bei Folgeblutspenden gegebenenfalls eine Unverträglichkeitsreaktion hervor. Aderlass und Schröpfen. Vom Altertum ausgehend galt im europäischen Mittelalter das Blut als einer der Vier Säfte des Lebens. Dabei versuchte man, durch Aderlass oder Schröpfen Heilung zu bewirken und „faules Blut“ zu entfernen. Laut Erzählungen resultierte diese Überlegung aus der Beobachtung kranker Nilpferde, die sich an Gegenständen rieben, bis sie bluteten. Über lange Zeit galt der Aderlass als anerkannte Therapieform und erfreute sich großer Beliebtheit. Viele Doktoren und Wundärzte neigten jedoch dazu, diese Therapieform äußerst exzessiv zu betreiben. Erst Forschung und Kontakt zu anderen Kulturen (v. a. zu der hoch entwickelten arabischen Medizin) sorgten für differenzierte und anwendungsgerechtere Behandlungen. Der Aderlass als therapeutische Blutentnahme wird heute durchwegs durch Punktion einer Vene mit einer dicken Kanüle durchgeführt. Dabei werden in der Regel 400 bis maximal 1.000 ml entnommen. Dies ist noch immer angezeigt bei Erkrankungen wie der Hämochromatose (Eisenspeicherkrankheit), der Porphyria cutanea tarda und der Polycythaemia vera (krankhafte Vermehrung vor allem der roten Blutkörperchen). Auch die Blutegelbehandlung findet wieder Beachtung – wobei aber der kontrollierte pharmakognostische Einsatz des Hirudin vorrangig ist. Blutgifte. Blutgifte, auch als Hämotoxine bezeichnet, sind Stoffe, durch deren chemische Beschaffenheit das Blut-, Blutgerinnungs- oder Blutbildungssystem derart verändert wird, dass die Transport- und Stoffwechselfunktion des Blutes eingeschränkt oder verhindert wird. Dies kann eine Schädigung des Blutkreislaufs bis hin zum Kreislaufkollaps zur Folge haben. Zu den chemischen Verbindungen, die als Blutgifte wirken, zählen beispielsweise Kohlenmonoxid (CO), Benzol, Alkohole wie Ethanol, organische Nitroverbindungen, Arsen- und Bleiverbindungen. Beispiele für pflanzliche Inhaltsstoffe mit hämotoxischer Wirkung sind die Saponine und Chinin. Auch eine Reihe von tierischen Giften wirkt auf das Blut, zum Beispiel die Hauptbestandteile der Gifte vieler Vipernarten. Blutreinigung. Blutreinigungsverfahren (Möglichkeiten zur Entfernung von Blutgiften) sind die Dialyse bei akutem oder chronischem Nierenversagen oder auch die Apherese zur Entfernung von pathogenen (krank machenden) Bestandteilen. Kulturgeschichte des Blutes. Blut wurde schon früh als Träger der Lebenskraft angesehen. Die Beobachtung, wie beim Verbluten eines Menschen oder beim Ausbluten eines Schlachttiers dessen Kräfte schwinden, ließ die Menschen darauf schließen, dass das Blut ein Urstoff des Lebens sei. Blut als Abfallprodukt in der Tierproduktion. Blut gilt als eines der problematischeren Abfallprodukte der Schlachthäuser. Für die USA schätzt man (bei einem Anteil von etwa 20 % am globalen Fleischmarkt) eine jährliche Produktion von 1,6 Millionen Tonnen Blut. Wegen des relativ hohen Feststoffanteils (etwa 18 %) und des hohen chemischen Bedarfs an Sauerstoff (etwa 500 g O2/L, etwa 800-mal so viel wie bei Haushaltsabwässern) gelten die Umweltprobleme, die vom Schlachtblut hervorgerufen werden, in der Fachliteratur als „enorm“. Wegen der Entsorgungskosten haben Hersteller einen starken wirtschaftlichen Anreiz, Blut zu verarbeiten oder zu verwerten. Vom anfallenden Blut werden (in den USA) etwa 30 % der Nahrungsmittelindustrie zugeführt, überwiegend als kosteneffizientes Bindemittel in Fleischprodukten und als Färbemittel. Weiterhin wird Blut für die Tiernahrung, als Dünger und in der Papierverarbeitung als Klebstoff verwendet. Blut als Lebensmittel/Nährstoff. Zwar werden bei oder nach der Schlachtung Tierkörper so eröffnet und aufgehängt, dass diese ausbluten und damit haltbareres Fleisch ergeben, doch wird Blut andererseits auch als Lebensmittelzutat, etwa von Blutwurst genutzt. Blut ist auch Hauptnahrungsmittel einiger so genannter "hämatophager" (blutverzehrender) Parasiten. Der Blutegel saugt sich an der Haut fest und beißt sich dann durch sie hindurch. Innerhalb einer halben Stunde können Blutegel das Fünffache ihres Gewichts an Blut aufnehmen. Die dabei mit ihrem Speichel ausgeschiedenen gerinnungshemmenden Stoffe (z. B. Heparin und Hirudin) machen sie auch für die Medizin interessant. Weitere Blutsauger sind beispielsweise Stechmücken, Bremsen, einige Milben (z. B. Rote Vogelmilbe), Wanzen und einige Würmer (z. B. Hakensaugwürmer). Nur wenige Wirbeltiere ernähren sich ganz oder teilweise von Blut. Neben den Vampirfledermäusen sind nur noch die auf Wolf und Darwin, den zwei nördlichsten Galápagos-Inseln, lebenden Populationen des Spitzschnabel-Grundfinken ("Geospiza difficilis"), eines Darwinfinken, für derartigen Parasitismus bekannt. Auf den wasserlosen Inseln trinken diese so genannten „Vampirfinken“ vom Blut der sich dort aufhaltenden Meeresvögel, indem sie unbemerkt die Ansätze der Federkiele anpicken und so zugleich ihren Flüssigkeitsbedarf decken. Blutsaugende Tiere sind häufig Überträger von Krankheiten, da sie als Vektoren krankheitserregende Viren, Bakterien, Protozoen und andere Organismen übertragen können. Einige dieser so übertragenen Mikroorganismen leben selbst direkt vom Blut des Wirtsorganismus, so die einzelligen Malariaerreger, die Plasmodien. Nach dem Tod eines Organismus und dem Zusammenbruch der Immunabwehr beginnen Fäulnisbakterien, die ansonsten im lebenden Organismus nicht vermehrungsfähig sind, am deutlichsten erkennbar zunächst das Blut unter Freisetzung von biogenen Aminen wie Cadaverin und Putrescin zu verstoffwechseln, und führen damit zum sicheren Todeszeichen des "durchschlagenden Venennetzes", also zur Verfärbung des oberflächlichen Venensystems in ein dunkles Grün. Sonstige Nutzung. Menschliches Blut ist in der mittelalterlichen Literatur als Futtermittel in der Schweinemast, als Gartendüngemittel und in vielfältigen Rezepturen aus Haushalt und Bauwesen erwähnt. Diese heute befremdliche Verwendung liegt in der auf dem Aderlass aufgebauten galenischen Medizin des Mittelalters und der frühen Neuzeit begründet, durch die Menschenblut in teils beträchtlichen Mengen verfügbar war. Pharmazeutisch verwendet als "Sanguis hominis" wurde der an Sonne getrocknete, sich nach dem Schlagen mit einem gespaltenen Rohr des durch Aderlass gewonnenen Blutes sich abgesetzte Blutkuchen. Wie aber das Baderwesen als Ganzes wurde diese Praxis – aus weltanschaulichen wie auch aus hygienischen Gründen – teils nur als Sitte des armen Volkes toleriert, oder scharf bekämpft. Blutagar ist ein in der Mikrobiologie verwendeter Nährboden für Mikroorganismen, der menschliches oder tierisches Blut enthält. Mit ihm können verschiedene Erreger, zum Beispiel Streptokokken, nachgewiesen werden. Blutmehl, das aus getrocknetem Blut von Schlachttieren gewonnen wird, findet als Proteinzusatzfuttermittel noch teilweise Anwendung in der Tierernährung. Mit dem Aufkommen von BSE darf Blutmehl nur noch aus Blut von Schlachthöfen erzeugt werden, die keine Wiederkäuer schlachten (Verordnung (EG) Nr. 1234/2003). Blutmehl findet vor allem in der Fischfütterung Einsatz oder aber auch als Düngemittel. Ochsenblut ist ein Bindemittel für Farbanstriche, mit denen früher Fachwerkbalken vor der Witterung geschützt wurden. Entgegen weit verbreiteter Ansicht heißt diese Farbe nicht deswegen "Ochsenblutrot", weil sie rötlich ist, sondern weil sie tatsächlich Ochsenblut enthält. Zur Herstellung von Ochsenblutrot lässt man das Blut frisch geschlachteter Ochsen abstehen, sodass sich das Serum und die roten Blutkörperchen trennen. Aus dem Serum und gelöschtem Kalk wird unter Zugabe von Pigmenten eine gut wetterfeste Farbe gewonnen.
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Billion
Der Zahlenname Billion steht im deutschsprachigen und kontinentaleuropäischen Sprachgebrauch für die Zahl 1000 Milliarden oder 1.000.000.000.000 = 1012, im Dezimalsystem also für eine Eins mit 12 Nullen. 1000 Billionen ergeben eine Billiarde. Der Vorsatz für Maßeinheiten für den Faktor eine Billion ist Tera mit dem Zeichen T. Abgekürzt wird sie mit "Bio." oder "Bill.", wobei Letzteres mit Billiarde verwechselt werden kann. International muss jedoch zwischen den Zählweisen „lange und kurze Skala“ unterschieden werden. In letzterer, die im englischsprachigen Raum, aber z. B. auch in Brasilien, im Mittleren Osten oder in Russland verwendet wird, bezeichnet man mit „Billion“ das, was auf Deutsch eine „Milliarde“ genannt wird, also 1.000.000.000 = 109. Mathematisches. Teiler. Die Faktorisierung der Billion in die beiden Teiler der 10 ist formula_1. Daraus ergeben sich formula_2 Möglichkeiten, eine Zweierpotenz (formula_3 bis formula_4) mit einer Potenz von fünf (formula_5 bis formula_6) zu multiplizieren. Die Zahl 1.000.000.000.000 hat damit genau 169 Teiler. Vorsätze für Maßeinheiten. Bezieht man sich auf Maßeinheiten, dann bezeichnet man das Billionenfache der Maßeinheit mit dem Präfix "Tera" (abgekürzt: T), wohingegen der billionste Teil (10−12) mit "Piko" (abgekürzt: p) bezeichnet wird. Beispielsweise ist ein Pikometer (pm) ein billionstel Meter (10−12 m). Auch beim Bezug auf die Maßeinheit "Byte" in der Informatik wird heute die Bezeichnung Terabyte (abgekürzt: TB) im Sinne von genau einer Billion Byte verstanden. Das sind 1012 Byte und nicht 240 = 10244 = 1.099.511.627.776 Byte, was eine Billion Byte um ca. 9,95 % überschreitet. Zur Benennung von 240 Byte wird heute die Bezeichnung "Tebibyte" (TiB) nahegelegt; "Tebi" (Ti) ist ein Binärpräfix, während "Tera" (T) ein Dezimalpräfix ist. Falsche Freunde in anderen Sprachen. Der unterschiedliche Gebrauch des gleichen Begriffs in verschiedenen Sprachen (als so genannter falscher Freund) führt häufig zu Fehlübersetzungen, insbesondere im nicht-wissenschaftlichen oder nachlässigen Journalismus bei der Angabe von Kosten oder Vermögen. Der Grund dafür liegt in zwei parallel verwendeten Systemen für Zahlennamen im Dezimalsystem, der so genannten langen und kurzen Skala: In der langen Skala, die unter anderem im Deutschen, Französischen, Italienischen, Polnischen, Spanischen und in Portugal verwendet wird (nicht aber im Portugiesisch sprechenden Brasilien), hat eine Billion die Bedeutung von "einer Million hoch 2" (daher die Vorsilbe "bi"), also 1012. Im US-Englisch steht die Zahl „“ jedoch für 109 (=10001+2), entspricht also der Milliarde aus der langen Skala (die deutsche Billion heißt im US-Englisch entsprechend ""). Im britischen Englisch wird "billion" aufgrund des Einflusses der USA sowohl für 109 als auch traditionell für 1012 gebraucht. Daher sind Übersetzungen aus dem Englischen nicht immer verlässlich. In der Numismatik bezeichnet man mit "Billion" Silber mit unedlen Legierungsbestandteilen von mindestens 50 Prozent. Daraus hergestellte "Billionmünzen" hatten demnach einen Feingehalt von maximal 500/1000. Auf Deutsch lautet der korrekte Ausdruck allerdings Billon und nicht Billion. Geschichte. Das Wort "Billion" kam im 15. Jahrhundert in Frankreich auf. Ursprünglich stand es sicherlich für die attestierte "bi-million" (=1012). Diese Bedeutung wurde vom französischen Mathematiker Nicolas Chuquet in seinem Werk "Triparty en la science des nombres" (1484 als Manuskript erschienen) zuerst beschrieben und systematisiert. 1690 taucht es zum ersten Mal im Englischen so auf (Oxford English Dictionary). Genau so wird es in England auch heute von der Wissenschaft allgemein verwendet. Im 17. Jahrhundert gab es in Frankreich einen Reformversuch, wonach eine Billion nur noch 1000 Millionen (109) wert sein sollte. Diese reformierte Bedeutung übernahmen die US-Amerikaner direkt von französischen Ratgebern. Auch in Puerto Rico und Brasilien sowie in Russland und der Türkei wird die so genannte "kurze Skala" heute benutzt, wobei aber im Sprachgebrauch der beiden letztgenannten Länder das Wort "Milliarde" (109) fest verankert ist. Einen Sonderfall stellt die griechische Sprache dar, in der das internationale Wort "Billion" nicht benutzt wird. Die Zahl 1012 heißt in Griechenland, nach dem Modell der kurzen Skala, "Tri-Hundertmyriade" (tris/ekatom/myrio). Der Million (106) „Ekatommyrio“ – gebildet als Kompositum aus 100 mal 10.000 – wird für jeden „kurzen Schritt“ (mal Tausend) eine jeweils erhöhte Kardinalzahl vorangestellt. Der englische Premier Harold Wilson beschloss, dass seine Regierung das Wort künftig wie im Amerikanischen verwenden werde. Seit 1974 wird die amerikanische Bedeutung für amtliche Dokumente von der Britischen Regierung übernommen. Im Alltagsgebrauch wird in England "die Billion" aber nach wie vor mit 1012 gleichgesetzt. In Australien, Südafrika und anderen englischsprachigen Ländern gibt es Tendenzen, sich dem amerikanischen Verständnis der Billion anzuschließen. In allen anderen Staaten der Welt setzte sich die ursprüngliche Bedeutung der Billion gemäß Chuquet durch. Die internationalen Gremien empfehlen seit 1948 diesen Gebrauch, zuletzt auch die 11. Generalkonferenz für Maße und Gewichte, 1960. In Frankreich selbst konnte sich die reformierte Namensgebung der großen Zahlen nie wirklich durchsetzen. Die französische Regierung bestätigte dann die "lange Skala" im Jahr 1961 mit dem Décret 61-501, die auch dem Sprachgebrauch entspricht. Auch in Italien ist dieses Verständnis der Billion allgemein und, laut einer EU-Richtlinie, offiziell. Die international genormten Präfixe "Giga" für 109 und "Tera" für 1012 können die Zahlennamen nicht vollwertig ersetzen. Das vom französischen Lexikon "Littré" explizit als „irrtümlich“ bezeichnete Reformsystem ist bislang in drei Staaten der Welt (Brasilien, den USA und Puerto Rico) uneingeschränkt gültig. Die Logik hinter der Chuquet-Billion sowie aller weiteren "Zillionen" ist, dass die Vorsilbe immer genau der Potenz der Million entspricht. (Beispiel: Eine "Tri"llion ist eine Million hoch "drei.") Die "Zilliarden" bezeichnen seit dem Übergang von Sechser- auf Dreiergruppen sehr gut die Zwischenzahlen, die "tausend Zillionen."
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Biogas
Biogas ist ein brennbares Gas, das durch Vergärung von Biomasse jeder Art entsteht. Es wird in Biogasanlagen hergestellt, wozu sowohl Abfälle als auch nachwachsende Rohstoffe vergoren werden. Das Präfix Bio weist auf die „biotische“ Bildungsweise im Gegensatz zum fossilen Erdgas hin. Das Gas kann zur Erzeugung von elektrischer Energie, zum Betrieb von Fahrzeugen oder zur Einspeisung nach Aufbereitung als Biomethan in ein Gasversorgungsnetz eingesetzt werden. Rohstoffe. Ausgangsstoffe sind biogene Materialien wie die folgenden: Dabei ergeben verschiedene Ausgangsmaterialien unterschiedliche Biogaserträge und je nach ihrer Zusammensetzung ein Gas mit variablem Methangehalt, wie die nebenstehende Tabelle zeigt. Ein Großteil der Rohstoffe, insbesondere Wirtschaftsdünger und Pflanzenreste, fallen prinzipiell kostenlos in der Landwirtschaft an, daher stellt dieser Wirtschaftszweig das größte Potenzial für die Produktion von Biogas. Ganz andere Auswirkungen hat der Anbau von Energiepflanzen: Vorteile von Biogas kann man mit den (möglichen) Nachteilen von Energiepflanzen abwägen („Ökobilanz“). Entstehung. Biogas entsteht durch den natürlichen Prozess des mikrobiellen Abbaus organischer Stoffe unter anoxischen Bedingungen. Dabei setzen Mikroorganismen die enthaltenen Kohlenhydrate, Eiweiße und Fette in die Hauptprodukte Methan und Kohlenstoffdioxid um. Der Prozess besteht aus mehreren Stufen, die jeweils von Mikroorganismen verschiedener Stoffwechseltypen durchgeführt werden. Polymere Bestandteile der Biomasse, wie Zellulose, Lignin, Proteine, werden zunächst durch mikrobielle Exoenzyme zu monomeren (niedermolekularen) Stoffen umgewandelt. Niedermolekulare Stoffe werden durch gärende Mikroorganismen zu Alkoholen, organischen Säuren, Kohlenstoffdioxid (CO2) und Wasserstoff (H2) abgebaut. Die Alkohole und organischen Säuren werden durch acetogene Bakterien zu Essigsäure und Wasserstoff umgesetzt. In der letzten Stufe werden durch methanogene Archaeen aus Kohlenstoffdioxid, Wasserstoff und Essigsäure die Endprodukte Methan (CH4) und Wasser gebildet. Die Bezeichnung "Biogas" für Gase, die aus organischen Reststoffen und nicht aus landwirtschaftlichen Produkten gewonnen werden, wird zusammenfassend für energiereiche Gase verwendet, die unter anoxischen Bedingungen durch Mikroorganismen aus biotischen Stoffen gebildet werden: Zusammensetzung. Die Zusammensetzung von Biogas ist sehr unterschiedlich, weil sie von der Substratzusammensetzung und der Betriebsweise des Faulbehälters abhängt. In der Schweiz wird Biogas ausschließlich aus Reststoffen produziert, z. B. über das Verfahren von Kompogas. Vor der Biogasaufbereitung besteht die Gasmischung aus den Hauptkomponenten Methan (CH4) und Kohlenstoffdioxid (CO2). Darüber hinaus sind meist auch Stickstoff (N2), Sauerstoff (O2), Schwefelwasserstoff (H2S), Wasserstoff (H2) und Ammoniak (NH3) enthalten. Wertvoll im wassergesättigt anfallenden Biogas ist das zu rund 60 % enthaltene Methan. Je höher dessen Anteil ist, desto energiereicher ist das Gas. Nicht nutzbar ist der Wasserdampf. Im Rohbiogas störend sind vor allem Schwefelwasserstoff und Ammoniak. Sie werden bei der Biogasaufbereitung vor der Verbrennung entfernt, um Gefährdungen des Menschen, Geruchsbelästigungen sowie Korrosion in Motoren, Turbinen und nachgeschalteten Komponenten (unter anderem Wärmetauscher) zu verhindern. Ebenfalls störend ist das CO2, das in bestimmten Anwendungsfällen abgeschieden und verwertet werden kann. Klima- und Umweltschutz. Methan ist ein stark wirksames Treibhausgas. Es hat ein GWP von 28, deshalb ist die Prüfung der Dichtigkeit von Biogasanlagen und aller zugehörigen Komponenten ein maßgeblicher Beitrag zum Klimaschutz. Biogasanlagen sind nicht vollständig dicht; auch für Wartungsarbeiten müssen sie zugänglich bleiben. Deshalb kann beim Betrieb einer Biogasanlage Methan, das auf mittlere Sicht eine etwa 25-mal stärkere aufheizende Wirkung auf das Klima hat als CO2, in die Atmosphäre entweichen. Biogas erreicht seinen maximalen Wirkungs- und Versorgungsgrad, wenn es gleichzeitig zur Strom- und Wärmeerzeugung genutzt wird; in der so genannten Kraft-Wärme-Kopplung (KWK) weist es die beste Klimabilanz auf. Eine Stromerzeugung ohne Wärmenutzung oder die rein thermische Verwendung von aufbereitetem Biogas in Erdgasthermen sind hingegen erwartungsgemäß nicht optimal, wie die Agentur für Erneuerbare Energien ermittelte. Biogas verbrennt klimaneutral, da das entstehende CO2 vorher von Pflanzen aus der Luft gebunden wurde. Es gibt aber Faktoren, die die Klimabilanz von Biogasanlagen durch den Anbau von Energiepflanzen verschlechtern können: Bei der Produktion von Energiepflanzen kommt es zu einem hohen Energieeinsatz. Eine mit Maissilage betriebene Anlage verbraucht im Gegensatz zur Abfallverwertung bei allen Produktionsschritten Energie: Saatvorbereitung, Säen, Düngen, Schutz vor Schädlingen (Pflanzenschutzmittelproduktion und Einsatz), Ernte, Transport, Silage, Vergärung unter Umwälzen und Rücktransport der Gärrestmenge auf die Felder. Die Klimabilanz der Energiepflanzen kann verbessert werden, wenn der für die Produktion nötige Energiebedarf selbst aus regenerativen Energien gedeckt wird, etwa wenn die eingesetzten Landmaschinen ebenfalls mit Treibstoffen aus Energiepflanzen oder Ökostrom betrieben werden. Bei der Stickstoffdüngung, vornehmlich durch die Nutzung mineralischer Dünger, kann Distickstoffmonoxid (auch als „Lachgas“ bezeichnet) entstehen und muss in die Klimabilanz eingerechnet werden. Distickstoffmonoxid wird durch Mikroben gebildet, und zwar aus Luftsauerstoff und dem zugeführten Stickstoff. Distickstoffmonoxid hat ein ungefähr 300-mal größeres Treibhausgaspotenzial als CO2. Auch die Änderung der Landnutzung muss berücksichtigt werden: Beispielsweise setzen trockengelegte Moorflächen große Mengen CO2 frei, da der verfügbare Sauerstoff die mikrobielle Aktivität fördert und somit der langjährige Kohlenstoffspeicher abgebaut wird. Der Anbau von Mais ist ökologisch umstritten. Mais ("Zea mays") ist ein Gras tropischen Ursprungs. Der Anbau erfolgt so, dass Frost vermieden wird, die Aussaat also spät im Jahr stattfindet, die Pflanzen im Mai/Juni gut wachsen und die Ernte Ende September beginnt. Während des größten Teils des Jahres liegen die mit Mais bepflanzten Äcker somit frei, weshalb in Deutschland die Flächen in der Regel zusätzlich mit Zwischenfrüchten bestellt werden. Geschieht dies nicht, werden die Flächen durch Wind und Regen erodiert. Dadurch kann es zum Eintrag von Pflanzenschutzmitteln und Dünger in naheliegende Gewässer, aber auch ins Grundwasser kommen. Der Anbau von Mais ist allerdings nur in geringem Maße von Pflanzenschutzmaßnahmen betroffen. Er wird lediglich kurz vor Reihenschluss gegen Unkraut behandelt. Der Eintrag von Pflanzenschutzmitteln stellt ein Problem dar, da es sowohl zu Eutrophierungen als auch zu Verlandung der Gewässer kommen kann. Ebenso kann es zu Verwehungen von großen Mengen Staub aus trockenen Äckern kommen, was wiederum die Bodenfruchtbarkeit beeinträchtigt, weil hierdurch wichtige Bodenbestandteile verloren gehen; es besteht langfristig die Gefahr der Wüstenbildung, was insbesondere in den USA bekannt ist. Durch den großflächigen Anbau von Mais-Monokulturen zur Produktion von Biogas kommt es zu weiteren ökologischen Auswirkungen. Weideland und Feuchtwiesen werden in Ackerland umgewandelt (in Deutschland nicht ohne Sondergenehmigung möglich), Brachflächen wieder genutzt. Dies hat Auswirkungen auf Vögel (z. B. Feldlerche, Rebhuhn), Insekten und andere Tiere, die dadurch Nahrungs- und Brutgebiete verlieren. Anders als bei konventionell wirtschaftenden Betrieben mit Biogasanlagen spielt der Mais als Energiepflanze für die Ökolandwirte nur eine recht geringe Rolle, solange diese Ökolandwirte keine Biogasanlage betreiben. Betreiben sie eine Biogasanlage wird Mais zur Hauptenergiequelle, und sie müssen nur noch ein Bruchteil vom benötigten Mais selbst produzieren. Generell sind Kleegras und Reststoffe wie Gülle und Mist von großer Bedeutung, da sie den einzigen Dünger der ökologischen Landwirtschaft darstellen. Der Ökolandbau bietet auch Anregungen für konventionell arbeitende Betriebe, was etwa den Anbau von Zwischenfrüchten und Untersaaten oder den gleichzeitigen Anbau mehrerer Pflanzen betrifft; so können auch konventionelle Betriebe für ihren Energiepflanzenanbau von den Erfahrungen der Ökobetriebe profitieren. Durch verschiedene Vorbehandlungsmethoden wird zudem versucht, den größt-möglichen Biogas- bzw. Methanertrag aus dem Substrat zu erzielen. Potenziale. Im Jahr 2014 entsprach die Biogasproduktion in Deutschland etwa 20 % der damaligen Erdgasimporte aus Russland. Mit dem verbleibenden Potenzial können etwa weitere 10 % ersetzt werden, unter Berücksichtigung technischer und demografischer Entwicklungen bis zu insgesamt 55 %. In der EU entsprach die Biogasproduktion etwa 6 % dieser Erdgasimporte aus Russland. Mit dem verbleibenden Potenzial können etwa weitere 26 % ersetzt werden, unter Berücksichtigung technischer und demografischer Entwicklungen bis zu insgesamt etwa 125 %. Einspeisung in das Erdgasnetz. Nach einer umfassenden Biogasaufbereitung kann eine Einspeisung in das Erdgasnetz erfolgen. Neben dem Entfernen von Wasser, Schwefelwasserstoff (H2S) und Kohlendioxid (CO2) muss auch eine Anpassung an den Heizwert des Erdgases im jeweiligen Gasnetz (Konditionierung) stattfinden. Wegen des hohen technischen Aufwands lohnt sich die Aufbereitung und Einspeisung derzeit nur für überdurchschnittlich große Biogasanlagen. Erste Projekte dazu starteten 2007. Neuentwicklungen wie etwa die Hohlfasermembran der Evonik Industries aus Essen ermöglichen eine Reinigung von Biogas bis zu einem Reinheitsgrad von bis zu 99 Prozent und bringen es damit auf Erdgasqualität. Um Erdgasqualität zu erreichen sind folgende Aufbereitungsschritte notwendig: Entschwefelung: Die Entschwefelung ist notwendig, um Korrosion zu vermeiden. Schwefel findet sich als Schwefelwasserstoff (H2S) im Biogas, bei dessen Verbrennung entstünden bei Anwesenheit von Wasserdampf aggressive Säuren, nämlich Schweflige Säure (H2SO3) und Schwefelsäure (H2SO4). Meist ist der Schwefelwasserstoffanteil gering, kann aber bei proteinreichem Substrat (Getreide, Leguminosen, Schlachtabfälle und dergleichen) stark ansteigen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten zur Entschwefelung, unter anderem sind biologische, chemische und adsorptive Verfahren möglich. Gegebenenfalls sind mehrere Stufen nötig wie Grob- beziehungsweise Feinentschwefelung. Trocknung: Da Biogas wasserdampfgesättigt ist, würden bei Abkühlung unbehandelten Biogases erhebliche Kondensatmengen anfallen, welche zu Korrosion in Motoren führen können. Darüber hinaus soll die Bildung von Wassertaschen vermieden werden. Deshalb muss das Gas getrocknet werden. Dies erfolgt durch eine Abkühlung des Gases auf Temperaturen unterhalb des Taupunktes in einem Wärmetauscher, das kondensierte Wasser kann entfernt werden und das abgekühlte Gas wird durch einen zweiten Wärmetauscher geleitet und wieder auf Betriebstemperatur erwärmt. Gleichzeitig mit der Trocknung wird das gut wasserlösliche Ammoniak entfernt. CO2-Abtrennung: Kohlenstoffdioxid (CO2) ist nicht oxidierbar und trägt daher nicht zum Heizwert des Biogases bei. Zur Erreichung von Erdgasqualität muss der Heizwert des Biogases dem des Erdgases angepasst werden. Da Methan die energieliefernde Komponente des Biogases ist, muss dessen Anteil durch Entfernung von CO2 erhöht werden. Die derzeit gängigen Verfahren der Methananreicherung durch CO2-Abtrennung sind Gaswäschen und die Druckwechsel-Adsorption (Adsorptionsverfahren an Aktivkohle). Daneben sind weitere Verfahren wie die kryogene Gastrennung (mittels tiefer Temperaturen) oder die Gastrennung durch Membranen in der Entwicklung. Konditionierung: Bei der Konditionierung wird das Biogas bezüglich Trockenheit, Druck und Heizwert den Erfordernissen angepasst. Je nach Herkunft hat Erdgas unterschiedliche Heizwerte, daher muss der obere Heizwert des aufbereiteten Biogases an das jeweilige Netz angepasst werden. Verdichtung: Zur Einspeisung in das Erdgasnetz sind, abhängig von der jeweiligen Netzart, meistens niedrige bis mittlere Drücke bis etwa 20 bar notwendig. Seltener erfolgt eine direkte Einspeisung ins Ferngasnetz mit bis über 80 bar. Wenn das Biogas nach der Aufbereitung einen geringeren Druck als das Netz aufweist, muss es mit Hilfe eines Kompressors verdichtet werden. Weitere Reinigungs- und Aufbereitungsschritte: In Deponie- und Klärgasen können Siloxane sowie halogenierte und cyclische Kohlenwasserstoffe enthalten sein. Siloxane verursachen stark erhöhten Motorenverschleiß. Halogen-Kohlenwasserstoffe führen zu Emissionen toxischer Verbindungen. Siloxane und Kohlenwasserstoffe können mittels Gaswäsche, Gastrocknung oder Adsorption an Aktivkohle aus dem Biogas entfernt werden. Nutzung. Biogas eignet sich neben der Eigennutzung in der Landwirtschaft auch als Beitrag zu einem Energiemix aus erneuerbaren Energien. Dies, weil es zum einen grundlastfähig ist, das heißt, dass das Biogas im Gegensatz zu anderen erneuerbaren Energieträgern wie Wind oder Sonne kontinuierlich verfügbar ist, zum anderen lassen sich Biomasse und Biogas speichern, wodurch zum Energieangebot in Spitzenzeiten beigetragen werden kann. Deswegen bietet sich dieser Bioenergieträger zum Ausgleich kurzfristiger Schwankungen im Stromangebot der Wind- und Sonnenenergie an. Bisher werden die meisten Biogasanlagen kontinuierlich, quasi als Grundlastkraftwerk, betrieben. Zur Nutzung der enthaltenen Energie stehen die folgenden Möglichkeiten zur Wahl: Kraft-Wärme-Kopplung (KWK) vor Ort: Biogas wird in einem Blockheizkraftwerk (BHKW) für die Strom- und Wärmeerzeugung genutzt (KWK); der Strom wird vollständig ins Netz eingespeist, die ca. 60 Prozent ausmachende Abwärme kann vor Ort genutzt werden. Alternativ kann das Biogas nach entsprechender Aufbereitung ins Versorgungsnetz eingespeist werden. Blockheizkraftwerke. In Deutschland ist die Verbrennung von Biogas in Blockheizkraftwerken (BHKW) am häufigsten, um zusätzlich zur Wärme auch Elektrizität zur Einspeisung in das Stromnetz zu produzieren. Da der größte Teil der Biogaserträge durch den Stromverkauf erzielt wird, befindet sich beim Wärmeabnehmer ein BHKW, welches als Hauptprodukt Strom zur Netzeinspeisung produziert und Wärme im Idealfall in ein Nah- oder Fernwärmenetz einspeist. Ein Beispiel für ein Nahwärmenetz ist das Bioenergiedorf Jühnde. Bisher wird allerdings bei den meisten landwirtschaftlichen Biogasanlagen mangels Wärmebedarf vor Ort nur ein geringer Teil der Wärme genutzt, beispielsweise zur Beheizung des Fermenters sowie von Wohn- und Wirtschaftsgebäuden. Biogasnetz. Eine Alternative ist der Transport von Biogas in Biogasleitungen über Mikrogasnetze. Die Strom- und Wärmeproduktion kann dadurch bei Wärmeverbrauchern stattfinden. Weitere Nutzungsarten. Biogas kann als nahezu CO2-neutraler Treibstoff in Kraftfahrzeugmotoren genutzt werden. Da eine Aufbereitung auf Erdgasqualität notwendig ist, muss der CO2-Anteil weitestgehend entfernt werden. CO2 lässt sich nach der Abtrennung kommerziell verwerten, beispielsweise in der Getränkeindustrie. Sogenanntes Biomethan oder Bioerdgas muss auf 200 bis 300 bar verdichtet werden, um in umgerüsteten Kraftfahrzeugen genutzt werden zu können. In der Schweiz fahren Lastwagen der Walter Schmid AG und der dazugehörigen Firma Kompogas seit dem Jahr 1995 mit Biogas, der erste Lastwagen erreichte im Sommer 2010 seinen millionsten Kilometer. Ab 2001 fuhr auch die Migros Zürich mit Kompogas und seit 2002 auch McDonald’s Schweiz. Bisher wird Biogas jedoch selten auf diesem Weg verwertet. 2006 wurde die erste deutsche Biogastankstelle in Jameln (Wendland) eröffnet. Wegen der hohen elektrischen Wirkungsgrade könnte in Zukunft zudem die Verwertung von Biogas in Brennstoffzellen interessant sein. Der hohe Preis für die Brennstoffzellen, die aufwändige Gasaufbereitung und die in Praxisversuchen bisher noch geringe Standzeit verhindern bisher eine breitere Anwendung dieser Technik. Biogas weltweit. Während Biogas erst in den letzten 10 Jahren in das Bewusstsein der europäischen Bevölkerung gerückt ist, wurde in Indien bereits Ende des 19. Jahrhunderts Biogas zur Energieversorgung eingesetzt. Die ökonomische Verbreitung der Biogasnutzung hängt vor allem von der Weltenergiepolitik (z. B. während der Erdölschwemme von 1955 bis 1972 und der Ölkrise von 1972 bis 1973) und den jeweiligen nationalen Gesetzgebungen (zum Beispiel dem Erneuerbare-Energien-Gesetz in Deutschland) ab. Unabhängig davon wurden kleine Biogasanlagen in Ländern wie Indien, Südkorea und Malaysia zur privaten Energieversorgung gebaut, wobei mit über 40 Millionen Haushaltsanlagen die meisten in China stehen. Deutschland. Von 1999 bis 2010 wuchs die Zahl der Biogasanlagen von etwa 700 auf 5905, die insgesamt rund 11 % des Stroms aus erneuerbaren Energien produzieren. Ende 2011 waren in Deutschland rund 7.200 Biogasanlagen mit einer installierten elektrischen Anlagenleistung von ca. 2.850 MW in Betrieb. Damit ersetzen Deutschlands Biogasbauern mehr als zwei Atomkraftwerke und versorgen über fünf Millionen Haushalte mit Strom. Aufgrund unsicherer politischer Rahmenbedingungen hat sich der Zubau seit 2012 stark verringert, um nur noch 200 MW in 2013. Im Jahr 2013 waren in Deutschland insgesamt 7.720 Biogasanlagen mit einer elektrischen Gesamtleistung von etwa 3.550 Megawatt installiert, die 27 Mio. Megawattstunden elektrischer Energie oder 4,3 % des deutschen Bedarfs oder eine Energiedichte von 2mw/m³ produzierten. Zusätzlich zur elektrischen Energie wurden weitere 13,5 Mio. MWh Wärmeenergie erzeugt, was einem Anteil von 0,9 % des deutschen Jahresbedarfs entspricht. Zur Versorgung dieser Biogasanlagen, von denen sich etwa 75 % im Besitz bäuerlicher Unternehmen befinden, wurden 1,268 Mio. Hektar Anbaufläche verwendet, was etwa 10,6 % der als Ackerland genutzten Flächen in Deutschland entsprach. Es wird angenommen, dass die Erzeugung von Bioerdgas bis 2030 auf jährlich 10,3 Milliarden m³ Biomethan ausgebaut werden kann. Das entspräche einer Vervierfachung der Kapazitäten des Jahres 2007. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) sichert eine gegenüber konventionellem Strom erhöhte und auf 20 Jahre garantierte Einspeisevergütung. Für die Nutzung der Wärme erhält der Anlagenbetreiber zusätzlich einen ebenfalls im EEG festgelegten Bonus für die Kraft-Wärme-Kopplung (KWK-Bonus). Die Wärmenutzung wird durch hohe Energiepreise und finanzielle Anreize und das seit Januar 2009 gültige Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz gefördert. Seit 2007 bieten in Deutschland Gaslieferanten zunehmend eine bundesweite Belieferung von reinem Biogas oder Beimischungen zu fossilem Erdgas für Endkunden an. Bundesweit können sich Gaskunden für mindestens einen, aber teilweise bis zu zehn Gastarifen mit einer Biogasbeimischung entscheiden. Besondere Bedeutung für den Strommarkt kommt flexibilisierten Biogasanlagen zu, die perspektivisch ein verfügbares Ausgleichspotenzial von insgesamt rund 16.000 MW anbieten können. Innerhalb weniger Minuten könnte diese Kapazität bei Überangebot im Netz gedrosselt oder bei steigender Nachfrage hochgefahren werden. Zum Vergleich: Die Kapazität der deutschen Braunkohlekraftwerke wird von der Bundesnetzagentur auf rund 18.000 MW beziffert. Diese fossilen Großkraftwerke könnten wegen ihrer technisch bedingten Trägheit jedoch nur wenige Tausend Megawatt für den kurzfristigen Ausgleich von Solar- und Windstrom zur Verfügung stellen. Häufig wird von einer „Vermaisung“ der Landschaft gesprochen. Tatsächlich stieg der Anteil der Maisanbauflächen von 9,3 % im Jahr 1993 auf 14,9 % (2013). Dies ist jedoch auch vor dem Hintergrund der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU zu sehen. Im Rahmen der festgelegten Flächenstilllegung, mussten landwirtschaftliche Betriebe bis zu 15 % der Betriebsflächen stilllegen, um eine landwirtschaftliche Überproduktion zu limitieren. 2000 wurden die Stilllegungen auf 10 %, 2005 auf 5 % reduziert und 2009 abgeschafft. Bereits Anfang der neunziger Jahre durften auf den Stilllegungsflächen allerdings nachwachsende Rohstoffe angebaut werden. Mit einer Zunahme von circa 5 % hat der Maisanbau für die Verwertung in Biogasanlagen kaum Auswirkungen auf den Kulturartenanbau in Deutschland. Hinsichtlich der Flächenverteilung bewegt sich der Anbau auf moderatem Niveau. Im Zuge des Osterpakets 2022 des BMWKs, welches Änderungen am EEG beinhaltet, sollen die Ausschreibungsmengen von Biomasse ab 2023 zu Gunsten von Biomethan reduziert werden. Um dies zu erreichen sollen 2023 600 MW, 2024 500 MW, 2025 400 MW und 2026 bis 2028 je 300 MW für Biogas ausgeschrieben werden. Der Maximalwert der Vergütung in den Ausschreibungen soll dabei um 0,5 ct/kWh erhöht werden. Außerdem soll Biomethan nur noch in hochflexiblen Kraftwerken zum Einsatz kommen dürfen. Auch der Substrateinsatz soll angepasst werden. So sollen zum Beispiel der Maisdeckel reduziert und Güllekleinanlagen bis zu einer Leistung von 150 kW, statt 100 kW wie zuvor, vergütet werden. Letzteres wurde von dem Deutschen Bauernverband als positiv gewertet, während dieser ansonsten den Mangel an Perspektive in der Überarbeitung des EEGs für die Aufrechterhaltung des Anlagenbestandes kritisierte. Schweiz. In der Schweiz wird reines Biogas meist als Kompogas bezeichnet. An vielen Schweizer Gastankstellen wird unter der Bezeichnung „Naturgas“ ein Gemisch von Kompogas und Erdgas verkauft. 2010 gab es in der Schweiz 119 Erdgastankstellen, an denen Naturgas mit einem Biogas-Anteil von mindestens 10 % angeboten wird. Diese befinden sich überwiegend im Westen und Norden des Landes. Seit dem 1. Januar 2009 gilt in der Schweiz die kostendeckende Einspeisevergütung (KEV); damit verbunden ist ein erhöhter Einspeisetarif (Einspeisevergütung für aus Biogas erzeugten Strom) für erneuerbare Energien, welcher auch Biogas einschließt. Die Vergütung besteht aus einem festen Abnahmepreis und einem zusätzlichen sogenannten Landwirtschaftsbonus, der gewährt wird, wenn mindestens 80 % der Substrate aus Hofdünger bestehen. Das schweizerische Fördermodell soll so die nachhaltige Entwicklung im Energiesektor forcieren, da sie insbesondere die güllebasierten und damit nachhaltigsten Biogasanlagen fördert. Das schweizerische Förderinstrument für erneuerbare Energien (KEV) trägt bei der Biomasseverwertung dem Umstand Rechnung, dass keine Flächen für den Anbau von nachwachsenden Rohstoffen vorhanden sind. Bisher hat das Gesetz im Bereich der Nutzung von Gülle keinen substantiellen Zuwachs an landwirtschaftlichen Biogasanlagen bewirkt. Die geringe Attraktivität von Grüngut als Co-Substrat für landwirtschaftliche Anlagen und das somit energetisch ungenutzte Potenzial hat Biogasfirmen dazu bewogen neue Anlagenmodelle zu entwerfen. Kombiniert mit Festmist, Speiseresten oder Bioabfällen aus Gemeinden, bieten sich neue Möglichkeiten, ohne die Rohstoffe über große Entfernungen zu zentralen Anlagen zu transportieren. Die gleichzeitige Möglichkeit zur Gülleveredelung stellt ein neuartiges Konzept zur Gewinnung erneuerbarer Energie dar. Pionier für das Schweizer Kompogas war der an Energieeffizienz interessierte Bauunternehmer Walter Schmid. Auf dem heimischen Balkon stellte er nach dem Studium von Fachliteratur die ersten Versuche an und war Ende der 80er-Jahre überzeugt, das Gas aus organischen Abfällen nutzen zu können. Er nahm mit Unterstützung von Bund und Kanton im Jahr 1991 in Rümlang bei Zürich die erste Versuchsanlage in Betrieb, die 1992 als erste Kompogas-Anlage in den ordentlichen Betrieb ging. Das Unternehmen Kompogas erstellte weltweit weitere Anlagen und Schmid wurde 2003 mit dem Solarpreis ausgezeichnet. Im Jahr 2011 wurde die Kompogas-Gruppe vollständig von der "axpo neue energien" genannten Abteilung des Axpo-Konzerns als "Axpo Kompogas AG" übernommen. Mit Stand 2022 liegt der Biogasanteil am gesamten Gasverbrauch der Schweiz bei sechs Prozent. Insgesamt gibt es 37 Anlagen die Biogas produzieren, der Rest des Bedarfs wird importiert. Frankreich. Frankreich stellt einen potenziell großen Biogasmarkt dar, der auch von deutschen Anlagenerzeugern bearbeitet wird. Das Land zeichnet sich durch eine produktive Landwirtschaft mit verschiedenen ergiebigen Substraten sowie durch ein stabiles Fördersystem für die Strom- und Wärmeerzeugung aus Biogas und für die Biomethaneinspeisung aus. Im Sommer 2013 gab es ca. 90 landwirtschaftliche Biogasanlagen. Der im April 2013 angekündigte Ausbauplan für landwirtschaftliche Anlagen („Plan EMAA“) mit einem Zielwert von 1.000 Anlagen bis 2020 signalisiert eine beschleunigte Marktentwicklung. Schweden. In Schweden war die Stromerzeugung aus Biogas bei niedrigeren Strompreisen von ca. 10 Euro-Cent/kWh noch unrentabel. Der größte Teil des Biogases (53 %) wird zur Wärmegewinnung genutzt. Im Gegensatz zu anderen europäischen Staaten, wie beispielsweise Deutschland, ist in Schweden die Aufbereitung auf Erdgasqualität (Biomethan) und Nutzung als Treibstoff in Gasfahrzeugen mit 26 % eine weit verbreitete Variante.
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Blutgefäß
Als Blutgefäß (lateinisch "Vas sanguineum") oder Ader bezeichnet man im menschlichen oder tierischen Körper eine röhrenförmige Struktur, ein Gefäß, in der Blut transportiert wird. Alle Blutgefäße zusammengenommen mit dem Herz als Pumporgan bilden den Blutkreislauf. Intakte Blutgefäße sind eine Bedingung für den effektiven Transport des Blutes bis in die Peripherie des Körpers und für den ungestörten Blutfluss zurück zum Herzen. Vaskulär ist der Fachbegriff für „die Blutgefäße betreffend“, endovaskulär steht für „innerhalb der Blutgefäße“ (). Mit Blutgefäßen und ihren Erkrankungen befasst sich das medizinische Gebiet der Angiologie. Einteilung. Blutgefäße werden unterteilt in: Funktionell werden Vasa publica und Vasa privata unterschieden. Zudem unterscheidet man zentrale und periphere Blutgefäße. Anatomischer Aufbau. Die Wand eines größeren Blutgefäßes besteht prinzipiell aus drei verschiedenen Schichten: Kapillaren bestehen nur aus einem Endothel, in das Perizyten eingeschaltet sind. Intima. Die Intima ist die innerste Schicht der Gefäßwand der Arterien, Venen und Lymphgefäße. Sie besteht aus einer einzelnen Lage von in der Längsachse des Gefäßes ausgerichteten Endothel­zellen, welche dem Gas-, Flüssigkeits- und Stoffaustausch zwischen Blut und umliegendem Gewebe dienen. Sie besteht aus einer Basalmembran, einer subendothelialen Schicht von Bindegewebszellen und häufig einer "Membrana elastica interna", die die Intima von der Media trennt. Media. Die Media besteht, je nach Gefäßtyp, aus einer mehr oder weniger ausgeprägten Muskelschicht, die beiderseits von einer Faserlamelle aus elastischem Bindegewebe begrenzt wird. Man unterscheidet die herznahen Arterien vom elastischen Typ (siehe Windkesselfunktion) und die eher distalen Arterien vom muskulären Typ. Über ihr liegt die "Membrana elastica externa", die sie von der Adventitia trennt. Adventitia. Die Adventitia ist das umgebende lockere Bindegewebe zur Verankerung und Einbettung des Blutgefäßes in seiner Umgebung. Bei größeren Gefäßen enthält es "Vasa vasorum", also feine Blutgefäße zur Versorgung der Gefäßwand. Bei kleineren Blutgefäßen erfolgt die Versorgung aus dem Lumen des Gefäßes selbst.
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Breitband-Internetzugang
Ein Breitband-Internetzugang (auch "Breitbandzugang", "Breitbandanschluss") ist ein Zugang zum Internet mit vergleichsweise hoher Datenübertragungsrate von einem Vielfachen der Geschwindigkeit älterer Zugangstechniken wie der Telefonmodem- oder ISDN-Einwahl, die zur Unterscheidung als Schmalbandtechniken bezeichnet werden. Ursprünglich wurde mit "Breitband" eine Realisierungsform von Datennetzwerken bezeichnet, die aber veraltet ist, so dass der Begriff sinnentfremdet verwendet wird. In vielen Gebieten findet seit den frühen 2000er Jahren ein starkes Wachstum des Marktes für Breitbandzugänge statt. Definitionen. Bislang existiert kein allgemein akzeptierter Schwellwert, ab welcher Datenübertragungsrate die Breitband-Verbindung beginnt. Insbesondere steigt durch die Weiterentwicklung der Kommunikationstechnik dieser Wert beständig. Technik. Telefonnetz. Eine der verbreitetsten Techniken arbeitet mit einer verbesserten Nutzung der Kupferleitungen des Telefonnetzes, da durch die bestehende Infrastruktur geringere Neuinvestitionen nötig sind. Dabei sind in erster Linie die hauptsächlich verwendeten DSL-Techniken zu nennen. Es gibt oder gab jedoch auch andere Ansätze, wie die Entwicklung schnellerer Telefonmodems oder eines schnelleren ISDN-Standards, des Breitband-ISDN (B-ISDN). DSL-Techniken sind nur zur Überbrückung kurzer Distanzen geeignet, was – je nach DSL-Technik – nach wenigen hundert Metern oder erst wenigen Kilometern den Übergang zu einer anderen Übertragungstechnik, einem DSL-Verstärker oder einem Repeater nötig macht. Daher handelt es sich in der Regel um eine Hybridtechnik in Kombination mit, wie in den meisten Fällen, Lichtwellenleitern oder beispielsweise Richtfunkstrecken. Mit wachsenden Übertragungsraten rückt der Übergabepunkt immer näher an den Endnutzer. Eine andere Möglichkeit für breitbandige Datenübertragungen über Telefonleitungen ist die Bündelung mehrerer analoger oder ISDN-Leitungen, was hauptsächlich in Ermangelung des DSL temporär genutzt wurde oder teils noch wird. ISDN-Primärmultiplexanschluss. Die Primärmultiplexanschlüsse gibt es in verschiedenen Ausführungen: als T-carrier, wie T-1/DS-1, T2, T3, als E-carrier oder Optical Carrier. Diese Techniken sind vergleichsweise kostspielige Möglichkeiten für breitbandige Internetanbindung über Kupfer- oder Glasfaserkabel, die für Geschäftskunden und ähnliche Nutzer mit größeren Netzen eingerichtet sind. Kabelfernsehnetz. Die Daten werden mit Kabelmodems auf die analogen Signale des Kabelfernsehnetzes aufmoduliert und so über diese Koaxialkabel übertragen. Hier handelt es sich aus ähnlichen Gründen wie bei DSL in der Regel um eine Hybridtechnik. Durch den DOCSIS-3.1-Standard können Datenraten bis zu 10 Gbit/s im Downstream und 1 Gbit/s im Upstream realisiert werden. In Deutschland sind ca. 30,1 Mio. Haushalte (Stand Ende 2015) über das Kabelnetz an Breitbandzugang angeschlossen. Da das Netz auch in vielen kleineren Gemeinden verfügbar ist, bietet die Technik gute Voraussetzungen für den Anschluss dünn besiedelter Gebiete. Genutzte Frequenzbereiche. In der Praxis wird bei Euro-DOCSIS 2.0 für den Upstream (Rückkanal) der Frequenzbereich von 30 MHz bis 42 MHz, bei Euro-DOCSIS 3.0/ 3.1 von 30 MHz bis 65 MHz genutzt, für den Downstream die Frequenzen ab 450 MHz, wobei sich Fernsehkanäle und Internet dieses obere Frequenzband teilen. Die Obergrenze ist vom Netzausbau abhängig und wurde nicht in DOCSIS spezifiziert. In modernisierten Kabelnetzen liegt sie bei 862 MHz. Mit zunehmender Kabellänge sinkt dämpfungsbedingt die Obergrenze des nutzbaren Frequenzspektrums, was sich durch eine Erhöhung der Signalstärke im UHF-Band V erreichen oder durch eine stärkere Segmentierung der Netze in weitere Node oder Hubs beheben lässt. Die Bandbreite des Upstreams ist v. a. durch das Eingangsrauschen aus den verteilten Antennendosen beschränkt und dadurch, dass in Senderichtung ein robusteres, dafür weniger effizientes Modulationsverfahren angewendet wird. Der Frequenzbereich von 5 MHz bis 30 MHz wird aus diesem Grund gemieden. Direkte Glasfaseranbindung. Den Endkunden direkt per Glasfaser anzubinden, ermöglicht hohe Datenraten (mehr als 1000 Mbit/s) über große Entfernungen. Die notwendige Verlegung neuer Anschlüsse zu jedem Kunden erfordert hohe Investitionskosten und wird hauptsächlich in dicht besiedelten Gebieten wie Großstädten betrieben. Ende 2010 waren in Deutschland Glasfaseranschlüsse zu etwa 300.000 Haushalten verlegt, vermarktet wurde etwa ein Viertel davon. Bis ins Jahr 2014 stieg dort die Zahl der Haushalte mit aktivem Internetanschluss per Glasfaser auf rund 450.000 an. Ende 2019 wurden in der Schweiz rund 850′000 beziehungsweise gut 21 % aller Breitbandanschlüsse über Glasfaser versorgt, womit die Schweiz im Vergleich zum OECD-Durchschnitt etwas dahinter ist (Südkorea: 82,8 %, Litauen 75 %, OECD-Durchschnitt 28,0 %, Deutschland 4,1 %, Österreich 3,0 %). Elektrizitätsnetz. Mittels Trägerfrequenzanlagen (TFA) können Internetzugänge über das Stromnetz realisiert werden, auch unter dem englischsprachigen Begriff "Powerline Communication" (PLC) bekannt. Meist werden damit Datenverbindungen zwischen heimischen Steckdosen und Trafostationen oder ähnlichen Einrichtungen realisiert, die zentral über Glasfaser oder Richtfunk angebunden werden. Terrestrische Funktechnik. Vielerorts – insbesondere wo die Versorgung mittels herkömmlicher Kabeltechniken nicht vorhanden ist – bauen Wireless Internet Access Provider sogenannte Wireless Metropolitan Area Networks (WMAN) auf, um so einen schnellen Internetzugang anbieten zu können. Dabei kommen unterschiedliche Techniken zum Einsatz, darunter der speziell entwickelte WiMAX-Standard, WLAN-Techniken, sowie verschiedene funkbasierende Einzellösungen. Breitbandige Datendienste können Mobilfunkstandards wie LTE, HSDPA, UMTS oder EDGE bieten. Ab 2019 wurde 5G aufgeschaltet. Unter besonderen Bedingungen kann auch Packet Radio aus dem Amateurfunkbereich dazugezählt werden. Damit können Übertragungsraten bis zu mehreren Megabit pro Sekunde realisiert werden und entsprechende Übergabepunkte können damit Zugang zum Internet ermöglichen. Die Nutzung ist jedoch Funkamateuren vorbehalten. Internetzugang über Satellit. Reine Satellitenverbindungen (Zwei-Wege-Satellitenverbindungen) sind unabhängig von landschaftlichen Gegebenheiten oder anderer Infrastruktur praktisch überall auf der Erdoberfläche verfügbar und eignen sich damit besonders für entlegene Gebiete und Schiffe. Problematisch sind bei Satellitenzugängen die immer noch deutlich höheren Kosten für die Hardware und die hohen Latenzzeiten. Im Beispiel eines Systems mit geostationären Satelliten ergeben sich typische Verzögerungen von 500–700 ms, was Echtzeitanwendungen empfindlich stört. Die Technik ermöglicht Übertragungsraten von 20–30 Mbit/s und mehr. Die Kapazitäten sind in Deutschland auf einige 10000 simultane Nutzer begrenzt, sollen allerdings ausgebaut werden (Stand 2009). Hochfliegende Luftfahrzeuge. Über hochfliegende stationäre Luftschiffe können Funksignale für Dienste wie Fernsehausstrahlung, Mobiltelefonie und auch Internetzugänge vermittelt werden. Ein Beispiel für eine geplante Umsetzung dieser Technik trug den Markennamen "Stratellite". Ein weiterer Ansatz wären hochfliegende unbemannte (Leicht-)Flugzeuge wie das 2003 abgestürzte Helios. Verbreitung. Insbesondere in den Industriestaaten entwickelt sich der Breitbandzugang zur vorherrschenden Zugangsart zum Internet, der zugleich zunehmend von Internet-Anwendungen zur sinnvollen Nutzung vorausgesetzt wird. Ende 2006 kamen in den 30 OECD-Staaten 17 Breitbandanschlüsse auf 100 Einwohner, wobei als Technik für In der EU verfügten im Frühjahr 2008 80 % der Haushalte mit Internetanschluss über einen Breitbandzugang. Die EU-Kommission hat die staatliche Unterstützung für den Breitbandnetzausbau ausgeweitet. So wurden 2010 mehr als 1,8 Milliarden Euro öffentliche Mittel hierfür genehmigt. 2016 lag die Internetverbreitung bei 89 %. Deutschland landet trotz der hohen Investitionen im weltweiten Vergleich der Internet Geschwindigkeit auf Platz 25 mit 14,8 Mbit/s. Im Vergleich dazu liegt die durchschnittliche Übertragungsrate in Südkorea bei 26,1 MBit/s. 77 % der deutschen Haushalte verfügen über einen privaten Internetanschluss, 93 % davon sind Breitbandanschlüsse. Dabei dominiert die DSL-Technik. Von den 28 Millionen Breitbandanschlüssen im Jahr 2012 waren 82 % DSL-Anschlüsse. TV-Kabel spielen als Breitbandzugangsform zwar eine wachsende, aber aktuell nur geringe Rolle in Deutschland (ca. 16 % der Breitbandanschlüsse), anders als in den USA oder in Österreich; dort sind DSL und TV-Kabel etwa gleich häufig drahtgebundene Übertragungsform. Die deutsche Bundesregierung beschloss 2015 eine Breitbandförderung in Höhe von 4,5 Milliarden Euro. Davon wurden bis 2019 weniger als zwei Prozent abgerufen. Als eine Ursache gilt dafür ein langwieriges und kompliziertes Förderverfahren. Breitbandkluft. Besteht keine ausreichende Versorgung mit Breitbandzugängen, spricht man von einer Breitbandkluft. Sie gilt als Teil der digitalen Kluft oder "digitalen Spaltung". Der Breitbandatlas des Bundeswirtschaftsministeriums gibt einen Eindruck von der Versorgungslage in Deutschland. Einige Bundesländer reagieren auf diese Situation mit der Gründung von Breitbandkompetenzzentren, um den betroffenen Kommunen einen neutralen Ansprechpartner zur Verfügung zu stellen. Von der Interessengemeinschaft kein-DSL.de kommt ein Breitbandbedarfsatlas, der die konkrete Nachfrage abbildet. In diesen können Interessenten ihren Breitbandbedarf und ihren Bandbreitenwunsch eintragen. Verschiedene staatliche, bürgerschaftliche und partnerschaftliche (PPP) Initiativen engagieren sich gegen die Unterversorgung auf Länderebene, deutschlandweit und europaweit. Allerdings halten nicht alle dieselben Instrumente für tauglich zur schnellen Überwindung der Breitbandkluft. Eine Zugangsoption im ländlichen Raum können Breitbandzugänge mittels Satellit sein, die mittlerweile ernstzunehmende Angebote darstellen. Um die flächendeckende Versorgung mit Breitband-Internetzugängen sicherzustellen, gilt in der Schweiz ab 2008 ein Breitbandzugang mit 600 kbit/s in Empfangs- und 100 kbit/s in Senderichtung als Bestandteil des Grundversorgungskataloges. Ein ähnliches Versorgungsziel verfolgt Australien mit der Australian Broadband Guarantee seit 2007. In Frankreich wurde 2013 die Initiative "France Très Haut Débit" gestartet, bei der bis 2022 flächendeckend alle Anschlüsse auf sehr hohe Datenraten (>30 Mbit/s) umgestellt werden sollen (80 % davon mit Glasfaseranschlüssen). Ende 2013 lag die durchschnittliche Übertragungsrate bei 8,7 Mbit/s. In Japan und Finnland soll bis 2011 jeder Bürger mit Breitband- und 90 Prozent mit Hochleistungsinternet versorgt sein. Die USA planen Initiativen zur Verbesserung der Verfügbarkeit.
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Brennnesseln
Die Brennnesseln ("Urtica") bilden eine Pflanzengattung in der Familie der Brennnesselgewächse (Urticaceae). Die 30 bis 70 Arten kommen fast weltweit vor. In Deutschland nahezu überall anzutreffen sind die Große Brennnessel und die Kleine Brennnessel sowie seltener die Röhricht-Brennnessel und die Pillen-Brennnessel. Beschreibung. Vegetative Merkmale. Brennnessel-Arten wachsen als einjährige oder ausdauernde krautige Pflanzen, selten auch Halbsträucher. Die in Mitteleuropa vertretenen Arten erreichen je nach Art, Standort und Nährstoffsituation Wuchshöhen von 10 bis 300 Zentimetern. Die ausdauernden Arten bilden Rhizome als Ausbreitungs- und Überdauerungsorgane. Die grünen Pflanzenteile sind mit Brenn- sowie Borstenhaaren besetzt. Ihre oft vierkantigen Stängel sind verzweigt oder unverzweigt, aufrecht, aufsteigend oder ausgebreitet. Die meist kreuz-gegenständig an der Sprossachse angeordneten Laubblätter sind in Blattstiel und Blattspreite gegliedert. Die einfachen Blattspreiten sind elliptisch, lanzettlich, eiförmig oder kreisförmig und besitzen meist drei bis fünf (bis sieben) Blattadern. Der Blattrand ist meist gezähnt bis mehr oder weniger grob gezähnt. Die oft haltbaren Nebenblätter sind frei oder untereinander verwachsen. Die Zystolithen sind gerundet bis mehr oder weniger verlängert. Brennhaare. Bekannt und unbeliebt sind die Brennnesseln wegen der schmerzhaften Quaddeln (Schwellungen), die auf der Haut nach Berührung der Brennhaare entstehen. Je nach Art sind die Folgen unterschiedlich schwer, so ist beispielsweise die Brennflüssigkeit der Kleinen Brennnessel ("Urtica urens") wesentlich schmerzhafter als die der Großen Brennnessel ("Urtica dioica"). Diese Brennhaare wirken als Schutzmechanismus gegen Fressfeinde und sind überwiegend auf der Blattoberseite vorhanden. Es sind lange, einzellige Röhren, deren Wände im oberen Teil durch eingelagerte Kieselsäure hart und spröde wie Glas sind. Das untere, flexiblere Ende ist stark angeschwollen, mit Brennflüssigkeit gefüllt und in einen Zellbecher eingesenkt, die Spitze besteht aus einem seitwärts gerichteten Köpfchen, unter dem durch die hier sehr dünne Wand eine Art Sollbruchstelle vorhanden ist. Das Köpfchen kann schon bei einer leichten Berührung abbrechen und hinterlässt eine schräge, scharfe Bruchstelle, ähnlich der einer medizinischen Spritzenkanüle. Bei Kontakt sticht das Härchen in die Haut des Opfers, sein ameisensäurehaltiger Inhalt spritzt mit Druck in die Wunde und verursacht sofort einen kurzen, brennenden Schmerz und dann die erwähnten, mit Brennen oder Juckreiz verbundenen Quaddeln. Weitere Wirkstoffe der Brennflüssigkeit sind Serotonin, Histamin, Acetylcholin und Natriumformiat. Bereits 100 Nanogramm dieser Brennflüssigkeit reichen aus, um die bekannte Wirkung zu erzielen. Histamin erweitert die Blutkapillaren und kann Reaktionen hervorrufen, die allergischen Reaktionen ähneln (diese werden unter anderem durch Freisetzung körpereigenen Histamins verursacht). Acetylcholin ist auch die Überträgersubstanz vieler Nervenendungen und für den brennenden Schmerz verantwortlich. Da fast alle Brennhaare nach oben gerichtet sind, lassen sich Brennnesseln mithilfe einer Überstreichung von unten nach oben relativ gefahrlos anfassen. Auch ohne Eindringen der Brennhaare kann allein der Hautkontakt zur Brennflüssigkeit Folgen haben: Frischer Brennnessel-Schnitt verursacht bei Hautkontakt (z. B. beim Rasenmähen) zuerst keine Schmerzen, weil gebrochene Brennhaare nicht in die Haut stechen können und nur noch wenig Gift enthalten. Die spröden Brennhaare brechen bereits bei Mähmesser-Rotation und die Brennflüssigkeit fließt frei aus. Bei Benetzung empfindlicher Hautschichten mit Brennflüssigkeit (Knöchel- und Spannbereich) erfolgt eine späte Schmerzreaktion, da die Brennflüssigkeit nach Kontakt auf nervenloser Oberhaut (Epidermis) durch Poren in die darunterliegende Lederhaut (Dermis) eindringt. Dort erreicht sie erst nach Stunden freie Nervenendigungen (Nozizeptoren). Dagegen schmerzen Hauteinstiche spröder, ungebrochener Brennhaare schon in Sekundenbruchteilen. Die relativ lange Gift-Kontaktzeit ist zur späteren Verätzungsintensität direkt proportional. Nur langsam unter stechenden Schmerzen mit Schwellungen wird das in die Lederhaut eingedrungene Gift abgebaut und die großflächig verätzte Oberhaut durch eine neue ersetzt. Die Brennnessel hat damit einer Reaktion der Haut ihren Namen gegeben, der Nesselsucht oder Urtikaria. Genau wie bei einer Reizung durch Brennnesseln verursacht sie juckende Quaddeln und es wird Histamin aus Mastzellen der Haut freigesetzt. Die Ursachen können jedoch sehr unterschiedlich sein. Generative Merkmale. Brennnesseln sind je nach Art einhäusig (monözisch) oder zweihäusig (diözisch) getrenntgeschlechtig. In den Blattachseln stehen in verzweigten, rispigen, ährigen, traubigen oder kopfigen Gesamtblütenständen viele zymöse Teilblütenstände mit jeweils vielen Blüten zusammen. Die relativ kleinen, unauffälligen, immer eingeschlechtigen Blüten sind zwei- bis sechs-, meist jedoch vier- bis fünfzählig. Die eingeschlechtigen Blüten sind etwas reduziert. Es sind (zwei bis) vier (bis fünf) Blütenhüllblätter vorhanden. Die männlichen Blüten enthalten meist (zwei bis) vier (bis fünf) Staubblätter. Die weiblichen Blüten enthalten einen Fruchtknoten, der zentral in der Blüte liegt und aus nur einem Fruchtblatt gebildet wird. Die sitzenden, in den haltbaren inneren Blütenhüllblättern locker eingehüllten Nüsschen sind gerade, seitlich abgeflacht, eiförmig oder deltoid. Die aufrechten Samen enthalten wenig Endosperm und zwei fleischige, fast kreisförmige Keimblätter (Kotyledonen). Die Chromosomengrundzahl beträgt x = 12 oder 13. Einige morphologisch ähnliche Arten. Die Arten der mit den Brennnesseln nicht verwandten Gattung der Taubnesseln ("Lamium") sehen den Brennnesseln in Wuchs und Blattform sehr ähnlich, besitzen aber keine Brennhaare und sehr viel größere und auffälligere Blüten. Die ebenfalls ähnlichen Blätter der Nesselblättrigen Glockenblume ("Campanula trachelium") sind dagegen wechselständig. Ökologie. Brennnessel-Arten sind windbestäubt. Wenn sich bei den männlichen Blüten die Blütenhüllblätter öffnen, schnellen ihre Staubblätter hervor; dabei wird explosionsartig eine Wolke von Pollen in die Luft geschleudert. Der Wind überträgt anschließend den Pollen auf die weiblichen Blüten. Die Ausbreitung der Diasporen erfolgt durch Wind und Tiere. Lebensraum für Schmetterlinge. Für die Raupen von rund 50 Schmetterlingsarten sind bestimmte Brennnessel-Arten eine Futterpflanze. Die Schmetterlingsarten Admiral, Tagpfauenauge, Kleiner Fuchs (auch als Nesselfalter bekannt), Silbergraue Nessel-Höckereule, Dunkelgraue Nessel-Höckereule, Brennnessel-Zünslereule ("Hypena obesalis") und das Landkärtchen sind dafür sogar auf die Brennnessel angewiesen, andere Pflanzenarten kommen für diese Arten nicht in Betracht (Monophagie). Trotzdem scheinen sich diese Schmetterlingsarten kaum gegenseitig Konkurrenz zu machen, da sie entweder jeweils eine andere Wuchssorte der Brennnesseln bevorzugen oder relativ selten sind. Beide Arten benötigen überdies größere Brennnesselbestände. Auf fast jeder Brennnessel sind Fraßspuren einzelner Insekten zu finden. Dabei müssen diese eine Strategie entwickelt haben, mit der sie die Brennhaare umgehen. Sie fressen sich um die Haare herum und bevorzugen dabei die Wege entlang der Blattadern und der Blattränder, da sich dort keine Brennhaare befinden. Vorteilhaft für die Insekten: Das Gift dringt nicht aus der Spitze, wenn das Haar unten an der Wurzel angefressen wird. Vorkommen. Die Gattung "Urtica" ist fast weltweit verbreitet, lediglich in der Antarktis kommen keine Arten vor. Von den 30 bis 70 "Urtica"-Arten kommen 14 in China vor. Hauptsächlich gedeihen "Urtica"-Arten in den gemäßigten Gebieten der Nord- und der Südhalbkugel. Es gibt aber auch Arten in den Gebirgen der Tropen. Im deutschsprachigen Raum kommen vier Brennnessel-Arten vor: Die bekanntesten sind die zweihäusige Große Brennnessel ("Urtica dioica") und die einhäusige Kleine Brennnessel ("Urtica urens"); außerdem existieren hier noch die Röhricht-Brennnessel ("Urtica kioviensis") und die aus dem Mittelmeerraum eingeschleppte Pillen-Brennnessel ("Urtica pilulifera"), deren gelegentliche mitteleuropäische Vorkommen auf die Kulturflucht aus Kräutergärten zurückzuführen ist, in denen sie wegen ihrer schleimigen Samen kultiviert wurde. Einige Arten sind sehr anspruchslos und besiedeln deshalb ein breites Spektrum an Habitaten. Zeigerfunktion. Ein starker Brennnesselwuchs gilt allgemein als Zeiger für einen stickstoffreichen Boden und bildet sich oft als Ruderalpflanze auf früher besiedelten Stellen aus. Eine große Anzahl Brennnesseln in einem Gebiet erlaubt es somit, auch ohne chemische Untersuchungen Rückschlüsse auf die Bodenbeschaffenheit zu ziehen. Systematik. Die Gattung "Urtica" wurde 1753 durch Carl von Linné in "Species Plantarum" aufgestellt. Zum Protolog gehört auch die Diagnose in "Genera Plantarum". Der Gattungsname "Urtica" leitet sich vom lateinischen Wort "urere" für „brennen“ ab. Synonyme für "Urtica" sind: "Selepsion" , "Vrtica" Die Gattung der Brennnesseln ("Urtica") enthält je nach Autor 30 bis 70 Arten: Nicht mehr zur Gattung "Urtica" gehören: Inhaltsstoffe. Es konnten verschiedene phenolische Säuren, Lignane sowie Flavonoide wie Rutin und Isoquercitrin identifiziert werden. Verwendung. Die meisten der folgenden Aspekte beziehen sich auf die Große Brennnessel ("Urtica dioica"), die unter anderem als Heil- und Nutzpflanze dient. Lebensmittel. Von einigen Arten werden die grünen Pflanzenteile, die unterirdischen Pflanzenteile und die Samen verwendet. Als Frühjahrsgemüse werden die jungen Brennnesseltriebe wegen ihres hohen Gehalts an Flavonoiden, Mineralstoffen wie Magnesium, Kalzium und Silizium, Vitamin A und C (etwa doppelt so viel Vitamin C wie Orangen), Eisen, aber auch wegen ihres hohen Eiweißgehalts geschätzt. Die Brennnessel enthält in der Trockenmasse etwa 30 Prozent Eiweißanteil. Der Geschmack wird als „dem Spinat ähnlich, aber aromatischer“ und als feinsäuerlich beschrieben. Die Nutzung von wild gesammelten Brennnesseln als Nahrungsmittel (Wildkraut), vor allem von frischen Trieben im Frühjahr, ist seit der Antike aus Nord- und Westeuropa sowie der indigenen Bevölkerung Kanadas bezeugt. Die Nutzung erfolgte als Wildgemüse (in Schottland "kail"), Suppe oder Tee. Besondere Verwendungen waren etwa die Zugabe beim Kochen, um zartes Fleisch zu erhalten, oder als Ersatz für Lab zur Käsebereitung. Die Samen der Brennnessel eignen sich geröstet zum Verzehr oder lassen sich zu Brennnesselsamenöl weiterverarbeiten. Der unangenehmen Wirkung der Nesselhaare kann man bei der rohen Verwendung für beispielsweise Salate entgegenwirken, indem man die jungen oberirdischen Pflanzenteile in ein Tuch wickelt und stark wringt, sie beispielsweise mit einem Wiegemesser sehr fein schneidet, mit einem Nudelholz gut durchwalkt oder ihnen eine kräftige Dusche verabreicht. Kochen sowie kurzes Blanchieren für Brennnesselspinat sowie -suppe macht die Nesselhaare ebenfalls unschädlich. Auch durch das Trocknen der oberirdischen Pflanzenteile für die Teezubereitung verlieren sie ihre reizende Wirkung. Fasergewinnung. Textilien aus Brennnesseln wurden bereits im Altertum hergestellt. Dieser Art der Verwendung war nicht auf einzelne Regionen beschränkt. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts lebte das Interesse an der heimischen Faserpflanze aufgrund einer Baumwollknappheit wieder auf. Um 1900 galt Nessel als das „Leinen der armen Leute“. Im Zweiten Weltkrieg wurde Nesseltuch verstärkt in Deutschland für Armee-Bekleidung verwendet. Der Fasergehalt der Zellulosefasern in wilden Brennnesseln erreicht im Durchschnitt etwa fünf Prozent und konnte in zur Fasergewinnung optimierten Zuchtlinien bis auf 22 Prozent gesteigert werden. Der Rohfaserertrag lag bei Anbauversuchen um 2003 bei maximal etwa einer Tonne pro Hektar Anbaufläche. Die Fasern können durch mikrobiologische Prozesse freigelegt werden. Färberpflanze. Lange Zeit gehörte die Brennnessel zu den Färbekräutern. Wolle kann man mit ihrer Wurzel, nach Vorbeizen mit Alaun, wachsgelb färben. Mit einer Zinnvorbeize, Kupfernachbeize und einem Ammoniak-Entwicklungsbad erzielen die oberirdischen Teile ein kräftiges Graugrün. Man benötigt etwa 600 Gramm Brennnessel pro 100 Gramm Wolle; besonders bei der Brennnessel kann der Farbton vom Zeitpunkt des Pflückens und Färbens abhängen, deshalb ist die Technik bei Massenproduktion von Kollektionen in Vergessenheit geraten. Gärtnerische Verwendung. Die Brennnesseln finden insbesondere im biologischen Gartenbau vielfältige Verwendung. Ein scharfer, nur 24 Stunden angesetzter Kaltwasserauszug („brennende Brennnesseljauche“) als Pflanzenstärkungsmittel soll sowohl die Widerstandskraft behandelter Pflanzen gegenüber Schädlingen erhöhen als auch düngend wirken. Brennnesseljauche wird, im Verhältnis 1:10 bis 1:20, bei verschiedenen Gemüsepflanzen, insbesondere bei Gurken, Kohl, Porree, Tomaten und Zucchini, eingesetzt. Im Garten angebaute oder wildwachsend gesammelte Brennnesseln können zudem als Tee oder Gemüse (Wildkraut) verwendet werden. Anbau. Als Kulturpflanze angebaut wird ausschließlich die Große Brennnessel ("Urtica dioica"), meist als Faserpflanze. Es handelt sich um eine ausdauernde Pflanze, die mehrere Jahre hintereinander auf derselben Fläche geerntet wird, der Anbau gilt als vorteilhaft aufgrund des geringen Aufwands, die Pflanze benötigt aber nährstoffreiche Böden und hat einen hohen Wasserbedarf. Die Art kann aus Samen vermehrt werden, im großflächigen Anbau ist aber vegetative Vermehrung Standard, um einheitliche Erträge zu gewährleisten. Angebaut werden ausgewählte Kulturlinien (meist Klone), deren genaue botanische Zuordnung nicht immer eindeutig ist; diese erreichen Wuchshöhen bis über zwei Meter. Die erste Ernte erfolgt im zweiten Wuchsjahr. Es können Erträge von 3 bis 12 Tonnen pro Hektar Trockenmasse erzielt werden, höhere Erträge aber meist nur bei intensiver Stickstoff-Düngung. Während für Faserproduktion im Herbst geerntet wird, erfolgt die Ernte bereits im Frühjahr (April), wenn vorwiegend Blätter gewonnen werden sollen, etwa für pharmazeutische Produkte. Angebaute Pflanzen können möglicherweise 10 bis 15 Jahre beerntet werden, gute Erträge werden aber, nach den alten Anbauversuchen von Bredemann (1959) vor allem bis zum vierten Jahr berichtet. Für den Anbau zur Blättergewinnung wird auch die einjährige Kleine Brennnessel ("Urtica urens") eingesetzt. Der Anbau der Brennnessel wurde in Deutschland und Österreich vor allem in den Kriegsjahren, als Substitut für ausbleibende Baumwollimporte, betrieben. Damals wurden etwa 500 Hektar Nesseln angebaut. Er geriet nachher bald in Vergessenheit. Klone aus den alten Anbauversuchen durch Gustav Bredemann sind aber in einigen Universitätssammlungen erhalten geblieben. Seit den 1990er Jahren gibt es neue Anbauversuche als nachwachsender Rohstoff, die aber derzeit noch überwiegend experimenteller Natur sind. Ein Anbau, als Nischenprodukt, erfolgt etwa in Ungarn. Nach der Ernte werden die Pflanzen eine Zeit lang auf dem Acker liegen gelassen, um durch mikrobiellen Abbau die Isolierung der Fasern zu erleichtern (analog dem Rösten beim Flachs). Die Fasern werden anschließend, entweder traditionell enzymatisch durch mikrobiellen Abbau, oder alternativ durch chemische Verfahren, isoliert. Mechanische Isolierung ist ebenfalls möglich, liefert aber ein geringwertiges Produkt, das nicht für Textilien verwendbar ist. Kulturelle Bedeutung. Die lange Geschichte der Brennnessel als Heilpflanze und Nahrungsmittel führt dazu, dass es eine Vielzahl ethnobotanischer Traditionen und Ansichten über diese Pflanzenarten gibt, die teils dem Bereich der Mythen und des Aber- und Wunderglaubens entstammen. Einige der Bräuche:
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Bit
Der Begriff Bit (Kofferwort aus "") wird in der Informatik, der Informationstechnik, der Nachrichtentechnik sowie verwandten Fachgebieten in folgenden Bedeutungen verwendet: Wortherkunft. Das Wort "Bit" ist eine Wortkreuzung aus "" – englisch für „binäre Ziffer“ oder auch "Binärziffer". Es wurde von dem Mathematiker John W. Tukey vermutlich 1946, nach anderen Quellen schon 1943, vorgeschlagen. Schriftlich wurde der Begriff zum ersten Mal 1948 auf Seite eins von Claude Shannons berühmter Arbeit "A Mathematical Theory of Communication" erwähnt. Die Bits als Wahrheitswerte verwendete George Boole als Erster. Schreibweise. Die Maßeinheit heißt „Bit“ und hat – der IEC nach – „“ als Einheitenzeichen; das alternative „b“ ist ungebräuchlich. So wie man „100-Meter-Lauf“ und „100-m-Lauf“ schreiben kann, kann auch „32-Bit-Register“ und „32-bit-Register“ geschrieben werden. Insbesondere für die Angabe von Datenraten sind Einheitenvorsätze gebräuchlich, z. B. Mbit/s für Megabit pro Sekunde. Die Einheit wird nur im Singular verwendet, während der Plural für bestimmte „Bits“ einer Gruppe verwendet wird. Darstellung von Bits. Die kleinstmögliche Unterscheidung, die ein digitaltechnisches System treffen kann, ist die zwischen zwei Möglichkeiten, in der Informatik auch als "Zustände" bezeichnet. Ein Paar definierter Zustände, zum Beispiel repräsentiert ein Bit. In der digitalen Schaltungstechnik werden Spannungspegel zur Darstellung der Signale verwendet, die innerhalb einer Bauart (Logikfamilie) in definierten Bereichen liegen, siehe Logikpegel. Liegt die Spannung im hohen Bereich, so liegt der Zustand "H" vor, im unteren Bereich "L" (von engl. ). Ein Zwischenzustand ist nicht definiert. Technisch existiert der Zustand „hochohmig“ = "Z", d. h. diese Leitung transportiert keine ausdrückliche Spannung und macht damit keine Aussage über den Logikpegel. Im Rahmen von Schaltungssimulationen existieren schwache "H" und "L"-Zustände ("weak"). Symbolisch, unabhängig von der physischen Repräsentation, werden die zwei Zustände eines Bits notiert als Die Zuordnung "H"→"1", "L"→"0" heißt "positive Logik", die umgekehrte Zuordnung "negative Logik". Eingänge von Schaltungen, die negative Logik verwenden, bezeichnet man als „low-aktiv“. Während bei der Verarbeitung von Daten die physische Repräsentation mit zwei Zuständen vorherrscht, verwenden manche Speichertechnologien mehrere Zustände pro Zelle. So kann eine Speicherzelle 3 Bit speichern, wenn 8 verschiedene Ladungszustände sicher unterschieden werden können, siehe Tabelle. Ähnlich werden bei vielen Leitungscodes und Funkstandards mehrere Bit je Symbol übertragen, siehe z. B. Quadraturamplitudenmodulation. Umgekehrt können mit einer Kombination von "n" Bits, unabhängig von ihrer physischen Repräsentation, 2"n" verschiedene logische Zustände kodiert werden, siehe Exponentialfunktion. Mit beispielsweise zwei Bits können 22 = 4 verschiedene Zustände repräsentiert werden, z. B. die Zahlen Null bis Drei als "00", "01", "10" und "11", siehe Binärzahl. Bitfehler. Wenn sich einzelne Bits aufgrund einer Störung bei der Übertragung oder in einem Speicher ändern, spricht man von einem Bitfehler. Ein Maß dafür, wie häufig bzw. wahrscheinlich Bitfehler auftreten ist die Bitfehlerhäufigkeit. Es gibt Verfahren, die bei der Übertragung und Speicherung von Daten derartige Fehler erkennen und in gewissen Grenzen selbst korrigieren können, siehe Kanalkodierung. Im Allgemeinen erzeugen sie dazu gerade so viel Redundanz in der Information, wie für den Sicherheitsgewinn nötig ist. Qubits in der Quanteninformationstheorie. Das Quantenbit (kurz Qubit genannt) bildet in der Quanteninformationstheorie die Grundlage für Quantencomputer und die Quantenkryptografie. Das Qubit spielt dabei analog die Rolle zum klassischen Bit bei herkömmlichen Computern: Es dient als kleinstmögliche Speichereinheit und definiert gleichzeitig als Zweizustands-Quantensystem ein Maß für die Quanteninformation. Hierbei bezieht sich „Zweizustand“ nicht auf die Zahl der Zustände, sondern auf genau zwei verschiedene Zustände, die bei einer Messung sicher unterschieden werden können. Trivia. Im Januar 2012 gelang es, 1 Bit (2 Zustände) in nur 12 Eisenatomen zu speichern, die bisher geringste Atomanzahl für magnetisches Speichern. Dabei konnte eine stabile Anordnung/Ausrichtung der Atome für mindestens 17 Stunden nahe dem absoluten Nullpunkt der Temperatur nachgewiesen werden. Zum Vergleich:
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Bremsen
Bremsen ("Tabanidae"; auch Bremen oder Viehfliegen) sind eine Familie aus der Unterordnung der Fliegen ("Brachycera") in der Ordnung der Zweiflügler ("Diptera"). Die Männchen der meisten Arten sind Blütenbesucher und ernähren sich von Pollen und Nektar, die Weibchen gehören zu den blutsaugenden (hämatophagen) Insekten und stechen vor allem Säugetiere und auch Menschen. Besonders aktiv sind die meisten Arten in Mitteleuropa zwischen April und August an schwülen Tagen. Die Larven entwickeln sich meist in feuchten Lebensräumen im Boden oder im Wasser, daher sind Bremsen besonders häufig im Umland von Gewässern, in Sumpfgebieten und in nassen Wiesen anzutreffen. Bremsen werden auch als "Viehfliegen" bezeichnet. Im norddeutschen Raum werden sie oft "Blinde Fliegen" genannt, in Westdeutschland "Blinder Kuckuck", in Süddeutschland und Teilen Österreichs und der Schweiz "Breme", "Bräme" oder "Brämer", historisch findet sich "Brämse". Dazu gibt es historisch eine sprachliche Vermengung mit den parasitären Dasselfliegen, die sich beispielsweise in der norddeutschen Bezeichnung "Dase" für eine Bremse äußert, oder umgekehrt in Artbezeichnungen wie Schafbremse, die zu den Dasselfliegen gehört. Lebensweise und Ernährung. Bei den meisten der etwa 4000 Arten saugen nur die Weibchen Blut, während die Männchen Blüten besuchen und Nektar saugen. Eine Blutmahlzeit genügt zur Reproduktion. Bei einigen Arten (Unterfamilie der "Pangoniae") ernähren sich die Weibchen ebenfalls pflanzlich. Deren Rüssel ist zum Teil sehr lang, um an Nektar zu gelangen. Einige tropische Arten leben von Aas. Die Mundwerkzeuge der Bremsen sind zu einem stilettartigen Saugrüssel umgebildet, der aus Labrum, Hypopharynx und den paarigen Mandibeln und Maxillen besteht. Die Stechborsten werden von hinten vom Labium umschlossen. Im Gegensatz zu dem der Stechmücken ist der Stich von Bremsen sofort deutlich spürbar und schmerzhaft. Sie sind meist ausgesprochene sogenannte "Pool feeder", die also mit groben Mundwerkzeugen eine offene Wunde in die Haut reißen. Von austretendem Blut, Lymphe und Zellflüssigkeit ernähren sie sich. An der Stichstelle tritt Juckreiz auf. Wie bei Mückenstichen bildet sich dort für einige Stunden eine Quaddel. Bremsen werden speziell vom Schweiß angelockt und können auch durch Kleidung stechen. Wie viele blutsaugende Insekten spritzen sie vor dem Blutsaugen ein gerinnungshemmendes Sekret, das bei der relativ großen Stichwunde ein Weiterbluten nach dem Saugen verursacht. Bremsen können bis zu 0,2 ml Blut saugen. Lebenszyklus. Die Ablage von 25 bis 1000 Eiern findet an wassernahen Pflanzen statt. Die Larven durchlaufen meist 6 bis 13 Entwicklungsstadien, leben zum Teil wechselnd räuberisch und von pflanzlichen Resten am/im Wasser und im feuchten Boden/Schlamm, bis sie sich an trockeneren Orten verpuppen. Der Entwicklungszyklus dauert je nach Klimazone mehrere Monate bis mehrere Jahre. In Mitteleuropa bilden z. B. die Tabaniden eine Generation, haben also einen Jahreszyklus. Die erwachsenen Tiere leben 2 bis 4 Wochen. Bremsen als Krankheitsüberträger. Bremsen können durch ihren Stich mechanisch Milzbrand, Weilsche Krankheit, Tularämie und Lyme-Borreliose auf den Menschen übertragen, siehe auch Infektionswege und blutsaugende Insekten. Die humanpathogene Filarie Loa loa benutzt in Westafrika Vertreter der Bremsenunterfamilie Chrysopinae als Zwischenwirt. Die Surra der Pferde und Kamele wird auch außerhalb des Tsetsegürtels, ebenso wie die Kreuzlähme der Pferde in Südamerika, von Tabaniden auf mechanischem Wege übertragen. Weiterhin stehen Bremsen unter dem Verdacht, in Afrika Nagana auf Tiere und die Schlafkrankheit auf den Menschen ebenfalls auf mechanischem Wege zu übertragen. Pferdebremsen ("Tabanus sudeticus") können das zu den Lentiviren gehörende EIA-Virus auf mechanischem Wege übertragen. Gattungen und einige mitteleuropäische Arten. Aus Deutschland sind 58 Arten der Bremsen bekannt. Fossile Belege. Fossile Belege dieser Familie sind rar. Der älteste gesicherte Nachweis ist eozänen Alters, aus baltischem Bernstein wie auch aus einer geologischen Schicht dieses Alters auf der Isle of Wight. Aus dem zumeist etwas jüngeren dominikanischen Bernstein ist die Gattung "Stenotabanus" beschrieben. In mesozoischen Ablagerungen gefundene Brachycera, die einst als Angehörige dieser Familie angesehen wurden, sind heute anderen Taxa zugeordnet.
