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Tenor
I. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin vollständige schriftliche Auskunft darüber zu erteilen, in welchem Umfang die Beklagte im geschäftlichen Verkehr in Deutschland Hosen wie nachfolgend eingeblendet
(Es folgt eine Darstellung)
angeboten und/oder beworben und/oder vertrieben hat und zwar insbesondere durch Vorlage eines Verzeichnisses, aus dem sich je Produktart ergibt:
- Namen und Anschrift der gewerblichen Abnehmer der oben abgebildeten Hosen und Verkaufsstellen, für die sie bestimmt waren bzw. an die sie geliefert worden sind; und
- die Menge der ausgelieferten, erhaltenen oder bestellten oben abgebildeten Hosen sowie die Preise, die für diese von ihren Abnehmern bezahlt wurden, sowie die entsprechenden Einstandspreise für die Produkte;
- der Umfang der für die oben abgebildeten Hosen betriebenen Werbung, unter Mitteilung der Werbemedien und ihrer Erscheinungsdaten und Auflagenzahlen, Sendedaten und -reichweiten, Veröffentlichungen im Internet und Zugriffszahlen auf diese Inhalte, sowie vergleichbare Angaben für andere Medien.
II. Die Beklagte wird verurteilt, die zu erteilenden Auskünfte nach Ziffer I. im Wege der Vorlage sämtlicher Lieferverträge, Auftragsbestätigungen, Rechnungen, Lieferbescheinigungen, Quittungen, jeweils sowohl für den Einkauf als auch für den Verkauf der Ware zu belegen und daraus nach Art einer geordneten Rechnungsaufstellung die in Ziffer I. genannten Auskünfte schlüssig und nachvollziehbar darzulegen.
III. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin sämtliche durch die Verletzungshandlung gemäß Ziffer I. entstandenen oder zukünftig entstehenden Schäden zu ersetzen.
IV. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.
V. Das Urteil ist hinsichtlich II. und III. gegen Sicherheitsleitung in Höhe von 15.000,00 € und hinsichtlich der Kosten in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
1T a t b e s t a n d :
2Die Klägerin behauptet, sie sei Alleinimporteurin und ausschließlich Vertriebsberechtigte in Deutschland der Produkte der Marke „Y“ der aus Z. Die X ist ein Modeunternehmen. Die unter der Marke „Y“ angebotenen Damenbekleidungsartikel sollen insbesondere die Zielgruppe „Trendy“ der jungen, 14-29jährigen, modebewussten Damen ansprechen. Hierzu gehören auch Jeansmodelle.
3Die Klägerin trägt hierzu vor: Die „Y“-Jeans würden von der X hergestellt und in Deutschland in den großen und bekannten Bekleidungsgeschäften angeboten (Breuninger, Konen, Ludwig Beck, Engelhorn, Daniels oder Leo’s). Hauptwettbewerber in diesem Bereich seien Hersteller wie G-Star, Diesel, Replay, Tommy Hilfiger, Closed, Cambio, Herrlicher, Pepe Jeans, Drykorn, Levi’s und Scotch & Soda. Das erfolgreichste Jeansmodell der Marke „Y“ sei das Modell „P78A“, dieses werde seit Frühjahr 2010 auch auf dem deutschen Markt angeboten. Weiter würden noch zwei weitere Modelle „P68C“ und „P82D“, die charakteristische Merkmale der „P78A“ aufwiesen, vertrieben; diese seien allerdings jeweils leicht anders geschnitten. „P68C“ sei als SLIM-Modell ausgestaltet (insbesondere für jüngere Käuferinnen), „P82D“ sei ein „MINI BAGGY“-Modell, dessen Beine eine leichte O-Form aufwiesen.
4Wegen der Gestaltung der Jeansmodelle verweist die Kammer auf die vorgelegten Abbildungen sowie die zur Akte gereichten Originalprodukte.
5Die besondere Gestaltung ihrer Jeans beschreibt die Klägerin wie folgt:
6- V-förmige Nähte auf der Vorderseite der Hosenbeine,
7- nicht verdeckte Knopfleiste am Hosenschlitz,
8- zwei fast parallel geschwungene Nähte an den Vordertaschen,
9- Gesäßtaschen aus drei sich überlappenden Teilen,
10- zwei Reihen Doppelnähte auf der Hosenrückseite.
11Sie, die Klägerin, habe in Deutschland das Modell „P78A“ wie folgt abgesetzt:
122010: ca. 2.000 Stück (geschätzt)
132011: ca. 4.000 Stück (geschätzt)
142012: über 26.000 Stück, Umsatz über 1 Mio. EUR
152013: über 195.000 Stück, Umsatz über 8 Mio. EUR
162014: über 407.000 Stück, Umsatz über 16 Mio. EUR
172015: über 308.000 Stück, Umsatz über 12 Mio. EUR
182016: über 215.000 Stück, Umsatz über 8 Mio. EUR
192017: über 200.000 Stück, Umsatz über 7,7 Mio. EUR
20Die „Y“-Jeans hätten in Deutschland eine große Aufmerksamkeit erregt. Zahlreiche Modemagazine hätten hierüber berichtet. Die „Y“-Jeans würden umfangreich beworben. Hierzu trägt die Klägerin im Einzelnen vor.
21Die Beklagte ist Teil des dänischen Unternehmens Bestseller, welches eines der größten europäischen Bekleidungsunternehmen ist.
22Die streitgegenständlichen und im Tenor zu I. abgebildeten Hosen sind im Dezember 2017 von der Amazon EU S.à.r.l. auf deren Internetseite angeboten worden.
23Wegen der Gestaltung der hier in Rede stehenden Jeans verweist die Kammer auf die zur Akte gereichten Abbildungen sowie auf das vorgelegte Originalprodukt.
24Nach einer Abmahnung der Klägerin vom 20.12.2017 erteilte die Amazon EU S.à.r.l. die Auskunft, dass die streitgegenständlichen Hosen von der Beklagten geliefert worden seien. Daraufhin mahnte die Klägerin die Beklagte mit Schreiben vom 18.01.2018 ab (Anlage K 16). Am 07.02.2018 gab die Beklagte eine strafbewehrte Unterlassungserklärung ab (Anlage K 16). In der Folgezeit entwickelte sich hinsichtlich der geltend gemachten Ansprüche auf Auskunft und Schadensersatz ein Schriftwechsel zwischen den Parteien. Wegen der Einzelheiten verweist die Kammer auf den als Anlagenkonvolut K 17 vorgelegten Schriftwechsel. Eine gütliche Einigung konnte nicht gefunden werden. Die Verhandlungen endeten am 06.09.2018. Am 24.10.2018 hat die Klägerin die vorliegende Klage eingereicht, mit der sie Auskunft und Feststellung der Schadensersatzverpflichtung begehrt.
25Die Klägerin sieht in dem Vertrieb des Jeansmodells der Beklagten eine unlautere Nachahmung der „Y“-Jeansmodelle „P78A“, „P68C“ und „P82D“.
26Die Klägerin beantragt,
27wie erkannt;
28hilfsweise: festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin das durch die Verletzungshandlungen gemäß Ziffer I. Erlangte herauszugeben.
29Die Beklagte beantragt,
30die Klage abzuweisen.
31Sie bestreitet, dass die Klägerin Alleinimporteurin und ausschließlich Vertriebsberechtigte in Deutschland der Produkte der Marke „Y“ der X aus Z sei. Es sei auch nicht dargelegt, dass die X-Herstellerin der Jeans sei. Es fehle an der wettbewerblichen Eigenart der Jeans der Klägerin sowie an einer Verletzungshandlung. Es gebe eine Vielzahl von Jeanshosen unterschiedlicher Hersteller, die dieselben Gestaltungsmerkmale aufwiesen wie die Produkte der Klägerin. Hierzu führt die Beklagte im Einzelnen unter Bezugnahme auf das Anlagenkonvolut B 3 aus. Die angegriffene Hose weiche zudem in wesentlichen Gestaltungsmerkmalen deutlich von den Modellen der Klägerin ab, so dass ein abweichender Gesamteindruck entstehe. Der Auskunftsanspruch sei erfüllt. Schließlich erhebt die Beklagte die Einrede der Verjährung.
32Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der von den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie den sonstigen Akteninhalt Bezug genommen.
33Die Kammer hat die zur Akte gereichten Hosen im Termin zur mündlichen Verhandlung in Augenschein genommen.
34E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
35Die Klage hat Erfolg.
36Der Klägerin steht gegen die Beklagte ein Auskunftsanspruch sowie dem Grunde nach ein Schadensersatzanspruch aus § 9 S. 1 UWG i.V.m. §§ 3, 4 Nr. 3 a) UWG, § 242 BGB zu.
37Im Einzelnen:
38I. Die X ist Herstellerin der „Y“ Jeans.
39Dies hat die Klägerin durch Vorlage von Auszügen aus der Webseite der X(Anlagenkonvolut K 28), von Markenunterlagen (Anlagenkonvolut K 29), nach denen die X Inhaberin der „Y“ Marken ist, sowie durch Vorlage der Originalprodukte mit den entsprechenden eingenähten Etiketten zur Überzeugung der Kammer ausreichend belegt, zumal die Beklagte die Herstellereigenschaft der X in der Klageerwiderung zunächst nicht in Abrede gestellt hatte.
40II. Die Klägerin ist als Alleinvertriebsberechtigte aktivlegitimiert.
41Die Klägerin hat auf Hinweis der Kammer die Vertriebsverträge zwischen der Klägerin und der X für die Jahre 2012 – 2014, 2014 – 2018 und 2019 – 2024 (Anlagen K 25 – K 27) in Auszügen zu den Akten gereicht, aus denen sich ergibt, dass die Klägerin die alleinige und exklusive Vertriebspartnerin für Artikel der Marke „Y“ der X im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ist. Zwar hat sich die X in den Verträgen vorbehalten, ihre bisherigen Direktkunden weiterhin zu beliefern. Bei diesen handelt es sich jedoch um wenige Einzelhändler (zunächst 14, aktuell nur noch 6), die lediglich an Endkunden und nicht an gewerbliche Wiederverkäufer verkaufen (dürfen). Darüber hinaus hat die Klägerin dargelegt, dass diese Direktkunden lediglich das Privileg haben, sich die Ware direkt in Italien bei der X aussuchen zu dürfen. Die Bestellungen werden dann über die Klägerin abgewickelt und auch von ihr an die Direktkunden fakturiert. Die X liefert die Ware zwar direkt an die Direktkunden, stellt diese aber wie jede andere Lieferung der Klägerin in Rechnung. Das Privileg der Direktkunden erklärt sich daher allein aus der vor Abschluss des ersten Vertriebsvertrages zwischen der Klägerin und der X im Jahre 2012 bestehenden Kundenbeziehung der Direktkunden zu der X S.p.A.. Diese Art der Kundenbeziehung von jetzt nur noch 6 Einzelhändlern – die Klägerin beliefert in Deutschland rund 2200 Abnehmer – zu der X S.p.A., die letztendlich über die Klägerin abgewickelt wird, vermag das Alleinvertriebsrecht der Klägerin damit - nicht zuletzt auch aufgrund der nahezu wirtschaftlichen Bedeutungslosigkeit - nicht in Frage zu stellen.
42III. Die Beklagte hat durch Angebot und Vertrieb der angegriffenen Jeanshose § 3 Abs. 1 UWG zuwidergehandelt. Danach sind unlautere geschäftliche Handlungen unzulässig, wenn sie geeignet sind, die Interessen von Mitbewerbern, Verbrauchern oder sonstigen Marktteilnehmern spürbar zu beeinträchtigen. Unlauter im Sinne von § 3 Abs. 1 UWG handelt gemäß § 4 Nr. 3 a) UWG insbesondere, wer Waren oder Dienstleistungen anbietet, die eine Nachahmung der Waren oder Dienstleistungen eines Mitbewerbers sind, wenn er eine vermeidbare Täuschung der Abnehmer über die betriebliche Herkunft herbeiführt. Gemäß § 4 Nr. 3 UWG kann der Vertrieb eines nachahmenden Erzeugnisses wettbewerbswidrig sein, wenn das nachgeahmte Produkt über wettbewerbliche Eigenart verfügt und besondere Umstände hinzutreten, die die Nachahmung unlauter erscheinen lassen. So verhält es sich, wenn die Nachahmung geeignet ist, eine Herkunftstäuschung hervorzurufen und der Nachahmer geeignete und zumutbare Maßnahmen zur Vermeidung der Herkunftstäuschung unterlässt. Dabei besteht eine Wechselwirkung zwischen dem Grad der wettbewerblichen Eigenart, der Art und Weise und der Intensität der Übernahme sowie den besonderen wettbewerblichen Umständen, so dass bei einer größeren wettbewerblichen Eigenart und einem höheren Grad der Übernahme geringere Anforderungen an die besonderen Umstände zu stellen sind, die die Wettbewerbswidrigkeit der Nachahmung begründen und umgekehrt (BGH, WRP 2010, 94 = GRUR 2010, 80 Tz. 21 - LIKEaBIKE; WRP 2012, 1379 = GRUR 2012, 1155 Tz. 16 - Sandmalkasten; WRP 2013, 1188 = GRUR 2013, 951 Tz. 14 - Regalsystem; WRP 2013, 1339 = GRUR 2013, 1052 Tz. 15 - Einkaufswagen III; OLG Köln, GRUR-RR 2014, 25, 26 f. - Kinderhochstuhl "Sit up", jeweils mwN).
43Bei Anwendung dieser Grundsätze erweist sich das Angebot und der Vertrieb der angegriffenen Jeans der Beklagten als wettbewerbswidrig:
441) Die von der Klägerin unter der Bezeichnung „P78A“, „P68C“ und „P82D“ unter der Marke „Y“ vertriebenen Jeans-Modelle haben wettbewerbliche Eigenart.
45Eine wettbewerbliche Eigenart liegt vor, wenn die konkrete Ausgestaltung oder bestimmte Merkmale des Erzeugnisses geeignet sind, die angesprochenen Verkehrskreise auf seine betriebliche Herkunft oder die Besonderheiten des Erzeugnisses hinzuweisen (ständige Rechtsprechung, vgl. BGH Urteil vom 28.05.2009, LIKEaBIKE, I ZR 124/06, Rdnr. 21, juris). Dabei können einzelne Gestaltungsmerkmale in ihrem Zusammenwirken eine wettbewerbliche Eigenart verstärken oder begründen, wenn sie den Gesamteindruck des Erzeugnisses bestimmen (BGH, Urteil vom 28.05.2009, LIKEaBIKE, I ZR 124/06, Rdnr. 34, juris). In der Rechtsprechung ist weiter anerkannt, dass auch bei Modeerzeugnissen in Ausnahmefällen deren besonders originelle Gestaltung als Hinweis auf die betriebliche Herkunft angesehen werden und eine wettbewerbliche Eigenart unter diesem Gesichtspunkt vorliegen kann. Im Bereich der Mode begründet sich die wettbewerbliche Eigenart in der Regel aufgrund ästhetischer Merkmale. Das ist zum einen der Fall, wenn die – nicht technischen, sondern ästhetischen – Merkmale einer Ware, insbesondere die Gestaltung ihrer äußeren Form sowie das sonstige Design, die Ware so individualisieren, dass der Verbraucher annimmt, so gestaltete Produkte müssten aus derselben betrieblichen Herkunftsstätte stammen. Es genügt zum anderen aber auch, dass das Produkt für ihn spezielle Besonderheiten aufweist, die es von allen anderen unterscheidet. Diese können insbesondere im ästhetischen Bereich in einer überdurchschnittlichen individuellen schöpferischen Gestaltung liegen. In der Regel ist es aber auch gerade hier die Kombination bestimmter einzelner Merkmale, die der Verkehr als Hinweis auf die Herkunft oder auf modische Besonderheiten ansieht (vgl. von Hellfeld in Kirchner/Kirchner-Freis, Handbuch Moderecht, Seite 167 f.; OLG Köln, Urteil vom 14.07.2017 – 6 U 197/16 – S. 16). Anders als bei kurzlebigen Modeneuheiten besteht in einem solchen Fall ein einer zeitlichen Beschränkung nicht von vornherein unterworfener Nachahmungsschutz (vgl. z.B. BGH, Urteil vom 15.09.2005, Jeans, I ZR 151/02, Rdnr. 24, juris).
46Wenn und soweit der Entscheidung des Oberlandesgerichtes München vom 04.07.2019 – 29 U 3490/17 – (wohl nicht rechtskräftig) eine abweichende Sicht der Dinge zu entnehmen sein sollte, teilt die Kammer diese nicht.
47Obgleich im Produktbereich der Jeanshosen eine sehr große Vielfalt von verschiedenen Gestaltungen bzw. Designs auf dem Markt existiert, verfügen die in Rede stehenden Jeansmodelle der Klägerin über eine besondere Kombination charakteristischer Merkmale, die sie von einer klassischen Jeansform deutlich abheben und die ihre wettbewerbliche Eigenart begründen. Für das Design der Jeansmodelle der Klägerin sind – wie diese zutreffend dargelegt hat – zahlreiche Gestaltungselemente prägend. So zeichnet sich die Jeanshose durch die V-förmigen Nähte auf der Vorderseite der Hosenbeine, die nicht verdeckte Knopfleiste am Hosenschlitz, zwei fast parallel geschwungene Nähte an den Vordertaschen, Gesäßtaschen aus drei sich überlappenden Teilen und durch zwei Reihen Doppelnähte auf der Hosenrückseite aus. Wenngleich verschiedene der Einzelelemente bei einer Vielzahl von Jeans und auch von anderen Herstellern verwendet werden mögen und bei Jeans gerichtsbekannt eine hohe Musterdichte herrscht, führt diese von der Klägerin gewählte konkrete Kombination der Gestaltungselemente in Zusammenschau mit der – unabhängig von der Richtigkeit der von der Klägerin genannten konkreten Verkaufs- und Umsatzzahlen – jedenfalls weiten Verbreitung der Jeans-Modelle zu einer wettbewerblichen Eigenart.
48Eine Schwächung oder gar ein Verlust dieser wettbewerblichen Eigenart durch die im Produktumfeld vertriebenen Jeansmodelle ist nicht festzustellen. Die von der Beklagten aufgezeigten Jeans des wettbewerblichen Umfeldes mögen zwar teilweise einzelne der charakteristischen Merkmale der von der Klägerin angeführten Jeansmodelle aufweisen, bei diesen sind aber nicht mehrere oder gar alle charakteristischen Gestaltungsmerkmale in der die wettbewerbliche Eigenart der Modelle der Klägerin begründenden Weise miteinander kombiniert. Insoweit kann die Kammer auf die zutreffenden Ausführungen der Klägerin in ihrem Schriftsatz vom 29.01.2019, dort Seiten 6-14, verweisen.
49Soweit die Beklagte – wie auch im Termin zur mündlichen Verhandlung - Jeansmodelle angeführt und präsentiert hat, die u.U. tatsächlich als Nachahmungen der Hosen der Klägerin angesehen werden könnten, sind diese nicht geeignet, die wettbewerbliche Eigenart zu schwächen oder insgesamt in Frage zu stellen.
50Die wettbewerbliche Eigenart eines Produkts kann verloren gehen, wenn seine konkrete Ausgestaltung oder seine Merkmale auf Grund der Entwicklung der Verhältnisse auf dem Markt, beispielsweise durch eine Vielzahl von Nachahmungen, nicht mehr geeignet sind, die angesprochenen Verkehrskreise auf seine betriebliche Herkunft oder seine Besonderheiten hinzuweisen (BGH, Urteil vom 24.05.2007 – I ZR 104/04, GRUR 2007, 984 – Gartenliege). Der Anspruch aus § 4 Nr. 3 UWG entfällt aber nicht bereits dadurch, dass andere Nachahmer mehr oder weniger gleichzeitig auf den Markt kommen. Andernfalls könnte sich jeder Nachahmer auf die allgemeine Verbreitung der Gestaltungsform durch die anderen Nachahmer berufen und dem betroffenen Hersteller des Originals würde die Möglichkeit der rechtlichen Gegenwehr genommen (BGH, Urteil vom 24.03.2005 – I ZR 131/02, GRUR 2005, 600 – Handtuchklemmen, m.w.N.).
51Darüber hinaus kann sich die Beklagte nicht mit Erfolg auf den Vertrieb anderer Nachahmungsprodukte berufen, solange Ansprüche wegen dieser Produkte nicht durch Verwirkung untergegangen sind (vgl. OLG Köln, Urteil vom 18.12.2015 – 6 U 44/15 – Crocs, juris).
52Schließlich ist zu berücksichtigen, dass die Jeanshosen der Klägerin bereits seit langer Zeit auf dem Markt in einem hohen Maß präsent sind, so dass auch nur ein intensiver Vertrieb von ähnlichen Produkten die wettbewerbliche Eigenart schwächen würde (vgl. OLG Düsseldorf, Urteil vom 11.12.2014 – 15 U 94/14, MarkenR 2015, 102).
53Die wettbewerbliche Eigenart wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass die Klägerin selbst zahlreiche Jeansmodelle anbietet, bei denen sie die von der Klägerin als charakteristisch bezeichneten Gestaltungsmerkmale, nämlich die V-förmigen Teilungsnähte auf den Oberschenkeln und die sichtbare Knopfleiste am Hosenschlitz, entweder überhaupt nicht oder aber in anderer Kombination verwendet. Insoweit führt dies nicht dazu, dass der Verkehr nicht mehr auf die Herkunft der Produkte schließen könne. Wenn dies der Fall wäre, könnte jeder Modehersteller stets nur ein Modell einer Warenkategorie anbieten, da ja anderenfalls beim Verkehr große Verwirrung und der Verlust der wettbewerblichen Eigenart eintreten würde. Vielmehr wissen die Verbraucher, dass (dieselben) Modehersteller auch völlig anders gestaltete und/oder leicht abgewandelte Modelle vertreiben.
542) Die angegriffene Jeans-Hose der Beklagten stellt eine wettbewerbsrechtlich relevante Nachahmung der Y-Jeans-Modelle „P78A“, „P68C“ und „P82D“ der Klägerin dar.
55Eine nahezu identische Übernahme ist gegeben, wenn nach dem Gesamteindruck der sich gegenüberstehenden Erzeugnisse die Nachahmung nur geringfügige Abweichungen vom Original aufweist (BGH, GRUR 2000, 521, 524 – Modulgerüst I; BGH, GRUR 2010, 1125 Tz. 25 – Femur-Teil). Dabei kommt es darauf an, ob gerade die übernommenen Gestaltungsmittel die wettbewerbliche Eigenart des nachgeahmten Produkts begründen (BGH, GRUR 2007, 795 Tz. 32 – Handtaschen; BGH, GRUR 2010, 1125 Tz. 25 – Femur-Teil). Eine nachschaffende Übernahme liegt dagegen bereits vor, wenn die Nachahmung wiedererkennbare wesentliche Elemente des Originals aufweist und sich nicht deutlich davon absetzt. Geringfügige Abweichungen vom Original sind unerheblich, solange das Original als Vorbild erkennbar bleibt (OLG Köln, Urteil vom 19.09.2014 – 6 U 7/14 – S. 10; OLG Hamburg, MarkenR 2011, 275, 280 = juris Tz. 55; Köhler, in: Köhler/Bornkamm, UWG, 37. Aufl. 2019, § 4 Rn. 3.37).
56Bei der Beurteilung der Übereinstimmung oder Ähnlichkeit von Produkten ist auf den Gesamteindruck abzustellen, den Original und Nachahmung bei ihrer bestimmungsgemäßen Benutzung dem Betrachter vermitteln (BGH, GRUR 2005, 600, 602 – Handtuchklemmen; BGH, GRUR 2007, 795 Tz. 32 – Handtaschen; BGH, GRUR 2009, 1069 Tz. 20 – Knoblauchwürste). Dabei ist der Erfahrungssatz zu berücksichtigen, dass der Verkehr die fraglichen Produkte regelmäßig nicht gleichzeitig wahrnimmt und miteinander vergleicht, sondern seine Auffassung auf Grund eines Erinnerungseindrucks gewinnt. Dabei treten regelmäßig die übereinstimmenden Merkmale mehr hervor, so dass es mehr auf die Übereinstimmungen als die Unterschiede ankommt (BGH, GRUR 2007, 795 Tz. 34 – Handtaschen; BGH, GRUR 2010, 80 Tz. 41 – LIKEaBIKE; OLG Köln, Urteil vom 19.09.2014 – 6 U 7/14 – S. 10; Köhler, in: Köhler/Bornkamm, UWG, 37. Aufl. 2019, § 4 Rn. 3.43). Maßgebend für die Beurteilung von Übereinstimmungen ist der jeweilige Gesamteindruck, den die verschiedenen Erzeugnisse bei ihrer bestimmungsgemäßen Benutzung dem Betrachter vermitteln (BGH, GRUR 2002, 629, 632 – Blendsegel). Dabei besteht eine Wechselwirkung zwischen dem Grad der wettbewerblichen Eigenart, der Art und Weise und der Intensität der Übernahme sowie den besonderen wettbewerblichen Umständen, so dass bei einer größeren wettbewerblichen Eigenart und einem höheren Grad der Übernahme geringere Anforderungen an die besonderen Umstände zu stellen sind, die die Wettbewerbswidrigkeit der Nachahmung begründen und umgekehrt (z.B. BGH, Urteil vom 28.05.2009, LIKEaBIKE, I ZR 124/06, Rdnr. 21, juris).
57Bei der von der Beklagten vertriebenen Jeans wurden nahezu sämtliche charakteristischen gestalterischen Merkmale der Jeans der Klägerin übernommen, was zu einem nahezu identischen Gesamteindruck der angegriffenen Jeans führt. So finden sich auf der Vorderseite sowohl die V-förmigen Nähte als auch die unverdeckte Knopfleiste sowie die doppelte Nahtführung unterhalb der Taschen. Auf der Rückseite wurde die horizontal verlaufende zusätzliche Naht zwischen Gesäßtaschen und Bund übernommen. Soweit die Beklagte auf Unterschiede in der Gestaltung der sich gegenüberstehenden Jeans verweist fallen diese Abweichungen erst bei einem unmittelbaren Vergleich der Hosen auf und verändern den Gesamteindruck nicht. Ebenso führt die – allerdings - abweichende Gestaltung der Gesäßtaschen nicht zu einer anderen Gesamtwirkung. Wie ausgeführt, ist bei der Beurteilung der Übereinstimmung oder Ähnlichkeit von Produkten auf den Gesamteindruck abzustellen und zu berücksichtigen, dass der Verkehr die fraglichen Produkte regelmäßig nicht gleichzeitig wahrnimmt und dabei regelmäßig die übereinstimmenden Merkmale mehr hervortreten.
583) Es liegt auch eine vermeidbare Herkunftstäuschung vor.
59Für die Gefahr einer Herkunftstäuschung reicht es aus, dass bei den angesprochenen Verkehrskreisen der Eindruck erweckt wird, es handele sich bei dem nachahmenden Produkt um eine neue Serie oder eine Zweitmarke des Herstellers des Originals oder es bestünden zumindest lizenz- oder gesellschaftsrechtliche Beziehungen zu ihm (BGH, NJW-RR 2001, 405, 407 – Messerkennzeichnung; BGH, GRUR 2009, 1073 Tz. 15 – Ausbeinmesser). Das Hervorrufen bloßer Assoziationen an das Originalprodukt reicht nicht aus. Maßgebend ist die Sichtweise des durchschnittlich informierten, situationsadäquat aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbrauchers (oder sonstigen Marktteilnehmers), der sich für das Produkt interessiert (BGH, GRUR 2010, 1125 = WRP 2010, 1465 Tz. 32 – Femur-Teil; OLG Köln, Urteil vom 07.03.2014 – 6 U 160/13).
60Die Jeanshosen der Klägerin verfügen, wie dargelegt, zumindest über eine gewisse Bekanntheit. Der Käufer, der ein Angebot der Beklagten wahrnimmt, wird angesichts der Übereinstimmungen in den prägenden Merkmalen der Jeanshosen davon ausgehen, es handele sich um die ihm bekannte Jeanshose der Klägerin oder jedenfalls solche eines Herstellers, der mit der Klägerin organisatorisch oder geschäftlich verbunden ist. Durch die bestehenden Unterschiede wird die Gefahr einer Herkunftstäuschung nicht beseitigt.
61Die Gefahr einer Herkunftstäuschung wird schließlich auch nicht dadurch vermieden, dass die angegriffenen Jeanshose die Bezeichnung „P“ trägt. Zwar kann die hinreichend sichtbare Anbringung einer Herstellerbezeichnung eine an sich bestehende Verwechslungsgefahr beseitigen (BGH, GRUR 2002, 820, 823 – Bremszangen). Bei „P“ handelt es sich jedoch aus Sicht des Verkehrs nicht eindeutig um eine Herstellerkennzeichnung. „P“ erscheint vielmehr eher als Handelsmarke, welche die Gefahr einer Herkunftstäuschung nicht auszuräumen vermag (vgl.: BGH, GRUR 2009, 1069 Tz. 16 ff. – Knoblauchwürste; BGH, GRUR 2001, 251, 254 - Messerkennzeichnung).
624) Der Beklagten ist auch zuzumuten, durch Umgestaltung ihrer Jeanshose die Gefahr einer Herkunftstäuschung zu vermeiden.
63Es ist einem Unternehmer zwar nicht verwehrt, auf die Verkäuflichkeit seines Erzeugnisses zu achten und dementsprechend die Erwartungen der Abnehmer zu berücksichtigen. Die Angemessenheit ist aber zu verneinen, wenn dem Mitbewerber auch bei gleicher Prioritätensetzung ein hinreichender Spielraum für Abweichungen zur Verfügung steht. Das setzt eine Gesamtabwägung voraus. Ein Indiz dafür ist, wenn abweichende Konkurrenzprodukte mit einem „eigenen Gesicht“ auf dem Markt sind (BGH, GRUR 2002, 86, 90 – Laubhefter; BGH, GRUR 2009, 1073 Tz. 15 – Ausbeinmesser; OLG Köln, Urteil vom 18.10.2013 – 6 U 11/13 – S. 32 f.; Köhler/Bornkamm, UWG 37. Aufl. 2019, § 4 Rn. 3.49). Diese Voraussetzungen sind hier angesichts der in diesem Verfahren vorgetragenen zahlreichen Produkte des wettbewerblichen Umfelds erfüllt.
645) Im Rahmen der bei der Anwendung des § 4 Nr. 3 a) UWG gebotenen Gesamtabwägung ist zu berücksichtigen, dass eine Wechselwirkung zwischen dem Grad der wettbewerblichen Eigenart, der Art und Weise und der Intensität der Übernahme sowie den besonderen wettbewerblichen Umständen besteht, so dass bei einer größeren wettbewerblichen Eigenart und einem höheren Grad der Übernahme geringere Anforderungen an die besonderen Umstände zu stellen sind, die die Wettbewerbswidrigkeit der Nachahmung begründen und umgekehrt. Bei einer nahezu identischen Übernahme sind die Anforderungen an die wettbewerbliche Eigenart und an die besonderen wettbewerblichen Umstände geringer als einer nur nachschaffenden Übernahme (BGH, GRUR 2012, 1155 Tz. 16 – Sandmalkasten; OLG Köln, Urteil vom 18.10.2013 - 6 U 11/13 – S. 33). Im vorliegenden Fall trifft eine fast identische Übernahme mit einer durchschnittlichen wettbewerblichen Eigenart zusammen. Die Anforderungen an die besonderen wettbewerblichen Umstände sind daher niedriger anzusetzen, so dass im Gesamtergebnis von einer unlauteren Nachahmung im Sinne des § 4 N. 3 a) UWG auszugehen ist.
656) Die Beklagte hat auch zumindest fahrlässig und damit schuldhaft gehandelt.
66Bei sorgfältiger Prüfung hätten sie erkennen können und müssen, dass die Klägerin mit nahezu identischen Jeansmodellen seit langem im Markt präsent ist. Sie hätte vor dem Marktzutritt prüfen müssen, ob der Vertrieb der streitgegenständlichen Jeanshose Rechte Dritter verletzt.
67Dass der Klägerin durch die Wettbewerbsverletzung seitens der Beklagten ein Schaden entstanden ist, erscheint nicht ausgeschlossen.
68IV. Die Beklagte hat den geltend gemachten Auskunftsanspruch nicht erfüllt.
69Zwar hat die Beklagte vorprozessual Vertriebs- und Umsatzzahlen genannt. Der Auskunftsanspruch geht jedoch weiter. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Erteilung sämtlicher Auskünfte, welche im Tenor zu II. und im Tenor zu III. tituliert sind. Nur so wird die Klägerin in die Lage versetzt, ihren Schadensersatzanspruch nach einer der drei ihr zur Verfügung stehenden Berechnungsmethoden zu beziffern.