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BBS
BBS steht als Abkürzung für:
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Bremse
Bremsen dienen zur Verringerung bzw. Begrenzung der Geschwindigkeit von bewegten Maschinenteilen oder Fahrzeugen. Sie funktionieren meistens durch die Umwandlung der zugeführten Bewegungsenergie über Reibung in Wärmeenergie. Im Gegensatz zur Nutzbremse geht dabei die Kinetische Energie für die Fortbewegung verloren. Bremsen sind als Maschinenelement eng mit Kupplungen verwandt, die Bremse ist eine spezielle Kupplung, bei der eine Seite feststeht. Insofern lassen sich viele Bremsentypen aus Kupplungen ableiten. Fahrzeuge im Sinne der StVZO müssen in Deutschland ein Zweikreisbremssystem, also zwei voneinander unabhängig funktionierende Bremsen besitzen. Die in Fahrzeugen weitaus am häufigsten verwendeten Bremsenarten sind die Scheibenbremse und die Trommelbremse, eine weiterentwickelte Form der Klotzbremse. Meist wird eine Bremse zur Verringerung der Umdrehungsgeschwindigkeit von rotierenden Teilen verwendet. Aber viele der angeführten Prinzipien kann man auch zur Verminderung einer linearen Bewegung verwenden, wenn sich auch die Bauweisen etwas unterscheiden. Zum Teil wird auch die Art der Betätigung der Bremse zur Kategorisierung verwendet. Jedoch sagt beispielsweise die Bezeichnung Druckluftbremse, Hydraulikbremse oder Seilzugbremse nichts über die Bauform aus, sondern gibt nur Art der Kraftübertragung auf die mechanischen Stellelemente an. Bremsleistung. Die Bremsleistung ist von der Bremskraft und der Augenblicksgeschwindigkeit abhängig und wird vollständig in Wärme umgewandelt. mit Physikalisch wird mit einer Bremse die kinetische Energie (formula_6) einer sich um die Geschwindigkeitsdifferenz (formula_7) abgebremsten (oder verzögerten) physikalischen Masse (formula_8) in Wärmeenergie umgewandelt. Zu beachten ist, dass die Geschwindigkeit quadratisch in die Berechnung eingeht: Infolge der spezifischen Wärmekapazität entsteht Wärmebindung. Kühlend wirkt die Wärmestrahlung nach dem Stefan-Boltzmann-Gesetz, die Wärmekonvektion durch Fahrtwind oder Gebläse mit veränderlichem Wärmeübergangskoeffizienten und der Wärmeleitung durch die Verbindungselemente (Konduktion). Eine Beispielrechnung zu Erwärmung einer Scheibenbremse enthält der Hauptartikel Bremsscheibe. Mechanische Bremsen. Alle mechanischen Bremsen sind Schleifbremsen und beruhen darauf, eine Bewegung durch Reibung zwischen einem festen und dem bewegten Körper abzubauen. Kratzbremse. Seit den frühesten Tagen ist das Prinzip der Kratzbremse bekannt. Ein Hebel ist so an einem Fahrzeug befestigt oder eingeklemmt, dass das (möglichst) kürzere Stück zum Boden und das längere Stück zum Bediener zeigt. Durch Anziehen des Bremshebels wird das kurze untere Ende über Hebelwirkung in den Untergrund gedrückt und bremst so das Fahrzeug ab. Diese Technik war lange Zeit verbreitet und kommt auch heute noch zur Anwendung, z. B. bei Schlitten, Sportgeräten oder Kinderfahrzeugen. Hemmschuh. Der Hemmschuh stellt eine primitive Form der Klotzbremse dar. Klotzbremse. Die überwiegende Anzahl aller im 19. Jahrhundert verwendeten Bremsen bei Landfahrzeugen lässt sich dem Prinzip der Klotzbremse zuordnen. Spindelbremsen an historischen Kutschen haben beispielsweise Bremsklötze aus Lindenholz. Backenbremse. Die Backenbremse ist eine mechanische Bremse, bei der ein drehender Zylinder von außen durch angedrückte Bremsbeläge gebremst wird. Trommelbremse. Die Trommelbremse verfügt über ein zylinderförmiges umlaufendes Gehäuse (Trommel), an das beim Bremsen innen oder außen liegende, feststehende Bremsbacken gepresst werden. Die Betätigung der Bremsbacken erfolgt meist über einen Hydraulikzylinder innerhalb der Trommel oder über sich drehende Exzenterbolzen von außen. Je nach Konstruktion werden weitere Bauformen unterschieden. Scheibenbremse. Die Scheibenbremse weist eine auf der Welle mitlaufende Bremsscheibe auf, an die die Bremsbeläge beidseitig gepresst werden. Solche Bremsen findet man heute bei allen gängigen Fahrzeugen wie Pkw, LKW, Motorrädern, Fahrrädern und auch an Zügen. U. a. in Bremsmotoren sorgen Elektromagnete, die eine federbelastete Bremsscheibe aus weichmagnetischem Eisen anziehen, für das Lösen der Bremse. Bei manchen Bremsmotoren wird das magnetische Feld des Motors selbst zum Lösen der Bremse verwendet oder die Gleichspannung für das Lösen der Bremse wird mit einem Gleichrichter aus der Betriebsspannung gewonnen. Ölbadbremse. Eine Unterkategorie der Scheibenbremse ist die Ölbadbremse (Oft auch als „Nasse Bremse“ bezeichnet). Hier rotiert eine (oder mehrere durch Zwischenscheiben getrennte) Bremsscheibe(n) in einem Ölbad, welche durch Reibung mit der Druckplatte, Reibring(außen) sowie die Zwischenscheiben abgebremst werden. Das Anpressen erfolgt durch eine Druckplatte, welche aus zwei Scheiben besteht. Zwischen den Platten sind Kugeln in länglichen, flacher werdenden Vertiefungen angebracht. Durch das Verdrehen der beiden Scheiben zueinander, welche sich dadurch auf einander zu oder weg bewegen, wird die Anpresskraft auf die Bremsbelag- und Zwischenscheiben angepasst. Das Öl dient zum Abtransport der Wärmeenergie. Vorteil dieses Systems ist, dass es temperaturstabil (kein Fading) und sehr verschleiß- und somit wartungsarm ist. Darüber hinaus bildet sich kein umweltbelastender Bremsstaub. Nachteilig sind die, im Falle einer Reparatur, meist hohen Kosten. Diese Art von Bremsen findet man teilweise in Traktoren und Quads. Die Ölbadbremse ist artverwandt mit der Ölbadkupplung, welche häufig in Motorrädern eingesetzt wird. Keilbremse. Bei der elektronisch geregelten Keilbremse (Bauform der Scheibenbremse) schiebt ein kleiner Elektromotor einen Bremsbelag mit keilförmigem Rückenprofil zwischen Bremsbacken und Bremsscheibe. Bei der konventionellen Keilbremse (eingesetzt bei Pferdekutschen) rammt der Kutscher einen Keil zwischen Rad und Radkasten. Magnetschienenbremse. Bei Magnetschienenbremsen wird ein Bremsklotz durch Magnetkraft auf die Schiene gepresst, auf der das Fahrzeug fährt. Eine Magnetschienenbremse (abgekürzt Mg) ist eine Bremse für Schienenfahrzeuge. Sie besteht aus eisernen Schleifschuhen mit eingebauten Elektromagneten. Bei Stromdurchfluss durch den Elektromagneten wird der Schleifschuh an die Schiene gezogen. Zwischen der Schiene und dem daraufgepressten und sich mit dem Fahrzeug vorwärtsbewegenden Schleifschuh entsteht Reibung, die die kinetische Energie der Bewegung in Wärme umwandelt (Dissipation) bis die Bewegungsenergie verbraucht ist oder die Bremse deaktiviert wird. Zusätzlich tritt eine Wirbelstrominduktion in der Schiene auf, die eine der Bewegung entgegenwirkende Kraft erzeugt. Da die Reibungskräfte mit sinkender Geschwindigkeit zu- und die Wirbelstromkräfte abnehmen, wirkt die Bremse im Vergleich zu einer Radbremse mit metallenen Bremsklötzen im gesamten Bereich relativ linear. Bandbremse. Die Bandbremse ist ebenfalls eine mechanische Bremse, bei der aber im Gegensatz zur Backenbremse ein Band um eine Trommel geschlungen wird. Fliehkraftbremse. Fliehkraftbremsen dienen in der Regel nicht direkt einer starken Verringerung der Umdrehungszahl, sondern der Begrenzung derselben. Sie funktionieren nach demselben Prinzip wie Fliehkraftkupplungen. Eine übliche Anwendung war die Begrenzung der Rückdrehgeschwindigkeit der Wählscheibe von Telefonen, dem sogenannten Nummernschalter. Gleisbremse. Gleisbremsen sind Rangiertechnik in Gleisen auf Rangierbahnhöfen, d. h. eingebaute Rangiertechnische Einrichtungen (RTE). Sie reduzieren die kinetische Energie des den Rangierberg herablaufenden Waggons. Es gibt Energieumwandlungen durch Stöße, Reibung und elektrodynamische Wirkprinzipien an den Radsätzen bzw. Puffern. Die Arten werden nach Funktion und Wirkprinzip unterschieden. Gegentrieb-Bremse. Bei bestimmten Bahnfahrzeugen (zum Beispiel Dampflokomotiven mit Riggenbach-Gegendruckbremse), Flugzeugen und Schiffen wird zum Bremsen der Antrieb in die Gegenrichtung geschaltet oder umgelenkt. Bei Luftfahrzeugen wird dies als Schubumkehr bezeichnet. Auch bei Booten und Schiffen wird das Prinzip der Schubumkehr zum Abbremsen benutzt.
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Blaise Pascal
Blaise Pascal [] (* 19. Juni 1623 in Clermont-Ferrand; † 19. August 1662 in Paris) war ein französischer Mathematiker, Physiker, Literat und christlicher Philosoph. Leben und Schaffen. Kindheit und Jugend. Pascal stammte aus einer alten, in zweiter Generation amtsadeligen Familie der Auvergne. Sein Vater Étienne Pascal (1588–1651) hatte in Paris Jura studiert und etwas später das Amt des zweiten Vorsitzenden Richters am Obersten Steuergerichtshof, Cour des Aides der Auvergne in Clermont-Ferrand gekauft. Die Mutter, Antoinette Begon, kam aus einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie, die ebenfalls in den Amtsadel strebte. Pascal hatte zwei Schwestern, die drei Jahre ältere Gilberte (die später seine Nachlassverwalterin und erste Biographin wurde) sowie die zwei Jahre jüngere Jacqueline, von deren Geburt sich die Mutter nicht erholte, so dass Pascal mit drei Jahren Halbwaise wurde. Als er acht war, zog die Familie samt Kinderfrau nach Paris, weil der Vater den Kindern, d. h. vor allem dem sichtlich hochbegabten Jungen, bessere Entfaltungsmöglichkeiten schaffen wollte. Sein Richteramt verkaufte er an einen Bruder und legte sein Vermögen in Staatsanleihen an. Pascal war von Kindheit an kränklich. Er wurde deshalb von seinem hochgebildeten und naturkundlich interessierten Vater selbst sowie von Hauslehrern unterrichtet. Bereits mit zwölf Jahren bewies er sein hervorragendes mathematisches Talent und fand danach durch seinen Vater, der in Pariser Gelehrten- und Literatenzirkeln verkehrte, Anschluss an den Kreis von Mathematikern und Naturforschern um den Père Mersenne, wo er als 16-Jähriger mit einer Arbeit über Kegelschnitte beeindruckte. 1639 wurde der Vater verdächtigt, Mitorganisator eines Protests von Betroffenen gegen Zinsmanipulationen des Staates zu sein. Er zog es vor, unterzutauchen und aus Paris zu flüchten. Ende 1639 wurde er jedoch dank der Fürsprache hochstehender Personen von Richelieu begnadigt und durfte diesem sogar seinen Sohn vorstellen. Rouen. 1640 wurde der Vater zum königlichen Kommissar und obersten Steuereinnehmer für die Normandie in Rouen ernannt. Hier erfand Pascal 1642 für ihn eine mechanische Rechenmaschine, die später Pascaline genannt wurde und als eine der ältesten Rechenmaschinen gilt. Sie ermöglichte zunächst nur Additionen, wurde im Lauf der nächsten zehn Jahre aber ständig verbessert und konnte schließlich auch subtrahieren (Zweispeziesrechner). Die Maschine arbeitete auf der Basis von Zahnrädern. Pascal erhielt ein Patent auf sie, doch der Reichtum, den er sich von der Erfindung und einer eigenen kleinen Firma erhoffte, blieb aus. Die mühsam einzeln handgefertigten Maschinen (neun von ca. fünfzig Exemplaren sind noch vorhanden) waren zu teuer, um größeren Absatz zu finden. In Rouen, einer Stadt mit Universität, hohem Gericht (Parlement) und reicher Kaufmannschaft, zählte die Familie Pascal zur guten Gesellschaft, auch wenn der Vater sich durch die Härte seiner Amtsausübung unbeliebt gemacht hatte. Pascal sowie seine literarisch begabte jüngere Schwester Jacqueline, deren dichterische Versuche von dem Dramatiker Pierre Corneille gefördert wurden, bewegten sich elegant in diesem Milieu. Die Schwester Gilberte heiratete 1641 einen jungen Verwandten, Florin Périer, den sich ihr Vater als Assistent aus Clermont-Ferrand geholt hatte. 1646, während der Rekonvaleszenz des Vaters nach einem Unfall, kam die bis dahin nur schwach religiöse Familie in Kontakt mit den Lehren des holländischen Reformbischofs Jansenius, der innerhalb der katholischen Kirche eine an Augustinus orientierte, Calvins Vorstellungen ähnelnde Gnadenlehre vertrat. Vater, Sohn und Töchter wurden fromm. Jacqueline beschloss sogar, Nonne zu werden. Pascal, der unter Lähmungserscheinungen an den Beinen und ständigen Schmerzen litt, interpretierte seine Krankheit als ein Zeichen Gottes und begann, ein asketisches Leben zu führen. Anfang 1647 demonstrierte er den Eifer seiner neuen Frömmigkeit, als er den Erzbischof von Rouen nötigte, einen Priesterkandidaten zu maßregeln, der vor ihm und Freunden eine rationalistische Sicht der Religion vertreten hatte. Pascal selbst ließ sich von seiner Frömmigkeit allerdings nicht daran hindern, weiterhin naturwissenschaftlich-mathematische Studien zu treiben. So wiederholte er noch 1646 erfolgreich die schon 1643 von Evangelista Torricelli angestellten Versuche zum Nachweis des Vakuums, dessen Existenz man bis dahin für unmöglich gehalten hatte, und publizierte 1647 seine Ergebnisse in der Abhandlung "Traité sur le vide" (siehe auch Leere in der Leere). Die Pariser Zeit. Ab Mai 1647 lebte er mit Jacqueline und wenig später auch mit dem Vater überwiegend wieder in Paris, wo er führende Jansenisten kontaktierte, aber auch seine Forschungen weiterführte. Angesichts des Widerstandes vieler Philosophen und Naturforscher, unter anderem von Descartes, den er Ende September 1647 mehrfach in Paris traf, diskutierte er die Frage des Vakuums (siehe auch Äther) aber nur noch indirekt, so in einer Abhandlung über den Luftdruck. 1648 maß sein Schwager Périer auf dem 1465 Meter hohen Berg Puy de Dôme in Pascals Auftrag den Luftdruck, um dessen Abhängigkeit von der Höhe zu beweisen. 1648 begründete Pascal in einer weiteren Abhandlung das Gesetz der kommunizierenden Röhren. Als im Frühjahr 1649 die Wirren der Fronde das Leben in Paris erschwerten, wichen die Pascals bis Herbst 1650 zu den Périers in die Auvergne aus. Im Herbst 1651 starb Pascals Vater. Jacqueline ging kurz danach, gegen den Wunsch des Verstorbenen und auch ihres Bruders, in das streng jansenistische Kloster Port Royal in Paris. Pascal war nun zum ersten Mal auf sich allein gestellt. Da er, wenn auch nicht reich, so doch wohlhabend und adelig war, begann er als junger Mann von Welt in der Pariser Gesellschaft zu verkehren und befreundete sich mit dem philosophisch interessierten jungen Duc de Roannez. Dieser nahm ihn 1652, zusammen mit einigen seiner freidenkerischen Freunde, darunter der Chevalier de Méré, zu einer längeren Reise mit, auf der Pascal in die neuere Philosophie eingeführt wurde, aber auch in die Kunst geselliger Konversation. Dank seines Verkehrs im schöngeistigen Salon der Madame de Sablé befasste er sich auch eingehend mit der belletristischen Literatur seiner Zeit. Er dachte kurz sogar an den Kauf eines Amtes und ans Heiraten. Ein ihm lange zugeschriebener, weil gewissermaßen in diese mondäne Lebensphase passender anonymer "Discours sur les passions de l’amour" („Abhandlung über die Leidenschaften der Liebe“) stammt aber nicht von ihm. 1653 verfasste er eine Abhandlung über den Luftdruck, in der zum ersten Mal in der Wissenschaftsgeschichte die Hydrostatik umfassend behandelt wird. Mit seinen neuen Bekannten, besonders dem Chevalier de Méré, führte Pascal auch Diskussionen über die Gewinnchancen im Glücksspiel, einem typisch adeligen Zeitvertreib. Dies brachte ihn 1653 dazu, sich der Wahrscheinlichkeitsrechnung zuzuwenden, die er 1654 im brieflichen Austausch mit dem Toulouser Richter und großen Mathematiker Pierre de Fermat vorantrieb. Sie untersuchten vorwiegend Würfelspiele. Zugleich beschäftigte er sich mit weiteren mathematischen Problemen und publizierte 1654 verschiedene Abhandlungen: den "Traité du triangle arithmétique" über das Pascalsche Dreieck und die Binomialkoeffizienten, worin er auch erstmals das Beweisprinzip der vollständigen Induktion explizit formulierte, den "Traité des ordres numériques" über Zahlenordnungen und die "Combinaisons" über Zahlenkombinationen. Im Umfeld von Port-Royal. Im Herbst 1654 wurde Pascal von einer depressiven Verstimmung erfasst. Er näherte sich Jacqueline wieder an, besuchte sie häufig im Kloster und zog in ein anderes Viertel, um sich seinen mondänen Freunden zu entziehen. Immerhin arbeitete er weiter an mathematischen und anderen wissenschaftlichen Fragestellungen. Am 23. November (möglicherweise nach einem Unfall mit seiner Kutsche, der aber nicht verlässlich bezeugt ist) hatte er ein religiöses Erweckungserlebnis, das er noch nachts auf einem erhaltenen Blatt Papier, dem Mémorial, aufzuzeichnen versuchte. Hiernach zog er sich aus der Pariser Gesellschaft zurück, um völlig seine Frömmigkeit leben zu können. Seinen einzigen Umgang stellten nunmehr die jansenistischen „Einsiedler“ (franz. "solitaires") dar. Das waren Gelehrte und Theologen, die sich im Umkreis des Klosters Port-Royal des Champs niedergelassen hatten und die er häufig besuchte. Um 1655 führte er hier das legendäre Gespräch mit seinem neuen Beichtvater Louis-Isaac Lemaistre de Sacy (1613–1684) "Entretien avec M. de Saci sur Épictète et Montaigne" (1655), worin er zwischen den beiden Polen der montaigneschen Skepsis und der stoischen Ethik Epiktets schon eine Skizze der Anthropologie bietet, die er später in den "Pensées" entwickeln sollte. Die 1656 erfolgte Heilung seiner Nichte Marguerite Périer, die nach einem Besuch in Port Royal von einem Geschwür am Auge befreit worden war, bestärkte Pascals Glauben zudem. Zugleich begann er, im gelehrten Dialog mit den "solitaires", insbesondere Antoine Arnauld oder Pierre Nicole, religiös und theologisch motivierte Schriften zu verfassen. Nebenher befasste er sich, wie immer, auch mit praktischen Fragen, so 1655 mit der Didaktik des Erstlesens für die Schule, die die "solitaires" betrieben. Mit seiner sogenannten „zweiten Bekehrung“ (vgl. das Mémorial) war er in eine Situation eingetreten, in der die orthodox frommen und rigoros moralischen Jansenisten den laxeren und konzilianteren, aber auch machtbewussten Jesuiten ein Ärgernis geworden waren. Als es 1655 zum offenen Streit kam, weil Arnauld als Jansenist aus der theologischen Fakultät der Pariser Sorbonne ausgeschlossen wurde, mischte Pascal sich ein und verfasste 1656/57 eine Serie anonymer satirisch-polemischer Broschüren. Diese waren sehr erfolgreich und wurden 1657 in Holland unter dem Titel "Provinciales, ou Lettres de Louis de Montalte à un provincial de ses amis et aux R. R. PP. Jésuites sur la morale et la politique de ces pères" („Provinzler[briefe], oder Briefe von L. de M. an einen befreundeten Provinzler sowie an die Jesuiten über die Moral und die Politik dieser Patres“) auch als Buch gedruckt. Es sind achtzehn Briefe eines fiktiven Paris-Reisenden namens Montalte, von denen die ersten zehn an einen fiktiven Freund in der heimatlichen Provinz gerichtet sind, die nächsten sechs an die Pariser Jesuitenpatres insgesamt und die letzten beiden speziell an den Beichtvater des Königs. In diesen Briefen beschreibt Montalte zunächst in der Rolle eines theologisch unbeschlagenen und naiven jungen Adeligen, wie Jesuiten ihm altklug und herablassend ihre Theologie erklären; später, nachdem er quasi seine Lektion gelernt hat, beginnt er mit ihnen zu diskutieren und so scharfsinnig wie witzig ihre Lehren ad absurdum zu führen. Pascal persiflierte und attackierte so die zwar gewissermaßen verbraucherfreundliche, aber tendenziell opportunistische und oft spitzfindige Theologie – die berühmte Kasuistik – der Jesuiten und entlarvte ihren sehr weltlichen Machthunger. Die Lettres provinciales hatten, obwohl sie nach der Nr. 5 verboten wurden, bei Erscheinen der Buchausgabe auf den Index kamen und 1660 sogar vom Henker verbrannt wurden, großen und langandauernden Erfolg und bedeuteten längerfristig den Anfang vom Ende der Allmacht der Jesuiten, zumindest in Frankreich. Wegen ihrer Klarheit und Präzision gelten sie als ein Meisterwerk der französischen Prosa, das ihrem Autor einen Platz unter den Klassikern der französischen Literaturgeschichte verschaffte. Weniger bekannt wurden die vier bissigen Streitschriften, mit denen sich Pascal 1658 (neben Arnauld und Nicole) in eine Fehde zwischen jansenistisch orientierten Pariser Pfarrern und den Jesuiten einschaltete. Kurzfristig behielten allerdings die Jesuiten mit Hilfe von König und Papst die Oberhand, was die nächsten Jahre Pascals verdüsterte. Denn während viele seiner Gesinnungsfreunde unter dem Druck der obrigkeitlichen Schikanen einknickten oder taktierten, blieb er unbeugsam. In dieser Situation begann Pascal 1658, systematischer an einer großen Apologie der christlichen Religion zu arbeiten. Für sie, die später unter dem Namen "Pensées" bekannt wurde, hatte er sich 1656 erste Notizen gemacht. Ihre Grundlinien sind in den 1657 verfassten, aber unvollendeten "Écrits sur la grâce" („Schriften über die Gnade“) zu finden, wo er die von den Jansenisten vertretene Form der augustinischen Gnadenlehre als Mitte zwischen der fast fatalistischen calvinistischen Prädestinationslehre und der optimistischen jesuitischen Gnadenlehre darstellt und dem freien Willen des Menschen die Entscheidung über sein Heil zugesteht. Denn für Pascal gilt: „Jener, der uns ohne uns geschaffen hat, kann uns nicht ohne uns retten“. Neben seiner Arbeit an den "Pensées" betrieb Pascal immer wieder mathematische Studien. So berechnete er 1658 die Fläche unter der Zykloide mit den Methoden von Cavalieri sowie das Volumen des Rotationskörpers, der bei Drehung der Zykloide um die x-Achse entsteht. Nachdem er selbst die Lösung gefunden hatte, veranstaltete er ein Preisausschreiben zu dem Problem, was ihm viele (unzureichende) Vorschläge und eine heftige Polemik mit einem Unzufriedenen eintrug. 1659 erschienen seine Schrift "" (Abhandlung über den Sinus des Viertelkreises). Als 1673 Gottfried Wilhelm Leibniz diese Arbeit in Paris las, empfing er eine entscheidende Anregung zur Entwicklung der Differential- und Integralrechnung durch die Betrachtung der speziellen Gedanken Pascals, die Leibniz allgemeiner verwendete, indem er Pascals Kreis als Krümmungskreis an die einzelnen Punkte einer beliebigen Funktion oder Funktionskurve auffasste. Leibniz sagt, er habe darin ein Licht gesehen, das der Autor nicht bemerkt habe. Daher stammt der Begriff charakteristisches Dreieck. Mit seiner ohnehin schlechten Gesundheit ging es in diesen Jahren immer rascher bergab, vermutlich auch aufgrund seiner äußerst asketischen, ihn zusätzlich schwächenden Lebensweise. So konnte er 1659 viele Wochen nicht arbeiten. Trotzdem war er im selben Jahr Mitglied eines Komitees, das eine neue Bibelübersetzung zu initiieren versuchte. 1660 verbrachte er mehrere Monate als Rekonvaleszent auf einem Schlösschen seiner älteren Schwester und seines Schwagers bei Clermont. Anfang 1662 gründete er zusammen mit seinem Freund Roannez und weiteren Unternehmern ein Droschkenunternehmen („Les carrosses à cinq sous“ – „Fünfgroschenkutschen“), das den Beginn des öffentlichen Nahverkehrs weltweit markierte, jedoch nach wenigen Jahren scheiterte. Tod und Gedenken. Am 4. Oktober 1661 starb Pascals jüngere Schwester Jacqueline. Nach ihrem Tod verschlimmerte sich seine Krankheit und sein emotionaler Zustand litt stark. Im Sommer 1662 ließ er seinen recht ansehnlichen Hausstand zugunsten mildtätiger Zwecke verkaufen. Am 18. August 1662 wand er sich in Krämpfen und empfing die Letzte Ölung. Er starb am nächsten Morgen im Alter von nur 39 Jahren und 2 Monaten im Pariser Haus der Périers. Seine letzten Worte sollen „Möge Gott mich niemals verlassen“ gewesen sein. In seinem Mantelsaum fand man eingenäht ein Stück Papier, das als das Mémorial des Blaise Pascal berühmt geworden ist. Darin versuchte er in Ausrufen und stammelnden Worten, seine mystische Erfahrung in Worte zu fassen. In ihr erfuhr er den "Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, nicht den der Philosophen und Gelehrten." Eine nach seinem Tod durchgeführte Obduktion ergab schwerwiegende Probleme mit seinem Magen und anderen Organen seines Bauches sowie eine Schädigung seines Gehirns. Dabei wurde die Ursache seines Todes nie genau bestimmt, obwohl sich die Spekulation auf Tuberkulose, Magenkrebs oder eine Kombination aus beiden konzentriert. Die Kopfschmerzen, von denen er zeitlebens betroffen war, werden im Allgemeinen auf seine Hirnläsion zurückgeführt. Die sterblichen Überreste Blaise Pascals ruhen in der Pfarrkirche St-Étienne-du-Mont hinter dem Chor „vor einer aufragenden Säule unter einem Grabstein aus Marmor ...“, wie das Epitaph es sagt. Von 1968 bis 1993 wurde in Frankreich eine 500-Francs-Banknote produziert, die dem Werk und Andenken Pascals gewidmet ist und Informationen aus seinem Leben darstellt. Auf der Vorderseite ist neben einem Porträt des Physikers die Tour Saint-Jacques abgebildet. Als Wasserzeichen dient eine Abbildung seiner Totenmaske, die im Kloster Port Royal aufbewahrt wird, welches seinerseits auf der Rückseite des Geldscheins erscheint. Das Konterfei Pascals schmückt zudem verschiedene Briefmarken. Die Schokoladenmanufaktur "Chocolat Poulaine" widmete Pascal eine Verpackung aus ihrer Bildungs-Serie. Die "Pensées". Entstehung und Ausgaben des Textes. Pascal konnte durch seinen frühen Tod die geplante große Apologie nicht fertigstellen. Er hinterließ nur Notizen und Fragmente, rund 1000 Zettel in rund 60 Bündeln, auf deren Grundlage 1670 von jansenistischen Freunden eine Ausgabe unter dem Titel "Pensées sur la religion et sur quelques autres sujets" („Gedanken über die Religion und über einige andere Themen“) besorgt wurde. Diese Erstausgabe ist verdienstvoll, weil die Herausgeber – ungewöhnlich für die Epoche – ein unfertiges Werk veröffentlichten und es dadurch zugänglich zu machen versuchten. Sie ist aber problematisch insofern, als jene sich nicht am Originaltext orientierten, obwohl er als Autograph, wenn auch nur in Zettelform, erhalten war, sondern eine der beiden Abschriften benutzten, die die Périers kurz nach Pascals Tod von den Zettelbündeln anfertigen ließen. Sie ist noch problematischer dadurch, dass man das erhaltene Textmaterial nach unterschiedlichen Kriterien kürzte und, anders als die benutzte Abschrift, die die Anordnung der Zettel und Bündel weitgehend beibehalten hatte, eine neue eigene, vermeintlich plausiblere Ordnung der Fragmente einführte. Die modernen Ausgaben sind Resultat einer philologischen Erfolgsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Diese beginnt damit, dass der Philosoph Victor Cousin 1842 in einem Bericht an die Académie française auf die Notwendigkeit einer neuen Edition der "Pensées" hinwies angesichts der offensichtlichen Unzulänglichkeit der Erstausgabe, der bis dahin alle Herausgeber gefolgt waren, wenn auch meist unter nochmaligen Kürzungen und/oder weiteren Umstellungen. Tatsächlich versuchte noch 1844 Prosper Faugère erstmals eine komplette Edition nach den originalen Zetteln Pascals, die er jedoch weitgehend frei nach inhaltlichen Kriterien zu Abschnitten und Unterabschnitten neu ordnete. Dieses Prinzip wurde fortgesetzt und vermeintlich jeweils perfektioniert von weiteren Herausgebern, deren bekanntester Léon Brunschvicg mit seiner Ausgabe von 1897 bis 1904 wurde. Um 1930 trennte sich die Forschung von dem etablierten Irrtum, dass Pascals Zettel letztlich nicht geordnet gewesen seien. Vielmehr erkannte man, dass zumindest 27 Bündel (nach der 1. Kopie bzw. 28 nach der 2. Kopie, d. h. rund 400 Zettel) ebenso vielen von Pascal intendierten Kapiteln entsprachen und durchaus eine interne Ordnung aufweisen. Auch andere Bündel stellten sich als homogener und geordneter heraus als bis dahin gedacht, so dass man zu Editionen überging (insbesondere Louis Lafuma, 1952 u.ö. nach der sog. 1. Kopie; 1976 Philippe Sellier nach der 2. Kopie, die – da in fortlaufender Folge geschrieben – den Nachlasszustand genauer wiedergibt als die in einzelnen Faszikeln zu Editionszwecken angefertigte erste Kopie), die im Text den Autographen entsprechen und in der Anordnung weitgehend den beiden Abschriften folgen (denn 1710/11 hatte Pascals Neffe Louis Périer in bester Absicht alle Zettel umsortiert und auf große Bögen geklebt). Neuere Forschungen haben zudem mit philologischen Mitteln (Wasserzeichenanalyse etc.) auch den Entstehungszusammenhang der Fragmente deutlicher herausarbeiten können (Pol Ernst, 1991). Diese neueren Editionen sind Rekonstruktionen des Nachlasszustandes und des Denkens sowie der Ordnungsabsichten Pascals für das Material zu diesem Zeitpunkt. Die Frage, wie das Werk ausgesehen hätte, wenn Pascal es hätte vollenden können (und ob er es je hätte fertigstellen können), bleibt offen. Inhaltlicher Überblick. Die erwähnten 27 bzw. 28 Kapitel zeigen den Weg, den Pascal in der Argumentation seiner Apologie des Christentums verfolgen wollte. Die Apologie ist zweigeteilt: „Erster Teil: Elend des Menschen ohne Gott. Zweiter Teil. Glückseligkeit des Menschen mit Gott“ (Laf. 6). Die Kapitel zeichnen zuerst unter den Überschriften „Nichtigkeit – Elend – Langeweile – Gegensätze – Zerstreuung“ usw. ein dramatisches Bild der menschlichen Lage, mit brillanten paradoxen, ironischen Formulierungen ausgeführt, wenden sich dann den Philosophen auf der Suche nach dem „höchsten Gut“ zu und finden die Auflösung der Aporien der menschlichen Existenz im Christentum. Der folgende historisch-theologische Teil nutzt ausführlich die Elemente der Exegese der Kirchenväter, wie sie Port-Royal – allerdings in einer „modernen“, sehr historisierenden Form – übermittelte, und steht damit nicht auf dem Boden neuzeitlich historisch-kritischer Bibelexegese, die damals allerdings erst mit Richard Simon entstand. Pascal argumentiert mit der Kontinuität der in der Heiligen Schrift bezeugten Heilsgeschichte, der typologischen Auslegung der Prophezeiungen (als Hinweise auf das Erscheinen des Christus/Messias), der „Beständigkeit“ der jüdischen Religion (das Prinzip, dass die wahre Religion von Anfang der Schöpfung an vorhanden sein muss, vgl. Augustinus von Hippo, Retractationes 1,12,3) und dem hermeneutischen Prinzip der Liebe als Schlüssel der Heiligen Schrift (Laf. 270). Der „Beweis“ führt nicht direkt zum Glauben, er ist allerdings ein „Werkzeug“ (Laf. 7) der Gnade. Ziel der Apologie Pascals ist die Bekehrung von Atheisten oder Zweiflern. Im geordneten Material der "Pensées" finden sich die großen ausgearbeiteten anthropologischen Texte „Mißverhältnis des Menschen“ (Laf. 199) über die Lage des Menschen zwischen dem unendlich Kleinen und dem unendlich Großen, „Zerstreuung“ (Laf. 136) über die Ablenkung vom Nachdenken über die wirkliche, durch Elend und Tod geprägte Lage durch Vergnügen und Zerstreuung u. a. Die Einheit des Pascalschen Denkens von seinen mathematischen bis zu seinen theologischen Schriften macht das berühmte Fragment über die drei Ordnungen der Körper, des Geistes und der Liebe beziehungsweise Heiligkeit (Laf. 308) deutlich. Nicht in eines der 27 bzw. 28 Kapitel eingeordnet findet sich die Pascalsche Wette, gemäß der der Glaube an Gott nicht nur richtig, sondern auch vernünftig ist, denn: „Wenn Ihr gewinnt, so gewinnt Ihr alles, und wenn Ihr verliert, so verliert Ihr nichts“ (Laf. 418). Nach Pascals Notizen (Laf. 11) ist sie wie der „Einleitungs-Text“ über die Suche nach Gott (Laf. 427) dem Gedankengang voranzustellen (Vgl. Selliers Ausgabe der Penséss „d'après l'«ordre» pascalien“, 2004). Rezeption. Während einer Epoche, die bereits klar auf der Trennung von Glauben und Wissen bestand, vertrat Pascal in seinem Leben und Werk das Prinzip der Einheit allen Seins. Für ihn bedeutete die Beschäftigung sowohl mit naturwissenschaftlichen Problemen als auch mit philosophischen und theologischen Fragen keinerlei Widerspruch; alles das diente ihm zur unmittelbaren Vertiefung seiner Kenntnisse. Seine Wahrnehmung der „intelligence/raison du coeur“ – nur das Zusammenspiel von Verstand und Herz könne Grundlage menschlichen Erkennens sein – als wesentlichste Form der umfassenden Erkenntnis wird von seinen Anhängern als visionär und über die Zeiten hinweg beispielgebend erfasst. Bis heute gilt Pascal als wortgewaltiger Apologet des Christentums und Verfechter einer tiefen christlichen Ethik. Kritiker des Christentums wie der Abbé Meslier oder Voltaire haben ihn daher früh als hochrangigen Gegner attackiert. 1793 wurde sein Grab in der Kirche St-Étienne-du-Mont geschändet. Johann Wolfgang von Goethe autorisierte in seiner „Werkausgabe letzter Hand“ eine 1772 gedruckte – wahrscheinlich nicht von ihm stammende – Rezension mit der Aussage: „Wir müssen es einmal sagen: Voltaire, Hume, La Mettrie, Helvetius, Rousseau und ihre ganze Schule, haben der Moralität und der Religion lange nicht so viel geschadet, als der strenge, kranke Pascal und seine Schule.“ Friedrich Nietzsche setzte sich zeitlebens mit Pascal auseinander. Für ihn ist Pascal „der bewunderungswürdige "Logiker" des Christenthums“; „Pascal, den ich beinahe liebe, weil er mich unendlich belehrt hat: der einzige logische Christ“. Es finden sich Urteile, die sowohl Bewunderung als auch Ablehnung ausdrücken: Nietzsche sah in Pascal, wie auch in Schopenhauer, so etwas wie einen würdigen Gegner. Er sah auch eine inhaltliche Verbindung zwischen diesen beiden: „"ohne den christlichen Glauben", meinte Pascal, werdet ihr euch selbst, ebenso wie die Natur und die Geschichte, ‚un monstre et un chaos‘. Diese Prophezeiung haben wir "erfüllt": nachdem das schwächlich-optimistische 18. Jahrhundert den Menschen "verhübscht" und "verrationalisiert" hatte […] in einem wesentlichen Sinn ist "Schopenhauer" der Erste, der die Bewegung "Pascals" wieder "aufnimmt" […] "unsre Unfähigkeit, die Wahrheit zu erkennen", ist die Folge unsrer "Verderbniß", unsres moralischen "Verfalls": so Pascal. Und so im Grunde Schopenhauer.“ In Pascal kann Nietzsche seine Kritik des Christentums lokalisieren: „Man soll es dem Christenthum nie vergeben, daß es solche Menschen wie Pascal zugrunde gerichtet hat. […] Was wir am Christenthum bekämpfen? Daß es die Starken zerbrechen will, daß es ihren Muth entmuthigen, ihre schlechten Stunden und Müdigkeiten ausnützen, ihre stolze Sicherheit in Unruhe und Gewissensnoth verkehren will […] bis die Starken an den Ausschweifungen der Selbstverachtung und der Selbstmißhandlung zu Grunde gehn: jene schauerliche Art des Zugrundegehens, deren berühmtestes Beispiel Pascal abgiebt.“ Moderne Kritiker wie der sonst vergleichsweise zurückhaltende Aldous Huxley gingen in ihrer Kritik weiter, allerdings in psychologisierender Weise. Pascal habe aus seiner Not – seinen körperlichen Gebrechen sowie seiner Unfähigkeit, echte Leidenschaft zu empfinden – eine Tugend gemacht und dies mit heiligen Worten getarnt. Schlimmer noch: er habe seinen beachtlichen Verstand dazu benutzt, um andere dazu zu ermuntern, eine gleichermaßen diesseits-feindliche Weltanschauung einzunehmen. Zitate von Pascal wie: „Sich vom Mittelweg zu entfernen, heißt, sich von der Menschheit zu entfernen“ und andere mehr verleiteten lediglich dazu, ihn als gemäßigten Denker im aristotelischen Sinne zu verstehen. Huxley vertritt die Auffassung, dass dies nur eine theoretische Seite Pascals gewesen sei. Im eigentlichen Leben, also so, wie es sich in dessen Lebensalltag auch nachweislich darstellte, sei Pascal sehr konsequent gewesen – heute würde man sagen: fundamentalistisch. Worte aus der Feder Pascals wie: „Siechtum […] ist der natürliche Zustand eines Christen; denn im Siechtum ist ein Mensch, wie er immer sein sollte“ würden die düstere Haltung des Philosophen wiedergeben. Pascal würde aufgrund seiner brillanten Formulierungen und den beeindruckend geschilderten spirituellen Erlebnissen als Vorkämpfer einer hehren Sache gelten, während er – was seine christlich-philosophische Seite anbelangt – nur ein kranker Asket gewesen sei. Im Gegensatz zu Nietzsche habe er sich nicht gegen seine Gebrechen gestemmt, sondern sie als willkommene Indizien für ein wertloses irdisches Leben benutzt, so Huxley. Philosophiebezogen ist Karl Löwiths Wiederaufnahme der Kritik Voltaires und seine Beschäftigung mit der „Apologie“ oder die Pascal kritisch interpretierende Einstellung seines Werks in die Geschichte der modernen Funktionsontologie durch Heinrich Rombach. Theologisch gewichtig sind etwa die große Interpretation Hans Urs von Balthasars in seinem Werk „Herrlichkeit“ oder Romano Guardinis „Christliches Bewußtsein: Versuche über Pascal“. Die letztgenannten Interpreten machen keine punktuellen Bemerkungen zu ausgewählten Fragestellungen von Person und Werk, sondern beschäftigen sich mit dem gesamten hinterlassenen Œuvre. Eine umfangreiche Pascal-Forschung gibt es nicht nur in Frankreich, sondern etwa auch in den Vereinigten Staaten oder in Japan. Die Evangelische Kirche in Deutschland ehrt Pascal mit einem Gedenktag im Evangelischen Namenkalender am 19. August. Im Juli 2017 erregte die Nachricht Aufsehen, Papst Franziskus befürworte eine Seligsprechung Pascals. Pascal als Namensgeber. Nach Pascal sind benannt: Sonstiges. In Deutschland sind mehrere Schulen nach Pascal benannt worden; etwa das Pascalgymnasium in Münster. Werke (Auswahl). Deutsche Übersetzungen. Eine Gesamtübersetzung des literarischen Werkes (ohne die naturwissenschaftlichen Schriften) existiert nur in elektronischer Form: Die derzeit maßgeblichen Buchausgaben des literarischen Werks auf Deutsch:
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Bibliothekswissenschaft
Bibliothekswissenschaft ist im weiteren Sinn der systematisch geordnete Inbegriff aller wissenschaftlichen und technischen Erfahrungen auf dem Gebiet des Bibliothekswesens. Im deutschen Sprachraum wurde unterschieden zwischen der Bibliothekenlehre (Bibliothekonomie, Bibliothektechnik, auch Bibliothekswesen im engeren Sinn), die von der Einrichtung und Verwaltung einer Bibliothek handelt, und der Bibliothekenkunde (Bibliothekographie), die sich mit der Geschichte und Beschreibung der einzelnen Bibliotheken älterer und neuerer Zeit beschäftigt. Im Zusammenhang mit der Entwicklung einer sogenannten Wissensgesellschaft verschiebt sich der Fokus der Bibliothekswissenschaft zunehmend in den „virtuellen Raum“ (Stichwort: Digitale Bibliothek). Gegenstand des Faches sind nicht mehr nur die Bibliothek als physischer Ort sowie ihre Bestände, wie es primär im Rahmen von Bibliothekenlehre und -kunde der Fall war, sondern generell informationslogistische Prozesse (Sammlung, Erschließung, Verfügbarmachung) von publizierter Information. In der deutschen Hochschulpolitik ist die Bibliothekswissenschaft als Kleines Fach eingestuft. Forschung und Ausbildung. Die Aufgabe des Faches ist die Erfassung und Analyse von Entwicklungen im Bereich der Informationsdistribution sowie auf dieser Grundlage die Entwicklung von Methoden und Theorien zur Informationsversorgung (hauptsächlich in der Wissenschaft). Eine zunehmende Rolle spielen dabei auch statistische Verfahren der Bibliometrie und Szientometrie (und z. T. der Webometrie). Weiterhin gewinnen im Rahmen der sogenannten "Informationsflut" oder "Informationsüberflutung" durch eine Omnipräsenz von großen Datenmengen, besonders auch in elektronischen Netzen, Aspekte der Beurteilung und Sicherung von Informationsqualität innerhalb des Faches an Bedeutung. Die Bibliothekswissenschaft besitzt aufgrund ihres Forschungsgegenstandes ein hohes interdisziplinäres Potenzial. Während die Bibliothekswissenschaft als "Library- and Information Science" beispielsweise in den USA eine anerkannte Universitätsdisziplin ist, konnte diese sich in Deutschland nur zögerlich etablieren. Neben dem Studium an Fachhochschulen (an der Technischen Hochschule Köln, der Fachhochschule Potsdam, an der Hochschule der Medien in Stuttgart und an der HTWK Leipzig), bei denen der Schwerpunkt auf der Praxis liegt, gibt es auch die Möglichkeit einer Ausbildung zum Fachangestellten in Medien- und Informationsdiensten. Ein universitäres Bachelorstudium ist am Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin möglich. In der Schweiz bietet die Universität Zürich zusammen mit der Zentralbibliothek Zürich einen "Master of Advanced Studies" (Nachdiplomstudium) in Bibliotheks- und Informationswissenschaften an. Außerdem gibt es an der Humboldt-Universität zu Berlin einen Masterstudiengang im Fernstudium. Zum Masterstudium wurde am Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin zum ersten Mal im Wintersemester 1994/95 immatrikuliert. Weblinks. "Aufsätze, Guides und Anleitungen" "Institute, Ausbildungen und Einrichtungen"
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Blattern
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Briefumschlag
Ein Briefumschlag (auch: Kuvert oder in der Schweiz Couvert, veraltet Enveloppe) ist die Versandverpackung eines Briefes. Geschichte. Ursprünglich wurden Briefe nicht in separaten Briefhüllen verpackt, sondern lediglich durch Umfalten oder Aufrollen und Versiegeln vor unberechtigtem Zugriff geschützt. Oft wurden Sendungen als Faltbriefe verschickt, da Papier ein kostbarer Rohstoff war. Die Technik des Letterlockings war eine Methode, die Nachrichten vor fremden Blicken zu schützen. Sie erzeugte durch geschicktes Bearbeiten des Papiers wie Falten, Schneiden, Fädeln und abschließendes Befestigen mit Siegelwachs ein Schloss (englisch "lock"). So wurde es unmöglich, den Brief zu öffnen und zu lesen, ohne ihn zu zerstören. Später wurde dies, im Gegensatz zu fertig konfektionierten Umschlägen zum Einstecken und Verschließen des Schreibens, vergleichsweise unwirtschaftlich. Im heutigen postalischen Schriftverkehr werden fast ausschließlich Briefumschläge zum Schutz der Inhalte verwendet, mit Ausnahme von Postwurfsendungen. Briefumschläge wurden erstmals 1820 von dem Buch- und Papierwarenhändler S. K. Brewer in Brighton verkauft. Er schnitt die Umschläge mit Hilfe von Blechschablonen zurecht. Infolge des rasch wachsenden Bedarfs vergab Brewer 1835 an die Londoner Firma Dobbs & Comp. den Auftrag zur Herstellung von Briefumschlägen als Massenartikel. Die erste Maschine zur Herstellung von Briefumschlägen stammt von E. Hill und W. De La Rue, London, aus dem Jahr 1844. Material. Briefumschlagpapier muss undurchsichtig (mit Ausnahme des Fensters), beschreibbar, bedruckbar und faltfest sein. Es wird holzfrei und holzhaltig, einseitig glatt oder satiniert, weiß und farbig hergestellt. Aber auch Recyclingpapier mit dem „Blauen Engel“ findet Verwendung. Neuerdings werden für Briefumschläge verstärkt FSC- oder PEFC-Papiere eingesetzt, deren Zellstoff aus nachhaltiger Forstwirtschaft stammt. FSC-Umschläge tragen teilweise das Logo des WWF-Pandabären. Es gibt auch Umschläge aus Kunststofffasern, aus transparenter oder transluzenter Folie sowie solche aus Papyrolin, einem fadenverstärkten Material. Fast alle Briefumschläge besitzen als Verschluss an der Umschlaginnenseite eine Gummierung oder zwei Haftklebestreifen. Bei manchen Briefumschlägen ist im Adressbereich ein Sichtfenster aus Pergamin oder durchsichtigem Kunststoff eingeklebt. Auch die Seitenränder des Briefpapiers werden mit Klebstoffen zusammengehalten. Produktion. Zunächst wird ausgehend von der Papierrolle der Innen- und Außendruck des Umschlages im Flexodruckverfahren aufgebracht. Danach wird die Umschlagsilhouette ausgestanzt, dann erfolgt die Fensterung, und die Fensterfolie wird eingeklebt. Danach werden die Seitenklappen- und die Verschlussklappen­gummierung aufgebracht. Nach dem Trocknen der Verschlussklappe werden die Umschläge verpackt und anschließend die fertigen Kartons mittels Robotern auf Paletten verpackt. Moderne Briefumschlagmaschinen produzieren bis zu 1.600 Umschläge pro Minute oder fast 100.000 pro Stunde. Derartige Anlagen kosten mehr als zwei Millionen Euro. Wichtigste Hersteller der Maschinen sind die Firmen Winkler+Dünnebier in Neuwied sowie die Firma "F.L. Smithe" in den Vereinigten Staaten; beide Unternehmen gehören zu Barry-Wehmiller Companies (USA). Recycling. Papierbriefumschläge können problemlos recycelt werden. Das verwendete Altpapier dient als Rohstoff für neues Recyclingpapier. Die eingesetzten Fensterfolien bestehen aus Pergamin oder Polystyrol. Sie werden beim Deinking (Entfärben) des Altpapiers ausgesondert und anschließend ebenfalls recycelt oder in den Kraftwerken der Papierfabriken verbrannt. Besser ist es jedoch, das Fenster vorm Entsorgen herauszutrennen und in der Wertstofftonne zu entsorgen, da nur so der angestrebte Monostoffstrom erreicht werden kann und das Recycling gesichert ist. Größen. Briefumschläge sind überwiegend in Standardgrößen erhältlich. Sie sind definiert in ISO 269 und DIN 678 weitgehend anhand der Serie C aus DIN 476-2 bzw. ISO 217 und der Serie B aus DIN EN ISO 216 bzw. ehemals DIN 476-1. Als Inhalt für C-Umschläge sind A-Formate derselben Nummer und für B-Umschläge die entsprechenden C-Formate vorgesehen, wobei die Blätter durch ggf. mehrmaliges Falten in der Mitte der längeren Seite auf das nächstkleinere Format derselben Serie gebracht werden können. Standardbriefumschläge besitzen daher ebenfalls überwiegend das übliche Seitenverhältnis von √2:1. Davon abweichend gibt es zwei Formate mit einem Seitenverhältnis von 2:1 für anders gefaltete Seiten. Für das Format C6/C5 wird die Breite eines Formats (C6) mit der Länge des nächstgrößeren Formats (C5) kombiniert. Die unsystematische Größe des Formats DL, umgangssprachlich „DIN lang“, die auf das Falzformat für Geschäftsbriefe nach DIN 5008 (und ehemals DIN 676) von 210 mm × 105 mm abgestimmt ist, passt (ohne Sichtfenster) aber ebenso zu ⅓ A4 mit 210 mm × 99 mm. Die Handelsbezeichnung „DL+“ oder „DIN lang plus“ sowie „C6/5“ für C6/C5 entsprechen nicht der Norm und auch eine Größe „C5/C6“ oder „C5/6“ gibt es darin nicht. Daneben ist einzig das Format der größten Standardbriefhülle E4, die in etwa mittig zwischen B4 und A3 liegt, nicht in anderen DIN- oder ISO-Normen enthalten. Briefumschläge im Format C4 werden nicht nur im Querformat, sondern auch im Hochformat hergestellt und haben dann ggf. ein Sichtfenster, das zum Adressfeld ungefalteter Geschäftsbriefe nach DIN 5008 auf A4-Papier passt. Die Formate C0 bis C3 und C7 bis C10 aus DIN 476-2 sind nicht in DIN 678-1 übernommen worden, aber vereinzelt werden zumindest Umschläge im Format C3 angeboten. Für Geschäftsbriefe auf dem Papierformat A4 sind in Deutschland die Umschlagformate DIN lang (DL) bei manueller Befüllung, C6/C5 bei maschineller Befüllung und C4 am weitesten verbreitet. Das Format C6/C5 ist das in Deutschland mit Abstand am häufigsten verwendete Format und wird nach DIN 678-2 neben C4, C5 und C6 als Kuvertierhülle für die automatische Kuvertierung eingesetzt. Privatpost wird auch häufig in Umschlägen vom Format C6 verschickt, in das Gruß- und Postkarten vom Format A6 passen. Großes und schweres Füllgut wird häufig in Faltentaschen aus Kraftpapier mit Seitenfalten und Klotzboden in den Formaten B5 bis E4 verschickt ("Versandbeutel"). Nichtstandardisierte Umschläge gibt es bspw. für Grußkarten, die u. a. quadratisch sein können. Damit liegt einzig die Größe E4 zwingend außerhalb der für Briefpost definierten Grenzen und muss entsprechend als Päckchen oder Paket verschickt werden. Die Maximalgröße für Großbrief und Maxibrief entspricht exakt dem Format B4. Größe und Position der Fenster. Für Abmessungen von Fensterbriefhüllen gibt es mehrere unterschiedliche Standards. Deutschland. Aus DIN 680 ergeben sich je nach Format unterschiedliche Abstände des Sichtfensters vom oberen Rand, sodass ein Briefbogen nach DIN 5008 exakt gefaltet werden muss, um das Adressfeld im Sichtfenster zu platzieren: Bei größeren Versandtaschen gibt es zwei Formen A und B entsprechend der Briefköpfe für Geschäftsbriefe Form A und B nach DIN 5008, da die Lage des Adressfeldes sich hier nicht mehr über die Faltung des Briefes anpassen lässt. Bei C5-Briefhüllen ist das Fenster ebenfalls 45 mm × 90 mm groß und 20 mm vom linken Rand entfernt, vom unteren bei Form A 77 mm und bei Form B 60 mm. Bei C4-Briefhüllen ist das Spiel des Briefes im Umschlag besonders in Richtung der längeren Kante wesentlich größer, so dass das Fenster größer sein muss. Es ist 55 mm × 90 mm groß und 20 mm vom linken Rand entfernt, vom oberen bei Form A 40 mm und bei Form B 57 mm. Schweiz. In der Schweiz gibt es ebenfalls Vorgaben der Post zur Briefgestaltung und der Platzierung des Adressfelds. Großbritannien. Der britische Standard BS 4264 definiert für das Format DL ein 39 mm hohes und 93 mm breites Sichtfenster, das 53 mm vom oberen Rand und 20 mm vom linken Rand entfernt ist. Aufschrift. Die Deutsche Post erwartet die Aufschrift parallel zur längeren Seite des Sichtfensters beziehungsweise des Umschlags, die Frankierung in einem 40 mm hohen und 74 mm breiten Feld rechts oben, die Anschrift des Absenders im 40 mm hohen Streifen links daneben sowie die Anschrift des Adressaten im restlichen Bereich mit mindestens 15 mm Abstand zum Außenrand. Im Bereich unterhalb der Anschrift wird der Zielcode aufgedruckt. Die Österreichische Post erwartet darüber hinaus, dass beim Format C5 der Bereich unterhalb der 74 mm breiten Frankierzone und bei größeren Formaten ein 74 mm hoher Bereich am unteren Rand freigehalten wird. Royal Mail erwartet, dass in einem 70 mm hohen und 140 mm breiten Bereich rechts unten zwei Felder freigehalten werden und die Anschrift des Absenders auf der rückseitigen Verschlusslasche platziert wird. Die Schweizerische Post sieht eine Vielzahl von Varianten vor. Verwendung. Briefumschläge werden verschlossen, indem die ein wenig überlappende, übergeklappte offene Seite (kurz Lasche) mit dem Umschlag zusammengeklebt wird. Entweder kommt dabei trockener, wasserlöslicher Klebstoff zum Einsatz, der beim Verschließen befeuchtet wird, oder sie sind selbstklebend. Das blaue Leuchten beim Öffnen eines selbstklebenden Verschlusses nennt man Tribolumineszenz. Bei hochwertigen Umschlägen kommt häufig eine Haftklebung mit Abdeckstreifen zum Einsatz. Letztere werden vor allem für hochwertige geschäftliche Post verwendet. Üblich sind auch Muster im inneren des Umschlags, gelegentlich sogar mit Firmenlogo, um die Vertraulichkeit durch schlechtere Durchsichtigkeit sicherzustellen. Name und Anschrift des Adressaten werden auf die Vorderseite des Kuverts geschrieben, die Angaben über den Absender herkömmlich auf die Rückseite oder links oben auf die Vorderseite. Ebenfalls im geschäftlichen Bereich werden häufig Fensterkuverts eingesetzt, bei denen die Anschrift des Adressaten nicht auf den Umschlag geschrieben, sondern der Brief mit der Anschrift im Briefkopf so in den Umschlag gelegt wird, dass die Anschrift durch das Fenster sichtbar ist, beispielsweise nach DIN 5008. Für die unterschiedlichen Umschläge gibt es verschiedene Falzarten, damit die Adressen im Fenster sichtbar sind. Fensterkuverts tragen einen Aufdruck oder Stempel mit den Absenderangaben meistens entweder auf der Vorderseite oder über der Anschrift auf dem Briefbogen, sodass sie im Fenster sichtbar sind. Markt. In Deutschland werden nach Angaben des Verbandes der Deutschen Briefumschlaghersteller (VDBF) derzeit (Stand 2019) pro Jahr noch etwa 13 Milliarden Briefumschläge, Versand- und Faltentaschen hergestellt. Weniger als 10 Milliarden Briefumschläge werden noch in Deutschland verkauft mit weiter sinkender Tendenz. Der Markt ist in den letzten 10 Jahren insgesamt stark gesunken, da zunehmend elektronische Medien den Briefumschlag für den Rechnungsversand ersetzen. Auch Werbebriefumschläge haben in den letzten Jahren stark an Bedeutung verloren. Großformatige Versand- und Faltentaschen konnten hingegen vom neuen Medium Internet eher profitieren. In Europa werden jährlich (Stand 2019) noch ungefähr 46 Milliarden Umschläge verkauft, was einem Rückgang von fast 60 Prozent in 10 Jahren entspricht. In Deutschland sind die beiden bedeutendsten Hersteller die Firmengruppe Mayer-Kuvert und Bong. Auf europäischer Ebene kommen noch Tompla (E), La Couronne (F), GPV (F), Österreichische Kuvertindustrie – ÖKI (AT), Nova Kuverta (SLO), Blasetti (I), ELCO (CH) und Goessler Kuverts (CH) hinzu, die zusammen insgesamt einen Marktanteil von ungefähr 90 Prozent repräsentieren. Mehrfachumschläge. Eine Sonderform des Briefumschlages ist der im internen Briefverkehr zunehmend genutzte mehrfach verwendbare Hauspostumschlag. Auf diesen Briefumschlägen findet man meistens eine Art Tabelle in die der Absender, das Datum und der Empfänger eingetragen werden. Dazu kommen Löcher, die zu einer schnellen Sichtung dienen, ob sich Dokumente o. ä. im Umschlag befinden. Verschlossen werden sie vorwiegend mit einem Bindfadenverschluss. Briefumschlag mit Aufrissschnur. Es werden auch Umschläge angeboten, die ein sauberes Öffnen des Briefes ohne Hilfsmittel erlauben und nicht wie herkömmliche Umschlage aufgeschnitten oder aufgerissen werden müssen. Ein Beispiel dafür ist im nebenstehenden Bild dargestellt. Dort ist der Umschlag an einer Kante an der „Daumengrifffläche“ perforiert. Durch Abreißen dieses kleinen Papierstückchens wird eine Aufrißschnur (engl. "Pull-Tab") an der Kante herausgetrennt, welche damit den Briefumschlag öffnet. Diese Technik ist z. B. bei Zigarettenverpackungen mit Klarsichtfolien schon lange üblich.