70V. Die Ansprüche der Klägerin sind nicht verjährt.
71Der Lauf der Verjährung war jedenfalls so lange durch Verhandlungen der Parteien im Sinne des § 203 BGB gehemmt, dass die Klage noch innerhalb der sechsmonatigen Verjährungsfrist eingereicht worden ist.
72Die Kammer verweist auf den von der Beklagten als Anlage B 5 vorgelegten „Zeitstrahl“.
73Unstreitig hat die Klägerin am 10.01.2018 Kenntnis von der Verletzungshandlung erlangt. Die Verhandlungen der Parteien begannen unstreitig am 31.01.2018 und währten zunächst jedenfalls bis zum 20.04.2018, was – so auch die Beklagte – zu einer Hemmung von 80 Tagen führt. Ob nach dem 20.04.2018 für einen gewissen weiteren Zeitraum, in dem die Klägerin trotz Fristablauf nach Treu und Glauben noch eine Rückmeldung der Beklagten erwarten konnte (BGH NJW 1986, 1337; BGH NJW 2009, 1806), eine Hemmung anzunehmen ist, kann dahinstehen. Jedenfalls ist der Lauf der Verjährung ab dem 02.08.2018 (und nicht erst – wie die Beklagte meint – am 23.08.2018) mit der erneuten Kontaktaufnahme der Klägerin (Möglichkeit der außergerichtlichen Einigung), die zu den E-Mails der Beklagten vom 09.08.2018 (Erklärung der Bereitschaft zu Auskunftserteilung), 14.08.2018 (Bitte um Fristverlängerung) und 23.08.2018 (Vergleichsangebot der Beklagten) erneut gehemmt worden, da die Parteien die Vergleichsverhandlungen wieder aufgenommen haben. Diese sind am 06.09.2018 gescheitert. Die Hemmung vom 02.08.2018 bis 06.09.2018 währte 36 Tage, so dass von einer Hemmung von insgesamt 116 Tagen auszugehen ist. Unter Berücksichtigung einer Hemmung von 116 Tagen ist die Klage am 24.10.2018 noch innerhalb der Verjährungsfrist eingereicht worden.
74Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91, 709 ZPO.
75Streitwert: 35.000,00 €
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Tenor
Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
1Tatbestand:
2Streitig zwischen den Beteiligten ist die Höhe der dem Kläger zu gewährenden Grundsi-cherungsleistungen, hier insbesondere ein höherer Bedarf auf Grund alters- und ge-schlechtsspezifischer Diskriminierung, Rechtsmittelkosten, sowie die Übernahme der Kosten für einen Elektroradiator zum zusätzlichen Beheizen der Wohnung im zweiten Kalenderhalbjahr 2014.
3Der Kläger bezieht seit dem 01.01.2005 laufend Grundsicherungsleistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) von dem Beklagten. Er bewohnt eine 48 qm große Erdgeschosswohnung, bestehend aus einem Kinderzimmer, einem Bad, einer Küche welche ohne Tür mit dem Flur verbunden ist, ei-nem Wohnzimmer und einem Schlafzimmer. Die Wohnung wird mit einer Gasetagenhei-zung beheizt. Die Warmwasserbereitung erfolgt nach Angaben des Klägers jedoch über Strom. Die Gasetagenheizung hat nach den Herstellerangaben eine kleinste Wärmebe-lastung von 8,4 Kilowatt (kW), die elektrische Leistungsaufnahme beträgt 120 Watt (W).
4Bereits bei seiner ersten Antragstellung gab der Kläger an, dass er auf Grund seiner per-sönlichen Lebensführung, seiner Anschauungen, sowie seiner genetischen Anlagen einen erhöhten monatlichen Mehraufwand habe. Er berief sich dabei unter anderem auf die UN-Menschenrechte. Hinsichtlich sowohl der höheren Bedarfe, als auch der Heizkosten wurde in der Vergan-genheit bereits eine Vielzahl von Verfahren vor dem hiesigen Sozialgericht und dem Landessozialgericht geführt.
5Mit Bescheid vom 23.05.2014 bewilligte der Beklagte dem Kläger Grundsicherungsleis-tungen für den Zeitraum 01.07.2014 bis 31.12.2014 in Höhe von 391,00 Euro Regelleis-tung und 279,04 Euro für die Kosten der Unterkunft und Heizung (insgesamt: 670,04 Eu-ro). Gegen den Bescheid erhob der Kläger Widerspruch. Mit Änderungsbescheid vom 04.08.2014 rechnete der Beklagte ein Guthaben aus einer Nebenkostenabrechnung an. Mit weiterem Änderungsbescheid vom 17.06.2015 hob der Beklagte den Änderungsbescheid vom 04.08.2014 wieder auf und bewilligte die Leistun-gen in ursprünglicher Höhe.
6Mit Widerspruchsbescheid vom 21.05.2015 setzte der Beklagte die Leistungen ausdrück-lich wieder in ursprünglicher Höhe von insgesamt 670,04 Euro fest und wies den Wider-spruch des Klägers im Übrigen zurück. Hinsichtlich der Höhe der Heizkosten und der Verfassungsmäßigkeit der Bedarfe verwies der Beklagte insoweit auf die abgeschlossenen Gerichtsverfahren.
7Mit der dagegen am 19.06.2015 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren wei-ter. Er trägt vor, dass junge Menschen einen höheren Ernährungsbedarf haben als ältere, sowie Männer einen höheren Bedarf als Frauen. Dies sei wissenschaftlich erwiesen. Auch sei die Unterscheidung zwischen Arbeitslosengeld und der bis 2004 bestehenden Arbeitslosenhilfe unzulässig. Ebenso unzulässig sei die Unterscheidung zwischen Ar-beitslosengeld und Arbeitslosengeld II. Das Handeln des Beklagten verstoße gegen hö-herrangiges Recht, insbesondere gegen die UN-Menschenrechte. Seine Heizkosten inklusive des Betriebes des Elektroradiators seien angemessen.
8Der Kläger beantragt,
9den Bescheid vom 23.05.2014 in der Gestalt der Änderungsbescheide vom 04.08.2014 und 17.06.2015 und des Widerspruchsbescheides vom 21.05.2015 abzuändern und den Beklagten zur Gewährung weiterer Leistungen zu verurtei-len.
10Der Kläger beantragt dabei insbesondere:
111. Ich beantrage, meine dokumentierte Inbetriebnahme meines Elektroradiators "Baufa 1500 Watt Type ERST 15, Nr. 316088" meine tatsächlichen Heizkosten vollumfänglich zu erstatten. Dies ist ein Volumen von 270 kw/h
122. Ich beantrage, die Entscheidungen des LSG NRW als Beweis hinzuzuziehen u.a. Urteil L 2 AS 273/14, L 2 AS 564/14, L 2 AS 798/14 und L 2 AS 800/14.
133. Ich beantrage, das Sitzungsprotokoll vom 23.09.2014 und die entsprechen-den späteren anderslautenden Entscheidungen des LSG NRW als Beweis hinzuzuziehen u.a. die Sitzungsprotokolle zu denselben Aktenzeichen, wie zu den Urteilen unter 2. genannt.
144. Beantrage ich einen Schadensersatz gem. § 823 BGB und 839 BGB sowie auch einen immateriellen Schaden nach § 253 BGB. Außerdem fordere ich Schmerzensgeld (§ 847 BGB).
155. Ich beantrage, die verfassungswidrigen Diskriminierungen bei der Ernährung bzw. Diskriminierung von Männern/jungen Menschen gegenüber Frau-en/älteren Menschen bei der Ernährung durch die nichtbedarfsgerechte/nicht transparente Grundsicherung SGB II Regelleistung zu unterlassen. Ich ma-che begründet höhere Leistungen geltend.
166. Ich beantrage, die fehlende Transparenz insbesondere der Referenzgruppe der Einkommens- und Verbraucherstichprobe und die Streichungen von Ta-bak und Alkohol zu unterlassen.
177. Ich beantrage es zu unterlassen, an dem verfassungswidrigen Handeln, ver-fassungswidrigen Diskriminierungen festzuhalten.
188a. Ich beantrage, dass das Handeln (die Bescheidungen) der Beklagten und das Handeln Deutschlands in Übereinstimmung mit den Zielen und Grunds-ätzen der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte stehen, weil Deutsch-land sich in der Schlussakte der KSZE unter VII dazu verpflichtet hat, dass sein Handeln in Übereinstimmung mit den Zielen und Grundsätzen der all-gemeinen Erklärung der Menschenrechte steht.
198b. Ich beantrage es zu unterlassen, dass das Handeln Deutschlands nicht in Übereinstimmung mit den Zielen und Grundsätzen der allgemeinen Erklä-rung der Menschenrechte steht.
209. Ich beantrage, die Unterscheidung ALG und ALG II bzw. die Diskriminierung der sogenannten Langzeitarbeitslosen zu unterlassen. Ich beantrage, alle Ar-beitslosen gleich zu behandeln, abzusichern und die widerrechtlichen Sank-tionsandrohungen und Sanktionen zu unterlassen.
219a. Ich beantrage eine Erstattung meiner Rechtsmittelkosten. Ich beantrage Kos-tenfestsetzung und mache Schadensersatzansprüche geltend.
2210. Ich beantrage die Verfahren gem. § 100 Abs. 2 Grundgesetz auszusetzen und an das zuständige Bundesverfassungsgericht zu verweisen, weil es um Völkerrecht/Schlussakte der KSZE geht, weil sich Deutschland in der Schlussakte der KSZE unter VII dazu verpflichtet hat, dass sein Handeln mit den Zielen und Grundsätzen der allgemeinen Erklärung der Menschen-rechte im Einklang steht und Deutschland/Jobcenter dieser Verpflichtung aus der Schlussakte der KSZE unter VII zuwider handelt.
2311. Ich beantrage, meine gesamten schriftlichen Einreichungen/Anträge zu be-rücksichtigen.
24Der Beklagte beantragt,
25die Klage abzuweisen.
26Er ist bei seiner im Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren vertretenen Auffassung verblieben und verweist auf die Ausführungen in den vorangegangenen Verfahren so-wie im angefochtenen Widerspruchsbescheid.
27Der Kläger hat eine Übersicht über die Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr einge-reicht. Hinsichtlich des Betriebes des Elektroradiators zum Beheizen der Wohnung hat der Kläger eine Aufstellung zu den Akten gereicht, wann und wie lange er im Zeitraum ab Januar 2015 den Radiator benutzt hat. Zudem hat er Erklärungen seiner Mutter und seiner Brü¬der eingereicht, ausweislich derer der Kläger auch mit dem Elektroradiator ge-heizt habe.
28Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes, sowie des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten Be-zug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
29Entscheidungsgründe:
30Die form- und fristgerecht erhobene, insgesamt zulässige Klage ist nicht begründet.
31Der Bescheid vom 23.05.2014 in der Gestalt der Änderungsbescheide vom 04.08.2014 und 17.06.2015 und des Widerspruchsbescheides vom 21.05.2015 ist rechtmäßig. Der Kläger wird durch diesen Bescheid nicht in seinen Rechten verletzt, § 54 Abs. 2 Sozial-gerichtsgesetz (SGG).
32Die Höhe der von dem Beklagten übernommenen Kosten für die Unterkunft und Hei-zung im hier streitgegenständlichen Zeitraum 01.07.2014 bis 31.12.2014 sind nicht zu beanstanden.
33Die Wohnung des Klägers ist mit einer Gasetagenheizung ausgestattet. Die Abschläge für die Gasversorgung werden in voller Höhe übernommen. Für den Betriebsstrom der Gasheizung wird zusätzlich ein Anteil von 5% der Heizkosten übernommen. Dies entspricht der obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 14.09.2016, Az.: L 31 AS 300/15; LSG Nordrhein-Westfalen, Ur-teil vom 19.02.2013, Az.: L 2 AS 2081/12; Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 10.06.2016, Az.: L 11 AS 1788/15 m.w.N. Auch das Bundessozialgericht ver-weist darauf, dass die Kosten für den Betriebsstrom mangels eigenen Zählers einer Schätzung zugänglich sind, und dass ein Anteil von 4 – 10% der Brennstoffkosten eine mögliche Rechenweise für die Schätzung darstellt: BSG, Urteil vom 03.12.2015, Az.: B 4 AS 47/14 R).
34Die Übernahme der Kosten für den Elektroradiator kommt daneben nicht in Betracht. Zum einen ist die Wohnung mit einer Gasetagenheizung ausgestattet. Wenn diese nicht ausreicht, um die Wohnung komplett zu beheizen, muss sich der Kläger an seinen Ver-mieter wenden. Auch das Fehlen eines Heizkörpers im Flur und in der Küche führt nicht zu einem Anspruch auf Kostenübernahme durch den Beklagten. Aus der Tatsache, dass das Landessozialgericht in einem der Sitzungsprotokolle der früheren Verfahren festge-halten hat, dass ein Anspruch darauf bestehe, die gesamte Wohnung zu beheizen, ergibt sich insoweit nichts anderes. Aus den von dem Kläger eingereichten Protokollen über den Betrieb des Elektroradiators in anderen Streitzeiträumen (hier: ab 2015, im Pa-rallelverfahren S 46 AS 4050/14 auch für den früheren Zeitraum Januar bis März 2014) ergibt sich, dass er den Radiator ausschließlich abends und nachts verwendet hat. Im Verhandlungstermin hat der Kläger zudem angegeben, dass er den Elektroradiator nicht nur in der Küche und im Flur, sondern auch in seinem Arbeitszimmer (das auch als Kin-derzimmer bezeichnet worden ist), im Wohnzimmer und im Schlafzimmer benutzt hat. Die Notwendigkeit des Heizens mit dem Elektroradiator ist zur Überzeugung der Kammer nicht gegeben. Denn in der Küche und insbesondere im Flur, in dem man sich nicht dauerhaft aufhält, erschließt sich die Notwendigkeit des Heizens in der Nacht nicht. In den anderen Räumen sind Heizkörper vorhanden, die mit der Gasetagenheizung beheizt werden können. Die insoweit entstehenden Kosten werden von dem Beklagten über-nommen. Zum anderen sind die Kosten für den Betrieb des Elektroradiators nicht nachgewiesen. Zwar hat der Kläger Erklärungen von Familienangehörigen eingereicht, dass er den Ra-diator benutzt habe, aber dies stellt keinen geeigneten Nachweis über die genaue Be-triebsdauer und insbesondere nicht über die dadurch entstandenen Kosten dar. Die blo-ße Behauptung, dass der Elektroradiator einen Betrag X verbrauche und dass deshalb ein Verbrauch von 270 kw/h im hier streitigen Zeitraum gegeben sei, ist zur Überzeugung der Kammer nicht ausreichend, um den tatsächlichen Verbrauch zu belegen.
35Die weiteren Anträge des Klägers zu Nr. 2. bis 11. haben ebenfalls keinen Erfolg. Die Urteile und Sitzungsprotokolle des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen liegen vor, für eine weitergehende Beiziehung der in den Anträgen Nr. 2. und 3. genannten und bereits vorliegenden Urteile und Protokolle fehlt das Rechtsschutzbedürfnis.
36Für eine Schadenersatzforderung und Schmerzensgeld (Antrag Nr. 4) besteht keine Zu-ständigkeit des Sozialgerichts. Der Sozialrechtsweg gemäß § 51 SGG ist nicht eröffnet. Die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit entscheiden gemäß § 51 Abs. 1 SGG nur über öf-fentlich-rechtliche Streitigkeiten in den unter Nr. 1 – 10 genannten Fällen und gemäß § 51 Abs. 2 SGG über privatrechtliche Streitigkeiten in Angelegenheiten der gesetzlichen Krankenversicherung sowie der sozialen und privaten Pflegeversicherung. Eine Scha-denersatzklage kann daher vor dem Sozialgericht keinen Erfolg haben.
37Die Anträge Nr. 5. bis 9. sind unzulässig, soweit sie auf die allgemeine Verfassungswid-rigkeit oder auf allgemeine Ansprüche anderer Menschen abstellen. Eine konkrete eige-ne Beschwer des Klägers im Sinne des § 54 Abs. 1 Satz 2 SGG ist insoweit nicht ersicht-lich. Soweit der Kläger die Verfassungsmäßigkeit des Regelsatzes (§ 20 SGB II) in Frage stellt und höhere Leistungen begehrt, da er als junger Mann einen höheren Bedarf habe als ältere Menschen oder Frauen, ist die Klage unbegründet. Das Gericht hat an der Verfassungsmäßigkeit der Höhe des Regelbedarfes keine Zweifel (vgl. u.a. LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16.07.2014, Az.: L 2 AS 1866/13, sowie BSG, Urteil vom 28.03.2013, Az.: B 4 AS 12/12 R).
38Der Antrag Nr. 9a ist weder zulässig, noch begründet. Rechtsmittelkosten werden nach § 63 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) übernommen, soweit ein Widerspruch er-folgreich ist. In Klageverfahren werden Kosten nach § 193 SGG erstattet. Die Kostener-stattung erfolgt hierbei konkret für das jeweilige Verfahren. Im vorliegenden Verfahren waren Widerspruch und Klage nicht erfolgreich, so dass eine Kostenerstattung insoweit nicht in Betracht kommt. Eine allgemeine, über § 63 SGB X und § 193 SGG hinausge-hende Erstattung von Rechtsmittelkosten sieht das Gesetz nicht vor.
39Dem Antrag Nr. 10 war ebenfalls nicht zu folgen. Gemäß Art. 100 Abs. 2 Grundgesetz hat das Gericht die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes einzuholen, wenn in ei-nem Rechtsstreit zweifelhaft ist, ob eine Regel des Völkerrechtes Bestandteil des Bun-desrechtes ist und ob sie unmittelbar Rechte und Pflichten für den Einzelnen erzeugt. Dies ist vorliegend nicht der Fall. Das Gericht hat keine Zweifel daran, dass dem Kläger weitere Ansprüche auf Grund völkerrechtliche Bestimmungen nicht zustehen.
40Antrag Nr. 11 ist gegenstandslos, da alle Anträge des Klägers berücksichtigt worden sind. Sämtliche Schriftsätze und Anträge waren ohnehin Gegenstand des Verfahrens, so dass ein Rechtsschutzbedürfnis für diesen Antrag nicht gegeben ist.
41Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Der Antragsteller/Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 5.000 Euro festgesetzt.
1G r ü n d e
2I.
3Der Antragsteller/Die Antragstellerin begehrt im Verfahren der einstweiligen Anordnung die vorläufige Zulassung zum Studium der Psychologie (Bachelor) an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU Münster) als Studienanfänger/in nach den tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen des Wintersemesters (WS) 2019/2020 außerhalb, gegebenenfalls hilfsweise innerhalb, der normativ festgesetzten Aufnahmekapazität bzw. die Teilnahme an einem Losverfahren zur Verteilung entsprechend vorhandener Studienplätze.
4Das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen (MKW) hat durch die Verordnung über die Festsetzung von Zulassungszahlen und die Vergabe von Studienplätzen im ersten Fachsemester für das Wintersemester 2019/2020 vom 26. Juni 2019 (GV. NRW. 2019, 281, 285; ZZahlenVO) die Zahl der von der WWU Münster zum WS 2019/2020 für den Bachelorstudiengang Psychologie aufzunehmenden Studienanfänger/innen auf 141 festgesetzt. Diese Zahl ist in der Folgezeit unverändert geblieben (Änderungsverordnung vom 15. November 2019, GV. NRW. 2019, 860, 864).
5Nach Mitteilung der Antragsgegnerin sind im 1. Fachsemester des Bachelorstudiengangs Psychologie zum WS 2019/2020 tatsächlich 146 (Stand: Vorlesungsbeginn am 7. Oktober 2019, vgl. Schriftsatz der Antragsgegnerin vom 21. Oktober 2019 im Verfahren 9 L 796/19) Studienanfänger/innen eingeschrieben.
6Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der von der Antragsgegnerin auf Anforderung des Gerichts zum Leitverfahren 9 L 796/19 vorgelegten Kapazitätsunterlagen und der hierauf bezogenen Erläuterungen verwiesen.
7II.
8Der auf den Erlass einer einstweiligen Anordnung gerichtete Antrag des Antragstellers/der Antragstellerin hat jedenfalls mangels glaubhaft gemachten Anordnungsanspruchs keinen Erfolg.
9Der Antragsteller/Die Antragstellerin hat nicht glaubhaft gemacht, dass der Antragsgegnerin im Bachelorstudiengang Psychologie zum WS 2019/2020 über die Zahl der tatsächlich vergebenen 146 Studienanfängerplätze hinaus (zumindest) ein freier Studienplatz für Studienanfänger/innen zur Verfügung steht, der – gegebenenfalls nach Maßgabe eines gerichtlich anzuordnenden Losverfahrens – unter seiner/ihrer Beteiligung vergeben werden könnte, § 123 Abs. 3 VwGO, §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 ZPO.
10Rechtsgrundlage der Kapazitätsermittlung für das Studienjahr 2019/2020 und damit für das WS 2019/2020 ist für Studiengänge, deren Plätze – wie hier – nicht in einem zentralen Vergabeverfahren vergeben werden, die Verordnung zur Ermittlung der Aufnahmekapazität an Hochschulen in Nordrhein-Westfalen für Studiengänge außerhalb des zentralen Vergabeverfahrens (Kapazitätsverordnung Nordrhein-Westfalen 2017 – KapVO NRW 2017) vom 8. Mai 2017 (GV. NRW. 2017, 591).
11Der Festsetzung der Zulassungszahl liegt nach den auf der Ermächtigung des § 6 Hochschulzulassungsgesetz beruhenden Bestimmungen der KapVO NRW 2017 die jährliche Aufnahmekapazität (§ 3 KapVO NRW 2017) zugrunde, die auf die einzelnen Vergabetermine (Wintersemester bzw. Sommersemester) aufgeteilt wird, soweit nicht – wie vorliegend – ein Jahresbetrieb mit Zulassungen von Studienanfängern/innen nur zum Wintersemester bestimmt ist. Die jährliche Aufnahmekapazität eines einer Lehreinheit (§ 4 KapVO NRW 2017) zugeordneten Studiengangs ergibt sich nach § 3 KapVO NRW 2017 aus dem nach § 5 KapVO NRW 2017 festgestellten bereinigten Lehrangebot je Jahr, dividiert durch den gewichteten Curriculareigenanteil (§ 6 KapVO NRW 2017) aller der Lehreinheit zugeordneten Studiengänge und multipliziert mit der jeweiligen Anteilquote des Studienganges (§ 7 KapVO NRW 2017). Das Lehrangebot wird ermittelt durch Berechnung aufgrund der hier zum 1. März 2019 (§ 2 Abs. 1 KapVO NRW 2017) erhobenen und gegebenenfalls nach § 2 Abs. 2 und 3 KapVO NRW 2017 überprüften Daten. Die nach den vorstehend genannten Bestimmungen ermittelte Zulassungszahl kann nach § 8 KapVO NRW 2017 reduziert oder soll nach § 9 KapVO NRW 2017 erhöht werden.
121. Lehrangebot:
13Die Antragsgegnerin (Bericht vom 20. September 2019 an das Ministerium, dem dieses mit der in der ZZahlenVO bestimmten Aufnahmekapazität gefolgt ist) hat auf der Lehrangebotsseite zugrunde gelegt, dass der Lehreinheit Psychologie der WWU Münster zum letzten Berechnungsstichtag 15. September 2019 für das Studienjahr 2019/2020 insgesamt 53,00 Personalstellen zur Verfügung stehen. Diese Stellen des wissenschaftlichen Personals sind unter Einschluss der Klarstellung der Antragsgegnerin im Schriftsatz vom 21. Oktober 2019 folgenden Stellengruppen mit einem Regellehrdeputat (Regellehrverpflichtung in Semesterwochenstunden; Deputatstunden - DS -) zugeordnet worden:
14Stellengruppe
Deputat je Stelle
in DS
Anzahl der Stellen
(einschl. HP-Stellen* und HPMA-Stellen**)
= Stand 2018/2019
Summe DS
= Stand 2018/2019
W3 Universitätsprofessor
9
9 8
81 72
W2Universitätsprofessor
9
7 8
63 72
W 1
Juniorprofessor (1. Anstellungsphase)
4
2 2
8 8
A 15 - 13 Akad. Rat mit ständigen Lehraufgaben
9
4 4
36 36
A 15 - 13 Akad. Rat ohne ständige Lehraufgaben
5
1 1
5 5
A 14
Akademischer Oberrat auf Zeit
7
4 4
28 28
A 13
Akademischer Rat auf Zeit
4
11 11
44 44
TV-LWiss. Angestellter
(befristet)
4
5,50 5,50
22 22
TV-LWiss. Angestellter
(unbefristet)
8
5 5
40 40
TV-L
Lehrkraft für besondere Aufgaben
12
4,5 4,45
(davon 1,34 HP-Stellen* + 3,16 HPMA-Stellen**)
54 53,40
Summe
53 52,95
381 380,40
Zusätzliches Lehrangebot aufgrund dienstrechtlicher Lehrverpflichtung
18 17,80
Summe in DS
399 398,20
15 (* = Stellen auf der Grundlage des sog. Hochschulpaktes III)
16 (** = Stellen auf der Grundlage des sog. Masterprogramms 2014 - 2020)
17Die Kammer geht auf der Grundlage der von Amts wegen vorgenommenen Prüfung der vorgelegten Kapazitätsunterlagen und der hierauf bezogenen Erläuterungen der Antragsgegnerin davon aus, dass mit der Zahl von 53 Stellen und des zusätzlichen Lehrangebots von 18 DS – dazu siehe unten – das der Lehreinheit Psychologie der WWU Münster für das Studienjahr 2019/2020 kapazitätsbeachtlich zur Verfügung stehende Lehrpersonal und das daraus resultierende – zunächst unbereinigte – Lehrdeputat beanstandungsfrei erfasst sind.
18Dass eine darüber hinausgehende Erhöhung der Personalstellenzahl oder des den Personalstellen zugeordneten Lehrdeputats in der Lehreinheit Psychologie in Betracht kommt, kann nach dem Abgleich mit der vorgelegten Stellenplan- und Besetzungsübersicht nicht festgestellt werden.
19Nicht kapazitätserhöhend zu berücksichtigen ist dasjenige wissenschaftliche Personal, welches aus Mitteln des Gesetzes zur Verbesserung der Qualität in Lehre und Studium an nordrhein-westfälischen Hochschulen (Studiumsqualitätsgesetz) finanziert wird,
20vgl. nur OVG NRW, Beschluss vom 13. Oktober 2018 – 13 C 50/18 –, juris Rn. 16 f. m. w. N.,
21wobei hier schon keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass solche Personen Pflichtlehre in der Lehreinheit Psychologie erbracht haben.
22Mit Blick auf die Stellen der Universitätsprofessorinnen und Universitätsprofessoren der Stellengruppen W2 und W3 hat die Antragsgegnerin zu Recht – im Einklang mit § 3 Abs. 1 Nr. 1 LVV – jeweils 9 DS zugrunde gelegt. Eine Erhöhung des Deputats nach § 3 Abs. 1 Nr. 3 LVV auf jeweils 18 DS kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil der Studiengang Psychologie an Universitäten nicht dem auch an Fachhochschulen angebotenen Bachelorstudiengang Psychologie entspricht. Ein „Entsprechen“ im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 3 LVV folgt nicht allein aus derselben Bezeichnung eines Studiengangs. Angesichts der grundsätzlich bestehenden Unterschiede zwischen universitären Studiengängen und solchen, die von Fachhochschulen angeboten werden, ist im Gegenteil davon auszugehen sein, dass die Vorschrift des § 3 Abs. 1 Nr. 3 LVV im Regelfall keine Anwendung findet.
23Vgl. VG Köln, Beschlüsse vom 26. Februar 2019 – 6 Nc 93/18 –, juris Rn. 19 und vom 21. Februar 2019 – 6 L 2094/18 –, juris Rn. 27.
24Es ist zudem nicht ersichtlich, dass einer Professorin oder einem Professor der Lehreinheit in der Vergangenheit im Sinne des § 3 Abs. 2 LVV Lehrveranstaltungen im Umfang von 13 Veranstaltungsstunden übertragen waren. Die insoweit von einzelnen Antragstellern/Antragstellerinnen geäußerte Vermutung ist nicht substanziiert.
25Die beiden Stellen als Juniorprofessorin/ -professor sind jeweils der ersten Anstellungsphase zugeordnet, so dass auf sie jeweils ein Deputat von 4 DS entfällt. Es besteht kein Anlass, die von der Antragsgegnerin gemachten Angaben insoweit zu bezweifeln. Die Antragsgegnerin hat mit Schriftsatz vom 21. Oktober 2019 ferner ausdrücklich die Frage verneint, ob in der Lehreinheit als befristet eingestufte Wissenschaftliche Angestellte tätig sind, deren Befristung zum Berechnungsstichtag durch eine rechtskräftige arbeitsgerichtliche Entscheidung oder aufgrund übereinstimmender Abrede der Vertragsparteien in Wegfall geraten ist. Allein dies wäre – bejahendenfalls – nach der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen im Kapazitätsrechtsstreit relevant. Zudem ist im Ergebnis auch für die 4,5 Stellen der Stellengruppe „Lehrkräfte für besondere Aufgaben TV-L“ ein Deputat i. H. v. 16 DS, der Obergrenze der Bandbreite der Lehrverpflichtung gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 16, Abs. 4 Satz 4 LVV, angesetzt worden, indem das Lehrangebot in der Zeile „Zusätzliches Lehrangebot aufgrund dienstrechtlicher Lehrverpflichtung“ um (4,5 x 4 =) 18 DS erhöht worden ist.
26Das (unbereinigte) Lehrdeputat von 399 DS ist wie in den Vorjahren,
27vgl. etwa VG Münster, Beschluss vom 7. Dezember 2018 – 9 L 1076/18 –, juris Rn. 16 ff.; bestätigt durch OVG NRW, Beschluss vom 26. August 2019 – 13 B 25/19 –, juris Rn. 2 ff.,
28um 3 DS beanstandungsfrei wegen der von einer Lehrkraft des Instituts für Psychologie (Prof. Dr. Buhlmann) wahrgenommenen Leitungsfunktion in der Psychotherapie-Ambulanz
29vgl. zur Psychotherapieambulanz, einer Einrichtung am Fachbereich Psychologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, sowie zur dortigen wissenschaftlichen Leitungsfunktion von Prof. Dr. Buhlmann etwa die Angaben im Internet unter https://www.uni-muenster.de/Psychologie.pta/index.html und unter https://www.uni-muenster.de/Psychologie.pta/personen/index.html (jeweils Abruf vom 6. Dezember 2019),
30reduziert worden. Die Ermäßigung des Lehrdeputats beruht auf § 5 Abs. 2 LVV, wonach für die Wahrnehmung anderer Dienstaufgaben oder damit im Zusammenhang stehender Funktionen sowie zur Wahrnehmung von wissenschaftlichen oder wissenschaftsbezogenen Aufgaben im öffentlichen Interesse außerhalb der Hochschule unter Berücksichtigung des Lehrbedarfs im jeweiligen Fach Ermäßigungen der Lehrverpflichtung gewährt werden können. Anders als einzelne Antragsteller/Antragstellerinnen meinen, bestehen vor diesem rechtlichen Hintergrund gegen den Ansatz einer Ermäßigung in Höhe von 3 DS keine Bedenken, so dass insoweit auch kein Anlass zu weiterer Sachverhaltsaufklärung (insbesondere nicht in verfahrensrechtlicher Hinsicht) besteht.
31Für Herrn Prof. Dr. Hertel wurde zudem wegen seiner Funktion als Dekan des Fachbereichs Psychologie und Sportwissenschaft (FB07) in Einklang mit § 5 Abs. 1 Satz 3 LVV die Lehrverpflichtung um (75% von 9 DS =) 6,75 DS ermäßigt.
32Ferner hat die Antragsgegnerin 65 DS wegen des „Lehrangebots Bildungswissenschaften“ in Abzug gebracht. Dem liegt zu Grunde, dass – wie dem Gericht aus den vorausgegangenen Berechnungszeiträumen bekannt ist – unter anderem die Lehreinheit Psychologie der (virtuellen) Lehreinheit Bildungswissenschaften Lehrleistung zur Verfügung stellt, die hier durch das „Institut für Psychologie in Bildung und Erziehung“, das seine Lehrleistung vollständig in die Lehreinheit Bildungswissenschaften einbringt, erbracht wird. Die Kammer hat in der Vergangenheit diese Reduzierung des Lehrangebots, das im Ergebnis über die Lehreinheit Bildungswissenschaften den Lehramtsstudiengängen zugutekommt und das der Höhe nach unverändert geblieben ist, gebilligt.
33Vgl. zuletzt VG Münster, Beschluss vom 7. Dezember 2018 – 9 L 1076/18 –, juris Rn. 21 ff.; bestätigt durch OVG NRW, Beschluss vom 26. August 2019 – 13 B 25/19 –, juris Rn. 5 ff.
34Daran hält die Kammer fest.
35Für die Berechnung des Lehrdeputats der Lehreinheit Psychologie ist insbesondere auch unerheblich, ob einzelne Studienplätze in den Lehramtsstudiengängen "Master of Education" im WS 2019/2020 womöglich unbesetzt geblieben sind. Dies führte nicht dazu, dass eine etwaige in den Bildungswissenschaften ungenutzte Ausbildungskapazität der Lehreinheit Psychologie im Wege einer horizontalen Substitution zuzurechnen wäre.
36Vgl. im Einzelnen OVG NRW, Beschluss vom 26. August 2019 – 13 B 25/19 –, juris Rn. 5 ff.
37Unter Ansatz der drei oben angeführten Abzüge vermindert sich das unbereinigte Lehrdeputat i. H. v. 399 DS auf (399 DS - 3 DS - 6,75 DS - 65 DS =) 324,25 DS.
38Eine Erhöhung des Lehrangebots gemäß § 5 Abs. 3 KapVO NRW 2017 aufgrund zu berücksichtigender Lehrauftragsstunden scheidet aus, weil im maßgeblichen Zeitraum (Sommersemester 2018 und Wintersemester 2018/2019) keine Lehraufträge vergeben worden waren.
39Das Lehrangebot ist weiterhin gemäß § 5 Abs. 4 KapVO NRW 2017 um die Dienstleistungen zu vermindern, welche die Lehreinheit Psychologie für die ihr nicht zugeordneten Bachelor- und Masterstudiengänge Erziehungswissenschaft, für den Bachelorstudiengang „Human Movement in Sports and Exercise“ sowie für die Bachelor- und Masterstudiengänge Mathematik erbringt. Bedenken gegen den Ansatz der maßgeblichen Einsatzwerte der der Lehreinheit Psychologie nicht zugeordneten Studiengänge bestehen nach summarischer Prüfung unter Einschluss der Ausweisungen in der sogenannten Dienstleistungsverflechtungsmatrix nicht. Insbesondere handelt es sich bei den Zahlen der Studienanfänger der nicht zugeordneten Studiengänge – wobei in zulassungsbeschränkten Studiengängen die jeweiligen Zulassungszahlen zugrunde gelegt werden, vgl. § 5 Abs. 4 Satz 3 KapVO NRW 2017 – für die Bachelor- und Masterstudiengänge Erziehungswissenschaft, für den Bachelorstudiengang „Human Movement in Sports and Exercise“ sowie für den Bachelorstudiengang Mathematik ersichtlich um solche vor dem Schwundansatz. Hinsichtlich des Masterstudiengangs Mathematik ist zu berücksichtigen, dass die Zulassungszahl im ersten Fachsemester für das Wintersemester 2019/2020 mit der Änderungsverordnung vom 15. November 2019 (GV. NRW. 2019, 860, 867) mittlerweile auf 69 (vorher: 68) festgesetzt wurde. Selbst wenn in die Kapazitätsermittlung insoweit ein Wert nach dem Schwundansatz eingestellt worden sein sollte, würde sich dies angesichts eines Curricularanteils dieses nicht zugeordneten Studiengangs von 0,01 rechnerisch nicht auswirken. Danach führen die auf die nicht zugeordneten Studiengänge entfallenden Dienstleistungsexporte zu einem Abzug von (0,73 DS + 0,41 DS + 0,24 DS + 0,89 DS + 0,43 DS =) 2,7 DS {Vorjahr: 3,41 DS}.
40Es errechnet sich damit ein bereinigtes Lehrangebot der Lehreinheit je Semester (Sb) in Höhe von (324,25 DS - 2,7 DS =) 321,55 DS, woraus wiederum ein bereinigtes Lehrangebot der Lehreinheit für das Studienjahr 2019/2020 von 643,1 DS folgt {Vorjahr: 655,46 DS}.
412. Lehrnachfrage und Aufnahmekapazität
42Diesem bereinigten jährlichen Lehrangebot stellt das Gericht im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes mit der Antragsgegnerin (Berechnung vom 15. September 2019) auf der Lehrnachfrageseite einen aus einem Curricularwert (CW) von 3,21 abgeleiteten Curriculareigenanteil i. H. v. 3,18 gegenüber, der von der Lehreinheit Psychologie für den Bachelorstudiengang Psychologie erbracht wird (ein Curricularfremdanteil von jeweils 0,01 entfällt auf die Lehreinheiten Pädagogik, Rechtswissenschaften und Kommunikationswissenschaften). Die den Kapazitätsunterlagen von der Antragsgegnerin beigefügte – offensichtlich aktualisierte – Berechnung des Curricularwertes des Bachelorstudienganges vom 28. Juli 2014 kommt zu einem Wert von 3,2083, gerundet 3,21, und zu einem Eigenanteil von 3,1750, gerundet 3,18. Der Curricularwert, der nach § 6 Abs. 1 Satz 1 KapVO NRW 2017 den in Deputatstunden gemessenen Aufwand aller beteiligten Lehreinheiten, der für die ordnungsgemäße Ausbildung einer oder eines Studierenden in dem jeweiligen Studiengang erforderlich ist, bestimmt, hält sich innerhalb der in Anlage 1 zur KapVO NRW 2017 angeführten Bandbreite von 2,2 – 3,4 für den Bachelorstudiengang Psychologie. Für den ebenfalls der Lehreinheit Psychologie zugeordneten Masterstudiengang Psychologie hat die Antragsgegnerin einen Curricularwert von 1,70 ohne Curricularfremdanteile angesetzt, so dass dieser Wert zugleich den Curriculareigenanteil darstellt. Die den Kapazitätsunterlagen von der Antragsgegnerin beigefügte Berechnung des Curricularwertes des Masterstudiengangs vom 29. Juli 2019 kommt demgegenüber zu einem Wert von 1,9444. Im Hinblick auf die Bandbreitenregelung in der Anlage 1 zur KapVO NRW 2017, wonach eine CW-Bandbreite für den Masterstudiengang Psychologie von 1,10 bis 1,70 gilt, hat die Antragsgegnerin den errechneten CW auf 1,70 „gekappt“. Vor dem Hintergrund, dass sich danach die Curricularwerte sowohl des Bachelor- als auch des Masterstudiengangs Psychologie im Rahmen der in der Anlage 1 zur KapVO NRW 2017 bestimmten Bandbreiten halten,
43vgl. dazu, dass die nunmehr in § 6 KapVO NRW 2017 angesprochenen Curricularwertbandbreiten mit höherrangigem Recht vereinbar sein dürften, etwa OVG NRW, Beschluss vom 13. März 2012 – 13 B 26/12 –, juris Rn. 21 ff.,
44und verbindliche normative Vorgaben für die bei den einzelnen Lehrveranstaltungsarten anzusetzenden Anrechnungsfaktoren und Gruppengrößen nach gegenwärtiger Rechtslage nicht (mehr) existieren, dürfte gegen die von der Antragsgegnerin errechneten Curricularwerte für den Bachelor- und Masterstudiengang Psychologie bzw. gegen die im Rahmen der Berechnung verwendeten Einsatzwerte im vorliegenden vorläufigen Rechtsschutzverfahren nichts zu erinnern sein.
45Vgl. auch VG Münster, Beschluss vom 7. Dezember 2018 – 9 L 1076/18 –, juris Rn. 30 ff.
46Soweit einzelne Antragsteller/Antragstellerinnen einwenden, der Ansatz der Gruppengröße von 120 für die Vorlesungen könne nicht nachvollzogen werden, da die Vorlesungen nur einmal im Jahr angeboten würden und allen Studierenden im Umfang der gesamten Zulassungszahl zur Verfügung stünden, verfängt dies nicht. Insbesondere ist für die Bestimmung der Gruppengröße nicht zwingend die normativ festgelegte oder tatsächliche Zulassungszahl zugrunde zu legen.
47Vgl. OVG Bremen, Beschluss vom 16. März 2010 – 2 B 428/09 – juris Rn. 12; VG Minden, Beschluss vom 13. Dezember 2018 – 10 Nc 3/18 –, juris Rn. 102 f.
48Die Gruppengröße für Vorlesungen steht in einem Beziehungsgefüge zu den Gruppengrößen anderer Veranstaltungsarten, nämlich den Kleingruppenveranstaltungen wie Seminare, Übungen, Praktika usw., und zur Zahl der vorhandenen Lehrkräfte. Veränderungen in der Gruppengröße für Vorlesungen wirken sich unmittelbar auf die übrigen kapazitätsbestimmenden Gegebenheiten aus: Eine Anhebung der Gruppengröße für Vorlesungen führt nach dem System der Kapazitätsverordnung zwangsläufig zu einer Steigerung der Zulassungszahl. Letzteres bedingt ebenfalls zwangsläufig eine Steigerung der in den Kleingruppenveranstaltungen auszubildenden Studenten: Auf Grund normativer Vorgaben und didaktischer Gründe können die Gruppengrößen der Kleingruppenveranstaltungen jedoch nicht erhöht werden; die gleichwohl von der Hochschule entsprechend den normativen Mindestvoraussetzungen zwingend auszubildende erhöhte Zahl der Studenten kann nur durch Erhöhung der Zahl der jeweiligen Kleingruppen aufgefangen werden, was wiederum eine Erhöhung der Zahl der Lehrkräfte voraussetzt.
49OVG NRW, Beschluss vom 26. August 2013 – 13 C 98/13 –, juris Rn. 15.
50Eine Gruppengröße von 120 für Vorlesungen stellt in dem durch das Berechnungsmodell der Kapazitätsverordnung NRW 2017 vorgegebenen Beziehungsgefüge und dem Spannungsverhältnis zwischen dem vom Studienbewerber Beanspruchbaren und dem von der Antragsgegnerin mit dem ihr zur Verfügung stehenden Lehrpersonal Erbringbaren einen zwischen den beteiligten Interessen vermittelnden, akzeptablen Mittelwert dar.
51Die Antragsgegnerin hat zur Ermittlung der Studienanfängerplatzzahl für die beiden der Lehreinheit Psychologie zugeordneten Studiengänge Psychologie Bachelor und Master so genannte Anteilquoten, § 7 KapVO NRW 2017, errechnet. Für den Bachelorstudiengang hat sie eine vorjährige Bewerberzahl von Studienanfängerinnen/Studienanfängern in Höhe von 5.957 und für den Masterstudiengang eine Bewerberzahl von 6.600 angesetzt, die in der Summe 12.557 Studienbewerberinnen/ Studienbewerber ergeben. Die Antragsgegnerin hat hierzu erläuternd ausgeführt, dass die Anteilquoten aufgrund sachlicher Kriterien unter Berücksichtigung der jeweiligen Nachfrage in den Studiengängen sowie planerischer Gesichtspunkte im Einvernehmen mit dem MKW festgesetzt worden seien. Vor dem Hintergrund, dass ein im Inland an einer Universität oder gleichstehenden Hochschule bestandener Masterabschluss im Studiengang Psychologie, der das Fach Klinische Psychologie einschließt, eine Abschlussprüfung im Sinne von § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 lit. a) PsychThG ist, der die Ausbildung zum Psychologischen Psychotherapeuten eröffnet,
52vgl. BVerwG, Urteil vom 17. August 2017 – 3 C 12/16 –, juris,
53und unter den Studierenden der Psychologie eine hohe Nachfrage nach einer Ausbildung zum Psychologischen Psychotherapeuten besteht, unterliegt die Festsetzung der Anteilquoten keiner Beanstandung. Das erforderliche Einvernehmen des MKW ist bereits dadurch hergestellt worden, dass dieses auf der Grundlage der von der Antragsgegnerin in ihrem Kapazitätsbericht vorgeschlagenen Festsetzung der Anteilquoten die maßgebliche Zulassungszahlenverordnung erlassen hat.
54Vgl. insoweit auch VG Münster, Beschluss vom 5. Februar 2018 – 9 L 1676/17 –, juris Rn. 31 ff.
55Die genannten Bewerberzahlen in das Verhältnis zueinander gesetzt, folgt daraus für den Bachelorstudiengang Psychologie ein Anteil von 47,4 % {Vorjahr: 46,4 %}, für den Masterstudiengang Psychologie ein solcher in Höhe von 52,6 % {Vorjahr: 53,6 %}. Nach § 6 Abs. 3 KapVO NRW 2017 wird der gewichtete Curriculareigenanteil durch Multiplikation des Curriculareigenanteils mit der nach § 7 KapVO NRW 2017 gebildeten Anteilquote ermittelt. Unter Berücksichtigung eines Eigenanteils von 3,18 für den Bachelorstudiengang und 1,70 für den Masterstudiengang errechnet sich ein gewichteter Curriculareigenanteil von (3,18 x 0,474) + (1,70 x 0,526) = 1,50732 + 0,8942 ≈ 2,40 {Vorjahr: 2,39}.
56Ausgehend von dem bereinigten Jahreslehrangebot in Höhe von 643,1 DS und dividiert mit dem gewichteten Curriculareigenanteil ermittelt sich ein Studienplatzangebot der Lehreinheit in Höhe von (643,1 DS : 2,40 ≈) 267,96 Studienplätzen {Vorjahr: 274,25 Studienplätze}.
57Entsprechend der oben ermittelten Anteilquoten errechnen sich danach für den Bachelor-Studiengang (267,96 x 0,474 ≈) 127,01, mithin weiter gerundet 127 Studienanfängerplätze {Vorjahr: 127 Studienanfängerplätze}.
58Die ermittelte jährliche Aufnahmekapazität ist zu überprüfen. Sie soll nach § 9 KapVO NRW 2017 erhöht werden, wenn zu erwarten ist, dass wegen Aufgabe des Studiums oder Fachwechsels oder Hochschulwechsels die Zahl der Abgänge an Studierenden in höheren Fachsemestern erheblich größer ist als die Zahl der Zugänge (Schwundquote). Auf der Grundlage des nicht zu beanstandenden und auf der amtlichen Statistik beruhenden so genannten Hamburger Modells hat die Antragsgegnerin für den Bachelorstudiengang einen Schwundausgleichsfaktor von 0,90 {Vorjahr: 0,89} angesetzt, den sie im gerichtlichen Verfahren durch ein entsprechendes Tabellenwerk belegt hat.
59Im Wege des Schwundausgleichs führt dessen Anwendung zu einer Erhöhung auf (127 : 0,9 ≈) 141,1, mithin weiter gerundet 141 Studienanfängerplätzen im Bachelorstudiengang Psychologie für das Studienjahr 2019/2020 {Vorjahr: 143 Studienanfängerplätze}.
60Zur Rundung des Berechnungsergebnisses vor der Schwundberechnung vgl. OVG NRW, Beschluss vom 22. Juni 1992 – 13 C 104/92 –.
61Der hiernach ermittelten Zahl von 141 Studienplätzen im ersten Fachsemester im Bachelorstudiengang Psychologie stehen 146 kapazitätsdeckende Einschreibungen (Stand: Vorlesungsbeginn am 7. Oktober 2019) gegenüber. Anlass, an den entsprechenden dienstlich erklärten Angaben der Antragsgegnerin zu zweifeln, besteht nicht.
62Darauf, ob die Antragstellerin/ der Antragsteller den auf den Anordnungsgrund bzw. den Anordnungsanspruch im Übrigen bezogenen und mit der Eingangsverfügung mitgeteilten Anforderungen des Gerichts hinreichend Rechnung getragen hat, kommt es danach nicht an.
63Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
64Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2 GKG. Sie entspricht der ständigen Spruchpraxis des beschließenden Gerichts und des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen in Verfahren der vorliegenden Art.
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
Der Streitwert wird auf 10.000 Euro festgesetzt.
1Gründe:
2Der Antrag ist jedenfalls unbegründet.
3Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 47 Abs. 6 VwGO liegen nicht vor. Nach dieser Bestimmung kann das Normenkontrollgericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist.
4Das Erfordernis eines schweren Nachteils bindet die Aussetzung der Vollziehung einer Norm an erheblich strengere Voraussetzungen als sie sonst für den Erlass einstweiliger Anordnungen gemäß § 123 VwGO im verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz verlangt werden. Die Außervollzugsetzung eines Bebauungsplans zur Abwehr eines schweren Nachteils ist nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen gerechtfertigt, die durch Umstände gekennzeichnet sind, die den Erlass einer einstweiligen Anordnung gleichsam unabweisbar erscheinen lassen.
5Vgl. BVerwG, Beschluss vom 18. Mai 1998 – 4 VR 2.98 –, juris, Rn. 3; OVG NRW, Beschluss vom 9. November 2006 – 7 B 1667/06.NE –, juris, Rn. 5.
6Nach der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts stellt allein der Umstand, dass die Umsetzung des angegriffenen Bebauungsplans unmittelbar bevorsteht, noch keinen schweren Nachteil im Verständnis von § 47 Abs. 6 VwGO dar. Hinzukommen muss vielmehr, dass die Verwirklichung des Bebauungsplans in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht eine schwerwiegende Beeinträchtigung rechtlich geschützter Positionen des jeweiligen Antragstellers konkret erwarten lässt.
7Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 24. Oktober 2016 – 2 B 1368/15.NE –, juris, Rn. 7, vom 29. Februar 2016 – 10 B 134/16.NE –, juris, Rn. 5, vom 21. September 2005 – 10 B 9/05.NE –, juris, Rn. 8, und vom 9. November 2006 – 7 B 1667/06.NE –, juris, Rn. 11 ff.
8Aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten sein kann die Außervollzugsetzung eines Bebauungsplans, wenn sich dieser bei der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes regelmäßig gebotenen summarischen Prüfung als offensichtlich unwirksam erweist, und seine Umsetzung den Antragsteller konkret so beeinträchtigt, dass die einstweilige Anordnung jedenfalls deshalb dringend geboten ist.
9Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 24. Oktober 2016 – 2 B 1368/15.NE –, juris, Rn. 11, vom 29. Februar 2016 – 10 B 134/16.NE –, juris, Rn. 7, vom 27. April 2009 – 10 B 459/09.NE –, juris, Rn. 7, vom 25. Januar 2008 – 7 B 1743/07.NE –, juris, Rn. 8.
10Die begehrte einstweilige Anordnung ist hier weder zur Abwehr schwerer Nachteile noch aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten.
11Der Antragsteller befürchtet, dass von dem von der Beigeladenen geplanten Hochregallager mit Kommissionierungshalle, für deren Errichtung der angegriffene Bebauungsplan die planungsrechtliche Grundlage schaffen soll, eine erdrückende Wirkung zu Lasten des westlich des Plangebiets und der dort verlaufenden E.-straße gelegenen Grundstücks Gemarkung P., Flur 11, Flurstück 518, dessen Miteigentümer er ist, sowie des wiederum westlich hieran angrenzenden Grundstücks J.-straße 11 (Gemarkung P., Flur 11, Flurstücke 425, 489, 490 und 491) der I. Fenster- und Türenfabrik GmbH & Co. KG, deren Geschäftsführer er ist, ausgehen werde. Außerdem hält er die Beeinträchtigung der Besonnung der besagten Grundstücke durch das Hochregallager für unzumutbar und sieht sie erheblichen planbedingten Lärmimmissionen ausgesetzt.
12Einen schweren Nachteil in dem oben angesprochenen Sinne legt der Antragsteller damit nicht dar. Der Bebauungsplan setzt den wesentlichen Teil des Plangebiets als Industriegebiet fest. Die Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung ermöglichen im westlichen Teil des Plangebiets im Abstand von 5,50 m zur E.-straße die Errichtung eines Hochregallagers mit einer Länge von Norden nach Süden von etwa 90 m und einer Höhe von im Mittel 37 m über dem Straßenniveau. Im mittleren und östlichen Teil des Plangebiets ist die Errichtung einer an das Hochregallager anschließenden Kommissionierungshalle mit einer Höhe von im Mittel 13 m über Straßenniveau vorgesehen. Der mit dem Betrieb des Hochregallagers und der Kommissionierungshalle insbesondere verbundene Werksverkehr und die Verladetätigkeiten werden zum großen Teil in dem gegenüber den besagten Grundstücken von dem Hochregallager abgeschirmten Bereichen südlich und östlich sowie in einem Bereich nördlich der Kommissionierungshalle stattfinden. Ausweislich des Schalltechnischen Berichts der A. Ingenieurgesellschaft vom 16. September 2019 unterschreiten die von dem von der Beigeladenen im Plangebiet beabsichtigten Betrieb ausgehenden Geräuschimmissionen an dem IP 01, der das nächstgelegene Büro- und Verwaltungsgebäude auf dem Grundstück E.-straße 12 unmittelbar nördlich des Plangebiets repräsentiert, den maßgeblichen Immissionsrichtwert für Industriegebiete von 70 dB(A) tags um 10 dB(A).
13Ausgehend hiervon fehlt es an Anhaltspunkten für eine unzumutbare planbedingte Belastung zum Nachteil des ebenfalls in einem festgesetzten Industriegebiet liegenden, derzeit ohnehin nicht bebauten Flurstücks 518 sowie des gleichfalls als Industriegebiet festgesetzten, von der I. Fenster- und Türenfabrik GmbH & Co. KG genutzten, von dem geplanten Hochregallager circa 60 m entfernt liegenden Grundstücks J.-straße 11, die die Schwelle des schweren Nachteils nach dem Vorstehenden überschreiten könnte.
14Die Außervollzugsetzung des Bebauungsplans ist auch nicht deshalb angezeigt, weil dieser sich bei der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes regelmäßig vorzunehmenden summarischen Prüfung als offensichtlich unwirksam erweist und seine Umsetzung den Antragsteller konkret so beeinträchtigt, dass die einstweilige Anordnung jedenfalls deshalb dringend geboten ist. Nach den vorstehenden Ausführungen ist auch für eine konkrete Betroffenheit des Antragstellers unterhalb der Schwelle des schweren Nachteils, die eine einstweilige Anordnung gebieten könnte, weder Näheres vorgetragen noch ersichtlich.
15Die Abwägungsfehler, die der Antragsteller geltend macht, sind bei summarischer Prüfung jedenfalls nicht offensichtlich.
16Dies gilt zunächst mit Blick auf die von ihm befürchtete erdrückende Wirkung des mit dem Bebauungsplan zugelassenen Hochregallagers auf die besagten Grundstücke.
17Eine bauliche Anlage kann im Ausnahmefall eine erdrückende Wirkung auf ein benachbartes Grundstück haben, wenn sie dieses wegen ihrer Ausmaße, ihrer Baumasse oder ihrer massiven Gestaltung unangemessen benachteiligt, indem sie ihm förmlich „die Luft nimmt“, wenn für den Nachbarn das Gefühl des „Eingemauertseins“ entsteht oder wenn die „erdrückende“ Anlage auf Grund der Besonderheiten des Einzelfalls trotz Wahrung der erforderlichen Abstandsflächen derartig übermächtig ist, dass das „erdrückte“ Grundstück oder seine Bebauung nur noch oder überwiegend als von einer „herrschenden“ Anlage dominiert ohne eigene baurechtliche Charakteristik wahrgenommen wird.
18Vgl. zum Beispiel OVG NRW, Beschlüsse vom 30. August 2012 – 2 B 983/12 –, juris, Rn. 10, und vom 9. Februar 2009 – 10 B 1713/08 –, juris, Rn. 25, Urteil vom 15. März 2007 – 10 A 998/06 –, juris, Rn. 63.
19Ob eine solche Wirkung vorliegt oder nicht, kann nur unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls entschieden werden. Neben den Ausmaßen der „erdrückenden“ Anlage auch im Verhältnis zu einer möglichen Bebauung des „erdrückten“ Grundstücks – Bauhöhe, Ausdehnung und Gestaltung der Fassaden, Baumasse, usw. – kann die konkrete Lage der Baukörper eine wesentlich Rolle spielen. Von besonderer Bedeutung werden regelmäßig die Entfernung zwischen den Baukörpern beziehungsweise Grundstücksgrenzen, die Nutzung der Grundstücke und die jeweilige Umgebung sein. So kann es beispielsweise darauf ankommen, ob die „erdrückende“ Anlage für sich steht oder ob das „erdrückte“ Grundstück von anderen Anlagen vergleichbarer Dimension umgeben ist, die zu der erdrückenden Wirkung beitragen und diese verstärken können.
20Vgl. OVG NRW, Urteil vom 29. August 2005 – 10 A 3138/02 –, juris, Rn. 50.
21Gemessen an diesen Maßstäben ist nicht erkennbar, dass das durch die Festsetzungen des Bebauungsplans ermöglichte Hochregallager wegen seiner baulichen Dimensionen gegenüber den besagten Grundstücken oder deren gewerblichen Zwecken dienenden Bebauung rücksichtslos und dem Rat insoweit ein Abwägungsfehler unterlaufen sein könnte. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass die Grundstücke ebenso wie das geplante Hochregallager in einem festgesetzten Industriegebiet gelegen und deswegen gegenüber den von Nachbargebäuden wegen ihrer baulichen Dimensionen ausgehenden optischen Wirkungen deutlich weniger schutzwürdig sind als es etwa benachbarte Wohngrundstücke in einem Wohnumfeld wären, für die die vorstehend wiedergegebenen Maßstäbe in erster Linie entwickelt worden sind. Geht es um die optische Auswirkungen, die von Industriebauten wegen ihrer baulichen Dimensionen auf andere Grundstücke in einem Industriegebiet und die dort befindliche Bebauung ausgehen, kommt eine Rücksichtslosigkeit wegen erdrückender Wirkung – wenn überhaupt – nur in absoluten Extremfällen in Betracht.
22Für das Grundstück J.-straße 11 scheidet eine erdrückende Wirkung nach diesen Maßstäben schon wegen seiner Entfernung von circa 60 m zu dem geplanten Hochregallager aus. Mit Blick auf die Größe des Flurstücks 518 und die baulichen Dimensionen der Bebauung auf den nördlich, westlich und südlich gelegenen Grundstücken – soweit sich diese aus den zur Verfügung stehenden Luftbildern ersehen lässt – kann auch nicht davon gesprochen werden, dass das um 5,50 m von der E.-straße zurückversetzte Hochregallager diesem Industriegebietsgrundstück und seiner etwaigen zukünftigen Bebauung „die Luft nehmen“, es „einmauern“ oder unzumutbar optisch „beherrschen“ wird. Soweit der Bebauungsplan unter bestimmten Voraussetzungen und in geringem Ausmaß etwa für technische Aufbauten und Anlagen eine Überschreitung der festgesetzten Höhe der baulichen Anlagen zulässt, ändert sich an dieser Einschätzung nichts.
23Ein offensichtlicher Abwägungsfehler ist auch nicht mit Blick auf die von dem Antragsteller gerügte zu erwartende Verschattung der besagten Grundstücke gegeben.
24Allgemein gilt, dass es einem Nachbargrundstück regelmäßig zumutbar ist, dass ein Gebäude einen Schatten auf dieses wirft. Dies entspricht in bebauten Gebieten dem Regelfall. Das Gebot der Rücksichtnahme fordert nicht, dass alle Fenster eines Hauses beziehungsweise das gesamte Grundstück das ganze Jahr über optimal besonnt oder belichtet werden.
25Vgl. OVG NRW, Urteil vom 6. Juli 2012 – 2 D 27/11.NE –, juris, Rn. 63, Beschlüsse vom 29. August 2011 – 2 B 940/11 –, juris, Rn. 22, und vom 9. Februar 2009 – 10 B 1713/08 –, juris, Rn. 30, jeweils m. w. N.
26Dabei ist auch insoweit gewerblich genutzten Grundstücken und deren Bebauung in einem festgesetzten Industriegebiet ein deutlich größeres Ausmaß an Verschattung zuzumuten als etwa einem Wohngrundstück in einem Wohnumfeld.
27Der Rat hat die von dem Hochregallager und der Kommissionierungshalle ausgehende Verschattung der umliegenden Grundstücke ermittelt. Für eine unzumutbare Verschattung des Grundstücks J.-straße 11 ergeben sich schon angesichts der Entfernung des Grundstücks von dem Hochregallager und der Lage des Grundstücks westlich des Plangebiets keine Anhaltspunkte. Dass insbesondere in den Wintermonaten auch das Grundstück J.-straße 11 in den Morgenstunden im Schatten des Hochregallagers liegen kann, genügt hierfür nicht. Ein Anspruch darauf, dass bei einer weiteren baulichen Ausnutzung der Nachbargrundstücke etwa die in dem Betriebsgebäude der I. Fenster- und Türenfabrik GmbH & Co. KG befindlichen Ausstellungsräume nicht schlechter belichtet werden als derzeit, besteht nicht. Auch wenn das Flurstück 518 bei Errichtung des Hochregallagers zukünftig insbesondere in den Vormittagsstunden je nach Jahreszeit mehr oder weniger stark verschattet werden kann, ist insoweit ebenfalls keine Belastung zu erkennen, die für ein Grundstück in einem Industriegebiet unzumutbar sein könnte. Dass die Belichtung der zur Produktion oder als Büros genutzten Räume in einem künftigen Betriebsgebäude wegen des von dem Hochregallager verursachten Schattens mehr künstliches Licht erfordern würde, macht das Hochregallager nicht unzumutbar.
28Soweit der Antragsteller befürchtet, dass von dem Hochregallager und der Kommissionierungshalle erhebliche Lärmimmissionen auf die besagten Grundstücke ausgehen werden, zeigt er nicht auf, dass eine Umsetzung des Bebauungsplans insoweit zu einer offensichtlichen konkreten Beeinträchtigung führen würde, die eine einstweilige Anordnung jedenfalls deshalb dringend geboten erscheinen ließe.
29Wie bereits vorstehend ausgeführt unterschreiten die prognostizierten planbedingten Geräuschimmissionen an dem IP 01 den für den Tagbetrieb maßgeblichen Immissionsrichtwert für Industriegebiete um 10 dB(A). Der Antragsteller räumt selbst ein, dass die von dem Betrieb der neu zugelassenen Anlagen ausgehenden, auf das Flurstück 518 und das Grundstück J.-straße 11 einwirkenden Geräuschimmissionen wegen der abschirmenden Wirkung des Hochregallagers „von untergeordneter Bedeutung“ sind. Soweit er bezweifelt, dass die der schalltechnischen Untersuchung zugrunde gelegte Zahl der täglich zu erwartenden Lkw-Fahrten realistisch sei, ist angesichts ihrer Ergebnisse nicht davon auszugehen, dass bei einer nach Auffassung des Antragstellers realistischen Zahl von Lkw-Fahrten die Geräuscheinwirkungen auf die besagten Grundstücke die Schwelle einer konkreten Beeinträchtigung überschreiten würden. Dies gilt auch mit Blick auf die möglicherweise unterbliebene Berücksichtigung der von der bereits vorhandenen Lkw-Waage an der E.-straße ausgehenden Lärmbelastung.
30Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO.
31Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG.
32Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
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Tenor
Der Antrag wird als unzulässig verworfen.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 5.000,00 Euro festgesetzt.
1G r ü n d e
2Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unzulässig.
31. Dem Kläger fehlt das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis an der mit dem Rechtsmittel weiter verfolgten Aufhebung der angefochtenen dienstlichen Beurteilung vom 19. Juli 2017, nachdem er mit rechtskräftiger Entlassungsverfügung vom 30. Januar 2015 aus dem Dienst entlassen worden ist.
4Vgl. Dienstgericht Düsseldorf, Urteil vom 23. August 2016 – DG 3/15 –, n. v.; DGH für Richter beim OLG Hamm, Urteil vom 26. Februar 2018 – 1 DGH 9/16 –, juris; BGH, Urteil vom 27. Februar 2019 – RiZ (R) 2/18 –, juris, sowie der die Anhörungsrüge des Klägers ablehnende Beschluss vom 2. Mai 2019 – RiZ (R) 2/18 –, n. v.
5Für eine Klage gegen eine dienstliche Beurteilung besteht dann kein Rechtsschutzinteresse mehr, wenn die Beurteilung infolge bestands- oder rechtskräftiger Entlassung ihre rechtliche Zweckbestimmung verliert.
6Vgl. BVerwG, Urteile vom 13. Juni 1985 – 2 C 6.83 –, ZBR 1985, 347 = juris, Rn. 16, vom 11. Februar 1982 – 2 C 33.79 –, DÖD 1982, 236 = juris, Rn. 19 f., und vom 17. Dezember 1981 – 2 C 69.81 –, ZBR 1982, 350 = juris, Rn. 22.
7Der Kläger hat auch mit seinem Vorbringen im Berufungszulassungsverfahren nicht darzulegen vermocht, dass aufgrund der besonderen Umstände des vorliegenden Einzelfalls vorliegend etwas anderes gelten würde.