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Biologische Waffe
Biologische Waffen sind Massenvernichtungswaffen, bei denen Krankheitserreger oder natürliche Giftstoffe (Toxine) gezielt als Waffe eingesetzt werden können. Biotische Toxine, obwohl keine biologischen Agenzien im eigentlichen Sinne, werden wegen ihrer Herkunft aus lebenden Organismen den biologischen Waffen und nicht den chemischen Waffen zugeordnet und folglich auch nicht durch die Chemiewaffenkonvention reglementiert. Momentan sind etwa 200 mögliche Erreger bekannt, die sich bisher als biologische Waffe verwenden lassen können. Seit 1972 sind durch die Biowaffenkonvention die Entwicklung, die Herstellung und der Einsatz biologischer Waffen verboten. Es gibt auch den theoretischen Ansatz für eine biogene oder ethnische Waffe, welche sich nur gegen eine Ethnie richtet. Biologische Kampfstoffe. Biologische Kampfstoffe können sich sowohl gegen Organismen (z. B. Menschen, Tiere oder Pflanzen) als auch gegen Materialien richten. So forschen die USA etwa an Bakterien, welche Treibstoffe zersetzen und an Pilzen, die die Tarnfarbe von Flugzeugen abbauen können. Biologische Kampfstoffe unterscheiden sich insofern von chemischen Waffen, als dass chemische Waffen fertig einsatzbereit sind, also zu einem beliebigen Zeitpunkt an einem beliebigen Ort eingesetzt werden können. Biologische Kampfstoffe müssen hingegen erst aufbereitet und angemessen verbreitet werden. Die Forschungen von Robert Koch, welcher als erster den Milzbranderreger und eine Methode zur Züchtung von Bakterien entdeckte, eröffneten – obwohl von Koch nicht beabsichtigt – den Weg zur Herstellung größerer Mengen von Biowaffen. Einige Bakterien, wie zum Beispiel das Milzbrandbazillus, bilden außerhalb des Wirts sehr widerstandsfähige Überdauerungsformen (Endosporen). Rickettsien sind intrazelluläre Parasiten und gehören ebenfalls zu den Bakterien. Sie sind aber auf Grund ihres eingeschränkten Stoffwechsels stark wirtsabhängig und können im Labor nur in organischem Gewebe kultiviert werden. Sie werden vor allem durch Flöhe, Zecken, Tierläuse und Milben auf den Menschen übertragen. Eine typische Krankheit, die durch Rickettsien ausgelöst wird, ist das Fleckfieber. Kategorien. Die Centers for Disease Control and Prevention stellten eine Unterteilung zusammen, die die Kampfstoffe je nach Verfügbarkeit, Letalitätsrate, Ansteckungsgefahr und Behandlungsmöglichkeit in drei Kategorien unterteilt. Übertragung/Infektionswege. Die Übertragung der Bakterien, Viren und Toxine auf den menschlichen Körper kann im Extremfall über jeden Kontakt mit einem infizierten Material auftreten. Es gibt jedoch ebenso Erreger, die sich nicht von Mensch zu Mensch übertragen lassen, wie zum Beispiel Milzbrandbazillen. Erreger können praktisch in jeder erdenklichen Form aufgenommen werden, je nach Aufnahmeweg nehmen viele Kampfstoffe einen verschiedenen Krankheitsverlauf an. Mögliche Infektionswege sind: Sonstige, eher sekundäre Infektionswege wären zum Beispiel: Geschichte. Antike und Mittelalter. Schon vor 3.000 Jahren setzten die Hethiter verseuchtes Vieh absichtlich in Feindesland ein, um deren Ernährung stark einzuschränken. Vor 2.000 Jahren verseuchten Perser, Griechen und Römer die Brunnen ihrer Feinde mit verwesenden Leichen. Von skythischen Bogenschützen um 400 v. Chr. ist bekannt, dass sie ihre Pfeile mit Exkrementen, Leichenteilen und Blut von Kranken bestrichen, was jedoch nicht so wirksam war wie die Bestreichung der Pfeilspitzen mit Pflanzen- oder Tiergift. 184 v. Chr. befahl Hannibal von Karthago im Dienst von König Prusias I. von Bithynien seinen Männern bei einer Seeschlacht, mit giftigen Schlangen gefüllte Tonkrüge auf die Schiffe seiner Feinde, den Pergamenern unter Führung von Eumenes II., zu werfen. Während des Dritten Kreuzzuges (1189–1192) nahm der englische König Richard Löwenherz Akkon ein, doch die Einwohner hatten sich darin verbarrikadiert. Um die Aufgabe zu erzwingen, ließ Richard mehrere hundert Bienenkörbe von seinen Soldaten einsammeln und diese über die Mauern werfen, daraufhin ergaben sich die Einwohner sofort. Im Jahr 1346 wurde die Bevölkerung der Stadt Kaffa (heute: Feodossija) von den Tataren nach dreijähriger Belagerung mit deren Pesttoten beschossen, indem sie diese über die Mauern katapultierten. Lange wurde vermutet, dass die folgende große Pestwelle in Europa („Schwarzer Tod“) durch die infizierten Flüchtlinge aus der Stadt ihren Anfang nahm. Inzwischen gilt die Annahme, die Pest sei gezielt während der Belagerung Kaffas in die Stadt getragen worden, als sehr unwahrscheinlich, da sie in zu starkem Gegensatz zu den Vorstellungen des 14. Jahrhunderts über Religion und von Krankheit stand. Das Gleiche soll sich 1710 durch russische Soldaten bei der Belagerung der damals schwedischen Stadt Reval abgespielt haben. 18. Jahrhundert. Bei der Bekämpfung der nordamerikanischen Ureinwohner setzten sowohl die Briten als auch die Franzosen biologische Waffen ein. Da die aus Europa eingeschleppten Krankheiten in dieser Umgebung noch nie vorgekommen waren, die indigenen Völker also nicht durchseucht waren, fiel der Krankheitsverlauf weitaus schwerer aus als bei Europäern. Im Mai 1763 erreichten Indianer des Pontiac-Aufstands Fort Pitt, das mit Flüchtlingen aus der Umgebung überfüllt war. Durch die schlechten hygienischen Bedingungen brachen die Pocken im Lager aus. Die Erkrankten wurden auf Anweisung des Lagerkommandanten Colonel Henri Louis Bouquet unter Quarantäne gestellt. Am 23. Juni trafen zwei Abgesandte der aufständischen Indianer beim Fort ein und boten den Briten freies Geleit, wenn sie das Lager aufgeben würden. Die Briten lehnten ab, gaben den Indianern jedoch zwei pockenverseuchte Decken aus dem Pockenkrankenhaus mit, die diese unwissend annahmen. Nach der Übergabe der Decken brachen unter den Indianern tatsächlich die Pocken aus. Es ist jedoch nicht geklärt, ob diese Epidemie auf den Anschlag zurückzuführen ist. Bis 1765 tauchten immer wieder Meldungen über Pockenepidemien unter den Indianern auf. Ob der Befehlshaber der britischen Streitkräfte, Jeffrey Amherst in dieses Unterfangen eingeweiht war, ist unklar. In einem Brief an Bouquet vom 7. Juli fragte er diesen: „Könnte man nicht versuchen, die Pocken zu diesen untreuen Indianern zu schicken?“. Da die besagten Decken den Indianern jedoch schon am 23. Juni übergeben worden waren, ist es unwahrscheinlich, dass dieser Befehl von ihm ausging. Noch mehrfach tauchten in Amerika Berichte über Pockenanschläge auf, etwa während des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges, in welchem die Amerikaner die Briten beschuldigten, deren Soldaten gegen die Pocken zu inokulieren, um danach die amerikanischen Truppen anzustecken, während die eigenen Truppen immun wären. Die Inokulation wurde damals mangels Schutzimpfung durchgeführt. Man brachte Erreger in offene Wunden, wodurch die Krankheit zwar ausbrach, jedoch viel milder verlief. 1781 fanden amerikanische Soldaten Leichen afrikanischer Sklaven, welche an Pocken gestorben waren. Die Amerikaner vermuteten dahinter die Absicht der Briten, eine Epidemie auslösen zu wollen. Tatsächlich geht aus einem Brief von Alexander Leslie hervor, dass die Briten die Absicht hatten, die Sklaven auf amerikanischen Farmen einzuschleusen. Erster und Zweiter Weltkrieg. Bis ins 19. Jahrhundert waren Bioanschläge nur durch die Verbreitung bereits im Umfeld grassierender Krankheiten möglich, nicht jedoch durch die künstliche Erzeugung der Erreger. Das änderte sich erst, als die Forschung mit der Züchtung von Bakterien begann. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges verfügte Deutschland bereits über eine große Stückzahl von unterschiedlichen B-Waffen. Die deutsche Heeresführung überlegte zunächst, ob sie Pesterreger gegen die Briten einsetzen sollte, doch der Vorschlag wurde abgelehnt, um „unnötiges Leiden zu verhindern“, wobei Deutschland bei den chemischen Waffen an der Spitze der kriegsteilnehmenden Staaten stand. Im Ersten Weltkrieg wurden ausschließlich Sabotageakte ausgeführt, die sich gegen Tiere richteten, da die Kavallerie zumindest am Anfang des Ersten Weltkrieges noch erhebliche Bedeutung hatte und Tiere oft noch für den Transport von Material eingesetzt wurden. Mit Tieren wurde zu Versuchszwecken häufig experimentiert. Es kam indessen nie zu einem offenen Bioanschlag auf dem Schlachtfeld. In Deutschland wurden diese Angriffe ab 1915 von einem eigenen Ministerium geplant, der „Sektion Politik“, das von Rudolf Nadolny geleitet wurde. Die verschlüsselten Aufträge an die Agenten lauteten meist Pferde, Schafe oder Rinder wie auch Tierfutter mit Erregern zu vergiften, welche in deutschen Laboratorien hergestellt und ins Zielland eingeschmuggelt wurden. Anschläge wurden in Rumänien, Spanien, Argentinien, in den USA, in Norwegen und im Irak verübt; vermutlich jedoch in noch weiteren Ländern. In Argentinien gingen zwischen 1917 und 1918 etwa 200 Maulesel an Milzbrand-Attentaten zugrunde. Es ist allerdings nicht bewiesen, ob die gesamte deutsche Heeresführung in diese Anschläge eingeweiht war. 1916 beschlagnahmte die Polizei von Bukarest in der deutschen Botschaft mehrere Erregerkulturen der Rotzkrankheit. Im Januar 1917 wurde ein deutscher Saboteur, Baron Otto Karl von Rosen, mitsamt Begleitern von der norwegischen Polizei verhaftet, da sie sich nicht ausweisen konnten. In ihrem Gepäck fand die Polizei mehrere Kilogramm Dynamit und mehrere Zuckerwürfel, in denen Milzbrand-Erreger eingebettet waren. Obwohl der Baron aussagte, er und seine Gruppe wären von der finnischen Unabhängigkeitsbewegung und hätten Aktionen gegen das russische Transport- und Kommunikationswesen geplant, gestanden seine Mithelfer, in deutschem Auftrag Sabotageaktionen in Norwegen geplant zu haben. Der deutsche Befehl bezüglich der Milzbrand-Sporen lautete Rentiere zu infizieren, die britische Waffen transportierten. Nach drei Wochen wurde der Baron, welcher eine deutsche, finnische und schwedische Staatsbürgerschaft hatte, aufgrund des diplomatischen Drucks von Schweden ausgewiesen. Weitere bekannte deutsche Geheimagenten waren z. B. Anton Dilger und Frederick Hinsch. Ende 1917 stoppten die Deutschen ihr Biowaffenprogramm weitgehend. Die Entente-Mächte waren ab 1917 von den deutschen B-Anschlägen informiert. Und da das Deutsche Reich führend in der chemischen und biologischen Forschung bezüglich der Waffen war, starteten viele andere bedeutende Staaten aus Furcht vor dem deutschen Biowaffenprogramm ihre eigenen B-Waffenprogramme. So etwa Frankreich 1922, Sowjetunion 1926, Japan und Italien 1932, Großbritannien und Ungarn 1936, Kanada 1938 und die USA 1941. Kaiserreich Japan. Im Jahr 1932 wurden im Kaiserreich Japan die Einheit 731 nach der Eroberung der Mandschurei gegründet und führte von Anfang an Experimente an lebenden Menschen durch. Ziel war es, eine biologische Waffe zu entwickeln, um sie im Fall des Falles gegen die chinesischen Streitkräfte und die Rote Armee einsetzen zu können. Nach dem Angriff auf China wurden die Forschungen massiv intensiviert. Auch mehrere andere japanische Armeeeinheiten forschten während des Zweiten Weltkriegs an biologischen Waffen und führten Experimente an Menschen durch. Allein von der Einheit 731 wurden etwa 3500 Menschen meistens bei Vivisektionen und vollem Bewusstsein getötet. Die ersten dokumentierten Angriffe mit biologischen Waffen in China erfolgten im Jahr 1940 und waren eher experimenteller Natur. Hauptsächlich wurden hier Keramikbomben voller mit Pest infizierter Flöhe über Städten abgeworfen, wie am 29. Oktober 1940 über Ningbo. Ende 1941 ließen japanische Truppen rund 3000 chinesische Kriegsgefangene frei, nachdem man sie zuvor mit Typhus infiziert hatte. Dadurch wurde sowohl unter chinesischen Truppen als auch unter der Bevölkerung eine Epidemie verursacht. Am 5. Mai 1942 begann eine groß angelegte Vergeltungsaktion japanischer Truppen für den sogenannten Doolittle Raid, bei dem etwa 50 Japaner getötet worden waren, welcher wiederum eine Vergeltungsaktion für den Angriff auf Pearl Harbor war. Dabei zogen sich reguläre Armeeeinheiten der japanischen Armee aus für die Aktion vorgesehenen Gebieten in den chinesischen Provinzen Zhejiang und Jiangxi zurück, während Truppen der Einheit 731 genau in diese Gebiete einrückten und begannen, jegliches Trinkwasser mit Milzbranderregern zu verseuchen. Gleichzeitig warf die japanische Luftwaffe den Kampfstoff über Städten ab oder versprühte ihn über Wohngebieten. Im Zuge dieser Aktion wurden 250.000 Menschen ermordet. Bei weiteren Racheaktionen setzte die japanische Armee Cholera, Typhus, Pest und Dysenterie ein. Während der Schlacht um Changde setzten japanische Truppen massiv biochemische Waffen ein, um die chinesische Verteidigung zu brechen. Im November 1941 warfen Mitglieder der Einheit 731 erstmals mit Pest verseuchte Flöhe aus Flugzeugen über Changde ab. Bei der darauf folgenden Seuche starben 7.643 Chinesen. Als japanische Truppen 1943 Changde angriffen und auf unerwartet heftigen Widerstand stießen, versuchten sie diesen während der sechs Wochen dauernden Offensive mit allen Mitteln zu brechen. Während der Schlacht kam es zu Pestausbrüchen, von denen sowohl chinesische Soldaten als auch Zivilisten betroffen waren. Nach Angaben mehrerer japanischer Soldaten der Einheit 731, unter anderem Shinozuka Yoshio, hatten sie Pesterreger in Form sprühfähiger Kampfstoffe von Flugzeugen aus in und um Changde versprüht. Zeitgleich begannen andere Armeeeinheiten, unter anderem die Einheit 516, mit dem massiven Einsatz von chemischen Waffen. Im Laufe der Schlacht starben 50.000 chinesische Soldaten und 300.000 Zivilisten. Wie viele davon durch die biologischen und chemischen Waffen getötet wurden, lässt sich nicht klären. Diese Einsätze und die Experimente an Menschen werden zu den japanischen Kriegsverbrechen gezählt. Ab 1943 wurde die Seuchenanfälligkeit europäischstämmiger Menschen an amerikanischen Kriegsgefangenen getestet, um spätere Einsätze von Biowaffen in den USA vorzubereiten, für deren Transport man bis 1945 Ballonbomben entwickelt hatte, welche über den Jetstream nach Nordamerika gelangen sollten. Großbritannien. Nach der Entdeckung von Bakterien und Viren als Ursache von Krankheiten, konnte im 20. Jahrhundert gezielter geforscht werden. Während des Zweiten Weltkriegs wurden in Großbritannien, auf direkte Weisung Winston Churchills, gezielt Versuche mit Krankheitserregern unternommen, um sie als Waffe weiterzuentwickeln. Nach Geheimdienstinformationen gingen die Alliierten davon aus, Deutschland würde über Milzbranderreger und Botulinumtoxin verfügen, weswegen Großbritannien 1.000.000 Schutzimpfungen gegen Botulinumtoxin herstellte. Diese Informationen stellten sich später jedoch als falsch heraus. Deutschland hatte ebenso wenig Information über das Biowaffenprogramm der Alliierten. Hauptsächlich erhielten die Militärs und Geheimdienste Falschmeldungen. So dachten die deutschen Geheimdienste beispielsweise, Großbritannien plane den Abwurf von Kartoffelkäfern über Deutschland. Im Laufe von britischen Biowaffenversuchen wurde Gruinard Island, eine unbewohnte Insel im Nordwesten Schottlands, mit Milzbrandsporen verseucht. Die Erreger waren als Reaktion auf die Gerüchte, dass sich biologische Waffen in japanischer/deutscher Entwicklung befänden, für Kampfzwecke getestet und über der ausschließlich von Tieren bewohnten Insel verstreut worden, auf die vorher noch zusätzlich 60 Schafe verbracht worden waren. Nahezu die gesamte Fauna wurde innerhalb eines Tages vollständig vernichtet. Dieses Experiment wurde in Zusammenarbeit mit den USA und Kanada durchgeführt. Großbritannien produzierte im Zweiten Weltkrieg Milzbrand in größeren Mengen als biologische Waffe. Man beabsichtigte, im Rahmen der Operation Vegetarian die Milzbrandsporen in Tierfutter einzuarbeiten und dieses über landwirtschaftlichen Gebieten in Deutschland abzuwerfen. Die USA entschlossen sich, für Großbritannien Biowaffen zu produzieren, da Großbritannien aufgrund der Nähe zu Deutschland als Produktionsstandort zu verwundbar gewesen wäre. 1944 gab die US-Armee eine Million 2-Kilogramm Milzbrand-Bomben in Auftrag, die auf Berlin, Hamburg, Stuttgart, Frankfurt, Aachen und Wilhelmshaven abgeworfen werden sollten. Durch eine Produktionsverzögerung war der Krieg jedoch bereits gewonnen, ehe es so weit kommen konnte. Experten hatten geschätzt, dass bei diesen Bombenanschlägen etwa die Hälfte der jeweiligen Einwohner an Milzbrand sterben würde. Deutschland. Deutschland selber war im Zweiten Weltkrieg nur am Rande mit biologischen Waffen beschäftigt. Zu Beginn des Krieges war die Wehrmacht nicht an biologischer Kriegsführung interessiert, da sie diese für ineffizient und unberechenbar hielt. 1940 entdeckten die Deutschen bei ihrem Einmarsch in Paris jedoch ein Forschungslabor für biologische Kriegsführung, in dem schon seit 1922 an biologischen Waffen geforscht wurde und nun eine deutsche Forschungseinheit unter der Leitung des Bakteriologen Heinrich Kliewe eingesetzt wurde. Sie wurde „Abteilung Kliewe“ genannt und beschäftigte sich unter anderem mit Milzbrand- und Pesterregern. Das Experiment wurde jedoch eingestellt, als Hitler 1942 jegliche deutsche biologische Offensivforschung verbot. Damit war das Deutsche Reich eine der wenigen kriegsteilnehmenden Großmächte, die das Genfer Protokoll bezüglich biologischer Kriegsführung einhielten. Gleichzeitig mit dem Verbot der offensiven Biowaffenforschung befahl Hitler jedoch, die defensive Biowaffenforschung zu verstärken. So wurde 1943 die „Arbeitsgemeinschaft Blitzableiter“ gegründet, um unter der Leitung von Kurt Blome Abwehrmaßnahmen gegen Biowaffen zu entwickeln. Darüber hinaus war Blome ab 1942 auch für den Aufbau des Zentralinstituts für Krebsforschung in Nesselstedt bei Posen verantwortlich, das neben der Krebsforschung von Beginn an auch für Arbeiten zu Biowaffen vorgesehen war. Die zur Abwehr von Biowaffen vorgesehenen oft noch unreifen Impfstoffe wurden häufig an KZ-Häftlingen getestet. Hinter Hitlers Rücken wurde auch für die offensive B-Kriegsführung geforscht, denn für gegebenenfalls erforderliche Abwehrmaßnahmen mussten die Erreger auch erzeugt und getestet werden. Insbesondere Heinrich Himmler war ein großer Befürworter der B-Waffen. So unterstützte er zum Beispiel einen Vorschlag Kliewes, Lebensmittel, die ungekocht gegessen werden, mit Bakterien zu verseuchen. Erst im Februar 1945 ließ Hitler prüfen, welche Folgen ein Austritt Deutschlands aus den Genfer Konventionen hätte. Da Deutschland in diesem Falle jedoch womöglich einem Bioangriff der Alliierten zum Opfer gefallen wäre, entschloss sich Hitler, nicht auszutreten. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vermehrten sich Kartoffelkäfer in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands sprunghaft, bis um 1950 fast die Hälfte der landwirtschaftlichen Anbaufläche befallen war. Die DDR-Führung war nicht in der Lage, der Katastrophe Herr zu werden, nutzte die Plage aber zu propagandistischen Zwecken im Kalten Krieg, indem sie die Verschwörungstheorie verbreitete, eigens in den USA gezüchtete Käfer würden durch amerikanische Flugzeuge gezielt als biologische Waffe zur Sabotage der sozialistischen Landwirtschaft abgeworfen. Ab 1950 wurde auf Plakaten und in zahlreichen Medienberichten eine Kampagne gegen die „Amikäfer“ oder „Colorado-Käfer“ gestartet, die als Saboteure in amerikanischen Diensten bezeichnet wurden. Das gleiche Argument hatte zuvor im Zweiten Weltkrieg schon das NS-Regime gebraucht und behauptet, die Kartoffelkäfer seien von amerikanischen Flugzeugen abgeworfen worden. Die US-Regierung forderte infolgedessen von der Bundesrepublik Deutschland Gegenmaßnahmen. Man beschloss den Postversand an sämtliche Räte der Gemeinden der DDR und den Ballonabwurf von Kartoffelkäferattrappen aus Pappe mit einem aufgedruckten „F“ für „Freiheit“. Vereinigte Staaten. Die Vereinigten Staaten starteten ihr Biowaffenprogramm als letzte der Großmächte im Zweiten Weltkrieg. Erst 1941 beauftragte Henry L. Stimson, der damalige Kriegsminister, die National Academy of Sciences damit, an der Abwehr biologischer Waffen zu forschen. Doch dieses Unternehmen war zu klein für ernsthafte biologische Waffenforschung, und nach dem Angriff auf Pearl Harbor wurde das Kriegsministerium damit beauftragt, B-Waffen zu entwickeln. 1943 stellte Amerika erstmals Botulinumtoxin, Milzbranderreger und Brucellen her, mehrere weitere Erreger wurden auf ihre Tauglichkeit als B-Waffe überprüft. Während zu Beginn des Programms nur etwa 3,5 Millionen US-Dollar zur Verfügung standen, waren es gegen Kriegsende bereits 60 Millionen. Sowjetunion. Die Sowjetunion begann schon 1926 mit der offensiven Biowaffenforschung. Eines der ersten Forschungszentren für Biowaffen errichtete die Sowjetunion auf der Insel Solowezki im Weißen Meer. Angeblich sollen hier auch Menschenversuche an Häftlingen durchgeführt worden sein. Diese Information ist jedoch umstritten. Es gibt Indizien, dass die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg kurz vor der Schlacht um Stalingrad deutsche Truppen mit Tularämie infiziert hat. Innerhalb einer Woche erkrankten in dem betroffenen Gebiet Tausende von Menschen an Tularämie. Von sowjetischer Seite kam die Meldung, dass dieses Phänomen auf natürliche Umstände, etwa mangelnde Hygiene, zurückzuführen sei. Doch während 1941 in der Sowjetunion 10.000 Tularämieerkrankungen auftraten, waren es 1942 bereits 100.000. 1943 lag die Zahl der Tularämieerkrankten wieder bei 10.000. Ebenso ein Hinweis auf einen möglichen Einsatz der Erreger ist, dass die Epidemie zunächst nur unter den Deutschen ausbrach und erst später – vermutlich durch einen Wechsel der Windrichtung oder Kleintiere, die durch die Fronten kamen – unter den Sowjets. Zudem erkrankten fast 70 Prozent der Opfer an Lungentularämie, welche nur durch die Verbreitung von Aerosolen verursacht wird. Des Weiteren forschte die Sowjetunion 1941 an dem Tularämie-Erreger. Bis auf diesen Vorfall, der wahrscheinlich nur als Experiment dienen sollte, ist kein Einsatz von biologischen Waffen im Zweiten Weltkrieg bekannt. Kalter Krieg. Erst 1946 gab das amerikanische Kriegsministerium die Meldung aus, dass es an der Entwicklung von Biowaffen forsche. Den Militärs waren die Aufzeichnungen des Leiters der Einheit 731, Ishii Shirō, in die Hände gefallen, und sie benutzten diese zum Teil als Forschungsgrundlage. Fort Detrick, das US-Biowaffenforschungszentrum, wurde 1950 ausgebaut und eine weitere Forschungsanlage wurde in Pine Bluff errichtet. Die Biowaffenforschung wurde auch dadurch intensiviert, dass 1950 der Koreakrieg ausbrach. Geforscht wurde unter anderen an infizierten Mücken, die für eine mögliche Freilassung in den Gebieten von Feinden vorgesehen waren. Im September 1950 versprühten zwei US-U-Boote an der Küste von San Francisco "Serratia marcescens", um herauszufinden, wie viele Bewohner sich damit infizieren würden. Das Bakterium ist für gesunde Menschen ungefährlich, greift jedoch immungeschwächte Personen an. In Krankenhäusern kam es zu Todesfällen, die auf Infektion mit den versprühten Erregern zurückgeführt werden konnten. Während dieser Zeit machten die Amerikaner oft Experimente, indem sie Pseudoerreger verteilten und maßen, wie weit sie sich verteilten. So wurden in den 1960er Jahren Erreger im U-Bahn-System von New York erprobt, infizierte Vögel im Südpazifik auf Reise geschickt, Erreger von Türmen und Flugzeugen aus ausgetragen. Außerdem wurden Waffen und Geschosse für den Einsatz von Erregern entwickelt. Auch fanden sie heraus, wie trockene Agenzien versprüht werden müssen, die einfacher als feuchte Agenzien in einer Art Staubwolke verteilt werden können. Auch Biowaffen wurden an Menschen, meist Strafgefangenen oder Minderheiten, erprobt. So kam es in den 1970er Jahren zu B-Waffen-Versuchen an 2200 Adventisten, die aus Gesinnungsgründen den Dienst an der Waffe verweigerten. Ein erheblicher Teil der durchgeführten Versuche dürfte nach wie vor im Dunkeln liegen. Über die Vorgänge in Fort Detrick wurden lediglich 2–3 CIA-Offiziere eingeweiht, eine Dokumentation der Arbeit sei kaum erfolgt. Gefährliche Unfälle hat es in Fort Detrick gegeben, einige davon sind nachweisbar. So sind 1981 zwei Liter mit Chikungunya-Virus entwendet worden – genug, um damit die Weltbevölkerung mehrfach umzubringen. Die Tatsache gelangte durch Indiskretion eines ehemaligen Mitarbeiters an die Öffentlichkeit. Während des Vietnamkrieges im Jahre 1965 diskutierten die Amerikaner über den Einsatz von Pockenviren, da die eigenen Truppen geschützt waren. Doch aus Angst vor einem Gegenschlag wurde dieser Vorschlag abgelehnt. Auch während der Kubakrise, 1962, planten die Amerikaner eine Mischung von verschiedenen Erregern aus Flugzeugen über kubanischen Städten abzuwerfen. Der Plan wurde jedoch nie umgesetzt. 1965 wurde das Budget für B-Waffenforschung konstant verringert, bis 1969 der damalige Präsident Richard Nixon das B-Waffenprogramm auflöste. Aufgrund dieser Erklärung wurden sämtliche B-Waffen, zumindest offiziell, vom Militär vernichtet. Die Forschungszentren wurden entweder umfunktioniert oder geschlossen. Die Vernichtung der Bestände dauerte drei Jahre, bis 1972. Kurz darauf trat die Biowaffenkonvention in Kraft. Im Widerspruch dazu steht ein Papier von einem Kongress 1969, aus dem offensichtliches Interesse des Pentagons an der Entwicklung neuer Biowaffen hervorgeht. Begründet wird die Notwendigkeit mit den rasanten Fortschritten auf dem Gebiet der Molekularbiologie und Gentechnik. So wurden 10 Mio. US-Dollar veranschlagt, um mittels Gentechnik einen Erreger herzustellen, der in der Natur nicht existiert und gegen den keine Immunität erworben werden kann. Im Jahre 1950 gab es eine Meldung, wonach die damals in der DDR grassierende Kartoffelkäferplage durch den massenhaften Abwurf von speziell gezüchteten „Colorado-Käfern“ durch die Amerikaner ausgelöst worden sein solle. Später erwies sich dies als Propaganda. Ähnliche Meldungen über Ernteschäden beziehungsweise Ernteschädlinge stammen aus Kuba. Diese Vorfälle konnten jedoch nie ganz geklärt werden. Auf dem Gebiet der DDR gab es nach offiziellen Angaben keine Forschung an Biowaffen. Allerdings gab es eine Sektion Militärmedizin an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald mit L2-Laboratorien, an die auch Gelder des Verteidigungsministeriums flossen. Geheimdienstliche Informationen deuten darauf hin, dass zumindest auf der nahegelegenen Insel Riems auch militärische Forschung abgewickelt worden sei. Die sowjetische B-Waffenforschung profitierte nach dem Zweiten Weltkrieg sowohl von gefangenen deutschen Forschern und Ingenieuren als auch von erbeuteten Aufzeichnungen der Forschung und Experimente der Einheit 731. Ein neues Forschungszentrum wurde in der Nähe von Moskau errichtet, in dem unter anderen an Tularämie, Milzbrand und Botulinum geforscht wurde. 1973 startete die Sowjetunion ein Projekt mit dem Namen Biopreparat, welches in mehreren Forschungszentren durchgeführt wurde und über etwa 50.000 Mitarbeiter verfügte; und das obwohl die UdSSR die Biowaffenkonventionen unterzeichnet hatte. Nachdem die Pocken 1980 als ausgerottet erklärt wurden, forschte Russland intensiv mit den Erregern dieser Krankheit, da nach Ende der Massenimpfungen nach einigen Jahren die Menschen wieder empfänglich für die Krankheit wären. Wie auch die USA arbeitete die Sowjetunion trotz Unterzeichnung der Biowaffenkonvention unter dem Deckmantel der Erforschung infektiöser Keime weiterhin an ihrem Biowaffen-Programm und forschte neben einigen der oben genannten Erreger auch an hämorrhagischen Viren wie Ebola und Marburg und einigen südamerikanischen Vertretern wie Machupo (bolivianisches hämorrhagisches Fieber) und Junin (argentinisches hämorrhagisches Fieber). Darüber hinaus sollen sie noch an einer Ebola-Pocken-Chimäre gearbeitet haben. Zentrum der sowjetischen Forschung war die heute verlassene Stadt Kantubek auf der ehemaligen Insel der Wiedergeburt im Aralsee. Mehrere gentechnische Forschungseinrichtungen wurden durch das Verteidigungsministerium finanziert. Dazu gehören das Forschungsinstitut für Militärmedizin des Ministeriums für Verteidigung der UdSSR im damaligen Leningrad. Hier wurde unter anderem in L3-Laboren mit Hasenpest, Bauchtyphus und Tetanuserregern gearbeitet. Weitere fragliche Forschungslabore befanden sich in Kirow, Moskau, Swerdlowsk und Ksyl-Orda (Feldtestlabor). Am 2. April 1979 kam es zu einem Milzbrand-Unfall in Swerdlowsk, bei dem aufgrund einer defekten Belüftungsanlage Milzbrand-Sporen in die Umgebung abgelassen wurden. Am 12. April wurde das Gebiet um Swerdlowsk unter Quarantäne gestellt. Das KGB vertuschte diesen Unfall in einer großangelegten Aktion. Er behauptete, die Epidemie wäre durch kontaminiertes Fleisch ausgebrochen. Erst 1992 gestand die russische Regierung unter Boris Jelzin den Unfall und seine Vertuschung. Am Ende des Kalten Krieges liefen zwei sowjetische Biowaffenforscher, Wladimir Passetschnik und Ken Alibek, in den Westen über und lieferten Informationen über das sowjetische B-Waffenprogramm. Alibek, der schon seit 1974 an B-Waffen forschte, berichtete von Modifikationsversuchen mit Milzbrand. Diese sollen insofern gelungen sein, dass die Krankheit gegen Antibiotika resistent gemacht werden konnte. Die Sowjetunion entwickelten sogleich ein neues Antibiotikum dagegen, so dass sie ihre Truppen schützen konnte. Auch berichtete Alibek über sowjetische Flugzeuge, die eigens entwickelt wurden, um Krankheitskeime zu versprühen. Heute sind Herstellung und Besitz von biologischen Waffen durch die Biowaffenkonvention (beschlossen 1972, von 183 Staaten ratifiziert und in Kraft getreten 1975) weltweit verboten. Die Forschung an Gegenmaßnahmen ist jedoch erlaubt und bietet ein Schlupfloch, da hierfür ebenfalls Krankheitserreger gezüchtet werden müssen. Nach dem Kalten Krieg. 1983 startete die südafrikanische Apartheidsregierung ein Biowaffenprogramm unter dem Namen Project Coast, das unter der Leitung von Wouter Basson stand. Offiziell war Project Coast ein Defensivprogramm, inoffiziell wurden jedoch Methoden entwickelt, um Menschen im Geheimen zu ermorden, etwa durch Gewehrkugeln, die Erreger enthielten. Unter anderen arbeiteten sie an sogenannten ethnischen Waffen, die etwa nur Schwarzafrikaner erkranken ließ. Wie viele Menschen den Bioanschlägen von Project Coast zu Opfer gefallen sind, ist nicht bekannt. Vor Beginn des Zweiten Golfkrieges befürchtete die amerikanische Armeeführung, der Irak könne Biowaffen einsetzen, da er schon am Ende des Ersten Golfkrieges ein Biowaffenprogramm gestartet hatte. Die Erreger hätten die irakischen Institute großteils aus amerikanischen oder deutschen Firmen erhalten. 2001 gab es mehrere Krankheits- und Todesfälle durch die Freisetzung von Milzbranderregern und Rizin aus Briefen oder Päckchen in Florida, New York, New Jersey und Washington. Opfer und Ziele waren vor allem Postangestellte, Journalisten und Politiker. Der Attentäter war vermutlich eine Person aus dem Laborpersonal von Fort Detrick. Weitergehende öffentliche Untersuchungsergebnisse hierzu wurden bisher nicht bekannt. Hauptartikel: Anthrax-Anschläge 2001. Situation heute. Die USA forschen seit 2002 auf dem Gebiet der „nicht-tödlichen“ Waffen, unter anderem an materialzerstörenden Mikroben, was nicht explizit gegen das BTWC (Biological and Toxin Weapons Convention, Biowaffenkonvention) verstößt, da dieses das Problem der „nicht-tödlichen“ biochemischen Waffen bislang nicht behandelt. Biologische Waffen gelten heute hauptsächlich als potentielle Massenvernichtungswaffen von Terroristen (siehe: Bioterrorismus), da sie überall (aus der Natur) erhältlich sind und theoretisch einfach herzustellen sind, wenn davon abgesehen wird, dass die Erreger zuerst noch für den Waffeneinsatz optimiert werden müssen. Für den militärischen Einsatz gelten Biowaffen heute allgemein als zu unberechenbar. Mit Hilfe der Gentechnik wurden schon Bakterien antibiotikaresistent gemacht und parallel dazu gleich ein neues Antibiotikum oder eine neue Impfung entwickelt, um es theoretisch zu ermöglichen, diese Erreger im Krieg einzusetzen und die eigenen Truppen trotzdem zu schützen. Es könnte aber auch möglich sein, Krankheitserreger zu entwickeln, die nur für Menschen mit bestimmten Genen gefährlich wären, insbesondere Gene, die nur oder hauptsächlich in einer bestimmten Region vorkommen. Dadurch könnten eigene Truppen vor der Krankheit geschützt sein, was biologische Waffen sowohl für die Militärs als auch für Terroristen wieder interessant machen könnte. Diese spezielle Art von biologischen Waffen wird ethnische Waffe genannt, umgangssprachlich wird auch von biogenen Waffen gesprochen (von "biologisch-genetisch"). Allerdings sprechen einige Argumente gegen die Möglichkeit, ethnische Waffen zu realisieren: Genetische Unterschiede innerhalb von Populationen sind oftmals größer als die Unterschiede zwischen verschiedenen Populationen; ferner sind die Wirkungen von targeted-delivery-Systemen, die für den gezielten Einsatz von pathogenen Merkmalen benötigt werden, bislang nicht zufriedenstellend erforscht. Daneben existieren viele Pflanzenpathogene (Rostkrankheiten usw.), die sich gezielt gegen Nutzpflanzen und -tiere einsetzen lassen. Das „dreckige Dutzend“. Obwohl ca. 200 potentiell waffenfähige Erreger, Toxine und biologische Agenzien bekannt sind, wurde vom CDC eine Liste mit den 12 Erregern zusammengestellt, die am ehesten für einen Biowaffenanschlag in Frage kommen. Diese Kampfstoffe zeichnen sich entweder durch ihre leichte Verbreitung, ihre einfache Übertragung oder auch nur durch ihre hohe Letalitätsrate aus. Unter ihnen befinden sich Bakterien, Viren und Toxine. Ebenfalls unter dem Namen „dreckiges Dutzend“ bekannt ist eine Liste von weltweit verbotenen organischen Giftstoffen.
699
233590273
https://de.wikipedia.org/wiki?curid=699
Beteigeuze
Beteigeuze [] (), auch α Orionis, international Betelgeuse (arabisch , „Hand der Riesin“), ist ein Stern im Sternbild Orion. Er wird auch der Schulterstern des Orion genannt. Der Unterschied zur Transkription aus dem Arabischen („B-“ statt „Y-“) ist auf einen „historischen Rechtschreibfehler“ zurückzuführen. Obwohl mit α bezeichnet, ist er hinter Rigel (0,12 mag) nur der zweithellste Stern des Orion. Eigenschaften. Beteigeuze ist ein zur Milchstraße gehörender Riesenstern und wird im Hertzsprung-Russell-Diagramm der Klasse der Roten Überriesen zugerechnet. Er hat etwa den achthundertfachen Durchmesser der Sonne und eine etwa zehntausendmal so große Leuchtkraft im sichtbaren Bereich. Das Volumen der Sonne passt somit etwa eine halbe Milliarde Mal in Beteigeuze. Von der Erde aus gesehen ist Beteigeuze der zehnthellste Stern. Beteigeuze ist von großem astronomischen Interesse. Sein Radius war der erste, der mittels Interferometrie bestimmt wurde. Es stellte sich heraus, dass er um zirka 15 Prozent schwankt. Es variiert auch Beteigeuzes Helligkeit zwischen +0,3 und +0,6m mit einer halbregelmäßigen Periode von 2070 Tagen (Halbregelmäßig Veränderlicher vom Typ SRc). Er ist neben Mira, Altair und Antares einer der wenigen Sterne, die von der Erde aus mit Teleskoptechnik als Fläche sichtbar sind, sein Winkeldurchmesser beträgt 0,05 Bogensekunden. Anlässlich einer Bedeckung von Beteigeuze durch den Asteroiden (319) Leona am 12. Dezember 2023 wird es unter Umständen möglich sein, die Verteilung der Helligkeit über die Sternenscheibe genauer zu bestimmen, als dies mit der aktuellen Technik möglich ist. Die Bestimmung der Entfernung von Beteigeuze erweist sich als schwierig, da die Parallaxe deutlich geringer ist als der Winkeldurchmesser des Sterns. Man vermutete lange Zeit eine Entfernung um 700 Lichtjahre. Daten des Satelliten Hipparcos weisen eine geometrische Parallaxe von 6,55 ± 0,83 Millibogensekunden aus, die auf eine Entfernung von 153 Parsec bzw. 499 Lichtjahren schließen lässt. Andere Analysen basierend auf weiteren Beobachtungsdaten deuten auf eine kleinere Parallaxe von lediglich 4,51 ± 0,80 Millibogensekunden hin, was eine größere Entfernung von 222 Parsec oder 724 Lichtjahren ergibt. Die aktuelle Arbeit von Joyce et al. schließt auf eine Parallaxe von knapp 6 Millibogensekunden. Zukunft als Supernova. Als Roter Überriese wird Beteigeuze seine Existenz als Supernova beenden. In Anbetracht dessen, dass er in antiken Schriften vor etwa 2000 Jahren als gelb-orange beschrieben wird und somit das Endstadium erst vor relativ kurzer Zeit erreicht hat, wird es noch lange (etwa 1,5 Millionen Jahre) dauern, bis dies geschieht. Bei Roten Überriesen kann man bei einer Supernova (durchschnittlich) eine 16.000-fache Steigerung der Leuchtkraft erwarten. Im Falle von Beteigeuze wäre sie auf der Erde unübersehbar. Bezogen auf eine Ausgangshelligkeit von ungefähr 0,5 mag würde die scheinbare Helligkeit im Fall einer Supernova auf −9,5 bis −10,5 mag ansteigen, entsprechend einer absoluten Helligkeit von −15,1 bis −16,1. Dies entspricht der Leuchtkraft eines Halbmondes am Himmel. Nach anderen Quellen erreichen Supernova-Ausbrüche sterbender Riesensterne sogar absolute Helligkeiten um −17 bis −18, gelegentlich (vor allem bei Sternen mit sehr großem Radius) auch darüber. In letzterem Fall würde die Supernova die Helligkeit des Vollmondes erreichen. Da die Rotationsachse des Sterns nicht in Richtung Erde zeigt, wird der Gammablitz nicht so stark sein, dass die Biosphäre in Mitleidenschaft gezogen wird. Der Überrest dieser Supernova wird auf Grund der Masse von 20 Sonnenmassen voraussichtlich ein Neutronenstern sein. Messungen an kalifornischen Universitäten haben 2009 ergeben, dass der Durchmesser des Sterns seit 1993 um 15 Prozent geschrumpft ist, während die Leuchtintensität unverändert blieb. Zur Verdeutlichung: bezogen auf einen angenommenen Radius von 950–1200 R☉ am Ende der Messung entspricht das einer mittleren Fallgeschwindigkeit der Oberfläche von etwa 830–1050 km/h. Helligkeitseinbruch 2019/2020. Ab Oktober 2019 wurde bei Beteigeuze eine deutliche Abnahme der Helligkeit festgestellt. Im Februar 2020 durchlief die Helligkeit des Sterns mit +1,61 mag ein Minimum, während seine Leuchtkraft auf etwas weniger als 40 % ihres durchschnittlichen Wertes zurückging. Er erschien damit schwächer als jemals seit Beginn präziser Beobachtungen. Zu diesem Zeitpunkt übertrafen ihn 20 Sterne an Helligkeit. Üblicherweise gehört Beteigeuze auch als veränderlicher Stern zu den zehn hellsten Sternen des Nachthimmels. Der signifikante Helligkeitsabfall wurde unter den Wissenschaftlern zunächst unterschiedlich gedeutet. Einige sahen ihn als „eine zufällige Überlagerung der Minima mehrerer gewöhnlicher Helligkeitszyklen“, andere interpretierten ihn als Vorzeichen einer kurz bevorstehenden Kernkollaps-Supernova. Vergleichsaufnahmen mit dem Very Large Telescope der Europäischen Südsternwarte zeigten die Veränderungen Beteigeuzes sowohl im Hinblick auf seine Leuchtkraft als auch seine äußere Form zwischen Januar und Dezember 2019. Erste Erklärungsansätze gingen sowohl von noch nicht verstandenen Vorgängen im Innern des Sterns als auch von ausgeworfenem kühlerem Material, das einen Teil des von Beteigeuze ausgesandten Lichts absorbiert, aus. Beobachtungen im Submillimeterbereich schienen jedoch einen signifikanten Beitrag durch die Absorption des Lichts durch Staub auszuschließen. Stattdessen wurde vermutet, dass Sternflecken der Grund für die Reduktion der Helligkeit gewesen sein könnten. Ende April 2020 kehrte der Stern wieder zu seiner alten Leuchtkraft zurück. Im August 2020 wurde für das Phänomen der Verdunkelung von Beteigeuze schließlich im Rahmen eines Forschungsprojekts des Harvard-Smithsonian Center for Astrophysics auf Basis von Beobachtungen mit dem Hubble-Weltraumteleskop eine Erklärung gefunden. Demnach zeigte sich, dass Beteigeuze eine riesige heiße sowie dichte Materialwolke in den Weltraum ausgestoßen hat, die sich dann zu Staub abgekühlt hat, wodurch das Licht des Sterns abgeschirmt wurde, womit Beteigeuze aus Sicht der Betrachter auf der Erde dunkler erschien. Das wurde durch 2021 veröffentlichte Beobachtungen des Very Large Telescope bestätigt. Sie beobachteten, dass die südliche Hemisphäre von Beteigeuze bis zu zehnmal dunkler als gewöhnlich während der Abdunklungsphase war, als sich dort in der Photosphäre ein dunkler Fleck ausbreitete. Die Temperatur von 4000 Grad Celsius auf der Sternoberfläche sank in diesem Fleck bis um 500 Grad ab. Die Beobachtungen deuten auf eine Staubwolke, die sich aufgrund der Abkühlung auf der Sternoberfläche nach einem Massenauswurf bildete. Nach den Autoren deuten die Beobachtungen auf Inhomogenitäten beim Massenauswurf von Roten Riesen verbunden mit einer kontrastreichen schnell variablen Photosphäre. 2023 hat sich die Entwicklung ins Gegenteil verkehrt, der Stern zeigt sich deutlich heller als im Durchschnitt. Etymologie und Namensformen. Der Name stammt von („Hand des [Sternbilds] Zwilling“, „Hand der Riesin“). Er taucht bereits im "Buch der Konstellationen der Fixsterne" des persischen Astronomen Abd ar-Rahman as-Sufi († 986) auf. Die heutige deutsche Namensform entstand, weil der arabische Anfangsbuchstabe Yā' ( mit zwei Punkten) fälschlich als Bā' ( mit einem Punkt) gelesen und so ins Lateinische transkribiert wurde. Während der gesamten Renaissance-Zeit wurde der Stern "Bait al-Dschauza" genannt, mit der im arabischen Original angenommenen Bedeutung „Achsel der Riesin“, obwohl die richtige Übersetzung von „Achsel“ gelautet hätte. Daraus entstand der Name "Betelgeuse". Aufgrund der mit dem bloßen Auge erkennbaren roten Farbe (symbolisch für Feuer oder Blut) wurde der Stern (wie auch der Planet Mars) mit dem Krieg in Verbindung gebracht. Da er der erste Stern des Orion ist, der über dem Horizont erscheint, wurde er in der Antike auch der „Ankündiger“ genannt. Beteigeuze in Literatur und Film. In Douglas Adams’ "Per Anhalter durch die Galaxis" ist Beteigeuze das Heimatsystem von Ford Prefect und Zaphod Beeblebrox. Auf einem Planeten im Sonnensystem des Beteigeuze spielt die fiktive Handlung von Pierre Boulles Buch "Der Planet der Affen", welches – in abgeänderter Form – bereits mehrfach verfilmt wurde (unter anderem 1968 von Franklin J. Schaffner, 2001 von Tim Burton und von Rupert Wyatt). Arno Schmidt bezieht sich in den physikalischen Abhandlungen seiner Erzählung "Leviathan" auf Beteigeuze. 1982 erschien in der DDR der Science-Fiction-Roman "Zielstern Beteigeuze" von Karl-Heinz Tuschel. Der Stern ist unter seinem französischen Namen Betelgeuze Schauplatz der gleichnamigen Comic-Reihe des brasilianischen Comic-Zeichners Léo. Ein Großteil der Handlung spielt auf Betel-6, dem (fiktiven) sechsten Planeten um den Stern Beteigeuze. Der Name Beetlejuice (englisch wörtlich "Käfersaft") aus dem gleichnamigen Spielfilm von Tim Burton ist eine Verballhornung der englischen Bezeichnung des Sternes "Betelgeuse". Die Hauptfigur Betelgeuse benutzt diese Schreibweise, um ihren Namen symbolisch in einer Scharade darstellen zu können. Das System des Sterns Beteigeuze ist zentraler Handlungsort in Heft 48 – "Rotes Auge Beteigeuze" – der Science-Fiction-Roman-Serie Perry Rhodan. Beteigeuze taucht in einigen Philip-K.-Dick-Romanen bzw. -Kurzgeschichten auf. In der Verfilmung "Blade Runner" spricht am Ende der Replikant Roy Batty die Worte: „Ich habe Dinge gesehen, die ihr Menschen niemals glauben würdet: gigantische Schiffe, die brannten draußen vor der Schulter des Orion (Beteigeuze)...“. Auch Ijon Tichy beginnt im von Stanisław Lem verfassten Buch "Sterntagebücher" seine abenteuerliche Zeitreise auf dem Weg zu diesem Stern. In dem Kinderbuch "Angstmän" (wie auch im gleichnamigen Hörspiel) von Hartmut El Kurdi fragt der Titelheld (ein außerirdischer Superheld) das Mädchen Jennifer: „Braunschweig? Ist das östlich oder westlich von Beteigeuze?“ Petelgeuse Romanee-Conti, ein Antagonist aus "", einer Light-Novel-Reihe mit einer Manga- und Anime-Adaption, besitzt einen von Beteigeuzes internationaler Bezeichnung "Betelgeuse" inspirierten Namen. Da Betelgeuse „Hand der Zwillinge“ bedeutet, ist sein Name wohl auch eine Anspielung auf seine Fähigkeit der Unsichtbaren Hand, sowie sein Spitzname „Roter Stern“ im Japanischen eine Anspielung darauf ist, dass Beteigeuze ein Roter Riese ist.
700
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https://de.wikipedia.org/wiki?curid=700
Benelux-Länder
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https://de.wikipedia.org/wiki?curid=701
Beirut
Beirut (, auch , "Bayrūt", mundartlich "Beyrūt") ist die Hauptstadt des Libanon. Sie liegt am östlichen Mittelmeer, an der Levanteküste, ungefähr in der Mitte von deren Ausdehnung in Nord-Süd-Richtung. Beirut ist das wirtschaftliche und kulturelle Zentrum des Landes mit vielen Verlagen und Universitäten, unter anderen der Amerikanischen Universität Beirut (AUB) und der Université Saint-Joseph (USJ). Die Stadt wurde vor dem Libanesischen Bürgerkrieg (1975–1990) oft als „Paris des Orients“ bezeichnet. Bevölkerung. Die genaue Einwohnerzahl der Stadt ist unbekannt, da die letzte Volkszählung im Jahr 1932 durchgeführt wurde. 1991 betrug die Zahl schätzungsweise 1½ Millionen, für 2012 wurden 2.060.363 Einwohner für Beirut und Umgebung berechnet. Das Auswärtige Amt schätzte die Einwohnerzahl im März 2014 auf rund 1½ Millionen. In den letzten Jahren kam es zu einem Zufluss von Flüchtlingen aus Syrien. Für 2017 schätzt die UN die Bevölkerungszahl der Agglomeration Beirut auf 2,3 Millionen. Bevölkerungsentwicklung der Agglomeration laut UN Beirut ist die konfessionell vielfältigste Stadt des Landes und des Nahen Ostens. In ihr leben Christen (Maronitische, Griechisch-Orthodoxe, Syrisch-Orthodoxe, Syrisch-Katholische, Armenisch-Orthodoxe, Armenisch-Katholische, Römisch-Katholische und Protestanten), Muslime (Sunniten und Schiiten) sowie Drusen. Fast alle Juden haben Beirut seit 1975 verlassen. Der genaue Anteil der Konfessionen der Bevölkerung ist unbekannt, weil die Konfessionszugehörigkeit der Einwohner zuletzt 1932 befragt wurde. 50 % waren Christen (davon 30 % Maroniten, gefolgt von Griechisch-Orthodoxen mit 16 %), 50 % Muslime, davon ein Drittel Schiiten. Es ist möglich, dass die Mehrheit der Bevölkerung heute muslimisch ist, darunter viele Schiiten. Im Norden von Beirut wohnen überwiegend Sunniten und Christen. Der Osten Beiruts ist überwiegend von Christen bewohnt, der Westen überwiegend von Sunniten. Der Süden Beiruts ist überwiegend von Schiiten bewohnt. Geschichte. Die früheste Erwähnung der Stadt datiert auf die Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr. Beirut war bereits unter den Phöniziern ein bedeutender Stadtstaat, ihr antiker phönizischer Name lautete "Be'erot" (dt. ‚Brunnen‘ (Plural)). Davon abgeleitet nannten die Griechen die Stadt Βηρυτός (Berytós). Nach der Eroberung durch die Heere Alexander des Großen gehörte Beirut längere Zeit zum Seleukidenreich. Dessen Herrschaft endete 63 v. Chr. im Zuge der Eroberung der Levante durch die Römer. Pompeius machte das Gebiet, zu dem Beirut gehört, als Syria zu einer Provinz des Römischen Reiches. Während der Römerzeit war die Stadt, die nun als römische Kolonie den Namen "Berytus" trug, sehr bedeutend und brachte bekannte Juristen hervor, unter anderem Papinian und Ulpian. Die Rechtsschule von Beirut war bis ins 6. Jahrhundert einflussreich. Mindestens bis ins späte 4. Jahrhundert, vermutlich deutlich länger, war Latein die dominierende Sprache Beiruts; damit hob es sich kulturell von seinem Umland ab. Im Jahr 551 zerstörten ein Erdbeben und eine darauf folgende Flutwelle die wohlhabende Stadt. Im Jahr 635 wurde Beirut von Arabern erobert, die es "Bayrut" nannten. Die immer noch stark zerstörte Stadt wurde wieder aufgebaut, und der Handel begann erneut zu florieren. Von 1110 bis 1291 befand sich Beirut in der Hand der Kreuzfahrerstaaten. Es wurde wichtig für den Europahandel und hatte innerhalb des Fürstentums Galiläa eigene Vasallen. Nach der Eroberung durch die christlichen Heere fiel Beirut zunächst an Fulko von Guînes; 1166 gab Amalrich I. es als Lehen an Andronikos Komnenos, den späteren byzantinischen Kaiser, der sie jedoch nach dem Bekanntwerden seiner Liebesaffäre mit Königin Theodora von Jerusalem verlassen musste. 1197 wurde Johann I. von Ibelin mit der Stadt belehnt, die zu dem Zeitpunkt stark zerstört war. Nach seinem Tod (1266) fiel sie an seine Tochter Isabella von Beirut. Die Kreuzfahrer errichteten in Beirut auch ein Bistum und erbauten eine Johannes dem Täufer geweihte Kathedrale, die heute als Moschee genutzt wird. 1291 brach das Königreich Jerusalem endgültig zusammen; damit endete die Herrschaft der Kreuzfahrer. 1772 wurde Beirut von einem russischen Geschwader bombardiert. Russische Truppen hielten die Stadt bis 1774 besetzt. Die Chihab übernahmen nach deren Abzug die Macht im Mutesarriflik Libanonberg, das begann, sich wirtschaftlich stark zu entwickeln. Als besonders einträglich erwies sich die Seidenherstellung. 1831 wurde der Libanon von ägyptischen Truppen unter Muhammad Ali Pascha besetzt. Seine Kontrolle über Beirut endete 1840, als die Flotten Großbritanniens und des Kaisertums Österreich in Jounieh nördlich von Beirut landeten, die Stadt bombardierten und die Ägypter zum Rückzug zwangen. Bechir Chihab II. musste nach Malta und später nach Istanbul ins Exil. Für 1820 wird die Einwohnerzahl auf 6000 bis 8000 Menschen geschätzt. 1836 hatte das erste Dampfschiff im Hafen angelegt. Er erreichte 1861 ein Handelsvolumen von 1.081.000 Pfund Sterling, wovon 741.000 auf Importe und 340.000 auf Exporte entfielen. Beirut wurde bis in die 1870er Jahre „der mit Abstand modernste und wichtigste Hafen an der syrischen Mittelmeerküste“, wie die Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer schreibt. Anders als Jaffa konnte Beirut als einziger Hafen der Levante von Dampfschiffen mit 1000 t ab den 1870er Jahren noch direkt angelaufen werden. Fahrplanmäßige Verbindungen nach Marseille und Triest gingen in Betrieb. Während die Stadt bis etwa 1840 auf ein relativ kleines Areal beschränkt war, fand unter spätosmanischer Herrschaft eine Ausdehnung auf die Bereiche außerhalb der Stadtmauern statt. Die zunächst lose Bebauung verdichtete sich vor allem entlang der wichtigen Ausfallstraßen nach Tripoli im Norden, Damaskus im Osten und Sidon im Süden. Innerhalb der Stadtmauern wurden unter spätosmanischer Herrschaft zwei Durchgangsstraßen geschaffen. Es kam neben der Ausdehnung nach Süden zu einer Verdichtung in den zentrumsnahen Quartieren. 1841 endete die Ära des Emirats der Familie Chihab. Beirut hatte 15.000 Einwohner. Bereits der drusische Fürst Fachr ad-Dīn II. (1572–1635), Herrscher des Chouf, unterhielt in Beirut eine Winterresidenz. Beirut blieb jedoch ein mehrheitlich von Sunniten bewohnter Ort, bis im Bürgerkrieg im Libanongebirge 1860 zahlreiche Christen vor Aggressionen der dortigen Drusen nach Beirut flohen. Dies bot dem Zweiten Französischen Kaiserreich einen Vorwand zur militärischen Intervention. Viele Libanesen wanderten bald auch ins Ausland aus, nach Lateinamerika oder Subsahara-Afrika, wo z. B. die Goldküste Libanesen und Syrer anzog. Rückkehrer aus der libanesischen Diaspora bereicherten ihrerseits später das kulturelle und wirtschaftliche Leben von Beirut. Der Anteil der griechisch-orthodoxen Christen nahm deutlich zu. 1863 eröffnete die Compagnie impériale ottomane de la Route Beyrouth-Damas nach vierjähriger Bauzeit die 112 km lange Straße, die die nunmehr 60.000 Einwohner zählende Stadt mit Damaskus verband. Für ihren Betrieb erwarb sie eine 50-jährige Konzession. Im 1868 gegründeten Gemeinderat nahmen die Bayhum, Qabbani oder Dana Einsitz. Um 1880 hatte Beirut geschätzte 90.000 Einwohner, die Zahl sollte auf 120.000 zu Beginn des Ersten Weltkrieges ansteigen. 1888 wurde die Provinz Beirut ein Vilâyet Syriens, das die Sandschaks Latakia, Tripolis und Akkon umfasste. Ab 1888 war Beirut der Hauptort. 1895 ging die Libanonbahn, auf der neunstündigen Strecke Beirut-Damaskus, in Betrieb, die Wilhelm II. 1898 auf seiner Palästinareise nahm. Das Wasser des Nahr al-Kalb wurde nach Beirut geleitet, eine öffentliche Gasbeleuchtung ging in Betrieb. Unter Abdülhamid II. entstanden vor allem in den südlichen Stadtteilen mit sunnitischer und gemischter Bevölkerung 28 Karakol, osmanische Polizeiposten. Gabriel Charmes beschrieb im Reisebericht "Voyage en Syrie" 1891 eine Stadt, die sich rasant veränderte. Beirut galt als das "Paris des Orients", auch und vor allem wegen der freizügig ausgelegten gesellschaftlichen Moralvorstellungen, wovon der Schriftsteller Gustave Flaubert der Nachwelt einen anschaulichen Bericht hinterlassen hat. Neben zahlreichen Orten des Konsums und der Vergnügung, wozu auch ein ausgedehnter Rotlichtbezirk zählte, bot Beirut ab 1846 das Osmanische Militärkrankenhaus, ab Mitte der 1860er Jahre die Fotostudios von Tancrède Dumas, Félix Bonfils oder George Saboungi, ab 1867 das Deutsche Johanniterspital und ab 1871 mehrere Kliniken und Apotheken auf westlichem Niveau mit einheimischen Ärzten, etwa am 1878 gegründeten griechisch-orthodoxen Saint-George-Hospital, sowie zwei Eliteschulen; das 1866 gegründete Syrian Protestant College und das 1875 gegründete Jesuitenkolleg Université Saint-Joseph. 1878 entstand die muslimische Wohltätigkeitsgesellschaft "Maqasid". Emile Sursock gründete 1880 eine Mädchenschule. Das Syrian Protestant College, das später zur Amerikanischen Universität Beirut (AUB) wurde, belegte ein 25 Hektar großes Gelände mit Museen, Sportanlagen, botanischem Garten, Vogelschutzgebiet und exklusivem Privatstrand jenseits der Corniche. Ab 1908 bedienten zwei Tramlinien die verschiedenen Stadtteile. Neben westlichen Einflüssen machte sich im Zuge der "Nahda" – der „arabischen Renaissance“ – wachsendes arabisches Nationalbewusstsein bemerkbar. 1868 eröffnete Butrus al-Bustani in Beirut die „Nationale Schule“ "Madrasa al-Wataniyyah", die bis 1876 in Betrieb war und gab die Zeitung "al-Djinan" heraus. Um der osmanischen Zensur zu entgehen, wanderten Journalisten und Verleger nach Kairo ab. So wurde zwar die Zeitschrift "Al-Muqtataf" 1876 in Beirut gegründet, erschien dann aber bis 1952 in Kairo und die maronitischen Brüder Salim und Bishara Takla gründeten "al-Ahram" in Alexandria. Dschurdschī Zaidān entfloh 1882 dem Antidarwinismus der AUB nach Kairo. 1895 eröffnete die sunnitische Eliteschule "Collège ottoman". Die höhere Schule für Kunstgewerbe und Handwerk, eine "École des Arts et Métiers" (Maktab al-Sana'i), ergänzte ab 1907 das Bildungsangebot der Stadt. Mit der Jungtürkischen Revolution 1908 entstand auch in Beirut eine Vertretung des Komitees für Einheit und Fortschritt. 1909 forderte die zugleich in Beirut und Kairo gegründete Alliance libanaise ein Autonomiestatut für den Libanonberg und meldete Ansprüche auf die Bekaa-Ebene an. Die Revolution enttäuschte Hoffnungen und Erwartungen, wie am 16. August 1911 US-Generalkonsul Stanley Hollis nach Washington übermittelte. Ende Dezember 1912 fanden mit Förderung des Wālī Adhem Bey erste muslimisch-christliche Gespräche statt. Im Refomkomitee nahmen auch zwei Juden und zwei Protestanten Einsitz. Sie forderten Dezentralisierung, Arabisch als Amtssprache und die Verkürzung des Militärdienstes auf zwei Jahre. Adhem wurde durch Hazim Bey ersetzt, Istanbul erzwang am 8. April 1913 die Auflösung des Komitees. Die Bevölkerung reagierte mit einem Generalstreik. 1914 hatte Beirut 120.000 Einwohner. 1915–1916 wurde die Résidence des Pins ursprünglich als Casino errichtet, das im Ersten Weltkrieg als osmanisches Militärkrankenhaus diente. 1912 versenkte die italienische Marine in der Seeschlacht von Beirut osmanische Schiffe. Im Februar 1912 wurde Beirut von den Italienern bombardiert, was zur Entsendung französischer Kriegsschiffe führte. 1915 bombardierten die Italiener Beirut erneut. Mit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches nach dem Krieg fiel Beirut als Teil eines Völkerbundmandates an die Franzosen, deren Hochkommissar der Levante in die Résidence des Pins einzog und sie 1921 für Frankreich kaufte. 1921 fand die Foire internationale de Beyrouth statt. Am 1. September 1920 war in der Résidence des Pins von General Henri Gouraud im Beisein des maronitischen Patriarchen Elias Hoyek und des sunnitischen Mufti Moustapha Naja der sogenannte Großlibanon ausgerufen worden. Am 23. Mai 1926 wurde eine auf Interessenausgleich ausgelegte Verfassung nach dem Vorbild der Dritten Französischen Republik eingesetzt: Der Anerkennung der "arabité" des Libanon im Interesse der Muslime entsprach der Verzicht auf den syrischen Irredentismus im Interesse der Christen. 1932 fand die zweite und bis heute letzte Volkszählung statt, die im Großlibanon eine Mehrheit von 51,2 % Christen etablierte und darauf basierend die politische Machtverteilung, das System des Confessionnalisme, festlegte. Anbara Salam (1897–1986) legte 1927 in einer Rede öffentlich das Kopftuch ab, als erste Frau aus der sunnitischen Oberschicht. Das Krankenhaus Hôtel-Dieu de France wurde errichtet. Seit 1910 arbeitete der Gaslampenunternehmer César Debbas emsig daran, den Eindruck zu kopieren, der die Beleuchtung der Weltausstellung von Paris 1900 bei ihm hinterlassen hatte. Was zunächst in der Rue Damas und Rue Gouraud gelang, wurde im Herbst 1923 mit der Elekrifizierung in ganz Beirut Realität. Der Plan Danger von 1932 legte Vorschläge für die "Stadtverschönerung" vor. Ein "Exploit" in dieser Hinsicht war 1932 die Eröffnung des luxuriösen Hotel Saint-Georges der Société des grands hôtels du Levant. 1933 gründete der Journalist Jibran Tuéni (1895–1947) die Zeitung "Al-Nahâr" und forderte, wie der Historiker Bernard Heyberger schreibt, dass die Christen nicht nur nach Sicherheit und Wohlstand streben, sondern auch ihre "Minderheitsmentalität" („logique minoritaire“) hinter sich lassen müssten, was, wie Tuéni argumentierte, nur möglich sein würde, wenn sie ihre mit dem Muslimen geteilte arabische Identität anerkannten. Von der Landung der "Frossula", eines Schiffes mit 658 jüdischen Flüchtlingen aus der Tschechoslowakei im Juli 1939 wollten viele Beirutis nichts wissen. Sie demonstrierten für dessen Verbleib auf See. Nur einige kranke Menschen erhielten humanitäre Aufnahme in Quarantäne. Für die Kosten musste die jüdische Gemeinde Beirut aufkommen. Doch ereiferte sich auch ein Bericht der Alliance Israélite Universelle am 27. Juli 1939 dafür, dass keiner dieser „Unglücklichen“ im Land bleiben dürfe. Wer den öffentlichen Finanzen nicht zur Last fiel war willkommen. Samir Kassir zufolge waren Architekten, die in Tel Aviv die "Weisse Stadt" verwirklichten auch in Beirut tätig, ein jüdisches Orchester aus Palästina spielte auf, jüdische Studenden reisten an. 1941 besuchte Charles de Gaulle Beirut und residierte standesgemäß in der Résidence des Pins. 1942 ging die Bahnstrecke Haifa–Beirut–Tripoli in Betrieb. 1943 folgte mit dem Plan Michel Écochard ein weiterer Entwicklungs- und Abrissplan für Beirut. Beirut entwickelte sich abseits des weltweiten Kriegsgeschehens wirtschaftlich dynamisch. Am 22. November 1943 erlangte der "Zedernstaat" die Unabhängigkeit. Ab 1945 wurden die von Michel Écochard gemachten Vorschläge umgesetzt, als Beirut nach dem Zweiten Weltkrieg die Hauptstadt der nunmehr unabhängigen Republik war. Das arabische Bürgertum aus Ländern mit Verstaatlichungen, wie Ägypten unter Gamal Abdel Nasser, fühlte sich von der Freihandelspolitik und dem Bankgeheimnisgesetz von 1956 angezogen, was Beirut zu einem internationalen Finanzplatz machte. Die privatwirtschaftliche Banque de Syrie et du Liban übertrug 1963 die Verantwortung für die Bankenaufsicht und die Ausgabe des Libanesischen Pfunds an die neu gegründete Banque du Liban. Die Nakba als Folge des Palästinakriegs hatte 1948 und 1949 zu einem starken Zuzug der Palästinenser in die fünf Flüchtlingslager Burj al-Barájnah, Sabra-Chatila, Mar Elias, Jisr el-Pacha, Tell ez-Zaatar und Dbaye rund um Beirut geführt. Die Libanonkrise 1958 führte zur Landung US-amerikanischer Truppen in Beirut. Auf die Krise folgte die Phase des "Chéhabisme" unter Fouad Chéhab bis 1964. Vor 1975 war die Innenstadt Beiruts ein Handels- und gesamtarabisches Vergnügungszentrum und ein interkonfessioneller Treffpunkt für Begegnung und friedliche Koexistenz. Die Geschäfte im "Kit Kat", in der Bar "Tabou", im Nachtclub "Le Corsaire" oder im "Caves du Roy" liefen gut. Auch das Orchester und Cabaret des Hotel Normandy sicherten dem „König der Nacht“, dem Hotelunternehmer (Hotel Palm Beach, Hotel Excelsior) und Orchesterleiter Jean-Prosper Gay-Para (1914–2003), ein gutes Einkommen. Der Architekt und Designer Khalil Khoury verwirklichte hier mit dem Showroom Interdesign von 1975 international vertretene Auffassungen von Architektur in Sichtbetonbauweise – dem Brutalismus. Der Historiker Kamal Salibi meinte 1976, Libanon sei „ein offenes Forum... das Land aller Araber“ gewesen, „das einzige Land, wo ein Araber, woher er auch kam, sich vollkommen zuhause fühlen konnte“. Der Finanzplatz mit dem staatlichen Casino du Liban trug deshalb den (auf die Schweiz nur partiell rückübertragbaren) Titel „die Schweiz des Nahen Ostens“. 1972 starb der palästinensische Schriftsteller und Aktivist Ghassan Kanafani durch eine Autobombe des Mossad in Beirut. Als Folge des Jordanischen Bürgerkriegs siedelte 1971 die politische Führung der Palästinenser nach Beirut über und veränderte das labile Kräfteverhältnis im Land. Während des Libanesischen Bürgerkriegs von April 1975 bis Oktober 1990, von den Libanesen als „die Ereignisse“ bezeichnet, wurden die Innenstadt und der Hoteldistrikt stark zerstört. Bereits mit der israelischen Operation Litani 1978 kamen viele vertriebene Südlibanesen nach Beirut. Die Kriminalität nahm zu. Im folgenden Bürgerkrieg zog sich die Frontlinie mitten durch das Zentrum und teilte Beirut in den muslimischen Westen und den christlichen Osten. Im Juni 1982 drang Israel in den Libanon ein; West-Beirut wurde zehn Wochen lang belagert und beschossen (Libanonfeldzug). Das Massaker von Sabra und Schatila ereignete sich. Im Bund mit den christlichen Forces Libanaises von Bachir Gemayel zwang Israel die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) und 15.000 Fedajin am 22. August 1982 zum vollständigen Abzug nach Tunesien, aber auch nach Jordanien, Algerien, Irak, Jemen und Sudan. Der Abzug fand durch die Vermittlung des US-Diplomaten Philip Habib mit Aufsicht einer multinationalen Schutztruppe statt. Am 17. September 1983 beschoss die US Navy erstmals syrische Stellungen nahe Beirut. Am 18. April 1983 starben bei der Explosion einer Autobombe bei der US-Botschaft 64 Menschen. Die multinationale Friedenstruppe verließ 1983 Libanon, nachdem am 23. Oktober 1983 bei zwei Bombenanschlägen auf die multinationalen Hauptquartiere Frankreichs und der USA, die von einer Hisbollah-Gruppe beansprucht wurden, 241 US-Soldaten und 58 französische Fallschirmspringer getötet worden waren. 1985 richtete Israel eine Schutzzone im Vorfeld der israelischen Grenze ein. Bei einem Autobombenanschlag am 8. März 1985, der dem schiitischen geistlichen Führer Scheich Muhammad Hussein Fadlallah galt, wurden 80 Menschen getötet und 256 verletzt. In den ersten Kriegswochen wurde die Innenstadt bei zermürbenden Straßenkämpfen stark zerstört; sie verfiel im Laufe der Jahre und Kampfhandlungen zu einer Brachfläche und war ein unpassierbares Niemandsland, kontrolliert von Milizen und Scharfschützen. Die Topographie Beiruts – die Innenstadt liegt in einer Mulde – begünstigte, dass man Kämpfe in der Innenstadt von anderen Stadtteilen aus beobachten konnte. Während der 16 Jahre Bürgerkrieg gab es zahlreiche Friedensbemühungen sowie kurze oder längere Feuerpausen. Die Kämpfe und somit die gravierendsten Zerstörungen gab es im Stadtzentrum und entlang der Demarkationslinie („Green Line“), die West- und Ost-Beirut trennte. Die von einer Religionszugehörigkeit geprägten Viertel entmischten sich von den jeweils anderen Religionen. Nach 16 Jahren Krieg hatten die jüngeren Bewohner kein Bild der Innenstadt oder der jeweils anderen Seite. Stadtgebiete ohne Zugang hatte man 'ausgeblendet' und auf der eigenen Seite neue öffentliche Räume – z. B. Handelsplätze – geschaffen. Im Oktober 1990 endete der Bürgerkrieg. Für den Wiederaufbau des Stadtzentrums, des sogenannten "Beirut Central District" (BCD), wurde 1994, nach dem Friedensabkommen von Tai’if, die private, als Aktiengesellschaft organisierte Wiederaufbaugesellschaft Solidere von Rafiq al-Hariri gegründet. Solidere steht für "Société libanaise pour le développement et la reconstruction du centre-ville de Beyrouth" (dt. "Libanesische Gesellschaft für die Entwicklung und den Wiederaufbau des Stadtzentrums von Beirut"). Neben Solidere war der 1977 gegründete gesamtstaatliche Wiederaufbaurat ("Council for Development and Reconstruction", CDR) die wichtigste Institution im Wiederaufbau. Mit Studien beauftragt wurde das damals größte Büro im Nahen Osten, Dar al-Handasah. Trotz der Kritik von Intellektuellen und vielen der über 40.000 Eigentümer in den betroffenen Stadtgebieten veränderte sich die Studie, die 1994 als endgültiger Masterplan vorgestellt wurde, kaum. Vor dem Beginn des Wiederaufbaus wurden Grundstückseigentümer innerhalb des BCD kurzerhand enteignet und mit Anteilen an der Firma Solidere entschädigt. Aufgrund der schlechten Wirtschaftslage im Nachkriegslibanon verkauften die meisten entschädigten Alteigentümer ihre Anteile wieder an Solidere. Flüchtlinge, die während des Krieges leer stehende Gebäude der Innenstadt besetzt hatten, erhielten je nach Verhandlungsgeschick unterschiedlich hohe Entschädigungszahlungen und räumten so nach und nach ebenfalls das BCD frei. Dies führte zu einer Art Privatisierung der Innenstadt – und zog zahlreiche Proteste nach sich, weil Teile der Bevölkerung sich mit den Wiederaufbauplänen für die Innenstadt nicht identifizieren konnten. Diese umfassen ein 180 Hektar großes Areal und konzentrieren sich ausschließlich auf die Innenstadt und 60 Hektar aufgeschütteten Meeresgrund. Die Zerstörung entlang der ehemaligen Demarkationslinie außerhalb des BCD oder einzelne punktuelle Zerstörungen in der restlichen Stadt werden von den Wiederaufbauplänen von Solidere nicht berücksichtigt. Nicht zuletzt aus Prestigegründen wurden für einzelne Projekte internationale Realisierungs- und Ideenwettbewerbe veranstaltet. Die Aufgabe von Solidere bestand dabei von Anfang in der Organisation und Neustrukturierung der gesamten Infrastruktur des Areals der Innenstadt. Gleichzeitig aber hatte Solidere die totale Entscheidungsgewalt darüber, was gebaut werden sollte oder was abgerissen werden konnte. Der Bürgerkrieg führte neben materieller Zerstörung zu umfangreichen Vertreibungen, die eine verstärkte religiöse Segregation der Stadt entlang der „Green Line“ zur Folge hatte. Die religiöse Entmischung hatte 2004 Bestand; einige Stadtgebiete Beiruts hatten in jenem Jahr kaum Überschneidungen mit anderen Stadtteilen. 2001 fand der Gipfel der Staatschefs der Arabischen Liga in Beirut statt. 2003 war die Stadt Austragungsort des Sommet de la francophonie. Ebenfalls 2003 begannen auf Initiative von Rafiq al-Hariri die Bauarbeiten für die sunnitische Mohammed al-Amin Moschee, die 2007 fertig gestellt wurde. Beim Attentat auf ihn in Beirut am 14. Februar 2005 starben 23 Menschen, darunter er selbst. Hunderttausende mehrheitlich junge Demonstrierende gingen vom 8. bis 14. März 2005 bei pro- und anti-syrischen Demonstrationen auf die Straße und besetzten den Märtyrer-Platz, die Ereignisse wurden als „Frühling von Beirut“ bezeichnet. Im April 2005 endeten 29 Jahre syrische Militärpräsenz im Libanon mit dem Abzug von 14.000 Soldaten. Am 2. Juni 2005 wurde der Journalist und Oppositionelle Samir Kassir in Beirut ermordet. Am 13. Juli 2006 griff Israel im Verlauf des Libanonkrieges 2006 den Flughafen der Stadt an. Bei diesem und weiteren Luftangriffen wurden 1300 libanesische Zivilisten getötet; Stadtteile (vor allem im Süden Beiruts), Verkehrswege und Infrastruktur wurden beschädigt oder zerstört. Bei Terroranschlägen am 12. November 2015 wurden mehr als 40 Menschen getötet. Zu den Anschlägen bekannte sich der sogenannte Islamische Staat. Am 4. August 2020 ereignete sich eine Explosionskatastrophe im Hafen von Beirut, bei der 2750 Tonnen unsicher gelagertes Ammoniumnitrat explodierten. Dabei gab es 218 Todesopfer und mehr als 6500 Verletzte, es entstanden Schäden in Höhe von mehreren Milliarden Euro. Über 300.000 Menschen wurden obdachlos. Die Katastrophe verschlimmerte die Wirtschaftskrise im Libanon seit 2019. Bezirke, Stadtteile und Vororte. Beirut ist in zwölf Bezirke () gegliedert, die jeweils in mehrere Stadtteile ("secteurs") aufgeteilt sind. Der Hafen von Beirut stellt einen eigenen Bezirk dar. Bekannte Stadtteile sind Hamra im Westen und Gemmayzeh im Osten der Stadt. Das Zentrum der Innenstadt ist auch unter der englischen Bezeichnung „Beirut Central District“ (BCD) bekannt. Vororte. Beiruts Vororte gehören zum Gouvernement Libanonberg Kultur. Bauwerke. Da in Beirut und dem Libanon viele religiöse Strömungen zusammentreffen, findet man eine große Anzahl bedeutender Sakralbauten. Die Mohammed-al-Amin-Moschee ist eine in den 2000er Jahren neu gebaute sunnitische Moschee. Diese steht unmittelbar Nachbarschaft zur maronitischen St.-Georgs-Kathedrale, der Hauptkirche des Erzbistums Beirut. Bis zur Einweihung der Mohammed-al-Amin-Moschee war die al-Omari-Moschee die bedeutendste Moschee in der Innenstadt. Diese war vor ihrer Umwidmung zu einer Moschee die St.-Johannes-Kathedrale. Die Amir-Assaf-Moschee befindet sich neben der al-Omari-Moschee. Die St.-Georgs-Kathedrale der griechisch-orthodoxen Kirche befindet sich etwa 80 Meter nördlich der maronitischen Georgskirche auf der östlichen Seite des Sāhat an-Nadschma (Place de l’Étoile), des Sternplatzes. 200 Meter westlich des Platzes liegt die Kirche Saint Louis des Pères Capucins, die Bischofskirche des 1953 errichteten lateinischen Apostolischen Vikariats Beirut. Als Kathedrale der armenischen Katholiken dient die Kirche St. Elias und St. Gregor, dessen kilikisches Patriarchat nach dem türkischen Völkermord an den Armeniern 1915 von Konstantinopel nach Beirut verlegt wurde. Die arabischen Protestanten nutzen die Église Nationale Évangélique de Beyrouth aus dem Jahr 1869 als Hauptkirche. Auf dem Sāhat an-Nadschma, dem Sternplatz steht das bekannteste Wahrzeichen der Stadt, der Uhrenturm aus osmanischer Zeit. Weiterhin befindet sich dort das Parlamentsgebäude des Libanons. Das frühere Holiday Inn Hotel Beirut, Schauplatz schwerer Gefechte im Libanesischen Bürgerkrieg, ist eine Hochhausruine im Zentrum und Symbol des Krieges beziehungsweise gegen diesen. Museen und Grabungen. Im Stadtteil Aschrafija wurde 1961 das Nicolas-Sursock-Museum eröffnet. Ein archäologisches Museum befindet sich direkt unter der griechisch-orthodoxen Georgskirche, wo bei Ausgrabungen Funde aus der hellenistischen Zeit, der römisch-byzantinischen Epoche, dem Mittelalter und aus der Zeit des Osmanischen Reichs gemacht wurden. Das Nationalmuseum Beirut wurde 1942 offiziell eröffnet. Das römische Bad ist eine öffentlich sichtbare Ausgrabung einer römischen Therme. Theater und Film. In den 1960er und 1970er Jahren wurden im Piccadilly-Theater im Stadtteil Hamra die Musicals der Brüder Mansour und Assi Rahbani mit Fairuz in den Hauptrollen aufgeführt. Am al-Burdsch – Place des Martyrs (Märtyrerplatz; auch Kanonenplatz genannt) befindet sich in unmittelbarer Nähe zum Rathaus das Opernhaus Beirut. Der Film "Falafel" (2006) ist Michel Kammouns erster Spielfilm, eine sozialpolitische Untersuchung über die Lebensweise im heutigen Libanon. Der Kinofilm "Caramel" (2007) von Regisseurin und Hauptdarstellerin Nadine Labaki spielt in einem Beauty-Salon in Beirut und zeigt das Alltagsleben von fünf Frauen in Libanon. Caramel wurde bisher in 50 Länder verkauft. Caramel zeigt das Leben in Beirut zwischen der Orientierung an westlichen Idealen und Mode und den alten Familientraditionen und religiösen Werten. Medien. Beirut ist das Zentrum für Presse, Rundfunk und Verlagswesen im Libanon. Hier hat unter anderem die staatliche Rundfunkgesellschaft Télé Liban ihren Sitz. Zu den bekannten Tageszeitungen zählen beispielsweise "al-Akhbar" in arabischer Sprache (2006 gegründet), der englischsprachige "The Daily Star" (1952 gegründet) und der französischsprachige "L’Orient-Le Jour" (seit 1971); zu den bekannten Verlagen Dār al-Kutub al-ʿilmīya. Universitäten, Institute. Universitäten. Beirut ist Sitz mehrerer Universitäten. Dazu gehören unter anderem: Deutschsprachige Institutionen. Daneben gibt es in der Stadt Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung, Konrad-Adenauer-Stiftung und Heinrich-Böll-Stiftung. Verkehr. Der Flughafen von Beirut befindet sich im Süden der Stadt. Im Norden, nahe dem Innenstadtzentrum liegt der Hafen von Beirut, der wichtigste Seehafen des Landes. Für den öffentlichen Personennahverkehr bestand von 1908 bis 1965 ein Straßenbahnsystem. Bis zum Bürgerkrieg bestand in Libanon ein von Beirut ausgehendes Eisenbahnnetz mit Strecken u. a. nach Syrien und zeitweise bis nach Palästina (heutiges Israel). Als Folge des Bürgerkriegs verkehrt heute im gesamten Libanon kein Schienenverkehrsmittel mehr. Söhne und Töchter der Stadt. Berühmte Söhne Beiruts sind unter anderem der Schauspieler Keanu Reeves, der Sänger Mika, der Autor Elias Khoury, der Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah sowie der Fußballspieler Youssef Mohamad.