8Allerdings kann einer dienstlichen Beurteilung über ihre allgemeine Zweckbestimmung, Auswahlgrundlage für künftige Personalentscheidungen in der Beamten- oder Richterlaufbahn zu sein, der der Beurteilte angehört, hinausgehende Relevanz zukommen, wenn der Betroffene – wie es hier der Kläger unter Vorlage verschiedener Bewerbungsnachweise angibt – beabsichtigt, sich für ein anderes Amt im Staatsdienst zu bewerben. Ein (früherer) Beamter oder Richter kann auch nach Beendigung des Beamten- oder Richterverhältnisses ein berechtigtes Interesse in Gestalt eines Rehabilitierungsinteresses daran haben, die angegriffene Beurteilung aufzuheben oder ihre Rechtswidrigkeit gerichtlich feststellen zu lassen, etwa weil eine Verletzung seiner Ehre durch die Beurteilung in Betracht kommt; dies hat der (frühere) Beamte oder Richter auf Grund konkreter Umstände darzulegen.
9Vgl. BVerwG, Urteile vom 13. Juni 1985 – 2 C 6.83 –, ZBR 1985, 347 = juris, Rn. 18, 20, vom 11. Februar 1982 – 2 C 33.79 –, DÖD 1982, 236 = juris, Rn. 19 f., 24, und vom 17. Dezember 1981 – 2 C 69.81 –, ZBR 1982, 350 = juris, Rn. 22 f., 25; dazu auch der dievorangegangene dienstliche Beurteilung des Klägers vom 21. November 2014 betreffende Beschluss des Senats vom 7. Juni 2016 – 1 E 397/16 –, juris, Rn. 11.
10Dies vorausgesetzt kann der Kläger – anders als hinsichtlich der vorangegangenen dienstlichen Beurteilung vom 21. November 2014 – in dem vorliegenden Verfahren ein Rechtsschutzbedürfnis in Form eines gesteigerten Rehabilitationsinteresses nicht daraus herleiten, dass die Beurteilung Ausführungen enthält, die geeignet erscheinen, seine Ehre zu verletzen. Die hier angefochtene dienstliche Beurteilung vom 19. Juli 2017 enthält keine potentiell ehrverletzenden Äußerungen. Insbesondere ist – anders als der Kläger meint – von einem „erheblich eingeschränktem Denk- und Urteilsvermögen“ nicht mehr die Rede.
11Soweit der Kläger sich insoweit – wohl – insgesamt durch die Darstellung und Bewertung der Umstände um seine in den sozialen Medien erfolgte Kontaktaufnahme mit einer ihm (weitgehend) unbekannten Frau sowie seinen Reaktionen gegenüber seinen Vorgesetzten anlässlich der Konfrontation in der angefochtenen dienstlichen Beurteilung in seinem Achtungsanspruch verletzt sieht, weil diese in Details und im Ganzen unrichtig seien, trifft dies nicht zu. Sowohl die Darstellung dieser Umstände als auch die abschließende Bewertung, diese Vorgänge rechtfertigten ernstliche Zweifel an der Eignung des Antragstellers, sind mittlerweile mit rechtskräftigem Urteil des Bundesgerichtshofs (Dienstgericht des Bundes) vom 27. Februar 2019 – RiZ (R) 2/18 –, juris, insbesondere Rn. 32 bis 42, vollumfänglich bestätigt worden. Diese Entscheidung ist dem Kläger bekannt. Der Senat sieht daher von einer Wiedergabe der Entscheidungsgründe ab. Der Senat kann hiervon nicht abweichen. Die Entscheidungsgründe des Urteils nehmen nämlich, soweit sie den dort abgeurteilten Lebenssachverhalt betreffen, unselbständig an der Rechtskraftwirkung des Urteils teil und können in einem nachfolgenden Prozess, für den – wie hier – derselbe Lebenssachverhalt maßgeblich ist, nicht mehr infrage gestellt werden. Der Vorhalt dieser nach alledem wahren Tatsachen kann den Kläger indes von vorneherein nicht in seiner Ehre verletzen.
122. Der Zulassungsantrag entspricht im Übrigen auch nicht den Darlegungsanforderungen.
13Die Berufung ist gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 und Abs. 5 Satz 2 VwGO nur zuzulassen, wenn einer der Gründe des § 124 Abs. 2 VwGO innerhalb der Begründungsfrist von einem vertretungsberechtigten Bevollmächtigten dargelegt ist und vorliegt. Dabei bedeutet „darlegen“ i. S. v. § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO, unter konkreter Auseinandersetzung mit dem angefochtenen Urteil fallbezogen zu erläutern, weshalb dieVoraussetzungen des jeweils geltend gemachten Zulassungsgrundes im Streitfall vorliegen sollen. Das Oberverwaltungsgericht soll allein aufgrund der Zulassungsbegründung die Zulassungsfrage beurteilen können, also keine weiteren aufwändigen Ermittlungen anstellen müssen.
14Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 18. Oktober 2013– 1 A 106/12 –, juris, Rn. 2, m. w. N.; ferner etwa Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124a Rn. 186, 194 m. w. N.
15Zweck des Vertretungsgebots (§ 67 Abs. 4 VwGO) ist hier, dass der bevollmächtigte Rechtsanwalt die Antragsbegründung selbst erarbeitet und hierfür die Verantwortung übernimmt. Es reicht nicht aus, wenn der Prozessbevollmächtigte von der Partei inhaltlich unverändert übernommene Ausführungen lediglich unterzeichnet, auch wenn der Schriftsatz den Briefkopf des Rechtsanwalts trägt.
16Vgl. Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124a Rn. 200 m. w. N.
17So liegt der Fall hier. Die vorgelegte Zulassungsbegründungsschrift vom 23. Januar 2019 stammt ganz offenkundig nicht von dem bevollmächtigten Rechtsanwalt, sondern vom Kläger selbst. Dies ergibt sich zweifelsfrei aus einer vergleichenden Lektüre der vom Kläger im erstinstanzlichen Verfahren unter seinem eigenen Namen eingereichten Schriftsätze, und zwar auch unabhängig von dem weiteren Umstand, dass auch große Teile dieses erstinstanzlichen Vortrags wortgleich in die Zulassungsbegründung übernommen worden sind. Bedient sich ein Beteiligter eines Prozessbevollmächtigten, so muss auch letzterer entsprechend der ihm übertragenen Verantwortung den Streitstoff selbst sichten, prüfen und rechtlich durchdringen. Als zu einer Vertretung auch in eigener Sache berechtigter Rechtsanwalt (vgl. § 67 Abs. 4 Sätze 3 und 6 i. V. m. Abs. 2 Satz 1 VwGO) ist der Kläger ohnehin erstmals mit Schriftsatz vom 14. August 2020 und damit deutlich nach Ablauf der Frist zur Begründung des Zulassungsantrags aufgetreten.
18Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf §§ 40, 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 2 GKG.
19Dieser Beschluss ist hinsichtlich der Streitwertfestsetzung nach §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG und im Übrigen gemäß § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.
20Das angefochtene Urteil ist nunmehr rechtskräftig, § 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO.
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Kläger tragen als Gesamtschuldner die Kosten des Zulassungsverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen.
Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 10.000 Euro festgesetzt.
Gründe:
1Der Antrag hat keinen Erfolg.
2Nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO sind innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung nach Auffassung des Rechtsmittelführers zuzulassen ist. Dies erfordert regelmäßig, dass in dem Antrag die als gegeben erachteten gesetzlichen Zulassungsgründe des § 124 Abs. 2 VwGO benannt werden und im Einzelnen ausgeführt wird, weshalb die Voraussetzungen für den jeweils geltend gemachten Zulassungsgrund erfüllt sein sollen.
3Diesen Darlegungsanforderungen genügt die Zulassungsbegründung der Kläger, in dem keine Zuordnung zu einem der gesetzlichen Zulassungsgründe erfolgt, nicht. Ungeachtet dieses Mangels lässt sich aus der Begründung nicht entnehmen, dass einer der Zulassungsgründe des § 124 Abs. 2 VwGO gegeben sein könnte. In Betracht kommt insoweit allein der sinngemäß geltend gemachte Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
4Stützt der Rechtsmittelführer seinen Zulassungsantrag auf diesen Zulassungsgrund, muss er sich mit den entscheidungstragenden Annahmen des Verwaltungsgerichts auseinandersetzen. Dabei muss er den tragenden Rechtssatz oder die Feststellungen tatsächlicher Art, die er mit seinem Antrag angreifen will, bezeichnen und mit schlüssigen Gegenargumenten infrage stellen. Daran fehlt es hier.
5Das Verwaltungsgericht hat die Klage der Kläger gegen die Baugenehmigung der Beklagten vom 1. Februar 2018 für die Errichtung eines Mehrfamilienhauses mit drei Wohneinheiten sowie eines Carports auf dem Grundstück N. 107 in C. (im Folgenden: Vorhaben) abgewiesen. Die Baugenehmigung verstoße nicht gegen Vorschriften des öffentlichen Baurechts, die dem Schutz der Kläger zu dienen bestimmt seien. Sie könnten sich weder auf einen Gebietswahrungsanspruch noch darauf berufen, dass sich das Vorhaben hinsichtlich seiner baulichen Dimensionen nicht in die Eigenart der näheren Umgebung einfüge. Denn die in § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB genannten Merkmale vermittelten für sich genommen keinen Nachbarschutz. Ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot liege nicht vor.
6Soweit die Kläger weiterhin geltend machen, dass sich das Vorhaben nicht in die nähere Umgebung, die durch kleine Einfamilienhäuser geprägt sei, einfüge, zeigen sie eine Verletzung in eigenen Rechten nicht auf. Das Verwaltungsgericht hat bereits die maßgeblichen Grundsätze zum baurechtlichen Nachbarschutz dargestellt. Es ist danach nicht entscheidend, ob es für das Vorhaben in der näheren Umgebung ein Vorbild gibt. Ebenso wenig relevant sind die Ausführungen der Kläger zur Genehmigungspraxis der Beklagten.
7Dass das Vorhaben entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts insbesondere wegen einer von ihm ausgehenden erdrückenden Wirkung zu Lasten des Grundstücks der Kläger rücksichtslos sein könnte, ergibt sich aus ihrem Vorbringen ebenfalls nicht. Das Verwaltungsgericht hat auch hierzu die in der Rechtsprechung entwickelten, diesbezüglich anzulegenden Maßstäbe zutreffend wiedergegeben. Danach kann eine bauliche Anlage erdrückende Wirkung haben, wenn sie wegen ihrer Ausmaße, ihrer Baumasse oder ihrer massiven Gestaltung ein benachbartes Grundstück unangemessen benachteiligt, indem sie diesem förmlich „die Luft nimmt“, wenn für den Nachbarn das Gefühl des „Eingemauertseins“ entsteht oder wenn die Größe der „erdrückenden“ baulichen Anlage auf Grund der Besonderheiten des Einzelfalls – und gegebenenfalls trotz Freihaltung der erforderlichen Abstandsflächen – derartig übermächtig ist, dass das „erdrückte“ Grundstück oder dessen Bebauung nur noch oder überwiegend wie eine von einer „herrschenden“ baulichen Anlage dominierte Fläche ohne eigene bauliche Charakteristik wahrgenommen wird.
8Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 4. September 2020 – 10 A 4650/19 –, juris, Rn. 5, und vom 9. Februar 2009 – 10 B 1713/08 –, juris, Rn. 25.
9Ob eine solche Wirkung zu erwarten ist oder nicht, kann nur unter Berücksichtigung aller konkreten Umstände des Einzelfalls entschieden werden. Neben den Ausmaßen beider Baukörper in ihrem Verhältnis zueinander – zum Beispiel Bauhöhe, Ausdehnung und Gestaltung der Fassaden und Baumasse – kann die Lage der Bauwerke zueinander eine Rolle spielen. Von besonderer Bedeutung im Rahmen dieser Bewertung wird regelmäßig die Entfernung zwischen den Baukörpern beziehungsweise Grundstücksgrenzen sein.
10Vgl. OVG NRW, Urteil vom 29. August 2005 – 10 A 3138/02 –, juris, Rn. 50.
11Gemessen an diesen Maßstäben hat bereits das Verwaltungsgericht zutreffend hervorgehoben, dass das Vorhaben die nach den Abstandsflächenvorschriften erforderlichen Abstände gegenüber der Grenze zum Grundstück der Kläger einhält und die Höhe des Vorhabens noch unterhalb des Firstes ihres Wohnhauses liegt. Zwar ist die zur gemeinsamen Grenze ausgerichtete westliche Außenwand des Vorhabens um mehrere Meter länger als die östliche Außenwand des Wohnhauses der Kläger, doch kann auch wegen der Entfernung der Baukörper voneinander, wegen des unverbauten Blicks aus dem in nördlicher Richtung gelegenen Garten der Kläger und wegen des zum Vorhabengrundstück hin deutlich abfallenden Geländes ersichtlich nicht die Rede davon sein, dass das Vorhaben dem Grundstück der Kläger „die Luft nimmt“. Das Vorhaben „mauert“ das Grundstück der Kläger auch weder „ein“ noch dominiert es dieses derart, dass das dort aufstehende Wohnhaus als eine bauliche Anlage ohne eigenständige bauliche Charakteristik wahrgenommen wird. Dass das Vorhaben deutlich breiter ist als das Wohngebäude der Kläger spielt insoweit keine Rolle. Die Unterschiede der beiden Häuser im Hinblick auf ihre Abmessungen ergeben sich im Übrigen nicht zuletzt auch daraus, dass die Kläger ihr Grundstück mit einem als Doppelhaushälfte errichteten Einfamilienhaus bebaut haben. Dass die Kläger, wie sie vortragen, bei einem Blick aus ihrem Küchenfenster ausschließlich auf die westliche Wand des Vorhabens sehen können, müssen sie nach den vorstehenden Grundsätzen hinnehmen. Ob die Kläger angesichts der in der Umgebung vorhandenen Bebauung und der Größe des Vorhabengrundstücks damit rechnen mussten, dass dieses mit einem Wohngebäude bebaut wird, welches dem Vorhaben entspricht, kann letztlich offen bleiben. Das Rücksichtnahmegebot schützt den Grundstückseigentümer jedenfalls nicht davor, dass ein benachbartes Grundstück künftig intensiver baulich ausgenutzt wird als zuvor. Die bisherige Situation der Kläger, die wegen der Hanglage von ihrem Grundstück aus einen freien Ausblick hatten und über das Wohngebäude ihrer Nachbarn hinwegschauen konnten, ist nach alledem rechtlich nicht geschützt.
12Das Ausmaß der durch das Vorhaben verursachten Verschattung des Grundstücks der Kläger überschreitet die Zumutbarkeitsgrenze schon mit Blick auf die Lage der Gebäude und ihre baulichen Dimensionen ersichtlich nicht.
13Der Senat teilt schließlich auch die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass das Vorhaben keine den Klägern unzumutbare Möglichkeiten schafft, von dem Vorhabengrundstück aus auf ihr Grundstück zu blicken.
14Gewähren Fenster, Balkone oder Terrassen eines neuen Gebäudes beziehungsweise Gebäudeteils den Blick auf ein Nachbargrundstück, ist deren Ausrichtung, auch wenn der Blick von dort in einen Ruhebereich des Nachbargrundstücks fällt, nicht aus sich heraus rücksichtslos. Es ist in bebauten Gebieten üblich, dass infolge einer solchen Bebauung erstmals oder zusätzlich Einsichtsmöglichkeiten entstehen. Nach ständiger Rechtsprechung der Bausenate des Oberverwaltungsgerichts ist dies regelmäßig hinzunehmen.
15Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 26. März 2019 – 7 D 65/17.NE –, juris, Rn. 30, vom 22. Februar 2019 – 7 B 1783/18 –, juris, Rn. 15, vom 10. September 2018 – 10 B 1114/18 –, juris, Rn. 8, und vom 24. Juli 2017 – 10 B 350/17 –.
16Der Eigentümer oder Nutzer eines Grundstücks kann nicht beanspruchen, dass ihm auf den Freiflächen seines Grundstücks ein den Blicken Dritter entzogener Bereich verbleibt.
17Vgl. OVG NRW, Urteil vom 8. April 2020 – 10 A 352/19 –, Rn. 34 ff., Beschluss vom 9. August 2018 – 10 B 994/18 –, juris, Rn. 7.
18Eine auf fehlende Rückzugsmöglichkeiten auf dem betroffenen Grundstück bezogene Bewertung von Einsichtsmöglichkeiten als rücksichtslos ließe sich in dieser Allgemeinheit nicht praktikabel handhaben. Wäre jeder Bauherr unter dem Gesichtspunkt der Rücksichtnahme verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die Öffnungen, Balkone und Freisitze des geplanten Gebäudes keine Blicke auf die umliegenden bebauten Grundstücke eröffnen, die die dort möglicherweise gegebenen „Rückzugsmöglichkeiten“ zunichtemachen, würde dies die Bautätigkeit in nicht wenigen Fällen erheblich erschweren, wenn nicht gar zum Erliegen bringen. Ein im Bauplanungsrecht wurzelnder Anspruch, zumindest auf einem Teil der Freiflächen des eigenen Grundstücks vor fremden Blicken geschützt zu sein, lässt sich auch nicht aus einem Recht auf Privatsphäre herleiten. Dass derjenige, der die eigenen vier Wände verlässt, dabei gesehen und sogar beobachtet werden kann, liegt in der Natur der Sache. Auf die Frage, inwieweit durch Anpflanzungen oder sonstige Sichtschutzmaßnahmen Einsichtnahmen verhindert werden könnten, kommt es danach nicht entscheidend an.
19Vgl. OVG NRW, Urteil vom 8. April 2020 – 10 A 352/19 –, juris, Rn. 43, Beschluss vom 11. September 2018 – 7 B 918/18 –, juris, Rn. 5.
20Ausgehend hiervon führt es nicht aus sich heraus zur Rücksichtslosigkeit, dass die in der westlichen Wand des Vorhabens geplanten Fenster im ersten Obergeschoss und im Dachgeschoss einen Blick in Richtung der zum Garten ausgerichteten Fenster des Wohnhauses der Kläger sowie auf ihre Terrasse und in den Gartenbereich erlauben, unabhängig davon, dass die Gesamtfläche der Fenster in dieser Wand nach den Angaben der Beklagten in einer Nachtragsgenehmigung halbiert worden ist. Ungeachtet dessen, in welchem Umfang neue Möglichkeiten von Einblicken in die Zimmer des Wohnhauses der Kläger tatsächlich geschaffen werden, können sie sich, wenn ihnen daran gelegen ist, vor solchen Einblicken ohne Weiteres durch das Anbringen von Vorhängen oder Ähnlichem schützen. Da Fenster ungeachtet ihrer Größe regelmäßig nur für gelegentliche Ausblicke nach draußen genutzt werden und zwischen den Fenstern des Vorhabens und dem Terrassen- und Gartenbereich auf dem Grundstück der Kläger einiger Abstand besteht, kann auch nicht davon gesprochen werden, dass hier jegliche Distanz verloren ginge, etwa weil ein potenzieller Betrachter hinter den Fenstern von der Terrasse oder dem Garten der Kläger aus „zum Greifen nahe“ wäre.
21Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 VwGO.
22Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 40, 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 GKG.
23Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Sätze 1 und 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
24Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags ist das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).
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Tenor
Der Antrag wird auf Kosten des Antragstellers abgelehnt.
Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 5.000,00 Euro festgesetzt.
1G r ü n d e
2Der auf die Zulassungsgründe nach § 124 Abs. 2 Nr. 1, 2, 3 und 5 VwGO gestützte Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
3Die Berufung ist gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 und Abs. 5 Satz 2 VwGO zuzulassen, wenn einer der Gründe des § 124 Abs. 2 VwGO innerhalb der Begründungsfrist dargelegt ist und vorliegt. „Darlegen“ i. S. v. § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO bedeutet, unter konkreter Auseinandersetzung mit dem angefochtenen Urteil fallbezogen zu erläutern, weshalb die Voraussetzungen des jeweils geltend gemachten Zulassungsgrundes im Streitfall vorliegen sollen. Die Zulassungsbegründung soll es dem Oberverwaltungsgericht ermöglichen, die Zulassungsfrage allein auf ihrer Grundlage zu beurteilen, also ohne weitere aufwändige Ermittlungen.
4Hiervon ausgehend rechtfertigt das – fristgerecht vorgelegte – Zulassungsvorbringen die begehrte Zulassung der Berufung aus keinem der geltend gemachten Zulassungsgründe. Soweit es den Anforderungen an eine hinreichende Darlegung genügt, greift es in der Sache nicht durch.
51. Die Berufung kann zunächst nicht wegen der geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung i. S. d. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zugelassen werden. Ernstliche Zweifel in diesem Sinne sind begründet, wenn zumindest ein einzelner tragender Rechtssatz der angefochtenen Entscheidung oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird und sich die Frage, ob die Entscheidung etwa aus anderen Gründen im Ergebnis richtig ist, nicht ohne weitergehende Prüfung der Sach- und Rechtslage beantworten lässt. Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt.
6Das Verwaltungsgericht hat zur Begründung der Klageabweisung im Kern ausgeführt: Die Klage sei unbegründet. Die angefochtene, auf § 4 Abs. 4 Satz 2PostPersRG gestützte Zuweisungsverfügung der Deutschen Telekom AG (CSH) vom 27. Mai 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Deutschen Telekom AG (HR Business Services) vom 26. Oktober 2015 sei rechtmäßig. Sie sei zunächst in formeller Hinsicht frei von Rechtsfehlern. Insbesondere sei auch der Betriebsrat des aufnehmenden Betriebes (Deutsche Telekom Kundenservice GmbH, im Folgenden: DT KS GmbH) ordnungsgemäß beteiligt worden. Seine Zustimmung gelte nach § 99 Abs. 3 Satz 2 BetrVG als erteilt, nachdem er die einwöchige Äußerungsfrist habe verstreichen lassen. Die Zuweisungsverfügung sei auch materiell rechtmäßig. Wegen der Voraussetzungen, unter denen ein Beamter eines Postnachfolgeunternehmens einem Tochter- oder Enkelunternehmen nach § 4 Abs. 4 Satz 2 PostPersRG zugewiesen werden könne, nehme die Kammer auf die zutreffenden Ausführungen in den angefochtenen Bescheiden Bezug. Die Voraussetzungen der Zuweisungsnorm seien auch erfüllt. Zunächst habe die Beklagte ein dringendes betriebliches bzw. personalwirtschaftliches Interesse an der Besetzung des Arbeitspostens in C. und damit an der Zuweisung des Klägers dargelegt. Die Zuweisung stehe ferner im Einklang mit der Fürsorgepflicht, die der Beklagten gegenüber dem schwerbehinderten Kläger obliege. Gesundheitliche Gründe, die diesen an der von ihm verlangten Dienstverrichtung hindern könnten, seien nicht ersichtlich. Die gesundheitlichen Einschränkungen des Klägers, die Dr. L. von der B.A.D. GmbH aufgrund der Eignungsuntersuchung des Klägers vom 26. September 2014 am selben Tag bescheinigt habe, habe die Beklagte bei der konkret zugewiesenen Tätigkeit hinreichend berücksichtigt. Dies hätten die Kammer und der Senat bereits in ihren Beschlüssen vom 29. Juli 2015 – 1 L 558/15 – bzw. vom 7. Oktober 2015– 1 B 972/15 – (BA Seite 4, dritter Absatz) festgestellt bzw. bestätigt. Der Kläger habe in dem (am 4. Dezember 2015 eingeleiteten) Klageverfahren nichts vorgetragen, was diese Ausführungen ernsthaft in Frage stellen könne. Er sei nach wie vor dienstfähig. Weder seine Einwände gegen die Amtsangemessenheit der Beschäftigung am neuen Dienstort noch seine Bedenken, dass (dort) seinen gesundheitlichen Einschränkungen hinreichend Rechnung getragen werde, berührten die Rechtmäßigkeit der Zuweisung; er sei insoweit gehalten, ggf. bei der Geschäftsführung der DT KS GmbH um Abhilfe nachzusuchen. Auch die Entfernung seines Wohnorts zum neuen Dienstort führe nicht dazu, dass die Zuweisung nicht zumutbar i. S. v. § 4 Abs. 4 Satz 2 PostPersRG sei. Dahinstehen könne, ob sein bisheriges Vorbringen, ein wöchentliches Pendeln von B. nach C. und ein Umzug nach C. seien ihm aus persönlichen Gründen unzumutbar, angesichts der zwischenzeitlichen Wohnsitznahme in C. überhaupt noch bedeutsam sei. Bereits in den beiden Eilbeschlüssen sei nämlich jedenfalls ausgeführt, dass es dem Kläger als Bundesbeamten zumutbar sei, auf Verlangen seines Dienstherrn ggf. bundesweit umzuziehen, insbesondere wenn ihm – wie hier – eine Umzugskostenvergütung zugesagt worden sei. Weder Kostengesichtspunkte noch soziale, in erster Linie familiäre Belange stünden dieser Verpflichtung entgegen.
7Das hiergegen gerichtete Zulassungsvorbringen greift nicht durch.
8a) Der Kläger rügt zunächst die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, die Zustimmung des Betriebsrats der DT KS GmbH in C. gelte nach § 99 Abs. 3 Satz 2 BetrVG als erteilt (Gliederungspunkt 1. a)). Das Gericht habe nicht geprüft, ob überhaupt eine Beteiligung i. S. v. § 99 Abs. 1 Satz 1 und 2 BetrVG erfolgt sei. Aus den Akten sei nicht ersichtlich, dass, wann und mit welchen Informationen diesem Betriebsrat der in Aussicht genommene Arbeitsplatz und die vorgesehene Eingruppierung mitgeteilt worden seien.
9Das greift ersichtlich nicht durch. Den von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsvorgängen lässt sich zunächst der interne Auftrag entnehmen, eine Vorlage über die beabsichtigte Zuweisung für den insoweit maßgeblichen Betriebsrat FSC (Field Support Center) in C. zu fertigen (zwei E-Mails des Herrn C1. an Herrn F. , beide vom 14. Januar 2015, Beiakte Heft 1, Blatt 24 und 25). Die hierbei gemachten Vorgaben lauteten: Zuweisung einer Tätigkeit als Kundenberater I, 38 Wochenstunden, Fünftagewoche, pro Arbeitstag nur max. vier Stunden Bildschirmarbeit, Restzeit anderweitig, da Wechsel zwischen Gehen, Sitzen und Stehen benötigt, wöchentliches Pendeln mit auswärtiger Übernachtung machbar. Auch die Erledigung dieses Auftrages ergibt sich aus den Akten (E-Mail des Herrn F. an Herrn C1. vom 29. Januar 2015, Beiakte Heft 1, Blatt 23). Schließlich ist auch die die Zuweisung des Klägers (laufende Nummer 11) betreffende Rückäußerung des Betriebsrats nach seiner Sitzung vom 2. Februar 2015 dokumentiert, die sich ausdrücklich auf die Zuweisung einer Planstelle "Kundenberater I" und eine Eingruppierung "KS1 (A7, A8)" bezieht und keine Äußerung im Feld "zugestimmt ja/nein" enthält (Beiakte Heft 1, Blatt 26). Exakt diese Rückäußerung ist auch in der mit der Zulassungserwiderung vom 11. Mai 2018 vorgelegten Übersicht des Betriebsrats FCS der DT KS GmbH enthalten, die neben dem Kläger (laufende Nummer 11) noch weitere Personen bzw. insoweit beabsichtigte Personalmaßnahmen betrifft. Dem und dem entsprechenden Vortrag der Beklagten hat der Kläger auch nichts mehr entgegengehalten.
10b) Ferner wendet sich der Kläger gegen die Bewertung im angefochtenen Urteil, die Zuweisung sei ihm nach allgemeinen beamtenrechtlichen Grundsätzen zumutbar.
11aa) Hierzu macht er zunächst (Gliederungspunkt 1. b)) das Folgende geltend: Die Zuweisung auf einen Dienstposten bei der DT KS GmbH "mit dem konkret übertragenen und (…) mit Schriftsatz zur Klagebegründung vom 11.10.2016 auf Seiten 18 pp. zu III. beschriebenen Aufgabenkreis" sei rechtswidrig. Er habe, was das Verwaltungsgericht verkannt habe, bereits erstinstanzlich vorgetragen, dass die übertragene Tätigkeit nicht leidensgerecht sei, nicht amtsangemessener Verwendung entspreche und zu einer fortwährenden gesundheitlichen Beeinträchtigung und vorübergehenden Dienstunfähigkeit führe, und zur Begründung des Näheren ausgeführt: Auf dem Dienstposten seien ausschließlich EDV-gestützte bzw. schreibtischgebundene Tätigkeiten zu verrichten. Projektarbeit könne dort hingegen nicht stattfinden, wie der als Zeuge benannte unmittelbare Dienstvorgesetzte (Herr I. ) bekundet habe. Zu Beginn seiner Tätigkeit seien ihm in der Annahme, er könne keine EDV-gestützte Tätigkeit ausüben, nur eine Kladde, ein Kugelschreiber und eine Vielzahl von zu sichtenden Beschwerdeschreiben übergeben worden. Eine Einarbeitung in das EDV-System habe es nicht gegeben, und ihm sei auch kein Tätigkeitsfeld an einem EDV-gestützten Arbeitsplatz zugewiesen worden. Andere Mitarbeiter in dem Großraumbüro hätten beständig telefoniert, um Spitzenlastgespräche mit Kunden "aufzufangen". Die Beklagte sei diesem Vortrag nicht entgegengetreten und habe bestätigt, dass auf dem Dienstposten auch fortbestehend keine Verrichtung vorgesehen sei, die der ärztlichen Vorgabe entspreche. Die Führung einer Kladde sei gemessen an seiner früheren Tätigkeit am (2011 aufgelösten) Standort B. der DT KS GmbH ersichtlich nicht amtsangemessen. Das Verwaltungsgericht habe sich zu Unrecht auf die Einschätzung des Senats im Beschluss vom 7. Oktober 2015 gestützt, aus der Zuweisungsverfügung folge, dass er am Tag maximal vier Stunden am Bildschirm und im Übrigen im wechselnder Haltung zu arbeiten haben werde. Diese Einschätzung habe er nämlich nachfolgend (unter dem 11. Oktober 2016) mit seiner Schilderung der Geschehnisse am Standort C. ab Aufnahme seiner Tätigkeit widerlegt.
12Dieses Vorbringen weckt keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der Einschätzung des Verwaltungsgerichts, die verfügte Zuweisung sei nach allgemeinen beamtenrechtlichen Grundsätzen zumutbar i. S. v. § 4 Abs. 4 Satz 2 PostPersRG.
13Mit der Zuweisungsverfügung in Gestalt des Widerspruchsbescheides ist dem Kläger eine nach A 8 BBesO bewertete und damit für diesen um eine Besoldungsstufe höherwertige Tätigkeit als Kundenberater I mit den im Bescheid vom 27. Mai 2015 auf dessen Seite 2 beschriebenen Kernaufgaben zugewiesen worden. Ferner wird in der Verfügung ausdrücklich ausgeführt, dass eine "vollschichtige Beschäftigung im Rahmen von Projekteinsätzen unter Berücksichtigung der gesundheitlichen Einschränkungen der Bildschirmarbeit von maximal 4 Stunden und der Möglichkeit des Wechsels zwischen Stehen, Sitzen und idealerweise Gehen möglich" sei (so wörtlich im Bescheid, Seite 4 oben; entsprechend auch im Widerspruchsbescheid, Seite 5, vorletzter Absatz). Dass der Bescheid mit diesem – insoweit maßgeblichen – objektiven Erklärungsgehalt rechtswidrig sein könnte, macht der Kläger schon nicht geltend und ist auch sonst nicht erkennbar.
14Eine abweichende Bewertung ergibt sich auch nicht aus dem – sinngemäßen – Vorbringen des Klägers, die von ihm behaupteten Gegebenheiten am Beschäftigungsort bei Aufnahme seiner Tätigkeit belegten, dass die nach der Verfügung zugewiesene (amtsangemessene und den ärztlichen Vorgaben Rechnung tragende, s. o.) Tätigkeit dort tatsächlich nicht stattfinden könne/werde. Dieses Vorbringen verfehlt schon die Anforderungen an eine hinreichende Darlegung. Es setzt sich nämlich nicht mit der insoweit maßgeblichen Einschätzung des Verwaltungsgerichts (UA Seite 8 f.) auseinander, die Einwände gegen die Amtsangemessenheit der (tatsächlich erfolgten) Beschäftigung am neuen Dienstort und die Bedenken, dass den ärztlichen Vorgaben hinreichend Rechnung getragen werde, berührten die Rechtmäßigkeit der Zuweisung nicht; insofern bestehe nur die Obliegenheit des Klägers, ggf. bei der Geschäftsführung der DT KS GmbH um Abhilfe nachzusuchen. Ein zuweisungswidriger Einsatz des Beamten im Zuweisungsunternehmen hat im Übrigen keinen Einfluss auf die Rechtmäßigkeit der Zuweisungsverfügung, sondern löst die Pflicht der Deutschen Telekom AG aus, darauf hinzuwirken, dass dieser Mangel abgestellt wird. Bei fehlender Kontrolle der Umsetzung der Zuweisungsverfügung durch die Deutsche Telekom AG obliegt es dem Beamten, die Einhaltung der Vorgaben der Zuweisungsverfügung gegenüber der Deutschen Telekom AG – notfalls auch unter Inanspruchnahme (ggf. auch vorläufigen) gerichtlichen Rechtsschutzes – geltend zu machen.
15Vgl. etwa OVG NRW, Beschlüsse vom 28. Juni 2011– 1 B 277/11 –, juris, Rn. 18 und 43, vom 19. April 2013 – 1 B 77/13 –, n. v., BA S. 6, und vom 30. September 2014 – 1 B 1001/14 –, juris, Rn. 15 bis 17 (jeweils zur Frage der Amtsangemessenheit des tatsächlichen Einsatzes).
16Unabhängig von dem Vorstehenden griffe dieses Vorbringen aber auch der Sache nach nicht durch. Aus ihm ergibt sich nämlich nicht, dass die Zuweisung in dem hier für die gerichtliche Überprüfung maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides am 26. Oktober 2015
17– vgl. den Senatsbeschluss vom 27. August 2018– 1 B 1078/18 –, juris, Rn. 19 f., m. w. N. –
18in tatsächlicher Hinsicht gleichsam von vornherein auf eine nicht amtsangemessene und nicht den gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Klägers hinreichend Rechnung tragende Tätigkeit abgezielt hat. Die Beklagte hat zu diesem Vorbringen des Klägers schon mit ihrer Klageerwiderung vom 15. März 2017 (S. 5 bis 7) und erneut mit ihrer Antragserwiderung vom 11. Mai 2018 unwidersprochen vorgetragen, dass der Kläger im Jahr 2015 nur am 10. August 2015 und vom 14. bis 16. Dezember 2015 ganztägig Dienst verrichtet und sich an drei weiteren Tagen des Jahres bereits nach wenigen Stunden des Dienstes krankgemeldet habe; 2016 habe er dort nur an 11 Tagen gearbeitet. Da der Kläger nur geringfügig Dienst geleistet habe und sein Erscheinen nicht vorhersehbar gewesen sei, habe die erforderliche, auf acht bis zwölf Wochen zu veranschlagende Einarbeitung bzw. Basisqualifizierung bislang nicht stattfinden können. Die vom Kläger geschilderten Einzeltätigkeiten (Kladde etc.) hätten daher nur einer ersten Heranführung an die zu erledigenden Aufgaben dienen können und besäßen keine Aussagekraft für die tatsächlich nach erfolgter Qualifikation und bei regelmäßiger Arbeitsleistung zu erbringenden Schreibtisch- und Projekttätigkeiten (vgl. deren nähere Beschreibung im Schriftsatz vom 15. März 2017, S. 6 f., und auch den ohne weiteres relevanten Hinweis darauf, dass an dem höhenverstellbaren Schreibtisch des Klägers auch im Stehen gearbeitet werden könne, S. 6, vierter Absatz). Diese Ausführungen der Beklagten, mit denen der Vortrag des Klägers zur mangelnden Amtsangemessenheit der Tätigkeit und zum Verfehlen der ärztlichen Vorgaben nicht etwa bestätigt, sondern zurückgewiesen wird, sind insgesamt, aber gerade auch dann ohne weiteres nachvollziehbar, wenn sie auf den o. g. maßgeblichen Zeitpunkt der Widerspruchsentscheidung bezogen werden, zu dem der Kläger lediglich auf die an einem Tag ganztägiger Dienstleistung gemachten Erfahrungen bei der DT KS GmbH zurückblicken konnte.
19bb) Weiter rügt der Kläger die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Zuweisungsverfügung erweise sich auch nicht mit Blick auf die Entfernung des Wohnorts des Klägers zu seinem neuen Dienstort als fürsorgepflichtwidrig (Gliederungspunkt 1. c)). Das Verwaltungsgericht habe rechtsfehlerhaft festgestellt, die ärztlich attestierte Einschränkung seiner – des Klägers – Mobilität sei nicht mehr entscheidungserheblich, nachdem er einen Wohnsitz in C. genommen habe. Nach den betriebsärztlichen Feststellungen dürfe er aufgrund seiner angeborenen Behinderung keine Fahrtstrecke bewältigen, die 30 Minuten pro Fahrt überschreite. Es müsse ihm mindestens möglich sein, an den Wochenenden zu dem "notwendigerweise aufrechtzuerhaltenden Wohnsitz der Familie" (Lebensgefährtin, deren 2008 geborene Tochter F1. und die 2012 geborene gemeinsame Tochter M. ) fahren zu können. Da für eine einfache Fahrt jedoch mindestens 58 Minuten benötigt würden, müsse er die ihm nach dem Gutachten der B. A. D. GmbH maximal zumutbare Fahrtzeit insoweit zwangsläufig überschreiten.
20Auch dieses Vorbringen begründet keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Zunächst trifft es offensichtlich nicht zu, dass das Verwaltungsgericht die Einschränkung der Mobilität des Klägers vor dem Hintergrund, dass dieser sich in C. eine Zweitwohnung für die Arbeitswoche beschafft hat, als nicht mehr entscheidungserheblich angesehen hat. Es hat vielmehr ausdrücklich offen gelassen ("kann dahinstehen"), ob der Vortrag des Klägers, es sei ihm aus persönlichen Gründen unzumutbar, wöchentlich zu pendelnoder aber nach C. umzuziehen, nach der angesprochenen Wohnsitznahme noch bedeutsam sei. Auch das weitere Zulassungsvorbringen zur Unzumutbarkeit der Wochenendfahrten greift nicht durch. Das gilt schon deshalb, weil der Kläger es versäumt hat, die insoweit selbständig tragende Erwägung des Verwaltungsgerichts substantiiert anzugreifen, er sei als Bundesbeamter "jedenfalls" (UA S. 9, zweiter Absatz) auf einen Umzug der Familie nach C. zu verweisen. Unabhängig davon ist aber auch nicht erkennbar, dass dem Kläger die Wochenendfahrten von C. nach B. und von B. nach C. gesundheitlich nicht zugemutet werden können. Der Kläger verkennt insoweit den Inhalt der ärztlichen Bescheinigung des Dr. L. vom 26. September 2014. Dieser hat nämlich zu dem Aspekt der Mobilität in Anlage 2, Bl. 3, durch Ankreuzen ("ja") bzw. durch das Weglassen von Angaben zu dem Satz "Pendeln ist unter folgenden Voraussetzungen möglich:" ausdrücklich festgestellt, dass dem Kläger arbeitsmedizinisch ein wöchentliches Pendeln mit auswärtiger Übernachtung voraussetzungslos möglich ist. Vor diesem Hintergrund bezieht sich die (im Tatbestand des angefochtenen Urteils wiedergegebene) ärztliche Aussage zur Beschränkung der Fahrtzeit auf maximal 30 Minuten nach Anlage 2, Bl. 2 ersichtlich nur auf ein werktägliches Pendeln (Montag bis Freitag), was angesichts der insoweit erhöhten Belastung (mehr Fahrten in kürzeren Intervallen) auch ohne weiteres einleuchtet.
212. Die Berufung ist auch nicht nach § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO zuzulassen. Der Kläger macht insoweit geltend, das Verwaltungsgericht habe den unter dem Gliederungspunkt III. geleisteten Vortrag aus der Klagebegründung vom 11. Oktober 2016 übergangen bzw. nicht berücksichtigt und sei gehalten gewesen, "im Zweifel den klägerseits angebotenen Beweis" zu erheben. Hierbei bezieht er sich trotz der Bezugnahme auf den Vortrag auf den Seiten "18 pp. mit Schriftsatz zur Klagebegründung vom 11.10.2016 zu Ziffer III." nicht auf den gesamten Inhalt des Gliederungspunktes III. (S. 18 bis 23), sondern ausweislich des insoweit beigegebenen Zulassungsvorbringen nur auf den in diesem Abschnitt enthaltenen Klagevortrag, die dienstliche Tätigkeit und die ihm übertragenen Aufgaben seien ausweislich seiner Schilderung der Geschehnisse am neuen Arbeitsplatz nicht leidensgerecht (nur Schreibtischtätigkeit, keine Projekteinsätze) und nicht amtsangemessen (Stichwort Kladde).
22a) Die hierin zunächst liegende Rüge eines Gehörsverstoßes greift nicht durch.
23Zur Wahrung rechtlichen Gehörs i. S. v. Art. 103 Abs. 1 GG hat das Gericht den Beteiligten zu allen maßgeblichen Rechts- und Tatsachenfragen die Gelegenheit einzuräumen, Stellung zu beziehen. Es muss den Vortrag der Beteiligten zur Kenntnis nehmen und bei seiner Entscheidung in Erwägung ziehen. In den Entscheidungsgründen hat es ggf. in angemessener Weise zum Ausdruck zu bringen, aus welchen Gründen es von einer Auseinandersetzung mit rechtlichem oder tatsächlichem Vorbringen eines Beteiligten abgesehen hat. Es ist aber nicht verpflichtet, sich in den Entscheidungsgründen mit jedem Argument ausdrücklich zu befassen. Es darf ein Vorbringen außer Betracht lassen, das nach seinem Rechtsstandpunkt unerheblich oder offensichtlich substanzlos ist. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass ein Gericht das von ihm entgegengenommene Vorbringen auch in seine Erwägungen einbezogen hat. Nur bei Vorliegen deutlich gegenteiliger Anhaltspunkte kann ein Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör angenommen werden. Ferner muss der übergangene Vortrag nach der maßgeblichen Rechtsauffassung des Gerichts entscheidungserheblich gewesen sein. Das setzt voraus, dass das Verwaltungsgericht zu einer anderen, für den Rechtsmittelführer günstigeren Entscheidung gekommen wäre, wenn es den übergangenen Vortrag berücksichtigt hätte.
24Zum Ganzen vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 23. April 2020 – 1 A 2023/19. A –, juris, Rn. 13 bis 16, vom 5. Februar 2019 – 1 A 2216/18 –, juris, Rn. 26 f., und vom 1. August 2012 – 1 A 864/11 –, juris, Rn. 3 bis 8, m. w. N.; ferner etwa Neumann/Korbmacher, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 138 Rn. 108 und 115 bis 117.
25In Anwendung dieser Grundsätze ist ein Gehörsverstoß hier nicht erkennbar. Zunächst hat das Verwaltungsgericht den hier maßgeblichen Vortrag offensichtlich zur Kenntnis genommen. Belegt wird dies durch dessen zusammenfassende Wiedergabe im Tatbestand des angefochtenen Urteils (Seite 4, ab Satz 3 des dritten Absatzes bis zu dessen Ende). Es durfte diesen Vortrag bei seiner rechtlichen Würdigung in den Entscheidungsgründen aber außer Betracht lassen, weil es nach seinem– insoweit maßgeblichen – Rechtsstandpunkt unerheblich war. Das Verwaltungsgericht hat insoweit nämlich ausgeführt, dass die Einwände des Klägers gegen die Amtsangemessenheit der (tatsächlichen) Beschäftigung am neuen Dienstort und auch die Bedenken dagegen, dass den ärztlich festgestellten gesundheitlichen Einschränkungen (tatsächlich) hinreichend Rechnung getragen werde, für die Rechtsmäßigkeit der Zuweisung ohne Bedeutung seien und insofern nur die Obliegenheit des Klägers bestehe, Abhilfe bei der Geschäftsführung der DT KS GmbH (richtig: bei der Deutschen Telekom AG, s. o) einzufordern (UA Seite 8 f.).
26b) Auch die weitere Verfahrensrüge, das Verwaltungsgericht hätte "im Zweifel den klägerseits angebotenen Beweis erheben müssen gemäß §§ 86 pp. VwGO", greift nicht durch.
27aa) Wird diese Rüge zunächst (auch) als der Vortrag verstanden, das Verwaltungsgericht sei gehalten gewesen, vor seiner ohne (weitere) mündliche Verhandlung erfolgten Entscheidung über die mit der Zulassungsbegründung in Bezug genommenen Beweisantritte (Zeugnis des Herrn I. , Ortsbesichtigung) durch Beschluss zu entscheiden, ergibt sich hieraus kein Verfahrensfehler.
28Die Pflicht zur Vorabentscheidung gemäß § 86 Abs. 2 VwGO gilt im Grundsatz nur für in der mündlichen Verhandlung gestellte unbedingte Beweisanträge, nicht dagegen für (nur) in vorbereitenden Schriftsätzen angekündigte Beweisanträge. Verzichtet ein Beteiligter nach schriftsätzlicher Ankündigung eines Beweisantrages auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO), so hat er sich der Möglichkeit begeben, den Anspruch auf Vorabentscheidung aus § 86 Abs. 2 VwGO geltend zu machen.
29Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 11. Dezember 2019 – 1 A 1815/17 –, juris, Rn. 17 f., vom 10. Januar 2019 – 1 A 4171/18 –, juris, Rn. 25, und vom 10. August 2016 – 1 A 429/15 –, juris, Rn. 3 f., m. w. N.
30So liegt der Fall hier. Der Kläger hat auf die Anfrage des Verwaltungsgerichts vom 10. Oktober 2017 hin mit Schriftsatz vom 14. Dezember 2017 (ebenso wie zuvor schon die Beklagte) das Einverständnis mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren erklärt, also nach Formulierung der Beweisantritte in der Klagebegründung vom 11. Oktober 2016.
31bb) Auch der weiter geltend gemachte Verstoß gegen die Pflicht zur Amtsermittlung (§ 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO) liegt nicht vor. Ein solcher im Rahmen von § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO zu berücksichtigender Aufklärungsmangel kann nur dann angenommen werden, wenn sich die Beweiserhebung geradezu aufdrängt. Das ist hier nicht der Fall. Das Verwaltungsgericht durfte vielmehr ersichtlich von einer weiteren Aufklärung des Sachverhalts, wie sie der Kläger für nötig hält, absehen. Nach der insoweit maßgeblichen Rechtsauffassung des Gerichts berührten nämlich die behaupteten Sachverhalte bei der Arbeitsaufnahme in C. nicht die Rechtmäßigkeit der Zuweisungsverfügung, sondern konnten nur zu der Obliegenheit des Klägers führen, auf Abhilfe zu dringen.
323. Die Berufung kann ferner nicht nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zugelassen werden.
33Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung im Sinne dieser Vorschrift, wenn sie eine konkrete noch nicht geklärte Rechts- oder Tatsachenfrage aufwirft, deren Beantwortung sowohl für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war als auch für die Entscheidung im Berufungsverfahren erheblich sein wird, und die über den konkreten Fall hinaus wesentliche Bedeutung für die einheitliche Anwendung oder Weiterentwicklung des Rechts hat. Zur Darlegung des Zulassungsgrundes ist die Frage auszuformulieren und substantiiert auszuführen, warum sie für klärungsbedürftig und entscheidungserheblich gehalten und aus welchen Gründen ihr Bedeutung über den Einzelfall hinaus zugemessen wird.
34Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 13. Februar 2018– 1 A 2517/16 –, juris, Rn. 32, und vom 13. Oktober 2011 – 1 A 1925/09 –, juris, Rn. 31 f., m. w. N.
35In Anwendung dieser Grundsätze liegen die Voraussetzungen für eine Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache nicht vor.
36Der Kläger hat als grundsätzlich bedeutsam allein die Rechtsfrage aufgeworfen,
37„ob einem schwerbehinderten Beamten zuzumuten ist, die Zuweisung eines neuen Dienstpostens hinzunehmen, auf dem keine Tätigkeiten zu verrichtenoder ausübbar sind, die zu einer amtsangemessenen sowie leidens- und behindertengerechten Beschäftigung des schwerbehinderten Beamten führen bzw. führen können, weil der vorgesehenen Beschäftigung betriebs- und amtsärztliche Feststellungen zur eingeschränkten Verwendbarkeit des schwerbehinderten Beamten entgegenstehen“.
38Mit der dieser Frage lediglich beigefügten Erläuterung, "streitentscheidend" sei "die Auslegung der Reichweite tatbestandlicher Voraussetzungen und Rechtsfolgen gemäß § 4 Abs. 4 PostPersRG", verfehlt der Kläger schon die Anforderungen an eine hinreichende Darlegung. Er erläutert hiermit nämlich nicht einmal ansatzweise, warum die aufgeworfene Frage klärungsbedürftig und entscheidungserheblich sein und aus welchen Gründen ihr Bedeutung über den Einzelfall hinaus zukommen soll. Unabhängig davon könnte diese Frage auch bei hinreichender Darlegung nicht zu der begehrten Zulassung der Berufung führen. Sie ist nämlich bei notwendiger Wahrung des Fallbezuges für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht von Bedeutung gewesen. Nach dessen insoweit maßgeblicher Rechtsauffassung berührten nämlich die behaupteten Sachverhalte und der vom Kläger hieraus gezogene rechtliche Schluss, ihm werde auf der Grundlage der Zuweisungsverfügung bei der DT KS GmbH am Standort C. keine amtsangemessene und leidensgerechte Tätigkeit ermöglicht, nicht die Rechtmäßigkeit der im vorliegenden Verfahren allein streitgegenständlichen Zuweisungsverfügung.
394. Mit Blick auf sämtliche vorstehenden Ausführungen weist die Rechtssache schließlich auch nicht die behaupteten tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten i. S. v. § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO auf; namentlich können die Erfolgsaussichten des angestrebten Rechtsmittels danach nicht schon als offen bezeichnet werden.
40Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
41Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf den §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 und 2 GKG.
42Dieser Beschluss ist hinsichtlich der Streitwertfestsetzung nach §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG und im Übrigen gemäß § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar. Das angefochtene Urteil ist nunmehr rechtskräftig, § 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO.
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1Gründe:
2Der Berufungszulassungsantrag ist unbegründet.
3Die Berufung ist nicht gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i. V. m. § 138 Nr. 3 VwGO wegen des geltend gemachten Verfahrensfehlers der Verletzung rechtlichen Gehörs zuzulassen. Einen Gehörsverstoß hat der Kläger nicht dargelegt.
4Das Verwaltungsgericht hat den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) nicht dadurch verletzt, dass es in seiner Abwesenheit über die Klage verhandelt und diese abgewiesen hat. Der vier Tage vor der mündlichen Verhandlung übersandte Verlegungsantrag musste das Verwaltungsgericht nicht zur Aufhebung des Termins veranlassen. Er beinhaltete keine ausreichenden Anhaltspunkte, die es dem Gericht ermöglicht hätten, die Frage der Verhandlungsunfähigkeit des Klägers selbst zu beurteilen.
5Eine Terminsänderung nach § 173 VwGO i. V. m. § 227 Abs. 1 ZPO setzt voraus, das hierfür "erhebliche Gründe" vorliegen. Dies sind nur solche Umstände, die auch und gerade zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs eine Zurückstellung des im Falle der Aufhebung bzw. Verlegung des Termins berührten Beschleunigungs- und Konzentrationsgebotes erfordern.
6Vgl. BVerwG, Beschluss vom 20. April 2017- 2 B 69.16 -, Buchholz 235.1 § 52 BDG Nr. 8= juris Rn. 7 ff.,
7Ein ausreichender Grund kann unter anderem darin liegen, dass ein Beteiligter oder sein Prozessbevollmächtigter erkrankt sind. Jedoch ist nicht jegliche Erkrankung ein ausreichender Grund für eine Terminsverlegung; eine solche ist vielmehr nur dann geboten, wenn die Erkrankung so schwer ist, dass die Wahrnehmung des Termins nicht erwartet werden kann.
8Vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. Januar 1999- 8 B 186.98 -, NVwZ-RR 1999, 408 f.
9Der die Aufhebung oder Verlegung fordernde Verfahrensbeteiligte muss den Grund für seine Verhinderung angegeben und hinreichend substantiieren, damit das Gericht ohne weitere Nachforschungen selbst beurteilen kann, ob Verhandlungs- bzw. Reiseunfähigkeit besteht.
10Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 22. Mai 2001- 8 B 69.01 -, NJW 2001, 2735 = juris Rn. 5., und vom 20. April 2017 - 2 B 69.16 - , juris Rn. 9.
11Hier hatte der Prozessbevollmächtigte des Klägers mit Schriftsatz vom 25. September 2020 im Hinblick auf den am 29. September 2020 stattfindenden Verhandlungstermin lediglich geltend gemacht, dass der Kläger am Vortag in der Kanzlei vorgesprochen und auf einen offensichtlich geschienten Arm verwiesen habe. Er habe mitgeteilt, dass er am 25. September 2020 operiert werde und daher den Termin am 29. September 2020 nicht wahrnehmen könne. Weiterhin heißt es in dem Schriftsatz: „Gegebenenfalls wird gebeten, eine Vertagung vorzunehmen. Sobald mir Näheres über die Dauer des Krankenhausaufenthalts vorliegt, werde ich mich melden.“ Mit noch am selben Tag versandtem Schreiben teilte der Richter dem Prozessbevollmächtigten mit, dass ohne ein aussagekräftiges Attest, in dem die Reise- und/oder Verhandlungsunfähigkeit des Klägers bescheinigt werde, dem Antrag auf Terminsverlegung nicht entsprochen werden könne. Ein solches ist für den Kläger bis zum 29. September 2020 und auch in der mündlichen Verhandlung nicht vorgelegt worden. Im Übrigen enthält der Verlegungsantrag auch keine nähere Begründung dafür, warum dem Kläger die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung krankheitsbedingt nicht möglich gewesen sein soll, da Art und Umfang der anstehenden Operation darin nicht angegeben sind. Erst mit dem Antrag auf Zulassung der Berufung und damit verspätet hat der Kläger einen Arztbericht der T. Krankenhaus S. gGmbH - Unfallchirurgie - vom vorgelegt, dem sich entnehmen lässt, dass er sich dort am 29. und 30. in stationärer Behandlung befunden hat.
12Ebenso wenig verhilft die pauschale Rüge einer nicht ordnungsgemäßen Aufklärung des Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht (§ 86 Abs. 1 VwGO) dem Zulassungsantrag zum Erfolg. Aufklärungsmängel begründen grundsätzlich weder einen Gehörsverstoß noch gehören sie zu den sonstigen Verfahrensmängeln im Sinne der § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG, § 138 VwGO. Nur in Ausnahmefällen kann in der Unterlassung weiterer Aufklärung des Sachverhalts zugleich eine Versagung des rechtlichen Gehörs liegen. Der Kläger legt aber keine Umstände dar, nach denen dies hier der Fall wäre. Es fehlt bereits an einer hinreichenden Konkretisierung derjenigen Umstände, die der Kläger - außer seiner Befragung in der mündlichen Verhandlung - für aufklärungsbedürftig erachtet. Insoweit genügen die abstrakten Ausführungen auf Seite 2 des Zulassungsantrags nicht.
13Soweit der Kläger ausschließlich im Rubrum des angefochtenen Urteils versehentlich mit „Frau T1. S1. “ bezeichnet ist, handelt es sich um einen offensichtlichen Schreibfehler. Sowohl im Tenor als auch im Tatbestand und den Entscheidungsgründen werden korrekt die männlichen Bezeichnungen verwandt.
14Eine Wertung des Inhalts, dass „Christen im Iran, insbesondere wenn sie vom bisherigen Islamglauben zum Christentum gewechselt sind, keiner Beeinträchtigung ausgesetzt seien“, hat das Verwaltungsgericht nicht getroffen. Im Übrigen beträfe sie den der Gehörsrüge entzogenen Bereich der Tatsachen- und Beweiswürdigung (§ 108 Abs. 1 VwGO).
15Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.
16Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).
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Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen Nr. 1 des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen vom 27. Mai 2020 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
1G r ü n d e :
2Die Beschwerde gegen Nr. 1 des Beschlusses des Verwaltungsgerichts vom 27. Mai 2020, mit dem dieses den Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Klageverfahren unter anderem mangels hinreichender Aussicht auf Erfolg (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Satz 1 ZPO) abgelehnt hat, hat keinen Erfolg.
3Hinreichende Aussicht auf Erfolg bedeutet bei einer an Art. 3 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 3 und Art. 19 Abs. 4 GG orientierten Auslegung des Begriffs einerseits, dass Prozesskostenhilfe nicht erst und nur dann bewilligt werden darf, wenn der Erfolg der beabsichtigten Rechtsverfolgung gewiss oder überwiegend wahrscheinlich ist, andererseits aber auch, dass Prozesskostenhilfe versagt werden darf, wenn ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, die Erfolgschance aber nur eine entfernte ist. Die Prüfung der Erfolgsaussichten eines Rechtsschutzbegehrens darf dabei nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe vorzuverlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Das Prozesskostenhilfeverfahren will den grundrechtlich garantierten Rechtsschutz nicht selbst bieten, sondern zugänglich machen. Schwierige, bislang nicht geklärte Rechts- und Tatsachenfragen dürfen nicht im Prozesskostenhilfeverfahren geklärt werden.
4Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 12. Oktober 2020 ‑ 8 E 785/20 -, juris Rn. 2 f., m. w. N.
5Gemessen daran bietet die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Der Kläger wendet sich gegen die Errichtung des Pollers in der Friedrich-Ebert-Straße an sich und die damit verbundenen Auswirkungen und will diesen wieder beseitigt haben. Dabei geht es ihm nicht um eine Durchfahrtmöglichkeit mit Kraftfahrzeugen für sich selbst, weil er nach seinen Angaben nicht über ein eigenes Kraftfahrzeug verfügt. Er macht vielmehr geltend, als Fußgänger an dieser Stelle gefährdet zu werden, weil Autofahrer den Poller überführen, den Bürgersteig zur Umfahrung nutzten und wegen des Pfostens regelmäßig gefährliche Wendemanöver durchführten. Für dieses Begehren steht ihm keine Klagebefugnis gemäß § 42 Abs. 2 VwGO zu.
6Nach dieser Vorschrift ist eine Anfechtungsklage, soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, nur zulässig, wenn der Kläger geltend machen kann, durch den Verwaltungsakt in seinen Rechten verletzt zu sein.
7Die Verletzung eigener Rechte muss auf der Grundlage des Klagevorbringens möglich erscheinen. Diese Möglichkeit ist dann auszuschließen, wenn offensichtlich und nach keiner Betrachtungsweise subjektive Rechte des Klägers verletzt sein können. Da der Kläger nicht Adressat der von ihm angefochtenen Errichtung des Pollers ist, kommt es darauf an, ob er sich für sein Begehren auf eine öffentlich-rechtliche Norm stützen kann, die nach dem in ihr enthaltenen Entscheidungsprogramm auch ihn als Dritten schützt.
8Vgl. OVG NRW, Urteil vom 23. September 2020 ‑ 8 A 1161/18 -, juris Rn. 50 f., m. w. N.
9Derartige subjektive Abwehrrechte liegen hier nicht vor, und zwar unabhängig davon, ob man in der Errichtung des Pollers eine straßenverkehrsrechtliche Anordnung oder eine straßenrechtliche Teileinziehung sieht.
10Sollte es sich bei der Errichtung des Pollers um eine straßenverkehrsrechtliche Maßnahme zur Verbesserung der Verkehrssicherheit handeln, wovon die Beklagte ausgeht, ist zwar fraglich, ob er eine ordnungsgemäß markierte Verkehrseinrichtung im Sinne von § 43 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 StVO i. V. m. Anlage 4 zur StVO darstellt, weil der nach den insoweit unbestrittenen Angaben des Klägers orange-weiße („orange mit kleinen weißen Streifen im oberen Bereich“), überfahrbare Gummipoller entgegen der Vorgabe in § 43 Abs. 1 Satz 1 StVO nicht rot-weiß gestreift ist.
11Vgl. zu straßenverkehrsrechtlichen Sperrpfosten OVG Bremen, Beschluss vom 15. Januar 2018 ‑ 1 LA 265/16 -, juris Rn. 21; Lafontaine, in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, Stand: 9. Juni 2020, § 43 StVO, Rn. 20.
12Diese Farbvorgabe dient dazu, Verkehrsteilnehmer vor den in § 43 Abs. 1 Satz 1 StVO genannten Schranken, Sperrpfosten, Absperrgeräten und Leiteinrichtungen optisch zu warnen, damit diese Verkehrseinrichtungen ihre verkehrslenkende Funktion erfüllen können und es nicht zu Kollisionen zwischen ihnen oder Hindernissen und Fahrzeugen kommt. Die Farbgestaltung solcher Verkehrseinrichtungen bezweckt demgegenüber jedoch nicht den Schutz anderer Verkehrsteilnehmer oder Anwohner, die befürchten, durch Kraftfahrer gefährdet zu werden, die eine solche Verkehrseinrichtung bemerkt haben und versuchen, ihr durch verkehrsordnungswidriges Verhalten auszuweichen.
13Entsprechendes gilt für die allgemeinen Regelungen in der Straßenverkehrs-Ordnung, die für die Beschränkung des Verkehrs auf Straßen durch straßenverkehrsrechtliche Maßnahmen gelten (§ 45 Abs. 1 Satz 1, Abs. 9 StVO).
14Es kann offen bleiben, ob etwas anderes dann gilt, wenn verkehrswidrige und Fußgänger gefährdende Reaktionen anderer Verkehrsteilnehmer regelmäßig und unmittelbar kausal auf die Errichtung des Pollers zurückzuführen wären. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass dies hier (in einer gegebenenfalls weiter aufzuklärenden Weise) der Fall sein könnte, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich und drängen sich nach Aktenlage auch nicht auf. Es ist nicht erkennbar, dass die von der Beklagten durch die Errichtung des Pollers geschaffene Verkehrsführung in einer Weise sachwidrig wäre, dass dadurch regelmäßig vorhersehbares Fehlverhalten von Verkehrsteilnehmern mit Gefährdungen anderer Verkehrsteilnehmer provoziert würde, zumal nach Aktenlage beidseits des Pollers in einiger Entfernung auf der Friedrich-Ebert-Straße und auf der Hammer Straße Verkehrszeichen aufgestellt worden sind, die auf eine Sackgasse (Zeichen 357 der Anlage 3 zu § 42 Abs. 2 StVO) und ein außer für Radfahrer und Anlieger geltendes Verbot (Zeichen 250 der Anlage 2 zu § 41 Abs. 1 StVO) hinweisen.
15Sollte die Errichtung des Pollers als Teileinziehung der Straße anzusehen sein, wovon der Kläger ausgeht, kann er sich ebenfalls nicht dagegen wenden. Denn es besteht grundsätzlich kein Rechtsanspruch auf die Aufrechterhaltung des Gemeingebrauchs an einer Straße (so ausdrücklich § 14 Abs. 1 Satz 2 StrWG NRW).
16Vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Juni 2009 - 1 BvR 198/08 -, juris Rn. 18, 23; Nds. OVG, Beschluss vom 24. Januar 2018 - 7 ME 110/17 -, juris Rn. 6; Bay. VGH, Beschluss vom 8. August 2011 - 8 CS 11.1177 -, juris Rn. 11; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16. Juli 1992 - 5 S 650/92 -, juris Rn. 22 ff., und Beschluss vom 22. Februar 1999 - 5 S 172/99 -, juris Rn. 4.
17Die Erschließung und Erreichbarkeit des Wohnhauses ist durch die bloße Unterbindung des Durchgangsverkehrs unstreitig nicht in Frage gestellt. Vor Zufahrterschwernissen schützt auch das Recht auf Anliegergebrauch (vgl. § 14a StrWG NRW) nicht.
18Vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 11. Mai 1999 ‑ 4 VR 7.99 -, juris Rn. 7.
19Ob der Bewilligung von Prozesskostenhilfe auch – wie das Verwaltungsgericht angenommen hat – Mutwilligkeit gemäß § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 ZPO entgegensteht, kann vor diesem Hintergrund dahinstehen.
20Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 154 Abs. 2, 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 127 Abs. 4 ZPO.
21Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
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Tenor
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Münster vom 27. Oktober 2020 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Entscheidung an das Verwaltungsgericht Münster zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts vorbehalten.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 5.000 Euro festgesetzt.
Gründe:
1Die zulässige Beschwerde hat nach Maßgabe des Entscheidungstenors Erfolg. Die Sache ist in entsprechender Anwendung von § 130 Abs. 2 Nr. 2 VwGO unter Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen.