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Bank (Begriffsklärung)
Bank (Plural Banken, von italienisch "banco, banca" „Tisch des Geldwechslers“) steht für: Bank (Plural Bänke, von althochdt. "banc" „Erhöhung“) steht für: Technik: Geowissenschaften: Verkaufs- oder Marktstände (historisch): Verkaufs- oder Marktstände (historisch): Bank (englisch, Plural Banks) steht für: (Das) Bank steht für: Bank ist der Name folgender geographischer Objekte: Bank ist der Familienname folgender Personen: Siehe auch:
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BTX
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Bildschirmtext
Bildschirmtext (kurz Btx oder BTX; in der Schweiz Videotex) war ein interaktiver Onlinedienst. Er kombinierte Funktionen des Telefons und des Fernsehgeräts zu einem Kommunikationsmittel. BTX wurde in Österreich im Juni 1982 eingeführt, in der Bundesrepublik Deutschland ab dem 1. September 1983 bundesweit. Durch die Konkurrenz des offenen Internets verlor Bildschirmtext seine Bedeutung später wieder. Inzwischen wurde der Dienst in allen Ländern eingestellt, in Deutschland 2007. Es gab Verwechslungen mit dem Fernseh-Teletext, wozu auch beitrug, dass der Dienst in der Schweiz "Videotex" (ohne „t“ am Ende) hieß und damit eine Ähnlichkeit mit dem in Deutschland verwendeten Teletext-Synonym Videotext aufwies. Geschichte. Deutschland. Vorgestellt wurde Btx 1977 vom damaligen Postminister Kurt Gscheidle auf der Internationalen Funkausstellung in Berlin. Es war in Deutschland unter der Leitung von Eric Danke entwickelt worden, der später Vorstandsmitglied von T-Online wurde. Eric Danke war 1975 durch eine Fachveröffentlichung über Samuel Fedida und PRESTEL auf die ursprünglich britische Technologie aufmerksam geworden. Im Juni 1980 startete ein Feldversuch mit jeweils etwa 2.000 Teilnehmern in Düsseldorf mit Neuss und Berlin. Am 18. März 1983 unterzeichneten die Regierungschefs der Länder in Bonn den Staatsvertrag über Bildschirmtext. Der Vertrag stellte es jedem Interessenten frei, unter Beachtung bestimmter Vorschriften als Anbieter von Bildschirmtext aufzutreten. Die Deutsche Bundespost startete 1983 einen interaktiven Online-Dienst, der anfangs ein spezielles Btx-Gerät erforderte. 1983 gab es neben der Btx-Leitzentrale in Ulm Btx-Vermittlungsstellen in Düsseldorf, Hamburg, Frankfurt am Main, München und Stuttgart. Geplant war der Ausbau auf 150 Btx-Vermittlungsstellen. Die erwarteten Nutzerzahlen wurden allerdings nie erreicht. So sollten es 1986 rund eine Million sein, tatsächlich waren es aber nur 60.000. Die Million wurde erst zehn Jahre später erreicht, nachdem Btx ab 1995 mit dem neuen T-Online-Angebot inklusive E-Mail und Internet-Zugang gekoppelt worden war. 1993 wurde Btx Bestandteil des neu geschaffenen Dienstes Datex-J. Am 31. Dezember 2001 wurde der ursprüngliche Btx-Dienst offiziell abgeschaltet. Eine reduzierte Variante für Online Banking wurde bis zum 10. Mai 2007 betrieben. Österreich. In Österreich gab es Btx seit Juni 1982. Die Eigenentwicklung MUPID, ein spezielles Terminal zur Nutzung der Btx-Dienste, wurde von der damaligen PTV selbst entwickelt und konnte von den Nutzern angemietet werden. Die Btx-Anschlusskosten betrugen im März 1984 rund 150 öS und die monatliche Grundgebühr lag bei 70 öS. Der Dienst wurde Ende November 2001 eingestellt. Schweiz. Der Dienst wurde in der Schweiz als "Videotex" (ohne t am Ende) bezeichnet. Von der damaligen PTT in den 1980er Jahren gestartet, wurde er ab 1995 von SwissOnline betrieben. Am 30. September 2000 wurde Videotex eingestellt. Weitere Länder. Die Basis für den BTX-Standard legte das britische Prestel, welches in erweiterter Form unter dem Namen Prestel Plus in Schweden und als weltweit erfolgreichstes System Minitel in Frankreich verbreitet war. In Dänemark gab es die Bezeichnung "Teledata", in Italien "Videotel" und in den Niederlanden "Viditel". In Spanien hieß das auf BTX basierende System "Ibertex". Merkmale des Bildschirmtexts in Deutschland. Technik. Das deutsche Btx erforderte ursprünglich spezielle Hardware, die bei der Post gekauft oder gemietet werden musste. Die Übertragung der Daten erfolgte über das Telefonnetz mit einem Modem (DBT-03) oder Akustikkoppler, die Darstellung mittels Btx-Gerät am Fernsehbildschirm oder an einem eigenständigen BTX-Terminal, oder mittels spezieller Software an Computern. Btx verwendete, wie auch das französische Minitel, ursprünglich den britischen PRESTEL-Standard, danach den CEPT-Standard T/CD 6-1. Später wurde auf den abwärtskompatiblen KIT-Standard (Kernel for Intelligent communication Terminals) umgestellt, der sich jedoch nie richtig durchsetzen konnte. CEPT erlaubte die Übertragung von Grafikseiten mit einer Auflösung von 480×240 Bildpunkten, wobei 32 aus 4.096 Farben gleichzeitig und DRCS (Dynamically Redefinable Character Set) dargestellt werden konnten. Das entsprach den technischen Möglichkeiten der frühen 1980er Jahre. Viele Btx-Seiten des PRESTEL-Standards ähnelten den heute noch eingesetzten Videotext-Seiten mit einer Pseudografik aus farbigen ASCII-Zeichen. In Btx wurden anfangs immer ganze Bildschirmseiten mit einer Geschwindigkeit von 1200 bit/s übertragen. Die Anforderung einer Seite durch den Benutzer erfolgte mit 75 bit/s. Die möglichen Zugangsgeschwindigkeiten wurden mit den Fortschritten in der Modemtechnik auch von Seiten der Bundespost erhöht. Das Herunterladen von Daten und Computerprogrammen (Telesoftware), vor allem Shareware und Programmaktualisierungen, war mit Hilfe eines Softwaredecoders und eines PCs möglich. Adresssystem. Die Seiten wurden mittels einer Nummer adressiert, der ein Stern (*) vorangestellt und ein in diesem Zusammenhang als „Raute“ bezeichnetes Doppelkreuz (#) nachgestellt war (z. B. *30000#). Durch die Endmarke # konnte das System so bei Adressnummereingaben unterscheiden, ob die Eingabe abgeschlossen ist oder noch weitere Ziffern folgen, wodurch ein größerer (theoretisch unendlicher) Zahlenraum verfügbar blieb (Gegenbeispiel: Telefonie mit Rufnummerneingabe ohne Endmarke). Zifferneingaben ohne vorangestellten Stern wurden als Kommandos interpretiert, die etwa auf eine andere Seite führten (z. B. „23“) oder einen kostenpflichtigen Seitenaufruf bestätigen (zur Vermeidung versehentlicher Bestätigung stets „19“). Die Kombination *# führte zur vorangegangenen Seite zurück. DBT-03 und andere Modems. Das DBT-03-Modem erlaubte eine Datenübertragungsrate von 1.200 bit/s zum Teilnehmer und 75 bit/s vom Teilnehmer zur Zentrale ("ITU-T V.23-Standard"). Die Zugangsauthentifizierung erfolgte über die zwölfstellige Anschlusskennung (die als "Hardwarekennung" im ROM eines DBT-03 fest einprogrammiert war), die Teilnehmernummer, den Mitbenutzerzusatz und ein Passwort, welches der Benutzer selbst festlegen konnte. In den DBT-03-Modems war die Anschlusskennung fest programmiert, und eine Öffnung war untersagt. Die Modems waren verplombt, eine Öffnung konnte nur durch Zerstörung dieser Plombe erfolgen. Ein Originalgerät hatte eine gelbe, nach einer Instandsetzung bekam es eine blaue Plombe und ein neues ROM mit anderer Hardwarekennung. Die Einwahlnummer war festverdrahtet auf die Telefonnummer 190. Später wurde dann auch der Betrieb mit anderen Modems erlaubt (nach Beantragung einer sogenannten "Softwarekennung"). Somit konnte mit jedem gewöhnlichen PC und einem sogenannten Softwaredecoder (zum Beispiel "Amaris") Btx genutzt werden. Auch für den C64 und C128 gab es einen Btx-Hardwaredecoder für den Expansionport und Anschluss an das DBT-03. Unterschied zum Internet. Beim deutschen Btx-System waren die Seiten der Anbieter in der Urdatenbank auf einem zentralen Rechnersystem des Herstellers IBM in der Btx-Leitzentrale Ulm abgelegt und wurden von dort abgerufen, wenn die örtlichen Bildschirmtext-Vermittlungsstellen (Vst) diese nicht in ihrem Datenbank- bzw. Teilnehmerrechner vorrätig hatten. Die örtlichen Knoten konnten die Seitenwünsche zu 95 bis 98 Prozent bedienen. Die Seitendatei im örtlichen Knoten unterlag einem Alterungsverfahren. Wenig angeforderte Seiten wurden mit häufig angeforderten überschrieben. Im WWW werden vergleichbare Funktionen mittels Cache und Proxy angeboten. Die Seiten sogenannter „Externer Rechner“ bildeten dabei eine Ausnahme. Sie existierten nicht statisch in der Datenbank der Btx-Leitzentrale, sondern wurden vom Rechner des Anbieters jeweils dynamisch erzeugt und über die Btx-Vst an den Benutzer übertragen. Die Externen Rechner waren im weltweiten Verbund per X.25 (Datex-P) an die Btx-Vstn angebunden. Diese Möglichkeit wurde nur von wenigen Großanbietern (z. B. Quelle oder Neckermann Reisen), als Vorläufer des Onlinebankings jedoch von zahlreichen Banken genutzt. Die erste Ziffer einer Seitennummer war die „Bereichskennzahl“: 2–6 für bundesweite, 8 und 9 für regionale Seiten. Der Abruf regionaler Seiten einer anderen Region war kostenpflichtig. Durch die zentrale Verwaltung und Speicherung der Inhalte bzw. der Zugänge für „Externe Rechner“ war ein alphabetisch sortiertes „Anbieterverzeichnis“ möglich (abrufbar über *12#). Jeder Teilnehmer konnte unter seiner Btx-Nummer eigene „Mitbenutzer“ mit jeweils individuellen Passwörtern einrichten. Ein Mitbenutzer war durch den „Mitbenutzerzusatz“ auf Mitteilungen als Absender eindeutig erkenn- und adressierbar. Der Teilnehmer selbst hatte den (allgemein nicht einzugebenden) Mitbenutzerzusatz 0001, die Mitbenutzer dann 0002, 0003 ... Der Teilnehmer konnte jedem Mitbenutzer ein „Taschengeldkonto“ einrichten und aufladen, womit diesem ein Geldbetrag für Btx-Kosten zur Verfügung stand. Kosten und Angebote. Die Kosten für den Nutzer entstanden durch den Abruf einer Seite; der Anbieter hatte bei der Tarifierung weitgehend freie Hand. Er konnte neben dem kostenlosen Abruf wahlweise eine seitenabhängige Vergütung (0,01 DM bis 9,99 DM) erheben, oder eine zeitabhängige Vergütung (0,01 DM bis 1,30 DM pro Minute). Die Kosten wurden über die Telefonrechnung der Nutzer abgerechnet. Btx bot bereits zahlreiche Dienste an, die heute über das Internet verfügbar sind. So konnten Btx-Teilnehmer miteinander online diskutieren (Chat), sich gegenseitig elektronische Mitteilungen in Form von Btx-Seiten zum Preis von 30 Pfennig pro Seite schicken und aktuelle Nachrichten abrufen (Ticker, Homepages). Weiterhin gab es für Anbieter die Möglichkeit, ihr Angebot über einen sogenannten „Externen Rechner“ dynamisch zu gestalten. Dabei wurde über eine „Übergabeseite“ aus dem normalen Seitenbestand von der jeweiligen Btx-Vermittlungsstelle eine Verbindung über Datex-P zum Rechner des Anbieters aufgebaut. Von da ab übernahm dann dieser Rechner die Kontrolle über den am Endgerät angezeigten Seiteninhalt. Dieses Angebot wurde vor allem von Banken (als Vorläufer des heutigen Online-Bankings), Versandhäusern und der Reiseindustrie (Lufthansa, Deutsche Bundesbahn oder Deutsche Bahn) benutzt. Die Btx-Kunden konnten so interaktiv ihre Bankgeschäfte tätigen oder Online-Bestellungen im Versandhandel aufgeben. Auch Bundesbehörden wie das Arbeitsamt waren über Btx erreichbar. Das Einstellen von Angeboten in Btx war relativ teuer, daher wurde es von Privatpersonen kaum genutzt. Anbieter waren vor allem große Firmen wie Versandhandel und einzelne mittelständische Unternehmen. Auch schon bei Btx war eine ständig steigende Zahl von Anbietern aus dem Erotikbereich zu beobachten. Der Chaos Computer Club (CCC) war ebenfalls mit einem Angebot in Btx vertreten. Der Club fand eine Reihe von technischen Schwachstellen in Btx und versuchte, die Grenzen des Systems aufzuzeigen, unter anderem durch den im bundesweiten Fernsehen berichteten Btx-Hack. Btx blieb der große Erfolg verwehrt, was vor allem an der restriktiven Politik, hohen Nutzungsgebühren (1983: 8,00 DM monatliche Grundgebühr und eine Anschlussgebühr von 55,00 DM) und einer festen Vertragsbindung mit der Bundespost lag. Diese gestattete für die Verwendung von Btx nur spezielle, von der Post zugelassene Hardware, die zu hohen Preisen separat erworben werden musste. Obwohl CEPT-Decoder frühzeitig für damals verbreitete Heimcomputer wie den C64 erhältlich waren, verweigerte die Post die Zulassung dieser Geräte. In Frankreich, wo die notwendige Hardware von der France Télécom z. T. kostenlos bereitgestellt wurde, erfreute sich das dortige Minitel hingegen großer Beliebtheit. Das Post-Monopol auf diese Endgeräte, Modems und Telefone fiel mit der Liberalisierung des Endgerätemarkts am 1. Juli 1989. Zu dem Zeitpunkt verbreiteten sich private Mailbox-Netze wie FidoNet oder MausNet, die einige der über Btx verfügbaren Dienste für Privatleute weitaus günstiger anbieten konnten. Im Bereich des Electronic Banking gab es lange Zeit keine Alternative zu Btx. 1993 wurde Btx Bestandteil des neu geschaffenen Datex-J-Dienstes, um die Netzinfrastruktur von der Informationsdienstleistung zu trennen. Datex-J mit Btx wurde neugestaltet und von T-Online übernommen. Die Tochterfirma T-Online International AG betrieb das System noch bis Mai 2007, allerdings unter dem Namen „T-Online Classic“ und mit starker Verschlüsselung, wobei eine nach ITSEC „E4/hoch“ zertifizierte Verschlüsselungsbibliothek Transport/S im Einsatz war. Damit war auch der Zugang mit dem „T-Online Classic Client“ über das Internet weltweit unter der URL „classicgate.t-online.de“ unter Port 866 möglich. Alternativ betrieben einige Banken auch das CAT-System (CEPT Access Tool). Ein eigener CAT-Server emulierte dabei den bisherigen Zugang bei T-Online.
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Bön
Der Bön ( – „Wahrheit“, „Wirklichkeit“, „wahre Lehre“), genannt auch Bön-Religion und Bon-Religion, war vor der Etablierung des Buddhismus als Staatsreligion im 8. Jahrhundert die vorherrschende Religion der Tibeter. Verbreitet ist er im heutigen Tibet und anderen Teilen Zentralasiens, der Volksrepublik Chinas sowie Nepals und Bhutans. Der Bön ist eine animistisch-polytheistische Religion mit starken schamanistischen Eigenschaften. Ahnenkult und eine ausgeprägte Beerdigungs- und Gedenkkultur sind ebenfalls wichtige Aspekte des Bön. Später beeinflussten sich der Bön und der Buddhismus gegenseitig "(→ Synkretismus)", wobei aus dem Bön rituelle und schamanistische Elemente oder Bön-Gottheiten in den Buddhismus gelangten und umgekehrt aus dem Buddhismus Aspekte wie die Vorstellung einer Reinkarnation oder des Karma vom Bön übernommen wurden. 1977 wurde der Bön von der tibetischen Exilregierung und vom Dalai Lama offiziell als fünfte spirituelle Schule des Tibetischen Buddhismus anerkannt. 2006 wurde das Yundrung-Bön Zentrum Shenten Dargyé Ling in Frankreich als Kloster einer eigenständigen Glaubensgemeinschaft vom Staat anerkannt. Geschichte. Die erneuerte Bön-Religion geht der Legende nach auf den mythischen Tönpa (Meister) und Buddha Shenrab Miwoche aus dem Land Tagzig zurück und soll frühere Tieropfer durch symbolische Opferungen abgelöst haben. Später breitete sich der erneuerte-Bön aus und war Staatsreligion in Zhang-Zhung das den heiligen Berg Kailash umgab. Der zentraltibetische König Songtsen Gampo eroberte im 7. Jahrhundert (vermutlich 634) das Land und beendete mit der Tötung des Königs Ligmincha (Ligmirya) dessen Dynastie. Unter König Trisong Detsen (ab 755) wurde der Bön zunehmend vom Buddhismus verdrängt und verfolgt. Unter König Langdarma (Regierungszeit 836–842) besserte sich die Lage der Bönpa (Anhänger des Bön) vorübergehend. Nach seiner Ermordung zerfiel das tibetische Königreich. Durch die weitere Verfolgung wurden die Bönpa in die Randbereiche des tibetischen Kulturraumes abgedrängt wie Amdo im Nordosten sowie Dolpo in Nepal. Mit dem Beginn der so genannten „neuen Übersetzungstradition“ (Sarma) des Buddhismus im 11. Jahrhundert reorganisierten sich sowohl die buddhistische Nyingma-Tradition als auch der Bön auf der Grundlage wieder aufgefundener Lehrtexte (Terma) aus der Zeit der Verfolgung und Wirren. Es wurde ein systematisches Lehrgebäude geschaffen und es verbreitete sich die Ordination von Mönchen und Nonnen. 1405 wurde das Kloster Menri von Bön-Lama Nyammed Sherab Gyeitshen gegründet. Dieses und das später gegründete Kloster Yungdrung Ling wurden Hauptzentren des Bön. Nach dem Einmarsch der chinesischen Armee Mitte des 20. Jahrhunderts wurden sowohl der Bön als auch der Buddhismus streng verfolgt, besonders während der chinesischen Kulturrevolution (1966–76). Kein tibetisches Kloster hat die Wirren dieser Zeit unbeschädigt überstanden. Das Bön-Kloster Menri wurde in Dolanji im indischen Exil neu gegründet. 1977 erkannte der Dalai Lama Bön als fünfte spirituelle Schule Tibets an. Dem tibetischen Exilparlament gehören seitdem zwei Vertreter des Bön an, wie für die anderen vier Hauptschulen des tibetischen Buddhismus. Heute gibt es in Tibet und China über 264 aktive Bön-Tempel beziehungsweise Klöster. Verbreitung. Abgesehen vom wiederaufgebauten Menri-Kloster in Dolanji im indischen Exil ist der Bön in Tibet und in Nepal noch lebendig. In Ost-Tibet ist Bön weiter verbreitet, vereinzelte Kommunen gibt es auch in West- und Zentraltibet sowie unter Nomaden. Seit den 1980er Jahren wurden in Tibet einige Bön-Klöster wieder aufgebaut und von Mönchen besiedelt, so Yungdrung Ling. Des Weiteren ist die Religion des Primi-Volkes in Yunnan eng mit dem tibetischen Bön verwandt. Formen. In der Geschichte des Bön treten drei unterscheidbare Formen auf, die noch praktiziert werden. Die älteste ist eine vorbuddhistische animistisch-schamanistische Religion, auch "alter Bön" oder "schwarzer Bön" genannt. Die zweite Form ist der Yungdrung-Bön, auch ewiger oder glückverheißender Bön genannt, der auf den Buddha Shenrab Miwoche zurückgehen soll. Der neue Bön beruht auf wiederaufgefundenen Texten (Terma). Alter Bön/Schwarzer Bön. Die animistischen Ursprünge stammen aus vorbuddhistischer Zeit und enthalten schamanistische Rituale und Glaubensformen, die sich vom neuen Bön stark unterscheiden. Die Gelugpa setzten Bön-Zauberer (Nagspa) ein, um Dämonen abzuwehren, und auch die Praktiken des tibetischen Staatsorakels stammen aus der alten Tradition. Während spätere Bön-Formen die buddhistischen Vorstellungen von Karma und Reinkarnation übernahmen, waren und sind im alten Bön Begräbnisriten zentral, und es gab komplexe Begleitrituale beim Tod des Königs, eines hochgestellten Adligen oder eines Ministers, um diese auf ein gutes Leben im Jenseits vorzubereiten. Die Bön-Religion hat ein eigenes Pantheon von Göttern, Geistern, Dämonen und anderen Wesen. Die Ritualthemen sind Zauberei, Tranceerlebnisse, Opfer an die Götter, Wahrsagerei, Reisen in die Unterwelt, Wetterzauber, medialer Kontakt zu Geistern und die Abwehr von Dämonen. Der originale Bön ähnelt somit anderen animistischen Religionen wie dem japanischen Shintō, dem altaischen Animismus oder dem chinesischen Schamanismus. Ewiger Bön/Yungdrung-Bön. Yungdrung Bön (Swastika-Bön), auch "Ewiger Bön" genannt, geht auf den mythischen Lehrmeister und Buddha (Tönpa) Shenrab Miwoche zurück. Historische Vertreter der Yungdrung-Bön-Tradition sind die Meister Tapihritsa und Drenpa Namkha. Die Lehren dieser Schule umfassen mehr als 200 Werke. Darunter finden sich auch Schriften zu Philosophie, Heilkunde, Metaphysik und Kosmologie. Die philosophischen Grundlagen stehen dem Buddhismus nahe, so die Lehren über Karma (das Gesetz von Ursache und Wirkung) und Mitgefühl. Die Gottheiten des Alten Bön wurden als Meditations-Gottheiten (Yidam-Gottheiten) oder als Beschützer der Lehre eingebunden und umgekehrt wurden Gottheiten und Dämonen des Bön von den buddhistischen Nyingmapa übernommen. Die Hauptlehren des Yungdrung-Bön sind die „Neun Wege“, andere Unterteilungen nennen „Vier Pforten und eine Schatzkammer“ oder die „Äußeren, Inneren und Geheimen Unterweisungen“. Letztgenannte sind Sutra, Tantra und Dzogchen, ähnlich derer der Nyingma-Schule. Es gibt Hinweise, dass Dzogchen, die Lehren über die „Große Vollkommenheit“, bereits vor dem Buddhismus in Zhang Zhung existierten. Die Dzogchen-Lehren der Nyingma gehen im Unterschied dazu auf Garab Dorje aus dem Land Oddiyana zurück. Unter den Lehren finden sich auch die Belehrungen des „Zhang Zhung Nyan Gyud“, die "mündlichen Unterweisungen von Zhang Zhung", die ältesten Überlieferungen eines Dzogchen-Meditationssystems der Bön. Vertreter des Yungdrung-Bön die im Westen lehren sind Lopön Tenzin Namdak Rinpoche und sein Schüler Tenzin Wangyal Rinpoche. Neuer Bön. Der neue Bön, auch "reformierter Bön" genannt, steht systematisch zwischen Yungdrung-Bön und der buddhistischen Nyingma-Tradition. Er entwickelte sich ab dem 14. Jahrhundert aus einer Synthese von Lehrelementen des Yungdrung-Bön und Elementen der Nyingma, vor allem durch das wechselseitige Auffinden von Termas der Bön- und der Nyingmatradition. Ein Vertreter des neuen Bön war Bönzhig Yungdrung Lingpa, als Nyingma-Tertön auch unter dem Namen Dorje Lingpa (1346–1405) bekannt. Die Rituale ähneln buddhistischen, wobei die rituelle Umkreisung gegenläufig ist. Die angerufenen Gottheiten, Ikonographien, Mythen und Mantren sind bönspezifisch. Auch unterscheidet sich die Ausbildung eines Bön-Mönches nicht von der buddhistischer Mönche, beispielsweise kann ein Geshe-Grad durch Studium von Logik und Philosophie erworben werden und das Ziel der Praxis, Dzogchen, unterscheidet sich nicht allzu sehr vom buddhistischen Dzogchen, in der Liturgie wird Padmasambhava angerufen und den Altar schmückt häufig auch ein Bild des Dalai Lama. Lehren. Die Lehren des Bön basieren auf umfangreichen Schriften (Kanjur und Tanjur) die verschieden gegliedert werden. Eine der Gliederungen ist jene in die "Neun Wege" des Bön, die in groben Zügen den neun Fahrzeugen der Nyingma-Tradition entsprechen. Die Grundsätze der Lehre sind dieselben wie im auf Buddha Shakyamuni zurückgehenden Buddhismus, der nach Bön-Auffassung in einem früheren Leben Schüler von Tönpa Shenrab Miwo war. Trotz dieser Nähe zum Buddhismus hat der Bön jedoch auch noch eigene Lehren, Rituale, Mythen und Götter, so dass er als eigenständige Religion gilt. Die neun Wege des Bön sind folgend eingeteilt: Andere Einteilungen sprechen von vier Pforten und einer Schatzkammer oder von fünf Schatzkammern. Die neun Wege betreffen unterschiedliche Priestergruppen, die unterschiedliche Aufgaben wahrnahmen. Das Schrifttum des Bön reicht weit zurück und die Einteilungen in Kategorien von Zauber sind eine buddhisierte Form des Schrifttums. In älteren Schriften wird manchmal von anderen Kategorien gesprochen, wie z. B. Himmelsbön oder Begräbnisbön, so dass unterschiedliche Priestergruppen wohl schon unterschiedliche Aufgaben im ursprünglichen Bön wahrgenommen hatten. Meditation und Dzogchen. Meditationssysteme sind im neuen Bön in drei Formen unterteilt: Praktiken. Schamanen und Priester, die meist außerhalb der Klöster leben, besänftigen Geister durch Opfergaben, treiben Dämonen aus oder opfern symbolisch Teigfiguren, Zeremonialkuchen, Mehl und Butter. Die Bönpa glauben an Magische Praktiken und Shenrab Miwo selbst habe diese weitergegeben. Dazu gibt es Mysterienspiele mit Maskentänzen, Gesänge und Opfergaben. Die Tänze werden sTag dmar 'Cham, 'der Tanz des roten Tigerdämons', genannt und handeln oft von den alten Berggottheiten Tibets. Die Cham-Tänze wurden vom Buddhismus übernommen. Ebenfalls vom Buddhismus übernommen wurde der Phurba-Kult. Phurbus, bzw. Phurbas sind magische Dolche zur Dämonenbannung, für den Wetterzauber wie Hagelabwehr oder zur Reinigung. Der Meister Shenrab Miwo wurde stets mit einem großen Phurbu in der Hand abgebildet. Der Phurbu-Zauberer war auch gefürchtet wegen schwarzer Magie. Der Fluch der wandernden Dolche z. B. sollte dazu dienen, ein Opfer über größere Entfernungen zu vernichten. Dazu wird der Phurbu in den Händen gerollt, mit magischen Formeln besprochen und mithilfe des Dolch-Gottes Phurpa geschleudert, um das Opfer telekinetisch zu treffen. Zor-Rituale benutzen magische Waffen, die Zor, um schlechte Einflüsse abzuwehren. Zor sind zumeist aus Teig gemachte kleine Pyramiden, die mit magischen Kräften ausgestattet werden. Schleudert man einen Zor, so setzt er magische Kräfte frei, die den Feind oder das Unheil zerstören sollen. Fadenkreuze, Mdos, werden als Geisterfallen hergestellt. Sie bestehen aus Fäden, die geometrische Figuren an gekreuzten Holzstäben bilden. Das Herstellen von Fadenkreuzen erfordert ein komplexes Ritual, in dessen Verlauf Gottheiten eingeladen werden, das Fadenkreuz zu beziehen. Fadenkreuze sind häufig über Haustüren angebracht, um das Haus und seine Bewohner zu schützen. Nach einer bestimmten Zeit wird das Fadenkreuz zumeist mit den darin gefangenen Dämonen verbrannt. Amulette und Talismane werden auch als Schmuck getragen, oft aus Koralle und Türkis oder in silbernen Behältnissen. Diese Glücksbringer, oft auch mehrere, werden in jedem Alter und allen sozialen Schichten getragen. Schadenzauber soll von schwarzen Bönpa oder Nagspa (Zauberern) gegen Bezahlung ausgeübt werden, beispielsweise wird das Horn eines Wildyaks rituell mit einer Zeichnung des Opfers und mannigfaltigen unreinen Substanzen gefüllt, mit schwarzem Faden verschlossen und im Fundament der Behausung des Opfers verborgen. Mythologie. Die vielfältigen Mythen der Bön behandeln Kosmogonie, Theogonie und Genealogie in verschiedenen Komplexitätsstufen. Viele Erzählungen oder Traktate beschreiben detailliert Zauber und Gerätschaften und beziehen sich häufig auf verschiedene Formen von Exorzismus und Magie. Wiederkehrende Motive sind die Unterscheidung zwischen dem Wohltuenden und dem Schädlichen, die Paarbildung von Gottheiten oder mythischen Wesen und die Einteilung in gute, böse und ambivalente Gottheiten. Auch heilige Orte wie Grotten und Berge sind ein wiederkehrendes Motiv, letztere entsprechen der Seele des Landes oder Schutzgöttern. Der wichtigste Berg der Bön ist der Kailash (auch Ti Se), Seele des Landes, Sitz der Himmelsgötter, Mittelpunkt der Welt und wird als riesiger Chörten aus Kristall oder als Palast bzw. als Sitz eines Palastes bestimmter Götter gedacht mit vier Toren, die von Wächtern der Himmelsrichtungen bewacht werden. Tagzig Olmo Lungring wird als reines Land gedacht, jenseits der unreinen Existenz, indem alle Erleuchtete wiedergeboren werden. Es ist unzerstörbar und von ewigem Frieden und Freude erfüllt. Der Yungdrung-Bön hat hier seinen Ursprung und auch Buddha Shenrab Miwo wurde hier geboren. In den Schöpfungsmythen des neuen-Bön findet man auch zurvanitische oder shivaitische Einflüsse. Der Ursprung wird als Zustand leerer Möglichkeit gedacht, aus dem das Ur-Ei entsteht, das die Welt hervorbringt oder die Welt wird von einem Urwesen erschaffen. Das Pantheon des Bön. In der Bön-Religion ist jede natürliche Erscheinung beseelt, so dass es eine fast unüberschaubare Fülle von Geistern, Göttern, Dämonen und Fabelwesen gibt. Diese Wesen leben an Orten, die in der Kosmologie des Bön benannt werden. Einige von ihnen sind für diese Religion besonders wichtig und überregional verbreitet. Der Vogel Khyung. Eine der Hauptschutzgottheiten des Bön ist der mythische Vogel Khyung. Der mächtige Schlangentöter hat einen Stierkopf der mit der Sonne und den Gewitterwolken verbunden ist und ähnelt dem indischen Garuda. Einerseits gilt er als Reittier des dämonischen dMu-Königs, andererseits begleitet er den hohen Weltgott Sangs po 'bum khri. Westlich des Kailash ist dem Khyung ein Tal geweiht, in dem den Mythen nach ein Silberschloss gestanden hat. Dieses Silberschloss kommt als heilige Stätte in den meisten Gebeten und Rezitationen des Bön vor. Sangs po 'bum khri. Der Gott Sangs po 'bum khri ist eine Himmelsgottheit und gilt als Lenker (Srid pa) des gegenwärtigen Weltzeitalters. Man unterscheidet bei diesem Gott fünf Aspekte des Srid pa: Des Körpers, der Rede, des Verdienstes, der Werke und des Geistes. Der Gott ist weiß und sein Thron wird von einem weißen Khyung mit grünen Flügeln getragen. Er verkörpert Erbarmen, Erlösung und Errettung. Andere Namen für diesen Gott sind Lha chen sangs po dkar po, weißer reiner großer Geist, oder Bum khri gyal po in Westtibet. Palden Lhamo. Palden Lhamo wird Im Bön auch Srid (pa'i) rgyalmo genannt und gilt als Beschützerin, als große Mutter und als Symbol der Rhythmen von Leben und Tod. Pehar. Pehar oder Pekar ist eine Orakelgottheit, die auch von Buddhisten verehrt wird. Neben der Orakelfunktion hat er noch weitere vielfache Aufgaben, Würden und Pflichten als Beschützer der Lehre, Religionswächter, Vernichter von Feinden, Freund der Heiligen und als Wächtergott über Zhang Zhung. Der buddhistischen Legende nach soll er von Padmasambhava gezwungen worden sein, den Buddhismus zu schützen. Lha, bTsan, gNyan. In der Mythologie des Bön gibt es neben den Einzelgöttern auch sehr viele verschiedene Gruppen von Geistwesen, die gutartig oder bösartig sein können. Einige sollen hier angeführt werden: Lha sind gutartige himmlische Wesen. In jeder Himmelsregion gibt es unterschiedliche Gruppen und sie verkörpern die göttliche Macht mit der die Menschen verbunden sind. Einige Lha leben nicht in himmlischen Regionen, sondern sind z. B. der Gott des Herdes oder der Gott des Innen oder Außen. Die tibetische Hauptstadt Lhasa (Ort der Lha) ist nach den Lha benannt, und der König wurde als Enkel des Lha angesehen. bTsan sind besonders mächtig und spielen auch im Buddhismus noch eine Rolle. Sie leben zwischen Himmel und Erde, bewohnen aber auch Wälder, Felsen, Gletscher oder Schluchten. Der König der bTsan trägt eine Kriegsrüstung, ein Banner und eine Schlinge. Die bTsan erscheinen als wilde rote Jäger auf roten Pferden. Sie gelten als Beherrscher der unzähligen gNyan. bTsan können den Mythen nach Herzinfarkte und tödliche Krankheiten hervorrufen. Die gNyan symbolisieren die Mitte und halten sich beispielsweise in Sonne, Mond, den Sternen, in Wolken, Regenbogen, im Wind und in den Felsen auf. Die gNyan sind auch mit den Himmelsrichtungen verbunden. Der Herrscher der gNyan trägt eine Rüstung mit Türkis-Ornamenten, ein Siegesbanner mit einer Gans darauf und hat ein kristallfarbenes Antlitz.
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Buddha
Buddha (Sanskrit, m., बुद्ध, buddha, wörtlich: „der Erwachte“, , japanisch , "butsu", vietnamesisch 佛 "phật" oder 𠍤 "bụt") bezeichnet im Buddhismus ein Wesen, das Bodhi (wörtl.: „Erwachen“) erreicht hat. "Buddha" begegnet als Ehrenname des indischen Religionsstifters Siddhartha Gautama, dessen Lehre die Weltreligion des Buddhismus begründet. Nach buddhistischem Verständnis ist er jedoch nicht der einzig mögliche Buddha. Im Buddhismus versteht man unter einem Buddha ein Wesen, das aus eigener Kraft die Reinheit und Vollkommenheit seines Geistes erreicht und somit eine grenzenlose Entfaltung aller in ihm vorhandenen Potenziale erlangt hat: vollkommene Weisheit ("Prajna") sowie unendliches und begierdeloses Mitgefühl ("Karuna") mit allem Lebendigen. Ein Buddha hat, auch wenn er zugleich eine menschliche Existenz führt, Nirvana verwirklicht und ist damit nach buddhistischer Überzeugung nicht mehr an den Kreislauf von Tod und Wiedergeburt (Samsara) gefesselt (wenngleich sein menschlicher Körper weiterhin sterblich ist). Erwachen und Nirvana sind von transzendenter Natur, mit dem Verstand nicht zu erfassen, „tief und unergründlich wie der Ozean“, weshalb sie sich einer Beschreibung mit sprachlichen Begriffen entziehen. Diese Qualität ist für Menschen, die die Erfahrung nicht selbst gemacht haben, nicht nachzuvollziehen. Die Verwirklichung der Buddhaschaft ist nach buddhistischer Überzeugung jedem fühlenden Wesen im Prinzip möglich, als Ergebnis eines entsprechenden Übungsweges. Gleichzeitig wird traditionell aber auch stark hervorgehoben, dass dieses Resultat sehr selten auftritt; daher ist ein Zeitalter, in dem ein Buddha erscheint, ein „glückliches Zeitalter“. Denn es gibt sehr viele „dunkle“ Zeitalter, in denen kein Buddha auftritt und man deshalb auch keine Wegweisung zur endgültigen Befreiung vorfinden kann. Der Buddha des nächsten Zeitalters soll Maitreya sein, während Kashyapa, Kanakamuni und Dipamkara drei Buddhas der Vergangenheit seien. Insbesondere der tantrische Buddhismus (Vajrayana) kennt eine Fülle von Buddhas, die auch transzendente Buddhas, Adibuddhas ("fünf Dhyani-Buddhas") oder Tathagatas genannt werden. Etymologie. Das Wort „Buddha“ bedeutet „der Erwachte“ und ist im Sanskrit und in den von ihm abgeleiteten mittelindischen Sprachen die Stammform des Partizips der Vergangenheit der Verbalwurzel "budh" („erwachen“). Der Nominativ des Wortes „Buddha“ lautet im Sanskrit "Buddhas", in der mittelindischen Pali-Sprache "Buddho", und einige Forscher verwenden deshalb diese Formen. Da jedoch in der abendländischen Wissenschaft indische Wörter nach dem Vorbild der einheimischen Lexikographen und Grammatiker nicht in der Nominativ-, sondern in der Stammform gebraucht werden, hat sich allgemein die Form Buddha eingebürgert. Weil Sanskrit eine indogermanische Sprache ist, findet sich die Verbalwurzel "budh" bzw. indogermanisch "*bʰeudʰ-" mit der Bedeutung „erwachen, beachten, aufmerksam machen“ in abgewandelter Form auch in vielen europäischen Sprachen wieder. So sind beispielsweise das deutsche Wort „Gebot“ und das Wort „Buddha“ miteinander verwandt. Buddha Shakyamuni. Der „historische Buddha“ Siddharta Gautama wird auch "Shakyamuni" genannt, d. h. „der Weise aus dem Shakya-Geschlecht“. Die auf ihn zurückgehende Tradition gilt als eine letztgültige Richtschnur im Buddhismus. Obwohl er in diesem Zusammenhang als „der Buddha“ bezeichnet wird, ist diese Redeweise im Buddhismus eingebettet in ein Verständnis, dass es sich letztlich um "einen Buddha" handelt, neben anderen, ggf. in anderen Weltzeitaltern (siehe dann in den nachfolgenden Abschnitten). Lebenslauf. Von der Geburt bis zur Familiengründung. Siddhartha Gautama lebte um 500 v. Christus in Nordindien; als sein Geburtsort gilt Lumbini. Sein Vater Suddhodana war Oberhaupt einer der regierenden Familien in der kleinen Adelsrepublik der Shakya im Norden von Indien im heutigen indisch-nepalischen Grenzgebiet. Hinweise auf den Königsstand von Buddhas Vater sowie auf den Prunk und die Zeremonien an dessen Hof, denen man besonders in späteren Texten begegnet, sind höchstwahrscheinlich Übertreibungen; es ist jedoch wahrscheinlich, dass die Familie zumindest dem Adel angehörte. Seine Mutter hieß Maya und starb sieben Tage nach der Geburt des Kindes. Die Eltern nannten ihren Sohn "Siddhattha" (in Pali) bzw. "Siddhartha" (in Sanskrit), was „der sein Ziel erreicht hat“ bedeutet. Der Beiname "Shakyamuni" bezieht sich auf seine eben genannte Herkunft. Nach der Geburt Siddharthas wurde vorausgesagt, dass er entweder ein Weltenherrscher oder aber, wenn er das Leid der Welt erkennt, jemand werden würde, der Weisheit in die Welt bringt. Der Überlieferung zufolge lebte er in einem Palast, wo ihm alles, was zum Wohlleben gehörte, zur Verfügung gestanden habe und wo er von allem weltlichen Leid abgeschirmt worden sei. Sein Vater sah in ihm den idealen Nachfolger und wollte verhindern, dass Siddhartha sich von seinem Reich abwendete. Daher sei ihm nur selten gestattet worden, den königlichen Palast zu verlassen, und wenn, seien die Straßen zuvor frei von Alten, Kranken und Sterbenden gemacht worden. Von den Ausfahrten bis zum Erwachen. Siddhartha wurde von der indischen Gottheit Brahma darauf hingewiesen, dass er in seinem letzten Leben versprach, sein nächstes Leben zu nutzen, um die Menschheit vom Leid zu befreien. Eines Tages sah er sich aber doch der Realität des Lebens und dem Leiden der Menschheit gegenübergestellt und erkannte die Sinnlosigkeit in seinem bisherigen Leben: Die Legende berichtet von Begegnungen mit einem Greis, einem Fieberkranken, einem verwesenden Leichnam und schließlich mit einem Mönch, woraufhin er beschloss, nach einem Weg aus dem allgemeinen Leid zu suchen. (Allerdings ist es bei der „Biographie“ des Buddha sehr schwierig, Legenden von Fakten zu trennen.) Mit 29 Jahren, bald nach der Geburt seines einzigen Sohnes Rahula („Fessel“), verließ er sein Kind, seine Frau Yasodhara und seine Heimat und wurde auf der Suche nach der Erlösung ein Asket. Sechs Jahre lang wanderte der Asket Gautama durch die Gangesebene, traf berühmte religiöse Lehrer, studierte und folgte ihren Systemen und Methoden und unterwarf sich selbst strengen asketischen Übungen. Da ihn all dies seinen Zielen nicht näher brachte, gab er die überlieferten Religionen und ihre Methoden auf, suchte seinen eigenen Weg und übte sich dabei vor allem in der Meditation. Er nannte dies den „Mittleren Weg“, weil er die Extreme anderer religiöser Lehren meidet. Siddhartha Gautama „erreichte“ in seinem 35. Lebensjahr das vollkommene Erwachen (Bodhi). Dies geschah am Ufer des Neranjara-Flusses bei Bodhgaya (nahe Gaya im heutigen Bihar) unter einer Pappelfeige, die heute als "Bodhi-Baum", „Baum der Weisheit“, verehrt wird. Ein Ableger eben jenes Feigenbaumes wurde der Legende nach in Sri Lanka eingepflanzt, während der indische Baum verdorrte. Von dort wurde später wiederum ein Ableger entnommen und an die ursprüngliche Stelle in Indien (nahe dem 1931 ausgegrabenen Tempelbezirk von Sarnath) gepflanzt. Wirken als Lehrer. Nach dem Bodhi-Erlebnis hielt Gautama, der Buddha, im Wildpark bei Isipatana (dem heutigen Sarnath) nahe Benares vor einer Gruppe von fünf Asketen, seinen früheren Gefährten, seine erste Lehrrede. Diese fünf wurden damit die ersten Mönche der buddhistischen Mönchsgemeinschaft ("Sangha"). Von jenem Tage an lehrte und sprach er 45 Jahre lang vor Männern und Frauen aller Volksschichten, vor Königen und Bauern, Brahmanen und Ausgestoßenen, Geldverleihern und Bettlern, Heiligen und Räubern. Die bis heute in Indien bestehenden Unterscheidungen durch die Kastenordnung nahm er als Gegebenheit hin, betonte aber ihre Unwesentlichkeit für das Beschreiten des Wegs, den er lehrte. Buddha soll mit 80 Jahren verstorben und ins Parinirvana eingegangen sein. Die Nachwirkungen seines Lebens. Auf dem ersten buddhistischen Konzil („der Fünfhundert“), das sich unmittelbar nach dem Verlöschen des Erleuchteten in einer Höhle bei Rajagriha (Rājagṛha, Pali: Rājagaha) zusammenfand, soll Ānanda, der für sein hervorragendes Gedächtnis bekannt war, die Lehrreden wiedergegeben haben. Mahakashyapa trug das Abidharma vor und Upali die Mönchsregeln. Die Überlieferung berichtet, auf diesem Konzil sei ein Kanon der Lehre (Dharma) und einer der Ordensdisziplin (Vinayapitaka) zusammengestellt worden. Ein Text, der darüber berichten soll, Kāśyapasaṃgīti-sūtra ist im chinesischen Kanon erhalten (Taishō Nr. 2027). Aus religionsphänomenologischer Sicht verkörpert Gautama als religiöse Autorität den Typus des „Stifters“, des „Mystikers“ und den des „Lehrers“. Der amerikanische Universalhistoriker Jerry H. Bentley wies wie bereits viele andere Wissenschaftler vor ihm auf eklatante Parallelen im Leben Jesu und Buddhas hin. Hagiographie. Was über das Leben Siddharta Gautamas, des Buddha Shakyamuni, heute bekannt ist, entspringt den hagiographischen Traditionen. Das bedeutet, dass auch unser Wissen über den Lebenslauf des historischen Buddha, wie im vorigen Abschnitt skizziert, von Autoren früher Shakyamuni-Viten abhängt, die nicht daran interessiert waren, historische Fakten über das Leben Shakyamunis zu tradieren. Vielmehr ging es ihnen um die Darstellung eines religiösen Ideals und auch um symbolischen Gehalt. Die nachfolgend aufgeführten Quellen stellen also biografische Aspekte in den Zusammenhang religiöser Weiterungen, die zu einem „übernatürlichen“ statt historischen Begriff des Buddha gehören. Mahavastu. Das Mahavastu (dt.: Große Begebenheit; der vollständige Titel lautet "Mahavastu-Avadana"), das in der Mahasanghika-Schule der Hinayana-Tradition entstand, erzählt den Weg Shakyamunis durch seine früheren Existenzen bis zum Beginn seiner auf das Bodhi-Erlebnis folgenden Lehrtätigkeit in seiner Geburt als Gautama Siddhartha. Der Lebensabschnitt von Shakyamunis Lehrtätigkeit wird hier wohl deshalb nicht behandelt, weil er aus den Sutras erschlossen werden kann. Die Haupterzählung setzt zur Zeit des Buddhas Dipankara ein und berichtet, wie Shakyamuni ihm gegenüber gelobt, später selbst Buddhaschaft zu erlangen. Im Anschluss springt die Erzählung in die jüngere Vergangenheit und berichtet von Shakyamunis Wiedergeburt im Tushita-Himmel, wo sich alle zukünftigen Buddhas auf ihre Buddhaschaft vorbereiten. Als Nächstes wird dargestellt, wie Shakyamuni sich entschied, in den Mutterleib Mahamayas einzutreten, um in menschlicher Gestalt geboren zu werden. Diese Haupterzählung wird an vielen Stellen durch allegorische Nebenerzählungen, doktrinäre Erörterungen usw. unterbrochen. Buddhacarita. Beim Buddhacarita handelt es sich um ein in Sanskrit verfasstes Epos des Ashvaghosa (2. Jh. n. Chr.), eines zum Buddhismus bekehrten Brahmanen, der zu den bedeutendsten Kunstdichtern des antiken Indien zählt. Das Leben Buddhas wird unter Verwendung aller Schmuckmittel (skr.: "alamkara") der indischen Kunstdichtung von der Geburt bis zum Parinirvana dargestellt. Die für ein Kunstepos obligatorische Schlachtenschilderung wird im 13. Gesang mit Shakyamunis Kampf gegen den Versucher Mara und seine Heerscharen geboten. Literarisch enge Beziehungen verbinden das Epos mit dem Ramayana, dem indischen „Ur-Kunstgedicht“, das Ashvaghosa gekannt haben muss. Das Sanskrit-Original des Buddhacarita ist nur teilweise erhalten. Der Inhalt des Werkes ist jedoch vollständig aus der tibetischen und der chinesischen Übersetzung ersichtlich. Lalitavistara. Das Lalitavistara ist eine Buddha-Biographie des Mahayana-Buddhismus, die im 2. bzw. 3. Jahrhundert n. Chr. entstand. Das Lalitavistara ist nicht das einheitliche Werk eines Verfassers, sondern das Ergebnis jahrhundertelanger redaktioneller Tätigkeit. Junge Partien stehen neben alten, die nahe an die Zeit Buddhas heranreichen mögen. Das Lalitavistara setzt sich zusammen aus Episoden, die in Pali und in Sanskrit überliefert sind. Der Indologe Moritz Winternitz (1863–1937) erklärte dies dadurch, dass das Lalitavistara ursprünglich auf einen Text der hinayanistischen Sarvastivada-Schule zurückgehe und später von einem mahayanistischen Autor überarbeitet und im Sinne des Mahayana umgestaltet worden sei. So wird Shakyamuni hier nicht, wie in der hinayanistischen Tradition, als gewöhnlicher Mensch dargestellt. Vielmehr wird betont, dass er von vornherein mit vollkommenem Wissen ausgestattet gewesen sei und den Weg zur Erkenntnis nur zum Schein noch einmal durchlaufen habe, um den Menschen den Weg zu weisen. Auch das Gelübde, das er als Sumegha vor Buddha Dipankara ablegte und seine Vorbereitung auf die Buddhaschaft im Tushita-Himmel sind, dieser Auffassung zufolge, Teil der Demonstration durch die er allen Wesen den Weg zur Buddhaschaft aufzeigt. Diese doketistische Position des Mahayana-Buddhismus wurde vor allem durch das Lotos-Sutra gefestigt. Auf Grund der Umformung des Stoffes im Sinn des Mahayana, erlangte das Werk in Nordindien, dem Entstehungsgebiet dieser Tradition, große Popularität. Auch außerhalb Indiens erlangte das Lalitavistara große Bekanntheit. So wurde der Text mehrfach ins Chinesische, Tibetische und Mongolische übersetzt. Jataka-Erzählungen. Im Pali-Kanon findet sich ein Werk des Titels "Jataka". Es handelt sich hier um eine Sammlung von 547 Erzählungen, die aus den früheren Leben Buddha Shakyamunis berichten. Der Begriff "Jataka" hat seine etymologische Wurzel in "jati" (Sanskrit), was so viel wie Geburt bedeutet, und ist daher zu übersetzen als „Vorgeburtsgeschichte“. In ihrem formalen Aufbau bestehen alle Erzählungen dieser Sammlung aus fünf verschiedenen Textteilen: Von diesem Gesamtwerk gelten nur die Gathas als kanonisch. Die übrigen Teile werden als Kommentar angesehen und tragen den Titel "Jatakatthakatha" (dt.: Darlegung des Sinnes des Jataka) oder "Jatakavannana" (dt.: Erläuterungen des Jataka). Während die Gathas traditionell als Buddha-Wort betrachtet werden, gilt der große Kommentator Buddhaghosa (5. Jahrhundert n. Chr.) als Verfasser der übrigen Teile des Gesamtwerks. Diese Zuordnung ist in der modernen Forschung bezweifelt worden. Allerdings ist sicher, dass das Werk zwischen dem 5. und dem 7. Jahrhundert seine heutige Form erhalten hat. An manchen Stellen wird deutlich, dass der Verfasser des so genannten Kommentars die, oft sprachlich schwierigen, Gathas nicht richtig verstanden hat. Die didaktische Intention der Jataka-Erzählungen besteht darin, die Ermahnung der Befolgung der zehn Parami bzw. sechs Paramitas in Paradigmen aus den früheren Leben Buddhas zu kleiden. Die Popularität der Jataka-Erzählungen, von der auch der chinesische Indienpilger Yì Jìng berichtet, erkennt man daran, dass sie nicht nur schriftlich niedergelegt, sondern auch in Reliefform an den bedeutenden Stupas Indiens und Südostasiens dargestellt waren. Am Anfang des Jataka-Buches findet sich die als Einleitung konzipierte "Nidanakatha". Sie ist die älteste ausführliche und zusammenhängende Shakyamuni-Biographie in der Pali-Sprache und bis heute eine der Hauptquellen der traditionellen Buddhabiographie der Theravada-Schule geblieben. Des Weiteren ist Jataka auch die Bezeichnung einer Literaturgattung. So finden sich nicht nur im Pali-Kanon, sondern auch in der buddhistischen Sanskrit-Literatur Jataka-Erzählungen. Die berühmteste der in Sanskrit verfassten Jataka-Sammlungen ist das Jatakamala des Dichters Aryashura (4. Jahrhundert n. Chr.). In Südostasien wurden seit der Einführung des Buddhismus diverse weitere Jataka-Erzählungen verfasst. Berühmt ist insbesondere die Sammlung Pannasajataka (dt.: Fünfzig Jatakas). Darüber hinaus werden in Thailand, Laos und Kambodscha zahlreiche weitere Jatakas als Einzeltexte überliefert. Drei Arten von Buddhas. Es werden drei Arten von Buddhas unterschieden: Samyaksambuddha. Der „Vollkommene Vollständig-Erwachte“ (pali: "sammásambuddha") bezeichnet einen Menschen, der die zur Befreiung und Vollendung führende Lehre, nachdem sie der Welt verloren gegangen ist, aus sich selbst heraus wiederentdeckt, selbst verwirklicht und der Welt lehrt und auf Grund seiner umfangreichen Fähigkeiten und Verdienste zahlreiche Menschen zur Befreiung führen kann. Die allen Buddhas eigentümliche, jedes Mal wieder von ihnen aufs Neue entdeckte und der Welt enthüllte Lehre bilden die Vier Edlen Wahrheiten "(sacca)" vom Leiden, seinem Entstehen, seinem Erlöschen und des zur Befreiung vom Leiden führenden achtfachen Pfades. Der zur Verwirklichung des Samyaksambuddha führende Weg ist (nach ursprünglicher Lehre) der Weg des Bodhisattva. Pratyekabuddha. Der „Einzel-Erwachte“, (pali: "paccekabuddha") bezeichnet einen Menschen, der zwar auch die zur Erlösung führende Lehre von sich heraus wiederentdeckt und eigenständig verwirklicht, sie jedoch nicht verkündet, andere Menschen nicht belehrt, sie nicht zur Befreiung führt. Sravakabuddha. Der „als Hörer-Erwachte“ (pali: "savakabuddha") oder Arhat, bezeichnet einen Menschen, der die zur Befreiung führende Lehre und Praxis als Schüler eines Sammasambuddha oder ebenfalls Sravakabuddha erfährt und voll verwirklicht. Er ist wiederum in der Lage, den Dhamma/Dharma anderen Menschen zu lehren und sie zur Befreiung zu führen.
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Buddha Shakyamuni
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Booten
Booten (englische Aussprache []; von engl.: "to boot"), Hochfahren, Starten oder auch Urladen bezeichnet das Laden des Betriebssystems eines Computers, wie es in der Regel nach dem Einschalten erforderlich ist. Das Wort "booten" ist eine Kurzform von "bootstrap loading", sinngemäß "laden per Bootstrap". Der Bootprozess eines Computers verläuft in mehreren Stufen. Nach dem Einschalten wird zunächst ein einfaches Programm aus einem kleinen Festwertspeicher (ROM) gelesen. Dieses Programm erlaubt das Starten eines komplexeren Programms, das dann beispielsweise ein Betriebssystem startet. Bei frühen Computern (vor den 1970er-Jahren) war oftmals kein Festwertspeicher (ROM) vorhanden, hier musste die erste Stufe des Bootprozesses mittels Maschinenkonsole (Tastatur) von Hand in den Speicher geschrieben werden, damit das Betriebssystem dann von externen Speichergeräten eingelesen werden konnte. Auf allen aktuell gebräuchlichen Computern und computergesteuerten Geräten/Anlagen beginnt der Bootprozess automatisch nach dem Einschalten. Da ein Computer während des Bootvorgangs schon ein Programm lädt, das er zum Funktionieren benötigt, zieht er sich bildlich gesprochen wie Münchhausen an den eigenen "Haaren" aus dem Sumpf. Im Englischen sind es die Stiefelschlaufen (engl. "bootstraps"), daher kommt der Begriff "Booten". Großrechner. Auf Großrechnern der Firma IBM wird der Bootvorgang traditionell Initial Program Load (IPL) genannt. Dieser Gebrauch des Begriffs "Initial Program Load" ist allerdings mittlerweile überholt, denn man ist dazu übergegangen, diesen Begriff für die erste Stufe der Ausführung eines mehrstufigen Bootladeprogramms zu verwenden. Personal Computer. Beim Booten eines PCs beginnt der Prozessor mit der Abarbeitung der an einer festgelegten Speicheradresse im ROM abgelegten Systemfirmware. Im Allgemeinen führt diese einen Test der angeschlossenen Geräte durch (POST) und prüft Speichergeräte wie Diskettenlaufwerke, Festplatten oder CD-/DVD-Laufwerke etc. ob diese startfähige Medien sind bzw. enthalten. Je nach konkreter Firmware-Implementierung kann die Suchreihenfolge, nach der auf diese Geräte zugegriffen wird, z. B. per Firmware-Setup oder per Bootmenü verändert werden. Bei IBM-PC-kompatiblen Computern bis in die 2010er Jahre ist diese Firmware üblicherweise das BIOS. Bei PCs nach ca. 2010 wurde es zunehmend vom ", kurz EFI oder UEFI, abgelöst. Intel-Macs von Apple verwenden ein Apple-spezifisches EFI. Ein startfähiges Medium benötigt auf einem PC mit BIOS, wie es mit dem originalen IBM PC Modell 5150 von 1981 eingeführt wurde, einen gültigen Bootsektor. Auf größeren Datenspeichern wie Festplatten ist dies üblicherweise der (MBR), der auch die Partitionstabelle enthält. Der Prozess des Bootens (bzw. deutsch: Startens) beginnt, wenn der Bootsektor vom BIOS geladen und ausgeführt wird. Da der Bootsektor auf eine Blockgröße von 512 Byte limitiert ist, enthält er in der Regel einen Bootloader, der weitere Daten nachlädt, etwa in dem er auf dem Speichermedium nach speziellen Dateien sucht und diese anschließend lädt und ausführt, bis z. B. der Kernel und schließlich das ganze Betriebssystem gestartet wurde. Dieser Vorgang, bei dem ein Programm das nächste lädt, wird auch als bezeichnet ( für Kette, wie in Befehlskette bzw. "). Mit Bootmanagern, die sich früh in diese Kette einklinken, ist es möglich, den Bootvorgang zu verändern und z. B. ein zusätzliches Bootmenü für Multi-Boot-Systeme zu implementieren. Auf dem BIOS-Nachfolger (EFI), das von Intel Ende der 1990er Jahre eingeführt wurde und das seit 2005 als „ EFI“ (UEFI) von mehreren PC-Herstellern aus dem Bereich Hard- und Software gemeinsam weiterentwickelt wird, wird ein EFI-Loader von einer spezifizierten Partition, der "EFI " (ESP), direkt geladen. Per Spezifikation ist die ESP eine mit dem Dateisystem FAT32 formatierte Partition beliebiger Größe, die in einer GUID-Partitionstabelle definiert ist. Der EFI-Loader ist ein ausführbares Programm der jeweiligen Prozessorarchitektur, das entweder auf einem durch die Firmware gefundenen und geprüften Datenspeicher gefunden wurde oder das direkt durch eine Eintragung im NVRAM des (U)EFI, eventuell inklusive Startparamenter, spezifiziert wurde. Als Nachfolger des BIOS besitzen viele (U)EFI-Implementierungen zusätzlich ein Kompatibilitätsmodul, das "" (CSM), das ein BIOS emuliert und damit weiterhin IBM-PC-kompatible Bootsektoren starten kann. Steht dieses Modul zur Verfügung und ist die Funktion entsprechend konfiguriert (aktiviert), so lädt UEFI das CSM automatisch wenn ein Datenträger mit (MBR) gefunden wird und per Vorgabe im Firmware-Setup oder Auswahl im Bootmenü davon gestartet werden soll. Bei aktiviertem Secure Boot ist das CSM nicht verfügbar. Der EFI-Loader wird, wie der Bootcode in einem Bootsektor, ebenfalls als Bootloader bezeichnet. Bootloader sind Computerprogramme, deren Aufgabe es ist, den Bootvorgang voranzubringen. In wenigen Fällen ist der Bootloader bereits die letzte Stufe im Bootprozess, beispielsweise bei PC-Bootern. Bei der Installation eines Betriebssystems wird zuerst von einem startfähigen Medium wie einer CD oder DVD in einem optischen Laufwerk oder von einem USB-Stick gebootet. Die Firmware muss diese Art eines startfähigen Mediums jedoch unterstützen. Auf diesem befindet sich meist selbst eine angepasste Version des zu installierenden Betriebssystems – ist der Startvorgang dieses Installationsmediums erfolgreich, lädt dieses automatisch das Installationsprogramm des Betriebssystems. Dieses richtet auf dem ausgewählten Installationsziel, ein Datenspeicher wie z. B. einer Festplatte, eine funktionierende Boot-Konfiguration für das jeweilige System ein, etwa Bootsektoren und Startdateien auf den entsprechenden Partitionen. Intel hat mit PXE eine Methode spezifiziert, um PCs (IA-32, x64) und Itanium-Rechner (IA-64) über ein Rechnernetz booten zu können. Varianten des Bootens. Man unterscheidet zwischen: Moderne Betriebssysteme bieten die Möglichkeit, den Startvorgang zu beschleunigen. Je nach Art des Herunterfahrens des Rechners lassen sich folgende Methoden unterscheiden: Die Beschleunigung basiert darauf, dass ein Neustart, wie bei einem vollständigen Herunterfahren, vermieden wird und ausschließlich der zuvor gesicherte Speicherinhalt geladen wird, also eine Art "warm boot" mit Speichererhalt möglich wird. Fehler beim Booten. Wenn ein Computer nicht bootet (nicht mehr hochfährt), kann das diverse Ursachen haben. Fehlerquellen sind neben fehlerhaften Einstellungen in der Firmware Wenn der Computer erstmals nach einer Konfigurationsänderung gestartet wird, sollte zum Beispiel geprüft werden, ob Kabel fehlen oder falsch angeschlossen sind, ob Komponenten mit Steckverbindungen (zum Beispiel Arbeitsspeicher) richtig Kontakt haben und, nur bei älterer Hardware: ob etwaige Jumper der IDE- oder SCSI-Festplatten richtig gesetzt sind. Wenn keine Bildschirmanzeige erscheint, so kann auf x86-Rechnern die Anzahl der vom BIOS ausgegebenen Pieptöne einen Hinweis auf den Fehler geben (siehe unter Liste der BIOS-Signaltöne). Teilweise werden durch das BIOS Fehlertexte, wie z. B. codice_1 auf dem Bildschirm angezeigt. Zur Fehlersuche kann ein Live-System wie Knoppix oder UBCD eingesetzt werden.
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Bologna
Bologna [] ist eine italienische Universitätsstadt und die Hauptstadt der Metropolitanstadt Bologna sowie der Region Emilia-Romagna. Die Großstadt ist mit Einwohnern (Stand: ) die siebtgrößte italienische Stadt und ein bedeutender nationaler Verkehrsknotenpunkt. Geografie. Allgemein. Bologna liegt am südlichen Rand der Po-Ebene am Fuße des Apennin, zwischen den Flüssen Reno und Savena in Norditalien. Die Flussläufe und Kanäle in der Stadt wurden im Verlaufe der Stadtentwicklung aus sanitären Gründen fast vollständig überbaut. Die durch Bologna fließenden Gewässer sind der Canale di Reno, der Canale di Savena und der Aposa; sie werden nördlich des Stadtzentrums zum Navile zusammengefasst. Damit wird dem Canale di Savena ein Teil des Wassers entzogen; der nachfolgende Flussarm heißt entsprechend Savena abbandonato („aufgegebener Savena“). In den westlichen Stadtteilen verläuft zudem der Ravone, der sich weiter östlich mit dem Reno vereint. Das Adriatische Meer befindet sich ca. 60 Kilometer östlich der Stadt. Geschichte. Antike. Die Geschichte der Stadt beginnt als etruskische Gründung mit dem Namen "Felsina" vermutlich im 6. Jahrhundert v. Chr., Spuren älterer dörflicher Siedlungen der Villanovakultur in der Gegend reichen bis ins 11./10. Jahrhundert v. Chr. zurück. Die etruskische Stadt wuchs um ein Heiligtum auf einem Hügel und war von einer Nekropole umgeben. Im 5. Jahrhundert v. Chr. eroberten die keltischen Boier Felsina. 191 v. Chr. wurde die Stadt von den Römern erobert, 189 v. Chr. wurde sie als "Bononia" römische Colonia. 3000 latinische Familien siedelten sich dort an, wobei den ehemaligen Konsuln Lucius Valerius Flaccus, Marcus Atilius Seranus und Lucius Valerius Tappo die Organisation der Stadt(neu)gründung übertragen wurde. Der Bau der Via Aemilia 187 v. Chr. machte Bononia zum Verkehrsknotenpunkt: Hier kreuzte sich die Hauptverkehrsstraße der Poebene mit der Via Flaminia minor nach Arretium (Arezzo). 88 v. Chr. erhielt Bononia über die Lex municipalis wie alle Landstädte Italiens volles römisches Bürgerrecht. Nach einem Brand wurde sie im 1. Jahrhundert unter Kaiser Nero wieder aufgebaut. Wie für eine römische Stadt typisch, war Bononia schachbrettartig um die zentrale Kreuzung zweier Hauptstraßen angelegt, des Cardo mit dem Decumanus. Sechs Nord-Süd- und acht Ost-West-Straßen teilten die Stadt in einzelne Quartiere und sind bis heute erhalten. Während der römischen Kaiserzeit hatte Bononia mindestens 12.000, möglicherweise jedoch bis 30.000 Einwohner. Bei Ausgrabungen rund um das Forum der antiken Stadt in den Jahren 1989–1994 wurden zwei Tempel, Verwaltungsgebäude, Markthallen und das Tagungsgebäude des Stadtrates gefunden; im südlichen Teil des ursprünglichen Stadtgebietes ist ein Theater freigelegt worden. Die Stadt scheint jedoch deutlich über ihre ursprüngliche Befestigung hinausgewachsen zu sein, beispielsweise sind außerhalb der Stadtmauer ein Amphitheater, ein Aquädukt und ein Thermenareal entdeckt worden. Der Geograph Pomponius Mela zählte die Stadt im 1. Jahrhundert n. Chr. zu den fünf üppigsten ("opulentissimae") Städten Italiens. Mittelalter. Nach einem langen Niedergang wurde Bologna im 5. Jahrhundert unter dem Bischof Petronius wiedergeboren, der nach dem Vorbild der Jerusalemer Grabeskirche den Kirchenkomplex von Santo Stefano errichtet haben soll. Nach dem Ende des Römischen Reiches war Bologna ein vorgeschobenes Bollwerk des Exarchats von Ravenna, geschützt von mehreren Wallringen, die jedoch den größten Teil der verfallenen römischen Stadt nicht einschlossen. 728 wurde die Stadt von dem Langobardenkönig Liutprand erobert und damit Teil des Langobardenreichs. Die Langobarden schufen in Bologna einen neuen Stadtteil nahe Santo Stefano, bis heute "Addizione Longobarda" genannt, in dem Karl der Große bei seinem Besuch 786 unterkam. Im 11. Jahrhundert wuchs der Ort als freie Kommune erneut. 1088 wurde der "Studio" gegründet – heute die älteste Universität Europas –, an der zahlreiche bedeutende Gelehrte des Mittelalters lehrten, unter anderem Irnerius, woraus dann im 12. Jahrhundert die Universität Bologna entstand. Da sich die Stadt weiter ausdehnte, erhielt sie im 12. Jahrhundert einen neuen Wallring, ein weiterer wurde im 14. Jahrhundert fertiggestellt. 1164 trat Bologna in den Lombardenbund gegen Friedrich I. Barbarossa ein, 1256 verkündete die Stadt die "Legge del Paradiso" (Paradiesgesetz), das Leibeigenschaft und Sklaverei abschaffte und die verbleibenden Sklaven mit öffentlichem Geld freikaufte. 50.000 bis 70.000 Menschen lebten zu dieser Zeit in Bologna und machten die Stadt zur sechst- oder siebtgrößten Europas nach Konstantinopel, Córdoba, Paris, Venedig, Florenz und möglicherweise Mailand. Das Stadtzentrum war ein Wald von Türmen: Schätzungsweise um die 100 Geschlechtertürme der führenden Familien, Kirchtürme und Türme öffentlicher Gebäude bestimmten das Stadtbild. Bologna entschied sich 1248, die Weizenausfuhr zu verbieten, um die Lebensmittelversorgung seiner schnell wachsenden Bevölkerung zu sichern. Das kam einer Enteignung der venezianischen Grundbesitzer, vor allem der Klöster gleich. 1234 ging die Stadt noch einen Schritt weiter und besetzte Cervia, womit es in direkte Konkurrenz zu Venedig trat, das das Salzmonopol in der Adria beanspruchte. 1248 dehnte Bologna seine Herrschaft auf die Grafschaft Imola, 1252–1254 sogar auf Ravenna aus. Dazu kamen 1256 Bagnacavallo, Faenza und Forlì. Doch der schwelende Konflikt zwischen Venedig und Bologna wurde 1240 durch die Besetzung der Stadt durch Kaiser Friedrich II. unterbrochen. Nachdem sich Cervia 1252 jedoch wieder Venedig unterstellt hatte, wurde es von einer gemeinsamen ravennatisch-bolognesischen Armee im Oktober 1254 zurückerobert. Venedig errichtete im Gegenzug 1258 am Po di Primaro eine Sperrfestung. Etsch, Po und der für die Versorgung Bolognas lebenswichtige Reno wurden damit blockiert – wobei letzterer von der See aus wiederum nur über den Po erreichbar war, und die Etsch bereits seit langer Zeit durch Cavarzere von Venedig kontrolliert wurde. Mit Hilfe dieser Blockade, vor allem an der Sperrfestung Marcamò – Bologna riegelte Marcamò vergebens durch ein eigenes Kastell ab – zwang Venedig das ausgehungerte Bologna zu einem Abkommen, das die Venezianer diktierten. Das bolognesische Kastell wurde geschleift. Ravenna stand Venedigs Händlern wieder offen, Venedigs Monopol war durchgesetzt. Im Jahre 1272 starb in Bologna nach mehr als 22-jähriger Haft im "Palazzo Nuovo" (dem heutigen "Palazzo di re Enzo") der König Enzio von Sardinien, ein unehelicher Sohn des Staufer-Kaisers Friedrich II. Wie die meisten Kommunen Italiens war Bologna damals zusätzlich zu den äußeren Konflikten von inneren Streitigkeiten zwischen Ghibellinen und Guelfen (Staufer- bzw. Welfen-Partei, Kaiser gegen Papst) zerrissen. So wurde 1274 die einflussreiche ghibellinische Familie Lambertazzi aus der Stadt vertrieben. Als Bologna 1297 verstärkt gegen die Ghibellinen der mittleren Romagna vorging, fürchtete Venedig das erneute Aufkommen einer konkurrierenden Festlandsmacht. Das betraf vor allem Ravenna. Venedig drohte der Stadt wegen Nichteinhaltung seiner Verträge und Bevorzugung Bolognas. Doch der Streit konnte beigelegt werden. Zu einer erneuten Handelssperre seitens Venedigs (wohl wegen der Ernennung Baiamonte Tiepolos zum Capitano von Bologna) kam es Ende 1326. Bologna hatte sich dem Schutz des Papstes unterstellt, nachdem es 1325 von Modena in der Schlacht von Zappolino vernichtend geschlagen worden war. Im Mai 1327 wurden alle Bologneser aufgefordert, Venedig innerhalb eines Monats zu verlassen. 1328–1332 kam es zu Handelssperren und Repressalien. Ravenna blieb dabei der wichtigste Importhafen der Region, den z. B. Bologna für größere Importe aus Apulien weiterhin nutzte. Zwischen 1325 und 1337 kam es zum Eimerkrieg von Bologna. Während der Pest-Epidemie von 1348 starben etwa 30.000 der Einwohner. Nach der Regierungszeit Taddeo Pepolis (1337–1347) fiel Bologna an die Visconti Mailands, kehrte aber 1360 auf Betreiben von Kardinal Gil Álvarez Carillo de Albornoz durch Kauf wieder in den Machtbereich des Papstes zurück. Die folgenden Jahre waren bestimmt von einer Reihe republikanischer Regierungen (so z. B. die von 1377, die die Basilica di San Petronio und die Loggia dei Mercanti errichten ließ), wechselnder Zugehörigkeit zum päpstlichen oder Viscontischen Machtbereich und andauernder, verlustreicher Familienfehden. 1402 fiel die Stadt an Gian Galeazzo Visconti, der zum Signore von Bologna avancierte. Nachdem 1433 Bologna und Imola gefallen waren (bis 1435), verhalf Venedig dem Papst 1440/41 endgültig zur Stadtherrschaft. Bei der Gelegenheit nahm Venedig 1441–1509 Ravenna in Besitz. Um diese Zeit erlangte die Familie der Bentivoglio mit Sante (1445–1462) und Giovanni II. (1462–1506) die Herrschaft in Bologna. Während ihrer Regierungszeit blühte die Stadt auf, angesehene Architekten und Maler gaben Bologna das Gesicht einer klassischen italienischen Renaissance-Stadt, die allerdings ihre Ambitionen auf Eroberung endgültig aufgeben musste. Neuzeit. Giovannis Herrschaft endete 1506, als die Truppen Papst Julius' II. Bologna belagerten und die Kunstschätze seines Palastes plünderten. Im Anschluss gehörte Bologna bis zum 18. Jahrhundert zum Kirchenstaat und wurde von einem päpstlichen Legaten und einem Senat regiert, der alle zwei Monate einen "gonfaloniere" (Richter) wählte, der von acht Konsuln unterstützt wurde. Am 24. Februar 1530 wurde Karl V. von Papst Clemens VII. in Bologna zum Kaiser gekrönt. Es war die letzte vom Papst durchgeführte Kaiserkrönung. Der Wohlstand der Stadt dauerte an, doch eine Seuche am Ende des 16. Jahrhunderts verringerte die Zahl der Einwohner von 72.000 auf 59.000, eine weitere 1630 ließ sie auf 47.000 schrumpfen, bevor sie sich wieder auf 60.000 bis 65.000 einpendelte. 1564 wurden die "Piazza del Nettuno", der "Palazzo dei Banchi" und der "Archiginnasio" erbaut, der Sitz der Universität. Zahlreiche Kirchen und andere religiöse Einrichtungen wurden während der päpstlichen Herrschaft neu errichtet, ältere renoviert – Bolognas 96 Klöster waren italienischer Rekord. Bedeutende Maler wie Annibale Carracci, Domenichino und Guercino, die in dieser Periode in Bologna tätig waren, formten die Bologneser Schule der Malerei. Im napoleonischen Europa wurde Bologna 1796 – seit dem Ersten Koalitionskrieg vom Kirchenstaat unabhängig – zunächst Hauptstadt der kurzlebigen Cispadanischen Republik und später die nach Mailand bedeutendste Stadt in der Cisalpinischen Republik und des napoleonischen Königreichs Italien. Am 28. Januar 1814 eroberten die Österreicher die Stadt kurzzeitig zurück, mussten am 2. April 1815 dem Einmarsch französischer Truppen weichen, um am 16. April 1815 Bologna endgültig einzunehmen. Nach dem Fall Napoleons schlug der Wiener Kongress 1815 Bologna wieder dem Kirchenstaat zu, worauf dies am 18. Juli 1816 zur Ausführung kam. Die Bevölkerung rebellierte im Frühjahr 1831 gegen die päpstliche Restauration. Durch eine neuerliche österreichische Besatzung ab dem 21. März 1831 wurde dem ein Ende gemacht. Die Besatzung dauerte mit einer kurzen Unterbrechung (Juli 1831 bis Januar 1832) bis zum 30. November 1838. Die Macht war damit erneut in der Hand des Papstes. Dagegen erhob sich im August 1843 der Aufstand der Moti di Savigno. Erneut kam es 1848/1849 zu Volksaufständen, als es vom 8. August 1848 bis 16. Mai 1849 gelang, die Truppen der österreichischen Garnison zu vertreiben, die danach erneut bis 1860 die Befehlsgewalt über die Stadt innehatten. Nach einem Besuch von Papst Pius IX. 1857 stimmte Bologna am 12. Juni 1859 für seine Annexion durch das Königreich Sardinien, wodurch die Stadt Teil des vereinten Italien wurde. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden die Mauern der Stadt bis auf wenige Reste abgerissen, um der schnell wachsenden Bevölkerung Platz zu schaffen. In den Wahlen am 28. Juni 1914 errang der Sozialist Francesco Zanardi zum ersten Mal das Stadtpräsidium ("sindaco") für die Linke. Mit der Unterbrechung des Faschismus wird Bologna seitdem überwiegend von linken Stadtregierungen verwaltet. 1940 zählte Bologna 320.000 Einwohner. Im Zweiten Weltkrieg wurde Bologna in den Kämpfen der untergehenden NS-Diktatur mit amerikanischen, britischen und polnischen Invasionstruppen der Alliierten bombardiert und beschädigt, wobei in der Stadt 2.481 Zivilisten ums Leben kamen. Am 21. April 1945 wurde die Stadt von Einheiten des II. polnischen Korps befreit. Nach dem Krieg erholte sich Bologna schnell und ist heute eine der wohlhabendsten und stadtplanerisch gelungensten Städte Italiens. Anschlag von Bologna 1980. Am 2. August 1980 verübte eine Gruppe von Rechtsextremisten einen Bombenanschlag auf den Hauptbahnhof der Stadt. 85 Menschen starben, mindestens 200 wurden verletzt. 1995 wurden für diesen Anschlag zwei Mitglieder der faschistischen "Nuclei Armati Rivoluzionari" und Mitarbeiter des italienischen Geheimdienstes zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Sehenswürdigkeiten. Bauwerke, Plätze und Parks. Wahrzeichen der Stadt sind die zwei Türme, der "Torre Garisenda" und der "Torre degli Asinelli". Um 1100 erbaut, war letzterer mit seiner Höhe von 94,5 m damals wohl der höchste Profanbau Europas. Die beiden Türme sind mit einigen anderen die letzten Überbleibsel der „Geschlechtertürme“ des mittelalterlichen Bologna, die im 16. Jahrhundert zum Großteil geschleift wurden. Zu den weiteren Sehenswürdigkeiten gehören die im Artikel genannten "Palazzi". Als Zentrum der Stadt gilt die "Piazza Maggiore" mit dem Neptunbrunnen und der "Basilika San Petronio". Die mächtige gotische Kirche ist die fünftgrößte der Welt; das Mittelschiff ist 40 m hoch und 20 m breit. Ursprünglich als größte Kirche der Christenheit geplant, wurde der Bau, begonnen im Jahr 1390, aufgrund finanzieller Probleme bis heute nicht vollendet. Im Innenraum befindet sich die Mittagslinie, 1655 eingerichtet nach Plänen des Astronomen Giovanni Domenico Cassini. In der "Capella Bolognini" befindet sich eine Darstellung des Weltgerichts von Giovanni da Modena (um 1410). Der Maler des Freskos orientierte sich bei seiner Darstellung an Dantes "Göttlicher Komödie" und zeigt im Höllenkreis unter anderem den Propheten Mohammed, dem als Glaubensspalter von einem Teufel der Körper aufgeschlitzt wird (DC Inf. XXVIII). Die Kathedrale "San Pietro" mit der Pietà von Alfonso Lombardi befindet sich an der Via dell’Indipendenza. Die älteste Kirche Bolognas, die "Basilica di Santo Stefano", befindet sich in einem heute noch genutzten Klosterkomplex im historischen Zentrum der Stadt. Die Anlage verfügt über einen byzantinischen Rundbau sowie über typische romanische Kreuzgänge. Auf der Piazza Santo Stefano steht die Basilika Basilika Santo Stefano, die aufgrund ihrer Gliederung in zahlreiche Kirchen und Kapellen, die durch einen Innenhof und einen Kreuzgang miteinander verbunden sind, auch als „die sieben Kirchen“ bekannt ist. Der ursprüngliche Kern wurde im 8. Jahrhundert auf einem heidnischen, der ägyptischen Göttin Isis geweihten Tempel aus dem 2. Jahrhundert errichtet, von dem ein außen eingemauerter Architrav mit einer Widmung an die Göttin sowie einige afrikanische Granitsäulen erhalten sind. Das architektonische Grundgerüst ist trotz einiger späterer Änderungen deutlich romanisch. Von besonderem Interesse ist die Basilika Basilika San Francesco aus dem 13. Jahrhundert (obwohl sie im 19. Jahrhundert und nach dem Zweiten Weltkrieg erhebliche Eingriffe erfuhr), das erste Beispiel der französischen Gotik in Italien. Gleichaltrig ist die Basilika Basilika San Domenico, die die Arche beherbergt, in der die sterblichen Überreste des Heiligen aufbewahrt werden und die von Nicola Pisano und seiner Werkstatt, Niccolò dell’Arca und Michelangelo geschaffen wurde. Bekannt ist Bologna außerdem für seine Arkaden. Sie erstrecken sich über 38 km und wurden ursprünglich geschaffen, um der wachsenden Bevölkerung der Stadt gerecht zu werden. Der Bau der Arkaden ermöglichte es, die oberen Stockwerke auszubauen und so neuen Wohnraum zu schaffen, ohne den Handel und den Durchgangsbetrieb zu stark zu beeinträchtigen. Die Wallfahrtskirche der "Santuario della Madonna di San Luca" liegt auf dem Guardiahügel oberhalb der Stadt und bietet einen Blick über die Poebene. Zur Kirche hinauf führt der mit rund vier Kilometern längste Arkadengang der Welt. Die Arkadengänge von Bologna sind seit Juli 2021 UNESCO-Welterbe. Der "Palazzo dell’Archiginnasio" war ursprünglich dafür geplant, alle Fakultäten der Universität unter einem Dach zu vereinen. Er beherbergt einen 1944 im Krieg stark zerstörten, aber vollständig renovierten Anatomielehrsaal. Der Stadtpark "Giardini Margherita" bei der "Piazza di Porta Santo Stefano" ist die größte städtische Grünanlage in Zentrumsnähe. Der 1879 eröffnete Park wurde nach Margarethe von Italien, der Ehefrau des italienischen Königs Umberto I., benannt. Die Anlage im englischen Stil hat eine Fläche von rund 26 Hektaren und verfügt über einen künstlichen See mit Wasserspielen. Der Friedhof Cimitero Monumentale della Certosa ist der historische Hauptfriedhof der Stadt. Der Palazzo Malvezzi Campeggi entstand im 18. Jahrhundert, der Palazzo Ronzani 1915, der Palazzo Bonaccorso 2008. Das Haus Via Borgonuovo 4 ist das Geburtshaus Pier Paolo Pasolinis. Museen. Das "Sistema Museale di Ateneo" (SMA) der universitären Museen in Bologna bietet teilweise freien Eintritt zu seinen Museen, die sich überwiegend im nahen Umkreis des Palazzo Poggi befinden, nur zwei anatomische Sammlungen der Veterinärmedizin sind in Ozzano dell’Emilia angesiedelt: Das Anthropologische Museum der Universität Bologna zeichnet die Entwicklungsgeschichte des Menschen in Europa seit der Steinzeit mit besonderem Blick auf das Geschehen in Italien nach. Politik. Der Stadtrat "(Consiglio comunale)" bildet die Legislative in Bologna, er besteht aus 36 Mitgliedern. Stärkste Fraktion ist seit der Kommunalwahl 2021 das Mitte-links-Bündnis um die Sozialdemokraten mit 25 Sitzen. Bürgermeister ("Sindaco di Bologna") und damit auch Chef der Stadtverwaltung war von 2011 bis 2021 Virginio Merola (PD). Bei der Bürgermeisterwahl 2016 konnte er sich in der Stichwahl mit knapp 55 Prozent der Stimmen gegen die Lega-Nord-Kandidatin Lucia Borgonzoni die Wiederwahl sichern. Im Jahr 2021 trat Merola nicht wieder an. Als Nachfolger wurde Matteo Lepore (PD) im ersten Wahlgang mit knapp 62 Prozent der Stimmen gewählt. Amtsinhaber seit 1999 waren: Als Hauptstadt der Region Emilia-Romagna ist Bologna auch Sitz des dortigen, aus 50 Abgeordneten bestehenden Regionalrats sowie der Regionalregierung "(Giunta regionale)". Beide sind im Palazzo della regione, einem Hochhaus im nordöstlich liegenden Messe- und Geschäftsviertel "Fiera di Bologna", untergebracht. Religion. Bologna ist seit dem 3. Jahrhundert Sitz einer römisch-katholischen Diözese, die 1582 zum Erzbistum und Metropolitansitz der Kirchenprovinz Bologna erhoben wurde. Laut Annuario Pontificio 2019 leben derzeit rund 940.000 Katholiken im Gebiet des Erzbistums. Kathedrale ist die Ende des 12. Jahrhunderts fertiggestellte Kirche San Pietro. Zudem besitzt die Stadt eine Synagoge und mehrere kleine Moscheen. Seit mehreren Jahren ist (Stand 2018) der Bau einer größeren Moschee in Planung. Bildung. Die 1088 gegründete Universität Bologna ist die älteste Institution dieser Art in Europa. Die etwa 80.000 Studenten stellen bei einer Gesamtbevölkerung von um die 400.000 einen bedeutenden Teil der Stadtbevölkerung und prägen die Stadt, vor allem innerhalb der historischen Stadtmauern. Die Stadt ist nicht nur bei Studenten aus allen Teilen Italiens beliebt, sondern auch bei ausländischen Studenten. Neben Erasmus-Studenten sind das vor allem Studenten aus den USA. Außerdem gibt es in der Stadt die Akademie der Bildenden Künste, an der unter anderem Giorgio Morandi lehrte und Enrico Marconi eine Ausbildung absolvierte. Das SAIS Bologna Center ist eine Außenstelle der School of Advanced International Studies (SAIS) der Johns Hopkins University. Bologna war Ort der Bolognaerklärung im Jahr 1999 und Namensgeber des Bologna-Prozesses zur Reformierung und Vereinheitlichung des Europäischen Hochschulraums. Verkehr. Kraftverkehr. Der Raum Bologna ist ein zentraler Knotenpunkt des italienischen Autobahnsystems am Übergang zwischen der Oberitalienischen Tiefebene und der Apenninhalbinsel. Die die größten italienischen Ballungsräume Mailand und Rom miteinander verbindende A1 erreicht Bologna von Nordwesten und biegt hier südwärts Richtung Toskana in den Apennin ab. Nach Nordosten stellt die A13 eine Verbindung mit Venetien her, die Richtung Südosten führende A14 erschließt die mittelitalienische Adriaküste. Dem innerstädtischen Personennahverkehr dient das Netz des Oberleitungsbus Bologna. Bahnverkehr. Das an der Eisenbahnachse Berlin–Palermo gelegene Bologna ist einer der wichtigsten Eisenbahnknoten Italiens, an dem gleich mehrere Hauptstrecken aus verschiedenen Himmelsrichtungen miteinander verknüpft sind. Von Nordwesten kommend erreichen die Bahnstrecke Mailand–Bologna und die parallel dazu geführte Schnellfahrstrecke Mailand–Bologna die Stadt, die hier jeweils an die südwärts führende Bahnstrecke Bologna–Florenz und die Schnellfahrstrecke Bologna–Florenz anschließen. Von Norden mündet die Bahnstrecke Verona–Bologna in den Knotenpunkt, von Nordosten die Bahnstrecke Padua–Bologna, von Südosten die Bahnstrecke Bologna–Ancona. Neben diesen viel befahrenen Hauptbahnen münden im Ballungsraum zudem weitere Strecken von kleinregionaler Bedeutung, nämlich die Bahnstrecke Pistoia–Bologna, die Bahnstrecke Casalecchio–Vignola und die Bahnstrecke Bologna–Portomaggiore. Im Personenverkehr ist der wichtigste Bahnhof der Stadt der Hauptbahnhof "Bologna Centrale". Dieser wurde 1864 errichtet und schon zehn Jahre später von Gaetano Ratti neu konstruiert. 1926 wurde er um die westlichen Bahnsteige erweitert, 1934 auch auf der östlichen Seite. 2013 wurde der ergänzende Tiefbahnhof für Hochgeschwindigkeitsverkehr "Bologna Centrale AV" ("AV" für "Alta Velocità") eröffnet. Der Rangierbahnhof "Bologna San Donato" hat eine für Rangierbahnhöfe sehr seltene kopfförmige Anlage und befindet sich an der Umgehungsbahn (Cintura) im Nordosten der Stadt; er ist der größte Rangierbahnhof Italiens. Abgesehen von den Schnellfahrstrecken werden alle oben genannten Strecken auch für das S-Bahn-ähnliche Nahverkehrssystem "Servizio ferroviario metropolitano di Bologna" genutzt. Ein neues innerstädtisches Netz der Straßenbahn Bologna befindet sich im Aufbau. Flugverkehr. Der "Flughafen Bologna" im Nordwesten der Stadt ist durch verschiedene Fluggesellschaften auch aus dem deutschen Raum national und international gut angebunden. Einige Billigfluggesellschaften frequentieren den zirka 60 km entfernten Flughafen Forlì als "Flughafen Bologna-Forlì". Wirtschaft. Bologna und Umgebung ist ein Schwerpunkt des Maschinenbaus, unter anderen wurden Maserati und Ferrari in Bologna gegründet. Im Stadtteil Borgo Panigale ist der italienische Motorradhersteller Ducati Motor Holding S.p.A. beheimatet. Die Firma Carrellificio Emiliano S.p.A. (CESAB) – traditioneller Hersteller von Fördertechnik und Gabelstaplern – wurde 1942 gegründet. Sport. Bekanntester Fußballverein der Stadt ist der siebenmalige italienische Meister FC Bologna, der vor allem in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg zu den erfolgreichsten Italiens gehörte. Er trägt seine Heimspiele im Stadio Renato Dall’Ara aus, das bei zwei Fußball-Weltmeisterschaften Spielstätte war, und spielt nach einem Abstieg 2013/14 in die Serie B, seit der Saison 15/16 wieder in der erstklassischen Serie A. Im Basketball ist die Stadt mit Virtus und Fortitudo Heimat zweier Vereine, die auf nationaler wie kontinentaler Ebene Erfolge vorweisen können. Persönlichkeiten. Bekannte Persönlichkeiten der Stadt sind in der Liste von Persönlichkeiten der Stadt Bologna aufgeführt.