2Vgl. zur Zulässigkeit der Zurückverweisung im Beschwerdeverfahren bei Entscheidungen gemäß §§ 80, 80a und 123 VwGO BayVGH, Beschluss vom 15. April 2020 - 11 CS 20.316 -, juris, Rn. 11; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 2. Juni 2017 ‑ NC 9 S 1244/17 -, juris, Rn. 1; OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 12. Dezember 2009 - 3 M 392/09 -, juris, Rn. 2; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 22. April 2009 - 1 M 22/09 -, juris, Rn. 20.
3Die Voraussetzungen des § 130 Abs. 2 Nr. 1 VwGO liegen vor, weil das Verwaltungsgericht noch nicht in der Sache entschieden und die Antragstellerin die Zurückverweisung beantragt hat. An der Sachentscheidung fehlt es, weil das Verwaltungsgericht den ordnungsgemäß gestellten Antrag der Antragstellerin zu Unrecht bereits mit der Begründung abgelehnt hat, diese habe nicht glaubhaft gemacht, sich innerhalb der Ausschlussfrist des § 23 Abs. 6 Satz 1 StudienplatzVVO NRW ordnungsgemäß um eine außerkapazitäre Zulassung zum Studium beworben zu haben.
4Das Erfordernis der Glaubhaftmachung folgt aus der Verweisung des § 123 Abs. 3 VwGO auf § 920 Abs. 2 ZPO. Daraus folgt aber nicht, dass im Verfahren nach § 123 VwGO der Beibringungsgrundsatz des Zivilprozesses gilt. Wie im Verfahren nach § 80 Abs. 5, § 80 a Abs. 3 VwGO findet auch im Anordnungsverfahren nach § 123 VwGO der Untersuchungsgrundsatz entsprechend § 86 VwGO Anwendung. Insoweit gelten zwar Mitwirkungspflichten der Beteiligten, wenn das Gericht eine weitere Sachverhaltsaufklärung für erforderlich hält und sich der Sachverhalt nur auf Grund entsprechender Beiträge der Beteiligten aufklären lässt. Kommen diese ihren Mitwirkungspflichten nicht nach oder bestehen Unklarheiten im Übrigen, darf das Verwaltungsgericht den Antrag aber nicht deshalb ablehnen. Vielmehr ist es verpflichtet, die ihm im Rahmen des Eilverfahrens zu Gebote stehenden Möglichkeiten einer Aufklärung des für seine Entscheidung maßgeblichen Sachverhalts auszuschöpfen.
5Vgl. zu alldem Puttler, in: Sodan/Ziekow, Verwaltungsgerichtsordnung, 5. Auflage 2018, § 123 VwGO Rn. 90 ff.; Funke-Kaiser, in: Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, Verwaltungsgerichtsordnung, 7. Auflage 2018, § 123 Rn. 31; Schoch, in: Schoch/Schneider, VwGO, Werkstand: 39. EL Juli 2020, § 123 VwGO Rn. 95a; zur Bedeutung der Sachaufklärungspflicht in hochschulzulassungsrechtlichen Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes BVerfG, Beschluss vom 31. März 2004 - 1 BvR 356/04 -, juris,
6Diesen Maßgaben hat das Verwaltungsgericht nicht entsprochen. Die Antragstellerin hatte in ihrer am 11. September 2020 beim Verwaltungsgericht eingegangenen Antragsschrift vorgetragen, sich außerhalb der festgesetzten Zulassungszahl um den beantragten Studienplatz beworben zu haben. Zudem hatte sie ihrem Antrag diverse Unterlagen, u.a. eine nicht unterschriebene Kopie (weil Doppel) des an die Antragsgegnerin gerichteten Antrags auf Zulassung zum Studium außerhalb der festgesetzten Kapazität vom 9. September 2020 beigefügt (Gerichtsakte Bl. 18). Den fristgerechten Eingang des Antrags bei der Antragsgegnerin hätte die Antragstellerin nicht problemlos belegen können. Nach Auskunft der Antragstellerin, an deren Richtigkeit keine Zweifel bestehen, bestätigt die Antragsgegnerin den (fristgerechten) Eingang außerkapazitärer Zulassungsanträge nämlich nicht. Das Verwaltungsgericht hätte auch deshalb bei begründeten Zweifeln am rechtzeitigen Eingang des Antrags die Verwaltungsvorgänge der Antragsgegnerin anfordern oder dort Rückfrage nehmen müssen. Die Aufklärung von Amts wegen hat es unterlassen, obwohl eine solche problemlos und ohne maßgebliche zeitliche Verzögerung möglich gewesen wäre.
7Bei dieser Ausgangslage ist der von der Antragstellerin beantragten Zurückverweisung zu entsprechen. Sie erscheint angesichts der in hochschulzulassungsrechtlichen Verfahren zur gebotenen Aufklärung des Sachverhalts regelmäßig erforderlichen umfangreichen Ermittlungen und mit Blick auf die Aufgabenverteilung zwischen der Beschwerde- und Eingangsinstanz auch unter prozessökonomischen Gesichtspunkten sachgerecht. Zudem vermeidet sie eine Verkürzung des Rechtswegs.
8Vgl. zu diesen Erwägungen VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 2. Juni 2017 ‑ NC 9 S 1244/17 ‑, juris, Rn. 7.
9Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG.
10Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
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Tenor
Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Köln vom 3. Dezember 2020 wird mit Ausnahme des Streitwertbeschlusses geändert. Die aufschiebende Wirkung einer noch zu erhebenden Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 30. November 2020 wird mit der Maßgabe angeordnet, dass maximal 200 Personen gleichzeitig an der von der Antragstellerin angemeldeten Versammlung teilnehmen dürfen.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 5.000,- Euro festgesetzt.
1Gründe:
2Die Beschwerde der Antragstellerin mit dem Antrag,
3den Beschluss des Verwaltungsgerichts Köln vom 3. Dezember 2020 abzuändern und die aufschiebende Wirkung der noch zu erhebenden Anfechtungsklage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 30. November 2020 anzuordnen,
4hat mit der aus dem Tenor ersichtlichen Maßgabe Erfolg. Die in der Beschwerdebegründung dargelegten Gründe führen zu einer Änderung der angefochtenen Entscheidung.
51. Bei der im vorliegenden Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung spricht Überwiegendes für die Rechtswidrigkeit der Ordnungsverfügung, mit der die Antragsgegnerin für die auf dem Roncalliplatz am 5. Dezember 2020 angemeldete Versammlung unter dem Motto „Abrüstung statt Aufrüstung“ eine Beschränkung der Teilnehmerzahl auf 100 Personen verfügt hat. Die im Rahmen des Antrags nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung fällt zugunsten der Antragstellerin aus, weil ihr privates Suspensivinteresse das öffentliche Vollzugsinteresse überwiegt.
6Die von der Antragsgegnerin auf Grundlage von § 16 Satz 2 CoronaSchVO i. V. m. § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2, § 28 a Abs. 1 Nr. 10 IfSG im Ermessenswege verfügte Anordnung muss unter Infektionsschutzgesichtspunkten notwendig sein. Unter strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, der insbesondere die Beachtung sämtlicher Umstände des Einzelfalls einschließlich des aktuellen Stands des dynamischen und tendenziell volatilen Infektionsgeschehens erforderlich macht, können zum Zweck des Schutzes vor Infektionsgefahren auch versammlungsbeschränkende Maßnahmen ergriffen werden. In Betracht kommen namentlich Auflagen mit der Verpflichtung zur Einhaltung bestimmter Mindestabstände, aber auch Beschränkungen der Teilnehmerzahl, um eine Unterschreitung notwendiger Mindestabstände zu verhindern, zu der es aufgrund der Dynamiken in einer großen Menschenmenge oder des Zuschnitts und Charakters einer Versammlung im Einzelfall selbst dann kommen kann, wenn bezogen auf die erwartete Teilnehmerzahl eine rein rechnerisch hinreichend groß bemessene Versammlungsfläche zur Verfügung steht.
7Vgl. BVerfG, Beschluss vom 30. August 2020 ‑ 1 BvQ 94/20 -, juris Rn. 16.
8Ausgehend davon rechtfertigt das Beschwerdevorbringen die Annahme, dass die ausgesprochene Beschränkung auch unter Berücksichtigung der aktuellen Pandemieentwicklung voraussichtlich einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Versammlungsfreiheit der Antragstellerin darstellt. Aus Infektionsschutzgründen (insbesondere zur Einhaltung des Mindestabstands) ist eine Teilnehmerbegrenzung auf 100 Personen nicht erforderlich. Der Senat legt dabei nach Auswertung des in den Verwaltungsvorgängen enthaltenen Kartenmaterials und der Darstellungen auf googlemaps sowie mit der eigenen Ortskunde zugrunde, dass auf dem Roncalliplatz eine Freifläche von mindestens 1.500 qm für die Versammlungsteilnehmerinnen und -teilnehmer verbleibt; dabei sind die vorhandene Baustelle, Feuerwehrstellflächen und-zufahrten, Wegbereiche für den allgemeinen Passantenverkehr sowie Flächen für Infostände und den LKW, der bei der Versammlung als Bühne genutzt werden soll, in Abzug gebracht worden. Dies dürfte im Wesentlichen auch der Annahme der Antragsgegnerin entsprechen, die ohne nähere Angaben zur Flächennutzung und-aufteilung eine verfügbare Gesamtfläche von „weniger als 2.000 qm für eine Versammlung“ zugrunde legt. Auch zum Vorbringen der Antragstellerin besteht im Hinblick auf die tatsächlichen Verhältnisse kein greifbarer Widerspruch. Die von ihr vorgetragene Größe des Platzes von mehr als 3.000 qm ist im Grundsatz zutreffend, berücksichtigt aber nicht die genannten, in Abzug zu bringenden Flächen.
9Zur unbedenklichen Bewältigung des Passantenverkehrs erscheint ausreichend, einen mehrere Meter breiten Korridor über den Platz (etwa unmittelbar neben dem Bauzaun und an der Domseite) freizuhalten. Unmittelbar am Roncalliplatz, der an drei Seiten durch den Dom, die Baustelle eines Hotels und das (derzeit geschlossene) Römisch-Germanische Museum begrenzt wird, befinden sich keine Geschäfte. Das Fußgängeraufkommen, bei dem es sich also im Wesentlichen um Passanten ohne Verweilabsicht handelt, war etwa am vergangenen Samstag, dem 29. November 2020, in den Nachmittagsstunden ausweislich der Fotos, die von der Webcam am Roncalliplatz aufgenommen wurden, überschaubar.
10Abrufbar unter (Stand: 4. Dezember 2020).
11Auch am „Black Friday“, dem 27. November 2020, an dem in der Innenstadt eine besonders hohe Menschendichte zu verzeichnen war, war der Roncalliplatz vergleichsweise wenig frequentiert.
12Abrufbar unter (Stand: 4. Dezember 2020).
13Dies spricht dafür, dass der Platz, der zwischen Dom und Altstadt liegt, von Personen, die Einkäufe in der Innenstadt erledigen, typischerweise nicht überquert wird. Er liegt zwar in unmittelbarer Nähe der Einkaufsstraße „Hohe Straße“, stellt aber keinen klassischen „Zubringer“ zu dieser dar. Überwiegend dürfte der Platz der fußläufigen Verbindung vom Hauptbahnhof in die Altstadt dienen. Da die dort ganz überwiegend vorhandenen Gaststätten und Kneipen aber derzeit geschlossen sind, ist auch von einem reduzierten Passantenstrom auszugehen.
14Es ist nicht ersichtlich, dass die damit zur Verfügung stehende Fläche von etwa 1.500 qm nur für eine Versammlung von maximal 100 Menschen unter Einhaltung der Mindestabstände von 1,5 m ausreicht. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass eine Kundgebung niemals völlig statisch ablaufen wird. Pro Person werden damit 15 qm Fläche verlangt, was im Hinblick auf den infektionsschutzrechtlich gebotenen Abstand zueinander - bei zunächst rein rechnerischer Betrachtung - nicht erforderlich ist, zumal bei Veranstaltungen unter freiem Himmel.
15Es liegen auch sonst keine besonderen Umstände vor, die angesichts des grundsätzlich ausreichenden Platzangebots auf dem Roncalliplatz eine Beschränkung der Teilnehmerzahl auf 100 Menschen rechtfertigen würden. Soweit die Antragsgegnerin darauf verweist, dass sich eine „Handhabung der Kundgebungen […] für die Einsatzkräfte vor Ort ab einer Personenzahl von etwa 100 als nicht mehr umsetzbar erwiesen [habe]“, nimmt sie damit offenbar die Handreichung der Versammlungsbehörde vom 23. November 2020 in Bezug. Die dort getroffene Aussage, ab etwa 100 Personen sei eine wirksame Durchsetzung der Infektionsschutzauflagen nicht mehr möglich, bezieht sich allerdings auf Versammlungen von „Corona-Leugnern“, die Auflagen nur äußerst zögerlich oder grundsätzlich nicht beachteten. Indes ist vorliegend unstreitig, dass entsprechende Anhaltspunkte im Hinblick auf die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der streitgegenständlichen Versammlung nicht vorliegen. Die Antragstellerin hat sich im Rahmen der versammlungsrechtlichen Kooperation ausweislich des Bestätigungsbescheides des Polizeipräsidiums L. vom 9. November 2020 u. a. vielmehr ausdrücklich zu Maßnahmen bereit erklärt, mit denen die Einhaltung des Mindestabstands von 1,5 m gewährleistet werden soll. Dazu gehören u. a. das Anbringen von Bodenmarkierungen auf der Versammlungsfläche, der verstärkte Einsatz von Ordnern und Ordnerinnen und die Vorabinformation an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, den Kundgebungsort nicht in Gruppen von mehr als zwei Personen zu betreten.
16Auch im Übrigen bieten Charakter und Zuschnitt der Versammlung keinen Anhalt für die Annahme, dass die verfügte Reduktion der Teilnehmerzahl unter Infektionsschutzgesichtspunkten erforderlich ist. So handelt es sich angesichts des Mottos der Kundgebung „Abrüsten statt Aufrüsten“ nicht um eine Versammlungsthematik oder einen Teilnehmerkreis, bei dem mit einer Mobilisierung einer „Gegenseite“ oder verbalen oder sonstigen Auseinandersetzungen mit Passantinnen und Passanten zu rechnen ist.
17Die vorgenommene Teilnehmerbeschränkung lässt sich mit Blick auf die besondere Bedeutung der grundrechtlich verbürgten Versammlungsfreiheit auch nicht damit rechtfertigen, dass die aus einer Benutzung des ÖPNV durch Veranstaltungsteilnehmerinnen und -teilnehmer resultierende Ansteckungsgefahr reduziert wird. Die Antragstellerin hat eine Teilnehmerzahl von 300 Personen angemeldet. Dass eine solche Personenzahl - selbst bei unterstellter Inanspruchnahme des ÖPNV durch den überwiegenden Teil der Teilnehmerinnen und Teilnehmer - eine infektionsschutzrechtlich relevante Mehrbelastung der Straßenbahnen, Busse und S-Bahnen in Köln mit sich bringt, ist angesichts der sonstigen Besucherströme, der Größe der Stadt und der vorhandenen Infrastruktur fernliegend. Dies gilt insbesondere unter Berücksichtigung des Umstands, dass der Versammlungsort fußläufig vom Hauptbahnhof und zahlreichen anderen zentralen und häufig angefahrenen Haltestellen liegt. Im Übrigen dürfte mit einer Anreise von weit entfernt lebenden Personen nicht in nennenswertem Umfang zu rechnen sein. Die Veranstaltung ist Teil eines bundesweiten Aktionstages am 5. Dezember 2020, der dezentral organisiert ist. Auch im unmittelbaren Umkreis von Köln finden Veranstaltungen statt, so etwa in Aachen, Bonn, Düsseldorf und Dortmund.
18Abrufbar unter https://abruesten.jetzt/2020/11/ uebersicht-ueber-geplante-aktionen-fuer-den-5-12-2020/ (Stand: 4. Dezember 2020).
192. Um der Gefahr eines infektionsschutzrechtlich bedenklichen Teilnehmerzustroms zu der angemeldeten Versammlung zu begegnen, hat der Senat von seiner Befugnis nach § 80 Abs. 5 Satz 4 VwGO Gebrauch gemacht, die Anordnung der aufschiebenden Wirkung von einer Auflage abhängig zu machen.
20Der Begrenzung des Teilnehmerkreises auf 200 Personen liegt die Erwägung zugrunde, dass damit rechnerisch mindestens 7,5 qm pro Person zur Verfügung stehen, wobei noch außer Betracht bleibt, dass jedenfalls zwei Angehörige des gleichen Haushalts untereinander nicht zwingend den Abstand einhalten müssen. Dies stellt für den vorliegenden Einzelfall ohne Verbindlichkeitsanspruch für zukünftige Veranstaltungen und ausgehend von den im summarischen Verfahren nur beschränkten Erkenntnismöglichkeiten unter den gegebenen Umständen einen angemessenen Ausgleich zwischen dem öffentlichen Interesse an einem effektiven Infektionsschutz und der Versammlungsfreiheit der Antragstellerin dar. Die Berechnungen der Antragstellerin, die pro Person eine Fläche von nur 4 qm als ausreichend zugrunde legt, vernachlässigen nicht nur die Bewegungsabläufe in einer Versammlung, sondern auch den Umstand, dass die Teilnehmenden nicht als Messpunkte betrachtet werden können, sondern einen gewissen Raum benötigen. Ausgehend davon ist die Einhaltung der Mindestabstände jedenfalls bei einer Fläche von 4 qm pro Person unrealistisch.
21Es ist auch davon auszugehen, dass eine Begrenzung der Teilnehmerzahl auf 200 Personen unter Einhaltung der Mindestabstände praktisch umsetzbar ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass im Umfeld des Roncalliplatzes für den Fall, dass teilnahmewillige Personen zurückgewiesen werden müssen, noch genügend „Pufferzonen“ zur Verfügung stehen (etwa rings um den Dom). Aufgrund der zahlreichen Zugangsmöglichkeiten zum Platz ist schließlich nicht mit einer „Flaschenhalssituation“ bei der Ankunft der Versammlungsteilnehmerinnen und -teilnehmer zu rechnen.
22Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
23Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2, § 53 Abs. 2Nr. 2 GKG.
24Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 880,90 Euro festgesetzt.
1G r ü n d e
2Der auf die Zulassungsgründe nach § 124 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 3 und Nr. 4 VwGO gestützte Antrag hat keinen Erfolg.
3Die Berufung ist gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 und Abs. 5 Satz 2 VwGO nur zuzulas-sen, wenn einer der Gründe des § 124 Abs. 2 VwGO innerhalb der Begründungsfrist dargelegt ist und vorliegt. Dabei bedeutet „darlegen“ i. S. v. § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO, unter konkreter Auseinandersetzung mit dem angefochtenen Urteil fallbezogen zu erläutern, weshalb die Voraussetzungen des jeweils geltend gemachten Zulassungsgrundes im Streitfall vorliegen sollen. Das Oberverwaltungsgericht soll allein aufgrund der Zulassungsbegründung die Zulassungsfrage beurteilen können, also keine weiteren aufwändigen Ermittlungen anstellen müssen.
4Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 18. Oktober 2013
5– 1 A 106/12 –, juris, Rn. 2 m. w. N.
6Hiervon ausgehend rechtfertigt das fristgerechte Zulassungsvorbringen des Klägers die begehrte Zulassung der Berufung aus keinem der geltend gemachten Zulassungsgründe. Soweit es den Anforderungen an die Darlegung dieser Gründe genügt, greift es in der Sache nicht durch.
7Das Verwaltungsgericht hat zur Begründung seiner klageabweisenden Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt: Der Kläger habe keinen Anspruch auf die begehrten weiteren Beihilfeleistungen zu den Arzneimitteln. Aufwendungen für nichtverschreibungspflichtige apothekenpflichtige und nicht apothekenpflichtige Arzneimittel seien gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 7 Satz 2 der Verordnung über Beihilfen in Geburts-, Krankheits-, Pflege- und Todesfällen vom 5. November 2009 in der Fassung der Vierten Verordnung zur Änderung der Beihilfeverordnung NRW vom 15. November 2013 (GV. NRW. S. 644) – BVO NRW – nicht beihilfefähig. Soweit ihm die streitgegenständlichen Aufwendungen für Arzneimittel der besonderen Therapierichtungen entstanden seien, stehe der Gewährung von Beihilfen der Ausschlusstatbestand des § 4 Abs. 1 Nr. 7 Satz 5 BVO NRW entgegen. Der ausnahmslose Ausschluss der Arzneimittel der besonderen Therapierichtungen verstoße weder gegen den in Art. 3 Abs. 1 GG normierten Gleichheitsgrundsatz noch gegen die ebenfalls verfassungsrechtlich geschützte Fürsorgepflicht des Dienstherrn. Hinsichtlich der übrigen, ebenfalls nichtverschreibungspflichtigen Arzneimittel fehle es an dem für die Beihilfefähigkeit erforderlichen Eingreifen einer der in der BVO NRW normierten Rückausnahmen, etwa für Arzneimittel, die bei der Behandlung schwerwiegender Erkrankungen als Therapiestandard gelten (vgl. § 4 Abs. 1 Nr. 7 Satz 4 BVO NRW), oder infolge einer Ausnahmeentscheidung im Einzelfall. Dem Kläger stünden schließlich auch keine Beihilfen aus anderen rechtlichen Gesichtspunkten zu. Weder könne der Kläger aus dem am 14. Dezember 1989 vor dem Verwaltungsgericht in dem Verfahren 3 K 505/87 geschlossenen Vergleich einen Anspruch auf Anerkennung der streitgegenständlichen Aufwendungen für die durch den Heilpraktiker verschriebenen Arzneimittel herleiten noch ergebe sich ein solcher unter Vertrauensschutzgesichtspunkten.
8I. Die Berufung ist nicht wegen der geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen.
9Ernstliche Zweifel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO sind begründet, wenn zumindest ein einzelner tragender Rechtssatz der angefochtenen Entscheidung oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird und sich die Frage, ob die Entscheidung etwa aus anderen Gründen im Ergebnis richtig ist, nicht ohne weitergehende Prüfung der Sach- und Rechtslage beantworten lässt.
10Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 28. August 2018– 1 A 249/16 –, juris, Rn. 2, vom 9. Juli 2018 – 1 A 2592/17 –, juris, Rn. 2, vom 5. Januar 2017 – 1 A 2257/15 –, juris, Rn. 9 f., und vom 29. Januar 2016– 1 A 1862/14 –, juris, Rn. 3 f., jeweils m. w. N.
11Der Rechtsmittelführer muss darlegen, warum die angegriffene Entscheidung aus seiner Sicht unrichtig ist. Dazu muss er sich mit den entscheidungstragenden An-nahmen des Verwaltungsgerichts auseinander setzen und im Einzelnen darlegen, in welcher Hinsicht und aus welchen Gründen diese ernstlichen Zweifeln begegnen. Er muss insbesondere die konkreten Feststellungen tatsächlicher oder rechtlicher Art benennen, die er mit seiner Rüge angreifen will. Diesen Darlegungsanforderungen wird nicht genügt, wenn sich sein Vorbringen in einer Wiederholung des erstinstanzlichen Vortrags erschöpft, ohne im Einzelnen auf die Gründe der angefochtenen Entscheidung einzugehen.
12Vgl. Seibert, in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124a, Rn. 206 m. w. N.
131. Weite Teile des Zulassungsvorbringens des Klägers werden den vorgenannten Darlegungsanforderungen nicht gerecht.
14Soweit der Kläger sich in Abschnitt A. der Zulassungsbegründung darauf beschränkt, die Inhalte seiner erstinstanzlichen Schriftsätze wörtlich zu zitieren, fehlt es vollumfänglich an der im Zulassungsverfahren erforderlichen Auseinandersetzung mit den erstinstanzlichen Entscheidungsgründen. Insoweit legt das Zulassungsvorbringen bereits nicht dar, inwieweit diese Ausführungen zu ernstlichen Zweifeln an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils führen sollen.
15Des Weiteren fehlt es an einer hinreichenden Darlegung, soweit der Kläger einen Verstoß des Verwaltungsgerichts gegen den Amtsermittlungsgrundsatz geltend macht, weil dieses die nach seinem Vortrag schwerwiegenden Erkrankungen nicht hinreichend gewürdigt und aufgeklärt habe (vgl. Abschnitt B.4. der Zulassungsbegründung). Weder findet sich im Zulassungsvorbringen eine Auseinandersetzung mit der diesbezüglichen Argumentation des Verwaltungsgerichts noch wurde das Vorliegen des behaupteten Schweregrades an Erkrankungen im Zulassungsverfahren hinreichend glaubhaft gemacht. Die umfangreiche Wiedergabe des früheren Behandlungsverlaufs und der eingenommenen Medikamente ohne nähere Belege reicht hierfür nicht aus. Es ist nicht Aufgabe des Senats, die individuellen Nachweise für diesen sehr allgemein gehaltenen Vortrag zu suchen und die Argumente hierdurch zu vertiefen.
16Schließlich fehlt es auch bezüglich der Auffassung des Klägers, das erkennende Gericht habe die besondere Fürsorgepflicht des Dienstherrn aus einem weiteren Gesichtspunkt nicht hinreichend gewürdigt, indem es das Fehlen anerkannter wissenschaftlicher Behandlungsmethoden für die Erkrankung des Klägers verkannt habe, an einer Glaubhaftmachung und damit hinreichenden Darlegung des diesbezüglichen Vortrags in der Zulassungsbegründung (vgl. Abschnitt B.5.).
172. Soweit das Zulassungsvorbringen des Klägers den Anforderungen an die Darlegung genügt, greift es in der Sache nicht durch. Die vorstehenden Maßgaben zu-grunde gelegt, rechtfertigt es nicht die Annahme ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils.
18a) Dies gilt zunächst für das Vorbringen des Klägers, das Verwaltungsgericht habe sich zu Unrecht auf § 75 Abs. 8 Nr. 2 lit. c) LBG NRW bezogen, obwohl diese Vorschrift nur die Erstattungsfähigkeit von Aufwendungen für Untersuchungen und Behandlungen normiere, wohingegen die Erstattungsfähigkeit von Medikamenten in § 75 Abs. 8 Nr. 2 lit. d) LBG NRW geregelt sei.
19Auch wenn diese Differenzierung im Grundsatz zutreffend ist, folgen hieraus – anders als der Kläger meint – keine für ihn günstigeren Tatbestandsvoraussetzungen. Seine Annahme, das Fehlen der Einschränkung "nach wissenschaftlich nicht allgemein anerkannten oder unwirtschaftlichen Methoden" aus lit. c) in der hier einschlägigen lit. d) wirke sich für ihn günstig aus, trifft nicht zu. Im Gegenteil hat der Gesetzgeber § 75 Abs. 8 Nr. 2 lit. c) LBG NRW enger gefasst. Dies hat zur Folge, dass Beschränkungen oder Ausschlüsse von Aufwendungen für Untersuchungen und Behandlungen in den Beihilfevorschriften ausschließlich auf Grundlage wissenschaftlich nicht allgemein anerkannter oder unwirtschaftlicher Methoden bestimmt werden können. Demgegenüber enthält die Formulierung in § 75 Abs. 8 Nr. 2 lit. d) LBG NRW keine derartige Einschränkung auf bestimmte Formen an Beschränkungen und Ausschlüssen von Aufwendungen unter anderem für nicht verschreibungspflichtige oder verschreibungspflichtige Arzneimittel.
20Dies hat zur Folge, dass die wissenschaftlich nicht allgemein anerkannten oder unwirtschaftlichen Methoden auch einer der unbenannten Gründe in § 75 Abs. 8 Nr. 2 lit. d) LBG NRW sein können, die Erstattungsfähigkeit von Aufwendungen für nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel zu beschränken bzw. auszuschließen. Dass die BVO NRW entsprechendes in zulässiger Weise umsetzt, hat das Verwaltungsgericht ausführlich begründet und sich hierbei an der Rechtsprechung des Senats orientiert.
21Vgl. OVG NRW, Urteil vom 18. Mai 2018 – 1 A 1028/17 –, juris, Rn. 36.
22b) Auch das Vorbringen des Klägers, der Gesetzgeber habe die Beschränkungen und Ausschlüsse nicht in einer Rechtsverordnung, sondern im Landesbeamtengesetz selbst regeln müssen, um den vom Bundesverfassungsgericht aus Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG abgeleiteten Anforderungen gerecht zu werden, rechtfertigt entgegen der Auffassung des Klägers keine Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils sowie der Amtsermittlung des erstinstanzlichen Gerichts.
23Auch das beihilferechtliche Regelungssystem muss sich an dem Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes, der sich aus dem rechtsstaatlichen und demokratischen Verfassungssystem des Grundgesetzes (Art. 20 Abs. 1 und 3 GG) ergibt, messen lassen. Dieser Grundsatz verlangt, dass staatliches Handeln in bestimmten grundlegenden normativen Bereichen durch förmliches Gesetz legitimiert wird. Der parlamentarische Gesetzgeber ist verpflichtet, alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen, und darf sie nicht anderen Normgebern oder schlicht dem Verwaltungsvollzug überlassen. Wann danach eine Regelung durch den parlamentarischen Gesetzgeber erforderlich ist, lässt sich nur mit Blick auf den jeweiligen Sachbereich und auf die Eigenart des betroffenen Regelungsgegenstandes beurteilen. Ob und welche Leistungen der Dienstherr im Falle von Krankheit und Pflegebedürftigkeit erbringt, ist für den Beamten und seine Familie von herausragender Bedeutung. Die Leistungen gestalten den Fürsorgegrundsatz aus und bestimmen mit über das dem Beamten gewährte Niveau der Alimentation. Dies gebietet es, die tragenden Strukturprinzipien und wesentliche Einschränkungen des Beihilfesystems durch Parlamentsgesetz zu regeln. Zu den tragenden Strukturprinzipien des Beihilferechts zählen insbesondere die Bestimmung des Leistungssystems, das dem Beamten und seiner Familie Schutz im Fall von Krankheit und Pflegebedürftigkeit bietet, die Festlegung der Risiken, die abgedeckt werden, die Bestimmung des Personenkreises, der Leistungen beanspruchen kann, der Grundsätze, nach denen Leistungen erbracht, bemessen oder ausgeschlossen werden, und die Anordnung, welche zweckidentischen Leistungen und Berechtigungen Vorrang haben. Des Weiteren muss der parlamentarische Gesetzgeber die Verantwortung für Beihilfekürzungen in Form von Selbstbeteiligungen übernehmen, wenn sie die Schwelle der Geringfügigkeit überschreiten.
24Vgl. BVerwG, Beschluss vom 30. März 2016 – 5 B 11.16 –, juris, Rn. 13 m. w. N.; siehe auch Urteile vom 3. Juni 2009 – 2 C 27.08 –, juris, Rn. 8, und vom 17. Juni 2004 – 2 C 50.02 –, BVerwGE 121, 103-115, juris, Rn. 19; zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG siehe stellvertretend Beschluss vom 14. März 1989– 1 BvR 1033/82 –, BVerfGE 80, 1-39, juris, Rn. 58
25Gemessen an diesen Anforderungen wird die Ausgestaltung des § 75 Abs. 8 Nr. 2 lit. d) LBG NRW rechtsstaatlichen Bestimmtheitsanforderungen – insbesondere auch aus Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG – für sich genommen gerecht. Anders als der Kläger meint, ist es nicht zwingend Sache des Gesetzgebers, die Beschränkungen und Ausschlüsse selbst durch formelles Gesetz zu regeln und konkrete Vorgaben für deren Ausgestaltung etwa bei bestimmten Arzneimitteln zu geben. Zu den tragenden Strukturprinzipien zählen nach dem Vorstehenden insoweit lediglich die Grundsätze, nach denen Leistungen erbracht, bemessen oder ausgeschlossen werden. Dem ist der nordrhein-westfälische Landesgesetzgeber in Bezug auf § 75 Abs. 8 Nr. 2 lit. d) LBG NRW dadurch nachgekommen, dass er die Fallkonstellationen aufgelistet hat, in denen das Finanzministerium durch Rechtsverordnung die Erstattungsfähigkeit von Aufwendungen unabhängig von ihrer Notwendigkeit und Angemessenheit, jedoch unter Beachtung der Grundsätze beamtenrechtlicher Fürsorge beschränken oder ausschließen kann. Hierzu zählen unter anderem, worauf es vorliegend ankommt, Aufwendungen für nicht verschreibungspflichtige oder verschreibungspflichtige Arzneimittel.
26c) Auch der weitere klägerische Einwand, die maßgebliche Vorschrift des "§ 4 Abs. 7 Nr. 2 BVO NRW" (gemeint ist offenbar § 4 Abs. 1 Nr. 7 Satz 2 Ziff. 2 BVO NRW) sei verfassungswidrig, da deren Satz 3 gegen den Gleichheitssatz verstoße, ist nicht geeignet, ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils zu begründen. Der Kläger hält es für eine sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung, dass der Ausschluss für nichtverschreibungspflichtige apothekenpflichtige und nicht apothekenpflichtige Arzneimittel aus § 4 Abs. 1 Nr. 7 Satz 2 BVO NRW gemäß dem dortigen Satz 3 für Personen bis zum vollendeten 18. Lebensjahr keine Anwendung finde, ohne dass Differenzierungspunkte erkennbar wären.