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https://de.wikipedia.org/wiki?curid=710
Bösartigkeit
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https://de.wikipedia.org/wiki?curid=711
Bayreuth
Bayreuth [ oder ] (fränkisch: "Barreid") ist eine fränkische kreisfreie Stadt im bayerischen Regierungsbezirk Oberfranken. Die Mittelstadt zählt zur Metropolregion Nürnberg und zur Planungsregion Oberfranken-Ost, sie ist Sitz der Regierung von Oberfranken sowie Verwaltungssitz des Bezirks Oberfranken und des Landkreises Bayreuth. Weltberühmt ist Bayreuth durch die alljährlich im Festspielhaus auf dem Grünen Hügel stattfindenden Richard-Wagner-Festspiele. Das Markgräfliche Opernhaus gehört seit 2012 zum UNESCO-Weltkulturerbe.Bayreuth liegt an den Ferienstraßen Burgenstraße und Bayerische Porzellanstraße. Anders als der Name vermuten lässt, gehört die Stadt erst seit dem Jahr 1810 zu Bayern. Als Folge der Jahrhunderte währenden Zugehörigkeit zum Fürstentum Bayreuth ist sie protestantisch geprägt. Name. 1194 wurde der Ort als "Baierrute" in einer Urkunde des Bischofs Otto II. von Bamberg erstmals erwähnt. Der Namensbestandteil "-rute" ist vermutlich als Rodung zu deuten (siehe -reuth). Dass "Baier-" auf Zuwanderer aus dem bairischen Siedlungsraum verweisen könnte, ist umstritten und nicht belegbar. Vieles deutet darauf hin, dass die endgültige Namengebung erst nach der sekundären Ortserweiterung erfolgte und spezielle bayerische Interessen sichtbar machen sollte. 1199 ist der Name „Beirrut“, 1231 „Beirruth“ belegt. Belegt sind im "Bayreuther Landbuch" von 1421/24 auch die Bezeichnungen „Peyeruth“ und „Peyrreute“, die Vorgängerkirche der Stadtkirche Heilig Dreifaltigkeit wurde zunächst als „Pfarr peyr Reut“ (Reut = "Altenstadt") bezeichnet. Das „y“ des Ortsnamens tauchte lange vor der Inbesitznahme der Stadt durch Bayern bereits 1532 erstmals auf. Die heutige Schreibform ist 1625 im "Kulmbacher Bürgerbuch" belegt, setzte sich aber noch nicht endgültig durch. Markgräfin Wilhelmine (1709–1758) nannte die Stadt „Bareith“. Geographie. Geographische Lage. Die Stadt liegt im südlichen Teil des Obermainischen Hügellands beiderseits des Roten Mains, des südlichen und längeren der beiden Quellflüsse des Mains, zwischen dem Fichtelgebirge und der Fränkischen Schweiz. Weitere Fließgewässer im Stadtgebiet sind die Warme Steinach, die Mistel, in Bayreuth „Mistelbach“ genannt, und der Sendelbach mit seinem historisch interessanten Seitenkanalsystem Tappert. Das größte stehende Gewässer ist der vom Aubach gespeiste Röhrensee. Das Zentrum der Stadt (nicht zu verwechseln mit dem dezentral gelegenen Stadtteil Altstadt) liegt mit etwa mehr als 100 Meter tiefer als die meisten der Höhenzüge, die den Bayreuther Talkessel einrahmen. Die Keimzelle Bayreuths am heutigen unteren Markt entstand strategisch günstig auf einer flachen Anhöhe zwischen den Tälern des Roten Mains und des Sendelbachs. Höchste umgebende Erhebung ist mit der Sophienberg im Süden. Weitere Anhöhen sind der Schlehenberg, der Oschenberg, der Höhenzug der Hohen Warte, der Rote Hügel und der Buchstein. Der mit niedrigste Punkt des Stadtgebiets befindet sich im Nordwesten in der unteren Rotmainaue an der Grenze zu Heinersreuth. Die Beckenlage wirkt sich günstig auf das Klima aus. Die Jahresmitteltemperatur beträgt für Bayreuth 8,3 °C. Amtliche Stadtgliederung. Bayreuth besteht offiziell aus 30 Stadtteilen und 39 Distrikten: Liste der Ortsteile und Distrikte von Bayreuth Geschichte. Vor- und Frühgeschichte. Funde im Bayreuther Raum – bei der Bodenmühle, nahe Bindlach und auf der Neubürg – reichen bis in die Jungsteinzeit zurück. Hügelgräber bei Eckersdorf, Görschnitz und am Pensen gelten als bronzezeitlich. Der Hallstattzeit lassen sich u. a. Funde am Saaser Berg, am Sophienberg und bei Mistelgau zuordnen. Am Fuß des Bindlacher Bergs wurden 1992 Reste einer Keltensiedlung aus der Zeit um 400 v. Chr. gefunden. Bereits im Frühmittelalter bestand an der Stelle der ehemaligen Burg Laineck eine Wehranlage. Deren Mauer, die zuerst eine reine Holz-Erde-Konstruktion in Blockbauweise war, wurde später durch eine neue Holz-Erde-Mauer ersetzt, die durch in die Erde eingelassene mächtige Pfosten verstärkt war. In einer dritten Phase ersetzte man diese durch eine Trockenmauer aus Steinen. Besonders die erste und dritte Stufe dieser Umwehrung erinnern stark an slawische Bauweisen, Slawen siedelten im frühen Mittelalter in Teilen Oberfrankens. In der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts verschwanden die Slawen des oberfränkischen Raums aus der geschriebenen Geschichte, zahlreiche Orts- und Flurnamen (Dürschnitz, Döhlau, Kulm) weisen nach wie vor auf ihre Anwesenheit hin. Aus der Zeit zwischen 800 und 1000 n. Chr. stammt auch die Wehranlage am Rodersberg. Die ostfränkische Kolonisation, deren Träger Adel und freie Franken waren, erreichte Anfang des 9. Jahrhunderts das Zweimainland. Unter den Schweinfurter Grafen rückten fränkische Siedler bis Mistelgau und Gesees vor, auch Obernschreez und Eckersdorf sind dieser Siedlungsphase zuzurechnen. Mit der Gründung des Bistums Bamberg im Jahr 1007 setzte die eigenständige kulturelle Entwicklung der Region ein. Zugleich kam es zu einem Machtverlust der Schweinfurter, deren Haus mit dem Tod Ottos III. 1057 erlosch. Dessen jüngste Tochter Gisela ehelichte 1098 Arnold aus der Andechser Linie derer von Dießen; damit fassten die späteren Herzöge von Meranien im Bayreuther Raum Fuß. Der Umstand, dass die Bamberger Fürstbischöfe den Landesherrn den Ausbau der Burg Altentrebgast untersagten, beschleunigte die Siedlungsentwicklung im Bayreuther Raum. Etwa ab dem Jahr 1000 entstanden die Orte Altenreuth (heute der Stadtteil Altstadt), Heinersreuth, Oberkonnersreuth und Meyernreuth. Bindlach wurde die Urpfarrei, deren Sprengel u. a. die Tochterkirchen in der heutigen Altstadt und in Sankt Johannis umfasste. Vermutlich ist auch schon im 11. Jahrhundert, im Zuge der Rodungstätigkeit der Schweinfurter Grafen, eine kleine Ansiedlung am unteren Markt entstanden. Die Gründung der künftigen Stadt im Kräftedreieck Bindlach – Altentrebgast – Altenstadt fiel wahrscheinlich in die Zeit der Rivalität zwischen Bamberg und den neuen Machthabern Dießen-Andechs sowie Sulzbach, d. h. in die Jahre 1137 bis 1177. Bereits früher als Bayreuth urkundlich erwähnt wurden die eingemeindeten Ortschaften Seulbitz (1035 als salisches Königsgut Silewize in einer Urkunde Kaiser Konrads II.) und Sankt Johannis (evtl. 1149 als Altentrebgast). Auch der Stadtteil Altstadt (bis ins 19. Jahrhundert Altenstadt) westlich des Stadtzentrums dürfte älter sein als die Siedlung Bayreuth. Im Jahr 1600 bezeichnete ihn der Stadtschreiber als das ursprüngliche Bayreuth („Urbayreuth“), diese Auffassung hielt sich bis Ende des 19. Jahrhunderts. Noch ältere Spuren menschlicher Anwesenheit fanden sich im Ortsteil Meyernberg: Keramikreste und Holzgeschirr wurden anhand ihrer Verzierungen in das 9. Jahrhundert datiert. Mittelalter, Reformation und frühe Neuzeit. Die Anlage eines Straßenmarkts, dessen Führung sich in eine karolingische Altstraße eingliedert, weist auf ein frühes kleines Handelszentrum in diesem Bereich hin. Sehr früh war der „Markt“, wie er noch heute genannt wird, das pulsierende Herzstück der Siedlung, deren Bewohner zunächst überwiegend Ackerbürger waren. Bei der Verleihung des Marktrechts an Neustadt am Kulm im Jahr 1370 wurde das an Bayreuth verliehene Marktrecht als Vorbild bezeichnet. Während Bayreuth zunächst (1199) als "villa" (Dorf) bezeichnet wurde, erschien im Jahr 1231 in einer Urkunde zum ersten Mal der Begriff "civitas" (Stadt). Man kann also annehmen, dass Bayreuth in den Jahren zwischen 1200 und 1230 das Stadtrecht verliehen bekam. Stadtherren waren bis 1248 die Grafen von Andechs-Meranien. Nach deren Aussterben übernahmen 1260 die Burggrafen von Nürnberg aus dem Geschlecht der Hohenzollern das Erbe. In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts entstanden im Zuge einer ersten Erweiterung der Stadt die Stadtkirche, die heutige Sophienstraße, die Kanzleistraße, die Brautgasse und die Kirchgasse. Das obere und das untere Tor bildeten die beiden Zugänge. Zunächst war jedoch die Plassenburg in Kulmbach Residenz und Zentrum des Landes. Die Stadt entwickelte sich daher nur langsam und war immer wieder von Katastrophen betroffen. Aber bereits 1361 erteilte Kaiser Karl IV. dem Burggrafen Friedrich V. für die Städte Bayreuth und Kulmbach das Münzrecht. 1421 erschien Bayreuth, das seit jenem Jahr den Status eines Markgrafenstädchens unter der Herrschaft der fränkischen Hohenzollern hatte, als „Pairaeut“ erstmals auf einer Landkarte. Auf der Karte der „lantstrassen durch das Romisch reych“ von Erhard Etzlaub (1501) ist Bayreuth als Station auf der Via Imperii von Leipzig nach Verona verzeichnet. Das Bayreuther Rathaus befand sich in der Mitte der breitesten Stelle des langgestreckten Marktplatzes. Aus dem 15. und 16. Jahrhundert sind Privilegien wie das Münz- und Zollrecht, die Gerichtsbarkeit und das Braumonopol überliefert. Die wichtigsten Gewerbe vertraten die Färber, Tuchmacher, Tuchwalker, Wollenschauer, Fleischhauer, Bäcker, Brotschauer, Müller, Lederer, Schuster und Kandelgießer. Obwohl ihm der römisch-deutsche König Sigismund freies Geleit zum und vom Konzil von Konstanz zugesichert hatte, wurde der böhmische Theologe und Reformator Jan Hus 1415 in Konstanz auf dem Scheiterhaufen hingerichtet. Sigismund verfolgte dessen Hussiten genannte Anhänger unversöhnlich als Feinde; weitere Hinrichtungen und Grausamkeiten heizten die Volkswut in Böhmen weiter an. Im Januar 1430 brachen die Hussiten unter der Führung Andreas Prokops mit großer Heeresmacht über Zwickau und Plauen in das heutige Oberfranken ein. Markgraf Friedrich I., der als Günstling und Paladin Sigismunds galt, konnte seine Lande nicht auf dem Verhandlungsweg vor deren Einfall bewahren. In der Nacht vom 29. auf den 30. Januar 1430 verließ er mit seinen Truppen Bayreuth, worauf sich auch die wehrfähigen Männer in die umliegenden Wälder zurückzogen. Vermutlich am 30. Januar 1430 besetzten die Hussiten kampflos die damals ca. 1500 Einwohner zählende Stadt und zerstörten sie fast völlig. An jenem Tag wurde Bayreuths günstige Entwicklung abrupt unterbrochen. Das Rathaus und die Kirchen brannten nieder, die stadtgeschichtlichen Dokumente und Quellen wurden dabei weitgehend vernichtet. Auch das – damals außerhalb der Stadt gelegene – erste Kranken- und Pflegehaus (Spital) der Stadt wurde ein Opfer des Hussitensturms. Statt eines Neuaufbaus an gleicher Stelle wurde ein Platz innerhalb der Stadtummauerung gewählt. 1435 konnten am unteren Markt das Bürgerspital, 1439 daneben der Vorgängerbau der heutigen Spitalkirche eingeweiht werden. Friedrich I. sorgte für den Wiederaufbau der Stadt, die 1444 innerhalb der Stadtmauern bereits wieder etwa 200 Häuser zählte. Unter seinem Nachfolger Johann wurde 1446 an der alten Stelle das Rathaus wiederaufgebaut; das neue Gebäude beherbergte neben weiteren Läden auch 14 Fleischbänke. 1448 ist der erste Bayreuther Türmer nachweisbar; bis 1932 lebten und arbeiteten die Türmer in der Türmerstube auf dem Nordturm der Stadtkirche, von wo aus sie die Stadt überblicken und mit Glockenschlägen auf ausgebrochene Brände aufmerksam machten. Ab 1450 ist in Bayreuth nach Daten der Gesellschaft für Leprakunde ein mittelalterliches Leprosorium nachweisbar, das an der Erlanger Straße lag und als „Siechhaus“ bezeichnet wurde. Es wurde 1580 erneuert, wurde dann ab 1666 als Lazarett genutzt und bestand als Gebäude bis 1854. Da der Zerstörung des Rathauses durch die Hussiten fast alle der dort aufbewahrten Dokumente zum Opfer gefallen waren, stammt das älteste Bayreuther Stadtbuch aus dem Jahr 1463. Dort sind u. a. Zinszahlungen dokumentiert, die die jüdischen Einwohner entrichteten. Mit Kasimir wurden die Stadt und das Land von 1515 bis 1527 von einem brutalen und rücksichtslosen Fürsten regiert: Massenhaftes Ausstechen von Augen, Abhacken von Gliedern und andere Verstümmelungen galten noch als mildere Strafen für die im Bauernkrieg niedergeworfenen Bauern. Er kam dem Ablasswesen Roms weit entgegen, auch in Bayreuth sammelten 1517 Ablasshändler Geld für den Bau des Petersdoms. Bereits 1528 (also elf Jahre nach Beginn der Reformation) schlossen sich die Landesherren der fränkischen markgräflichen Gebiete dem lutherischen Bekenntnis an. Markgraf Georg „der Fromme“, der die Stadt von 1527 bis 1541 von Ansbach aus regierte, war mit Martin Luther persönlich bekannt. Die von ihm und den Nürnbergern verfassten Schwabacher Artikel aus dem Jahr 1528 bildeten die Grundlage für die Reformation in seinen Ländern. Entsprechend dem Prinzip „Cuius regio, eius religio“ mussten alle Bewohner Bayreuths den Glauben ihres Fürsten annehmen, erst das 18. Jahrhundert brachte mit der Aufklärung mehr Toleranz gegenüber Andersgläubigen. Das erst 1514 auf dem nahen Oschenberg gegründete Franziskanerkloster wurde 1529 wieder aufgelöst. Anhänger Luthers hatte es in der Stadt schon vorher gegeben: Georgs Vorgänger Kasimir, der Luthers Lehre im Land verbot, hatte den Prediger Schmalzing noch verhaften und ins bischöfliche Gefängnis zu Bamberg schaffen lassen. Georgs Nachfolger Albrecht „Alcibiades“ war wiederum katholisch; er ließ im Land das Augsburger Interim einführen, scheiterte aber mit dem Versuch, die Form des lutherischen Gottesdiensts rückgängig zu machen. Zwischen 1558 und 1654 kam es auch im Bayreuthischen zu Hexenverfolgungen. Im Jahr 1591 starben 22 „Hexen“ auf dem Scheiterhaufen. Im Markgräflichen Krieg wurden 1553 die Siedlungen außerhalb der Stadt aufgegeben, um Bayreuth besser verteidigen zu können. 1495 und 1602 wütete in Bayreuth die Pest, der jeweils nahezu 20 Prozent der Bevölkerung zum Opfer fielen. Bayreuth wird Residenzstadt. Ein Wendepunkt in der Stadtgeschichte war die Verlegung der Residenz von der Plassenburg oberhalb Kulmbachs nach Bayreuth durch Markgraf Christian, den Sohn des Kurfürsten Johann Georg von Brandenburg. Vergeblich hatten der Bürgermeister und der Rat der Stadt versucht, den Herrscher von diesem Vorhaben abzubringen, und Bayreuth als „Ackerbürgerstädtchen“ kleingeredet. Der Ort wurde im Jahr 1603 wider Willen Residenzstadt; die Hofhaltung des Fürsten brachte indes für die kommenden zwei Jahrhunderte eine neue, breit gefächerte Arbeitswelt – u. a. mit Perückenmachern, Trüffeljägern und Sänftenträgern – hervor. Im selben Jahr wurde eine landesherrliche Botenpost von Bayreuth nach Coburg eingerichtet, wo sie an die Kaiserliche Reichspost Frankfurt–Leipzig angeschlossen war. 1682 wurde, unter Taxischer Verwaltung, das Kaiserliche Reichspostamt Bayreuth gegründet und 1738 zunächst in die Friedrichstraße („Postei“), 1742 dann in die Marck Gaß (heutige Maximilianstraße 16) verlegt. Das 1440 bis 1457 unter dem Markgrafen Johann dem Alchemisten erbaute erste Hohenzollernschloss, der Vorläufer des heutigen Alten Schlosses, wurde vielfach aus- und umgebaut. Nach dem Tod Christians folgte ihm 1655 sein Enkel Christian Ernst nach, der 1664 das Gymnasium Illustre (späteres Gymnasium Christian-Ernestinum) stiftete und 1683 an der Befreiung des von den Türken belagerten Wiens beteiligt war. Um an diese Tat zu erinnern, ließ er sich den Markgrafenbrunnen, der heute vor dem Neuen Schloss steht, als Denkmal fertigen, auf dem er als Türkensieger dargestellt ist. In dieser Zeit wurde der äußere Ring (Zwingermauer) der Stadtmauer errichtet und die (alte) Schlosskirche erbaut. Erstmals im Jahr 1585 wurde in Bayreuth ein Viehmarkt schriftlich erwähnt, im Dreißigjährigen Krieg kamen die Wochen-, Jahr- und Viehmärkte jedoch zum Erliegen. Im ersten Friedensjahr 1648 ordnete Markgraf Christian ihre Wiedererrichtung an. Ab 1715 durfte die Stadt jährlich vier Ross- und Viehmärkte sowie zehn „gemeine“ Viehmärkte abhalten. Im Jahr 1605 vernichtete ein durch Nachlässigkeit entstandener großer Stadtbrand 137 von 251 Häusern, 1621 folgte ein weiterer großer Stadtbrand, dem auch das Rathaus auf dem Marktplatz zum Opfer fiel. Anfang des 17. Jahrhunderts wurde die erste städtische Wasserleitung gebaut. Die Quellfassung wurde 1611 fertiggestellt, das Wasser floss in hölzernen Rohren vom Oberen Quellhof beim Röhrensee in zunächst vier Brunnen der Stadt. Beim großen Stadtbrand des Jahres 1621 ging die Bayreuther Schützenordnung aus der Mitte des 15. Jahrhunderts verloren. 1623 trat eine neue Schützenordnung in Kraft; in jenem Jahr wurde mit der Schützengilde der älteste Bürgerverein der Stadt ins Leben gerufen. Durch Plünderungen in der Endphase des Dreißigjährigen Kriegs, der die Stadt um nahezu 30 Prozent entvölkerte, hatte Bayreuth schwer zu leiden. Dank der Neutralitätspolitik des Markgrafen Christian hatte es bis 1630 danach ausgesehen, als könne das Fürstentum aus dem Kriegsgeschehen herausgehalten werden. Nach dem Eingreifen der Schweden schloss er sich 1631 dem protestantischen Lager an; den Umstand, dass Bayreuth für die Kaiserlichen nun Feindesland war, bekam die Stadt in den folgenden drei Jahren mit äußerster Härte zu spüren. Am 20. September 1632 wurde sie auf Befehl Wallensteins besetzt, geplündert und gebrandschatzt. 1633 ließ der bayerische General Johann von Werth die Vororte niederbrennen, 1634 beschossen die Truppen des Generals von der Wahl Bayreuth mit Kanonen. Im Jahr darauf schloss sich der Markgraf dem Prager Frieden an, fortan war die Stadt jedoch für Schweden und Franzosen feindliches Gebiet. Durchzüge, Stationierungen und Einquartierungen deren Truppen belasteten die Einwohner. Erst 1642 kehrte Markgraf Christian mit seiner Hofhaltung nach Bayreuth zurück. In den 1680er Jahren begann Markgraf Christian Ernst, Hugenotten als Religionsflüchtlinge in sein Land zu holen. Ab 1686 kamen, vor allem aus Südfrankreich, Handwerker und Gewerbetreibende nach Bayreuth und gründeten dort in jenem Jahr die erste französisch-reformierte Kirchengemeinde. 18. Jahrhundert – Kulturelle Blüte zur Zeit der Markgrafen. Anfang des 18. Jahrhunderts wurde die – 1945 zerstörte – Mainkaserne errichtet. Christian Ernsts Nachfolger, der Erbprinz und spätere Markgraf Georg Wilhelm, begann 1701 mit der Anlage der damals selbstständigen Stadt Sankt Georgen am See (heutiger Stadtteil St. Georgen, 1811 nach Bayreuth eingemeindet), mit dem sogenannten Ordensschloss, einem Rathaus, einem Gefängnis und einer kleinen Kaserne. Er ließ den dortigen Brandenburger Weiher vergrößern, auf dem er Seeschlachten inszenieren ließ. 1705 stiftete er den Orden der Aufrichtigkeit (ordre de la sincérité), der 1734 in Roter-Adler-Orden umbenannt wurde, und ließ die Ordenskirche erbauen, die 1711 vollendet wurde. 1716 wurde in St. Georgen eine fürstliche Fayencemanufaktur eingerichtet. Auch das erste Schloss im Park der Eremitage wurde in dieser Zeit von Markgraf Georg Wilhelm (1715–1719) errichtet. Als Ersatz für das 1440 in der Mitte des Marktplatzes erbaute und bei einem der Stadtbrände zerstörte Rathaus erwarb der Stadtrat 1721 das Palais der Baronin Sponheim (das heutige Alte Rathaus). 1729 ließ Markgraf Georg Friedrich Karl die Fleischbänke am Marktplatz abreißen und für 3000 Gulden 35 neue Bänke an der Außenseite der Stadtmauer, westlich des Mühltürleins, errichten. Im Jahr 1735 wurde durch eine private Stiftung ein Altenheim, das sogenannte Gravenreuther Stift, in St. Georgen gegründet. Die Kosten für das Gebäude überschritten zwar die Mittel der Stiftung, jedoch sprang hierfür Markgraf Friedrich ein. Einen Höhepunkt der Stadtgeschichte erlebte Bayreuth in der Regierungszeit (1735–1763) des Markgrafenpaares Friedrich und Wilhelmine, die auch als „Lieblingsschwester Friedrichs des Großen“ bezeichnet wird. Unter der städtebaulichen Gesamtplanung Johann Friedrich Graels, der 1736 als Baudirektor von Bayreuth gerufen wurde, begann eine ausgreifende Baulust das Gesicht der Residenzstadt zu verändern. Eine Verordnung das 1735 eingerichteten Hofbauamts gewährte allen große Vergünstigungen, die „nach einem vorher examinierten Ris zu bauen gesonnen, um dadurch der Stadt eine Zierde zu geben“ waren. Die alten finsteren Torhäuser wurden abgerissen, da sie den Verkehr behinderten und verteidigungstechnisch veraltet waren. Auch die Stadtmauern wurden an einigen Stellen überbaut. Nach dem Tod Graels im Jahr 1740 berief Wilhelmine den in Paris ausgebildeten Architekten Joseph Saint-Pierre an den Bayreuther Hof. 1743 verpflichtete Markgraf Friedrich den Kartografen Johann Adam Riediger als Ingenieurhauptmann; dessen erster Auftrag war die Erarbeitung eines Plans der Residenzstadt Bayreuth und deren Umgebung, den er 1745 unter dem Titel „Carte spéciale de la résidence de Bareuth“ vorlegte. Heute wird diese erhalten gebliebene Karte als Riediger-Plan bezeichnet. In den folgenden Jahren entstanden unter Leitung der Hofarchitekten Joseph Saint-Pierre und Carl von Gontard zahlreiche repräsentative Bauten und Anlagen: das Markgräfliche Opernhaus als reich ausgestattetes Barocktheater (1744–1748), die Umgestaltung und Erweiterung der Eremitage mit dem Bau des Neuen Eremitage-Schlosses mit Sonnentempel (1749–1753), der Bau des Neuen (Stadt-)Schlosses mit Hofgarten (ab 1753), nachdem das Alte Schloss durch Unachtsamkeit des Markgrafen ausgebrannt war, sowie die prächtige Stadterweiterung in der heutigen Friedrichstraße. Es entstand eine eigenständige Variante des Rokoko, das sogenannte Bayreuther Rokoko, das vor allem die Innenarchitektur der erwähnten Bauten prägte. Markgraf Friedrich hielt sein Fürstentum aus den zu dieser Zeit wütenden Kriegen seines Schwagers Friedrichs des Großen erfolgreich heraus und bescherte dadurch dem Fränkischen Reichskreis eine Friedenszeit. 1742 kam es zur Gründung der Friedrichs-Akademie, die 1743 zur Universität erhoben, jedoch wegen der ablehnenden Haltung der Bevölkerung nach schweren Ausschreitungen noch im selben Jahr nach Erlangen verlegt wurde. Dort besteht sie als Universität bis heute. Von 1756 bis 1763 bestand in Bayreuth auch eine Akademie der freien Künste und Wissenschaften, die durch die Italienreise des Markgrafenpaares initiiert war. Die Katholiken erhielten das Recht, ein Oratorium einzurichten, und auch jüdische Familien siedelten sich wieder an. 1760 wurde die Synagoge und 1787 der jüdische Friedhof eingeweiht. Die Markgräfin Wilhelmine starb 1758. Markgraf Friedrich heiratete zwar noch einmal, diese Ehe bestand aber nur kurz und blieb ohne Nachkommen. Nach dem Tod Friedrichs im Jahr 1763 wanderten viele Künstler und Kunsthandwerker nach Berlin bzw. Potsdam ab, um für den preußischen König Friedrich den Großen zu arbeiten, denn der Nachfolger Markgraf Friedrichs, Markgraf Friedrich Christian, hatte wenig Verständnis für die Kunst. Es fehlten ihm aber auch die Mittel, denn der aufwendige Lebensstil des Vorgängers, die Bauten und die Gehälter für die meist ausländischen Künstler hatten viel Geld verschlungen. So war der Hofstaat, der unter Georg Friedrich Karl rund 140 Personen umfasst hatte, bis zum Ende der Regierung des Markgrafen Friedrich auf ca. 600 Beschäftigte angewachsen. 1769 stand das Fürstentum kurz vor dem Bankrott. 1769 folgte auf den kinderlosen Friedrich Christian Markgraf Karl Alexander aus der Ansbacher Linie der fränkischen Hohenzollern. Bayreuth sank zu einer Nebenresidenz ab. Karl Alexander residierte weiterhin in Ansbach und kam nur selten nach Bayreuth. Um seine hohen Schulden begleichen zu können, stellte der Markgraf den Engländern im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg zwei Regimenter, eine Artillerieabteilung und eine Jägerkompanie zur Verfügung. Mehr als 2300 Männer aus seinen Bayreuther und Ansbacher Territorien wurden unter Androhung standrechtlicher Todesurteile zum Kriegsdienst in den Dreizehn Kolonien gezwungen, nur 1379 kehrten zurück. 1788 verlieh Karl Alexander erneut 1500 Soldaten, die für die Generalstaaten der Niederlande auf Java kämpfen mussten. 1775 wurde der Brandenburger Weiher in St. Georgen trockengelegt. Nach dem Verzicht des letzten Markgrafen Karl Alexander auf die Fürstentümer Ansbach und Bayreuth am 2. Dezember 1791 wurden seine Gebiete preußische Provinz. Der preußische Minister Karl August Freiherr von Hardenberg übernahm ab Anfang 1792 die Verwaltung. Im März 1792 wurde ein Füsilierbataillon von Halle nach Bayreuth verlegt, das damit preußische Garnisonsstadt wurde. Als königlicher Beauftragter für das Bergwesen der beiden Fürstentümer kam in jenem Jahr Alexander von Humboldt in die Stadt, wo er – mit Unterbrechungen – bis 1796 lebte. Nach dem Vorbild englischer Gentlemen’s Clubs wurde 1796 die „Ressource“ gegründet, deren Mitglieder sich im obersten Stock des Rathauses zu Gesprächen, Lektüre und Spielen trafen. Nach Streitigkeiten innerhalb der eigenen Reihen gründeten 54 Mitglieder 1803 eine neue Gesellschaft mit dem Namen „Harmonie“. 1805 erwarb diese das von Gontard erbaute Palais d’Adhémar am Schloßberglein, das in der Folge als Harmoniegebäude bezeichnet wurde. Im Mai 1800 traten erstmals Bayreuther Arbeiter in den Ausstand: Maurer und Zimmergesellen streikten in jener Zeit allgemeiner Teuerung gegen die als zu niedrig empfundene angebotene Lohnerhöhung auf nur 21 statt der geforderten 30 Kreuzer. 19. Jahrhundert – Das Fürstentum Bayreuth wird bayerisch. Die Herrschaft der Hohenzollern über das Fürstentum Kulmbach-Bayreuth endete im Jahre 1806 nach der Niederlage Preußens gegen das napoleonische Frankreich. Als Preußen im Sommer 1806 Frankreich den Krieg erklärte, war das Fürstentum nahezu schutzlos Napoleon und dessen bayerischen Verbündeten ausgeliefert. Am 7. Oktober besetzte Marschall Soult, über die Dürschnitz kommend, mit 30 000 Mann die Stadt. Am 8. Oktober erschien Marschall Ney mit 18 000 Soldaten, tags darauf marschierte die erste bayerische Division ein. Zwangseinquartierungen, Requirierungen, Plünderungen und gewaltsame Übergriffe versetzten die Bevölkerung in Angst und Schrecken. Mit Etienne Le Grand de Mercey erhielt die Stadt einen Militärgouverneur, der mit harter Hand durchgriff. Während der französischen Besetzung von 1806 bis 1810 galt Bayreuth als Provinz des französischen Kaiserreichs und musste hohe Kriegskontributionen zahlen. Gefordert wurden 2,5 Millionen Franc „in möglichst kurzer Zeit“. Ab dem 14. November 1806 stand das Fürstentum unter der Verwaltung des Comte Camille de Tournon, der eine ausführliche Bestandsaufnahme des damaligen Fürstentums Bayreuth verfasste. Er bezeichnete Bayreuth als „eine der hübschesten Städte Deutschlands“. Im Juni 1809 wurde die Stadt von österreichischen Truppen besetzt, die den Franzosen im Juli aber wieder weichen mussten. Am 30. Juni 1810 übergab die französische Armee das ehemalige Fürstentum an das mittlerweile zum Königreich aufgestiegene Bayern, das es für 15 Millionen Franc von Napoleon Bonaparte gekauft hatte. Damals zählte Bayreuth etwa 12.000 Einwohner. Seitens der Bevölkerung wurde der politische Übergang an Bayern keineswegs mit Jubel aufgenommen. Hoffnung auf mehr Freiheit und Gleichheit hegten die Bürger der Stadt nicht. Noch war Napoleon auf der Höhe seiner Macht und der bayerische König sein Verbündeter. Bayreuth wurde Kreishauptstadt des bayerischen Mainkreises, der später in den Obermainkreis überging und 1837 in Regierungsbezirk Oberfranken umbenannt wurde. Die bisher protestantische Schlosskirche wurde katholisch und das Oratorium profaniert. Mit der Übernahme durch die Bayern wurde die Stadt bayerische Garnison. Als Infanteriekaserne diente zunächst die 1945 zerstörte Mainkaserne, die Kavallerie war am Geißmarkt untergebracht. Mitte des 19. Jahrhunderts waren in der 15.000 Einwohner zählenden Stadt 5000 Soldaten stationiert. Vor der folgenden Jahrhundertwende wurde mit dem Bau des Kasernenviertels am südlichen Stadtrand begonnen und die Truppen wurden bis 1903 dorthin verlegt. Napoleon Bonaparte kam mit seiner Gemahlin Maria Louise am 15. Mai 1812 in die Stadt. Von der Bevölkerung wurde er ohne Jubel begrüßt, das Vorhaben eines ortsansässigen Kaufmanns, ihn in die Luft zu sprengen, schlug fehl. 1810 wurden in der Stadt 561 Juden gezählt. Im Geist der Aufklärung hatte die markgräfliche Politik im 18. Jahrhundert dafür gesorgt, dass sich die jüdische Bevölkerung Bayreuths leidlich sicher fühlen konnte. Das bayerische Judenedikt des Jahres 1813 verbesserte ihre rechtliche Stellung. 1814 besuchte mit Sigismund Kohn erstmals ein jüdisches Kind das örtliche Gymnasium. Der Bayreuther Koppel Herz studierte ab 1835 Medizin, 1854 wurde ihm jedoch die Habilitation zunächst verweigert. Erst 1869 wurde er als erster Jude ordentlicher Professor in Bayern. Nach der Aufhebung des Zunftzwangs im Jahr 1868 konnten die Juden, die bislang vorwiegend als Händler tätig waren, auch handwerkliche Berufe ergreifen. Durch die kurze preußische Herrschaft und die französische Besetzung hatte Bayreuth eine schlechte Ausgangslage für die aufkommende Industrialisierung, die in der ganzen Region eher verspätet eintrat, was unter anderem auch an der Konkurrenz anderer Regionen lag. Ein Vorteil Bayreuths war die günstige Lage an verschiedenen Fernstraßen. Auch der Anschluss an die Eisenbahn 1853 brachte eine positive Entwicklung mit sich, wenngleich aus Bayreuth nie eine bedeutende Industriestadt wurde. 1855 gab es in der Stadt erstmals ein Schaufenster, 1866 nannte das Bayreuther Tagblatt die noch immer nicht gepflasterte Jägerstraße (heutige Bahnhofstraße) als verkehrsreichste Straße der Stadt „über alle Beschreibung erbärmlich“. Das erste Unternehmen in Bayreuth war ab 1834/35 die Zuckerfabrik Theodor Schmidts im Stadtteil Sankt Georgen. Am wichtigsten war für Bayreuth jedoch die Textilindustrie. Sophian Kolb gründete 1846 die erste mechanische Flachsspinnerei, 1853 entstand die Mechanische Baumwollspinnerei. 1894 eröffnete Friedrich Christian Bayerlein einen Betrieb, zudem gründeten Carl Schüller und Otto Rose 1889 die Neue Baumwollspinnerei. Bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein bleiben die Spinnereien das industrielle Standbein der Stadt. Zu den 33 Fabriken, die 1889 gezählt wurden, gehörten aber auch eine Möbelfabrik mit 300 Beschäftigten, eine Ofenfabrik mit 100 Arbeitern und mit der Firma Steingraeber Bayerns größte Pianoforte-Fabrik. 1825 wurden die Zünfte in Gewerbevereine umgewandelt und verloren viele ihrer Privilegien. 1868 brachte das Gesetz über das Gewerbewesen schließlich volle Gewerbefreiheit. In der Folge entstanden freie Handwerker-Innungen, so 1878 die Bayreuther Fleischer-Innung. Bis Ende 1869 waren die Metzger gezwungen, ihre Ware zu festgesetzten Preisen an den Fleischbänken zu verkaufen. Im November 1870 zeigte erstmals ein Metzgermeister die Absicht an, in seinem Haus in der Ziegelgasse (heutige Badstraße) „ein eigenes Locale“ einzurichten, und bald darauf eröffneten weitere Metzger eigene Läden. Eine besondere Stellung nimmt in Bayreuth bis heute die Bierbrauerei ein. Für lange Zeit hatten vor allem die Bäcker das Brauen übernommen; 1860 gründeten Bäcker die Genossenschaftsbrauerei Bürger-Bräu und brauten gemeinsam in einem Kommunbrauhaus an der Erlanger Straße. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden zunehmend industrielle Brauereien, wie die 1872 gegründete Bierbrauerei AG und die 1887 eröffnete Brauerei der Gebrüder Maisel, die bis heute die beiden wichtigsten Brauereien in Bayreuth sind. 1852 wurde im Alten Schloss eine Königlich Bayerische Telegraphenstation eingerichtet, die die Stadt mit Bamberg verband. 1859 wurde sie in das 1945 zerstörte alte Bahnhofsgebäude verlegt, 1874 dann in die Maximilianstraße 80. Der Fabrikbesitzer Sophian Kolb erhielt 1870 eine erste private Telefonleitung zum Bahnhof. 1891 ging das örtliche Fernsprechnetz mit anfangs 35 Abonnenten in Betrieb. Eine Fernsprechverbindung mit Nürnberg wurde 1892 und mit München zwei Jahre später in Betrieb genommen. Anfang des 20. Jahrhunderts waren bereits 250 „Sprechstellen“ im Stadtgebiet an die „Stadtfernsprecheinrichtung“ angeschlossen und wurden von den „Fräulein vom Amt“ verbunden. In den Jahren 1852/1853 wurde neben der Ziegelhütte südlich des Hofgartens von einer Aktiengesellschaft eine Gasfabrik errichtet. Sie verarbeitete zunächst Holz und ab 1864 Steinkohle. 1890 wurde die Anlage von der Stadt übernommen. Nach dem Anschluss an die Ferngasversorgung wurde das Gaswerk Anfang März 1965 stillgelegt und im Oktober jenes Jahres abgebaut. Bereits in den 1850er Jahren ließ der Magistrat die Fettöl-Laternen über den Straßen durch eine Gasbeleuchtung ersetzen. Am 30. April 1853 wurden die ersten Gaslaternen der Stadt angezündet. Auf der „Henkersau“ am Mistelbach wurde am 13. September 1855 erstmals ein zum Tode Verurteilter mit der Guillotine statt durch Köpfen mit dem Schwert hingerichtet. Bei der Erschließung Bayerns durch die Eisenbahn wurde die Hauptlinie von Nürnberg nach Hof (Ludwig-Süd-Nord-Bahn) an Bayreuth vorbeigelegt, sie führt über Lichtenfels, Kulmbach und Neuenmarkt-Wirsberg nach Hof. Anschluss an das Schienennetz erhielt Bayreuth erst 1853, als die auf Kosten der Stadt Bayreuth errichtete Pachtbahn (von Neuenmarkt) eingeweiht wurde. Ihr folgten 1863 die Ostbahn (von Weiden), 1877 die Fichtelgebirgsbahn von Nürnberg und 1896 die Lokalbahn nach Warmensteinach. Mit dem Bau eines soliden Stationsgebäudes wurde erst im August 1856 begonnen, fast drei Jahre nach der Eröffnung der Bahn. Bis 1879 erfolgte der Bau des heutigen Empfangsgebäudes. Das alte Gebäude wurde bis zu seiner Zerstörung im April 1945 unter anderem von der Königlich Bayerischen Post weitergenutzt. Im Verlauf des Deutschen Kriegs wurde beim nahen Ort Seybothenreuth ein Bataillon des bayerischen Leib-Regiments von preußischen Truppen geschlagen. Damit geriet Bayreuth im Sommer 1866 vorübergehend wieder unter preußische Herrschaft, was Teilen der Bevölkerung und der örtlichen Tageszeitung offenkundig nicht deutlich genug missfiel. Magistrat und Gemeindebevollmächtigte hatten anschließend Mühe mit der Schadensbegrenzung und versicherten ihrer „Majestät“, die Vertreter und Bewohner der Stadt seien „in keinem Augenblick vom Wege der Ehre und der Pflicht“ abgewichen. Um die als wankelmütig gescholtenen Bayreuther Untertanen wieder fester an die Krone Bayerns zu binden, stattete Ludwig II. im November 1866 der Stadt einen dreitägigen Besuch ab. Am 17. April 1870 besuchte Richard Wagner Bayreuth, weil er vom markgräflichen Opernhaus gelesen hatte, dessen große, vor allem aber tiefe Bühne ihm für seine Werke passend schien. Allerdings konnte der Orchestergraben die große Anzahl der Musiker beispielsweise beim "Ring des Nibelungen" nicht fassen, und auch das Ambiente des Zuschauerraums erschien für das von ihm propagierte „Kunstwerk der Zukunft“ unpassend. Deshalb trug er sich mit dem Gedanken, in Bayreuth ein eigenes Festspielhaus zu errichten. Die Stadt unterstützte ihn in seinem Vorhaben und stellte ihm ein Grundstück zur Verfügung, eine unbebaute Fläche außerhalb der Stadt zwischen Bahnhof und Hoher Warte, den Grünen Hügel. Gleichzeitig erwarb Wagner ein Grundstück am Hofgarten zum Bau seines Wohnhauses, Haus Wahnfried. Am 22. Mai 1872 wurde der Grundstein für das Festspielhaus gelegt, das am 13. August 1876 feierlich eröffnet wurde (siehe Bayreuther Festspiele) – was Bayreuth zur ersten Festspielstadt Europas machte. Planung und Bauleitung lagen in den Händen des Leipziger Architekten Otto Brückwald, der sich schon beim Bau von Theatern in Leipzig und Altenburg einen Namen gemacht hatte. In den 1840er Jahren hatte der Jean-Paul-Verein eine „Kinderrettungsanstalt“ gegründet, in der um 1860 etwa 35 Kinder „dem materiellen und sittlichen Elend entzogen“ wurden. Die Stiftung des Magistratsrat Christoph Friedrich Leers schuf die materielle Basis für ein Waisenhaus. Die Anfang 1859 ins Leben gerufene Initiative Bayreuther Damen zur Unterstützung „verschämter Hausarmer“ zählte Ende jenes Jahres bereits über 600 Mitstreiterinnen. In jener Zeit blühte das Vereinswesen auf, vom "Musik-Dilettantenverein" über den "Polytechnischen Verein für naturwissenschaftlich Wißbegierige" bis zum "Leichenverein der Livree-Dienerschaft" wurden viele Neigungen abgedeckt. 1861 entstand der Turnverein, der 1864 bereits über 400 Mitglieder zählte und eine erste Feuerwehr ins Leben rief. 1863 wurde der Bayreuther Arbeiterverein, der zunächst keine politischen Ziele formulierte, gegründet, um die „geistige Bildung und sittliche Kräftigung“ seiner Mitglieder „in christlichem Sinne fruchtbar“ zu machen. Die sozial Schwachen jener Zeit meldeten sich nur selten und in unterwürfiger Sprache zu Wort. Um 1870 schlossen sich dann die Tischler, Maurer, Steinhauer und Schneider zu Fachvereinen mit gewerkschaftlichem Kampfcharakter zusammen. Im Mai 1871 konnten die Schneidergesellen eine Lohnsteigerung von 25 % aushandeln. Otto von Bismarcks repressives Sozialistengesetz schränkte ab 1878 den Aktionsradius der Bayreuther Proletarier wieder stark ein. Selbst die Arbeiterliedertafel wurde zum politischen Verein erklärt und aufgelöst. 1885 wurde unter dem Namen „Verein zur Erzielung volkstümlicher Wahlen“ ein Wahlverein der SPD gegründet. Dessen Mitglieder wurden schon wegen harmloser Äußerungen wie dem Zitieren von Bibelversen ins Gefängnis gesteckt. Bei der Reichstagswahl des Jahres 1890 erhielt im Stadtgebiet mit dem Landgerichtsrat Heinrich Stoll von der Deutsch-freisinnigen Partei erstmals ein von den Sozialdemokraten unterstützter Kandidat die Mehrheit der Stimmen. Nur die konservativ eingestellte Bevölkerung der Dörfer rettete im Wahlkreis Oberfranken 2 das Reichstagsmandat des Wagner-Intimus Friedrich Feustel. Nicht besser erging es 1903 dem SPD-Kandidaten Karl Hugel, der sich in der Stadt mit großem Vorsprung durchsetzte (im Stadtteil Altstadt 84 % Stimmanteil) und die Wahl dennoch verlor. Am 1. Mai 1890 legten die Weber der Mechanischen Baumwoll-Spinnerei die Arbeit nieder und zogen „in geschlossenen Haufen“ durch die Stadt. Nach den vielen Jahren Bismarckscher Repression wurde damit erstmals der im Vorjahr in Paris ausgerufene „Weltkampftag“ des Proletariats in Bayreuth begangen. 1895 wurde Bismarck die Ehrenbürgerwürde der Stadt verliehen. Der Bayreuther Schlossermeister August Hensel erhielt bei der Weltausstellung in Wien des Jahres 1873 für eine von ihm entwickelte Nähmaschine eine Goldmedaille. Im Jahr 1876 wurde an der Mainkaserne das erste öffentliche Pissoir der Stadt errichtet. Das erste öffentliche Toilettenhaus auch für Frauen wurde erst 1911 am Luitpoldplatz eröffnet. Die erste elektrische Straßenbeleuchtung wurde versuchsweise 1887 und dauerhaft 1893 installiert. Den Strom lieferte das Pumpwerk im C’est-bon-Tal am südlichen Ende des Röhrensees. 1894 verbot die Stadt das Schlittschuhlaufen auf öffentlichen Straßen. Im Januar 1896 klagte die Lokalpresse, dass die Jugend diese Vorschrift nicht ernst nähme und „unbekümmert“ Passanten umremple. Der Fahrradhändler Conrad Hensel bot 1896 erstmals einen Radfahrkurs für Damen an, wogegen zahlreiche sittliche und gesundheitliche Bedenken vorgebracht wurden. Im November 1899 wurde das großstädtisch anmutende Kaufhaus Friedmann (1939 abgerissen) an der unteren Opernstraße eröffnet. 1894 schrieb das Bayreuther Tagblatt über den teilweise gesundheitsgefährdenden Zustand der Arbeiterwohnungen (von der Zeitung als „wahre Diphtherie-Höhlen“ bezeichnet) sowie deren eklatanten Mangel. Am 8. April 1894 gründeten Arbeiter der Rose’schen Zuckerfabrik eine Konsumgenossenschaft, die nach wenigen Wochen bereits 240 Mitglieder zählte. Angesichts der neuen, unberechenbaren Konkurrenz warnten örtliche Kaufleute in der Tageszeitung „eindringlich“ vor dieser „überflüssigen“ Initiative. Erste Streiks hatten die Arbeitgeber mit Druck und Drohgebärden noch schnell im Griff. So mussten im Juli 1896 Streikende der Ofenfabrik Seiler unter demütigenden Umständen den Rückzug antreten und erklären, sich nie wieder einem Fachverein (d. h. einer Gewerkschaft) anzuschließen. Der „Hauptagitator und dessen Helfershelfer“ wurden entlassen. Am 14. März 1897 konstituierte sich das Bayreuther Gewerkschaftskartell, was im Rathaus Alarmstimmung auslöste. Bürgermeister Theodor von Muncker veranlasste, dass das Kartell „in unauffälliger Weise“ überwacht wurde. 20. Jahrhundert. Bis zum Ende der Weimarer Republik (1900–1933). Zwischen 1840 und 1900 hatte sich die Einwohnerzahl auf über 27.000 verdoppelt. Das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts brachte der Stadt mehr Streiks als je zuvor oder danach. Die Arbeiter kämpften um eine gerechte Entlohnung und den Achtstundentag. Das Gewerkschaftskartell forderte 1900 eine Anhebung des ortsüblichen Tageslohns von 1,50 auf 2,50 Mark, was der Magistrat kompromisslos ablehnte. Um gegen die immer stärker werdende Gewerkschaftsbewegung besser gewappnet zu sein, gründeten 25 Bauunternehmer im Mai 1902 einen Arbeitgeberverband, der zwei Monate später auf alle Gewerbe in Bayreuth und Umgebung ausgedehnt wurde. 1905 organisierten sich die örtlichen Hauseigentümer und stellten eine Schwarze Liste säumiger Mieter auf. In jenen Jahren wurde die Zentralhalle im Stadtteil Kreuz für viele Jahre gemeinsames Aktionspodium von Sozialdemokraten und Gewerkschaftern. Obwohl die Sozialdemokraten eine Mehrheit hinter sich hatten, blieben aufgrund des Gemeindewahlrechts, das die Arbeiter weitgehend vom kommunalen politischen Wirken ausschloss, die Gremien in konservativer Hand und waren selten zu Konzessionen bereit. Im Jahr 1900 wurde Leopold Casselmann zum rechtskundigen Bürgermeister gewählt, 1907 erhielt er den Titel Oberbürgermeister. Der erzkonservative Politiker der Nationalliberalen Partei, der die Stadt bis 1919 regierte, galt als Todfeind der Sozialdemokratie. Im Herbst 1901 wurden in der Schulstraße das städtische Arbeitsamt und eine Wärmehalle eröffnet. Am 1. April 1902 konnte die seit 1890 in Bayreuth angesiedelte Versicherungsanstalt für die Invalidenversicherung (spätere LVA) von bei der Kreisregierung angemieteten Räumen in ein repräsentatives Gebäude an der Leopoldstraße umziehen. 1903 erschien die erste Ausgabe der örtlichen SPD-Zeitung Fränkische Volkstribüne, am 31. August jenes Jahres wurde die stadtbildprägende Wohnungsbaugenossenschaft Bauverein gegründet. Pfingsten 1904 fand im Stadtteil Kreuz das 6. Bayerische Arbeiter-Sängerbundfest mit weit über fünftausend Besuchern statt. Am 1. Mai 1910 gab es am Mainflecklein erstmals eine machtvolle Maikundgebung der Bayreuther Arbeiterschaft. Im selben Jahr riefen die Gewerkschaften, nach der Erhöhung des Bierpreises von zehn auf elf Pfennig für das Seidla, zu einem Bierstreik auf, der sich über mehrere Monate hinzog. 1912 wurde mit Karl Hugel erstmals ein Bayreuther Sozialdemokrat in den Reichstag gewählt. Der Eintritt in das neue Jahrhundert war mit einigen Neuerungen der modernen Technik, aber auch im gesellschaftlichen Bereich, verbunden. Im Februar 1900 spielte in der Zentralhalle erstmals eine Damenkapelle. Am 7. März jenes Jahres wurde der „Verein Frauenarbeit“ eingetragen, der sich um die Nöte der Arbeiterfrauen kümmerte. Im Juli 1904 machte mit Elsa Großmann eine erste Bayreutherin das Abitur. Zu den Neuerungen des ersten Jahrzehnts gehörte auch das Damenbad, eine Schwimmanstalt an der Badstraße. 1910 wurde der 1. FC Bayreuth gegründet; 1912 gab es bereits vier weitere Fußballvereine, darunter den Arbeiterverein „Pfeil“ sowie den Verein „Wittelsbach“ mit königstreuen Mitgliedern. Bürgertum und Arbeiter gingen auch beim Radfahren und Turnen getrennte Wege. Im Juli 1900 brachte der Fahrradhändler Conrad Hensel das erste Auto nach Bayreuth und erhielt eine Fahrerlaubnis. Genau zwei Jahre später beschloss der Stadtrat das erste Tempolimit: zwölf Kilometer in der Stunde, in der Festspielzeit noch weniger. Im August 1905 verunglückte mit dem Brauereibesitzer Glenk erstmals ein Autofahrer schwer. Die Motorisierung erfolgte jedoch langsam, noch Anfang der 1920er Jahre reichten die Kraftfahrzeugkennzeichen II H 1 bis 69 aus. Ebenfalls 1900 entstand an der Herzogmühle ein erstes städtisches Elektrizitätswerk, am 20. Dezember 1909 ging dann ein Neubau am heutigen Berliner Platz in Betrieb. Im Juli 1907 kam erstmals ein von zwei Pferden gezogener „Kehrichtwagen“ als Vorgänger der modernen Müllabfuhr zum Einsatz, einheitliche Müllkübel wurden eingeführt. Im selben Jahr entstand das repräsentative Gebäude der Königlichen Filialbank (seit 2013 Iwalewahaus) an der Stelle der alten, 1903 abgebrannten „Münzmühle“. 1908 wurde als „Theater lebender Fotographien“ mit dem „Central“ am Josephsplatz der erste Kinosaal eröffnet. Am Vormittag des 30. Mai 1909 überflog Ferdinand von Zeppelin mit einem Luftschiff die Stadt, was an jenem Pfingstsonntag die Menschen aus den Kirchen trieb und Begeisterungsstürme hervorrief. Bereits am 3. Juni wurde eine Straße nach Zeppelin benannt und jener bei einem Besuch in der Stadt zwei Tage später gefeiert. Im Juli 1912 wurde auf dem Exerzierplatz im Süden der Stadt erstmals eine Flugschau veranstaltet. 1904 gingen die Nebenbahn nach Hollfeld und 1909 die Lokalbahn über Thurnau nach Kulmbach in Betrieb. Im Mai 1905 wurde im Stadtteil Kreuz das Städtische Krankenhaus eröffnet, das das düstere alte Spital an der Dammallee ersetzte. Der 620.000 Mark teuere Bau wies mit elektrischer Beleuchtung, einer Niederdruckdampfheizung und motorbetriebener Ventilation bislang ungekannten Komfort auf. Erstmals Wasser aus dem Fichtelgebirge brachte eine 1908 in Betrieb genommene Leitung. In den Jahren 1914/15 wurde der Hauptarm „Altbach“ des Roten Mains auf einem Teilabschnitt begradigt und verbreitert, nachdem Gebiete längs des Flusses bei einem Hochwasser im Jahr 1909 überschwemmt worden waren. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg erlebte Bayreuth eine wirtschaftliche Blüte. 1910 existierten in der Stadt 128 Kolonialwarenläden, 55 Obst- und Gemüsehandlungen und 14 Delikatessengeschäfte. Die zahlreichen Textilgeschäfte waren eine Domäne der jüdischen Kaufleute. Mit Kriegsbeginn wurden am 1. August 1914 die Richard-Wagner-Festspiele nach nur acht Aufführungen abgebrochen. Bayreuths sozialdemokratische Zeitung "Fränkische Volkstribüne" wurde noch im selben Monat auf militärische Anordnung hin verboten. Am 27. August wurde der erste Soldat aus Bayreuth als „gefallen“ gemeldet. Bei Kriegsende zählte man 3387 tote Soldaten des Bayreuther 7. Infanterieregiments, hinzu kamen knapp 7000 Verwundete. Im Herbst 1914 kamen die ersten französischen Soldaten als Kriegsgefangene in die Stadt. Unweit des Studentenwalds im Bayreuther Süden wurde für ihre Unterbringung ein Gefangenenlager errichtet, das zeitweise mehr als 1000 Personen beherbergte. 1915 konnte die Stadt, nach dem Tod der Herzogsgattin Emilie von Meyernberg, deren am Luitpoldplatz gelegenes Wohnhaus erwerben. Für 120.000 Mark funktionierte sie das von Carl von Gontard erbaute Reitzenstein-Palais zum Neuen Rathaus um und bezog es Ende 1916. Angesichts der sich verschlechternden Versorgungslage wurde im Oktober 1916 in der Münzgasse eine städtische Volksküche eingerichtet. Nach dem Kriegsende 1918 übernahmen in Bayreuth kurz die Arbeiter- und Soldatenräte die Macht. Am 17. Februar 1919 kam es zum sogenannten Speckputsch, der unblutig verlief: Zwei Tage lang belagerte eine zeitweise tausendköpfige Menge das Rathaus und die Zeitung, besetzte den Bahnhof, die Post und das Telegrafenamt. Ab 1902 setzte ein sich allmählich verschärfender Antisemitismus ein. Bereits 1919 kam es in der Stadt zu völkischem Rumoren, ein erstes Kesseltreiben gegen die jüdischen Mitbürger begann. Am 7. Januar 1920 wurde bei einer Versammlung des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes erstmals das Hakenkreuz gezeigt. Oberbürgermeister Albert Preu warnte in jenem Monat vor der Bedrohung des öffentlichen Friedens durch „die Angriffe gegen das Judentum, welche teils offen, teils in Klebezetteln fast tagtäglich“ erfolgten. Am 30. September 1923 fand in Bayreuth ein völkisch-nationalistischer Deutscher Tag mit über 5000 Teilnehmern (ca. 15 % der Einwohnerzahl Bayreuths) statt. Unter den Gästen befanden sich u. a. der Oberbürgermeister sowie Siegfried und Winifred Wagner, die Adolf Hitler, den Hauptredner in Bayreuth, in die Villa Wahnfried einluden, wo er auch den ortsansässigen Schwiegersohn Richard Wagners, den antisemitischen Rassentheoretiker und Schriftsteller Houston Stewart Chamberlain, kennenlernte. Auch der spätere NSDAP-Gauleiter der Bayerischen Ostmark Hans Schemm traf an diesem Tag Hitler zum ersten Mal. Bei den ersten Festspielen seit 1914 wurde 1924 am Festspielhaus statt Schwarz-Rot-Gold die schwarz-weiß-rote Fahne der Monarchie gehisst. Bei der Stadtratswahl im Dezember jenes Jahres erhielten die „Vaterländischen“ der Einheitsliste Schwarz-Weiß-Rot 18, die SPD nur 12 Sitze. Als im Februar 1925 der erste Reichspräsident der Weimarer Republik, der Sozialdemokrat Friedrich Ebert, starb, verweigerte die konservative Stadtratsmehrheit gegen den Willen des Oberbürgermeisters Preu die Trauerbeflaggung. Noch prägten konfessionelle Gräben das Zusammenleben: 1928 wurde die Freigabe des Marktplatzes für die katholische Fronleichnamsprozession erst durch staatliche Intervention erzwungen. Unmittelbar nach der Gründung der Weimarer Republik wurde im Oktober 1919 die Bayreuther Volkshochschule gegründet. Ihr erstes Domizil fand sie im Hotel Schwarzes Ross in der Ludwigstraße. Einen Anfangsbestand von 560 Bänden verzeichnete im Juni 1921 die neue Stadtbücherei. Sie wurde zunächst im Alten Rathaus untergebracht, aus Platzgründen 1928 in das Haus Friedrichstraße 19 verlegt und Mitte der 1930er Jahre in die Friedrichstraße 18 umquartiert. Die spätere Stadträtin Jula Dittmar war ab 1920 die erste Ärztin der Stadt. Für ihre Tätigkeit als Schulärztin wurde sie damals schlechter bezahlt als ihre männlichen Kollegen, was der ärztliche Bezirksverein als „standesunwürdig“ erachtete. Statt ihren Lohn anzugleichen verzichtete der Stadtrat daraufhin auf Dittmars Dienste. Im Sommer 1924 wurde in der Maximilianstraße die erste Tankstelle („Dapolinpumpe“) eröffnet, bis dahin musste das Benzin von Drogerien bezogen werden. Ende der 1920er Jahre waren in der Stadt knapp 400 Kraftfahrzeuge registriert. Im Steinachtal bei Laineck ging 1926 ein erster Flugplatz mit planmäßigen Zwischenhalten der Fluglinie Nürnberg-Leipzig in Betrieb. 1927 wurde am Stuckberg die erste Jugendherberge ihrer Bestimmung übergeben. 1922 entstand mit der „neuen Schwimmanstalt“ der Vorläufer des heutigen Kreuzsteinbads, 1929 wurde mit dem Stadtbad das städtische Hallenschwimmbad eröffnet. 1924 wurde die Bayreuther Ortsgruppe des demokratischen Verbands Reichsbanner gegründet, die anfangs rund 200 Mitglieder zählte. Am 8. Dezember 1929 zogen die Nationalsozialisten mit neun Stadträten erstmals ins Rathaus ein. NS-Gauleiter Hans Schemm, laut der Tageszeitung "Fränkische Volkstribüne" „in Bayreuth und Umgebung so berüchtigt wie saures Bier“, suchte die permanente Konfrontation. Nach dem Urteil des konservativen Oberbürgermeisters Albert Preu schaffte er „eine Atmosphäre, die im Allgemeininteresse schädlich, für die Einwohner jüdischen Glaubens beunruhigend und peinlich“ sei. Der demokratiefeindliche Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten führte in Bayreuth ab 1929 Pflichtappelle, Turnstunden und Schießübungen durch. 1933 zählte er in der Stadt mindestens 600 Mitglieder, hinzu kamen 125 „vaterländisch gesinnte“ Frauen des ihm angeschlossenen Bunds Königin Luise. Anfang der 1930er Jahre standen sich Sozialdemokraten und Nationalsozialisten unversöhnlich gegenüber. Im September 1930 kam es im Rathaus zu einem „wüsten Handgemenge“, allmählich bekamen die Nazis die Stadt immer fester in ihren Griff. Nach der Reichstagswahl vom 14. September 1930 hob der örtliche Reichsbanner auch in Bayreuth die Eiserne Front aus der Taufe; am 17.  Februar 1932 kamen weit über 1000 Männer in den Sonnensaal, wo ihnen Friedrich Puchta das Gelöbnis abnahm, „Blut und Leben einzusetzen für die demokratische Republik und für die Freiheit des deutschen Volkes“. Bei der Reichspräsidentenwahl am 10. April 1932 lag Hitler in Bayreuth klar vor Hindenburg, im Juli 1932 versammelten die Nazis beim „Gautag“ auf der Unteren Au 30.000 Menschen. Bei der Reichstagswahl am 6. November 1932 erhielt die NSDAP in Bayreuth 46,7 Prozent der Stimmen (33,1 Prozent im Reichsdurchschnitt); bei der vorangegangenen Wahl im Juli jenes Jahres hatte sie in der Stadt sogar 52,6 Prozent erreicht. Als Folge der Weltwirtschaftskrise zum Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre musste die Stadt ihre Ausgaben auf das Notwendigste beschränken. Die Bautätigkeit ging in der allgemeinen Rezession stark zurück. Im Jahr 1930 wurden – bei 1341 vorgemerkten Wohnungssuchenden – nur noch 47 neue Wohnungen errichtet, davon mehr als die Hälfte von der Wohnungsbaugenossenschaft Bauverein. 1932 wurden die Regierungsbezirke Ober- und Mittelfranken zusammengelegt und als Sitz der Regierung Ansbach festgelegt. Bayreuth bekam als kleinen Ausgleich die fusionierten Landesversicherungsanstalten Ober- und Mittelfranken. Im Gegensatz zu der Zusammenlegung der Regierung wurde diese Fusion nie rückgängig gemacht. Die Zeit des Nationalsozialismus (1933–1945). Anfang 1933 hatten die Nazi-Oberen, allen voran Hans Schemm, den Boden für die „braune Revolution“ in Bayreuth schon lange bereitet. Der „mit allen Wassern gewaschene“ Demagoge Schemm war am Aufstieg der NSDAP in der Stadt, die ein „Kraftzentrum des Nationalsozialismus“ werden sollte, maßgeblich beteiligt. Der 1927 in Bayreuth gestorbene Chamberlain, den Joseph Goebbels als „Vater unseres Geistes“ und „bahnbrechenden Wegbereiter“ bezeichnete, hatte Hitler als „Lichtgestalt“ und „gottgesandten Retter“ begrüßt. Hitler seinerseits schrieb an Siegfried Wagner: „Das geistige Schwert, mit dem wir heute fechten, wurde in Bayreuth geschmiedet“. 1933 wurde Bayreuth Gauhauptstadt des NS-Gaus Bayerische Ostmark (ab 1943 Gau Bayreuth) und sollte dementsprechend zu einem Gauforum ausgebaut werden. Erster Gauleiter war Hans Schemm, zugleich bayerischer Kultusminister und Reichswalter des Nationalsozialistischen Lehrerbundes, der 1936 seinen Sitz im Haus der Deutschen Erziehung in Bayreuth erhielt. Am 31. Januar 1933, dem Tag nach der „Machtergreifung“ Hitlers, feierten tausende Einwohner das Ereignis. NSDAP, SA und Stahlhelm marschierten gemeinsam zum Neuen Rathaus (Reitzensteinpalais), von dessen Balkon Schemm und Stahlhelm-Führer Edmund Alexander Fürst von Wrede sprachen. Von sozialistischer Seite wurde am 6. Februar eine große Gegendemonstration organisiert, die in einer Straßenschlacht mit den neuen Machthabern endete. Bei der Reichstagswahl des 5. März 1933 erreichte die NSDAP in Bayreuth mehr als 50 Prozent, nur in 5 von 30 Wahlbezirken – Kreuz, Herzoghöhe, Hammerstatt, Burg und Altstadt – gab es noch SPD-Mehrheiten. Am 9. März wurde die SPD-Zeitung Fränkische Volkstribüne verboten, in der folgenden Nacht wurden 21 kommunistische Funktionäre und 28 Sozialdemokraten in „Schutzhaft“ genommen. Im April wurden 105 Bayreuther „Schutzhäftlinge“, darunter zwei am 22. April 1933 ernannte SPD-Stadträte, in das Konzentrationslager Dachau verbracht. Noch vor dem Verbot der SPD zogen sich die Sozialdemokraten in jenem Monat aus der sinnlos gewordenen Rathausarbeit zurück. Der neue Oberbürgermeister Karl Schlumprecht, Nachfolger des abgesetzten Albert Preu, erschien in SS-Uniform vor den Stadtverordneten. Schon vor Ostern 1933 kam es zum ersten Boykott jüdischer Geschäfte. Im selben Jahr, bereits zwei Jahre vor der Verabschiedung des „Blutschutzgesetzes“, verhinderte der Oberbürgermeister die Eheschließung des jüdischen Kaufmanns Justin Steinhäuser mit einer „arischen“ Frau. Im September 1933 wurde das Logenhaus der Freimaurer von den Nationalsozialisten geplündert und 1935 enteignet, das Inventar – darunter die Bibliothek mit über 10.000 Bänden – ging verloren. Andererseits gelang es dem mittlerweile verbotenen Kommunistischen Jugendverband Deutschlands (KJVD) in jenem Herbst noch, in Bayreuth eine reichsweite Sitzung abzuhalten. Der von den Nazis pervertierten Maifeier des Jahres 1933 gab der evangelische Oberkirchenrat Karl Prieser den kirchlichen Segen. Bei der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern wurde am folgenden 4. Mai Hans Meiser in Bayreuth zum Landesbischof gekürt. Teile der Bayreuther Protestanten, die in ihrer großen Mehrheit den Nationalsozialismus zunächst begrüßt hatten, rebellierten ab 1934 gegen die verordnete Reichskirche der Deutschen Christen. Bis Juni 1935 trugen sich 8500 Bürger in die Listen der Bekenntnisfront ein. Nicht zuletzt infolge seiner Funktion als Gauhauptstadt stieg die Zahl der Einwohner in den 1930er Jahren ungewöhnlich stark an. Von 1933 bis 1944 erhöhte sie sich um 14.000 auf über 53.000 Personen, ein Wachstum um mehr als ein Viertel innerhalb von elf Jahren. Größere neue Mietwohnungskomplexe entstanden u. a. in der unteren Herzoghöhe, am Mainflecklein und auf der „Insel“ in Sankt Georgen. Für „verdiente“ Parteimitglieder wurden Siedlungen errichtet, die aus Einzel-, Doppel- oder Reihenhäusern mit Gärten bestanden: 1936 die „SA-Siedlung Birken“ und die „Hans-Schemm-Gartenstadt“, 1938 die „Dankopfersiedlung Roter Hügel“. 1935 wurde die Rotmainhalle als Viehauktionshalle fertiggestellt und der mittwochs und samstags stattfindende Wochenmarkt vom Marktplatz dorthin verlegt. 1936 wurde das Haus der Deutschen Erziehung eingeweiht, von 1938 bis 1942 entstand das Winifred-Wagner-Krankenhaus (heutige Klinik Hohe Warte). Im Juli 1937 erfolgte mit der Vollendung des Abschnitts Lanzendorf–Bayreuth der Anschluss an die neue Reichsautobahn, die heutige Bundesautobahn 9. Die Deutsche Post betrieb in der Stadt seit 1936 öffentlichen Personenverkehr mit Autobussen. Mit dessen Übernahme durch das Elektrizitätswerk entstand 1938 der erste städtische Verkehrsbetrieb. Die erste Stadtbuslinie führte von Sankt Georgen über den Sternplatz zum Bahnhof Altstadt. Im März 1943 wurden die Busse für den Betrieb mit Leuchtgas umgerüstet. Am 17. Juli 1936 begann in Spanisch-Marokko der Staatsstreich des Militärs gegen die Zweite Spanische Republik und damit der Spanische Bürgerkrieg. Der Putschgeneral Francisco Franco schickte drei Abgesandte nach Deutschland, die um zehn Flugzeuge für den Transport seiner Truppen nach Spanien bitten sollten. Sie trafen am Abend des 25. Juli in Bayreuth ein, wo Hitler (erstmals) im Siegfried-Wagner-Haus residierte. Der „Führer“ bewilligte, nach einem Besuch der Wagner-Oper Siegfried, kurz vor Mitternacht sogar 20 Maschinen des Typs Ju 52 („Unternehmen Feuerzauber“). Diese Entscheidung von weltpolitischer Tragweite ermöglichte es Franco, seine Truppen über das Meer auf das spanische Festland zu verlegen. Im März 1937 durchkreuzte Oberbürgermeister Schlumprecht die Pläne des Gauleiters Wächtler und bestellte den angesehenen Internisten Hermann Koerber zum ärztlichen Direktor des Städtischen Krankenhauses. In der Folge hatte Bayreuth innerhalb eines knappen Jahres nacheinander vier Oberbürgermeister. Um der Rache des wütenden Gauleiters zu entgehen, wechselte Schlumprecht kurzfristig als Ministerialdirektor nach München; sein Nachfolger Otto Schmidt, vormals Oberbürgermeister von Coburg, hielt es nur neun Monate in Bayreuth aus. Nach dessen fluchtartigem Abgang nach Norddeutschland kürte sich Wächtler im Mai 1938 selbst zum Stadtoberhaupt. Bald darauf stellte Hitler Wächtler diesbezüglich persönlich zur Rede, und Friedrich Kempfler wurde am 1. Juli Oberbürgermeister. Koerber wurde erstmals im April 1937 inhaftiert, von Februar bis November 1938 zum zweiten Mal gefangengehalten und anschließend zwangspensioniert. Nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft wirkte er bis 1955 erneut als ärztlicher Direktor des Städtischen Krankenhauses. Am 24. Juli 1938 traf ein Sonderzug mit mehreren hundert Sudetendeutschen, die dem in Bayreuth anwesenden „Führer“ huldigen wollten, aus der Tschechoslowakei ein. Die Ankömmlinge zogen zum Teil in langen Kolonnen durch die Stadt; am Sternplatz stürzten sie sich – laut Oberbürgermeister Kempfler „in heller Begeisterung“ – auf Hitlers offenen Wagen. Jener, dessen Begleiter nur mit Mühe körperliche Berührungen verhindern konnten, empfing am Abend, während einer Pause der Wagner-Oper Parsifal, im Festspielhaus Abgesandte aus dem Egerland. Vor dem Festspielhaus spielten sich währenddessen „unvorstellbare Jubelszenen“ ab. Zwei Monate später, als die politische Krise um das Sudetenland eskaliert war, kamen tausende Flüchtlinge von dort nach Bayreuth. In der Pogromnacht vom 9. November 1938 wurde die Synagoge der jüdischen Gemeinde in der Münzgasse geschändet und geplündert, aber wegen der Nähe zum Opernhaus nicht niedergebrannt. Nicht wenige Einwohner wohnten dem Treiben der Nazis wohlwollend bei, die aus ihren Betten gezerrten und in den Viehstallungen des Schlachthofs an der Rotmainhalle zusammengetriebenen Juden wurden beschimpft, angeschrien und geschlagen. Im Innern der Synagoge Bayreuth, die derzeit wieder von einer jüdischen Gemeinde als Gotteshaus genutzt wird, erinnert eine Gedenktafel neben dem Thora-Schrein an die Verfolgung und Ermordung der Juden im Holocaust, die mindestens 145 jüdischen Bürgern das Leben kostete. Im Februar 1939 meldete die örtliche Industrie- und Handelskammer: „Kammerbezirk bald Judenfrei“. 101 Betriebe seien „entjudet“ und 220 „liquidiert“ worden. Am 27. November 1941 wurden die ersten jüdischen Mitbürger deportiert, am 12. Januar 1942 folgte die zweite Deportation. Im Januar 1939 wurde im Stadtgebiet der Pflasterzoll, von dem Personenkraftwagen bereits seit 1905 ausgenommen waren, endgültig abgeschafft. Im Sommer jenes Jahres wurde das Kaufhaus Erwege (ehemaliges Kaufhaus Friedmann, 1899 von einem jüdischen Kaufmann errichtet) auf Hitlers Wunsch abgerissen. Bereits in den letzten Auggusttagen wurden Lebensmittelkarten eingeführt, nur Eier, Mehl, Brot und Kartoffeln blieben frei erhältlich. Am 1. September 1939 um 5.05 Uhr überschritten die Soldaten des Bayreuther Infanterieregiments 42 die polnische Grenze. Vom ersten Kriegstag an wurde die totale Verdunkelung aller Straßen, Plätze, Gebäude und Fahrzeuge angeordnet und streng überwacht. Die Räumung von Orten an der französischen Grenze führte zum Zustrom von mehr als 5000 Menschen aus dem Saarland, denen die Bayreuther Bevölkerung Quartiere zur Verfügung stellen musste. Der Krieg machte Bayreuth zur Lazarettstadt, in der zeitweise mehr als 3000 Verwundete versorgt wurden. Hitler besuchte die Stadt letztmals im Juli 1940. 1944 wurden Dekorationsstücke in Schaufenstern verboten, um nicht „unerfüllbare Kaufwünsche zu erwecken“. In jenem Jahr wurde das umfangreiche Netz von Kellern und Gängen unterhalb der Stadt erfasst und auch in der Höhenlage und Überschichtung genau vermessen. Teile der sechs größeren Kellersysteme, die in den vergangenen Jahrhunderten vor allem als Lagerräume für Lebensmittel, Bier und Eis gedient hatten, wurden für den Schutz der Bevölkerung vor Fliegerbomben gebraucht und zu Luftschutzbunkern ausgebaut. Gegen Kriegsende war die Bayreuther Polizei geschwächt, da sie Beamte zum Aufbau der deutschen Polizeistation im polnischen Jarocin abgegeben hatte. Als Ersatz wurde die sog. Stadtwacht geschaffen: Einheiten von nicht wehrfähigen Männern, die lediglich ein Gewehr und eine Armbinde erhalten hatten, übernahmen die Ordnungsfunktionen und marschierten in Dreierreihen durch die Stadt. Im März 1945 wurden die städtischen Grünflächen in Gemüseland umgewandelt. Der spätere Bundeskanzler Ludwig Erhard verlegte in jener Zeit sein Institut für Konjunkturforschung von Nürnberg nach Bayreuth. Am 5., 8. und 11. April wurde die Stadt durch alliiertes Bombardement teilweise zerstört. Während des Zweiten Weltkriegs befand sich in der Stadt eine Außenstelle des Konzentrationslagers Flossenbürg, in der Häftlinge an physikalischen Experimenten für die V2 teilnehmen mussten. Wieland Wagner, der Enkel des Komponisten Richard Wagner, war dort von September 1944 bis April 1945 stellvertretender ziviler Leiter. In den örtlichen Spinnereien und Rüstungsbetrieben sowie in der Landwirtschaft waren sogenannte Fremdarbeiter zur Zwangsarbeit eingesetzt. Im September 1944 waren das rund 4200 Männer und 2400 Frauen, die vorwiegend aus Polen und der Sowjetunion stammten. 80 Entbindungen von Zwangsarbeiterinnen sind im Stadtarchiv dokumentiert, mindestens 36 ihrer Babys verstarben. Von den im Ort ansässigen Sinti kamen die Brüder Max und Wilhelm Rose im Konzentrationslager Dachau ums Leben, ihre Asche wurde den Eltern in Kartons zugeschickt. Die sechzehnjährige Bayreuther Sintezza Hulda Siebert wurde im März 1945 im Würzburger Gestapogefängnis erschlagen. Ein „arisches“ Mädchen, das eine Beziehung mit einem Sinti eingegangen war und ihn als Margarete Rose 1934 heiratete, wurde vor der Eheschließung zwangsweise sterilisiert. Nach der Zerstörung des Gebäudes in Berlin am 3. Februar 1945 wurde beschlossen, den Volksgerichtshof nach Potsdam auszulagern und die für Hoch- und Landesverrat zuständigen Senate nach Bayreuth zu verlegen. Seit Herbst 1944 hatte der Volksgerichtshof bereits mehrmals im Justizpalast in Bayreuth getagt. Am 6. Februar 1945 begann deshalb der Abtransport von insgesamt rund 270 politischen Gefangenen aus Berlin. Sie trafen am 17. Februar in der Strafanstalt Bayreuth St. Georgen ein und sollten, angesichts der anrückenden US-amerikanischen Truppen, am 14. April 1945 erschossen werden. Die Köpenickiade des als amerikanischer Offizier verkleideten, wenige Tage vorher von dort entflohenen politischen Häftlings Karl Ruth rettete ihnen – darunter Ewald Naujoks und dem späteren Bundestagspräsidenten Eugen Gerstenmaier – in letzter Minute das Leben. An jenem Tag wurde die Stadt kampflos an die Amerikaner übergeben. Die architektonischen Umgestaltungsmaßnahmen durch die Nationalsozialisten. Gemäß der nationalsozialistischen Ideologie wurde die Stadt Bayreuth als Kultplatz der deutschen Musik und „Kulturwallfahrtsstätte“ bevorzugt. Ursache hierfür waren Hitlers enge Beziehungen zur Familie Wagner und seine Vorliebe für Richard Wagner als „deutschnationales Genie“. Die nach der Machtübernahme einsetzende Errichtung von Repräsentationsbauten in deutschen Städten wirkte sich auch auf Bayreuth aus, dessen Entwicklung zu einem gesellschaftspolitischen Mittelpunkt eine immer opulentere Konzeption der Bauvorhaben bedingte. Somit ermöglichte der Erlass vom 17. Februar 1939 die Durchführung städtebaulicher Maßnahmen gemäß Hitlers Wunschvorstellungen, unter anderem durch den in Bayreuth ansässigen Parteiarchitekten Hans Reissinger. Dieser übernahm die Gesamtkonzeption und die Anlage eines „Gauforums“, dessen Bau die Beseitigung von rund einhundert historischen Gebäuden, unter anderem von Teilen des Neuen Schlosses, bedeutet hätte. Trotz des Erlasses eines Enteignungsgesetzes am 24. Juni 1939 wurden nur wenige der Planungen in die Praxis umgesetzt, was dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs knapp zwei Monate später zuzuschreiben ist. Ein Teil dieser Vorhaben wurde indes realisiert. Die Markgräfliche Reithalle wurde zur Ludwig-Siebert-Festhalle ausgebaut; des Weiteren entstanden u. a. am Luitpoldplatz das Haus der Deutschen Erziehung und das Haus der deutschen Kurzschrift. Nicht durchgeführt wurde die Umgestaltung des Richard-Wagner-Festspielhauses im Stil einer antiken Akropolis. Zerstörung Bayreuths im Zweiten Weltkrieg. Bayreuth blieb bis April 1945 von Luftangriffen weitgehend verschont. Lediglich am frühen Morgen des 13. Januar 1941 trafen ein oder zwei Flugzeuge der Royal Air Force mit einigen Bomben Gebäude der drei großen örtlichen Spinnereien. Seit Januar 1944 war in Laineck, Meyernreuth und dem Stadtteil Altstadt eine schwere Flak-Abteilung mit vier Batterien vom Kaliber 8,8 cm eingesetzt. Diese sollte vornehmlich den Hauptbahnhof und das Eisenwerk Hensel schützen. Ende 1944 wurde die Abteilung zum Schutz von Hydrierwerken nach Brüx verlegt, damit war die Stadt den alliierten Bombern schutzlos ausgeliefert. Am 4. April 1945 erschien ihr Name in den Planungen der Alliierten: Bayreuth wurde in die Liste der zu zerstörenden Eisenbahnzentren aufgenommen. Zudem war ihnen nicht entgangen, dass in den drei großen Spinnereien der Stadt Rüstungsproduktion stattfand. Am 5. April 1945 traf ein erster massiver Luftangriff die Stadt. 39 Bomber der US 18th Air Force warfen in fünf Wellen etwa 55 Tonnen Sprengstoff über Bayreuth ab, während der zweiten Welle kamen am Wilhelmsplatz zahlreiche Ersthelfer ums Leben. 88 Tote und 67 Verwundete waren an jenem Tag zu beklagen. Schon nach diesem ersten Angriff waren der Bereich um den Hauptbahnhof, die Mechanische Baumwoll-Spinnerei, das Viertel um den Wilhelmsplatz, Teile der Lisztstraße sowie Teile der Jean-Paul-Straße zerstört. Am Sonntag, den 8. April 1945, folgte durch 51 US-Maschinen der zweite große Angriff auf die Stadt. Er traf u. a. den Jean-Paul-Platz mit der Ludwig-Siebert-Festhalle (spätere Stadthalle) und zahlreiche Gebäude im Kasernenviertel. Der dritte und schwerste Angriff erfolgte am 11. April 1945, bei dem große Teile der Stadt zerstört wurden: „Schwärzester Tag Bayreuths“. 110 britische Maschinen warfen an einem strahlenden Frühlingsnachmittag 340 Tonnen Spreng- und 17,8 Tonnen Brand- und Leuchtbomben über Bayreuth ab. Die Bilanz dieser Angriffe beläuft sich nach offiziellen Angaben auf 875 Todesopfer, doch werden auch über 1.000 genannt. 36,8 % des Bayreuther Wohnraums wurden völlig zerstört, 2700 Wohnhäuser bzw. 4460 komplett zerstörte Wohnungen. Der Schaden belief sich auf rund 45.000.000 RM. Damit nahm Bayreuth den 5. Platz unter den am stärksten zerstörten Städten Bayerns ein. Der historische Stadtkern war dabei verhältnismäßig glimpflich davongekommen. Beim Einrücken der amerikanischen Soldaten verbrannten die Nazis jedoch im Alten Schloss belastende Dokumente. Das Feuer griff auf das Gebäude und auf die Häuser auf der Nordseite des Marktplatzes über. Wegen des Fehlens einer funktionierenden Feuerwehr und des Mangels an Löschwasser ließ es sich nur durch die Sprengung der Häuser Maximilianstraße 34 und 36 eindämmen. Diesem Brand fiel ein bedeutender Teil der Häuserfront auf der Nordseite zum Opfer. Einnahme der Stadt durch die US-Truppen. Am Morgen des 14. April 1945 rückten amerikanische Einheiten von Altenplos her auf Bayreuth vor. Statt zur offenen Stadt wurde der nahezu unbewaffnete Ort von den Nationalsozialisten zur „Festung“ erklärt. Der deutsche Truppenführer Leutnant Erich Braun, der die Stadt „bis zum Äußersten“ verteidigen sollte, kapitulierte angesichts der Aussichtslosigkeit eines solchen Vorgehens mit seinen Soldaten im Bereich der Hohen Warte. Der während eines Luftangriffs aus dem Zuchthaus Sankt Georgen entflohene politische Häftling Karl Ruth stieß bei Cottenbach auf die Amerikaner und diente ihnen in der Folge als Unterhändler. Deren Drohung, die Stadt im Falle von Widerstand „in Grund und Boden zu schießen“, konnte mit seiner Hilfe abgewendet werden. Aufgrund der Weigerung des im peripheren Stadtteil Sankt Johannis verharrenden deutschen Kampfkommandanten General August Hagl wurde dort jedoch das Neue Schloss der Eremitage durch einen Jagdbomber- und Artillerieangriff zerstört. Als die Übergabeverhandlungen mit Oberbürgermeister Friedrich Kempfler vor dem Abschluss standen, eröffnete die 14. US-Panzerdivision wider die Absprache nochmals das Feuer auf Bayreuth. Erst kurz vor 13 Uhr schwiegen die Waffen endgültig. Die amerikanischen Soldaten rückten von nördlich des Roten Mains in die Stadt ein. Sie verhängten eine Ausgangsbeschränkung, zunächst lediglich vier Stunden am Tag durfte die Bevölkerung die Häuser verlassen. Der Gastronom Wilhelm Kröll wurde, obwohl Kempfler offiziell noch im Amt war, zum kommissarischen Bürgermeister ernannt. Die Weisungen des US-Militärgouverneurs für Bayreuth waren strikt. Der Bevölkerung wurde verboten, bestimmte Straßen zu benutzen, die Stadtgrenze durfte ohne Genehmigung nicht überschritten werden. Die Ausgangszeiten wurden bald auf 7–10 und 15–18 Uhr ausgedehnt. Fotoapparate und Ferngläser waren abzuliefern, Verstöße gegen das Verbot des Waffenbesitzes wurden mit dem Tod bestraft. Privateigentum konnte zur öffentlichen Verwendung beschlagnahmt werden, als Fahrzeuge waren nur Fahrräder und Handwagen gestattet. Von Amerikanern durften keine Waren angenommen werden. Nachkriegszeit, Wiederaufbau (1945–2000). Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gehörte Bayreuth zur Amerikanischen Besatzungszone. Die amerikanische Militärverwaltung richtete DP-Lager zur Unterbringung heimatloser Menschen, so genannter Displaced Persons (DPs), ein. Am 25. Juni 1945 wurden in der Stadt 5038 DPs gezählt, die auf drei Lager (Prinz-Leopold-Camp, Sankt-Georgen-Camp und Flößanger-Camp) verteilt waren. 