27Diese Annahme ist nicht begründet, da die ungleiche Behandlung nach dem Lebensalter, infolge derer der Ausschluss des Satzes 2 zwar auf den Kläger Anwendung findet, nicht jedoch auf den Personenkreis i. S. v. Satz 3, sachlich gerechtfertigt ist.
28Der Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebietet, wesentlich Gleiches gleich zu behandeln, stellt es dem Normgeber aber frei, auf Grund autonomer Wertungen Differenzierungsmerkmale auszuwählen, an die er eine Gleich- oder Ungleichbehandlung anknüpft. Dabei hat er grundsätzlich einen weiten Gestaltungsspielraum, wenn die Ungleichbehandlung nicht an ein personenbezogenes, d. h. von den Betroffenen gar nicht oder nur schwer beeinflussbares Merkmal, sondern an Lebenssachverhalte anknüpft oder von freiwilligen Entscheidungen der Betroffenen abhängt.
29Vgl. hierzu: BVerwG, Urteile vom 5. Mai 2010 – 2 C 12.10 –, juris, Rn. 10, vom 26. August 2009 – 2 C 62.08 –, juris, Rn. 11, und vom 28. Mai 2008 – 2 C 24.07 –, juris, Rn. 25, jeweils m. w. N., v. a: zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.
30Umgekehrt unterliegt der Gesetzgeber bei einer Ungleichbehandlung von Personengruppen – wie vorliegend – regelmäßig einer strengen Bindung. Diese Bindung ist umso enger, je mehr sich die personenbezogenen Merkmale den in Art. 3 Abs. 3 GG genannten annähern und je größer deshalb die Gefahr ist, dass eine an sie anknüpfende Ungleichbehandlung zur Diskriminierung einer Minderheit führt. Die engere Bindung ist jedoch nicht auf personenbezogene Differenzierungen beschränkt. Sie gilt vielmehr auch, wenn eine Ungleichbehandlung von Sachverhalten mittelbar eine Ungleichbehandlung von Personengruppen bewirkt. Überdies sind dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers umso engere Grenzen gesetzt, je stärker sich die Ungleichbehandlung von Personen oder Sachverhalten auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten nachteilig auswirken kann.
31Vgl. BVerfG, Beschluss vom 26. Januar 1993– 1 BvL 38/92 –, BVerfGE 88, 87-103, juris, Rn. 35.
32Betrifft die angegriffene Maßnahme ein Gebiet, in dem der Normgeber über ein weites Ermessen verfügt, so ist ein Gleichheitsverstoß nur dann anzunehmen, wenn sich im Hinblick auf die Eigenart des geregelten Sachbereichs ein vernünftiger, einleuchtender Grund für die Regelung schlechthin nicht finden lässt, die Regelung also willkürlich erscheint. Bewegt sich der Normgeber dagegen auf einem Gebiet, auf dem er engen rechtlichen Bindungen unterliegt, so kann ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz schon dann angenommen werden, wenn für die Differenzierung keine Gründe von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleichen Rechtsfolgen rechtfertigen können.
33Vgl. hierzu: BVerwG, Urteile vom 5. Mai 2010 – 2 C 12.10 –, juris, Rn. 10, vom 26. August 2009 – 2 C 62.08 –, juris, Rn. 11, und vom 28. Mai 2008 – 2 C 24.07 –, juris, Rn. 25, jeweils m. w. N., v. a: zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.
34Die vom Normgeber für eine Differenzierung im Beihilfesystem angeführten Gründe müssen im Rahmen der Prüfung eines Verstoßes gegen den Gleichheitssatz auch vor dem Hintergrund Bestand haben, dass die Beihilfe ihre Grundlage in der in ihrem Kern verfassungsrechtlich geschützten Fürsorgepflicht des Dienstherrn findet. Solange der Gesetzgeber am gegenwärtig praktizierten "Mischsystem" aus privat finanzierter Eigenvorsorge und ergänzender Beihilfe festhält, ist der allgemeine Gleichheitssatz insofern verletzt, wenn eine bestimmte Regelung die im Beihilfesystem angelegte Sachgesetzlichkeit ohne zureichenden Grund verlässt. Durch Leistungseinschränkungen und Leistungsausschlüsse darf sich der Vorschriftengeber innerhalb des geltenden Beihilfesystems danach nicht zu seiner grundsätzlichen Entscheidung in Widerspruch setzen, Beihilfe zu gewähren, soweit sie dem Grund nach notwendig und der Höhe nach angemessen ist. Da es sich bei der Begrenzung der Beihilfefähigkeit durch Leistungsausschlüsse und Leistungsbeschränkungen um eine Einschränkung dieses Grundsatzes handelt, bedarf ein Ausschluss oder eine Begrenzung in formeller Hinsicht einer (hier wie ausgeführt vorliegenden) ausdrücklichen Rechtsgrundlage und in materieller Hinsicht einer inneren, den Anforderungen des Art. 3 Abs. 1 GG standhaltenden Rechtfertigung.
35Vgl. OVG NRW, Urteil vom 10. Dezember 2010– 1 A 565/09 –, juris, Rn. 90; siehe auch bereits BVerwG, Urteile vom 5. Mai 2010 – 2 C 12.10 –, juris, Rn. 11, vom 26. August 2009 – 2 C 62.08 –, juris, Rn. 12, und vom 28. Mai 2008 – 2 C 24.07 –, juris, Rn. 26.
36In Anwendung dieser Grundsätze ist nicht erkennbar, dass die Differenzierung nach minderjährigen und volljährigen Personen durch § 4 Abs. 1 Nr. 7 Satz 3 BVO NRW gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstößt.
37Der – abgesehen von Minderjährigen (Satz 3) – ausnahmslose Ausschluss nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel der besonderen Therapierichtungen von der Beihilfefähigkeit gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 7 Satz 2 Ziff. 2 BVO NRW ist nicht zu beanstanden. Gerechtfertigt wird dies im Kern mit der im Regelfall zu erwartenden Geringfügigkeit der für solche Arzneimittel entstehenden Aufwendungen.
38Vgl. speziell zum Ausschluss betreffend besondere Therapierichtungen: OVG NRW, Urteil vom 18. Mai 2018 – 1 A 1028/17 –, juris, Rn. 53; zudem allgemein zum Ausschluss nicht verschreibungspflichtiger Medikamente: Urteile vom 8. Juni 2010 – 1 A 1328/08 –, juris, Rn. 43 ff., vom 10. Dezember 2010 – 1 A 565/09 –, juris, Rn. 87 ff., vom 11. Juli 2011 – 1 A 498/09 –, juris, Rn. 73 ff., vom 21. November 2011– 1 A 335/09 –, juris, Rn. 34 ff., vom 5. Dezember 2011 – 1 A 501/09 –, juris, Rn. 36 ff., 123 ff., vom 12. September 2014 – 1 A 1601/13 –, juris, Rn. 30, sowie Beschluss vom 17. Februar 2011 – 1 A 349/09 –, juris, Rn. 64 ff.
39Ein sachlicher Differenzierungsgrund für die Rückausnahme zugunsten von Personen bis zum vollendeten 18. Lebensjahr ergibt sich insoweit schon aus dem Umstand, dass selbst die grundsätzlich geringfügigen Aufwendungen diesen Personenkreis aufgrund der weithin fehlenden regelmäßigen Einkünfte regelmäßig härter treffen als volljährige Personen. Eine Rückausnahme zu Gunsten dieses Personenkreises verfolgt daher einen sachlichen Grund, wobei sich der Verordnungsgeber wegen der Vielzahl möglicher Fallkonstellationen zulässigerweise auch einer Pauschalierung bedienen darf. Außerdem orientiert sich die Rückausnahme insoweit an der gesetzlichen Krankenversicherung, um die in der Regel betroffene Familie eines beihilfeberechtigten Beamten um diese Aufwendungen zu entlasten. Der Ausschluss nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel von der dortigen Versorgung gilt auch in der gesetzlichen Krankenversicherung in weitem Maße nicht für Kinder und Jugendliche bis maximal zur Vollendung des 18. Lebensjahres (vgl. § 34 Abs. 1 Satz 5 SGB V); diese Regelung hat auch Eingang in die Richtlinie über die Verordnung von Arzneimitteln in der vertragsärztlichen Versorgung (Arzneimittel-Richtlinie) gefunden und dient nach dem Willen des Gesetzgebers (vgl. BT-Drs. 15/1525, Seite 86) "zur Berücksichtigung der besonderen Belange von Familien mit Kindern". Neben dieser materiellen Zielsetzung liegt eine sachliche Rechtfertigung der Ungleichbehandlung nicht zuletzt darin begründet, dass der Verordnungsgeber diesen Gedanken des gesetzlichen Krankenversicherungssystems in entsprechender Weise auf das Beihilfesystem überträgt und damit eine Vergleichbarkeit der Versorgungssysteme herstellt.
40d) Entsprechendes gilt auch für das weitere Zulassungsvorbringen des Klägers, die von ihm angenommene – hier jedoch zuvor nicht festgestellte – Verfassungswidrigkeit erstrecke sich auch auf § 4 Abs. 7 Satz 5 BVO NRW. Nach seiner Begründung nehme diese Vorschrift dieselbe Differenzierung anhand des Lebensalters vor, ohne dass es eine sachliche Rechtfertigung dafür gebe, Kindern und Jugendlichen im Gegensatz zu dem Kläger eine Erstattung der Medikamente der besonderen Therapieeinrichtungen zu gewähren. Dass dies allerdings nicht zutrifft und ein sachlicher Grund für die Ungleichbehandlung existiert, wurde bereits dargelegt; die vorstehenden Ausführungen gelten insoweit entsprechend.
41II. Die Berufung ist auch nicht wegen der von dem Kläger geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen.
42Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung im Sinne dieser Vorschrift, wenn sie eine konkrete noch nicht geklärte Rechts- oder Tatsachenfrage aufwirft, deren Beantwortung sowohl für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war als auch für die Entscheidung im Berufungsverfahren erheblich sein wird, und die über den konkreten Fall hinaus wesentliche Bedeutung für die einheitliche Anwendung oder Weiterentwicklung des Rechts hat. Zur Darlegung des Zulassungsgrundes ist die Frage auszuformulieren und substantiiert auszuführen, warum sie für klärungsbedürftig und entscheidungserheblich gehalten und aus welchen Gründen ihr Bedeutung über den Einzelfall hinaus zugemessen wird. Ist die aufgeworfene Frage eine Rechtsfrage, so ist ihre Klärungsbedürftigkeit nicht schon allein deshalb zu bejahen, weil sie bislang nicht obergerichtlich oder höchstrichterlich entschieden ist. Nach der Zielsetzung des Zulassungsrechts ist vielmehr Voraussetzung, dass aus Gründen der Einheit oder Fortentwicklung des Rechts eine obergerichtliche oder höchstrichterliche Entscheidung geboten ist. Die Klärungsbedürftigkeit fehlt deshalb, wenn sich die als grundsätzlich bedeutsam bezeichnete Frage entweder schon auf der Grundlage des Gesetzeswortlauts nach allgemeinen Auslegungsmethoden oder aber (ggf. ergänzend) auf der Basis bereits vorliegender Rechtsprechung ohne weiteres beantworten lässt.
43Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 28. August 2018– 1 A 2092/16 –, juris, Rn. 34, und vom 13. Februar 2018 – 1 A 2517/16 –, juris, Rn. 32.
44In Anwendung dieser Grundsätze liegen die Voraussetzungen für eine Zulassung der Berufung nicht vor.
45Ungeachtet dessen, dass der Kläger in der Zulassungsbegründung keine konkrete, von ihm als grundsätzlich bedeutsam erachtete Rechtsfrage formuliert hat, rechtfertigt die sinngemäße Frage danach, ob der Gesetzgeber eine konkretere Regelung im Gesetz hätte treffen müssen, anstatt dem Verordnungsgeber eine Globalermächtigung zu erteilen, die Erstattung sämtlicher Arzneimittel auszuschließen, nicht die Zulassung der Berufung. Diese Frage kann, wie sich aus den Ausführungen unter Gliederungsziffer I.2. dieses Beschlusses ergibt, schon anhand der bisherigen obergerichtlichen und höchstrichterlichen Rechtsprechung beantwortet werden, ohne dass es eines Zulassungsverfahrens bedarf. Sie ist daher nicht klärungsbedürftig.
46IV. Die begehrte Zulassung der Berufung kann schließlich auch nicht nach § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO erfolgen.
47Nach dieser Vorschrift ist die Berufung zuzulassen, wenn das Urteil des Verwaltungsgerichts von einer Entscheidung eines in der Norm aufgeführten divergenzrelevanten Gerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht. Eine solche Divergenz ist nur dann hinreichend bezeichnet, wenn ein inhaltlich bestimmter, die angefochtene Entscheidung tragender Rechtssatz dargelegt wird, mit dem die Vorinstanz einem in der Rechtsprechung eines divergenzrelevanten Gerichts aufgestellten ebensolchen entscheidungstragenden Rechtssatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift widersprochen hat.
48Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 21. April 2010– 1 A 1326/08 –, juris, Rn. 34, und vom 25. Januar 2012 – 1 A 640/10 –, juris, Rn. 2; ferner etwa Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124a Rn. 215 bis 217, m. w. N.
49Der Kläger macht insoweit geltend, das Verwaltungsgericht sei von dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 5. März 1958 sowie von den Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts vom 17. Juni 2004 und des Bundesgerichtshofs vom 2. Dezember 1981 abgewichen.
50Dieses Vorbringen geht ins Leere, weil das angefochtene Urteil die gerügten Ausführungen zu den Anforderungen des Art. 80 GG, die dem erwähnten Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 18/56, v. a. Rn. 74 ff.) zu entnehmen sind, schlicht nicht enthält und Anhaltspunkte für eine verdeckte Divergenz weder vorgetragen noch sonst ersichtlich sind.
51Entsprechendes gilt auch für die Ausführungen zu dem Umfang und der Tragweite der Fürsorgepflicht des Dienstherrn. Insoweit ist nicht ersichtlich, dass das Verwaltungsgericht von den Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts (2 C 50.02, Rn. 10 ff.) und des Bundesgerichtshofs (Az. unbekannt, ggf.: IVa ZR 206/80) in den vorgenannten Entscheidungen abgewichen ist. Auf die Ausführungen unter Gliederungsziffer I.2. wird insofern verwiesen.
52Unabhängig davon genügt das Vorbringen des Klägers auch nicht den Anforderungen an eine hinreichende Darlegung, weil es schon an der Bezeichnung und Gegenüberstellung divergierender Rechtssätze im vorgenannten Sinn fehlt.
53Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
54Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf den §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 und 3 GKG.
55Dieser Beschluss ist hinsichtlich der Streitwertfestsetzung nach den §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG und im Übrigen gemäß § 152 Abs. 1 VwGO unan-fechtbar. Das angefochtene Urteil ist nunmehr rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).
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Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Stade – 4. Kammer – vom 16. Oktober 2018 teilweise geändert.
Der Beklagte wird verpflichtet, nach der Teilrücknahme der streitgegenständlichen Kostenbeitragsbescheide vom 22. Oktober 2009, 28. März 2012 und 29. Mai 2012 nach Maßgabe des Urteils des Verwaltungsgerichts Stade vom 16. Oktober 2018, an die Klägerin 1.342,65 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des gesamten Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Der Beschluss ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des auf Grund des Beschlusses vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Vollstreckungsgläubigerin zuvor Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1
Die Klägerin begehrt die Erstattung von Kostenbeiträgen für die Kindertagespflege.
2
Die Töchter der Klägerin wurden vom 1. August 2009 bis 31. Juli 2010 (Kind C.) sowie vom 1. März 2012 bis 31. August 2015 (Kinder C. und D.) in der Kindertagespflege gefördert.
3
Mit Bescheid vom 22. Oktober 2009 erkannte der Beklagte einen Bedarf von monatlich 78 Betreuungsstunden für die Tochter C. an und setzte gegenüber der Klägerin einen Kostenbeitrag in Höhe von 109,00 EUR monatlich fest. Nach der Geburt der zweiten Tochter D. beantragte die Klägerin bei dem Beklagten erneut die Förderung in der Kindertagespflege. Der Beklagte erkannte mit Bescheid vom 28. März 2012 78 Betreuungsstunden pro Monat und Kind an und setzte einen Kostenbeitrag in Höhe von 345,00 EUR monatlich fest. Mit Bescheid vom 29. Mai 2012 verringerte der Beklagte die Anerkennung auf 39 Betreuungsstunden pro Monat und Kind und setzte einen Kostenbeitrag in Höhe von 210,60 EUR monatlich fest.
4
Die Erhebung der Kostenbeiträge erfolgte ursprünglich auf Grundlage der Satzung des Beklagten über die Erhebung von Kostenbeiträgen in der Kindertagespflege vom 22. Juni 2009, deren Nichtigkeit das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht in seinem Berufungszulassungsbeschluss vom 21. Juni 2013 (– 4 LA 102/12 –, juris Rn. 2) feststellte. Daraufhin erließ der Beklagte unter dem 9. Dezember 2013 eine neue Satzung. Auch hinsichtlich dieser Satzung stellte das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht in seinem Beschluss vom 29. September 2015 fest, dass diese nichtig ist (– 4 LB 149/13 –, juris Rn. 43). Der Beklagte erließ unter dem 14. März 2016 wiederum eine neue Satzung, deren Rechtmäßigkeit das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht in seiner Entscheidung vom 21. August 2018 feststellte (– 10 KN 10/18 –, juris Rn. 64 ff.). Die Satzung trat rückwirkend zum 1. Juli 2009 in Kraft.
5
Mit Schreiben vom 6. Februar 2017 wandte sich die Prozessbevollmächtigte der Klägerin an den Beklagten und bat um die verzinste Erstattung der in den Jahren 2009, 2010, 2012 und 2013 überzahlten Elternbeiträge.
6
Der Beklagte teilte mit Schreiben vom 15. Februar 2017 im Wesentlichen mit, ungeachtet der Anspruchsvoraussetzungen sei eine Rückerstattung auf den sogenannten Vierjahreszeitraum beschränkt. Anspruchsgrundlage für die Rückerstattung von Kostenbeiträgen nach vorangegangener (Teil-)Aufhebung der Kostenbeitragsbescheide sei der allgemeine öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch, welcher als Ausdruck eines allgemeinen Rechtsprinzips im Sozialrecht nach vier Jahren verjähre. Für die Berechnung maßgeblich sei der Tag der Antragstellung. Bei einer Antragstellung im Februar 2017 komme eine Rückerstattung von Kostenbeiträgen, die vor dem 1. Januar 2013 erbracht worden seien, daher nicht in Betracht.
7
Die Klägerin hat am 28. Februar 2017 Klage erhoben. Der Beklagte sei gemäß § 44 Abs. 1 SGB X auch ohne Antrag verpflichtet gewesen, die Bescheide aufzuheben. Die Erstattungspflicht ergebe sich aus § 50 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 SGB X analog. Der Beklagte könne sich daher nicht auf die Einrede der Verjährung berufen. Insbesondere finde § 44 Abs. 4 SGB X auf den Rücknahmeanspruch eines Bürgers keine Anwendung. Der Verzinsungsanspruch ergebe sich aus §§ 223 ff. AO analog. Das Schreiben des Beklagten vom 15. Februar 2017 verstehe sie als Bescheid.
8
Die Klägerin hat beantragt,
9
1. den Beklagten zu verpflichten, seine Elternbeitragsbescheide vom 22. Oktober 2009, 29. Mai 2012, 28. März 2012 für die Betreuung der Kinder C. und D. A. aufzuheben, soweit durch diese Bescheide der Klägerin wegen der Betreuung ihrer Kinder ein Elternbeitrag in Höhe von mehr als 85,50 Euro für die Monate August 2009 bis Juli 2020, von mehr als 148,20 Euro bzw. 74,10 Euro für die Monate März bis Mai 2012 und in Höhe von mehr als 74,10 bzw. 37,05 Euro für die Monate Juni bis Dezember 2012 festgesetzt worden ist, und der Klägerin die überzahlten Kostenbeiträge in Höhe von 1.342,65 Euro zu erstatten.
10
2. den Beklagten zu verpflichten, die Kostenbeiträge jeweils nach Zahlungseingang mit einhalb Prozent pro Monat zu verzinsen.
11
Der Beklagte hat beantragt,
12
die Klage abzuweisen.
13
Das Verwaltungsgericht Stade hat den Beklagten durch Urteil vom 16. Oktober 2018 verpflichtet, den Kostenbeitragsbescheid vom 22. Oktober 2009 zurückzunehmen, soweit darin ein Kostenbeitrag von mehr als 85,50 EUR festgesetzt worden ist, den Kostenbeitragsbescheid vom 28. März 2012 zurückzunehmen, soweit darin ein Kostenbeitrag von mehr als 222,30 EUR festgesetzt worden ist und den Kostenbeitragsbescheid vom 29. Mai 2012 zurückzunehmen, soweit darin ein Kostenbeitrag von mehr als 111,15 EUR festgesetzt worden ist. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Rechtsgrundlage für den Anspruch der Klägerin auf Teilrücknahme der Bescheide sei § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X. Der Beklagte habe bei der Erhebung der Beiträge das Recht unrichtig angewandt. Die streitgegenständlichen Beiträge seien wegen der Nichtigkeit der zugrundeliegenden Satzung teilweise zu Unrecht erhoben worden. Die Ausschlussfrist des § 44 Abs. 4 SGB X sei nicht einschlägig, weil es sich bei den Kostenbeiträgen nicht um Sozialleistungen im Sinne der Norm handele. Eine eventuelle Verjährung der Erstattungsansprüche schließe den Anspruch auf Teilaufhebung der Kostenbeitragsbescheide nicht aus, da eine Verjährung nicht das Bestehen der Erstattungsansprüche betreffe, sondern lediglich als Einrede dazu berechtige, die Erstattung im Rahmen einer pflichtgemäßen Ermessensausübung zu verweigern. Soweit die Klägerin über die Teilaufhebung hinaus die Verpflichtung des Beklagten zur verzinsten Rückerstattung der Kostenbeiträge begehre, sei die Klage im Zeitpunkt der Entscheidung unzulässig. Dies folge im Umkehrschluss aus § 113 Abs. 4 VwGO. Dem Wortlaut („Aufhebung“) nach sei ein Leistungsantrag lediglich als Annexantrag zu einer Anfechtungsklage zulässig. Zwar habe das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 2. November 1999 (– 7 L 3654/97 –, juris) § 113 Abs. 4 VwGO auf die Verpflichtungsklage entsprechend angewendet und dies mit prozessökonomischen Erwägungen begründet. Dieser Rechtsprechung folge die Kammer - in Abweichung von ihrer bisherigen Praxis - jedoch nicht. Denn die Voraussetzungen einer Analogie seien nicht gegeben. Es liege keine vergleichbare Sach- und Rechtslage vor, weil sich die prozessuale Folge eines Aufhebungsurteils grundlegend von der eines Verpflichtungsurteils unterscheide. Im Falle der Stattgabe einer Verpflichtungsklage müsse die Behörde, anders als bei der rechtsgestaltenden Anfechtungsklage, selbst tätig werden und sei es durch die Aufhebung eines Verwaltungsaktes. Erst aus dem weiteren Tätigwerden der Behörde ergebe sich also die Grundlage für eine etwaige weitere Leistungspflicht der Behörde. Verurteilt das Gericht die Behörde zugleich zur Leistung, würde dieser erforderliche Zwischenschritt übersprungen und gegebenenfalls eine vollstreckbare Leistungsverpflichtung geschaffen, bevor der die Grundlage dieser Leistungspflicht bildende Verwaltungsakt - hier die Kostenbeitragsbescheide - von der Behörde aufgehoben worden sei. Dies sei rechtsdogmatisch und vor dem Hintergrund des Gewaltenteilungsgrundsatzes nicht begründbar. Zudem fehle es auch an einer planwidrigen Regelungslücke. § 113 Abs. 4 VwGO stelle eine Sonderregelung für die Anfechtungsklage dar. Die Rechtskraft des Aufhebungsurteils solle ausnahmsweise zugunsten der Prozessökonomie nicht abgewartet werden müssen, bevor über einen sich daraus ergebenden Folgeanspruch entschieden werden könne. Es sei zu bezweifeln, dass der Gesetzgeber diese Ausnahmeregelung planwidrig nicht auch auf die Verpflichtungsklage erstreckt habe. Deutlich näher liege die Annahme, dass der Gesetzgeber, hätte er die Möglichkeit eines Annexantrages auch auf die Verpflichtungsklage erstrecken wollen, dies durch die Systematik und den Wortlaut in § 113 VwGO zum Ausdruck gebracht hätte. Das Verwaltungsgericht hat die Berufung wegen der Abweichung von der Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts zugelassen.
14
Die Klägerin hat am 28. November 2018 Berufung eingelegt. Der Grundsatz der Prozessökonomie sei verletzt. Es bestehe keine Rechtsgrundlage für die Einrede der Verjährung. Dem Beklagten sei von Anfang an bewusst gewesen, dass er die Landeszuwendungen unter Verstoß gegen das Abgabenrecht und betriebswirtschaftliche Grundsätze nicht in die Kalkulation eingestellt habe. Ihm sei klar gewesen, dass es zu einer Doppelfinanzierung kommen würde. Der Rechtsstaat verliere seine Glaubwürdigkeit, wenn die Überdeckung nun nicht unter Berücksichtigung der Zinsen erstattet werde.
15
Die Klägerin beantragt,
16
den Beklagten unter entsprechender Teilaufhebung des Urteils des Verwaltungsgerichts Stade - 4. Kammer - vom 16. Oktober 2018 (- 4 A 693/17 -) zu verpflichten, die durch die Teilaufhebung der streitgegenständlichen Kostenbeitragsbescheide vom 22. Oktober 2009, 28. März 2012 und 29. Mai 2012 überzahlten Kostenbeiträge in Höhe von 1.342,65 EUR zu erstatten und die Kostenbeiträge jeweils nach Zahlungseingang mit einhalb Prozent pro Monat zu verzinsen.
17
Der Beklagte beantragt,
18
die Berufung zurückzuweisen.
19
Er erhebe für die Jahre 2009 bis 2012 die Einrede der Verjährung und mache von seinem Leistungsverweigerungsrecht Gebrauch. Der öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch verjähre in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Beiträge entrichtet worden seien. Die Verjährungsfrist sei in Bezug auf den jüngsten Beitragszeitraum 2012 mit dem 31.12.2016 abgelaufen. Die Erhebung der Einrede der Verjährung sei auch ermessensgerecht. Er erhebe die Einrede aus Gründen der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens. Diese Gründe stellten ein allgemeines Rechtsprinzip des Sozialrechts dar, das aus praktischen und haushaltsrechtlichen Gründen geboten sei, um jahrzehntelange Auseinandersetzungen einer beschleunigten gerichtlichen Auseinandersetzung zuführen zu können. Die Verweigerung der teilweisen Erstattung der Kostenbeiträge sei mit Blick darauf, dass die Elternbeiträge lediglich einen geringen Teil der Betriebskosten der Tageseinrichtungen deckten, weder schlechthin unerträglich, noch sei ein Verstoß gegen die guten Sitten oder Treu und Glauben erkennbar. Die Klägerin habe es auch in der Hand gehabt, vor dem 31.12.2016 einen Erstattungsantrag auch für die Jahre 2009 bis 2012 zu stellen.
20
Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die Beiakten verwiesen.
Entscheidungsgründe
21
Der Senat trifft diese Entscheidung nach Anhörung der Beteiligten durch Beschluss (§ 130 a Satz 1 VwGO), weil er die Berufung einstimmig für im Wesentlichen begründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält.
22
Die zulässige Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts hat im Wesentlichen Erfolg. Soweit das Verwaltungsgericht die Klage als unzulässig abgewiesen hat, ist das Urteil zu ändern. Denn die Klage ist auch insoweit zulässig (I.) und im Wesentlichen begründet (II.).
I.
23
Der Leistungsantrag auf Erstattung der überzahlten Kostenbeiträge für die Kindertagespflege kann hier in analoger Anwendung des § 113 Abs. 1 S. 2, Abs. 4 VwGO zusammen mit dem Verpflichtungsbegehren auf Teilrücknahme der Kostenbeitragsbescheide verfolgt werden. Der Argumentation des Verwaltungsgerichts, dass der Leistungsantrag als Annexantrag zu einer Verpflichtungsklage unzulässig sei, folgt der Senat nicht.
24
Gemäß § 113 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, dass und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat, wenn der Verwaltungsakt schon vollzogen ist. § 113 Abs. 4 VwGO bestimmt, dass im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig ist, wenn neben der Aufhebung eines Verwaltungsaktes eine Leistung verlangt werden kann. Sinn und Zweck von § 113 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 VwGO ist es, der Klägerseite aus prozessökonomischen Gründen die Möglichkeit zu geben, Ansprüche, die sich aus der Aufhebung des Verwaltungsakts ergeben, bereits im Rahmen des Anfechtungsprozesses geltend zu machen, während ohne eine solche Regelung derartige Folgeansprüche erst nach Rechtskraft des Aufhebungsurteils erhoben werden könnten. Es handelt sich somit bei dieser Verbindung von Anfechtungs- und Leistungsantrag um eine besondere Form der Stufenklage (Niedersächsisches OVG, Urteil vom 2.11.1999 – 7 L 3645/97 –, juris Rn. 176 m.w.N.; Stuhlfauth in Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, 7. Aufl. 2018, § 113 Rn. 96).
25
Es kann hier dahinstehen, ob Verpflichtungs- und Leistungsantrag regelmäßig miteinander verbunden werden können. Denn jedenfalls im Falle eines auf § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X gestützten Verpflichtungsbegehrens - wie hier - ist § 113 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 VwGO analog auf das damit verbundene Leistungsbegehren anzuwenden.
26
In Literatur und Rechtsprechung wird die Frage, ob § 113 Abs. 4 VwGO auf die Verpflichtungsklage analoge Anwendung finden kann, unterschiedlich beurteilt. Hintergrund der Kontroverse ist, dass der mit dem Annexantrag verfolgte Anspruch ein künftiger Anspruch ist, da er erst entsteht, wenn die Behörde in Erfüllung der gerichtlichen Entscheidung über das Verpflichtungsbegehren den bestandskräftigen Verwaltungsakt zumindest teilweise aufgehoben hat (Hessischer VGH, Urteil vom 3.11.2010 – 7 B 1704/10 –, jurisRn. 22).
27
Voraussetzung für eine Analogie ist, dass die Norm eine planwidrige Regelungslücke enthält und der zu beurteilende Sachverhalt in rechtlicher Hinsicht so weit mit dem Tatbestand vergleichbar ist, den der Normgeber geregelt hat, dass angenommen werden kann, der Normgeber wäre bei einer Interessenabwägung, bei der er sich von denselben Grundsätzen hätte leiten lassen wie bei dem Erlass der herangezogenen Norm, zu dem gleichen Abwägungsergebnis gekommen (BGH, Urteil vom 04.08.2010 - XII ZR 118/08 -, juris Rn. 11).
28
Gegen eine Analogie wird im Wesentlichen angeführt, § 113 Abs. 4 VwGO sei seinem Regelungsgehalt nach auf die kassatorische Entscheidungsform der Aufhebung zugeschnitten und lasse sich schon deshalb nicht ohne weiteres auf die leistungszielorientierte Verpflichtung übertragen (Wolff in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 113, Rn. 392). Wenn das Gericht im Falle einer erfolgreichen Verpflichtungsklage zum Erlass eines Leistungsbescheides und zugleich zur Leistung verurteile, schaffe es damit gegebenenfalls eine vollstreckbare Leistungsverpflichtung, bevor der die Grundlage dieser Leistungspflicht bildende Verwaltungsakt erlassen worden sei. Das sei rechtsdogmatisch nicht begründbar, gerate in Konflikt mit dem Erfordernis eines vorherigen Verwaltungsaktes und widerspreche dem Regelungszweck des § 167 Abs. 2 VwGO (gegen eine Analogie: OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 8.3.2016 – OVG 6 B 61.15 –, juris Rn. 94 ff.; Wolff in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 113, Rn. 392; Riese in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand: Januar 2020, § 113 Rn. 191; offen gelassen: Hessischer VGH Beschluss vom 3.11.2010 – 7 B 1704/10 –, juris Rn. 22 f., und Beschluss vom 26.10.2009 – 7 B 2707/09 –, juris Rn. 11, gegen eine Analogie noch: Hessischer VGH, Urteil vom 25.2.1981 – I OE 53/18 –, juris).