3833 von ihnen stammten aus Polen, 398 aus der Ukraine, 160 waren Russen und drei Juden. Die Lager wurden von der UNRRA betreut. Mitte Mai 1945 wurde die Ausgangszeit bis 21 Uhr verlängert und die Verdunkelungspflicht aufgehoben. Ab Ende Mai durfte sich die Bevölkerung ab der Stadtgrenze in einer Entfernung von bis zu zwölf Kilometern frei bewegen. Zusammenkünfte von mehr als fünf Personen blieben verboten. Als Hilfskräfte zur Beseitigung von Blindgängern wurden langjährige NSDAP-Mitglieder herangezogen. Anstelle eines Stadtrats wurde am 29. November 1945 ein „Hauptausschuss“ eingesetzt, der Sofortmaßnahmen bezüglich der Lebensmittelversorgung, Wohnraumbewirtschaftung und Trümmerbeseitigung auf Straßen und Plätzen sowie den schrittweisen Aufbau einer neuen Stadtverwaltung beriet. Am 18. Dezember 1945 gab es mit der ersten Nummer der Fränkischen Presse wieder eine Tageszeitung. Das konservative Bayreuther Tagblatt erschien erst am 1. Oktober 1949 wieder. Die erste politische Versammlung der Nachkriegszeit fand am 15. Oktober 1945 statt, Veranstalter war die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD). Am 9. November 1945 wurde der Ortsverband der SPD neu gegründet, am 30. Dezember jener der CSU. Ende Juni 1946 begannen im Zuge der Entnazifizierung die ersten Spruchkammerverfahren. Im Herbst 1948 stellten die drei Bayreuther Spruchkammern ihre Tätigkeit ein; die Spruchkammer I hatte bis dahin 5 Personen als Hauptschuldige, 23 als Belastete, 66 als Minderbelastete und 955 als Mitläufer klassifiziert. Die Wohnungssituation war anfangs sehr schwierig: Ca. 56.000 Einwohner, erheblich mehr als vor Kriegsbeginn, lebten in der Stadt. Diese Zunahme resultierte vor allem aus der hohen Zahl von Flüchtlingen und Heimatvertriebenen. Am 1. November 1947 gab es in Bayreuth 11.101 Flüchtlinge. Da gleichzeitig viele Wohnungen kriegsbedingt zerstört waren, mussten Tausende von Menschen in Notunterkünften leben. Ende 1947 wurden 3706 Evakuierte gezählt, 4800 der 16.000 örtlichen Haushaltungen waren ohne eigene Wohnung. Sogar im Festspielrestaurant neben dem Festspielhaus waren ca. 500 Personen untergebracht. Anfang 1947 wurden in acht Wirtshäusern städtische Wärmestuben eingerichtet. Die Zahl der Displaced Persons in der Stadt betrug noch im Mai 1949 rund 3000 Menschen. Verschärft wurde die Wohnungsnot dadurch, dass die Besatzungsmacht ganze Stadtviertel (Gartenstadt, SA-Siedlung Birken) für sich requirierte. Im August 1945 gründeten 18 jüdische Überlebende des Holocaust in Bayreuth ein erstes jüdisches Informationsbüro. In der Folge entwickelte sich die Stadt rasch zu einer Anlaufstelle für Juden aus dem Osten. Reges jüdisches Leben – kulturell, religiös, sozial und sportlich – entstand; im Dezember 1945 konnten sie im von der Stadt zur Verfügung gestellten Kulturhaus Lisztstraße 12 ihr erstes Chanukka-Fest feiern, mit dem Verein Hapoel Bayreuth hatten sie bald einen eigenen Fußballclub. Bei der einheimischen Bevölkerung der ohnehin überfüllten Trümmerstadt Bayreuth stießen die Einquartierungen von Juden häufig auf Ablehnung. Der Hauptbahnhof wurde 1946 zu einer Drehscheibe für Vertriebene aus dem Sudetenland. Am 25. Januar 1946 kam ein erster Zug mit 1200 Menschen in Bayreuth an, insgesamt waren es allein in jenem Jahr 39.281 Vertriebene in 33 Zügen. Überwiegend wurden sie an ihre Zielorte in den westlichen Besatzungszonen weiterbefördert, zahlreiche blieben aber auch in der Stadt. Im März 1948 wurden in Bayreuth 11.217 Flüchtlinge, darunter 3612 Sudetendeutsche, gezählt. 1950 waren 22 Prozent der Einwohner Flüchtlinge oder Vertriebene. Bis zur Währungsreform des Jahres 1948 entwickelte sich der Wohnungsbau nur zögerlich, die Barackensiedlungen hatten sich kaum geleert. Im Herbst 1948 fehlten noch 4500 Wohnungen, worauf Bayreuth auf Antrag des Stadtrats vom bayerischen Sozialministerium als „Notstandsgebiet“ anerkannt wurde. Dies stellte die Weichen für einen stärkeren Zufluss staatlicher Mittel für öffentliche und genossenschaftliche Bauvorhaben. Gegen das Wohnungselend wurde im April 1949 die Gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft (GEWOG) gegründet. Nach der Währungsreform begann 1948 der Wiederaufbau der zerstörten Häuser auf der Nordseite des Marktplatzes. Auch die Versorgungslage war prekär: Erst im Juli 1947 trafen wieder Schweine im örtlichen Schlachthof ein. Im Mai 1947 begann die Schulspeisung mit täglich 350 kcal pro Schüler. Schuhe waren so gut wie nicht zu erhalten, um das kulturelle Leben war es mit zahlreichen Konzert-Angeboten besser bestellt. Allerdings war mit dem Bali (Bayreuther Lichtspiele) in der Richard-Wagner Straße vorerst nur noch ein Kino vorhanden. 1945 wurden ungefähr 1400 Männer von der Stadtverwaltung für „lebensnotwendige Arbeiten“ (Aufräumarbeiten an zerstörten Gebäuden, Räumung von Straßen) dienstverpflichtet. 1948 waren von anfangs knapp 500.000 m³ Schutt bereits 425.000 m³ weggeräumt: 245.000 m³ davon von der Stadt Bayreuth, 180.000 m³ in Eigenleistung. 1949 galten 80 % der Grundstücke in Bayreuth als „enttrümmert“. Erster Oberbürgermeister nach dem Krieg war der Jurist Joseph Kauper, der bereits im November 1945 bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückte. Als sein Nachfolger wurde von der US-Militärregierung der ehemalige Schlachthofdirektor Oskar Meyer bestellt. Bei der ersten Stadtratswahl am 16. Mai 1946, und erneut bei der zweiten am 5. Mai 1948, wurde die SPD stärkste Kraft. Am 6. Juni 1946 trat der erste demokratisch gewählte Stadtrat der Nachkriegszeit zusammen, am 1. Juli 1948 wurde der Verwaltungsfachmann Hans Rollwagen (SPD) mit 38 von 40 Stimmen zum Stadtoberhaupt gekürt. Auf seinen Antrag hin führte der Stadtrat 1949 einen „Notgroschen“ ein: Besucher von Sportveranstaltungen oder Filmaufführungen mussten pro Eintrittskarte 10 Pfennig zusätzlich zahlen, die für Wohnungsbau und Kultur gedacht waren. Am 30. März 1946 wurde die Sperrzeit für Zivilpersonen aufgehoben, im selben Monat fand eine erste Gedenkfeier für die Opfer des Faschismus mit dem sozialdemokratischen Widerstandskämpfer Oswald Merz statt. Auch das kulturelle Leben kam allmählich wieder in Gang: 1947 wurden im Markgräflichen Opernhaus Mozart-Festspielwochen abgehalten, aus denen sich die Fränkischen Festwochen entwickelten. 1949 wurde erstmals wieder das Festspielhaus bespielt, es gab ein Festkonzert mit den Wiener Philharmonikern unter der Leitung von Hans Knappertsbusch. 1951 fanden die ersten Richard-Wagner-Festspiele nach dem Krieg unter Leitung von Wieland und Wolfgang Wagner statt. Am 15. April 1946 wurde der Stadtbusverkehr, zunächst mit zwei aus Ungarn geliehenen Omnibus-Veteranen, wiederaufgenommen; sie verkehrten im 30-Minuten-Takt über den Markt zwischen Sankt Georgen und dem Bahnhof Altstadt. Die zentrale Omnibushaltestelle auf dem Marktplatz ging 1950 in Betrieb. 1949 wurde Bayreuth wieder Sitz der Regierung von Oberfranken; im November jenes Jahres fand erstmals wieder ein Wochenmarkt in der Rotmainhalle statt, nachdem er vorübergehend zum Dammwäldchen verlegt worden war. Manche Produkte konnten auch nach der Währungsreform nur mit Lebensmittelkarten erworben werden. Die Verdoppelung der Butterration von 125 auf 250 Gramm führte 1949 zu einer Butterknappheit. In der Maximilianstraße 67 eröffnete im April 1950 die genossenschaftlich organisierte Handelskette Konsum das erste Selbstbedienungsgeschäft. Im Juli 1950 wurde die Zuzugsperre nach Bayreuth aufgehoben. Im Mai 1949 wurde im Stadtkern eine zulässige Höchstgeschwindigkeit von 15 mph (24 km/h) verfügt. 1952 wurde das Kfz-Kennzeichen AB (für Amerikanische Besatzungszone) durch BT ersetzt; 1953 wurde am Sternplatz die erste Verkehrsampel der Stadt installiert, im Mai 1957 stellte man vor dem Sparkassenhaus am unteren Markt die ersten Parkuhren auf. Ende März 1956 begann, zunächst in einem Schaufenster der 1914 in Bayreuth gegründeten Bayerischen Elektricitäts-Lieferungs-Gesellschaft AG (BELG), der Fernsehempfang, innerhalb weniger Tage stieg die Zahl der Fernsehgeräte von vier auf 33 Apparate. Kommunalpolitisch war seit 1946 die SPD die führende Kraft, die CSU 1952 mit vier Mandaten nur die sechststärkste Fraktion im Stadtparlament. Bei den Bundestagswahlen befanden sich die Christdemokraten hingegen im Aufwind und eroberten 1957 sogar das Direktmandat. Mit Unterstützung der CSU wurde, als Nachfolger von Hans Rollwagen, 1958 der Verwaltungsfachmann und SPD-Kandidat Hans Walter Wild zum Oberbürgermeister gewählt. Dieses Amt bekleidete er ohne Unterbrechung während der folgenden 30 Jahre. 1955 kehrten die letzten Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion nach Bayreuth zurück. Bei den Stadtratswahlen der Jahre 1946 und 1948 errang die KPD jeweils zwei Mandate, 1952 zog sie nicht mehr in das Stadtparlament ein. Einen Tag nach dem KPD-Verbot wurde am 18. August 1956 deren Büro in der Badstraße geschlossen; im April 1957 wurde bei einem ehemaligen KZ-Häftling Propagandamaterial beschlagnahmt. Bundesweites Aufsehen erregte im Dezember 1967 der Plan der Stadtverwaltung, die beschlagnahmten Schriften verbrennen zu lassen. Die Stadt, die wegen hoher Wahlergebnisse der rechtsextremen NPD ohnehin am Pranger der Medien stand, geriet wegen dieser Bücherverbrennung zusätzlich in die Schlagzeilen. Das Bombeninferno vom April 1945 hatte von der gewachsenen Industrielandschaft Bayreuths wenig übriggelassen. Vor allem durch den Zustrom von Vertriebenen zählte die Stadt dafür plötzlich rund 10.000 Bürger mehr. Deren Innovationsfreude und Kreativität war eine Reihe von Betriebsgründungen zu verdanken; 1949 wurden 125 „Flüchtlingsbetriebe“ registriert. Im September 1956 stellte die Neue Baumwollen-Spinnerei Bayreuth erstmals einen Gastarbeiter ein. Die Stadt, „ein industrieller Spätentwickler mit ungesunder Monostruktur“, erschloss Mitte der 1950er Jahre das Gebiet des trockengelegten Brandenburger Weihers als "Industriegelände". Dort, nahe der Autobahnanschlussstelle Bayreuth-Nord, errichteten 1957 die Firmen British American Tobacco (BAT, im örtlichen Sprachgebrauch „Batberg“) und Grundig Betriebsstätten und nahmen im selben Jahr die Produktion auf. Im Sommer 1958 zählte Grundig bereits 1000 Mitarbeiter, im November jenes Jahres fand die erste Vorlesung an der Pädagogischen Hochschule im heutigen Markgräfin-Wilhelmine-Gymnasium an der Dürschnitz statt. Die externe Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg erhielt 1964 ein neues Gebäude im Stadtteil Roter Hügel. In der Weihnachtszeit 1958 wurde die Innenstadt erstmals festlich illuminiert. Die längs der und quer über die Straßen gespannten Girlanden gelten mit mittlerweile sieben Kilometern Länge (Stand 2018) als die längste weihnachtliche Lichterkette Frankens. Bis in die 1960er Jahre gab es in Bayreuth eine beachtliche Zahl an Bauernhöfen. Mit ihren Huckelkörben und dem obligatorischen Kopftuch („Maichala“) waren die Bäuerinnen einst in der Stadt allgegenwärtig. Die 1960er und 1970er Jahre waren von Lieblosigkeit im Umgang mit dem historischen Stadtbild geprägt, es kam zur Vernichtung großer Teile der alten Bausubstanz. Parteiübergreifend setzte man, bei nur spärlichem Widerspruch seitens der Bevölkerung und weniger Stadträte, auf das Konzept einer modernen, autogerechten Stadt. Dem Wunsch, die „City“ zum Hauptbahnhof hin auszudehnen, fiel bis 1969 das offene Flussbett des Roten Mains zum Opfer. Um der Verkehrssicherheit willen wurden rücksichtslos Bäume gefällt und ganze Alleen geopfert. Erst in den späten 1970er Jahren setzte ein Umdenken ein. Die 1979 erlassene städtische Baumschutzverordnung wurde vom Bund Naturschutz als vorbildlich für Bayern gepriesen. 1960 wurde im Kaufhaus Loher an der Kanalstraße die erste Rolltreppe der Stadt installiert. Im Neuen Schloss wurde das Stadtmuseum eröffnet, das heute als Historisches Museum in der alten Lateinschule am Kirchplatz weiterbesteht. An der Unteren Au ging in jenem Jahr die zentrale Kläranlage in Betrieb, der Schlossturm in den Besitz der katholischen Kirche über. Ab Mai 1962 erhielt die Stadt Trinkwasser aus einem neuen Hochbehälter am Eichelberg, der 1969 durch eine Wasseraufbereitungsanlage ergänzt wurde. Im Mai 1964 wurde auf dem Gelände der vormaligen "Schwimmschule" das Kreuzsteinbad eröffnet, bis Januar 1965 die einstige markgräfliche Reithalle zur "Stadthalle" umgebaut. Der Marktplatz wurde 1965 „autogerecht“ umgestaltet. Im März jenes Jahres erfolgte der Anschluss an das Ferngasnetz, das städtische Gaswerk wurde stillgelegt. 1968 wurden in Sankt Georgen und der Grünewaldstraße die letzten der einst 320 Gaslaternen der Stadt abgebaut. Der verbliebene offene Abschnitt des Mühlkanals entlang der Kanalstraße wurde 1967 gedeckelt, im Juni das Städtische Stadion eröffnet. 1968 wurde an der Stelle des 1966 abgerissenen, eingeschossig erhaltenen Restes des Reitzenstein-Palais am Luitpoldplatz der Neubau der Städtischen Sparkasse errichtet, zwischen der Maximilian- und der Kanalstraße wurde die erste Ladenpassage (heutige Eysserhaus-Passage) eröffnet. Mit Festakten in beiden Städten besiegelten die Stadtoberhäupter von Annecy (Frankreich) und Bayreuth im Sommer 1966 die Partnerschaft der beiden ungleichen Orte: Annecy als Zentrum der Résistance und Bayreuth als ehemalige Hochburg der Nationalsozialisten. Bei der Stadtratswahl im März jenes Jahres hatte die rechtsextreme Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) drei Mandate errungen, bei der Landtagswahl im Herbst 1966 erreichte sie fast 14 Prozent. Die symbolträchtige Wagnerstadt geriet diesbezüglich zunehmend ins Zwielicht und ins Visier der Weltpresse. Der im Februar 1969 in Bayreuth geplante Parteitag der NPD wurde als „Akt der Notwehr“ (Oberbürgermeister Wild) von der Stadt verboten. Erstmals seit 1946 errang bei der Landtagswahl des Jahres 1970 der Kandidat der CSU gegenüber dem der SPD das Direktmandat des Stimmkreises Bayreuth-Stadt und Bayreuth-Land. 1971 beschloss der Bayerische Landtag die Errichtung der Universität Bayreuth, deren Grundstein am 23. März 1974 gelegt wurde. Sie nahm am 3. November 1975 im Mehrzweckgebäude (heute: Geowissenschaften I) ihren Betrieb auf und zählt mittlerweile rund 13.500 Studenten in der Stadt. Am 6. Mai 1972 wurde auf dem Areal um den ehemaligen Altbachplatz das Neue Rathaus eingeweiht. Bis Mitte der 1970er Jahre entstand der weitgehend vierstreifige Stadtkernring, dem besonders in der südwestlichen Innenstadt bedeutende Teile der historischen Bausubstanz zum Opfer fielen. In der unteren Maximilianstraße entstand im Juli 1978 der erste Abschnitt der Fußgängerzone. Bis in die 1970er Jahre hinein regierte Oberbürgermeister Wild nahezu unangefochten die Stadt. Vereinzelte Proteste gegen seine Modernisierungs- und Abrisspläne fegte der Duzfreund von Franz Josef Strauß mühelos hinweg. Bei der Stadtratswahl 1972 erreichte die SPD 23, die CSU 16 und die Bayreuther Gemeinschaft (BG) fünf Sitze, bei der Bundestagswahl holte die SPD das Direktmandat. Nach fast dreißigjähriger Enthaltsamkeit stellte die CSU 1975 erstmals einen eigenen Kandidaten für das Oberbürgermeisteramt auf. Mit knapp 42 Prozent der Stimmen erzielte Ortwin Lowack einen Achtungserfolg. Bei der Stadtratswahl 1978 lag die CSU erstmals mit der SPD gleichauf. Anfang März 1970 machte starker Schneefall viele Straßen und Gehwege unpassierbar, die Stadtverwaltung musste zum Räumen die Bundeswehr um Hilfe bitten. 1971 entstand mit dem nur knapp zwei Jahre lang geöffneten "Life 2000" ein erstes Einkaufszentrum am Stadtrand. Im Mai 1972 ereignete sich auf dem Volksfest der Stadt das bisher folgenschwerste Unglück mit einer Achterbahn seit Ende des Zweiten Weltkriegs: Ein überbesetzter Wagen entgleiste, mehrere Personen wurden herausgeschleudert. Vier Menschen starben, fünf wurden zum Teil schwer verletzt. Mit dem 1. Oktober 1972 verlor die Stadtpolizei ihre Eigenständigkeit und wurde zur Polizeiinspektion Bayreuth-Stadt der Polizei Bayern. Ab 1973 bediente die Fluggesellschaft Ostfriesischer Lufttransport den Bayreuther Flugplatz im Linienverkehr. 1972 wuchs die Stadt durch Eingemeindung der Vororte Oberkonnersreuth und Laineck, 1976 kamen Aichig, Oberpreuschwitz, Seulbitz und Thiergarten hinzu. Der Zugewinn an Fläche betrug insgesamt 29,7 Quadratkilometer; dank der 1955 Neubürger überstieg die Einwohnerzahl am 1. Juli 1976 jene von Bamberg, und Bayreuth wurde vorübergehend Oberfrankens größte Stadt. 1973 begann das Bahnsterben mit der Einstellung der Bahnstrecke nach Thurnau. Im Oktober 1975 wurde die neue Jugendherberge, im Dezember das Kunsteisstadion eröffnet. Das Kommunale Jugendzentrum wurde 1978 im ehemaligen „Heim der Hitler-Jugend“ an der Hindenburgstraße eingerichtet. Im September jenes Jahres wurde in der Innenstadt erstmals das Bayreuther Bürgerfest gefeiert. 1979 verpasste der Fußballverein SpVgg Bayreuth nur knapp den Aufstieg in die Erste Bundesliga. Im Oktober 1979 war Bayreuth Gründungsmitglied des Zweckverbands Müllverwertung Schwandorf. Am 7. Oktober 1982 verließ der erste Müllzug nach Schwandorf die städtische Müllumladestation, wo seither im neu errichteten dortigen Kraftwerk der Bayreuther Haus- und Sperrmüll zur Energieerzeugung verbrannt wird. Im November 1981 wurde in Bayreuth ein Luftrettungsdienst eingerichtet. Der Rettungshubschrauber Christoph 20 versorgt einen Umkreis von 70 km um das örtliche Klinikum. Nach der Kommunalwahl 1984 stellte erstmals die CSU die Mehrheit der Stadträte. In den 1980er Jahren wurde die beschauliche Stadt zunehmend Schauplatz von Demonstrationen. Der NATO-Doppelbeschluss, das Waldsterben, die projektierte Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf und andere Anlässe brachten zahlreiche Menschen auf die Straße. 1989 demonstrierten chinesische Studenten gegen das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens. 1985 wurde die Fußgängerzone um den Marktplatz erweitert, der jedoch die Zentrale Omnibushaltestelle behielt. Im September 1986 wurde Bayreuth an die Fernwasserversorgung Oberfranken angeschlossen. Ebenfalls 1986 wurde das Zweckverbandskrankenhaus auf dem Roten Hügel seiner Bestimmung übergeben, 1987 die Rettungshubschrauberstation und die Oberfrankenhalle eröffnet. 1988 ersetzte die neue Feuerwache die alte Wache am Kirchplatz (ehemalige Lateinschule, seit 1996 Historisches Museum). Für den Bau des 1985 eröffneten Nordrings verlor die Stadt nochmals historische Gebäude. 1987 ging das lokale Radio Mainwelle erstmals auf Sendung. 1988 setzte sich der SPD-Politiker Dieter Mronz gegen Ortwin Lowack bei der Wahl zum neuen Oberbürgermeister durch. Im Januar 1989 schob die Stadt eine kurdische Jesiden-Familie in die Türkei ab, was bundesweite Proteste bei Hilfsorganisationen auslöste. Am Nachmittag des 1. Oktober 1989 trafen mehr als 400 DDR-Bürger – ehemalige Besetzer der Prager Botschaft, die die Tschechoslowakei hatten verlassen dürfen – mit einem Sonderzug der Deutschen Reichsbahn im Hauptbahnhof ein. Nach der Öffnung der innerdeutschen Grenze im November 1989 wurde die Stadt, aufgrund ihrer Nähe zur DDR, von deren Bürgern regelrecht überrannt. Etwa 606.000 Ostdeutsche kamen bis Ende jenes Jahres, vor allem zum Einkaufen, nach Bayreuth; bereits am ersten Wochenende (11./12. November) waren es 25.000. Im Dezember 1990 sangen und tanzten Mitglieder der Sowjetarmee im Großen Haus der Stadthalle und überbrachten so, auf Initiative Michail Gorbatschows hin, eine Friedensbotschaft aus der UdSSR. 1991 versammelte sich anlässlich des Todestags von Rudolf Heß eine große Zahl von Neonazis auf dem Jean-Paul-Platz. In den folgenden Jahren gelang es der Stadt, entsprechende Veranstaltungen zu verhindern. Am 19. Januar 1990 wurde in der Fabrikhalle einer ehemaligen Gardinenweberei an der Justus-Liebig-Straße das Bundesarchiv für Lastenausgleich mit ca. 40 Millionen Akten in Betrieb genommen. Im Oktober 1999 zog es in das ehemalige Städtische Krankenhaus im Stadtteil Kreuz um. Im März 1990 startete ein Modellversuch für die Biomüllabfuhr, an den 10.000 Einwohner angeschlossen waren, im Mai richtete die Stadt ein Amt für Umweltschutz ein. Bei einem Volksentscheid im Februar 1991 votierten die Bayreuther mit 54,99 % für den Gesetzentwurf der Bürgeraktion „Das bessere Müllkonzept“; bayernweit setzte sich mit 51 % jedoch der Gegenentwurf der CSU durch. Auf dem Gelände des Stadtbauhofs ging im Mai 1991 der städtische Recyclinghof in Betrieb. Am 23. März 1992 wurden die in Bayreuth stationierten US-Streitkräfte verabschiedet, im Mai 1992 begann für die abseits der Magistralen gelegene Stadt der schnelle Eisenbahnverkehr mit Neigetechnikzügen zum Fernverkehrsknoten Nürnberg. 1993 wurde Bayreuth per Ministerratsbeschluss als Oberzentrum ausgewiesen. Zur Finanzlage der Stadt äußerte Oberbürgermeister Mronz im September 1994: „Jetzt brechen alle Dämme. Die Handlungsfähigkeit der Stadt wird praktisch auf Null gedreht.“ Umstrukturierungen seitens des Bundes und des Landes hatten die finanziellen Belastungen der Kommunen stark erhöht, was zu einem geschätzten Fehlbetrag von 26,5 Millionen Mark im Stadthaushalt von 1995 führte. Größter Einzelposten war der um 38 % gestiegene Anteil der Kommunen am Solidarpakt, an dem sich Bayreuth mit 13 Millionen Mark zu beteiligen hatte. Die Änderung des Eisenbahnkreuzungsgesetzes gab drei sanierungsbedürftige Bahnbrücken, die von der Bundesregierung geplante Begrenzung der Arbeitslosenhilfe auf zwei Jahre die Versorgung der Langzeitarbeitslosen in die Verantwortung der Stadt. Am 26. Januar 1995 trat nach Niederschlägen und Schneeschmelze der Rote Main über seine Ufer, in manchen Straßen stand das Wasser bis zu 80 cm hoch. Das umstrittene Einkaufszentrum Rotmain-Center an der Stelle des alten Schlachthofs öffnete im September 1997 seine Pforten. 1998 wurde an der unteren Opernstraße der Mühlkanal – mit verändertem Verlauf – geöffnet, 1999 entstanden dort die Schlossterrassen. Ebenfalls 1999 nahm in Seulbitz die Lohengrin Therme den Betrieb auf. Zerstörung historischer Substanz nach 1945. Vieles von dem, was die Bombentage im April 1945 übriggelassen hatten, wurde anschließend zerstört. Das Alte Schloss wurde ein spätes Opfer der Nationalsozialisten, die dort belastendes Material verbrannten. Das Feuer griff auf das Gebäude und die Häuserfront an der Nordseite des Marktplatzes über. Mangels Feuerwehr und Löschwassers konnte es erst auf Anordnung der einrückenden amerikanischen Soldaten durch die Sprengung zweier Häuser eingedämmt werden. Ein schwerer Verlust für die Stadt war der Abriss des Geburtshauses Max Stirners (1970), des historischen Sozialquartiers Burg (erste bayerische Sozialsiedlung des 19. Jahrhunderts) bis 1981 und der verbliebenen Reste des Reitzenstein-Palais. Dem Straßenverkehr wurde in den 1970er Jahren mit dem Bau des Stadtkernrings unter anderem das Ensemble am Anfang der Erlanger Straße, darunter das einzige erhaltene Haus mit sichtbarem Fachwerk (Eck-Schoberth), geopfert. Der Rote Main wurde in seinem im Zentrum bisher sichtbaren Teil weitgehend als Straßen- und Parkplatzfläche gedeckelt (Abriss der Ludwigsbrücke und des Wachhäuschens aus dem 18. Jahrhundert). Für den Bau des neuen Rathauses wurde das idyllische Viertel am Altbachplatz abgerissen, einschließlich des vom ersten Festspieldirigenten und Bayreuther Ehrenbürger Hans Richter bewohnten Richterhauses. Dazu kamen aus heutiger Sicht weitere wenig sinnvolle Abrisse in der Richard-Wagner-Straße („Türkenhaus“, erbaut 1709), am Sternplatz und in der Sophienstraße (Priesterhäuser aus dem 16. Jahrhundert). Am Marktplatz wurden drei der wenigen verbliebenen alten Häuser der Nordseite ab 1962 einem Kaufhausneubau geopfert, und erst kürzlich musste das alte Sparkassengebäude aus dem Jahr 1934 einem umstrittenen Neubau weichen. Am Ort des abgerissenen Stirnerhauses wurde 1971 ein modernes Gebäude errichtet. Der Text der einst von John Henry Mackay initiierten und dort wieder angebrachten Gedenktafel, wonach es sich um das Geburtshaus Max Stirners handle, trifft deshalb nicht mehr zu und ist somit irreführend. Bernd Mayer, 2011 gestorbener Historiker und Ehrenbürger der Stadt, hat die Zerstörungen der Nachkriegszeit als umfassender als jene während des Zweiten Weltkriegs bezeichnet. 21. Jahrhundert. Jeweils im September der Jahre 2000 bis 2009 gab es im Markgräflichen Opernhaus das Musikfestival Bayreuther Barock. 2019 beschloss der Stadtrat, ab September 2020 wieder alljährlich stattfindende Bayreuther Barockfestspiele zu unterstützen. 2002 war Bayreuth die erste Stadt in Bayern, in der eine Glasfaserstrecke für schnelles Internet in Betrieb ging. Seit 2005 gehört die Stadt der in jenem Jahr gegründeten Metropolregion Nürnberg an. 2006 stellte mit Michael Hohl erstmals die CSU den Bayreuther Oberbürgermeister. Er amtierte nur sechs Jahre, am 1. Mai 2012 wurde er von Brigitte Merk-Erbe abgelöst. Die Kandidatin der Bayreuther Gemeinschaft (BG) wurde mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gewählt. Mit Thomas Ebersberger ist seit Mai 2020 erneut ein Politiker der CSU Oberbürgermeister. 2007 wurde ein Jugendparlament gewählt, bestehend aus zwölf Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren. Ende Oktober wurden die lange geplante neue Zentrale Omnibushaltestelle (ZOH) und das damit verbundene Funktionsgebäude am neugeschaffenen Hohenzollernplatz eingeweiht und in Betrieb genommen. Am 26. Juli 2011 gab das Israel Chamber Orchestra in der Stadthalle das erste Gastspiel eines israelischen Orchesters in Bayreuth. In jenem Jahr lehnte der Stadtrat einen Antrag zur Verlegung von Stolpersteinen ab. Am 30. Juni 2012 erhob die UNESCO das Markgräfliche Opernhaus zum Weltkulturerbe. 2013 fand in Bayreuth unter dem Motto „Franken im Ohr“ der zentrale Festakt zum 8. Tag der Franken statt; im Garten der Synagoge wurde die Mikwe eingeweiht, bis 2018 dann das Gebäude umfassend saniert. 2016 war Bayreuth Ausrichter der bayerischen Landesgartenschau. Weitreichende Folgen hatte ein Rohrbruch am Morgen des 23. Februar 2019, woraufhin die Wasserzufuhr aus dem Hochbehälter Hohe Warte unterbrochen wurde. Rund die Hälfte der Bayreuther Haushalte, insbesondere im Norden und Westen der Stadt, waren teilweise bis in den späten Nachmittag hinein unversorgt. Für die Silvesternacht beschloss der Stadtrat im Oktober 2019, zum Schutz der historischen Gebäude den Gebrauch von Feuerwerkskörpern in der Innenstadt zu verbieten. Infolge der COVID-19-Pandemie wurden die Richard-Wagner-Festspiele des Jahres 2020 abgesagt. Die seit 2008 abschnittsweise vorgenommene Umgestaltung der Fußgängerzone Maximilianstraße wurde mit dem letzten Abschnitt zwischen der Kanzleistraße und dem Sternplatz im November 2020 vollendet. Archäologische Untersuchungen brachten zutage, dass das dort nach 1730 abgebrochene „Obere Tor“ eine aus drei Toren mit zwei dazwischenliegenden Gräben bestehende Torburg war. Zur Förderung der Biodiversität entwickelte das Stadtgartenamt im Jahr 2020 ein insektenfreundliches Mähkonzept für städtische Grünflächen und Straßenbegleitflächen. Am 30. Juli 2022 fand in Bayreuth erstmals eine Veranstaltung anlässlich des Christopher Street Days statt. Auf einen Demonstrationszug durch die Innenstadt folgte eine Kundgebung vor dem Alten Schloss. Bevölkerung. Einwohnerentwicklung. Bayreuth hatte im Mittelalter und in der frühen Neuzeit nur wenige tausend Einwohner. Die Bevölkerung wuchs nur langsam und ging durch die zahlreichen Kriege, Seuchen und Hungersnöte immer wieder zurück. So zerstörten 1430 die Hussiten die Stadt; 1602 starben bei einem Ausbruch der Pest rund 1000 Bewohner. Auch während des Dreißigjährigen Krieges (1618–1648) musste die Stadt Einwohnerverluste hinnehmen. Erst mit dem Beginn der Industrialisierung im 19. Jahrhundert beschleunigte sich das Bevölkerungswachstum. Lebten 1818 10.000 Menschen in der Stadt, waren es 1900 bereits rund 30.000. Bis 1939 stieg die Bevölkerungszahl – auch aufgrund der Eingemeindung mehrerer Orte am 1. April 1939 – auf 45.000. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg brachten die vielen Flüchtlinge und Vertriebenen aus den deutschen Ostgebieten einen weiteren Zuwachs um 11.000 Personen auf 56.000 Einwohner bis Oktober 1946. Auch danach stieg die Bevölkerungszahl weiter, ab den 1970er-Jahren nicht zuletzt aufgrund der neu gegründeten Universität. Am 30. Juni 2005 betrug die Amtliche Einwohnerzahl für Bayreuth nach Fortschreibung des Bayerischen Landesamtes für Statistik und Datenverarbeitung 74.137 (nur Hauptwohnsitze und nach Abgleich mit den anderen Landesämtern). Davon waren 63,7 Prozent evangelisch und 28,8 Prozent katholisch. 2011 zählte die Stadt Bayreuth ca. 38.000 Haushalte. 50,1 Prozent der Bürger waren evangelisch und 25,8 Prozent katholisch. 24,1 Prozent haben einen anderen Glauben oder sind nicht religiös. Die folgende Übersicht zeigt die Einwohnerzahlen nach dem jeweiligen Gebietsstand. Bis 1818 handelt es sich meist um Schätzungen, danach um Volkszählungsergebnisse (¹) oder amtliche Fortschreibungen des Statistischen Landesamtes. Die Angaben beziehen sich ab 1871 auf die „ortsanwesende Bevölkerung“, ab 1925 auf die Wohnbevölkerung und seit 1987 auf die „Bevölkerung am Ort der Hauptwohnung“. Vor 1871 wurde die Einwohnerzahl nach uneinheitlichen Erhebungsverfahren ermittelt. ¹ Volkszählungsergebnis ² Zensus 2011 Abweichend von den Zahlen des Bayerischen Landesamtes für Statistik und Datenverarbeitung fallen die Erhebungen der Stadt etwas höher aus. So wurden z. B. 74.524 Einwohner für den 31. Oktober 2017 und 75.572 für den 31. Oktober 2018 ermittelt. Bevölkerungsdichte. Im Jahr 2003 betrug die durchschnittliche Einwohnerdichte im Stadtgebiet 1114 Einwohner pro km², wobei die höchste Besiedelungsdichte aller 20 Stadtbezirke die Innenstadt mit 4750 Einwohner pro km² aufwies. Politik. Stadtrat. Der Stadtrat setzt sich aus 44 Stadträten und dem Oberbürgermeister zusammen. Die Wahl zum Stadtrat am 15. März 2020 brachte folgendes Ergebnis für die Sitzverteilung der Stadträte (+/–: Veränderung zur Wahl 2014): BG = Bayreuther Gemeinschaft, JB = Junges Bayreuth, DU = Die Unabhängigen, FL = Frauenliste. Unter den Sitzen der CSU befindet sich der Sitz des Oberbürgermeisters. Der Rat setzt sich nach der Wahl des Jahres 2020 aus 33 Männern und 11 Frauen zusammen, das Durchschnittsalter seiner Mitglieder lag im März 2020 bei 52 Jahren. Ältestes Ratsmitglied wurde mit 69 Jahren Norbert Aas, jüngstes die 24-jährige Louisa Hübner (beide Bündnis 90/Die Grünen). Spätestens seit 1432 bestand der Stadtrat aus zwölf Mitgliedern, dem sogenannten Inneren Rat. Auf Beschluss des Landesherrn waren ihm sechs Mitglieder aus der Bürgergemeinde beigeordnet, die als Äußerer Rat bzw. „sechs von der gemeynde“ bezweichnet wurden. Der Innere Rat bestimmte seine Mitglieder selbst und suchte auch die Kandidaten für den Äußeren Rat aus. Da die Städteordnung von 1430 vorschrieb, dass in jedem Jahr drei Mitglieder des Inneren Rats „feyern“ (ausscheiden oder pausieren) mussten, wurden jene häufig durch solche des Äußeren Rats ersetzt. Auch war es Usus, dass „feyernde“ Mitglieder in den Inneren Rat zurückkehrten. Es entstand eine wenige begüterte Familien umfassende politische Führungsschicht, die sich zudem durch Heiratsbeziehungen in der Regel selbst erhielt. Zur Zeit des Königreichs Bayern existierte auf Gemeindeebene ein Zwei-Kammer-System mit dem Magistrat und dem Kollegium der Gemeindebevollmächtigten. Noch bei der Stadtratswahl des Jahres 1911 durften von den rund 32.000 Einwohnern nur 1800 wählen, da das Wahlrecht das Bürgerrecht voraussetzte. Dieses wurde nur Männern gewährt, die wenigstens 15 Jahre in Bayreuth tätig waren und eine – nicht jedermann zumutbare – Gebühr entrichteten. Arbeiter konnten sich diesen Luxus in der Regel nicht leisten. Der erste demokratisch gewählte Stadtrat trat im Juni 1919 zusammen. Mit 16 von 30 Sitzen setzte sich das konservative Lager gegenüber den Sozialisten durch. Erstmals war mit der Fabrikarbeiterin Christiane Gick von der USPD eine Frau in dem Gremium vertreten. 1929 zog die NSDAP in das Stadtparlament ein. Bei der Wahl jenes Jahres erzielte sie neun Sitze, mit dreizehn Mandaten wurde erstmals die SPD stärkste Kraft. In der Zeit des Nationalsozialismus traten an die Stelle der gewählten Mitglieder als „Ratsherren“ berufene Bayreuther Bürger, von denen bei Beschlüssen Einstimmigkeit erwartet wurde. Auch im Rathaus galt im Dritten Reich das Führerprinzip. Vom ersten nach dem Zweiten Weltkrieg gewählten Stadtrat des Jahres 1946 bis zur Kommunalwahl 1972 stellte die SPD jeweils die stärkste Fraktion, seitdem ist die CSU die stärkste Kraft, abgesehen von einem Patt im Jahr 1976 (und wiederholt 1990). 1984 wurde mit Werner Kolb erstmals ein Kandidat der Grünen in den Stadtrat gewählt. Aufsehen erregte die Wahl vom März 1990, bei der die rechtskonservative Partei Die Republikaner 10,6 Prozent der Listenstimmen erhielt. Stadtoberhäupter von Bayreuth seit 1818. Die meisten der Stadtoberhäupter wurden nicht von den Einwohnern, sondern vom Stadtrat gewählt. Vor 1952 konnte die Bayreuther Bevölkerung nur ein einziges Mal den Ersten Bürgermeister selbst bestimmen: Am 13. Juli 1919 wählten sie den langjährigen Zweiten Bürgermeister Albert Preu auf Anhieb in das kommunale Spitzenamt. Dessen Gegenkandidaten waren Friedrich Puchta und Karl Hugel. Bei der ersten Oberbürgermeisterwahl in der Zeit des Nationalsozialismus am 26. April 1933 konnte die durch Verhaftungen geschwächte Stadtratsfraktion der SPD dem Druck der NSDAP nicht viel entgegensetzen. Die KPD hatten die Nationalsozialisten zu diesem Zeitpunkt bereits verboten. Der SPD-Politiker Hans Rollwagen wurde 1948 noch vom Stadtrat gewählt, erst seine Bestätigung im Amt erfolgte 1952 durch das Votum der Einwohner. Die längste Amtszeit mit 37 Jahren war Theodor von Muncker beschieden. Im 20. Jahrhundert leitete Hans Walter Wild immerhin 30 Jahre lang die Geschicke der Stadt. Josef Kauper war 1945 nur sieben Monate im Amt, als er bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Städtepartnerschaften. Die Stadt Bayreuth unterhält Partnerschaften mit folgenden Städten: Weitere Partnerschaftsverträge mit anderen europäischen Städten sind geplant. Im Gespräch ist derzeit noch die englische Stadt Shrewsbury. Die Partnerschaft mit Annecy entwickelte sich aus der Freundschaft des jungen Chirurgen Paul-Louis Servettaz, der aus deutscher Kriegsgefangenschaft geflohen war und sich der Résistance angeschlossen hatte, mit dem deutschen Kriegsgefangenen Karl Bühler, der 1944 in Annecy von jenem operiert wurde. Im Mai 1964 besuchte erstmals eine Delegation aus Annecy Bayreuth, am 6. August 1966 wurden die Verträge unterzeichnet. 1991 hatten, nach offiziellen Angaben, bereits mehr als 25.000 Personen, die Hälfte davon Jugendliche, die jeweilige Partnerstadt besucht. Auf eine Initiative des SED-Politbüromitglieds Hermann Axen im Juli 1989 geht die Partnerschaft mit Rudolstadt zurück. Diese Verbindung galt zunächst nicht als „Liebesheirat“ – Bayreuther Wunschkandidat wäre Dresden gewesen, dessen Oberbürgermeister Bayreuth im September 1984 besucht hatte. Die Kulturpartnerschaft mit dem österreichischen Burgenland wurde 1990 vor dem Hintergrund, dass Richard Wagners Schwiegervater Franz Liszt im dortigen Raiding geboren wurde und in Bayreuth verstarb, geschlossen. Zudem bestehen ein Kooperationsvertrag mit der chinesischen Stadt Shaoxing und eine Universitätspartnerschaft der Universität Bayreuth mit der Washington and Lee University in Lexington im US-Bundesstaat Virginia. Die Stadt Bayreuth wurde 2014 für ihr Engagement zur Förderung des europäischen Gedankens mit der Ehrenplakette des Europarats ausgezeichnet. Das Votum des Europarats fiel einstimmig für Bayreuth aus. Die Auszeichnung ist Anerkennung und Würdigung zugleich für die vielfältigen und erfolgreichen Bemühungen Bayreuths auf europäischem Gebiet. Nach den Statuten des Europarats wird die Ehrenplakette an Kommunen verliehen, die schon seit mehreren Jahren zunächst Träger des Ehrendiploms und anschließend der Ehrenfahne sind. Diese gilt als Vorstufe zum Europapreis, der höchsten Auszeichnung, die der Europarat zu vergeben hat. Patenschaften. Im Jahre 1955 wurde die Patenschaft für die vertriebenen Sudetendeutschen aus der Stadt Franzensbad im Okres Cheb übernommen. Seit 2015 unterstützt die Stadt Bayreuth ein Entwicklungshilfeprojekt in der afrikanischen Gemeinde Tchighozérine in Niger. Kultur und Sehenswürdigkeiten. Theater und Musik. Das markgräfliche Opernhaus ist ein seit 1748 bestehendes Theater. Es ist Museum und gleichzeitig die älteste heute noch bespielte Szene in Bayreuth. Das Gebäude gehört zum UNESCO-Weltkulturerbe. Das Richard-Wagner-Festspielhaus stammt aus dem 19. Jahrhundert und wird nur bei den Bayreuther Festspielen bespielt. Zur Aufführung kommen ausschließlich Werke Richard Wagners. Die Stadthalle Bayreuth (Mehrzweckanlage in den Mauern der ehemaligen markgräflichen Reithalle) hatte kein eigenes Ensemble. Sie wurde regelmäßig vom Theater Hof bespielt, außerdem machten dort Tourneetheater Station. Das Gebäude ist wegen eines grundlegenden Umbaus derzeit nicht nutzbar und soll unter dem Namen „Friedrichsforum“ voraussichtlich im Herbst 2022 wiedereröffnet werden. Die beiden einzigen Theater mit einem eigenen Ensemble sind die Studiobühne Bayreuth und das Amateurtheater Brandenburger Kulturstadl. Spielstätten der Studiobühne in Bayreuth sind das Domizil des Theaters in der Röntgenstraße, das Ruinentheater der Bayreuther Eremitage und der Innenhof der Bayreuther Klavierfabrik Steingraeber & Söhne. Das Marionettentheater Operla wurde im Jahr 2008 gegründet. Anlässlich des 300. Geburtstages von Markgräfin Wilhelmine wurde das Stück "Wilhelmine – Prinzessin am goldenen Faden" inszeniert. Seit Januar 2012 finden die Aufführungen in der Steingräber-Passage statt. Weitere Spielstätten sind das 1982 eröffnete Internationale Jugendkulturzentrum („Zentrum“) in der Äußeren Badstraße, das ehemalige Kino Reichshof („Kulturbühne“) in der Maximilianstraße, die Seebühne in der Wilhelminenaue und die Oberfrankenhalle. Open-Air-Konzerte fanden bislang im Hans-Walter-Wild-Stadion und auf dem Volksfestplatz statt. Parkanlagen und Friedhöfe. Im Osten der Innenstadt liegt der Hofgarten am Neuen Schloss, im Süden davon der Röhrensee mit dem gleichnamigen Park und einem kleinen Zoo. Unterhalb des Festspielhauses, am Grünen Hügel, befindet sich der Festspielpark und an der Dürschnitz, östlich des Stadtzentrums, mit dem kleinen Miedelsgarten einer der Lieblingsplätze Jean Pauls. Der Ökologisch-Botanische Garten am südlichen Stadtrand gehört zur Universität Bayreuth. Im Stadtteil Gartenstadt liegt eine kleine Parkanlage zwischen der Hans-von-Wohlzogen-Straße und der Dr.-Hans-Richter-Straße. Die bekannteste unter allen Parkanlagen Bayreuths ist die Eremitage im Stadtteil St. Johannis. Mit einer Gesamtfläche von fast 50 Hektar ist sie der größte Park der Stadt. Bayreuth wurde im Frühjahr 2009 als Veranstalter für die Bayerische Landesgartenschau 2016 ausgewählt. Damit ist in den oberen Mainauen, zwischen dem "Volksfestplatz" und der Autobahn A 9, die ausgedehnte Grünanlage Wilhelminenaue entstanden. Der älteste existierende Friedhof Bayreuths ist der Stadtfriedhof mit einer Reihe von Grabdenkmälern berühmter Persönlichkeiten. Am Südrand des Ortsteils Saas liegt der Südfriedhof mit einem Krematorium. Eigene Friedhöfe besitzen die Stadtteile St. Johannis und St. Georgen. Der Jüdische Friedhof befindet sich an der Nürnberger Straße im Südosten der Stadt. Am Rand des Stadtteils Altstadt existierte früher mit dem Schelmängerlein, in unmittelbarer Nähe des Galgens, eine Begräbnisstätte für Hingerichtete. Im Stadtgebiet liegen mehrere Natura-2000-Gebiete mit einer Gesamtfläche von fast 200 ha; dazu gehören das obere und das untere Rotmaintal sowie das Misteltal und der Park der Eremitage. Natur- und Landschaftsschutzgebiete. Am Nordostrand existiert mit dem Muschelkalkgebiet am Oschenberg ein Naturschutzgebiet (NSG-00739.01). Ergänzend gibt es neun Landschaftsschutzgebiete, fünf Fauna-Flora-Habitat-Gebiete und drei ausgewiesene Geotope (Stand März 2016). Gewässer und Brunnen. Bedeutendstes Fließgewässer ist der Rote Main, der die Stadt von Ost nach West durchquert. Zwei Flutkatastrophen von 1907 und 1909 waren Anlass für die zwischen 1913 und 1916 erfolgte Regulierung, das Flussbett wurde verbreitert und kanalisiert. Mit dem Bau des Stadtkernrings verschwand es in den 1970er Jahren teilweise unter einer Betondecke. Sein im Innenstadtbereich ebenfalls gedeckelter künstlicher Seitenarm "Mühlkanal" erhielt in den Jahren 1997/98 am La-Spezia-Platz einen neuen, offenen Lauf. Im Gegensatz zum Roten Main ist dieser Wasserlauf über stufenförmige Terrassen erreichbar. Während die Warme Steinach bereits am östlichen Stadtrand in den Roten Main mündet, verläuft die Mistel, in Bayreuth "Mistelbach" genannt, länger im Stadtgebiet. Der Bach wurde zwischen dem Stadtteil Altstadt und seiner Mündung in den Roten Main reguliert und optisch renaturiert. Der Sendelbach ist im Stadtbild weitgehend unsichtbar und fast nur in Höhe der "Moritzhöfenbrücke" noch erkennbar. Sein ebenfalls unterirdisch kanalisierter Zufluss Tappert speist den Zierkanal im Hofgarten. Sein südlicher Zufluss Aubach liefert das Wasser für den "Röhrensee". Der von einer Parkanlage mit Tiergehegen umgebene Röhrensee ist das größte stehende Gewässer der Stadt. Der Vorläufer dieses künstlichen Teichs war im 17. Jahrhundert angelegt worden, um in seinem Wasser Holzröhren zu lagern. Sie waren für eine Wasserleitung von den nahegelegenen "Quellhöfen" zur Innenstadt bestimmt, die dort vier Brunnen speiste. Von den einstigen Ziehbrunnen in der Innenstadt ist kein funktionsfähiger mehr erhalten. Bei historischen Ausgrabungen im Rahmen der Umgestaltung des Marktplatzes wurden über 20 ehemalige Brunnenschächte sowie ein Teil des ehemaligen Kanalverlaufes des Tapperts aus Sandstein gefunden. Einer der Brunnen wurde im Durchgang zwischen Spital und Rotmaincenterbrücke wiederhergestellt. Vor allem aus der Markgrafenzeit stammt eine größere Anzahl von Zierbrunnen: Auf dem Marktplatz wurde, in Anlehnung an den ursprünglichen Lauf des Tappert, 2010 eine wasserführende Zierrinne mit begehbarem Brunnen und Wasserspielplatz als "Stadtbächlein" neu geschaffen. Stadtschreiber. Von Februar bis Juli 2013 war der Berliner Autor Volker Strübing Bayreuths erster Stadtschreiber. Das Jean-Paul-Jubiläum bot den Anlass, dieses Amt ins Leben zu rufen. Strübing hat sich in dieser Zeit intensiv mit Jean Paul auseinandergesetzt und in einem Blog seine Erlebnisse kommentiert. Sport. Inklusion. 2021 bewarb sich die Stadt als Host Town für die Gestaltung eines viertägigen Programms für eine internationale Delegation der Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin. 2022 wurde sie als Gastgeberin für Special Olympics Rumänien ausgewählt. Damit wurde sie Teil des größten kommunalen Inklusionsprojekts in der Geschichte der Bundesrepublik mit mehr als 200 Host Towns. Sonstiges. Als kulinarische Bayreuther Spezialität gelten Bratwürste, die paarweise mit Senf in Brötchen verzehrt werden. Sie werden an mehreren Ständen in der Innenstadt verkauft. Die Zubereitung von Kartoffelklößen, im örtlichen Dialekt Glees genannt, lässt sich erstmals am 22. August 1707 im nahen Neustädtlein am Forst nachweisen. Die damals exotisch anmutende Beilage aus rohen und gekochten Kartoffeln („halb und halb“) wurde bald zum typischen Gericht in der Bayreuther Region. Aus der Zeit um 1720 stammt eine markgräfliche Anordnung, ein Normgefäß zu erstellen, um zu gewährleisten, dass überall in der Stadt dieselbe Menge Bier in den Krügen war. Dies war die Geburtsstunde des „Eichala“, dessen Name auf das Eichmaß zurückzuführen ist. Die von Zinngießern hergestellten Krüge wurden alle zwei Jahre in den Gastwirtschaften durch das Eichamt geprüft. Seit ca. 1900 wurden die Eichala überwiegend mit Deckel gefertigt, bald darauf mit dem Bayreuther Wappen und seit den 1930er Jahren mit einer Eichel auf dem Deckel verziert. Sie existieren heute in vier Größen: als Maß (1 l), Schimmala (ca. 0,7 l), Seidla (0,5 l) und Viertelliterkrug. Im Jahr 2022 wurde die Produktion der beliebten Eichala eingestellt, zuletzt wurden jährlich rund 4000 Krüge gegossen. Jeweils am „Öberschtn“ genannten 6. Januar trifft man sich in geselliger Runde zum „Stärkeantrinken“. Einer Jahrhunderte alten fränkischen Tradition entsprechend darf man für jeden Monat ein „Seidla“ Starkbier oder ein „Schnäpsla“ trinken, um Kraft und Gesundheit für das neue Jahr zu tanken. Im Jahr 1990 durfte die britische Heavy-Metal-Band Iron Maiden in Bayreuth nicht auftreten. Die Stadtverwaltung sagte ein geplantes Konzert in der Oberfrankenhalle ab, begründet wurde dies mit dem als „Brutalo-Rock“ bezeichneten Musikstil. Wirtschaft und Infrastruktur. Im Jahr 2007 betrug die Anzahl der Erwerbstätigen in Bayreuth 57.600, davon 41.200 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Von diesen waren rund drei Viertel im Dienstleistungsbereich angestellt, was auf die große Anzahl von Behörden (Deutsche Rentenversicherung Nordbayern), Krankenhäusern, Schulen und Kreditinstituten zurückgeführt wird. Als größter Arbeitgeber wurde die Universität Bayreuth mit 1800 Beschäftigten von der 2003 gegründeten Klinikum Bayreuth GmbH mit 2300 Beschäftigten abgelöst. Innerhalb der Stadtgrenzen erbrachte Bayreuth im Jahr 2016 ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 4,527 Milliarden Euro. Das BIP pro Kopf lag im selben Jahr bei 62.352 Euro (Bayern: 44.215 Euro / Deutschland: 38.180 Euro) und damit deutlich über dem regionalen und nationalen Durchschnitt. In der Stadt gab es 2017 ca. 66.300 erwerbstätige Personen. Die Geschäftsstelle Bayreuth der Bundesagentur für Arbeit ermittelte im Jahr 2021, dass 33,7 % der in Bayreuth (Stadt und Landkreis zusammengenommen) arbeitenden Menschen aus anderen Regionen einpendeln. Zugleich verlassen täglich 27,4 % der der dort lebenden Arbeitnehmer als Auspendler das Gebiet. Im Zukunftsatlas 2016 belegte die kreisfreie Stadt Bayreuth Platz 65 von 402 Landkreisen und kreisfreien Städten in Deutschland und zählt damit zu den Orten mit „hohen Zukunftschancen“. Die Arbeitslosenquote lag im Dezember 2018 bei 4,4 % und damit über dem bayrischen Durchschnitt von 2,7 %, jedoch unter dem bundesweiten Durchschnitt. Im Juni 2022 wurden 1750 Arbeitslose erfasst, was einer Quote von 2,9 % entsprach. Verkehr. In der Nachkriegszeit waren alle drei durch Bayreuth führenden Bundesstraßen in der Richard-Wagner-Straße gebündelt. Die durch die untere Maximilianstraße verlaufende B 22 und die vom Mühltürlein kommende B 85 trafen sich am westlichen Ende des Marktplatzes, den sie gemeinsam der Länge nach durchquerten. Aus der Opernstraße kommend stieß am Sternplatz die B 2 dazu. An der Dürschnitz verließen die B 2 und die B 85 den Straßenzug zur Nürnberger Straße hin und blieben bis hinter Pegnitz vereint. Heute verlaufen die Bundesstraßen über den Stadtkernring. Die in weiten Teilen zur Fußgängerzone umgewandelte Innenstadt wird von dem aus den Straßen Wittelsbacherring, Hohenzollernring, Cosima-Wagner-Straße und einem Teil der Birkenstraße gebildeten Ring nur noch tangiert. Im August 1969 wurde am Hohenzollernring die erste Grüne Welle der Stadt eingerichtet. Bereits 1994 schlug Hellmut Schubert, der seit den 1960er Jahren für die Stadt als Verkehrsplaner arbeitete, dem Stadtrat vor, mit Ausnahme der Hauptverkehrsadern aus ökologischen Gründen im Stadtbereich Tempo 30 einzuführen. Für den Stadtkernring favorisierte er eine Einbahnstraßenregelung mit einer für Radfahrer, Busse und Taxis reservierten Spur. 29.000 Berufspendler am Tag fuhren im Jahr 2020 durchschnittlich von außerhalb in die Stadt zur Arbeit, der überwiegende Teil von ihnen mit dem Auto. Die durchschnittliche Entfernung zwischen ihrem Wohnort und Bayreuth betrug 11,7 Kilometer. Fernstraßen. Bundesautobahnen 1937 wurde das Teilstück Leipzig – Nürnberg fertiggestellt. Damit ist sie eine der ältesten Autobahnen in Deutschland mit überregionaler Bedeutung. Der sechsstreifige Ausbau im Bereich Bayreuth wurde 2006 abgeschlossen, am Stadtteil Laineck wurde sie auf einer Länge von 360 m eingehaust. Im Stadtgebiet existieren die beiden Anschlussstellen Bayreuth-Nord und Bayreuth-Süd, wodurch der dazwischenliegende Abschnitt auch eine Funktion als Stadtautobahn aufweist. Der Baubeginn für diese "Ergänzungsstrecke" erfolgte 1937, jedoch konnte erst am 21. November 1958 der erste Abschnitt vom Dreieck Bayreuth/Kulmbach zur Anschlussstelle Kulmbach/Neudrossenfeld als einbahnige Autobahn mit zwei Fahrstreifen in Betrieb genommen werden. Die endgültige Fertigstellung bis Bamberg war erst 1996 abgeschlossen. Die A 70 berührt das Stadtgebiet nicht, ist über die A 9 und das Dreieck Bayreuth/Kulmbach aber schnell erreichbar. Bundesstraßen Staatsstraßen Eisenbahn. Vom Hauptbahnhof Bayreuth aus führen Hauptstrecken in Richtung Norden nach Neuenmarkt-Wirsberg (und von dort weiter nach Bamberg bzw. über die "Schiefe Ebene" nach Hof), Südosten nach Weiden und Süden nach Schnabelwaid (mit Anschluss nach Nürnberg über die Pegnitztalbahn). Einzig verbliebene Nebenbahn ist die seit 1993 nur bis Weidenberg betriebene Strecke nach Warmensteinach. Die ehemals ins westliche bzw. nordwestliche Umland führenden Strecken nach Hollfeld und Thurnau (– Kulmbach) sind restlos abgebaut. Die Bahnstrecken rund um Bayreuth sind ausnahmslos eingleisig und nicht elektrifiziert. Seit 23. Mai 1992 verkehrten zwischen Bayreuth und Nürnberg mit Neigetechnik ausgestattete Dieseltriebwagen der Baureihe 610, die von der damaligen Deutschen Bundesbahn speziell für die kurvenreiche Strecke angeschafft wurden. Diese wurden später durch die Baureihe 612 abgelöst. Zum Fahrplanwechsel am 10. Juni 2001 wurde die neu geschaffene ICE-Linie 17 (Dresden – Nürnberg im Stundentakt, jeder zweite Zug über Bayreuth) in Betrieb genommen. Zwei Jahre lang verkehrten ICE-TD-Triebzüge mit Neigetechnik der Baureihe 605. Seit dem Fahrplanwechsel 2006/2007 ist Bayreuth nicht mehr an das Fernverkehrsnetz der Deutschen Bahn angeschlossen. Der IRE Franken-Sachsen-Express bot ersatzweise seit Dezember 2006 bis Dezember 2013 eine Direktverbindung über Hof und Plauen nach Dresden (seit Dezember 2007 im Zwei-Stunden-Takt). Zum Einsatz kamen dabei Dieseltriebwagen mit Neigetechnik der Baureihe 612. Auch gab es eine Regional-Express-Direktverbindung mit solchen Triebwagen über Lichtenfels und Bamberg nach Würzburg. Seit dem 12. Juni 2011 bedient das Verkehrsunternehmen agilis das neugeschaffene Dieselnetz Oberfranken im Auftrag der Bayerischen Eisenbahngesellschaft und damit den schienengebundenen Nahverkehr im Raum Bayreuth. Seit Dezember 2013 gibt es von Bayreuth keine Direktverbindungen mehr nach Dresden und nach Würzburg. Überregionale Verbindungen (Deutsche Bahn AG): Regionalbahnverbindungen weitgehend im Stundentakt (agilis): Öffentlicher Personennahverkehr. Die Stadtbuslinien werden von den Stadtwerken Bayreuth betrieben, zum Teil fahren in deren Auftrag auch Fahrzeuge privater Busunternehmer. Auf den Linien 301 bis 316 verkehren die Busse montags bis freitags überwiegend in einem 20- oder 30-Minuten-Takt. Während des Wintersemesters pendeln sie zwischen der Zentralen Omnibushaltestelle (ZOH) und dem Uni-Campus zeitweise im Abstand von nur wenigen Minuten. Durch Überlagerung von Linien bei gleichzeitig versetzten Fahrzeiten werden der Hauptbahnhof und manche Stadtteile in kürzeren Intervallen bedient. In nachfrageschwachen Zeiten (abends sowie sonn- und feiertags) wird mit den Linien 321 bis 326 ein auf sechs Strecken reduziertes Netz alle 30 Minuten angeboten. Vororte mit geringer Nachfrage werden in diesen Zeitlagen mit Anruf-Sammel-Taxen stündlich bedient. Das Netz ist mit der zentralen Omnibushaltestelle ZOH weitgehend sternförmig aufgebaut, bietet aber auch außerhalb der ZOH Umsteige­möglichkeiten. Mit der im 30-Minuten-Takt verkehrenden Linie 316 besteht eine schnelle Direktverbindung zwischen der Universität und dem Hauptbahnhof. Zwischen 1950 und 2007 lag die ZOH auf dem Marktplatz, in der Straßenmitte der Maximilianstraße. Am 27. Oktober 2007 wurde sie auf den nahen Hohenzollernplatz verlegt, wo auch Haltestellen für Regionalbusse eingerichtet werden konnten. Ein dynamisches Fahrgast­informationssystem informiert über die nächsten Abfahrten bzw. aktuelle Fahrplanänderungen und Umleitungen. Im dortigen Kundencenter sind montags bis samstags verbundweite Fahrplan­informationen und Tickets erhältlich. Zum 1. Januar 2010 wurde der Öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) in den Verkehrsverbund Großraum Nürnberg (VGN) integriert. Das gesamte Stadtgebiet Bayreuth entspricht der VGN-Tarifzone 1200, in der die Preisstufe D gilt. Für Fahrten über die Stadtgrenze hinaus findet die VGN-Tarifzonenregelung (Preisstufen 1 bis 10) Anwendung. Als Verkehrsunternehmen im VGN ermöglichen die Stadtwerke die Fahrradmitnahme in den Stadtbussen. Nach 20 Uhr besteht zudem die Möglichkeit, nach vorheriger Anmeldung beim Fahrer auch zwischen zwei regulären Haltestellen auszusteigen, sofern dies verkehrsrechtlich möglich ist. Über die Mobiltelefon-App des VGN ist der Erwerb von „Handy-Tickets“ auch für die Bayreuther Stadtbusse möglich. Als erste Universitätsstadt Bayerns führte Bayreuth bereits zum Wintersemester 1994 das Semesterticket für alle Studierenden der Universität Bayreuth und der Hochschule für evangelische Kirchenmusik ein. Diese lokale Regelung konnte trotz des VGN-Betritts beibehalten werden. Der Regionalverkehr wird durch DB/OVF bedient. Neben dem VGN ist Bayreuth auch Mitglied im deutsch-tschechischen Verkehrsverbund EgroNet. Fahrradverkehr. Ein Radwegenetz ist teilweise vorhanden, dessen Beschilderung ist oft überörtlicher Natur (Beispiel: "Haidenaab-Radweg"). Durch die unmittelbare Lage am 600 Kilometer langen Main-Radweg ist Bayreuth Anfahrtsziel für mehrere touristische Radreiserouten. Von einem großen Teil der rund 13.500 Studenten der Universität Bayreuth wird das Fahrrad als Alltagsverkehrsmittel genutzt. Die Topografie der Stadt und das Fehlen durchgehender sicherer Routen bereiten Schwierigkeiten und führen teilweise zu problematischen Lösungen. An vielen Stellen werden Radfahrer auf Fußwege und Gehsteige geleitet oder sogar durch Beschilderung zu deren Benutzung gezwungen, was Konflikte mit den Fußgängern birgt. Parkanlagen müssen in der Regel umfahren werden, das Queren des Hofgartens ist seit 2012 auf zwei Wegen aber gestattet. Die Fußgängerzone in der Innenstadt darf weitgehend mit dem Fahrrad befahren werden. Ein Abschnitt der Route von der Universität in die Innenstadt "(Univercity)" ist als Fahrradstraße ausgeschildert. Die Fahrradmitnahme in den in Bayreuth abfahrenden DB-Regiozügen und in den Bussen des VGN ist, soweit möglich, kostenpflichtig. Flugverkehr. Der Verkehrslandeplatz Bayreuth dient der gewerblichen Luftfahrt, dem individuellen Geschäftsreiseverkehr, der allgemeinen Luftfahrt und dem Luftsport. Bis 2002 machte die Fluglinie Frankfurt–Hof dreimal täglich einen Zwischenstopp in Bayreuth. Der Verkehrslandeplatz am Bindlacher Berg ist auch einer der wichtigsten Stützpunkte für den Segelflugsport in Deutschland, u. a. fanden hier 1999 die Weltmeisterschaften statt. Für die Luftsportgemeinschaft Bayreuth ist der Flughafen Ausgangspunkt für die Flüge in der Segelflug-Bundesliga. Der Verein führt hier auch die Ausbildung im Segelflug und Motorflug durch. Wasser, Abwasser, Strom, Gas, Fernwärme. Zuständig für die Strom-, Erdgas-, Fernwärme- und Trinkwasserversorgung ist das 1939 gegründete kommunale Versorgungs- und Dienstleistungsunternehmen Stadtwerke Bayreuth. Zwischen 5 und 5,5 Millionen Kubikmeter Wasser werden in Bayreuth je nach Wetter pro Jahr verbraucht. Das Trinkwasser für die Stadt wird hauptsächlich in zwei Hochbehältern auf der Hohen Warte und einem dritten auf dem Eichelberg gesammelt, gespeichert und überwacht. Von dort fließt es in das 340 km lange städtische Rohrnetz, wobei in der Regel der Höhenunterschied den notwendigen Druck erzeugt und lediglich für hochgelegene Gebiete Pumpstationen erforderlich sind. Etwa die Hälfte des Bayreuther Trinkwassers, hauptsächlich Oberflächenwasser aus der Ködeltalsperre bei Kronach, wird über die Fernwasserversorgung Oberfranken bezogen und auf der Hohen Warte im 1980 in Betrieb genommenen größeren der beiden Hochbehälter (Fassungsvermögen 10.000 Kubikmeter) gesammelt. Der ältere dortige Behälter (Fassungsvermögen 4000 Kubikmeter) wird vom Hauptsammler Löchleinstal bei Warmensteinach mit einer Million Kubikmeter – dort bereits gereinigtem und entkalktem – Wasser jährlich aus dem Fichtelgebirge versorgt. Aus sieben Brunnen bei Seybothenreuth und Lehen erhält der Hochbehälter mit Aufbereitungsanlage auf dem Eichelberg sein Wasser. Im Westen der Stadt liegt das Brunnenfeld Eichelacker, das Wasser an das gleichnamige, genau zwischen den Druckzonen Hohe Warte und Eichelberg gelegene Pumpwerk am Rand des Stadtteils Altstadt liefert. 1960 wurde die städtische Kläranlage gebaut und seitdem erweitert und modernisiert. Das Abwasserkanalnetz ist rund 400 km lang, davon waren 2017 303 km Mischkanäle für Brauch- und Regenwasser. Zum Einzugsgebiet gehören auch Teile der Gemeinden Eckersdorf, Haag und Creußen. Die jährliche Abwassermenge beträgt 13 Millionen Kubikmeter, der Wirkungsgrad der Kläranlage beläuft sich auf 99 %. Im Sommer 2021 analysierte die Medizinische Universität Innsbruck das Abwasser. Es stellte sich heraus, dass der durchschnittliche Bewohner des Einzugsgebiets täglich vier Zigaretten raucht und eine Menge an Alkohol zu sich nimmt, die einem halben Liter Bier entspricht. Als überdurchschnittlich hoch erwies sich der Wert für Methamphetamin („Crystal Meth“) mit 174 mg pro Tag und 1000 Personen. Das in den 1890er Jahren an der Birkenstraße errichtete Gaswerk erzeugte ca. 70 Jahre lang Leuchtgas aus Steinkohle. Ab 1965 endete mit der schrittweisen Umstellung auf Ferngas die städtische Eigenproduktion, die Innenstadt wurde ab 1971 mit Erdgas versorgt. Das Fernwärmenetz der Stadtwerke umfasst zwei Bereiche in der nördlichen Innenstadt und dem Kasernenviertel. Tourismus. Seit 1922 wird eine Statistik über die Zahl der Übernachtungen in Bayreuth geführt. Im Jahr 1923 zählte die Stadt rund 31.000 Übernachtungen. Mit 464.539 Übernachtungen wurde im Jahr 2022 der bisherige Spitzenwert erreicht. 87 % der Gäste stammten aus dem Inland; die ausländischen Gäste kamen vor allem aus Österreich (5740 Übernachtungen), der Schweiz (5277), den USA (4568), Polen (4543) und Frankreich (4285 Übernachtungen). Am höchsten sind jeweils die Übernachtungszahlen während der Festspielzeit im August, 2010 wurden rund 39.000 Übernachtungen gezählt. Im August 2019 wurde der bisherige Spitzenwert mit 58.678 registrierten Übernachtungen verzeichnet, was ein Plus von 13,7 % gegenüber dem Vorjahresmonat bedeutete. Der Anteil ausländischer Gäste betrug 32,6 %. Bedingt durch die Festspiele verfügt die Stadt über eine ausreichende Zahl an Hotels. Im Jahresdurchschnitt liegt deren Bettenauslastung bei 50 %, zwischen Mai und August ist an manchen Tagen jedoch kein Zimmer mehr frei. Neben den Hotels, Pensionen und Privatunterkünften gibt es in Bayreuth Bedeutende Unternehmen. Die Industrialisierung setzte in der Stadt erst verhältnismäßig spät ein. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden drei Baumwollspinnereien zu den bedeutendsten Betrieben. Daneben ließen sich Porzellan-, Eisen- und Farbenfabriken sowie zwei Dampfziegeleien nieder. Neben Mälzereien existierte eine Vielzahl kleiner Brauer, von denen sich etliche zu einer Gemeinschaftsbrauerei zusammenschlossen. Nach 1945 setzte auf dem Gelände des trockengelegten "Brandenburger Weihers" im Norden der Stadt eine rasante wirtschaftliche Entwicklung ein, wobei sich eine Zigarettenfabrik und ein Elektrounternehmen als bedeutendste Betriebe ansiedelten. In den Folgejahren wurden weitere Gewerbegebiete erschlossen. Neuen Industriebetrieben und Dienstleistungsunternehmen stehen aber auch Abwanderungen und Schließungen gegenüber. So ist z. B. die Zahl der ortsansässigen Brauereien auf mittlerweile drei Betriebe geschrumpft. Medien. Lokale Tageszeitung. Auf Befehl des Markgrafen Friedrich III. erhielt die Residenzstadt Bayreuth 1736 eine eigene Zeitung. Im späten 1900 Jahrhundert waren es bis zu fünf Blätter, die teilweise heftig miteinander konkurrierten. So giftete das nationalliberale "Bayreuther Tagblatt" gegen die fortschrittliche "Bayreuther Abendzeitung" und lieferte sich erbitterte journalistische Gefechte mit der sozialdemokratisch geprägten "Fränkischen Volkstribüne". Absoluter Tiefpunkt der Lokalberichterstattung war die hämische Schilderung der Menschenjagd auf jüdische Bayreuther in der „Reichskristallnacht“. Vom 11. April 1945 an gab es acht Monate lang keine örtliche Tageszeitung. Am 17. Dezember jenes Jahres erschien die erste Ausgabe der "Fränkischen Presse", das "Bayreuther Tagblatt" durfte erst am 1. Oktober 1949 wieder erscheinen. Der Nordbayerische Kurier ging am 2. Januar 1968 aus der Fusion der miteinander konkurrierenden lokalen Tageszeitungen "Bayreuther Tagblatt" und "Fränkische Presse" hervor. Herausgeber sind Wolfgang Ellwanger und Dr. Laurent Fischer, Chefredakteur ist seit dem 1. Januar 2020 Marcel Auermann. Die Zeitung erzielt mit weiteren Lokalausgaben eine verkaufte Auflage von Rundfunk und Fernsehen. Das Rundfunkzeitalter begann in Bayreuth im Februar 1924. Zunächst war lediglich der Ingenieur Heinz Bechert in der Lage, mit seinem Detektorempfänger die Sendungen aus Berlin zu empfangen (→ Geschichte des Hörfunks in Deutschland). Im Mai jenes Jahres lockte die Firma Heuberger am Luitpoldplatz, die sich bereits den Titel „Radiohaus“ zugelegt hatte, mit kostenlosen Vorführungen ihrer Geräte. Am 16. Februar 1925 wurde eine Ortsgruppe des Süddeutschen Radio-Clubs gegründet. Zwei Jahre später existierten in der Stadt bereits sieben Radiogeschäfte. Am 18. August 1931 wurde erstmals eine Wagner-Oper (Tristan und Isolde) aus dem Festspielhaus übertragen. Mit 2435 registrierten Rundfunkteilnehmern verfügte am 1. Oktober 1934 jeder vierte Bayreuther Haushalt über ein Radio. Im März 1937 ging eine örtliche Nebenstelle des in Betrieb, deren Sendeanlagen im Anbau der Ludwig-Siebert-Halle (heutige Stadthalle) untergebracht waren. In den 1950er/1960er Jahren betrieb der Bayerische Rundfunk in Bayreuth einen Rundfunksender (Sender Bayreuth) auf der Mittelwelle mit der Frequenz 520 kHz und einer Sendeleistung von 200 Watt mit einem 60 Meter hohen Sendemast. Die regionale Versorgung mit den bayerischen Rundfunkprogrammen übernahm Ende der 1960er Jahre in UKW-Qualität ein neuer Fernsehturm auf dem Oschenberg. Öffentliche Einrichtungen. Bayreuth hat verschiedene Gerichte: Amts-, Land-, Arbeits-, Verwaltungs- und Sozialgericht. Bildung. Erste öffentliche Bildungseinrichtung Bayreuths war die Lateinische Stadtschule, kurz Lateinschule genannt. Ihre Gründung reicht in die Zeit vor 1430 zurück, vermutlich war ihr Standort schon anfangs am heutigen Kirchplatz. 1571 erhielt sie einen Erweiterungsbau, aktuell beherbergt das Gebäude – nach einer Zwischennutzung als Feuerwehrhaus – das Historische Museum. 1529 wurde, auf eine Empfehlung Martin Luthers hin, in der Stadt eine „Deutsche Schule“ eingerichtet. In dieser Elementarschule wurden Kinder im Lesen, Schreiben und Rechnen unterrichtet, damit sie u. a. selbst die Bibel auf Deutsch lesen konnten. Sie hatte kein eigenes Gebäude, zunächst begnügte man sich mit – für Knaben und Mädchen getrennten – „Schulstuben“ in Bürgerhäusern. Obwohl es noch keine Schulpflicht gab, schickten bald immer mehr Bürger ihre Kinder dorthin zum Unterricht. Am 21. März 1742 fand in der Aula des 1664 gegründeten Gymnasiums, das aus der alten Lateinschule hervorgegangen war, die Einweihung der Academia Fridericiana (Friedrichsakademie) statt. Rektor der neuen Universität, die das Gebäude Friedrichstraße 15 bezog und eine theologische, philosophische, medizinische und juristische Fakultät umfasste, wurde Daniel de Superville. Wegen des „unbotmäßigen“ Betragens der 66 Studenten wurde die Universität am 4. Juli 1743 wieder geschlossen und nach Erlangen verlegt. Erst 1958 wurde Bayreuth mit der Umwandlung des Instituts für Lehrerbildung zur Pädagogischen Hochschule der Universität Erlangen-Nürnberg wieder Hochschulstandort. Von 1810 bis 1825 wirkte in Bayreuth der Pädagoge Johann Baptist Graser als Kreisschulrat. Auf Kosten der Stadt wurde die ehemalige markgräfliche Münzstätte (Münzgasse 9, jetzt Jüdisches Museum) zum Schulhaus umgebaut. 1813 richtete er ein Institut für Lehrerbildung ein, wo fortan Volksschullehrer für Stadt und Land systematisch ausgebildet wurden. 1824 kam neben dem „Münzschulhaus“ eine israelitische Schule hinzu. Zusätzlich zur bis dahin einzigen weiterführenden Bildungsanstalt, dem humanistischen Gymnasium, entstand 1833 im Rückgebäude des Alten Rathauses mit der Kreis-Landwirtschafts- und Gewerbeschule der Vorgänger des Graf-Münster-Gymnasiums. 1867 wurde im Küchenbau des Neuen Schlosses die „höhere Töchterschule“ (heutiges Richard-Wagner-Gymnasium) eingeweiht. Erste große Volksschule der Stadt wurde mit der am 1. November 1875 eingeweihten Central-Schule die heutige Graserschule. 1902 folgten die Luitpoldschule und 1914 die Altstadtschule. Die Anfänge des beruflichen Schulwesens gehen auf die Sonntagsschulen zurück. Ab 1819 sollten alle Knaben und Mädchen diese „Feiertagsschulen“ besuchen. Eine wirkliche Berufsfortbildungsschule gab es in Bayreuth erst hundert Jahre später. 1946 scheiterte ein erster Versuch, die Prügelstrafe an den bayerischen Schulen abzuschaffen. Der Kultusminister Alois Hundhammer, ein Befürworter der Prügelstrafe, legte den Eltern im Juni 1947 die Frage zur Abstimmung vor. Von den Bayreuther Eltern stimmten 2716 dafür, 3130 lehnten diese Art der Bestrafung jedoch ab. Hochschulen. In der Stadt befinden sich mit der Universität Bayreuth und der Hochschule für evangelische Kirchenmusik der evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern zwei Hochschulen. Nahezu alle Einrichtungen der 1975 gegründeten Universität befinden sich auf dem Campus, der sich südlich des Stadtteils Birken auf dem Gelände des ehemaligen Exerzierplatzes erstreckt. Eine Besonderheit stellt der rund 16 ha große Ökologisch-Botanische Garten (ÖBG) dar. Er ist seit 1978 eine zentrale Einrichtung der Universität. Schwerpunkte der Universität sind die Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, Afrikanistik, Materialwissenschaften, Biowissenschaften, Bio- und Umweltingenieurwesen. Hierbei bietet die Universität interdisziplinäre Studiengänge sowie Zusatzausbildungen. Einzigartig im deutschsprachigen Raum ist das Institut für Afrikastudien (kurz IAS genannt). Es fördert und koordiniert die Afrikastudien von 14 Disziplinen der Universität Bayreuth, die sich auf vier ihrer sechs Fakultäten verteilen. Die Hochschule für evangelische Kirchenmusik geht auf die 1948 in Erlangen gegründete Kirchenmusikschule zurück und ist das Nachfolgeinstitut der Fachakademie für evangelische Kirchenmusik Bayreuth. Sie befindet sich an der Kreuzung Wilhelminenstraße/Wittelbacher Ring in einem eigens für ihre Zwecke errichteten Gebäude. In unmittelbarer Nachbarschaft befindet sich das Studierendenwohnheim „Am Campus“ des Evangelischen Siedlungswerkes (ESW). Akkreditierungsagentur. Bayreuth ist auch Sitz von ACQUIN, einer der sechs Akkreditierungsagenturen, die im Auftrag der Stiftung zur Akkreditierung von Studiengängen in Deutschland die fachlich-inhaltliche Begutachtung von Studiengängen mit den Abschlüssen Bachelor/Bakkalaureus und Master/Magister national und international leisten. Forschungseinrichtungen. Seit 1989 bestehen das "Bayreuther Institut für Terrestrische Ökosystemforschung (BITÖK)" und sein Nachfolger Bayreuther Zentrum für Ökologie und Umweltforschung "BayCEER". Als eines von nur drei Instituten zur Ökosystemforschung in Deutschland gegründet, bilden heute Ökologie und Umweltwissenschaften die interdisziplinären Forschungsschwerpunkte. Bayreuth ist Sitz des Kompetenzzentrums für Neue Materialien. Die "Neue Materialien Bayreuth GmbH" (NMB) ist ein Dienstleistungsunternehmen, das an Innovationen interessierte Firmen in Werkstofffragen berät und anwendungstechnisch unterstützt. Mit der Überreichung des Zuwendungsbescheides (ZWB) am 2. März 2006 in der Industrie- und Handelskammer (IHK) für Oberfranken fiel der Startschuss für die Fraunhofer-Projektgruppe "Prozessinnovation für Unternehmen des ostbayerischen Raumes" (PRINZ). Die Bayerische Akademie der Wissenschaften, Kommission für Mundartforschung, betrieb bis März 2012 das Ostfränkische Wörterbuch in Bayreuth (heute in Fürth). Die Stadt Bayreuth ist weiterhin „Korporativ Förderndes Mitglied“ der Max-Planck-Gesellschaft. Garnison. Über Jahrhunderte war Bayreuth auch Garnisonsstadt. Anfangs waren im Ort markgräfliche Haustruppen stationiert; der letzte Markgraf Karl Alexander schickte Soldaten an der Seite der Engländer sogar in den Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg. 1792 bis 1806 wurden daraus Verbände der preußischen Armee, nämlich das brandenburgische Infanterie-Regiment von Voit und danach das Füsilier-Bataillon von Requard. Zwei Jahre lang war das Grevenitz'sche Infanterie-Regiment unter Oberst von Bonin in Bayreuth stationiert. Nach vierjähriger Besetzung durch Truppen des französischen Kaiserreichs lagen ab 1810 Verbände der Königlich Bayerischen Armee in Bayreuth. Von 1810 bis 1866 waren Teile des 13. Infanterie-Regiments, von 1866 bis 1919 das 7. Infanterie-Regiment in Bayreuth stationiert, von 1832 bis 1866 zusätzlich Teile des 5. Chevaulegers-Regiments und von 1866 bis 1919 das 6. Chevaulegers-Regiment. Am 15. Juli 1900 brachen Bayreuther Soldaten nach China auf, um an der Niederschlagung des Boxeraufstands mitzuwirken. 1920 bis 1935 stand das III. Bataillon des 21. (Bayerischen) Infanterie-Regiments der Reichswehr in Bayreuth, aus dem das Infanterieregiment 42 der Wehrmacht hervorging. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren Einheiten der US-Armee, ab 1957 zusätzlich Truppen der Bundeswehr und des Bundesgrenzschutzes (BGS) vor Ort. 1964 wurde am nordöstlichen Stadtrand die neugebaute Markgrafenkaserne der Bundeswehr übergeben. Mit dem Ende des Kalten Krieges endete Anfang der 1990er Jahre weitgehend die Garnisonstradition der Stadt, als die Markgrafenkaserne der Bundeswehr mit dem Panzerartilleriebataillon 125 (Panzerbrigade 12), dem Panzergrenadierbataillon 102, den „Bayreuther Jägern“ (Panzergrenadierbrigade 10) und dem II./Luftwaffenausbildungsregiment 3 sowie die Röhrenseekaserne der US-Armee (2nd Armored Cavalry Regiment) aufgegeben wurden. Nur die ehemalige Bundesgrenzschutzabteilung, jetzt Bundespolizeiabteilung, befindet sich noch in ihrer Unterkunft neben der Markgrafenkaserne. Persönlichkeiten. Söhne und Töchter der Stadt. Bekannteste gebürtige Bayreuther sind der Philosoph Max Stirner, die Politiker Heinrich von Gagern und Wilhelm Leuschner sowie der Schriftsteller Max von der Grün. Persönlichkeiten, die in Bayreuth gelebt und gewirkt haben. Unter den Menschen, die in Bayreuth lebten und wirkten, ohne Kinder der Stadt zu sein, ragen drei heraus: die Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth, der Komponist Richard Wagner und der Dichter Jean Paul. Ehrenbürger. Zu den Ehrenbürgern der Stadt gehören der Reichskanzler Otto von Bismarck, der Dirigent Arturo Toscanini und der Komponist Richard Strauss. Alexander Friedrich Wilhelm von Württemberg wurde 1851 als Erstem die Bayreuther Ehrenbürgerwürde verliehen; erste Frau, die sie erhielt, war 1911 Cosima Wagner. Unter den 44 Ehrenbürgern (Stand 2019) sind nur sechs weiblichen Geschlechts. Alle Verleihungen der Jahre 1933 bis 1937 erfolgten in der Zeit des Nationalsozialismus. Allein 1933 wurden zwölf Personen, darunter am 23. März jenes Jahres Adolf Hitler, auf diese Weise geehrt. Vier dieser Personen sowie Houston Stewart Chamberlain wurde die Ehrenbürgerwürde postum wieder aberkannt. Auszeichnungen der Stadt. Seit 1960 verleiht die Stadt Bürgermedaillen und Ehrenringe an Persönlichkeiten, die sich durch besonderes Wirken für das Wohl der Stadt eingesetzt haben. Die mit einer Goldenen Bürgermedaille Ausgezeichneten müssen Bürger der Stadt Bayreuth sein. Die mit einem Goldenen Ehrenring Ausgezeichneten müssen nicht Bürger der Stadt Bayreuth sein.
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Blas
Der Blas (altertümlich: Spaut) ist die nach dem Tauchvorgang ausgeatmete Atemluft von Walen. Die Luft wird mit hohem Druck ausgestoßen und ist mit Feuchtigkeit gesättigt. Wenn sie das Blasloch verlassen hat, entspannt sie sich, wobei durch den geringeren Druck und die niedrigere Außentemperatur die Feuchtigkeit der Atemluft kondensiert und als Nebelfontäne sichtbar wird. Der Blas ist also keine Wasserfontäne wie beim Springbrunnen, wie es auf alten Zeichnungen der Seefahrer oft gezeigt wird. Oft kann man die Anwesenheit und Art von Walen als erstes durch den Blas erkennen. Auch Form und Größe der Nebelfontäne sind tierartlich verschieden. Bartenwale haben zwei Blaslöcher und erzeugen meist einen V-förmigen Blas, der bei Glattwalen bis zu 8 m hoch schießen kann. Der Blas von Blauwalen und Finnwalen ist birnenförmig und bis zu 5 m, beim Blauwal bis zu 12 m hoch. Zahnwale haben nur ein Blasloch. Beim Pottwal, einem Zahnwal, ist der Blas um etwa 45° nach links vorne geneigt.
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Belletristik
Die Belletristik ist im Buchhandel die Unterhaltungsliteratur in ihren verschiedenen Formen, wie beispielsweise die literarischen Genres Roman und Erzählung. Die Belletristik ging aus dem Buchhandelssegment der "Belles Lettres" (frz. „schöne Literatur“) hervor. Im 17. Jahrhundert entstand sie zwischen dem Markt gelehrter Fachliteratur der Wissenschaften (den "Lettres" – mithin damals die Literatur im eigentlichen Wortsinn) und dem Markt günstiger, zumeist sehr roh gestalteter Bücher für das „einfache Volk“ (→ Volksbuch). Wortgeschichte. Aus dem französischen Ausdruck "Belles Lettres" entstand im Deutschen der Gallizismus "Belletristik". Im heutigen Französisch existiert dagegen kein Begriff, der mit dem im deutschsprachigen Raum (auch fachsprachlich) gebräuchlichen „Belletristik“ absolut bedeutungsgleich wäre. Vielmehr kommen dort – je nach Zusammenhang – die folgenden drei Begriffe zur Anwendung: Entwicklung. Seit der Wende ins 18. Jahrhundert umfasste die Belletristik ein breites Spektrum an Genres für Leser mit Geschmack, die weniger an Fachgelehrsamkeit interessiert waren als an den modernen und eleganten Publikationen nach französischer Mode, wie sie damals in ganz Europa gelesen wurden. So charakterisiert Goethe in den "Leiden des jungen Werthers" (1774) eine Romanfigur mit abfälligem Unterton: „… doch an gründlicher Gelehrsamkeit mangelt es ihm, wie all den Bellettristen“. Aktuelle politische Memoires, Romane, Journale, Poesie und Klassiker der Antike in modernen Übersetzungen standen im Zentrum des Begriffsfeldes. Im Lauf des 18. Jahrhunderts kam der Begriff der "Belles Lettres" auf dem deutschen Buchmarkt aus der Mode. Deutschsprachige Alternativbegriffe setzten sich durch. Man sprach von "galanten Wissenschaften" um 1700, "schönen Wissenschaften" Mitte des 18. Jahrhunderts, "schöner Literatur" auf dem Weg ins 20. Jahrhundert. Mit diesen aufeinanderfolgenden Begriffsbildungen verengte sich das Gattungsspektrum Schritt für Schritt auf Dramen, Romane und Gedichte, den Kernbestand der "poetischen Nationalliteratur". Heutige Verwendung. Die Begriffsverengung der "schönen Literatur" auf die "poetische Nationalliteratur" wurde besonders vehement im deutschen Sprachraum durchgesetzt, der hier ein nationales Diskussionsfeld aufbaute. Dies dürfte dafür verantwortlich sein, dass der deutschsprachige Buchhandel die alte Begriffsbildung überleben ließ, um auf dem internationalen Markt deutsche Literatur noch benennen und somit wiedererkennen zu können. Die Belletristik umfasst noch heute weitgehend das Spektrum, das die "Belles Lettres" im frühen 18. Jahrhundert bezeichneten: Memoiren, populärwissenschaftliche Bücher, Romane, also das gesamte Feld, aus dem die Nationalliteraturen innerhalb des internationalen Massenmarktes entstanden. Heute wird der Begriff der Belletristik oft für reine Unterhaltungsliteratur gebraucht. Im deutschsprachigen Buchmarkt wird der Begriff "Belletristik" seit Mitte des 20. Jahrhunderts auch synonym zum im englischsprachigen Raum üblichen Terminus "Fiction" (auf Fiktion basierende Literatur) als Gegensatz zu "Nonfiction" (Sachbuch) verwendet. Anders als die "Literatur" ist die Verwendung des Worts "Belletristik" auf den Buchhandelsbereich beschränkt. So gibt es zwar "Literaturkritiker", aber keine "Belletristikkritiker", es gibt eine "Literaturwissenschaft", aber keine "Belletristikwissenschaft". Marktsegment Belletristik. Der deutsche Buchhandel erwirtschaftete 2019 einen Gesamtumsatz von 9,291 Milliarden Euro. Die Sparte "Belletristik" hat daran den größten Anteil von 30,9 %. Die anderen Kategorien sind Kinder- und Jugendbücher, Reise, Ratgeber, Geisteswissenschaften-Kunst-Musik, Naturwissenschaften-Medizin-Informatik-Technik, Sozialwissenschaften-Recht-Wirtschaft, Schule-Lernen und Sachbuch. Im Jahr 2013 kamen 15.610 belletristische Neuerscheinungen als Erstauflage auf den Markt. Die Marktanteile innerhalb der Warengruppe Belletristik verteilten sich im Jahre 2018 folgendermaßen:
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Bildende Kunst
Der Begriff Bildende Kunst hat sich seit dem frühen 19. Jahrhundert im deutschen Sprachraum als Sammelbegriff für die visuell gestaltenden Künste etabliert („bildend“ bedeutet hier „gestaltend“). Definition. Zu den Kunstgattungen der Bildenden Kunst zählten ursprünglich die Baukunst, Bildhauerei, Malerei, Zeichnung, Grafik und Fotografie sowie das Kunsthandwerk. Die Bildende Kunst wird unterschieden von den darstellenden Künsten (wie Theater, Tanz und Filmkunst), Literatur und Musik. Während sich die Werke dieser anderen Künste im zeitlichen Ablauf vollziehen, existiert ein Werk der Bildenden Kunst meist als körperlich-räumliches Gebilde, das durch sich selbst wirkt und keinen Interpreten benötigt, um vom Rezipienten wahrgenommen zu werden. Die Bildende Kunst und die genannten weiteren Kunstrichtungen können unter dem Begriff der „schönen Künste“ zusammengefasst werden. Dies ist vor allem in anderen Sprachen üblich (z. B. französisch "les beaux-arts", italienisch "le belle arti" oder englisch "fine arts"). Infolge der Entwicklung neuer Medien und der fortschreitenden Ausweitung des Kunstbegriffes im 20. Jahrhundert wird der Begriff "Bildende Kunst" heute sehr viel weiter gefasst und ist im Einzelfall nicht mehr eindeutig von anderen Kunstformen abzugrenzen. So wird das bis zum Beginn der Moderne vor allem visuell und oft haptisch erfahrbare Kunstwerk im 20. und 21. Jahrhundert fallweise prozessorientiert, wandelt sich etwa zur reinen Idee oder existiert nur als Handlungsanweisung. Anstelle eines reinen Gattungsbegriffs definiert sich die aktuelle Bildende Kunst auch durch den Kunstbetrieb und den Kunstmarkt, zu dem etablierte Vertreter der Kunstkritik, des Kunsthandels, Sammler und die Kunstmuseen gehören. Im Schulfach "Kunst" an allgemeinbildenden Schulen geht es um Bildende Kunst. In einigen deutschen Bundesländern (z. B. Baden-Württemberg) heißt das Schulfach deshalb "Bildende Kunst". Entwicklung der Bildenden Kunst. Die ersten Kunstwerke des Menschen waren Ausdruck religiöser Vorstellungen. Später handelte es sich bei Malerei und Bildhauerei meist um Auftragskunst für religiöse Institutionen (in Europa die Kirche), Herrscher, Adelige oder wohlhabende Bürger. Die Motive und Bildsprache unterlagen in den meisten Kulturen oft strengen Konventionen. Die perspektivische und andere Techniken veränderten die Kunst radikal. Die Entstehung einer Kunst, die als Selbstzweck keinem speziellen Nutzen mehr diente (L’art pour l’art), veränderte wiederum das Verhältnis von Künstler, Gesellschaft und Kunstwerk. Teilweise wurde Kunst zu einem Ort von Utopien oder übernahm Aufgaben der Religion. Heute ist die professionelle Bildende Kunst von einem globalen Kunstmarkt bestimmt. In den westlichen Ländern werden zunehmend auch öffentliche Gelder oder Kunstorte wie Museen durch privatwirtschaftliche Institutionen und private Stiftungen ersetzt. Diskussionen um den zeitgenössischen Kunstbegriff finden in der Kunstkritik, Kunsttheorie und an den Kunstakademien statt. Der vor allem in Europa und Nordamerika konzentrierte Kunstbetrieb wird seit den 1990er Jahren zunehmend durch Schwellenländer wie z. B. Brasilien, Südafrika, Korea oder die Golfstaaten erweitert, die zum Beispiel eigene Biennalen veranstalten. Bildende Kunst Europas und des Mittelmeerraumes. Die heute übliche Epochenteilung der Kunst wurde von der Kunstwissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert etabliert: innerhalb der großen geschichtlichen Epochen zumeist anhand der Kunststile (siehe auch Formalismus). Für die Kunst des Altertums war der Mittelmeerraum maßgeblich, später die europäischen Kunstregionen (unter anderem Italien, Frankreich, der deutschsprachige Raum). Erst seit den 1970er Jahren beginnt die Kunstwissenschaft diesen eurozentrischen Blickwinkel zu relativieren. Prähistorische Kunst. Die Prähistorie, also die Vorgeschichte, umfasst den Zeitraum vom Beginn der Menschwerdung bis zur Einführung der Schrift. Da die Schrift nicht allerorts zur gleichen Zeit eingeführt wurde, ist die Vorgeschichte etwa in Ägypten schon um das 4. Jahrtausend vor Chr. zu Ende, während sie z. B. in Nordeuropa mancherorts noch bis ins 12. Jahrhundert nach Chr. andauert. Entsprechend vielfältig sind die künstlerischen Hinterlassenschaften, die aus dieser Zeit fast nur durch Ausgrabungen überliefert sind. Zu den frühesten Zeugnissen prähistorischer Kunst gehören Höhlenmalerei, Felszeichnung und Felsritzung. Ähnlich wie bei den Funden kleiner Statuetten (Löwenmensch) datiert man die ältesten Höhlenbilder (Chauvet-Höhle) auf rund 30.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung. Und sie alle haben vermutlich einen kultischen Hintergrund. Interessante Siedlungsfunde gibt es z. B. in Çatalhöyük, wo vor rund 8000 Jahren auch Wandmalereien entstanden sind. Mit Beginn der Sesshaftigkeit in der Jungsteinzeit werden unterschiedliche Materialien intensiver und geschickter bearbeitet: Ton, Keramik, Holz, später Metalle wie Bronze (Bronzezeit), Kupfer und Eisen. Verzierte Gefäße, Gürtelschnallen, Schwertknäufe, Gewandspangen (Fibeln) und ähnliche, am Körper von Bestatteten gefundene Gegenstände sowie Totenmasken oder Münzen sind die häufigsten Artefakte, an denen die Archäologie den Gestaltungsdrang der vorgeschichtlichen Menschen festmachen können. Von „Kunst“ im heutigen Sinne kann noch nicht gesprochen werden. Gestaltete Gegenstände jenseits des täglichen Gebrauchs wie die jüngst gefundene Himmelsscheibe von Nebra, die die erste bekannte kosmologische Darstellung zeigt, sind extrem selten. Die Eisenzeit bringt in Europa die keltische Kultur hervor, die vom 4. vorchristlichen bis zum 5. nachchristlichen Jahrhundert eine beachtliche künstlerische Produktion vorweisen kann. Von der Keltischen Kunst wirkt besonders die Ornamentik stark bis ins Hohe Mittelalter nach, wo die Buchmalerei auf die verschlungenen Knoten und Ranken dieses geometrisierenden Stils zurückgreift. Kunst des Altertums. Ägyptische Kunst. Ca. 3100 v. Chr. wurde Ägypten unter der Herrschaft des Menes vereinigt, mit dem die erste der 31 Dynastien begann, in die Ägyptens alte Geschichte geteilt wird: Altes Reich, Mittleres Reich und Neues Reich. Mit den Hieroglyphen entwickelt sich eine Bilderschrift, der die Vermittlung von Inhalten über Bilder selbstverständlich ist. Die altägyptische Kunst liegt vor allem in Werken der Malerei, der Reliefkunst, der Plastik sowie der Architektur vor und fand in vielen Bereichen Anwendung, darunter im Totenkult, der Götterverehrung oder auch zu propagandistischen Zwecken. Der charakteristische ägyptische Stil der Darstellungen – ausschließlich mit Gesichtsprofil und gleichzeitiger Frontalansicht des Oberkörpers bei Personen und Göttern. Diese Darstellung bildet sich bereits im Alten Reich heraus und bleibt, abgesehen von gewissen Änderungen unter dem Einfluss der Politik Echnatons, 3000 Jahre quasi unverändert. Wandmalereien oder Reliefs in Grabkammern waren nicht zur Betrachtung durch ein reales Publikum bestimmt, sondern „es wird Leben aufbewahrt zur Verfügung des Toten“ (P. Meyer). Zeitlosigkeit ist außerdem ein zentrales Anliegen aller Darstellungen. Die Toten sollen für die Ewigkeit gerüstet sein. Das führt in der Plastik so weit, dass hockende Figuren, die in dieser Stellung ihre Existenz im Totenreich überdauern sollen, ab einem bestimmten Moment nur noch als Würfel dargestellt werden. Mesopotamische Kunst. 3.–2. Jahrtausend v. Chr. Griechische Kunst. Die griechische Kunst der Antike entstand ab etwa 1050 v. Chr. In der jüngeren Forschung wird ihr auch die vorangehende minoische und mykenische Kunst zugerechnet, die bereits Zeugnisse aus dem 16. Jahrhundert v. Chr. hinterlassen hat. Die wichtigsten künstlerisch bedeutenden Funde der Archäologie sind Skulpturen aus Bronze oder Marmor, bemalte Vasen und Wandfresken. Von der griechischen Malerei ist wenig erhalten, obwohl es eine Fülle von literarischen Zeugnissen und nicht wenige bekannte Namen von Malern gibt (Apelles, Zeuxis usw.). Römische Kunst. Die römische Kunst entfaltete sich etwa vom 5. Jahrhundert v. Chr. bis zum 5. Jahrhundert n. Chr. und wurde lange Zeit unter dem Aspekt ihrer Abhängigkeit von der griechischen bewertet. In der Tat verdankt sich etwa die heutige Kenntnis der griechischen Skulptur in hohem Maße der Tatsache, dass wichtige Werke der griechischen Bronzegießer – die wegen des hohen Materialwertes längst wieder eingeschmolzen waren – als römische Marmorkopien überliefert worden sind. Dennoch hat die Kunst des Römischen Reiches in Malerei, Skulptur und vor allem in der Architektur auch neue Wege beschritten. So ermöglichte z. B. der Einsatz von Zement in der römischen Architektur erstmals weitgespannte Kuppeln (Pantheon). Ausgebildet wurden in Rom und seinen Provinzen auch bereits die meisten Bautypen, die vom frühen Christentum für seine Sakralarchitektur übernommen wurden: Zentralbau, Basilika und mehrschiffige Halle. Zeitgenössische Beschreibungen von Kunst und Kunsttheorie lieferten zum Beispiel der Schriftsteller Plinius der Ältere und der Architekt Vitruv. Kunst des Mittelalters. Frühchristliche und byzantinische Kunst. Frühchristliche Kunst ist an den ersten Stätten, an denen sich die neue Religion verbreitet hat, seit dem ersten Jahrhundert nach Chr. nachweisbar: im Heiligen Land und in Rom. Gemäß den Lebensbedingungen einer unterdrückten Bewegung sind in diese Fundorte in Rom zum Teil versteckt: Wandmalereien und einfache Altäre in Katakomben zählen zu den frühesten Zeugnissen. Mit der Machtübernahme Kaiser Konstantins wird das Christentum im Jahr 313 zuerst den anderen Religionen gleichgestellt und in der Folge dann Staatsreligion, weshalb seine symbolischen Zeichen, Bauten und Bilder die konspirativen Orte der Frühzeit verlassen können. Durch die Teilung des Römischen Reiches in Westrom und Ostrom, wo Konstantin das alte Byzantion zur neuen Hauptstadt Konstantinopel ausbaute, entwickeln sich zwei unterschiedliche Konfessionen, die ihre Differenzen zu einem nicht geringen Teil im jeweiligen Umgang mit den Bildern des Heiligen sehen. Während das alte Rom nach den Stürmen der Völkerwanderungszeit zum Zentrum der römisch-katholischen Kirche aufsteigt, entfaltet sich in Konstantinopel das orthodoxe Christentum. Zu den Leistungen der byzantinischen Kunst gehört die Entwicklung eines mobilen Kultbildes, der Ikone, die zu einem zentralen Bestandteil der orthodoxen Liturgie wird. Solitär oder als Bilderwand (Ikonostase) steht sie im Zentrum der Bilderverehrung und bildet viele neue Darstellungsformen aus. Ihr Erfolg ruft als Gegenbewegung den Bilderstreit hervor, in dem sich die beiden grundsätzlichen Haltungen zu Bildern für die gesamte Geschichte der Kunst exemplarisch gegenüberstehen: Ikonoklasten und Ikonodulen. Unter Kaiser Justinian entstehen neue kulturelle Zentren auch im Westen, besonders Ravenna wird mit Bauwerken und Bilderschmuck aufgewertet. Die Mosaiken von San Vitale und Sant’Apollinare in Classe zählen zu den besterhaltenen Zeugnissen dieser spezifisch byzantinischen Kunstform. Sowohl im Mosaik wie auch bei den Ikonen entwickeln sich festgelegte Bildtypen, die die theologischen Inhalte in festgelegten Formen abbilden. Die typische Bauform der orthodoxen Kirche ist die Kreuzkuppelkirche. Das Byzantinische Reich und damit auch seine Kunst endet mit dem Fall Konstantinopels 1453 und seiner Inbesitznahme durch die Türken. Die orthodoxen Kirchen Osteuropas pflegen weiterhin die Tradition der Ikonenmalerei, aufgrund der streng reglementierten Gestaltung wiederholen diese Werke in der Regel jedoch nur ältere Vorbilder. Vorromanik und Romanik. Als sich Karl der Große im Jahr 800 in Rom zum Kaiser krönen lässt, begründet er nicht nur eine bis ins 16. Jahrhundert dauernde politische Praxis, sondern erneuert auch ästhetisch eine europäische Tradition. Seine Rückkehr an die in der Völkerwanderungszeit zu einem Dorf geschrumpfte römische Ex-Metropole lässt sich zum einen als die erste nachantike Anknüpfung an die große Zeit des Römischen Reiches lesen, weshalb die Kunstproduktion unter Karl auch karolingische Renaissance genannt wird. Zweitens verbindet sich das Kaisertum eng mit der fortan wichtigsten Macht, die auch die meisten Bauten und Bilder produzieren wird: der römisch-katholischen Kirche. Man unterscheidet bei der Vorromanik zwischen der merowingischen Kunst, die sich wie ihre Vorgänger noch der keltischen Kultur zurechnen lässt, und der karolingischen Kunst, die bereits den Reichtum und die Vielfalt eines Stils entfaltet, der sich dank der Machtausdehnung Karls in ganz Mitteleuropa verbreitet. In der Malerei ragen Werke der Buchmalerei und der Wandmalerei hervor, eine Reihe von illustrierten Handschriften ordnet man einer Hofschule Karls des Großen zu. In der Architektur wird etwa mit der Aachener Pfalzkapelle versucht, die Tempelbauformen der römischen Kaiserzeit zu reaktivieren. Die den Karolingern nachfolgenden Ottonen führen die qualitätvolle Buchmalerei fort (z. B. die Reichenauer Malerschule) und sorgen, wie die darauffolgenden Salier und Staufer für viele neue Kirchenbauten u. a. in den Gebieten der Expansion nach Osten. Die Romanik zeichnet sich, vor allem im Vergleich zur nachfolgenden Stilepoche, der Gotik, durch die massive Bauweise und den wehrhaften Charakter von weltlichen und sakralen Gebäuden aus. Kirchen mussten oftmals die Funktion Wehrkirche erfüllen, große Fenster waren technisch in der Stilepoche der Romanik noch nicht realisierbar und aus Sicherheitsgründen auch nicht erwünscht. Dagegen stand ein hoher Bedarf an Mauerfläche für die Wandmalerei. Weiterer Schmuck waren zweifarbige Bänderungen der Pfeiler und Gurtbögen, sowie Skulpturen an Portalen und Lettnern. Wichtige romanische Bauten sind z. B. der Speyerer Dom, die Abtei Cluny. Bedeutende skulpturale Kunstwerke sind außerdem aus Bronze erhalten, u. a. die Hildesheimer Bernwardssäule. Dem Kunsthandwerk kommt der aufblühende Handel mit Reliquien zugute, der die Nachfrage nach prächtigen Reliquiaren erzeugt sowie die liturgischen Erfordernisse der Kirche (Tabernakel, Vortragekreuze, Meßkelche, bestickte liturgische Gewänder, Radleuchter usw.). Mit der Entstehung neuer Reformorden (Cluniazenser, Zisterzienser usw.) entstehen strengere Bauordnungen und präzise Vorschriften für künstlerische Gestaltung, die die Formenentwicklung immer mehr ausdifferenzieren. Gotik. Mit der Entwicklung eines neuen Baustils zu Beginn des 12. Jahrhunderts in Frankreich wird eine Epoche eingeleitet, die unter dem nachträglich gewählten und ursprünglich abwertend gemeinten Begriff "Gotik" bis zum Ende des Mittelalters die Kunst des Abendlandes prägen wird. Durch die Entdeckung, dass sich das Gewicht von Baulasten, insbesondere Decken, durch Strebebogen von der Wand weg nach außen verlagern lässt, wurden große Fensterflächen möglich, die die gotische Kathedrale zum lichtdurchfluteten Baukörper werden ließen. Als Gründungsbauwerk gilt der Chor der Abteikirche von Saint-Denis bei Paris, als Höhepunkte der französischen Hochgotik die Kathedralen von Chartres, Reims, Notre-Dame de Paris und die Sainte-Chapelle. Im damals deutschsprachigen Raum sind besonders zu nennen das Freiburger Münster, das Straßburger Münster, der Kölner Dom und der Prager Veitsdom. Die Entwicklung der Malerei verdankte einem kriminellen Akt ihren größten Impuls: Die Venezianer bringen von ihrer Plünderung Konstantinopels im Rahmen des vierten Kreuzzuges von 1204 einen neuen Bildtyp in den Westen. Die Ikone ist ein mobiles Tafelbild und wird bald als wichtigster Träger für Malerei triumphieren, wo bisher nur auf Wände – ob als Fresko oder Glasmalerei auf den größer gewordenen Fensterflächen – und in Handschriften gemalt wurde. In Italien, wo die Ikone zuerst eintrifft, entwickelt sich auch zuerst eine westliche Maltradition, die mit Duccio einen ersten großen Maler hervorbringt und mit dem ersten Anwender der Perspektive, Giotto di Bondone, die Flächigkeit, die Bedeutungsperspektive und die Naturferne des Mittelalters schon wieder zu überwinden versucht. Die Skulptur entfaltet sich wie in der Romanik vor allem an den Fassaden und Portalen der großen Kirchenbauten, nördlich der Alpen aber vor allem in einer Spezialform des Flügelaltares, dem Schnitzaltar. Besonders im süddeutschen Raum entstehen in der Spätgotik Spitzenwerke in den Werkstätten von Tilman Riemenschneider, Veit Stoß und den Erhards aus Ulm. Kunst der Neuzeit. Renaissance. 15. und 16. Jahrhundert Mit der Emanzipation der Kaufleute und Seefahrer in den italienischen Stadtstaaten und Fürstentümern wie Florenz (Toskana), Mantua, Urbino, Genua und Venedig entsteht ein neues Publikum für Kunst jenseits kirchlicher oder feudaler Auftraggeber, das dank internationalem Handel kulturelle Einflüsse verschiedener Kunstzentren aufnehmen kann. Zugleich befördern zufällige und gezielte Funde antiker Kunstwerke vor allem in Rom eine neue Sicht auf den Menschen und sein gestaltetes Ebenbild. Die Renaissance nimmt im Italien des 15. Jahrhunderts ihren Anfang und erreicht dort im 16. Jahrhundert ihren Höhepunkt. In den anderen europäischen Ländern zieht die neue Kunst ab ca. 1500 endgültig ein. Sowohl in der Architektur wie in der Bildhauerei nimmt man sich die Antike unmittelbar zum Vorbild: Proportionen, klassische Säulenordnungen, Bauformen wie der Portikus, die Ädikula werden übernommen und mit anderen Elementen (Kuppeln) kombiniert. Die Künstler befreien sich aus den zünftischen Berufsorganisationen des Mittelalters, werden selbstbewusst, signieren ihre Werke und stellen sich selbst dar. Die immer gekonntere Anwendung der Zentralperspektive (deren erste mathematisch korrekte Übertragung ins Bild 1426 Masaccio in seinem Dreifaltigkeitsfresko in Santa Maria Novella in Florenz gelungen sein soll) ermöglicht immer naturnähere Darstellungen. Manierismus. 16. Jahrhundert (ca. 1530–1590) Im Manierismus wird die Ausgewogenheit und vollkommene Harmonie der Hochrenaissance aufgegeben zugunsten einer Dynamisierung und größerer Spannung. Starke Gegensätze, Asymmetrien, Disharmonien, Verzerrung der Proportionen und außergewöhnliche Farb- und Lichteffekte wurden oft verwandt. Barock. 1600–1770 Der Barock umfasst in der Kunstgeschichte die Zeit zwischen der Renaissance und dem Klassizismus, in der Zeit von etwa 1600–1750. Als eine Vorstufe des Barock gilt der Manierismus. Der Barock ist stark durch die Phantasie gekennzeichnet, die von der Bewunderung der großen Maler des 16. Jahrhunderts ausging. Er entsprang dem noch immer bleibenden Interesse am Studium der klassischen Antike. In diesem Sinne brach der Barock nicht mit der Renaissance, sondern entwickelte sie zu einer dynamischeren, künstlerischen Auffassung weiter, in der für den Künstler jede Komposition möglich war; und der hielt sich mehr an die Vermutung als an das formale Gleichgewicht. Der barocke Stil breitete sich über ganz Europa aus. In den letzten Jahrzehnten dieser Periode (1720–1750) traten in Frankreich und den germanischen Ländern einige Besonderheiten auf, das Rokoko wurde geboren. In dieser Periode der Begeisterung für das Dekorative erreichte auch die Pastell­malerei ihre Blütezeit. Rokoko. 1720–1770 Der Übergang vom Barock zum Rokoko ("franz." rocaille-Muschel) ist fließend, weswegen das Rokoko auch als Spätbarock bezeichnet wird. Sein Ursprung findet sich im Lebensgefühl des französischen Adels im 18. Jahrhundert. Durch Schäferspiele, Hirtenszenen, opulente Feste, Kostümbälle, Picknicks und Konzerte erzeugte der Adel die Illusion eines unbeschwerten, natürlichen Lebens. Die Sehnsucht nach einem idealisierten Landleben manifestierte sich in Lustschlösschen, Pavillons und dazugehörigen, gestalteten Parkanlagen. Die Frivolität und das spielerische Vergnügen findet sich auch als perfekte Illusion in den raffiniert verfeinerten Motiven des Rokokos wieder. Helle, luftige Farbtöne werden verwendet, die Arbeiten sind übertrieben dekoriert, so auch die Verzierungen von Möbeln und Alltagsgegenständen. Klassizismus. 1770–1840 Klassizismus bezeichnet als kunstgeschichtliche Epoche den Zeitraum etwa zwischen 1770 und 1840. Der Klassizismus löste den Barock ab. Eine Form des Klassizismus ist das Biedermeier. Die Epoche wurde in der Architektur von der Romantik begleitet und vom Historismus abgelöst. Im Verhältnis zum Barock kann der Klassizismus als künstlerisches Gegenprogramm aufgefasst werden. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts gelangte er nach einer ersten Phase der Koexistenz durch die anhaltenden Diskussionen über die ästhetischen Leitbilder des Barock zur Vorherrschaft. Der Klassizismus in der Architektur basiert auf dem Formenkanon des griechischen Tempelbaus, lehnt sich teilweise aber auch an die italienische Frührenaissance an. Außerhalb des deutschsprachigen Raums wird der Klassizismus als „Neoklassizismus“ bezeichnet, dagegen bezeichnet Neoklassizismus im Deutschen die klassizistischen Strömungen im 20. Jahrhundert. Romantik. 1790–1840 Die Romantik ist nicht durch eine besondere Mal- oder Stilart geprägt, vielmehr geht es in dieser Epoche um das Brechen klassischer Normen und die Rückbesinnung auf die Natur, Geschichte und Religion. Durch die Hervorhebung von Emotionalem, Phantastischem und Ungebundenem, versuchte man eine Reaktion auf die Aufklärung zu geben und die Formen des Empirismus und der strengen Art des Klassizismus fallen zu lassen. Harmonisierung Natur und Architektur: Historismus. 1850–1895 Im Historismus wird auf stilistische Elemente vorangegangener Epochen, etwa des Barock, des Rokoko, der Romanik oder der Renaissance, zurückgegriffen, die sowohl einzeln als auch in Kombination in die Werke der Künstler einfließen. Der Historismus wird unter anderem in Neuromanik, Neugotik, Neorenaissance sowie Neobarock unterteilt. Eines der bekanntesten im Historismus entstandenen Bauwerke Deutschlands ist der Berliner Reichstag, bei dem Stilelemente der Neorenaissance und des Neobarock verbunden wurden. Realismus. 1850–1895 Moderne. 1842–1945 Naturalismus, Impressionismus, Pointillismus, Symbolismus, Jugendstil, Expressionismus, Fauvismus, Kubismus, Orphismus, Futurismus, Suprematismus, Dadaismus, Surrealismus, Purismus, Konstruktivismus, Neoplastizismus, Art déco, Bauhaus, Neue Sachlichkeit, Sozialistischer Realismus, Phantastischer Realismus, Abstrakter Expressionismus, Informel, Funktionalismus, Naive Kunst Postmoderne. Nach 1950: Minimalismus, Happening, Fluxus, Pop Art, Op-Art, Kinetische Kunst, Videokunst, Fotorealismus, Konzeptkunst, Performance, Land Art, Body-Art, Neue Wilde, Zeitgenössische Kunst Bildende Kunst in anderen Regionen. Afrika. Spricht man von afrikanischer Kunst, so meint man damit die Kunst Schwarzafrikas, die sich – wie auch die übrige afrikanische Kultur – vom arabischen Norden des Kontinents, den Staaten des Maghrebs, unterscheidet und die künstlerische Produktion vieler sehr verschiedener Ethnien umfasst. Die bäuerlichen Strukturen Afrikas, die hauptsächlich Holzskulpturen hervorbrachten, die klimatischen Bedingungen und ein Lebensraum, der es Termiten und anderen Schädlingen leicht macht, haben fast keine historischen Objekte der traditionellen afrikanischen Kunst überliefert. Da die künstlerisch gestalteten Werke des damals kolonisierten Kontinents erst seit Anfang des 20. Jahrhunderts in Europa als Objekte authentischer Kulturen geschätzt, erforscht und vor allem gesammelt wurden, sind die meisten Werke in den Museen und Sammlungen innerhalb wie außerhalb Afrikas sowie auf dem Kunstmarkt mit wenigen Ausnahmen nicht älter als 150 Jahre. Heute überholte, diskriminierend klingende Begriffe wie Primitivismus, Negerplastik (Carl Einstein) oder (in Frankreich) "art negre" waren affirmative Schlagworte der "Klassischen Moderne", die sich die klaren Formen und die zeitlose Aura der afrikanischen Objekte zum Vorbild nahm. Amerika. Zur präkolumbische Kunst siehe: Azteken, Chichimeken, Huaxteken, Inka, Maya, Mixteken, Olmeken, Purépecha (Tarasken), Tolteken, Totonaken, Zapoteken, Chavín, Moche, Chimu, Recuay, Paracas, Nasca, Ica-Chincha, Chancay, Lima, Taíno, Marajó, Muisca, Narino, Tairona, Calima, Tolima, Sinu, Guinea. Siehe auch. Listen: Kategorien:
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Bundesgerichtshof
Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das oberste Gericht der Bundesrepublik Deutschland auf dem Gebiet der ordentlichen Gerichtsbarkeit und damit letzte Instanz in Zivil- und Strafverfahren. Ferner ist er für verwandte Spezialrechtsgebiete zuständig wie etwa das Berufsrecht in der Rechtspflege. Der BGH soll die Rechtseinheit wahren und das Recht fortbilden, vor allem aber die Entscheidungen der ihm untergeordneten Gerichte überprüfen. Er ist neben dem Bundesarbeitsgericht, Bundesfinanzhof, Bundessozialgericht und Bundesverwaltungsgericht einer der fünf obersten Gerichtshöfe des Bundes ( Abs. 1 GG) und neben dem Bundesverfassungsgericht eines von zwei Bundesgerichten mit Sitz in Karlsruhe, wobei zwei Senate des BGH in Leipzig angesiedelt sind. Hauptsächlich entscheidet der BGH über Revisionen gegen Urteile der Landgerichte und Oberlandesgerichte sowie über Rechtsbeschwerden gegen die Beschlüsse dieser Gerichte. Wie jedes Revisionsgericht erhebt er dabei – anders als ein Berufungsgericht – im Regelfall keine Beweise, sondern entscheidet lediglich darüber, ob das Urteil des Land- oder Oberlandesgerichts auf Rechtsfehlern beruht. In seiner Eigenschaft als Behörde ist der Bundesgerichtshof – wie der Bundesfinanzhof und das Bundesverwaltungsgericht – dem Bundesministerium der Justiz (BMJ) unterstellt und unterliegt – unter Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit – dessen Dienstaufsicht. Gründung und Sitz. Der Bundesgerichtshof wurde am 1. Oktober 1950 gegründet und hat seinen Hauptsitz seitdem in Karlsruhe. Als Vorgängerinstitution gab es in der Britischen Besatzungszone den Obersten Gerichtshof für die Britische Zone mit Sitz in Köln, der Ende September 1950 aufgelöst wurde. Der 5. Strafsenat des BGH war hingegen zur Pflege der „gewachsenen Verbindungen zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik“ in Berlin ansässig und zog 1997 auf Anordnung des Bundesministers der Justiz nach Leipzig in die Villa Sack. Ursprünglich sollte nach der Wiedervereinigung Deutschlands der gesamte BGH in das historische Reichsgerichtsgebäude in Leipzig ziehen, doch konnte sich dieser Vorschlag, zumal gegen den Willen der Richter, politisch nicht durchsetzen. Leipzig erhielt daher gemäß der Empfehlung der Föderalismuskommission von 1992, welche vom Bundestag per Beschluss „zur Kenntnis genommen“ wurde, nur den 5. Strafsenat. In das Reichsgerichtsgebäude zog am 22. August 2002 das bis dahin ebenfalls in Berlin ansässig gewesene Bundesverwaltungsgericht ein. Außerdem sieht die Empfehlung der Föderalismuskommission vor, dass für jeden am BGH neu eingerichteten Zivilsenat ein weiterer Strafsenat nach Leipzig ziehen soll, was als „Rutschklausel“ bezeichnet wird. Als es 2003–2004 und 2009–2010 zur vorübergehenden Einrichtung sogenannter „Hilfssenate“ kam (siehe "Spruchkörper"), wurde die Rutschklausel unter Verweis auf deren provisorischen Charakter nicht angewandt, was der sächsische Justizminister 2017 kritisierte. Aufgrund der zunehmenden Arbeitsbelastung des Gerichts segnete der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages im November 2018 die Einrichtung je eines neuen dauerhaften Zivil- und Strafsenats ab, welche 2019 bzw. 2020 erfolgte. Die Rutschklausel wurde dabei insoweit berücksichtigt, als der neue XIII. Zivilsenat in Karlsruhe eingerichtet wurde, der neue 6. Strafsenat in Leipzig, wo nun 5. und 6. Strafsenat gemeinsam in der Villa Sack untergebracht sind, trotz anfänglicher räumlicher Bedenken. Gerichtsorganisation. Spruchkörper. Die Richter des BGH sind in Senate eingeteilt, die je einen Vorsitzenden und sechs bis acht weitere Mitglieder haben. An den einzelnen Entscheidungen der Senate sind nicht alle Mitglieder beteiligt, sondern die Richter arbeiten in sogenannten Sitzgruppen. Diese bestehen gemäß Abs. 1 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) aus dem Vorsitzenden und vier Beisitzern aus dem Kreis der weiteren Mitglieder, sodass ein Senat als Spruchkörper grundsätzlich in der Besetzung von fünf Mitgliedern entscheidet. Die Zahl der Senate wird gemäß GVG vom Bundesminister der Justiz bestimmt und erhöhte sich seit Gründung des BGH mehrfach. Von 1990 bis 2019 gab es zwölf Zivil- und fünf Strafsenate, seit der Einrichtung je eines weiteren Senats in den Jahren 2019 und 2020 gibt es nunmehr dreizehn Zivilsenate, die mit römischen Zahlen durchnummeriert sind, und sechs Strafsenate, die mit arabischen Zahlen durchnummeriert sind. Zusätzlich bestand von 2003 bis 2004 ein Hilfssenat (IXa-Zivilsenat) zur vorübergehenden Entlastung des IX. Zivilsenats und von 2009 bis 2010 ein weiterer Hilfssenat (Xa-Zivilsenat) zur vorübergehenden Entlastung des X. Zivilsenats. Mit Wirkung vom 1. August 2021 wurde der VIa-Zivilsenat als Hilfssenat für die sogenannten „Diesel-Sachen“ eingerichtet. Zudem gibt es acht Spezialsenate. Sechs davon beschäftigen sich mit dem Berufsrecht in der Rechtspflege, namentlich das Dienstgericht des Bundes (das für dienstrechtliche Verfahren von Richtern und Mitgliedern des Bundesrechnungshofs zuständig ist), der Senat für Notarsachen, der Senat für Anwaltssachen, der Senat für Patentanwaltssachen, der Senat für Wirtschaftsprüfersachen und der Senat für Steuerberater- und Steuerbevollmächtigtensachen. Die beiden weiteren sind der Kartellsenat und der Senat für Landwirtschaftssachen. Den Spezialsenaten gehören die Richter zusätzlich zu ihrer Tätigkeit in einem der Zivil- oder Strafsenate an, da die Spezialsenate nur gelegentlich zusammentreten. Abgesehen vom Kartellsenat, der wie die Zivil- und Strafsenate mit fünf Berufsrichtern besetzt ist, entscheiden die Spezialsenate in der Besetzung mit drei Berufsrichtern und zwei ehrenamtlichen Richtern aus der jeweiligen Berufsgruppe, wobei es sich dabei im Falle des Dienstgerichts des Bundes um zwei (Berufs-)Richter des Gerichts des Betroffenen handeln kann. Für die Entscheidungen über Ermittlungsanträge des Generalbundesanwalts in Strafverfahren (z. B. Hausdurchsuchung, Beschlagnahme, Haftbefehl) sind ebenso wie bei anderen Strafgerichten besondere Ermittlungsrichter bestellt, deren Zahl vom Bundesminister der Justiz bestimmt wird ( GVG). Auch diese Tätigkeit erfolgt zusätzlich zu der in einem der Straf- oder Zivilsenate. Bis 2016 gab es langjährig stets sechs planmäßige Ermittlungsrichter, welche sich diesen Aufgaben nur mit einem relativ kleinen Teil ihres Deputats widmeten. 2017 wurde dies dahingehend geändert, dass nun zwei planmäßige Ermittlungsrichter, die sich dieser Aufgabe mit einem größeren Teil ihres Deputats widmen, sowie vier Vertreter bestellt sind. Die Entscheidungen der Ermittlungsrichter können in bestimmten Fällen ( Abs. 5 StPO) durch Beschwerde angefochten werden, über welche ein Strafsenat des Bundesgerichtshofs entscheidet (kleiner Devolutiveffekt), der dann gemäß Abs. 2 GVG ausnahmsweise nur mit drei Richtern besetzt ist. Geschäftsverteilung. Die Verteilung der einzelnen Verfahren auf die verschiedenen Senate ist im Geschäftsverteilungsplan des Gerichts geregelt. Das Prinzip des gesetzlichen Richters verlangt, dass von vornherein nach abstrakt-generellen Kriterien festgelegt ist, welcher Senat in welcher Besetzung für einen Fall zuständig ist, bevor der Bundesgerichtshof für eine Rechtssache zuständig wird. Auf diese Weise sollen Manipulationen vermieden werden. Der Geschäftsverteilungsplan des Bundesgerichtshofs regelt die Zuständigkeit der Senate dabei in Zivilsachen nach den betroffenen Rechtsmaterien, in Strafsachen in der Regel danach, welches Gericht die angegriffene Entscheidung erlassen hat. Zusätzlich sind insbesondere dem ersten, dritten und vierten Strafsenat Sonderzuständigkeiten zugewiesen. Der vollständige Geschäftsverteilungsplan steht auf der Internetseite des Bundesgerichtshofs zum Download zur Verfügung. Gegenwärtig (Geschäftsverteilung 2019) bestehen im Groben folgende Zuständigkeiten: Geschichte der Geschäftsverteilung. Die Zuständigkeitsbereiche der Senate haben sich seit der Errichtung des BGH vielfach geändert, beispielsweise um der zunehmenden Bedeutung bestimmter Rechtsbereiche Rechnung zu tragen und eine ausgeglichene Arbeitsbelastung der Senate zu erreichen. Besonders anschaulich kann dies am Beispiel der regionalen Zuständigkeit der fünf Strafsenate für die Oberlandesgerichtsbezirke für die Zeit ab 1990 gezeigt werden: Bis zur Wiedervereinigung hatte der 5. Strafsenat seinen Sitz in West-Berlin, war jedoch stets auch für andere westdeutsche Oberlandesgerichtsbezirke zuständig. Im Zuge der Wiedervereinigung wurde der Senat nach Leipzig verlegt, behielt jedoch bis heute die Zuständigkeit für das (dann vergrößerte) Land Berlin. In den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung bestanden in den neuen Ländern die Bezirksgerichte der DDR fort. Jedem Strafsenat wurde die Zuständigkeit für die Bezirksgerichte in einem der fünf Länder zugewiesen (Mecklenburg-Vorpommern zum 1. Strafsenat, Thüringen zum 2. Strafsenat, Sachsen zum 3. Strafsenat, Sachsen-Anhalt zum 4. Strafsenat und Brandenburg zum 5. Strafsenat). Erst 1993 und 1994 wurden die Oberlandesgerichte Jena, Naumburg, Rostock, Brandenburg und Dresden errichtet. Auch nach der Wiedervereinigung wurden gelegentlich einzelne Oberlandesgerichte der Zuständigkeit eines anderen Strafsenats unterstellt. So wechselte 1991 das OLG Oldenburg vom 5. in den 3. Strafsenat (Bild 2) und 1993 das OLG Rostock mit seiner Errichtung vom 1. in den 4. Strafsenat (Bild 3). 1998 tauschten die OLGs Celle und Dresden die Senate, d. h. ab 1998 war Celle dem 3. Strafsenat und Dresden dem 5. Strafsenat zugewiesen (Bild 4). 2010 wechselte die Zuständigkeit für das OLG Schleswig vom 3. in den 5. Strafsenat (Bild 5) und 2012 die Zuständigkeit für das OLG Rostock vom 4. in den 3. Strafsenat und für das OLG Saarbrücken vom 4. in den 5. Strafsenat (Bild 6). 2014 wurden die südlichen Landgerichte des OLG Karlsruhe dem 4. Strafsenat zugeordnet. Ferner wechselte die Zuständigkeit des OLG Koblenz vom 2. zum 3. Strafsenat (Bild 7). Im Jahr 2015 wurde die Zuständigkeit des OLG Rostock zum dritten Mal geändert: nun zum 2. Strafsenat (Bild 8). Ab September 2019 wurden die südlichen Landgerichtsbezirke des OLG Karlsruhe wieder dem 1. Strafsenat zugeordnet. Mit der Wiedereinrichtung des 6. Strafsenat des Bundesgerichtshofes wurden diesem im Februar 2020 die OLG-Bezirke Bamberg und Nürnberg (vom 1. Strafsenat), Rostock (vom 2. Strafsenat), Celle (vom 3. Strafsenat), Naumburg (vom 4. Strafsenat) und Brandenburg sowie Braunschweig (vom 5. Strafsenat) zugewiesen. Arbeitsweise. Ist durch die Geschäftsverteilung des Gerichts ein Fall dem zuständigen Senat zugeteilt worden, so bestimmt anschließend die von den Richtern des jeweiligen Senats gemäß GVG vor Beginn des Geschäftsjahres zu beschließende senatsinterne Geschäftsverteilung, in welcher personellen Besetzung über die Sache entschieden wird und welcher Richter Berichterstatter ist, also die Akten bearbeitet und den Fall vorbereitet. Der Vorsitzende übt in der Regel keine Berichterstattertätigkeit aus, sondern liest die Akten aller dem Senat zugewiesenen Fälle zusätzlich zum jeweiligen Berichterstatter (Vier-Augen-Prinzip). Der Senat trifft sich in regelmäßigen Abständen zur Beratung, die in Zivilsachen durch „Voten“ (gutachtliche Stellungnahmen und Entscheidungsvorschläge) der jeweiligen Berichterstatter vorbereitet wird. In Strafsachen dagegen werden in der Beratung von jedem Richter die ihm als Berichterstatter zugewiesenen Fälle mündlich zusammengefasst und die rechtlichen Probleme herausgestellt. Anschließend wird gemeinsam über den Fall beraten. Unter bestimmten Voraussetzungen, die im Abschnitt "Verfahren" beschrieben sind, kann der Senat aufgrund des Beratungsergebnisses durch schriftlichen Beschluss entscheiden, ohne dass eine Verhandlung stattfindet. Anderenfalls wird eine Verhandlung anberaumt, welche grundsätzlich öffentlich ist. Eine Verhandlung in Revisionssachen entspricht einem Gespräch zwischen den Richtern und den Verfahrensbeteiligten über die Frage, ob das angefochtene Urteil auf Rechtsfehlern beruht. In der anschließenden Urteilsberatung wird, sofern keine Einigkeit besteht, eine Entscheidung durch Abstimmung herbeigeführt, wobei jeder der fünf Richter eine Stimme hat. Die Entscheidung wird anschließend als Urteil verkündet. Verfahren. Der Bundesgerichtshof wird gemäß §§ 133, 135 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) hauptsächlich als Revisionsgericht tätig. Zudem entscheidet der BGH in Zivilsachen über Sprungrevisionen, Rechtsbeschwerden und Sprungrechtsbeschwerden ( GVG) sowie in Strafsachen über Beschwerden gegen Beschlüsse und Verfügungen der Oberlandesgerichte und Beschwerden gegen Verfügungen der Ermittlungsrichter des BGH ( GVG). Durch Sondervorschriften in anderen Gesetzen sind ihm weitere Verfahren zugewiesen. Im Jahr 2014 hatte der BGH in Zivilsachen 4.158 Revisionen einschließlich Nichtzulassungsbeschwerden, 1.544 Rechtsbeschwerden und ähnliche Verfahren sowie 528 sonstige Rechtssachen zu bearbeiten. In Strafsachen waren es für die Senate 2.976 Revisionen einschließlich Vorlegungssachen und 436 sonstige Rechtssachen, für die Ermittlungsrichter 1.247 Rechtssachen. Revision in Strafsachen. Die Revision in Strafsachen zum BGH erfolgt gegen die in erster Instanz ergangenen Urteile der Landgerichte (Große Strafkammern) und der Oberlandesgerichte (in Staatsschutzsachen nach GVG). Sie kann sowohl vom Angeklagten als auch von der Staatsanwaltschaft oder der Nebenklage eingelegt werden. Hält der Senat aufgrund seiner Beratung die Revision für unzulässig ( Abs. 1 Strafprozessordnung) oder den Antrag des Generalbundesanwalts entsprechend einstimmig für offensichtlich unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO) oder hält er eine zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet (§ 349 Abs. 4 StPO), so kann er durch Beschluss entscheiden. In den übrigen Fällen (ca. 5 % der Revisionen) wird aufgrund einer Hauptverhandlung durch Urteil entschieden (§ 349 Abs. 5 StPO). In der Hauptverhandlung vor dem Bundesgerichtshof wird die Staatsanwaltschaft durch einen Vertreter des Generalbundesanwalts vertreten, der Angeklagte durch seinen Verteidiger, sofern er einen hat. Der Angeklagte darf zwar, sofern es ihm möglich ist, persönlich an der Verhandlung teilnehmen, hat jedoch keinen Anspruch darauf. Insbesondere hat er keinen Anspruch auf Überführung zur Verhandlung, sofern er sich in Haft befindet ( Abs. 2 StPO). Dies ist dadurch begründet, dass die Verhandlung der Erörterung von Rechtsfragen dient (keine Beweisaufnahme) und somit der Anspruch des Verteidigers auf Anwesenheit zur Wahrung der Interessen des Angeklagten genügt. In der Praxis nimmt der Angeklagte sehr selten an der Verhandlung teil. Gemäß StPO beginnt die Hauptverhandlung mit dem Vortrag des Berichterstatters. Daran schließt sich der Vortrag desjenigen Beteiligten an, der Revision eingelegt hat. Anschließend folgen die Ausführungen der Gegenseite. Sofern der Angeklagte anwesend ist, erhält er das letzte Wort. Hält der BGH eine Revision für begründet, so wird das angefochtene Urteil aufgehoben ( StPO). Der BGH kann anschließend jedoch nur dann selbst in der Sache entscheiden, wenn keine weiteren Tatsachenfeststellungen erforderlich sind und keine neue Strafzumessung vorzunehmen ist. Dies ist gemäß StPO unter anderem der Fall, wenn der Angeklagte nach Ansicht des BGH aus rechtlichen Gründen freizusprechen ist, das Verfahren einzustellen ist oder in Übereinstimmung mit dem Antrag der Staatsanwaltschaft auf die Mindeststrafe erkannt werden kann. Auch Fehler beim Strafausspruch kann der BGH teilweise selbst korrigieren. Liegen die Voraussetzungen für eine eigene Entscheidung des BGH nicht vor, insbesondere wenn weitere Tatsachenfeststellungen erforderlich sind, so verweist er die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an einen anderen Spruchkörper des Gerichtes zurück, dessen Urteil aufgehoben wurde (§ 354 Abs. 2 StPO). Revision und Rechtsbeschwerde in Zivilsachen. Die Revision in Zivilsachen zum BGH erfolgt in der Regel gegen in der Berufungsinstanz erlassene Endurteile der Land- und Oberlandesgerichte. Sie ist nur möglich, wenn sie vom Berufungsgericht zugelassen wurde oder der Bundesgerichtshof sie aufgrund einer Nichtzulassungsbeschwerde nachträglich für zulässig erklärt ( Abs. 1 Zivilprozessordnung). Die Revision ist zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder zur Fortbildung des Rechts oder Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs erforderlich ist (§ 543 Abs. 2 ZPO). Hält der Senat eine Revision für unzulässig, verwirft er sie, was durch Beschluss erfolgen kann ( ZPO). Sind nach einstimmiger Ansicht des Senats die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision durch das Berufungsgericht nicht gegeben und zudem keine Erfolgschancen ersichtlich, wird die Revision durch Beschluss zurückgewiesen ( ZPO). In der Mehrzahl der Verfahren entscheidet der Senat jedoch aufgrund einer mündlichen Verhandlung ( ZPO) durch Urteil. In Zivilsachen müssen sich die Parteien von einem beim BGH zugelassenen Rechtsanwalt vertreten lassen (siehe Abschnitt "Rechtsanwälte"). Hat eine Revision Erfolg, so wird das angefochtene Urteil aufgehoben. Ist der Sachverhalt rechtsfehlerfrei festgestellt worden und die Sache danach reif zur Entscheidung, so entscheidet der BGH selbst über sie ( Abs. 3 ZPO). Andernfalls verweist er die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurück (§ 563 Abs. 1 ZPO). In Familiensachen wurde zum 1. September 2009 das Rechtsmittel der Revision durch das der Rechtsbeschwerde abgelöst, welche hier grundsätzlich nur bei Zulassung durch die Vorinstanz möglich ist. Eine Rechtsbeschwerde wird ähnlich behandelt wie eine Revision (vgl. ZPO), über sie wird jedoch gemäß § 577 Abs. 6 ZPO durch Beschluss entschieden, welcher nicht begründet werden muss, sofern die Sache keine grundsätzliche Bedeutung hat. Auch in anderen Bereichen als dem Familienrecht erfolgt die Beanstandung bestimmter Arten von Entscheidungen nicht durch Revision, sondern durch Rechtsbeschwerde, beispielsweise die Beanstandung von Nebenentscheidungen und Entscheidungen in Nebenverfahren wie Zwangsvollstreckungs-, Insolvenz- und Kostensachen. Große Senate. Beim Bundesgerichtshof sind gemäß Abs. 1 GVG ein Großer Senat für Zivilsachen und ein Großer Senat für Strafsachen eingerichtet, welche zusammen die Vereinigten Großen Senate bilden. Gemäß § 132 Abs. 5 GVG besteht der Große Senat für Zivilsachen aus dem Präsidenten und je einem Mitglied der Zivilsenate, der Große Senat für Strafsachen aus dem Präsidenten und je zwei Mitgliedern der Strafsenate. Die Mitglieder der Großen Senate werden vom Präsidium bestimmt (§ 132 Abs. 6 GVG). Häufig sind die Senatsvorsitzenden auch Vertreter ihres Senats im Großen Senat. Will ein Senat in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen Senats abweichen, an welcher der andere Senat auf Anfrage festhält, so muss die Sache gemäß § 132 Abs. 2 und 3 GVG dem Großen Senat vorgelegt werden, welcher dann verbindlich über die Rechtsfrage entscheidet ( Abs. 1 GVG). Will ein Zivilsenat von einem anderen Zivilsenat abweichen, so ist der Große Senat für Zivilsachen anzurufen, bei Abweichungen zwischen Strafsenaten der Große Senat für Strafsachen. Will hingegen ein Zivilsenat von einem Strafsenat abweichen oder umgekehrt, so entscheiden die Vereinigten Großen Senate. Des Weiteren kann ein Senat eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung dem Großen Senat zur Entscheidung vorlegen, wenn das nach seiner Auffassung zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist (§ 132 Abs. 4 GVG). Die Großen Senate entscheiden nur über Rechtsfragen, der vorlegende Senat ist jedoch bei seiner anschließenden Sachentscheidung an die Entscheidung des Großen Senats zur Rechtsfrage gebunden (§ 138 Abs. 1 S. 3 GVG). Da die Großen Senate nur über Rechtsfragen befinden, können sie ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 138 Abs. 1 S. 2 GVG), wobei in Strafsachen stets der Generalbundesanwalt zu hören ist, was auch in der Beratung geschehen kann (§ 138 Abs. 2 GVG). Entscheidungen werden im Fall der Uneinigkeit durch Abstimmung herbeigeführt, wobei jeder Richter eine Stimme hat; bei Stimmengleichheit gibt die Stimme des Vorsitzenden, also des Präsidenten, den Ausschlag (§ 132 Abs. 6 S. 3 GVG). Verhältnis zu anderen Gerichten. Der Bundesgerichtshof steht als oberstes Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit im Instanzenzug über den Amts-, Land- und Oberlandesgerichten der Länder. Gegen seine Entscheidungen ist somit grundsätzlich kein Rechtsmittel mehr möglich, sie werden mit ihrer Verkündung rechtskräftig. Zwar kann auch gegen Entscheidungen des BGH – wie gegen jeden Akt der deutschen öffentlichen Gewalt – Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht eingelegt werden, doch stellt diese keine vollständige Überprüfung der Entscheidung des BGH dar, sondern lediglich eine Überprüfung am Maßstab des Verfassungsrechts. Mögliche Verstöße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) durch Entscheidungen des BGH – ebenso wie jedes anderen letztinstanzlichen Gerichts – können vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg geltend gemacht werden, in der Regel allerdings erst nach Ausschöpfung der Verfassungsbeschwerde. Bislang nicht abschließend geklärt ist, welche Bindungswirkung die Urteile des EGMR in Deutschland haben. Zu den anderen obersten Gerichtshöfen des Bundes ist der BGH gleichrangig, kann sich also nicht über deren Rechtsauffassungen hinwegsetzen. Für die Entscheidung von Rechtsfragen bei abweichenden Rechtsauffassungen zwischen dem Bundesgerichtshof und einem anderen obersten Gerichtshof des Bundes ist gemäß Abs. 3 GG der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes zuständig. Hat der Bundesgerichtshof Recht der Europäischen Union anzuwenden, so ist er gemäß AEUV als letzte innerstaatliche Instanz grundsätzlich dazu verpflichtet, eine noch ungeklärte Rechtsfrage vorab im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens dem Gerichtshof der Europäischen Union in Luxemburg vorzulegen, dessen Beantwortung der Rechtsfrage für den BGH bei seiner anschließenden Sachentscheidung bindend ist. Die Rechtsprechung des BGH ist auch für die österreichische Rechtswissenschaft von Bedeutung: Im Bereich des Handelsrechts, das überwiegend durch das in Österreich im Jahr 1938 eingeführte deutsche Handelsgesetzbuch geregelt ist, orientieren sich die Gerichte in Auslegungsfällen bevorzugt an Entscheidungen des BGH. Das österreichische Handelsgesetzbuch wurde zwar zum 1. Januar 2007 im Zuge einer umfassenden Novelle in Unternehmensgesetzbuch umbenannt, stimmt jedoch weiterhin in vielen Teilbereichen mit dem deutschen Handelsgesetzbuch überein. Beschäftigte. Der Bundesgerichtshof hat (Stand: 2012) 404,5 Planstellen. Davon sind 129 Richter, 48 wissenschaftliche Mitarbeiter, 106,5 Beamte, 116 tarifliche Arbeitnehmer und 5 Auszubildende. Da einige Personen in Teilzeit beschäftigt sind, liegt die tatsächliche Zahl der Beschäftigten etwas höher – im Jahr 2012 lag sie bei 406 Personen. Präsident. An der Spitze des Gerichts steht der Präsident ( GVG). Er ist Dienstvorgesetzter aller Beschäftigten. Als Präsident eines Obersten Gerichtshofs des Bundes ist er in die Besoldungsgruppe R 10 eingestuft. Er ist gemäß GVG kraft Amtes Vorsitzender des Präsidiums des BGH, welchem des Weiteren zehn gewählte Richter angehören und welches gemäß Abs. 1 GVG für die Besetzung der Senate und die Geschäftsverteilung zuständig ist. Der Präsident gehört in der Regel keinem der Zivil- oder Strafsenate an, häufig jedoch dem Kartellsenat. Er führt zudem kraft Gesetzes ( Abs. 6 S. 3 GVG) den Vorsitz in den Großen Senaten, wo seine Stimme bei Stimmengleichheit den Ausschlag gibt. Ebenfalls kraft Gesetzes ist er Vorsitzender des Senats für Anwaltssachen ( Abs. 2 BRAO). Neunter Präsident des BGH ist seit dem 1. Juli 2014 Bettina Limperg; sie ist die erste Frau in diesem Amt. Im Folgenden eine Liste aller bisherigen Präsidenten des Bundesgerichtshofs: Vizepräsident. Der Vizepräsident des Bundesgerichtshofs ist der ständige Vertreter des Präsidenten. Er ist zugleich Vorsitzender Richter eines der Senate des BGH und als solcher in die Besoldungsgruppe R 8 eingestuft. Bis 1968 war die Stelle des Vizepräsidenten nicht eigenständig vorgesehen. Ständiger Vertreter des Präsidenten war in dieser Zeit gemäß § 5 der Geschäftsordnung des Bundesgerichtshofs der jeweils dienstälteste Senatsvorsitzende (damals Senatspräsident genannt). Später wurde die Stelle eingerichtet. Vom 1. August 2015 bis 2. Dezember 2016 war die Stelle des Vizepräsidenten vakant. Seitdem ist Jürgen Ellenberger Vizepräsident des Bundesgerichtshofs. Im Folgenden eine Liste aller Vizepräsidenten des Bundesgerichtshofs kraft Ernennung: Richter und Vorsitzende Richter. Die Richter am Bundesgerichtshof tragen durch die ihnen übertragenen Aufgaben eine besondere Verantwortung. Durch die Auswahl der Richter kann die Rechtsprechung in der Bundesrepublik Deutschland erheblich beeinflusst werden. Deshalb wird sie von einem Richterwahlausschuss vorgenommen ( Abs. 1 GVG), welchem die Justizminister der Länder und 16 vom Bundestag gewählte Mitglieder angehören. Kandidaten können gemäß Richterwahlgesetz (RiWG) vom Bundesjustizminister und von den Mitgliedern des Richterwahlausschusses vorgeschlagen werden. Gewählt werden kann nur, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt und das 35. Lebensjahr vollendet hat (§ 125 Abs. 2 GVG). Der Bundesgerichtshof gibt durch seinen Präsidialrat eine Stellungnahme zur persönlichen und fachlichen Eignung der Vorgeschlagenen ab, welche für den Richterwahlausschuss aber nicht bindend ist. Der Richterwahlausschuss entscheidet in geheimer Abstimmung mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen ( RiWG). Nach ihrer Wahl werden die Richter vom Bundespräsidenten ernannt. Die Richter am Bundesgerichtshof sind grundsätzlich hauptamtliche und planmäßige Berufsrichter. Lediglich bei den Entscheidungen der Spezialsenate zum Berufsrecht kommen neben drei Berufsrichtern zwei ehrenamtliche Richter aus dem jeweiligen Berufszweig zum Einsatz. Die Berufsrichter sind als Bundesrichter an einem der Obersten Gerichtshöfe des Bundes grundsätzlich in die Besoldungsgruppe R 6 eingeordnet, Vorsitzende Richter in die Besoldungsgruppe R 8; zusätzlich erhalten alle eine Bundeszulage. Die derzeit 129 Richter und Vorsitzenden Richter üben ihr Amt wie alle Richter unabhängig aus ( Abs. 1 GG) und werden auf Lebenszeit ernannt ( Abs. 2 S. 2 GG), können also vor Erreichen des Renteneintrittsalters nur aufgrund schwerwiegender Verstöße aus dem Amt entfernt werden. Das "Dienstgericht des Bundes" ist als einer der Spezialsenate beim Bundesgerichtshof selbst eingerichtet, hätte letztlich also gemäß DRiG über Disziplinarmaßnahmen gegen Kollegen bis hin zur Entfernung aus dem Amt zu entscheiden. Der Frauenanteil unter den Richtern am Bundesgerichtshof beträgt derzeit (Stand: 2015) mit 36 von 130 Personen (einschließlich der Präsidentin) 28 Prozent. Er ist damit gegenüber 2012, als es mit 26 von 130 Personen genau 20 Prozent waren, stark gestiegen. Im Vergleich mit den anderen obersten Gerichtshöfen des Bundes hat der BGH einen höheren Frauenanteil als der Bundesfinanzhof (22 %) oder das Bundessozialgericht (26 %) und einen ebenso hohen Anteil wie das Bundesverwaltungsgericht (28 %); lediglich das Bundesarbeitsgericht hat einen höheren Anteil (40 %). Wissenschaftliche Mitarbeiter. Der BGH beschäftigt stets etwa 50 wissenschaftliche Mitarbeiter, offiziell „wissenschaftliche Hilfskräfte“ ( Abs. 1 GVG). Die wissenschaftlichen Mitarbeiter müssen die Befähigung zum Richteramt haben und sind meist Richter am Amts-, Land-, Oberlandes- oder Bundespatentgericht oder Staatsanwälte. Sie werden für drei Jahre an den BGH abgeordnet und einem Senat zugeteilt. Dort sollen sie die Richter durch vorbereitende Arbeiten, insbesondere durch Recherche, Voten und Entscheidungsentwürfe, in ihrer juristischen Arbeit unterstützen. In der Regel erhält jeder Zivilsenat drei und jeder Strafsenat zwei wissenschaftliche Mitarbeiter. Sonstige Beschäftigte. Die etwa 240 weiteren Beschäftigten des BGH sind teilweise den einzelnen Senaten zugeordnet, wie etwa die Geschäftsstellen und Schreibkräfte, oder sie nehmen die am Gericht bestehenden allgemeinen Verwaltungsaufgaben wahr, wie etwa Bibliotheksführung, Öffentlichkeitsarbeit, Sicherheit, Poststelle oder technische Dienste. Rechtsanwälte. Vor dem Bundesgerichtshof können in Zivilsachen grundsätzlich (abgesehen von Patent-Nichtigkeitsverfahren) nur besonders zugelassene Rechtsanwälte auftreten. Die Zulassung erfolgt gemäß Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) durch das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz. Zugelassen werden kann nur, wer das 35. Lebensjahr vollendet hat, den Rechtsanwaltsberuf mindestens fünf Jahre ohne Unterbrechung ausgeübt hat und durch den Wahlausschuss für Rechtsanwälte bei dem Bundesgerichtshof benannt wird ( BRAO). Der Wahlausschuss besteht aus dem Präsidenten und den Senatsvorsitzenden der Zivilsenate des Bundesgerichtshofes sowie aus den Mitgliedern des Präsidiums der Bundesrechtsanwaltskammer und des Präsidiums der Rechtsanwaltskammer bei dem Bundesgerichtshof ( BRAO). Die beim Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwälte sind Pflichtmitglieder der Rechtsanwaltskammer bei dem Bundesgerichtshof und nur dort zugelassen (Singularzulassung). Sie haben ihren Kanzleisitz alle im Stadt- oder Landkreis Karlsruhe. Gegenwärtig (Stand: April 2022) sind 38 Rechtsanwälte beim BGH zugelassen. Die Kriterien für die Auswahl sind „weit überdurchschnittliche Kenntnisse und Fähigkeiten, die forensische Erfahrung und die Befähigung zum praktischwissenschaftlichen Arbeiten“. Die letzte Wahl fand 2013 statt. Die Zulassungsbeschränkung wird mit dem Erfordernis erhöhten revisionsrechtlichen Sachverstands begründet. Ob sie mit der Verfassung (insbesondere GG) vereinbar ist, wird seit Jahren immer wieder aufs Neue diskutiert. Der Bundesgerichtshof hat dies zuletzt 2006 bejaht. Die dagegen eingelegte Verfassungsbeschwerde wurde vom Bundesverfassungsgericht 2008 nicht zur Entscheidung angenommen, dabei führte das Gericht aus, dass GG nicht verletzt sei. In Strafsachen kann hingegen jeder Verteidiger vor dem Bundesgerichtshof auftreten. In Verfahren nach dem Bundesrückerstattungsgesetz besteht gar kein Anwaltszwang ( Abs. 3 ZustÜblG), sodass insoweit jede Person vor dem Bundesgerichtshof auftreten kann. Elektronische Eingaben. Das Gericht nimmt eine Vorreiterrolle im elektronischen Rechtsverkehr ein. Zusammen mit dem Bundespatentgericht war der BGH an der Entwicklung von XJustiz maßgeblich beteiligt, mit dem bundesweit einheitliche Standards für den Austausch elektronischer Informationen geschaffen werden sollen. Bereits seit 2001 besteht für die beim BGH zugelassenen Rechtsanwälte in Zivilsachen die Möglichkeit, Schriftsätze in elektronischer Form einzureichen. In Strafsachen hat der Generalbundesanwalt seit 2006 die Möglichkeit der elektronischen Einreichung von Schriftsätzen in Revisionsverfahren. Seit 2007 ergeben sich die technischen Voraussetzungen und die zulässigen Dokumentenformate für elektronische Eingaben aus der "Verordnung über den elektronischen Rechtsverkehr beim Bundesgerichtshof und Bundespatentgericht (BGH/BPatGERVV)". Die elektronischen Eingaben erfolgen über ein elektronisches Postfach, wofür der BGH seit 2010 das Elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach verwendet, an welchem sich mittlerweile viele deutsche Gerichte beteiligen. Baugeschichte und Gebäudenutzung. Der Bundesgerichtshof befindet sich seit seiner Gründung auf dem etwa vier Hektar großen Gelände des ehemaligen Erbgroßherzoglichen Palais, das im Südwesten der Karlsruher Innenstadt zwischen der Kriegs-, Herren-, Blumen- und Ritterstraße liegt. Die Gebäude sind rings um eine zentrale Rasenfläche gruppiert, auf der ein Galatea-Brunnen steht. Von der ursprünglichen Bebauung existieren heute noch das Palais selbst an der Südseite des Grundstücks und das ehemalige Gärtnerhaus (heute „Weinbrennergebäude“ genannt) an der Nordwestseite. Das Erbgroßherzogliche Palais beherbergt heute den Präsidenten und die Verwaltung des BGH sowie einige Zivilsenate und deren Sitzungssäle. Bereits in den 1950er Jahren wurden erste Um- und Anbauarbeiten durchgeführt, um dem wachsenden Platzbedarf des Gerichts gerecht zu werden. Von 1958 bis 1960 entstand entlang der Herrenstraße nach den Plänen von Erich Schelling das Westgebäude sowie ein südlich daran angeschlossener abhörsicherer Sitzungssaal für die Strafsenate. Im Westgebäude befinden sich heute die vier in Karlsruhe sitzenden Strafsenate, die Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofes, einige Zivilsenate und das Casino (gehobene Kantine) des Gerichts. Ebenfalls von 1958 bis 1960 wurde ein Nordgebäude errichtet, das unter anderem Platz für die Bundesanwaltschaft bot. Bis 1978 war das Gelände des Bundesgerichtshofs für die Bevölkerung frei zugänglich. Nach dem Mord an Generalbundesanwalt Siegfried Buback und einem missglückten Raketenangriff durch die RAF wurde die gesamte Anlage jedoch von einer videoüberwachten Doppelzaunanlage umzogen. Als Haupteingang wurde ein Kontrollgebäude mit Eingangsschleuse zwischen Westgebäude und Weinbrennergebäude errichtet. Bereits seit den 1970er Jahren waren verschiedene Konzepte für Erweiterungsbauten im Gespräch, da der Platzbedarf des Gerichts mit zunehmendem Arbeitsaufkommen stetig stieg und zwischenzeitlich zusätzliche Gebäude in der Karlsruher Innenstadt angemietet werden mussten. Schließlich entschloss man sich, die Bundesanwaltschaft aus dem Gelände auszulagern. 1998 bezog sie ihren neuen Dienstsitz in der Brauerstraße, sodass der Weg frei war für eine Modernisierung und Erweiterung des Nordgebäudes. Zudem war nach der Wiedervereinigung der zunächst formell nur provisorische Dienstsitz in Karlsruhe endgültig zum Sitz des Bundesgerichtshofes erklärt worden, sodass die dringend nötige Erweiterung nicht mehr mit Verweis auf den provisorischen Zustand verweigert werden konnte. Nach Abriss des alten Nordgebäudes entstand von 2000 bis 2003 auf der Nordhälfte des BGH-Geländes ein zur zentralen Parkanlage offener U-förmiger Bau, in welchem sich heute einige Zivilsenate und deren Sitzungssäle, die Bibliothek des Bundesgerichtshofs sowie das "Rechtshistorische Museum Karlsruhe" befinden. 2011 wurde das sanierungsbedürftige und als zu abweisend erachtete Kontrollgebäude abgerissen und anschließend durch ein neues Empfangsgebäude ersetzt. In dessen Obergeschoss befindet sich zudem ein neuer großer Sitzungssaal für die Strafsenate, der am 6. März 2012 erstmals durch den 1. Strafsenat genutzt und am 18. April 2012 offiziell eingeweiht wurde. Verhandlungsbesucher müssen nun nicht mehr vom Haupteingang zum alten Sitzungssaal geleitet werden, sondern passieren die Kontrolle im Erdgeschoss des Empfangsgebäudes und gelangen von dort direkt ins Obergeschoss zum neuen Sitzungssaal. Dieser umfasst 120 Zuschauerplätze. Im ersten Stock des Erbgroßherzoglichen Palais wurde 1957 eine marmorne Gedenktafel eingelassen, die an 34 Richter und Anwälte des Leipziger Reichsgerichts und der Reichsanwaltschaft erinnert, die nach Ende der NS-Herrschaft 1945 und 1946 in Deutschland in sowjetischer Gefangenschaft starben. Die Tafel hatte in den ersten zwanzig Jahren einen blumengeschmückten, altarähnlichen Vorbau und ein Kondolenzbuch. Sie wurde 2018 um eine Plakette und 2021 um eine Stelltafel ergänzt, die auf das nationalsozialistische Unrechtssystem hinweist, an dem diese Juristen mitwirkten, von denen 23 Mitglieder der NSDAP waren. Im Erdgeschoss des Palais wurde außerdem eine Stele als Mahnmal für die Opfer der NS-Justiz aufgestellt. Bibliothek. Die Bibliothek des Bundesgerichtshofs verfügt über einen Bestand von etwa 440.000 Druckwerken sowie etwa 20.000 weiteren Medieneinheiten und ist damit die größte Gerichtsbibliothek Deutschlands. Nach der Wiedervereinigung wurden ihr die Bestände der Bibliothek des Obersten Gerichts der DDR übertragen, darunter auch sehr viele historisch wertvolle Werke aus der Bibliothek des Reichsgerichts. Die Bibliothek des Bundesgerichtshofs erfasst die relevante juristische Literatur von 1800 bis 1970 fast vollständig und hat seitdem bei der Beschaffung von Medieneinheiten den Schwerpunkt entsprechend der Tätigkeit des Bundesgerichtshofs auf zivil- und strafrechtliche Literatur gelegt. Die jährlichen Ausgaben für Neuanschaffungen belaufen sich auf etwa 1.000.000 Euro. Durch den 2003 erfolgten Umzug in das neu gestaltete Nordgebäude erhielt die Bibliothek erstmals repräsentative Räumlichkeiten mit 21,5 km Buchstellmöglichkeiten und modern ausgestatteten Arbeitsplätzen. Sie wird vorrangig von den Richtern des Bundesgerichtshofs und ihren Wissenschaftlichen Mitarbeitern, den beim BGH zugelassenen Rechtsanwälten und akkreditierten Pressevertretern und den Mitarbeitern der Bundesanwaltschaft genutzt und wird für diese tätig, beispielsweise bei der Beschaffung benötigter Medien. Sie ist während der allgemeinen Dienstzeiten jedoch auch für Fremdbenutzer zugänglich, wovon jährlich knapp 3.000 Personen Gebrauch machen. Veröffentlichung der Entscheidungen. Der Bundesgerichtshof veröffentlicht seine seit dem 1. Januar 2000 ergangenen Entscheidungen in elektronischer Form auf seiner Internetseite, wo sie kostenlos abgerufen werden können. Persönliche Daten werden vor der Veröffentlichung stets anonymisiert. Seit 2011 bietet der BGH in Zusammenarbeit mit der Universität des Saarlandes zudem für ausgewählte Entscheidungen die Möglichkeit einer Benachrichtigung per E-Mail an, sobald der Volltext der Entscheidung auf der Internetseite des Bundesgerichtshofs abrufbar ist. In gedruckter Form wird die vollständige Entscheidungssammlung des BGH nicht veröffentlicht, sondern lediglich beim BGH archiviert. Vor dem 1. Januar 2000 ergangene Entscheidungen können gegen eine Kopiergebühr beim Entscheidungsversand des Bundesgerichtshofs angefordert werden; auch sie werden vor dem Versenden anonymisiert. Auch im Jahr 2014 erhielt der Entscheidungsversand noch über 1.400 Anfragen. Zudem beteiligt sich der BGH seit 1980 am elektronischen juristischen Informationssystem „juris“. Hierfür wertet die Dokumentationsstelle des Bundesgerichtshofs die Entscheidungen sämtlicher Instanzen aus dem Bereich der ordentlichen Gerichtsbarkeit sowie etwa 220 Fachzeitschriften aus und stellt jährlich über 50.000 Entscheidungen, Fundstellen und Anmerkungen in die Datenbank ein. Die Entscheidungen des BGH sind dort seit etwa 1984 im Wesentlichen vollständig erfasst, davor lückenhaft. Der Zugriff auf „juris“ ist allerdings kostenpflichtig. Auch in der kostenpflichtigen elektronischen Datenbank des Beckverlages, Beck-Online, finden sich die meisten veröffentlichten Entscheidungen des BGH. Von den Richtern des Bundesgerichtshofs und den Mitgliedern der Bundesanwaltschaft werden die Entscheidungssammlungen BGHZ und BGHSt herausgegeben. Die in gedruckter Form ungefähr halbjährlich respektive jährlich erscheinenden Bände enthalten eine Auswahl der nach Ansicht des BGH wichtigsten aktuell ergangenen Entscheidungen. Sie werden vom Bundesgerichtshof in erster Linie zitiert und finden sich in nahezu jeder deutschen Gerichtsbibliothek, sind aber im strengen Sinn keine amtliche Sammlung. Die früher ebenfalls in gedruckter Form herausgegebene Entscheidungssammlung BGHR, eine nach Paragraphen sortierte Sammlung wichtiger BGH-Entscheidungen, wird hingegen nur noch digital herausgegeben. Lediglich der Veröffentlichung von BGH-Entscheidungen – zum Teil mit Besprechung – ist die vierzehntäglich erscheinende Zeitschrift BGH-Report gewidmet. Daneben veröffentlichen die führenden juristischen Fachzeitschriften regelmäßig Entscheidungen des Bundesgerichtshofs. Die Pressestelle des BGH veröffentlicht häufig Pressemitteilungen zu anstehenden und ergangenen Entscheidungen sowie zu Personalangelegenheiten. Diese Pressemitteilungen können auch kostenlos als Newsletter abonniert werden, wovon derzeit etwa 25.500 Personen Gebrauch machen. Sofern Entscheidungen in mündlicher Verhandlung verkündet werden, ist diese Verkündung in der Regel öffentlich. Bis 2018 betraf dies wie bei jedem deutschen Gericht, abgesehen vom Bundesverfassungsgericht, lediglich die Saalöffentlichkeit; Bild- und Tonaufnahmen zur Veröffentlichung waren seit der 1964 erfolgten ausdrücklichen Regelung in GVG a. F. unzulässig. Mit des "Gesetzes über die Erweiterung der Medienöffentlichkeit in Gerichtsverfahren" wurde ab April 2018 für alle Gerichte die Möglichkeit geschaffen, Verfahren von zeitgeschichtlicher Bedeutung zum Zwecke der Archivierung audiovisuell aufzuzeichnen ( Abs. 2 GVG n. F.). Zudem wurde dem Bundesgerichtshof (wie auch den anderen obersten Gerichtshöfen des Bundes) die Möglichkeit eingeräumt, bei Entscheidungsverkündungen „in besonderen Fällen“ Ton- und Bildaufnahmen zum Zwecke der Veröffentlichung zuzulassen ( Abs. 3 GVG n. F.).