29
Für eine Analogie werden Gründe der Prozessökonomie angeführt (für eine Analogie: OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 29.7.2009 – 4 L 172/06 –, juris Rn. 33; Niedersächsisches OVG, Urteil vom 2.11.1999 – 7 L 3645/97 –, juris Rn. 176 m.w.N; Stuhlfauth in Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, 7. Aufl. 2018, § 113 Rn. 97; Schenke in Kopp/Schenke, VwGO 24. Aufl. 2018, § 113 Rn. 177; Decker in BeckOK VwGO/Decker, Stand 1.7.2020, VwGO § 113 Rn. 64 f.; Bamberger in Wysk, VwGO, 3. Aufl. 2020, Rn. 52; für eine Analogie wohl auch BVerwG, Urteil vom 17.2.2000 – 3 C 11.99 –, juris Rn. 11 f.). Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht hat in seinem Urteil vom 2. November 1999 (– 7 L 3645/97 –, juris Rn. 176 m.w.N.) bereits entschieden, dass auch die auf Aufhebung des Leistungsgebots gerichtete Verpflichtungsklage analog § 113 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 VwGO mit einem auf die Beseitigung von Vollzugsmaßnahmen zielenden Leistungsbegehren verbunden werden kann. Dafür spreche die vergleichbare Interessenlage. Im Einzelnen hat es ausgeführt (Nds. Oberverwaltungsgericht, a.a.O. Rn. 177):
30
„Der Grundgedanke, Stufenstreitigkeiten aus Gründen der Verfahrensökonomie in einem Verfahren abzuwickeln, kann auch im Rahmen der Verpflichtungsklage Geltung beanspruchen. Dem kann der Beklagte nicht mit Erfolg entgegenhalten, dass eine Verbindung von Verpflichtungsantrag und Leistungsklage wegen der Bestandskraft der Abgabebescheide nicht zulässig sei. Denn die Klägerin kann eine Abänderung der Bescheide erreichen; damit kommt jedenfalls mit der Verpflichtung des Beklagten auf (teilweise) Änderung der ergangenen Bescheide ein auf die Beseitigung der Vollzugsfolgen gerichteter Anspruch in Betracht. Im Übrigen rechtfertigt allein der Umstand, dass ein Bescheid im Falle des gegen ihn rechtzeitig eingelegten Widerspruchs nicht bestandskräftig wird, noch nicht den Erfolg des zugleich geltend gemachten Leistungsanspruchs, der vielmehr -- wie erwähnt -- ohne die Regelung in § 113 Abs. 1 Satz 2, 3 und Abs. 4 VwGO die Rechtskraft des Aufhebungsurteils voraussetzen würde. Wenn deren Eintritt nach der Entscheidung des Gesetzgebers aus prozessökonomischen Gründen nicht abgewartet werden muss, so vermag nicht zu überzeugen, warum dies hinsichtlich der Rechtskraft eines Verpflichtungsurteils anders beurteilt werden sollte.“
31
Jedenfalls im vorliegenden Fall ist eine Analogie zu bilden. Die Voraussetzungen der vergleichbaren Interessenlage und der planwidrigen Regelungslücke liegen vor.
32
Wegen der sozialrechtlichen Sondervorschrift des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X kommt es hier zu einer prozessualen Situation, die derjenigen einer Anfechtungsklage mit Annexantrag im Sinne des § 113 Abs. 4 VwGO vergleichbar ist. Die Klägerin begehrte erstinstanzlich die teilweise “Aufhebung“ der Kostenbeitragsbescheide und die Erstattung der überzahlten Beiträge nebst Zinsen, allerdings wegen der entgegenstehenden Bestandskraft der Kostenbeitragsbescheide im Wege der Verpflichtung des Beklagten, die Bescheide teilweise zurückzunehmen. (Nur) wegen der keinen Ermessensspielraum einräumenden, bestandskraftdurchbrechenden Regelung des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X konnte der Beklagte verpflichtet werden, die Kostenbeitragsbescheide teilweise zurückzunehmen. Denn nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Es handelt sich um eine gebundene Entscheidung. Hierdurch unterscheidet sich die prozessuale Situation im Falle des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X auch von der im Regelfall des § 48 VwVfG vorliegenden. Denn § 48 VwVfG räumt der Behörde hinsichtlich der Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes Ermessen ein. In der Folge wird die Behörde bei erfolgreicher Klage im gerichtlichen Verfahren zur Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts verpflichtet (§ 113 Abs. 5 S. 2 VwGO). Die Behörde muss also in einem weiteren Schritt ihr Ermessen unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu ausüben. Im Unterschied dazu wird sie im Falle des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X unmittelbar zur Rücknahme des streitgegenständlichen Bescheides verpflichtet (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO). Ein Ermessen verbleibt der Behörde nicht. Sie muss den streitgegenständlichen Bescheid zurücknehmen. Gerade hierdurch entsteht die Vergleichbarkeit zu der prozessualen Situation einer Anfechtungsklage. Mit einer Anfechtungssituation ebenfalls vergleichbar wäre im Falle des § 48 VwVfG nur eine Konstellation, in der eine Ermessensreduktion auf Null vorliegen würde, sodass es auch hier zu einer unmittelbaren Verpflichtung der Behörde zur Rücknahme kommen könnte (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO). Es spricht daher einiges dafür, § 113 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 VwGO auch in dieser Sonderkonstellation analog anzuwenden.
33
Die auch vom Verwaltungsgericht herangezogenen Einwände, die sich aus dem Umstand ergeben, dass das Gestaltungsurteil im Unterschied zum Verpflichtungsurteil unmittelbar rechtsgestaltend wirkt, erledigen sich durch eine entsprechende Tenorierung. Denn bei der Tenorierung der auf § 113 Abs. 4 VwGO gestützten Annexentscheidung ist grundsätzlich zu beachten, dass der Anspruch nicht schon mit der Rechtskraft des verwaltungsgerichtlichen Verpflichtungsurteils (unbedingt) entsteht, sondern erst aufgrund einer durch die Verpflichtungsklage initiierten Kassation des Verwaltungsakts (Schenke in Kopp/Schenke, VwGO 24. Aufl. 2018, § 113 Rn. 177). Dies ist durch die Formulierung des Tenors kenntlich zu machen.
34
Auch § 167 Abs. 2 VwGO steht einer Analogiebildung nicht entgegen. Hiernach können Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen nur wegen der Kosten für vorläufig vollstreckbar erklärt werden. Wenn der Eintritt der Rechtskraft eines Aufhebungsurteils nach den gesetzgeberischen Erwägungen bei akzessorischen Leistungsansprüchen entgegen § 167 Abs. 2 VwGO nicht abgewartet werden muss, ist nicht ersichtlich, weshalb dagegen die Rechtskraft einer Verpflichtungsklage abgewartet werden soll, bis davon abhängige Folgeansprüche eingeklagt werden können (Emmenegger in Fehling/Kastner/Störmer, VerwR, 4. Aufl. 2016, VwGO § 113 Rn. 158).
35
Angesichts der durch § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X entstehenden Sonderkonstellation, die der Gesetzgeber bei Erlass der VwGO nicht im Blick gehabt hat, ist jedenfalls hier entgegen den Ausführungen des Verwaltungsgerichts auch von einer planwidrigen Regelungslücke auszugehen.
36
Aus den Gesetzesmaterialien ergeben sich keine dieser Annahme entgegenstehenden Anhaltspunkte. Der Wortlaut des heutigen § 113 Abs. 1 Satz 2, Abs. 4 VwGO war bereits Teil der ursprünglichen Fassung der VwGO vom 21. Januar 1960 (BGBl. I vom 25.1.1960, S. 30). Die Gesetzesbegründung sieht den Wortlaut des heutigen § 113 Abs. 4 VwGO seinem Wesen nach als Unterfall zu dem heutigen § 113 Abs. 1 S. 2 VwGO an. In der Begründung wird ausgeführt, dass bei § 113 Abs. 4 VwGO an die Fälle gedacht sei, in denen sich aus der Aufhebung eines Verwaltungsakts materiellrechtlich unmittelbar ein Anspruch gegen die Behörde ergebe (BT-Drs 3/55 vom 5.12.1957, S. 43). Um einen Fall der Aufhebung eines Verwaltungsakts handelt es sich jedoch auch, wenn die Behörde - wie hier gestützt auf § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X - verpflichtet wird, den Verwaltungsakt zurückzunehmen. Wird ferner berücksichtigt, dass prozessökonomische Erwägungen mehrfach ausdrücklich als leitendes Motiv genannt werden, um den Streitfall in einem Verfahren zu beenden (BT-Drs 3/55 vom 5.12.1957, S. 43), so widerspricht es jedenfalls nicht dem Willen des Gesetzgebers, § 113 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 VwGO auf den vorliegenden Fall anzuwenden, in dem sich aus einer sozialrechtlichen Norm eine Verpflichtung zur Rücknahme eines bestandskräftigen Verwaltungsaktes ergibt. Diese spezielle Konstellation konnte vom Gesetzgeber auch nicht gesehen werden, da das SGB X erst am 1. Januar 1981 in Kraft getreten ist, sodass es sich um eine planwidrige Regelungslücke handelt.
II.
37
1. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Erstattung der überzahlten Kostenbeiträge gegen den Beklagten in Höhe von 1.342,65 EUR aus dem allgemeinen öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch.
38
Mangels spezialgesetzlicher Regelungen findet hier der allgemeine öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch Anwendung. § 50 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3, Abs. 4 SGB X kommt hier entgegen seines Wortlautes als Rechtsgrundlage nicht in Betracht, weil sich die in § 50 SGB X geregelten öffentlich-rechtlichen Erstattungsansprüche nach allgemeiner Auffassung auf Ansprüche der Leistungsträger gegen Leistungsempfänger, also typischerweise Ansprüche eines Hoheitsträgers gegen Private, beziehen. Für den wichtigsten Sozialrechtsfall eines Anspruchs des Bürgers gegen die Sozialverwaltung bei zu Unrecht geleisteten Beiträgen existiert in § 26 Abs. 2 SGB IV bereits eine zentrale Sonderregelung für Erstattungsansprüche des Versicherten gegen den Beitragsempfänger (Baumeister in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl. Stand: 25.2.2020, § 50 Rn. 28). Auch § 26 Abs. 2 SGB IV kommt als Erstattungsgrundlage indes nicht in Betracht, da es sich im vorliegenden Fall nicht um Beiträge zur Sozialversicherung handelt (Baumeister in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl. Stand: 23.3.2020, § 44 Rn. 25).
39
In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, dass es sich bei dem allgemeinen öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch um ein aus den allgemeinen Grundsätzen des Verwaltungsrechts, insbesondere der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, abgeleitetes eigenständiges Rechtsinstitut des öffentlichen Rechts handelt, dessen Anspruchsvoraussetzungen und Rechtsfolgen, soweit sie nicht spezialgesetzlich geregelt sind, denen des zivilrechtlichen Bereicherungsanspruchs entsprechen. Ausnahmen davon hat das Bundesverwaltungsgericht lediglich dann anerkannt, wenn und soweit den §§ 812 ff. BGB eine abweichende Interessenbewertung zugrunde liegt, die in das öffentliche Recht nicht übertragbar ist (BVerwG, Beschluss vom 7.10.2009 – 9 B 24.09 –, juris Rn. 5 m.w.N.).
40
Das Bestehen des Anspruchs der Klägerin hängt mithin davon ab, ob der Beklagte die Kostenbeiträge durch eine unmittelbare Vermögensverschiebung zu Lasten der Klägerin erlangt hat und der Rechtsgrund für diese Vermögensverschiebung später weggefallen ist (vgl. § 812 Abs. 1 Satz 2 BGB).
41
Diese Voraussetzungen werden gegeben sein, sobald der Beklagte die Kostenbeitragsbescheide in Erfüllung seiner Verpflichtung durch das erstinstanzliche Urteil teilweise zurückgenommen hat. Die Klägerin hat die streitgegenständlichen Kostenbeiträge unmittelbar an den Beklagten geleistet. Das Verwaltungsgericht hat den Beklagten zur Teilrücknahme der streitgegenständlichen Kostenbeitragsbescheide verpflichtet. Nach der verpflichtungsgemäßen Teilrücknahme wird der Rechtsgrund für die Vermögensverschiebung weggefallen sein.
42
Die Ausschlussfrist des § 44 Abs. 4 SGB X beschränkt den öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch hier nicht. Nach § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht, wenn ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden ist. Dem ausdrücklichen Wortlaut nach bezieht sich diese materielle Ausschlussfrist nicht auf beide Tatbestandsvarianten des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X („soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind“), sondern lediglich auf die Tatbestandsvariante der „Sozialleistungen“ (Baumeister in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl. Stand: 23.3.2020, § 44 Rn. 117). Mithin liegt der hiesige Fall der Erstattung von Beiträgen außerhalb des Anwendungsbereichs von § 44 Abs. 4 SGB X.
43
Eine Verjährung des Anspruchs scheidet schon deshalb aus, weil der Erstattungsanspruch erst mit der teilweisen Rücknahme der bestandskräftigen Kostenbeitragsbescheide durch den Beklagten entsteht (Hessischer VGH, Urteil vom 3.11.2010 – 7 B 1704/10 –, juris Rn. 22; Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 2.11.1999 – 7 L 3645/97 –, juris Rn. 185; Ossenbühl, Der öffentlichrechtliche Erstattungsanspruch, NVwZ 1991, 513, 518; a.A. indes im Hinblick auf den Beginn der spezialgesetzlich geregelten Verjährungsfrist des § 27 Abs. 2 Satz 1 SGB IV, der hier nicht einschlägig ist (s.o.): BSG, Urteile vom 17.12.2015 – B 2 U 2/14 R –, juris Rn. 16 ff., und vom 31.3.2015 – B 12 AL 4/13 R –, juris Rn. 14 ff.). Bis dahin stellen die zwar (teilweise) rechtswidrigen aber dennoch rechtswirksamen Kostenbeitragsbescheide den Rechtsgrund für das Behaltendürfen der von der Klägerin an den Beklagten geleisteten Beiträge dar (§ 39 Abs. 2 SGB X; Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 2.11.1999 – 7 L 3645/97 –, juris Rn. 185; Ossenbühl, Der öffentlichrechtliche Erstattungsanspruch, NVwZ 1991, 513, 518). Auch die vom Beklagten angeführte Entscheidung des Landessozialgerichts Baden-Württemberg führt zu keiner anderen Beurteilung. Selbst wenn man mit dem LSG davon ausgehen würde, dass für den allgemeinen öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch eine Verjährungsfrist von vier Jahren gilt, die Ausdruck eines allgemeinen Rechtsprinzips des Sozialrechts ist, so würde diese Verjährungsfrist kenntnisunabhängig mit Ablauf des Kalenderjahres beginnen, in dem der Anspruch entstanden ist (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 7.7.2016 – L 7 AS 1359/14 –, juris Rn. 23 ff. m.w.N.). Hier entsteht der Anspruch indes erst mit der (Teil-)Rücknahme der Kostenbeitragsbescheide, weshalb er noch nicht verjährt sein kann. Da die Teilrücknahme bisher soweit ersichtlich nicht erfolgt ist, kann selbst die dreijährige Verjährungsfrist des § 195 BGB als kürzeste in Betracht kommende Frist noch nicht abgelaufen sein (vgl. zur Verjährung des öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruchs: BVerwG, Urteile vom 27.11.2019 – 9 C 5.18 –, juris Rn. 12 ff. m.w.N., und vom 15.3.2017 – 10 C 3.16 –, juris Rn. 16 ff.).
44
2. Die Klägerin hat in entsprechender Anwendung von § 291 S. 1 BGB einen Anspruch auf Prozesszinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz von dem Eintritt der Rechtshängigkeit an. Ein Anspruch auf Verzugszinsen besteht dagegen nicht.
45
Die von der Klägerin begehrte Verzinsung von einhalb Prozent pro Monat (vgl. § 238 Abs. 1 S. 1 AO) ab dem jeweiligen Zahlungseingang kommt von vornherein nicht in Betracht. § 238 AO gilt für die Verzinsung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis, soweit diese gesetzlich vorgeschrieben ist (§ 233 AO). Es spricht nichts dafür, diese Regelung auf den vorliegenden Fall entsprechend anzuwenden (vgl. § 1 AO). Insoweit war die Klage abzuweisen.
46
Auch kann die Klägerin auf der Grundlage eines öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruches keine Zinsen ab dem Zeitpunkt der Zahlung der Beiträge beanspruchen. Zwar schließt der öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch entsprechend dem Rechtsgedanken des § 818 Abs. 1 BGB auch die Herausgabe in der Zwischenzeit tatsächlich gezogener Nutzungen aus der zu Unrecht erlangten Leistung ein. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist jedoch geklärt, dass bei einem öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch gegen eine Behörde eine ”Verzinsung” wegen tatsächlich gezogener Nutzungen grundsätzlich nicht in Betracht kommt. Denn der Staat legt öffentlich-rechtlich erlangte Einnahmen in der Regel nicht gewinnbringend an, sondern verfügt über die ihm zur Verfügung stehenden Mittel im Interesse der Allgemeinheit (BVerwG, Urteil vom 30.4.2003 – 6 C 5.02 –, juris Rn. 21 m.w.N.).
47
Ein Anspruch auf Verzugszinsen in analoger Anwendung der bürgerlich-rechtlichen Vorschrift des § 288 Abs. 1 Satz 1 BGB kommt nur ausnahmsweise in Betracht, wenn es sich bei der öffentlich-rechtlichen Forderung um eine Entgeltforderung handelt, das heißt um eine vertragliche Leistungspflicht, die in einem Gegenseitigkeitsverhältnis zur Leistungspflicht des anderen Vertragspartners steht. Denn insoweit besteht kein entscheidender Unterschied zu bürgerlich-rechtlichen Rechtsbeziehungen (BVerwG, Urteil vom 27.2.2014 – 5 C 1.13 D –, juris Rn. 44). Ein solcher Fall liegt hier jedoch nicht vor.
48
In allen anderen Fällen können Verzugszinsen bei öffentlich-rechtlichen Geldforderungen zudem nur aufgrund ausdrücklicher gesetzlicher Grundlage gefordert werden. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts gibt es keinen allgemeinen Grundsatz des Verwaltungsrechts, der zur Zahlung von Verzugszinsen verpflichtet. In Bezug auf den öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch fehlt es an einer ausdrücklichen gesetzlichen Bestimmung über die Zahlung von Verzugszinsen (BVerwG, Urteil vom 27.2.2014 – 5 C 1.13 D –, juris Rn. 45).
49
Die Klägerin hat daher lediglich einen Anspruch auf Prozesszinsen. Der Erstattungsanspruch ist ab Eintritt der Rechtshängigkeit mit fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz zu verzinsen. Nach den auch im Verwaltungsprozess anwendbaren Vorschriften der § 291 Satz 1 i.V.m. § 288 Abs. 1 Satz 2 BGB sind Prozesszinsen immer dann zu zahlen, wenn das einschlägige Fachrecht keine abweichende Regelung trifft und die Geldforderung - wie hier - eindeutig bestimmt ist (BVerwG, Urteil vom 27.2.2014 – 5 C 1.13 D –, juris Rn. 46 m.w.N.). Das einschlägige Fachrecht trifft hier keine abweichende Regelung. Denn § 44 Abs. 1 SGB I regelt zwar die allgemeine Pflicht, fällige Ansprüche auf Geldleistungen zu verzinsen, ist indes auf Sozialleistungen im Sinne von § 11 SGB I begrenzt (Gutzler in BeckOK Sozialrecht, Stand 1.6.2020 § 44 SGB I Rn. 2). Bei dem hier geltend gemachten Erstattungsanspruch handelt es sich nicht um Sozialleistungen in diesem Sinne.
III.
50
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Unterliegen der Klägerin hinsichtlich des begehrten Zinsanspruchs wirkt sich wegen § 173 VwGO i.V.m. § 4 Abs. 1 ZPO nicht gegenstandswerterhöhend und deshalb auch in der Kostenentscheidung nicht aus (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 23.8.2018 – 5 S 14317/18 –, juris Rn. 4; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 6.5.2011 – 2 O 62/10 –, juris Rn. 4; VG Saarlouis, Urteil vom 9.4.2008 – 5 K 471/07 –, juris Rn. 70). Gerichtskosten werden gemäß § 188 Satz 2 VwGO nicht erhoben.
51
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO. Bei der Verknüpfung von Verpflichtungsklage und Leistungsklage analog § 113 Abs. 4 VwGO darf das Urteil zur Vermeidung einer Umgehung des § 167 Abs. 2 VwGO auch hinsichtlich des Leistungsausspruchs nur wegen der Kosten für vorläufig vollstreckbar erklärt werden (Schübel-Pfister in Eyermann, VwGO 15. Aufl. 2019, § 113 Rn. 21 m.w.N.).
52
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor.
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Tenor
Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Helmstedt vom 16. Juli 2020 wird auf seine Kosten als unbegründet verworfen.
Gründe
I.
1
Das Amtsgericht Helmstedt hat den Betroffenen mit Urteil vom 16. Juli 2020 wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 46 km/h zu einer Geldbuße von 160 € verurteilt und daneben ein mit der Vollstreckungserleichterung nach § 25 Abs. 2a StVG verbundenes Fahrverbot von einem Monat angeordnet.
2
Nach den Feststellungen des Amtsgerichts befuhr der Betroffene am 18. Februar 2020 um 9:58 Uhr als Führer eines Pkw die Bundesautobahn A2 in Fahrtrichtung Berlin. In Höhe Kilometer 15,587 war zu diesem Zeitpunkt durch entsprechende Schaltung der 162 Meter davor befindlichen Schilderbrücke die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf 100 km/h begrenzt. Der Betroffene achtete nicht genügend auf diese Geschwindigkeitsbegrenzung und fuhr mit einer Geschwindigkeit von 146 km/h (151 km/h abzüglich Toleranz).
3
Gegen dieses in Anwesenheit des Betroffenen und seines bevollmächtigten Verteidigers ergangene und dem Verteidiger am 4. August 2020 zugestellte Urteil hat der Verteidiger mit beim Amtsgericht am 22. Juli 2020 eingegangenem Schreiben vom 17. Juli 2020 Rechtsbeschwerde eingelegt und diese mit weiterem Verteidigerschriftsatz vom 4. September 2020 – eingegangen beim Amtsgericht am selben Tage – begründet. Der Verteidiger rügt eine Verletzung der Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens im Sinne des § 338 Nr. 6 StPO. Am Verhandlungstage habe unmittelbar nach ihm ein ihm unbekannter Mann das Gerichtsgebäude betreten wollen. Dieser sei nach seinem Anliegen sowie, ob er einen Termin im Gericht habe, befragt worden. Nach einem Wortwechsel mit einer Wachtmeisterin sei dem Mann dann mitgeteilt worden, „ohne Termin“ könne er das Amtsgericht nicht betreten. Der Mann sei dann auch nicht eingelassen worden. Darüber hinaus rügt der Verteidiger, die vom Gericht zitierten Regelungen in §§ 41 Abs. 1, 49 StVO und §§ 24, 25 StVG würden die Entscheidung nicht tragen. Gemäß der Auffassung des baden-württembergischen Justizressorts verstoße bereits die Straßenverkehrsordnung in der Neufassung von März 2013 gegen das Zitiergebot, da der Hinweis auf einen Satz in § 6 StVG, in dem unter anderem die Ermächtigung zum Erlass von Vorschriften für die Sicherheit und Ordnung auf öffentlichen Straßen geregelt werde, fehle. Möglicherweise sei bereits bei der Änderung der Straßenverkehrsordnung im August 2009 das Zitiergebot verletzt worden. Somit könnten die vom Amtsgericht zitierten Vorschriften die Entscheidung nicht tragen; anzuwenden sei die bis zum 31. August 2009 geltende Rechtslage. Er hat beantragt, den Bußgeldbescheid aufzuheben und das angefochtene Urteil abzuändern.
4
Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Rechtsbeschwerde gemäß § 349 Abs. 2 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG als unbegründet zu verwerfen.
II.
5
Die durch die Einzelrichterin gemäß § 80a Abs. 3 Satz 1 OWiG dem Bußgeldsenat in der Besetzung mit drei Richtern übertragene Rechtsbeschwerde ist fristgerecht eingelegt worden und auch sonst zulässig. In der Sache hat sie jedoch keinen Erfolg.
6
Die Nachprüfung der angefochtenen Entscheidung zeigt keine Rechtsverletzung zum Nachteil des Betroffenen auf.
1.
7
Die Rüge der Verletzung der Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens (§ 338 Nr. 6 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG) ist nicht in einer den formellen Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3, 80 Abs. 3 OWiG genügenden Weise erhoben. Insoweit nimmt der Senat auf die zutreffenden Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft in der Antragsschrift vom 24. September 2020 Bezug. Dass Personen, die bei Ansprache im Rahmen der Einlasskontrolle als Begehr geäußert hätten, als Zuschauer an einer öffentlichen Verhandlung beim Amtsgericht Helmstedt teilnehmen zu wollen, der Zugang zum Gericht verwehrt geblieben sei, hat der Verteidiger gerade nicht dargetan. Darüber hinaus fehlt Vortrag dazu, ob die Vorsitzende einen etwaigen Verstoß gegen § 169 GVG bemerkt habe oder hätte bemerken müssen; dies ist ebenfalls darzulegen (BGH, Beschluss vom 28. September 2011 – 5 StR 245/11, juris, Rn. 8).
2.
8
Die auf die in (noch) zulässiger Weise erhobene Sachrüge hin veranlasste Nachprüfung des Urteils deckt ebenfalls keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Betroffenen auf.
9
Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen des Amtsgerichts tragen die Verurteilung wegen fahrlässiger Verkehrsordnungswidrigkeit (fahrlässige Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 46 km/h); zudem ist auch die Rechtsfolgenentscheidung rechtlich nicht zu beanstanden. Der Erörterung bedarf insoweit allein Folgendes:
a.
10
Es begegnet keinen Bedenken, dass die Tatrichterin die auf der Grundlage von §§ 24, 25 StVG erfolgte Verhängung der Geldbuße in Höhe von 160 € und des Fahrverbotes von einem Monat unter Bezugnahme auf Nr. 11.3.7 der Tabelle 1 zur Bußgeldkatalogverordnung in der bis zum 27. April 2020 geltenden Fassung begründet hat. Der von dem Verteidiger unter Bezugnahme auf eine vom baden-württembergischen Justizressort geäußerte Auffassung gestützte Einwand gegen die Gültigkeit der Straßenverkehrsordnung, es fehle ein Hinweis „auf einen Satz in § 6 des StVG“, weshalb bereits die Straßenverkehrsordnung in der Neufassung von März 2013 sowie „möglicherweise“ auch die Straßenverkehrsordnung in der Fassung der im August 2009 erfolgten Änderung gegen das Zitiergebot verstoße, geht fehl.
11
Die Straßenverkehrsordnung in der Fassung vom 6. März 2013 verletzt das Zitiergebot nicht. Durch die in der Eingangsformel erfolgte Nennung einzelner Buchstaben des § 6 Abs. 1 Nr. 3 StVG ist auch der erste Halbsatz von § 6 Abs. 1 Nr. 3 StVG – der die allgemeine Ermächtigungsgrundlage zum Erlass für Vorschriften, unter anderem zur Erhaltung der Sicherheit und Ordnung auf öffentlichen Straßen, beinhaltet – mitumfasst. Denn der den Buchstaben nachfolgende Text bildet mit dem vorhergehenden ersten Satzteil (§ 6 Abs. 1 Nr. 3 Halbsatz 1 StVG mit dem jeweils nachfolgenden zweiten Satzteil der verschiedenen Buchstaben) eine untrennbare Einheit (OLG Oldenburg, Beschluss vom 8. Oktober 2020 – 2 Ss (OWi) 230/20), Rn. 11, juris).
b.
12
Der Ahndung der hier am 18. Februar 2020 begangenen Verkehrsordnungswidrigkeit steht auch nicht eine etwaige (Teil-) Nichtigkeit der am 28. April 2020 in Kraft getretenen 54. Verordnung zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften vom 20. April 2020 (BGBl. I, 814; im Folgenden auch: „StVO-Novelle 2020“) entgegen.
13
Mit der vorgenannten StVO-Novelle 2020 wurden eine Vielzahl von Vorschriften insbesondere der Straßenverkehrsordnung (Art. 1) und der Bußgeldkatalogverordnung (Art. 3) geändert. Unter anderem wurden Fahrverbote als Regelfolge für Geschwindigkeitsüberschreitungen ab innerorts 21 km/h und außerorts 26 km/h in die Tabelle 1 zur BKatV eingefügt. Nach der Einleitungsformel ist die Verordnung u.a. aufgrund „des § 26a Abs. 1 Nr. 1 und 2 des Straßenverkehrsgesetzes“ ergangen. Anders als in der Eingangsformel der Bußgeldkatalog-Verordnung vom 14. März 2013 – wo insgesamt auf § 26a des Straßenverkehrsgesetzes als Ermächtigungsgrundlage verwiesen wird – ist demnach in der StVO-Novelle 2020 die zum Erlass von Vorschriften über die Anordnung von Fahrverboten maßgebliche Vorschrift des § 26a Abs. 1 Nr. 3 StVO – mutmaßlich aufgrund eines Redaktionsversehens – nicht als Ermächtigungsgrundlage benannt. In der Literatur wird deshalb unter Berufung auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (sog. Legehennen-Entscheidung, BVerfG, Urteil vom 6. Juli 1999 – 2 BvF 3/90, juris) verstärkt vertreten, die StVO-Novelle 2020 sei wegen Verstoßes gegen das Zitiergebot des Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG insoweit nichtig, als die BKatV um neue Regelfahrverbote ergänzt wurde (Ipsen: Fahrverbot – verfassungswidrig? NVwZ 2020, 1326 ff.; Wienbracke: Gesamt- oder Teilnichtigkeit einer Rechtsverordnung bei nur partiellem Verstoß gegen das Zitiergebot? NJW 2020, 3351 ff.; Grube in: jurisPK-Straßenverkehrsrecht, § 4 BKatV Rn. 12.4.). Darüber hinaus wird teilweise auch die Auffassung vertreten, der Verstoß gegen das Zitiergebot führe zur Nichtigkeit der gesamten StVO-Novelle (vgl. Dr. Fromm, Geschwindigkeitsverstöße vor und nach der StVO-Novelle 2020 – Rechtliche Konsequenzen aus dem Verstoß gegen das Zitiergebot des Grundgesetzes, DAR 2020, 527 ff.). Die Bundesregierung hat sich im Rahmen ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage unter dem 8. Oktober 2020 (BT-Drs. 19/23215) zu den Folgen des Verstoßes gegen das Zitiergebot des Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG dahingehend positioniert, dass die fehlende Benennung der Ermächtigungsgrundlage für die Anordnung von Fahrverboten (§ 26a Abs. 1 Nr. 3 StVG) nach Auffassung des BMVI (Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur) und des BMI (Bundesministerium des Inneren, für Bau und Heimat) die Wirksamkeit des Artikels 3 der 54. StVRÄndV (StVO-Novelle 2020) insgesamt in Frage stelle.
14
Der Senat neigt der Auffassung zu, dass allein hinsichtlich der mit der StVO-Novelle 2020 eingeführten erweiterten Fahrverbote wegen des fehlenden Zitats der insoweit maßgeblichen Ermächtigungsgrundlage des § 26a Abs. 1 Nr. 3 StVG von einer Teilnichtigkeit auszugehen ist. Letztlich konnte er diese Frage aber dahinstehen lassen, weil es in der hier zur Beurteilung stehenden Fallkonstellation (Tatzeit vor dem 28. April 2020 und Zeitpunkt der Urteilsfindung nach Inkrafttreten der StVO-Novelle, keine Änderung der Sanktion durch die Neufassung der BKatV) hierauf nicht entscheidend ankam. Denn selbst wenn anzunehmen wäre, dass sich die am 28. April 2020 in Kraft getretenen Neufassung der BKatV als nichtig erweist, führt dies nicht dazu, dass die BKatV in ihrer bisherigen Form keine Grundlage mehr für die Ahndung von Verkehrsordnungswidrigkeiten darstellt (Anschluss: BayObLG, Beschluss vom 11. November 2020 – 201 ObOWi 1043/20, Rn. 8, juris). Durch Artikel 3 der 54. Verordnung zur Änderung straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften ist ausdrücklich lediglich eine Änderung der BKatV in ihrer bisherigen Fassung erfolgt, nicht hingegen deren Aufhebung und Neufassung. Für Änderungsgesetze ist anerkannt