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https://de.wikipedia.org/wiki?curid=716
Bundesfinanzhof
Der Bundesfinanzhof (BFH) mit Sitz in München ist das oberste Gericht für Steuer- und Zollsachen und als solches neben dem Bundesgerichtshof, dem Bundesverwaltungsgericht, dem Bundesarbeitsgericht und dem Bundessozialgericht einer der fünf obersten Gerichtshöfe der Bundesrepublik Deutschland. Der Bundesfinanzhof ist – wie der Bundesgerichtshof und das Bundesverwaltungsgericht – ressortmäßig dem Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) unterstellt und unterliegt dessen allgemeiner Dienstaufsicht. In seiner Tätigkeit als Gericht ist er jedoch unabhängig. Bis 1970 war der Bundesfinanzhof dem Bundesministerium der Finanzen (BMF) unterstellt, was teilweise den Vorwurf einer „Hausgerichtsbarkeit“ hervorrief. Iris Ebling war als erste Frau von 1999 bis 2005 Präsidentin des Bundesfinanzhofs. Aufgaben. Der Bundesfinanzhof ist die höchste Instanz der Finanzgerichtsbarkeit. Er ist einer der nach des Grundgesetzes errichteten obersten Gerichtshöfe des Bundes. Seine Zuständigkeit erstreckt sich auf die Steuer- und Zollsachen; dazu gehören jedoch nicht Steuerstrafverfahren, die als Strafverfahren der ordentlichen Gerichtsbarkeit zugeordnet sind. Der Bundesfinanzhof darf auch nicht mit dem Bundesrechnungshof verwechselt werden. Dieser kontrolliert das Ausgabenverhalten des Staates und seiner Einrichtungen, während der Bundesfinanzhof von dem einzelnen Steuerbürger in letzter Instanz angerufen werden kann. Außer in Steuersachen im eigentlichen Sinne sind dem Bundesfinanzhof auch die letztinstanzlichen Entscheidungen über Eigenheimzulage, Investitionszulage und berufsrechtliche Angelegenheiten der Steuerberater zugewiesen. Seit der Systemumstellung vom Familienlastenausgleich zum Kinderleistungsausgleich ist der Bundesfinanzhof auch für Kindergeldangelegenheiten zuständig. Denn das Kindergeld erfüllt seither eine Doppelfunktion: Es dient einerseits der Freistellung des Kinderexistenzminimums von der Einkommensteuer und andererseits als Sozialleistung der Förderung der Familie. Dem Bundesfinanzhof kommt insoweit neben der letztinstanzlichen Entscheidung in Steuersachen eine große Bedeutung in sozialrechtlicher Hinsicht zu. Der Bundesfinanzhof ist in erster Linie als Revisionsgericht tätig. In dieser Funktion entscheidet er über Revisionen gegen die Urteile der Finanzgerichte. Daneben entscheidet er als Beschwerdegericht über das gegen bestimmte Entscheidungen der Finanzgerichte statthafte Rechtsmittel der Beschwerde. Als Revisionsgericht kommt dem Bundesfinanzhof eine besondere Verantwortung für die Fortbildung des Rechts und die Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung zu. Außerdem ist der Bundesfinanzhof in das Verfahren des Bundesverfassungsgerichts eingeschaltet. In steuerrechtlichen Verfahren, die beim Bundesverfassungsgericht anhängig gemacht werden, gibt der Bundesfinanzhof gegenüber dem Bundesverfassungsgericht eine Stellungnahme ab, die in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts berücksichtigt wird. Die Besonderheit des Rechtswegs in der Finanzgerichtsbarkeit besteht darin, dass es hier nur zwei Instanzen gibt. Nach Abweisung der Klage vor dem Finanzgericht kann daher unmittelbar der BFH mit der Revision angerufen werden. Voraussetzung ist allerdings, dass das Finanzgericht die Revision zum Bundesfinanzhof in seinem Urteil zugelassen hat. Ist dies nicht der Fall, kann eine Beschwerde beim Bundesfinanzhof, die sog. Nichtzulassungsbeschwerde, eingelegt werden mit dem Antrag, die Revision zuzulassen. Lässt der Bundesfinanzhof auf die Beschwerde die Revision zu, wird das Verfahren unmittelbar als Revisionsverfahren fortgesetzt. Außer der Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision kennt die Finanzgerichtsordnung auch die Beschwerde in sonstigen Fällen, insbesondere gegen Beschlüsse des Finanzgerichts, es sei denn, die Beschwerde wäre ausdrücklich durch Gesetz versagt. Es wurde das Rechtsmittel der Anhörungsrüge geschaffen, mit der ausschließlich die Verletzung des rechtlichen Gehörs geltend gemacht werden kann ( FGO). Daneben ist noch die sog. Gegenvorstellung anerkannt, die formlos erhoben werden kann. Da das Bundesverfassungsgericht im Bereich der Rechtsmittel allerdings strenge Anforderungen an die sog. Rechtsmittelklarheit stellt, wird die Zulässigkeit der Gegenvorstellung im Fachschrifttum in Zweifel gezogen. Neuerdings hat der BFH entschieden, dass die Gegenvorstellung nur gegen abänderbare Entscheidungen zulässig ist, d. h. Entscheidungen, die nicht in materielle Rechtskraft erwachsen, und nur dann, wenn schwere Rechtsverletzungen gerügt werden. Früher war noch die sog. außerordentliche Beschwerde anerkannt. Im Hinblick auf die neu geschaffene Anhörungsrüge erkennt der BFH die außerordentliche Beschwerde nicht mehr an. Geschichte. Der Bundesfinanzhof wurde 1950 in der Tradition des Reichsfinanzhofs errichtet. Diese Tradition ist jedoch nur formaler, nicht inhaltlicher Natur. Mehrere Präsidenten des Bundesfinanzhofs haben sich wiederholt von Entscheidungen des Reichsfinanzhofs distanziert. Eine Tafel im Inneren des Gebäudes erinnert an Urteile des Reichsfinanzhofs, die politische Vorgaben der nationalsozialistischen Führung unkritisch nachvollzogen haben. Hier sind insbesondere die Urteile zur sog. Reichsfluchtsteuer zu nennen. Seit Dezember 2004 nimmt der BFH zusammen mit dem Bundesverwaltungsgericht an dem Projekt Elektronisches Gerichts- und Verwaltungspostfach teil. Schriftsätze und andere Dokumente können rechtswirksam in elektronischer Form an alle teilnehmenden Gerichte und Behörden schnell und sicher übermittelt werden. Eine Teilnahme an Verhandlungen des Bundesfinanzhofs mittels Videokonferenz ist zurzeit noch nicht möglich. Gebäude. Der Bundesfinanzhof ist, wie zuvor schon der Reichsfinanzhof, in einem historisch interessanten, denkmalgeschützten Gebäude inmitten eines idyllischen Parks an der Ismaninger Straße im Münchner Stadtteil Bogenhausen untergebracht. Im Vorgängerbau, dem Montgelasschlössl, wurde 1805 der Bogenhausener Vertrag geschlossen. Das sogenannte "Fleischerschlösschen" wurde von Ernst Philipp Fleischer, einem Farbenfabrikanten und Panoramamaler, als Galerie- und Ausstellungsgebäude errichtet. Es war das größte, in schlossartige Dimensionen gesteigerte Beispiel eines Künstlerwohnhauses in München. Der Bau sollte auch als Gesellschaftshaus mit angeschlossener Gemäldegalerie dienen. Heilmann & Littmann gestalteten das Bauwerk ab 1909 als neubarocken Palast mit Hausteinfassaden, Mittelrisalit und Ecktürmen. Ursprünglich war im Norden des Baus noch ein Atelier vorgesehen, das aber bald dem Sparzwang zum Opfer fiel. Der Bau musste wegen Geldmangels 1911 dann ganz eingestellt werden. Nach dem Ersten Weltkrieg erwarb das Deutsche Reich die Bauruine und ließ sie zum Reichsfinanzhof umgestalten und ausbauen. Im Gebäudeinneren sind bedeutende Werke zeitgenössischer und moderner Kunst ausgestellt. Die gepflegte Parkanlage ist für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Gerichtsorganisation und Spruchkörper. Die an den Bundesfinanzhof herangetragenen Fälle werden von Senaten entschieden. Die Fälle werden nach Sachgebieten und teilweise auch nach Buchstabenkriterien auf die einzelnen Senate aufgeteilt. Derzeit sind elf Senate eingerichtet. Richter des Bundesfinanzhofs. Die Richter und Richterinnen des Bundesfinanzhofs werden vom Richterwahlausschuss des Deutschen Bundestags auf Lebenszeit gewählt und vom Bundespräsidenten ernannt. Derzeit (Stand 2021) sind 58 Richter am BFH tätig, von denen 15, also 26 Prozent, Frauen sind. Geschäftsverteilung. Im Groben haben die Senate des Bundesfinanzhof (Stand 2018) folgende Zuständigkeiten: Von besonderer Bedeutung sind vor allem der III. und der VI. Senat, da deren Urteile praktisch jeden Steuerbürger betreffen und die Breitenwirkung daher enorm ist. Mit dem Tarifrecht, z. B. der ansteigenden Progressionskurve und dem Ehegatten-Splitting, und dem Kindergeld sind davon nahezu jeder Steuerbürger und jede Familie betroffen. Außerdem ist die Investitionszulage, für die ebenfalls der III. Senat zuständig ist, für die wirtschaftliche Entwicklung des gesamten Beitrittsgebietes der vormaligen DDR von allergrößter Bedeutung. Der VI. Senat entscheidet in allen Lohnsteuerstreitigkeiten, z. B. dem Werbungskostenabzug. Das betrifft alle Arbeitnehmer. Die übrigen Senate des Bundesfinanzhofs berühren den Einzelnen häufig nur mittelbar, da sie im Wesentlichen nur Streitigkeiten von Unternehmen bzw. über bestimmte Einkunftsarten entscheiden. Bestehen zwischen den Senaten unterschiedliche Auffassungen zu Rechtsfragen, wird der Große Senat angerufen. Der Große Senat besteht aus dem Präsidenten des Bundesfinanzhofs und je einem Richter der Senate, in denen der Präsident nicht den Vorsitz führt. Dessen Entscheidungen geben grundlegende Weichenstellungen für die künftige Rechtsentwicklung und stellen häufig die Grundlage für das künftige Handeln des Gesetzgebers dar. Vakanz (Präsident und Vizepräsident). Bundesjustizministerin Christine Lambrecht besetzte am 25. Januar 2022 die bislang vakante Stelle des Präsidenten des Bundesfinanzhofs mit Hans-Josef Thesling und die der Vizepräsidentin mit Anke Morsch. Klaus Rennert kritisierte, dass hierbei von der Regel, den Senatsvorsitz von Bundesgerichten mit Mitgliedern des betreffenden Gerichts zu besetzen, abgewichen wurde. Der Deutsche Richterbund wirft der Bundesjustizministerin vor, die Unabhängigkeit der Justiz zu gefährden. Drei Richter des Bundesfinanzhofs, die sich auf die Stelle des Vizepräsidenten beworben hatten, erhoben Konkurrentenklagen zum Verwaltungsgericht München. Der Posten des Vizepräsidenten blieb deshalb zunächst vakant, solange nicht über sämtliche Konkurrentenklagen rechtskräftig entschieden wurde oder die Sache anderweitig endgültig erledigt war. Ab 1. September 2021 war Stefan Schneider als dienstältester Vorsitzender Richter mit der Wahrnehmung der Geschäfte des Präsidenten betraut. Durch die Berufung von Hans-Josef Thiesling am 25. Januar 2022 zum Präsidenten wurde die Vakanz beendet. Am 7. Februar 2022 entschied der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in letzter Instanz, dass Anke Morsch vorläufig nicht Vizepräsidentin des Bundesfinanzhofs werden darf. Zuerst müsse eine neue Auswahlentscheidung getroffen werden. Anke Morsch hat die Stelle nicht erhalten. Seit dem 21. November 2022 ist Meinhard Wittwer Vizepräsident des Bundesfinanzhofs. Verfahren. Vor dem Bundesfinanzhof sind nur am Gericht zugelassene Prozessbevollmächtigte (Steuerberater, Rechtsanwälte oder Wirtschaftsprüfer) postulationsfähig. Entscheidungen. Entscheidungen des Bundesfinanzhofs werden an folgenden Stellen veröffentlicht: Bibliothek. Der Bundesfinanzhof verfügt über eine juristische, steuerrechtliche Spezialbibliothek mit etwa 170.000 Bänden und etwa 200 laufenden Fachzeitschriften. Als Gerichtsbibliothek steht diese in erster Linie den Richtern und Mitarbeitern des Gerichts zur Verfügung. Darüber hinaus können auch ausgewählte Externe, wie beispielsweise Hochschullehrer, im Rahmen der Benutzungsordnung die Bibliothek nutzen.
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https://de.wikipedia.org/wiki?curid=717
Blütenpflanze
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https://de.wikipedia.org/wiki?curid=719
Basic
Basic (engl. "basic" ‚fundamental‘, ‚elementar‘, ‚grundlegend‘) steht für: Orte in den Vereinigten Staaten: Sonstiges: BASIC steht für: Bašić ist ein Familienname, siehe Bašić Siehe auch:
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https://de.wikipedia.org/wiki?curid=720
Boraginaceae
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Boretschgewächse
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Brennesselgewächse
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Buchengewächse
Die Buchengewächse (Fagaceae) sind eine Familie in der Ordnung der Buchenartigen (Fagales) innerhalb der Bedecktsamigen Pflanzen (Magnoliopsida). Die acht bis zwölf Gattungen mit etwa 670 bis 900 Arten gedeihen meist in den kalten bis gemäßigten, seltener in den subtropischen bis tropischen Klimazonen überwiegend auf der Nordhalbkugel. Beschreibung. Erscheinungsbild und Blätter. Alle Arten der Familie Fagaceae sind verholzende Pflanzen und wachsen meist als Bäume oder selten Sträucher. Sie sind immergrün oder laubabwerfend. Die wechselständig und zweizeilig oder spiralig angeordneten Laubblätter sind in Blattstiel und Blattspreite gegliedert. Die Blattspreiten sind oft ledrig. Die Blattränder sind glatt, gezähnt oder gesägt. Wenn der Blattrand glatt ist, reichen die Seitennerven nicht bis zum Blattrand. Die Blattflächen sind von einfachen, sternförmigen oder verzweigten Haaren (Trichomen) bedeckt. Nebenblätter sind vorhanden. Blütenstände und Blüten. Die Blüten sind in aufrechten oder hängenden, einfachen Blütenständen, die hier Kätzchen genannt werden, zusammengefasst. Alle Arten sind einhäusig getrenntgeschlechtlich (monözisch), das heißt auf einer Pflanze sind weibliche und männliche Blüten vorhanden, die Blüten eines Geschlechtes sitzen zu mehreren in Blütenständen zusammen. Die eingeschlechtigen Blüten sind radiärsymmetrisch. Es sind zwei mal drei freie Blütenhüllblätter vorhanden oder die Blütenhüllblätter sind verwachsen und enden mit vier bis sechs lappig. In den männlichen Blüten sind vier bis zwanzig Staubblätter vorhanden. Die weiblichen Blüten enthalten Staminodien und meist drei bis sechs (2 bis 15) Fruchtblätter sind zu einem unterständigen Fruchtknoten verwachsen. Je Fruchtknotenfach gibt es zwei hängende, anatrope, bitegmische Samenanlagen. Die Pollenverbreitung erfolgt meist durch Wind, aber bei einigen Arten, besonders der Gattung "Castanea," durch Insekten. Früchte und Samen. Die für diese Familie typischen Früchte sind Nüsse, sie sitzen einzeln bis zu dritt (je nach Gattung) in einem Achsenbecher, auch Fruchtbecher oder Cupula genannt, zusammen. Deshalb wird die Familie auch Becherfrüchtler (Cupulaceae) genannt. Die Früchte werden durch Tiere verbreitet. Die Samen sind oft intensiv von Haaren umgeben, die im Endokarp ihren Ursprung haben. Chromosomensätze. Die Chromosomengrundzahlen betragen meist x = 12, selten 11, 13 oder 21. Systematik und Verbreitung. Die Familie Fagaceae wurde 1829 durch Barthélemy Charles Joseph Dumortier in "Analyse des Familles de Plantes", 11, 12 aufgestellt. Typusgattung ist "Fagus" Ein Synonym für Fagaceae ist Quercaceae Die Familie Fagaceae wird gegliedert in zwei Unterfamilien mit insgesamt acht oder zehn (früher sechs bis sieben) Gattungen und etwa 670 bis 1000 Arten: In älterer Literatur werden auch die Scheinbuchen oder Südbuchen ("Nothofagus" ) mit etwa 35 Arten in diese Familie eingeordnet. Im Zuge der Auswertung molekulargenetischer Daten wurden die "Nothofagus"-Arten (APG I System und folgende) in eine eigene Familie Scheinbuchengewächse (Nothofagaceae) gestellt. Nutzung. Viele Arten liefern wertvolles Holz. Von einigen Arten werden die Samen roh oder gegart gegessen. Es wird Tannin gewonnen. Aus einigen Arten wird Öl gewonnen. Bei einzelnen Arten wurden die medizinischen Wirkungen untersucht.
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Betulaceae
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Brassicaceae
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Brennnesselgewächse
Die Brennnesselgewächse (Urticaceae, eingedeutscht „Urticaceen“ (sprich: Ur-ti-ka-ze-en)) bilden eine Familie in der Ordnung der Rosenartigen (Rosales) innerhalb der Bedecktsamigen Pflanzen (Magnoliopsida). Die Familie enthält etwa 54 bis 56 Gattungen mit etwa 2625 Arten. Sie hat eine weltweite Verbreitung, nur in arktischen Klimaten tritt sie nicht auf. Einige Arten werden auf unterschiedliche Weise genutzt. Die Brennnesseln ("Urtica") sind eine bekannte Pflanzengattung, vor allem deshalb, weil die Blätter mit Nesselhaaren ausgestattet sind, deren Inhalt (Acetylcholin, Histamin, Serotonin) bei Berührung brennenden Juckreiz verursachen, aber auch bei anderen Gattung der Tribus Urticeae: "Nanocnide", "Girardinia" und "Dendrocnide" ist diese Eigenschaft vorhanden. Weltweit fressen die Raupen vieler Schmetterlings-Arten an Arten dieser Familie. Beschreibung. Erscheinungsbild und Blätter. Die Arten dieser Familie wachsen als einjährige bis ausdauernde krautige Pflanzen oder verholzende Pflanzen wie Lianen, Halbsträucher, Sträucher und selten Bäume (beispielsweise "Cecropia"). Einige Arten, beispielsweise in der Gattung "Pilea" sind sukkulent. Wenige Arten wachsen als Epiphyten, beispielsweise in der Gattung "Pilea". Die vegetativen Pflanzenteile können je nach Gattung (Tribus Urticeae) mit Brennhaaren bedeckt sein. Selten sind Dornen vorhanden. Manche Arten enthalten einen wässerigen Milchsaft. Sie können immergrün oder laubabwerfend sein. Die seltener gegenständig, meist wechselständig und spiralig oder zweizeilig angeordneten Laubblätter sind meist in Blattstiel und Blattspreite gegliedert. Die Blattspreiten sind meist einfach, seltener zusammengesetzt (beispielsweise "Cecropia" oder "Elatostema"). Der Blattrand ist glatt, gesägt oder gezähnt. Unter der Epidermis sind auf der Blattoberseite und/oder -unterseite Zystolithen eingebettet, die erst erkennbar sind, wenn die Laubblätter getrocknet sind. Meist sind zwei Nebenblätter vorhanden, die frei oder verwachsen sein können. Blütenstände, Blüten und Bestäubung. Sie sind einhäusig (monözisch) oder zweihäusig (diözisch) getrenntgeschlechtig; einige Arten sind polygamomonözisch, dann kommen neben eingeschlechtigen auch zwittrige Blüten vor. Meist in seiten-, selten in endständigen, meist verzweigten zymösen, rispigen, ährigen oder traubigen Blütenständen stehen – oft in Knäueln – viele Blüten zusammen, weibliche Blütenstände können auch kopfförmig sein. Es sind meist Tragblätter vorhanden, die bei manchen Arten die Blüte vollständig einhüllen. Die meist eingeschlechtigen Blüten sind meist radiärsymmetrisch, selten zygomorph und (zwei- bis sechs-) meist vier- bis fünfzählig. Blütenhüllblätter können vorhanden sein oder fehlen. Wenn Blütenhüllblätter vorhanden sind, dann ist es nur ein, zwei- bis sechszähliger, Kreis. In männlichen und zwittrigen Blüten sind zwei bis sechs Staubblätter vorhanden. Die Staubfäden sind in den Blütenknospen oft nach innen gebogen. Oft öffnen sich die Staubbeutel in Längsrichtung „explosiv“. Die Pollenkörner sind mono- oder polycolporat. In den weiblichen und zwittrigen Blüten (meist) nur ein Fruchtblatt vorhanden, das meist oberständig ist. Die weiblichen Blüten können Staminodien besitzen. Es kann ein einfacher Griffel vorhanden sein oder die kopfigen, pfriemlichen, pinsel- oder fadenförmigen Narben sind sitzend. Die Bestäubung erfolgt meist durch den Wind (anemophil) oder durch Insekten (entomophil). Früchte und Samen. Es werden trockene, achänenähnliche Nussfrüchte oder fleischige Steinfrüchte gebildet; sie sind immer einsamig. Oft sind an den Früchten sich bis zur Fruchtreife vergrößernde, haltbare Blütenhüllblätter vorhanden. Die Samen enthalten Endosperm und einen geraden Embryo mit zwei eiförmig-elliptischen oder kreisförmigen Keimblättern (Kotyledonen). Chromosomensätze. Die Chromosomengrundzahlen betragen x = 7–14. Systematik und Verbreitung. Sie hat eine weltweite Verbreitung, nur in arktischen Klimaten tritt sie nicht auf. In der Neotropis kommen etwa 16 Gattungen mit etwa 450 Arten vor. Eine ganze Reihe von Arten sind in vielen Gebieten der Welt invasive Pflanzen. Die Erstveröffentlichung des Familiennamens Urticaceae erfolgte 1789 durch Antoine Laurent de Jussieu in "Genera plantarum ...", S. 400. Molekulargenetische Untersuchungen zeigten, dass die sechs oder sieben Familien der früheren Ordnung Urticales mit in die Ordnung Rosales gehören. Die etwa sechs Gattungen ("Cecropia", "Coussapoa", "Pourouma", "Myrianthus", "Musanga", "Poikilospermum") mit etwa 180 bis 200 Arten der früheren Familie Cecropiaceae sind heute in die Urticaceae eingegliedert. Verwandte Familien innerhalb der Ordnung Rosales: Die Tribus wurden 1830 von Charles Gaudichaud-Beaupré in "H. L. C. de Freycinet’s Voyage autour du monde … executé sur les corvettes de S. M. l’Uranie et la Physicienne ..." veröffentlicht. Die Familie wird in sechs Tribus mit zusammen etwa 54 bis 56 Gattungen eingeteilt: Es gibt heute etwa 54 bis 56 Gattungen in der Familie der Urticaceae (in alphabetischer Ordnung): Nutzung. Einige Arten werden auf unterschiedliche Weise genutzt: Viele Arten der Brennnesselgewächse sind für die Fasergewinnung und die Herstellung von Nesseltuch geeignet. Die Fasern grenzen sich vor allem durch ihre großen Einzelfaserlängen von anderen Bastfasern ab. Ferner liegen diese stets im lockeren Faserverbund und nicht wie bei Hanf oder Flachs in Faserbündeln. Besonders geeignet für die Fasergewinnung sind die folgenden Arten: "Urtica dioica" (und deren Convarietät Fasernessel), "Urtica dioica" subsp. "gracilis", "Urtica kioviensis", "Urtica cannabina", "Laportea canadensis", "Maoutia puya", "Girardinia diversifolia", "Boehmeria nivea", "Boehmeria tricuspis" und "Boehmeria tenacissima". Von "Girardinia"-, "Laportea"- und "Urtica"-Arten kann man die (jungen) Blätter roh oder gegart essen. Die Früchte von "Cecropia"- und "Pourouma"-Arten sind essbar. Medizinische Wirkungen wurden untersucht. Einige Arten und ihre Sorten werden als Zierpflanzen verwendet (Beispiele: "Pellionia repens", "Pilea cadierei", "Pilea microphylla", "Pilea peperomioides").
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BIOS (IBM PC)
Das PC-BIOS, im Kontext von IBM-PC-kompatiblen Computern durchwegs kurz als BIOS bezeichnet ("IPA:" [], , von englisch "basic input/output system"), ist die System-Firmware des von IBM 1981 vorgestellten IBM PC „ 5150“ und in Folge aller dazu kompatiblen Computer, was nahezu alle x86-PCs der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, der 1990er und der 2000er Jahre umfasst. Neben Personal Computern wurde es aber auch beispielsweise in Workstations und Servern der x86-Architektur verwendet, um „PC-kompatibel“ zu sein. Das BIOS ist in einem nichtflüchtigen Speicher auf der Hauptplatine abgelegt und wird wie jede System-Firmware unmittelbar nach dessen Einschalten ausgeführt. Aufgabe des BIOS ist es unter anderem, den PC zunächst funktionsfähig zu machen und im Anschluss das Starten eines Betriebssystems einzuleiten. Aufgrund des großen Erfolgs und der großen Verbreitung von IBM-PC-kompatiblen Systemen steht der Begriff „BIOS“ spätestens seit den 1990er Jahren allgemein für die System-Firmware eines Computers. Das PC-BIOS ist funktionell durch dessen designierten Nachfolger , kurz EFI, abgelöst. Diese ursprünglich ab 1998 für den Itanium von Intel entwickelte Firmware wird seit 2006 als Unified Extensible Firmware Interface, kurz UEFI, von mehreren Firmen gemeinsam weiterentwickelt. UEFI löste das BIOS seit ca. 2010 schrittweise ab, stellte anfangs allerdings eine BIOS-Kompatibilitätsschicht bereit – das oder kurz CSM – womit es voll zum BIOS kompatibel bleibt. Aufgrund dieses fließenden Übergangs wird UEFI oft auch als UEFI-BIOS sowie dessen Firmware-Setup oft auch (weiterhin) als BIOS-Setup bezeichnet. Laut Intel sollte das CSM, also der BIOS-Modus und somit die Kompatibilität, spätestens ab 2020 von den Herstellern weggelassen werden, was diese auch taten. Moderne Weiterentwicklungen der IBM-PC-kompatiblen Computer, wie x64-PCs mit UEFI ohne CSM, können daher Betriebssysteme und Boot-Medien, die ein PC-BIOS erfordern, nicht mehr starten. Funktionen. Durch modernere Hardware hat das BIOS im Laufe der Zeit neue Funktionen hinzugewonnen. Nicht alle der im Folgenden genannten Punkte wurden schon vom Ur-BIOS auf dem ersten IBM PC ausgeführt. Die Weiterentwicklung der Hardware hat im Laufe der Zeit (Stand 2018 ist das BIOS-Konzept bereits mindestens 43 Jahre alt) zu einer Reihe von iterativen, inkompatiblen Ergänzungen geführt, die zunehmend den Charakter von „Flickschusterei“ tragen und bei 64-Bit-Systemen an ihre Grenzen stoßen. Daher wurde in Form von Extensible Firmware Interface (EFI, bzw. UEFI) ein BIOS-Nachfolger entwickelt. Im Wesentlichen führt das BIOS, bevor das Betriebssystem gestartet wird, die folgenden Funktionen aus: Wichtiger Bestandteil der Hardware-Initialisierung eines Plug-and-Play-BIOS ist die Konfiguration und Überprüfung von eingebauten Steckkarten. Dazu werden in einem speziellen Speicherbereich des BIOS, dem Bereich Extended System Configuration Data (kurz ESCD), Informationen zu Zustand und Konfiguration von ISA-, PCI- und AGP-Steckkarten und die entsprechende Ressourcenzuteilung verzeichnet. Die Informationen im ESCD-Bereich werden beim Bootvorgang mit dem tatsächlichen Zustand des Systems verglichen und bei Änderungen gegebenenfalls aktualisiert. Das Betriebssystem greift auf die Informationen im ESCD-Bereich zurück und kann Änderungen der Plug-and-Play-Ressourcenzuordnung dort speichern, um Veränderungen durch das BIOS beim nächsten Start vorzubeugen. Danach übernimmt das Programm im geladenen Bootsektor die Kontrolle über den Rechner. Meist lädt und startet der enthaltene Bootloader das auf dem entsprechenden Datenträger installierte Betriebssystem entweder sofort oder bietet ein Menü zur Auswahl eines Betriebssystems an (Bootmanager). Bei klassischen im Real Mode laufenden Betriebssystemen (z. B. DOS) wird das BIOS auch im weiteren Betrieb genutzt. Es übernimmt für das Betriebssystem die Kommunikation mit diverser Hardware, z. B.: Andere, moderne Arten von Hardware werden vom BIOS nicht bedient. Zur Ansteuerung beispielsweise einer Maus ist unter DOS ein spezieller Hardwaretreiber nötig. Neuere, treiberbasierte Betriebssysteme wie beispielsweise Linux oder Windows nutzen diese BIOS-Funktionen nicht. Sie laden für jede Art von Hardware einen speziellen Treiber. Jedoch müssen sie am Anfang ihres Startvorgangs über den Bootloader noch kurz auf die BIOS-Funktionen zur Ansteuerung der Festplatten zurückgreifen, um ihren Festplattentreiber zu laden. BIOS-Einstellungen. Um in das Setup-Programm des BIOS zu gelangen, muss beim Einschalten des Rechners eine bestimmte Taste oder Tastenkombination betätigt werden. Bei einigen wenigen Mainboards muss ein bestimmter Jumper gesetzt werden. Die Einstellungen werden in einem CMOS-Speicher gespeichert, der über die Mainboard-Batterie auch ohne Netzanschluss mit Strom versorgt wird. Oft ist dieser Speicher mit der Echtzeituhr des Systems kombiniert, da auch diese immer mit Strom versorgt werden muss. Bei Schwierigkeiten bietet das BIOS meist die Möglichkeit, die Standardeinstellungen des Rechner- oder des BIOS-Herstellers zu setzen. Wenn es nicht mehr möglich ist, ins Setup-Programm zu kommen (etwa, weil der Rechner gar nicht mehr bootet), lassen sich die Einstellungen meist über einen Jumper am Mainboard zurückstellen (bei allen neueren Mainboards muss dafür das Netzteil ganz abgeschaltet werden). Wenn das nicht möglich ist, kann der CMOS-Speicher durch das Entfernen der Batterie gelöscht werden. Letzteres benötigt aber einige Zeit, bis auch die Kondensatoren entladen sind. Sicherheit. Das BIOS ist die zweite Sicherheitsstufe, die unberechtigten Zugriff auf einen Computer verhindern kann, nach einer physischen Sicherung mit Schlössern oder Ähnlichem. Im BIOS-Setup kann eine Passwortabfrage für das Starten des Rechners eingerichtet werden. Das stellt keine vollständige Sicherung des Systems dar, da die Einstellungen bei physischem Zugang zum Computer mehr oder weniger leicht durch Manipulationen auf der Hauptplatine ausgehebelt werden können. Zudem wirkt diese Sicherung nur auf die Hauptplatine, auf der sich das BIOS enthaltende ROM befindet. Wird diese ausgetauscht oder die Festplatte(n) des Systems in einen anderen Rechner eingebaut, kann problemlos auf alle Daten zugegriffen werden. Zudem haben die Hersteller meist ein festes (Recovery-, Master- oder Supervisor-)Passwort eingerichtet, um den Zugang wiederherstellen zu können, wenn der Benutzer sein eigenes Passwort vergessen hat. Aktualisieren des BIOS. Bei alten Mainboards (mit 286 bis 486er Prozessor) ist im BIOS die Option „SHADOW BIOS MEMORY“ vorhanden. Dabei wird das BIOS in eigener Prozedur in das zugriffschnellere RAM kopiert (temporäre Schattenkopie bis zum Ausschalten des Computers). Seitdem (ab spätere 486er / Pentium1) der überwiegende Teil des BIOS gepackt abgelegt ist und damit ein günstigerer BIOS-Chip genügt, steht diese Option nicht mehr zur Verfügung, da das BIOS auf jeden Fall ins RAM entpackt werden muss. Hersteller wie Award verwendeten zum Packen von ihrem BIOS das LHA-Format. Auf modernen Hauptplatinen ist das BIOS in einem wiederbeschreibbaren Speicher (genauer EEPROM, meist Flash-Speicher) abgelegt. Daher kann es ohne Ausbau dieses Chips durch neuere Versionen ersetzt werden („Flashen“). Da ein Rechner ohne vollständiges BIOS jedoch nicht funktionsfähig ist, stellt dieser Vorgang immer ein gewisses Risiko dar. Wird er unterbrochen, beispielsweise durch einen Stromausfall, muss der Chip, auf dem das BIOS gespeichert ist, normalerweise ausgetauscht werden. Als Alternative wird im Internet von verschiedenen Institutionen auch das Neuprogrammieren des Chips angeboten. Selbst aufgelötete Flash-Speicher stellen für Fachpersonal nur ein geringfügiges Problem dar. Auf neuen Boards werden immer häufiger sogenannte serielle Flashspeicher verwendet, die es im Fehlerfall teilweise ermöglichen, per SPI-BUS auf dem Board neu programmiert zu werden. Bootblock. Mit der Zeit entwickelten American Megatrends, Award Software, Phoenix und andere Hersteller „BootBlock“/Wiederherstellungs-BIOS-Bereiche, die bei einem Flash-Vorgang dann normalerweise nicht mehr überschrieben werden. Schlug der Flash-Vorgang fehl, startet das „BootBlock“/Wiederherstellungs-BIOS und ermöglicht es, von Diskette zu booten. Bei einigen BIOS-Varianten kann sogar eine spezielle Wiederherstellungs-CD/-Diskette erstellt werden, die auch bei einem defekten BIOS durch Setzen eines Jumpers automatisch das BIOS wiederherstellt. Dazu sind keinerlei Benutzereingaben und keine grafische Ausgabe nötig, da diese bei defektem BIOS meist ohnehin nicht mehr funktionieren. Einige Hauptplatinen bieten ein sogenanntes DualBIOS an. Im Fehlerfall kann das zweite (noch intakte) BIOS den Startvorgang übernehmen und die Änderung rückgängig gemacht werden. Das kann beim Flashen des BIOS ein Rettungsanker sein, sollte die neu aufgespielte BIOS-Version nicht funktionieren. Des Weiteren können mit einem DualBIOS verschiedene BIOS-Einstellungen geladen werden. Da das Aktualisieren eines Flash-BIOS heute schon unter einem laufenden Windows möglich ist, eröffnen sich damit neue Einfallswege für Viren-Befall. Wenn auf diesem Wege beispielsweise ein Rootkit installiert würde, könnte es sich noch einmal wesentlich effizienter gegen Entdeckung und Löschung abschotten. Außerdem kann ein Absturz des Betriebssystems während des Flashens den PC eventuell unbootbar machen (siehe oben). BIOS-Hersteller. Eine Auswahl von Herstellern von BIOSen für IBM-kompatible PCs: Nachfolge. Bis "UEFI 2" enthalten UEFI-Implementierungen auf der x86-Architektur ein "Compatibility Support Module" oder kurz CSM, das vollständige BIOS-Kompatibilität herstellt. Zur eindeutigen Kennzeichnung wurde das PC-BIOS im Kontext von UEFI als „“ bezeichnet – für Altlast: das BIOS als altes, überholtes bzw. abgekündigtes System, für das UEFI der moderne Nachfolger ist. Der Übergang vom BIOS hin zu UEFI wurde in vier Klassen () eingeteilt. Das erste PC-Betriebssystem mit EFI-Unterstützung war Linux, allerdings auf der Itanium-Architektur. Auf x86 kann Linux, seit Kernel 2.6.25 von 2008, sowohl in der 32- als auch der 64-Bit-Variante mit (U)EFI gestartet werden. 2006 war Apple einer der ersten Hersteller von Desktop-PCs und Notebooks, der EFI einsetzte. So ist auf Intel-Macs eine Apple-Variante von EFI 1.1 für macOS, jedoch mit einem CSM für Boot Camp bzw. für Kompatibilität zu Windows vorhanden. Auch auf x86-PCs anderer Hersteller wurde UEFI nach und nach eingeführt, allerdings unterstützten anfangs wichtige Betriebssysteme UEFI noch nicht, weshalb UEFI-CSM im BIOS-Setup als Voreinstellung () bis in die erste Hälfte der 2010er Jahre stets aktiv war. Betriebssysteme, die ein BIOS voraussetzen, beispielsweise Windows XP und Windows Vista, blieben somit Out-of-the-box kompatibel. Mit Windows Vista Service Pack 1 von 2008 begann schließlich auch Microsoft UEFI für 64-Bit-Windows zu unterstützen, allerdings wird UEFI 2.0 oder höher vorausgesetzt, da EFI 1.1 noch eine 32-Bit-Implementierung (IA-32) war – erst UEFI 2.0 wurde vollständig auf x86-64 portiert. Bis Windows 7, wie Vista SP1 grundsätzlich UEFI-fähig, benötigte Windows auf der 64-Bit-x86-Architektur BIOS-Kompatibilität für den Grafiktreiber (ein VBIOS mit Interrupt 10h), wofür ein geladenes CSM unter UEFI die Voraussetzung ist. Alle 32-Bit-PC-Versionen von Windows benötigen weiterhin ein BIOS oder (U)EFI-CSM; Windows 10 ist die letzte Windows-Version, die für IA-32 und somit BIOS-kompatibel verfügbar ist. Auch Intel-Macs ab ca. 2013 (x64-Architektur) sind zu UEFI 2.0 kompatibel, obwohl sich das Apple-EFI oft noch als Version 1.1 identifiziert. Auf Arm-Macs, die als „“ ab 2020 die Intel-Macs schrittweise ablösen, implementiert Apple eine eigene (proprietäre) Firmware im . Auf der Arm-Architektur mit Windows RT verwendet Microsoft weiterhin UEFI, beispielsweise auf dem Surface-Tablet (da es sich bei Arm um keine x86-kompatible Architektur handelt, gibt es dort auch kein BIOS-kompatibles CSM). Mit Windows 8 hat sich UEFI auf dem (ehemals IBM-kompatiblen) PC durchgesetzt. Die meisten x86-Systeme dieser Zeit haben ein -2-UEFI, teils mit aktiviertem CSM, teils mit deaktiviertem CSM als Voreinstellung. Da bei aktiviertem das CSM nicht mehr geladen werden darf, hat sich die Voreinstellung bis Windows 10 gänzlich in Richtung UEFI, ohne Kompatibilität zum PC-BIOS („“), verschoben. Seit rund 2020 werden Systeme durchwegs mit einem -3-UEFI ausgeliefert, womit der Übergang zum BIOS-Nachfolger als abgeschlossen zu betrachten ist. Kritik. Firmware-Schnittstellen wie das BIOS oder der Nachfolger UEFI sind sehr tief im System verankert und daher potenziell sicherheitskritische Komponenten. Punkte, die zu einer kritischen Betrachtung eines herstellerabhängigen BIOS führen: Freie BIOS-Alternativen. Die verschiedenen BIOS-Implementierungen der PCs sind im Regelfall proprietäre Software, was Unsicherheiten bergen kann: da der Quellcode nicht bekanntgegeben wird, werden Sicherheitslücken teilweise nicht rechtzeitig erkannt. Auch kann ein proprietäres BIOS den Benutzer an Tätigkeiten hindern, die von der Hardware des Gerätes her kein Problem darstellen würden: so erlaubt beispielsweise das BIOS der Xbox es nicht, andere Software als die von Microsoft zugelassene zu starten. Es ist möglich, den Flash-ROM-Baustein (früher: EPROM), auf dem das BIOS abgelegt ist, zu ersetzen oder zu überschreiben, um so beispielsweise den Linux-Kernel direkt aus dem Flash heraus zu starten, ohne BIOS. Die Vorgehensweise ist jedoch von der jeweiligen Hauptplatine abhängig und wird überwiegend in Industriecomputern eingesetzt. Projekte mit diesem Ziel sind etwa Coreboot (ehemals LinuxBIOS), Libreboot (ein Coreboot-Fork ohne BLOBs) oder OpenBIOS – letzteres ist allerdings eine Open-Firmware-Implementation. Normen, Standards, Richtlinien. Standard über das Zusammenwirken von BIOS-Systemstart, Initial Program Load und BIOS-Funktionsergänzungen. Das Zusammenwirken von BIOS-Systemstart, Initial Program Load und BIOS-Funktionsergänzungen wurde von einem Firmenkonsortium bestehend aus Hardware- und BIOS-Herstellern ausgearbeiteten und am 11. Januar 1996 standardisiert: Die BIOS Boot Specification (kurz: „BBS“) fixiert insbesondere, auf welche Art und Weise Initial-Program-Load- (Bootstrapload-)Komponenten, die (den BIOS-Systemstart fortsetzend) das Hochlaufen der jeweiligen Betriebssysteme herbeiführen, vom BIOS identifiziert werden und wie unter Vorgabe der durch den Computerbenutzer festgelegten Priorität (entsprechend der sogenannten "Bootsequenz") versucht wird, eine oder mehrere der jeweiligen Komponenten zur Ausführung zu bringen. Direkt oder indirekt legt dieser Standard auch fest, wie etwa ein Initial Program Loader (Bootstraploader) ein auf das BIOS abgestimmtes Verhalten zustande zu bringen hat und wie das BIOS das jeweils gerade verwendete Bootmedium (Festplatte, optische Laufwerk-Disk, USB-Stick, PCMCIA-Netzwerkkarte, Ethernetkarte oder dergleichen) für den Loader handhabt. Für die Bereitstellung von Bootmechanismen spielt die Programmierschnittstelle zwischen BIOS-Verwaltung und Bootverwaltung, das sogenannte „BIOS Boot Specification API“, eine Rolle, wobei die Implementierung dieser Mechanismen in der Regel sowohl hardware- als auch softwaremäßig erfolgt (sofern man jeweils ganze Bootmechanismen ins Auge fasst). Hardwaremäßig kann eine solche Implementierung durch BIOS-Funktionsergänzungen bewerkstelligt werden, etwa wenn das Motherboard-BIOS durch ergänzende Add-In-Firmware-BIOSe von Netzwerk-, SCSI- oder RAID-Adaptern erweitert und/oder partiell ausgetauscht wird. Softwaremäßig kann eine solche Implementierung durch Programmierung entsprechender Routinen bzw. Treiber geschehen, sofern diese speicherresident untergebracht werden können; unter gewissen Voraussetzungen können auch Initial Program Loader bzw. Bootstraploader bei der Bereitstellung von unkonventionellen Bootmechanismen besondere Funktionen einnehmen bzw. eine besondere Rolle spielen. Beim Rechnerhochlauf via Netzwerkkarte sind die meisten Bootmechanismen weit komplizierter als beim klassischen (einfachen) Initial Program Load. In diese Kategorie gehört beispielsweise der Fall, dass der Rechnerhochlauf von einem außenstehenden Rechner über das Netzwerk (etwa via Fast-Ethernetadapter) angestoßen wird (siehe auch Wake on LAN). Das Motherboard-BIOS, das im Regelfall keinen Treibercode für das Booten über eine bestimmte Netzwerkkarte besitzt, wird durch Add-In-Firmware auf der Netzwerkkarte unter Beachtung der Vorgaben des BIOS Boot Specification APIs ergänzt, so dass eine speicherresidente Routine im Dienste der Netzwerkkarte den Bootmechanismus umlenken und die Netzwerkkarte als wählbares Bootmedium am System anmelden kann. Nach erfolgter Auswahl der Netzwerkkarten-Bootoption im BIOS geht dann der BIOS-Systemstart in eine Netzwerkkommunikation über, in der Auskünfte über Bootserveradressen eingeholt werden und Abfragevorgänge stattfinden. Das beinhaltet eine Art „Bereitschaftszustand“ des Rechners, der durch Auslösung übers Netzwerk jederzeit hochfahrbar wird. Auf die richtige Meldung hin wird der Bootstraploader in den RAM-Speicher heruntergeladen und ausgeführt.
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Byte
Das Byte ([]; wohl gebildet zu „Bit“) ist eine Maßeinheit der Digitaltechnik und der Informatik, das meist für eine Folge aus 8 Bit steht. Historisch gesehen war "ein Byte" die Anzahl der Bits zur Kodierung eines einzelnen Schriftzeichens im jeweiligen Computersystem und daher das kleinste adressierbare Element in vielen Rechnerarchitekturen. Um ausdrücklich auf eine Anzahl von 8 Bit hinzuweisen, wird auch die Bezeichnung "Oktett" (in Frankreich "octet") verwendet – die früher dafür ebenfalls gängige Bezeichnung "Oktade" ist hingegen nicht mehr geläufig. Abgrenzung. Was genau ein Byte bezeichnet, wird je nach Anwendungsgebiet etwas unterschiedlich definiert. Der Begriff kann stehen für: Bei den meisten heutigen Rechnern fallen diese Definitionen (kleinste adressierbare Einheit, Datentyp in Programmiersprachen, C-Datentyp) zu einer einzigen zusammen und sind dann von identischer Größe. Der Begriff „Byte“ wird aufgrund der großen Verbreitung von Systemen, die auf acht Bit (beziehungsweise Zweierpotenzvielfache davon) basieren, für die Bezeichnung einer 8 Bit breiten Größe verwendet, die in formaler Sprache (entsprechend ISO-Normen) aber korrekt Oktett (aus ) heißt. Als Maßeinheit bei Größenangaben wird in der deutschen Sprache der Begriff „Byte“ (im Sinne von 8 bit) verwendet. Bei der Übertragung kann ein Byte parallel (alle Bits gleichzeitig) oder seriell (alle Bits nacheinander) übertragen werden. Zur Sicherung der Richtigkeit werden oft Prüfbits angefügt. Bei der Übertragung größerer Mengen sind weitere Kommunikationsprotokolle möglich. So werden bei 32-Bit-Rechnern oft 32 Bits (vier Byte) gemeinsam in einem Schritt übertragen, auch wenn nur ein 8-Bit-Tupel übertragen werden muss. Das ermöglicht eine Vereinfachung der zur Berechnung erforderlichen Algorithmen und einen kleineren Befehlssatz des Computers. Wie bei anderen Maßeinheiten gibt es neben dem ausgeschriebenen Namen der Maßeinheiten jeweils auch ein Einheitenkürzel. Bei Bit und Byte sind dies: Der ausgeschriebene Name unterliegt grundsätzlich der normalen Deklination. Aufgrund der großen Ähnlichkeit der Kürzel mit den ausgeschriebenen Einheitennamen sowie entsprechender Pluralformen in der englischen Sprache werden jedoch gelegentlich auch die Einheitenkürzel „bit“ und „byte“ mit Plural-s versehen. Geschichte des Begriffs. Das "Bit" ist ein Kofferwort aus den englischen Wörtern ' und ', heißt also „zweiwertige Ziffer“ – Null oder Eins. Dessen Bestandteile lassen sich auf die lateinischen Wörter "digitus" (Finger), den bzw. die man seit der Antike zum Zählen verwendet (vgl. Plautus: ""), und lateinisch (genauer neulateinisch) "binarius" (zweifach), vergleiche lateinisch "bis" (zweimal), zurückführen. Das "Byte" ist zudem ein Kunstwort und wurde wohl aus dem englischen ' (deutsch „[das] Bisschen“ oder „Häppchen“) und ' (zu deutsch: „[der] Bissen“ oder „Happen“) gebildet. Verwendet wurde es, um eine Speichermenge oder Datenmenge zu kennzeichnen, die ausreicht, um ein Zeichen darzustellen. Der Begriff wurde im Juni 1956 von Werner Buchholz in einer frühen Designphase des IBM-7030-Stretch-Computers geprägt, wobei die Schreibweise von "bite" zu "byte" geändert wurde, um zu vermeiden, dass es sich versehentlich zu "bit" ändere. Im Original beschrieb es eine wählbare Breite von ein bis sechs Bits (damit konnten formula_1 Zustände, z. B. Zeichen, dargestellt werden) und stellte die kleinste direkt adressierbare Speichereinheit eines entsprechenden Computers dar. Im August 1956 wurde die Definition auf ein bis acht Bits aufgeweitet (damit konnten dann formula_2 Zeichen dargestellt werden). So konnte man die Buchstaben und gängige Sonderzeichen zum Beispiel in Quelltexten von Programmen oder anderen Texten speichern (also verschiedene Zeichen). In den 1960er Jahren wurde der sich in seiner Verwendung schnell ausbreitende ASCII definiert, welcher sieben Bits zur Kodierung eines Zeichens verwendet (das sind formula_3 Zeichen). Später wurden durch Nutzung des meist sowieso vorhandenen achten (höchstwertigen) Bits erweiterte, auf dem ASCII basierende Zeichensätze entwickelt, die auch die häufigsten internationalen Diakritika abbilden können, wie zum Beispiel die Codepage 437. In diesen erweiterten Zeichensätzen entspricht jedes Zeichen exakt einem Byte mit acht Bit, wobei die ersten 128 Zeichen exakt dem ASCII entsprechen. In den 1960er und 1970er Jahren war in Westeuropa auch die Bezeichnung "Oktade" geläufig, wenn speziell 8 Bit gemeint waren. Diese Bezeichnung geht möglicherweise auf den niederländischen Hersteller Philips zurück, in dessen Unterlagen zu Mainframe-Computern sich die Bezeichnung "Oktade" (bzw. englisch "oktad[s]") regelmäßig findet. Seit Anfang der 1970er Jahre gibt es 4-Bit-Mikroprozessoren, deren 4-Bit-Datenwörter (auch Nibbles genannt) mit hexadezimalen Ziffern dargestellt werden können. 8-Bit-Prozessoren wurden schon kurz nach der Erfindung der Programmiersprachen C und Pascal eingeführt, also Anfang der 1970er Jahre, und waren in Heimcomputern bis in die 1980er Jahre im Einsatz (bei eingebetteten Systemen auch heute noch), deren 8-Bit-Datenwörter (respektive Bytes) mit genau zwei hexadezimalen Ziffern dargestellt werden können. Seitdem hat sich die Breite der Datenwörter von Hardware von 4 über 8, 16, 32 bis heute zu 64 und 128 Bit hin immer wieder verdoppelt. Zur Unterscheidung der ursprünglichen Bedeutung als kleinste adressierbare Informationseinheit und der Bedeutung als 8-Bit-Tupel wird in der Fachliteratur (abhängig vom Fachgebiet) korrekterweise auch der Begriff Oktett für letzteres benutzt, um eine klare Trennung zu erzielen. Praktische Verwendung. In der elektronischen Datenverarbeitung bezeichnet man die kleinstmögliche Speichereinheit als Bit. Ein Bit kann zwei mögliche Zustände annehmen, die meist als „Null“ und „Eins“ bezeichnet werden. In vielen Programmiersprachen wird für ein einzelnes Bit der Datentyp „boolean“ (respektive „Boolean“ oder „BOOLEAN“) verwendet. Aus technischen Gründen erfolgt die tatsächliche Abbildung eines Boolean aber meist in Form eines Datenwortes („“). Acht solcher Bits werden zu einer Einheit – einem Datenpäckchen – zusammengefasst und allgemein Byte genannt. Die offizielle ISO-konforme Bezeichnung lautet dagegen Oktett: 1 Oktett = 1 Byte = 8 Bit. Viele Programmiersprachen unterstützen einen Datentyp mit dem Namen „byte“ (respektive „Byte“ oder „BYTE“), wobei zu beachten ist, dass dieser je nach Definition als ganze Zahl, als Bitmenge, als Element eines Zeichensatzes oder bei typunsicheren Programmiersprachen sogar gleichzeitig für mehrere dieser Datentypen verwendet werden kann, sodass keine Zuweisungskompatibilität mehr gegeben ist. Das Byte ist die Standardeinheit, um Speicherkapazitäten oder Datenmengen zu bezeichnen. Dazu gehören Dateigrößen, die Kapazität von permanenten Speichermedien (Festplattenlaufwerke, CDs, DVDs, Blu-ray Discs, Disketten, USB-Massenspeichergeräte usw.) und die Kapazität von vielen flüchtigen Speichern (zum Beispiel Arbeitsspeicher). Übertragungsraten (zum Beispiel die maximale Geschwindigkeit eines Internet-Anschlusses) gibt man dagegen üblicherweise auf der Basis von Bits an. Bedeutungen von Dezimal- und Binärpräfixen für große Anzahlen von Bytes. SI-Präfixe. Für Datenspeicher mit binärer Adressierung ergeben sich technisch Speicherkapazitäten basierend auf Zweierpotenzen (2"n" Byte). Da es bis 1996 keine speziellen Einheitenvorsätze für Zweierpotenzen gab, war es üblich, die eigentlich dezimalen SI-Präfixe im Zusammenhang mit Speicherkapazitäten zur Bezeichnung von Zweierpotenzen zu verwenden (mit Faktor 210 = 1024 statt 1000). Heutzutage sollten die SI-Präfixe nur noch in Verbindung mit der dezimalen Angabe der Speichergrößen benutzt werden. Beispiele: Bei Hard Drive Disks, SSD-Laufwerken und anderen Speichermedien ist dies weit verbreitet. Für Arbeitsspeicher (RAM), Grafikspeicher und Prozessor-Caches hingegen, die technisch binär arbeiten, werden oft noch SI-Präfixe für Zweierpotenzen verwendet. Vereinzelt kommen auch Mischformen vor, etwa bei der Speicherkapazität einer 3,5-Zoll-Diskette (1984): Binär- oder IEC-Präfixe. Um Mehrdeutigkeiten zu vermeiden, schlug die IEC 1996 neue Einheitenvorsätze vor, die nur in der binären Bedeutung verwendet werden sollten. Dabei wird eine den SI-Präfixen ähnlich lautende Vorsilbe ergänzt um die Silbe „bi“, die klarstellt, dass es sich um binäre Vielfache handelt. Beispiele: Das für die SI-Präfixe zuständige Internationale Büro für Maß und Gewicht (BIPM) empfiehlt diese Schreibweise, auch wenn es nicht für "Byte" zuständig ist, da dies keine SI-Einheit ist. Viele weitere Standardisierungsorganisationen haben sich dieser Empfehlung angeschlossen. Unter Unix-artigen Systemen finden sich oft die abweichenden einsilbigen großgeschriebenen Vorsätze als Abkürzungen, also z. B. K für KiB und M für MiB. Vergleich. Vor allem weil die Speicher-Kapazitäten der Hersteller meist nur mit SI-Präfix angegeben sind, kann es gerade in Verbindung mit Microsoft-Systemen zu Verwirrung kommen. Denn Microsoft rechnet für Datengrößen immer mit Zweierpotenzen, gibt diese dann aber mit Hilfe der SI-Präfixe an. So wird also ein 128-GB-Speichermedium als 119,2 GB angezeigt, obwohl es laut IEC 119,2 GiB lauten müsste. Hinzu kommt die Verwirrung der Benutzer, dass laut Microsoft 120 GB (eigentlich 120 GiB) nicht auf ein mit 128 GB beworbenes Speichermedium passen und ein Fehler ausgegeben wird. Vergleich: Für größere Dezimal- und Binärpräfixe wird die Unterscheidung größer, da die nominelle Differenz größer wird. Von einem Präfix zum Nächsten wird das Verhältnis von Binär zu Dezimal um einen Faktor formula_4 größer. So beträgt sie zwischen KiB und kB 2,4 %, zwischen TiB und TB hingegen bereits 10,0 % (Prozentangaben auf 1 Nachkommastelle gerundet). Eine anschauliche Übersicht über die möglichen Einheitenvorsätze und deren Bedeutungen bietet die "Vergleichstabelle". Kapazitätsangaben bei Speichermedien. Massenspeichermedien, wie Festplatten, DVD-Rohlingen und USB-Speicher-Sticks, mit vorgeschalter komplexer Firmware lassen sich in praktisch beliebig fein abgestufter Größe herstellen. Dort hat sich die Herstellung in glatten, gut vermarktbaren Größen durchgesetzt. Die Hersteller verwenden Dezimalpräfixe. RAM-Hauptspeicher und Cache-Speicher von CPUs, auf die in ihrer ziemlich ursprünglichen Form zugegriffen wird, werden als glatte Werte mit Binärpräfixen angegeben, SI-Präfixe wären hier unpraktisch. Für Kunden ist dessen genaue Größe meist irrelevant, da sie mit diesen Größen selten direkt in Kontakt kommen. Wenn die Binärpräfixe nicht normgerecht geschrieben werden, ergeben sich Probleme: Ein mit „4,7 GB“ gekennzeichneter DVD-Rohling wird von mancher Software, zum Beispiel der Windows-Explorer, mit dem Wert von „4,38 GB“ angezeigt – richtig wäre hier „4,38 GiB“ –, obwohl rund 4,7 Gigabyte (4.700.000.000 Byte) gemeint sind. Ebenso wird eine mit „1 TB“ spezifizierte Festplatte mit der scheinbar deutlich kleineren Kapazität von etwa „931 GB“ oder „0,9 TB“ erkannt (auch hier sollte eigentlich „931 GiB“, beziehungsweise „0,9 TiB“ angezeigt werden), obwohl jeweils rund 1,0 Terabyte (1.000.000.000.000 Byte) gemeint sind. Andererseits enthält ein mit „700 MB“ gekennzeichneter CD-Rohling tatsächlich 700 MiB (734.003.200 Byte), also etwa 734 MB (und sollte somit streng genommen mit „700 MiB“ ausgezeichnet werden). Apples macOS benutzt ab Version Mac OS X Snow Leopard (10.6) einheitlich Dezimalpräfixe nur in dezimaler Bedeutung. KDE folgt dem IEC-Standard und lässt dem Anwender die Wahl zwischen binärer und dezimaler Angabe. Für Linux-Distributionen mit anderen Desktopumgebungen, wie zum Beispiel Ubuntu ab Version 11.04, gibt es klare Richtlinien, wie Anwendungen Datenmengen angeben sollen; hier findet man beide Angaben, wobei die Binärpräfixe überwiegen. Unix-Shells nutzen normalerweise Datenblöcke als Einheit. Optional wird auch eine lesbarere Darstellungsform, "" bezeichnet, angeboten, normalerweise die binäre Einheit, wobei jedoch abweichend von der IEC-Vorgabe nur die Vorsätze der Maßeinheiten in Großbuchstaben als Einheit angegeben werden, also K für KiB, M für MiB usw. Es gibt jedoch auch oft die Möglichkeit, SI-Einheiten zu wählen, dann in der korrekten, jedoch großgeschriebenen Einheit, also KB, MB usw.
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Bootloader
Ein Bootloader (englische Aussprache [], von der verkürzten Form des ursprünglichen Wortes "bootstrap loader"), auch Startprogramm genannt, ist eine spezielle Software, die gewöhnlich durch die System-Firmware (z. B. UEFI, oder dessen Vorgänger bei IBM-kompatiblen PCs, dem BIOS) eines Rechners von einem startfähigen Medium geladen und anschließend ausgeführt wird. Der Bootloader lädt dann weitere Teile des Betriebssystems, gewöhnlich einen Kernel. Daher ist auch oft vom Bootcode die Rede, dem ersten Programm (Maschinencode), das nach der unveränderlichen Firmware von einem wechselbaren veränderlichen Datenspeicher geladen wird. Der Vorgang selbst heißt Booten (auf Deutsch auch "Starten") eines Rechners. Grundlagen. Der englische Begriff "bootstrap" bezieht sich ursprünglich auf die Schlaufe, die sich an der Hinterseite eines Stiefels befindet, um das Anziehen des Stiefels zu erleichtern. Der Prozess des Bootens (ein Programm auf einem Rechner laufen zu lassen, auf dem noch kein Betriebssystem läuft) erinnert teilweise an das Bemühen, sich an der eigenen Stiefelschlaufe aus dem Morast zu ziehen. Wo sich der Bootloader auf dem veränderlichen Datenspeicher zu befinden hat und wie er geladen wird ist je nach Rechnerarchitektur und Plattform unterschiedlich. Auf moderneren Architekturen liegt er meist als Datei auf einem von der Firmware unterstützten Dateisystem auf einer bestimmten Partition und wird direkt geladen und ausgeführt. Das ist beispielsweise bei Open Firmware und bei UEFI der Fall, wobei die verwendeten Partitionstabellen und Dateisysteme unterschiedlich sein können. Auch der Bootloader selbst muss in einem bestimmten ausführbaren Dateiformat vorliegen. Das kann einerseits der Prozessorarchitektur und im Besonderen deren Befehlssatz geschuldet sein, wie z. B. PE/COFF bei UEFI, oder die Firmware implementiert ein Architektur-übergreifendes Zwischencode-Format wie z. B. Open Firmware mit Forth FCODE. Einige ältere Architekturen laden den Bootloader aus einem vordefinierten Block des startfähigen Mediums, der daher auch als Bootblock oder, gängiger, Bootsektor bezeichnet wird. Bei IBM-PC-kompatiblen Computern mit BIOS befindet sich dieser immer im ersten Block, Block 0, der auf partitionierten Datenträgern gängigerweise einen Master Boot Record (MBR) sowohl als Startprogramm als auch als Partitionstabelle enthält. Auch im Bereich der eingebetteten Systeme spricht man von Bootloadern. Dort kann der Bootloader nicht nachgeladen werden, sondern befindet sich im nichtflüchtigen Speicher des Steuergeräts. Er beinhaltet Grundroutinen der Initialisierung und oft Kommunikationsprotokolle, um den Austausch der Anwendungsprogramme zu ermöglichen. Als Bootmanager wird ein auf einem Betriebssystem installierbares Dienstprogramm bezeichnet, das einen eigenen Bootloader enthält und erweiterte Konfigurationsmöglichkeiten bietet. Mehrstufige Bootloader. Ist ein Bootloader in mehrere auf einander aufbauende Stufen unterteilt, so wird er als mehrstufiger Bootloader () bezeichnet. Diese Unterteilung in Stufen wird z. B. dann gemacht, wenn der Programmcode des Bootloaders nicht im Bootsektor Platz findet; an dieser Stelle wird daher nur die erste Stufe geladen und ausgeführt, die dann die zweite Stufe, von der die erste Stufe nur die Länge, die Block-Nummer und die Nummer des Mediums kennt, geladen und ausgeführt wird. Die zweite Stufe kann nun mit dem konkreten Dateisystem des Mediums umgehen und lädt anhand eines Dateinamens die dritte Stufe. Die dritte Stufe ist nun der eigentliche Bootloader und lädt eine Konfigurationsdatei, die z. B. ein Auswahlmenü enthält. Ein Menüpunkt könnte die Anweisung beinhalten, einen Bootloader einer anderen Partition zu laden. Dieser mehrstufige Aufbau hat mehrere Vorteile: So kann im oben beschriebenen Fall die Datei des eigentlichen Bootloaders (Stufe 3) beliebig verändert oder auch physisch verschoben werden, da die zweite Stufe mit dem Dateisystem umgehen kann und die dritte Stufe anhand des Dateinamens finden kann. Außerdem unterliegt ein solcher Bootloader nicht den Beschränkungen der Länge eines Bootblocks. Chain-Loader. Es ist auch möglich, dass mehrere Bootloader sich – wie in einer [Befehls-]Kette (englisch ') – nacheinander aufrufen. Solche Aufrufe – meist über mehrere Partitionen hinweg – wird auch "Chain-Loading" oder "Chainloading" (englisch ') genannt. Hierbei kann zuerst ein Bootloader geladen werden, der z. B. ein Bootmenü zur Betriebssystem-Auswahl darstellt, und anschließend je nach Auswahl in diesem Menü der entsprechende (betriebssystemspezifische) Bootloader. So lassen sich auch mehrere, unterschiedliche Betriebssysteme in einem sogenannten Multi-Boot-System auf einem Rechner nebeneinander betreiben. Bootloader mit Zusatzfunktion. Manche Bootloader sind gar keine Bootloader mit dem alleinigen Zweck, ein Betriebssystem zu starten. Beispiele: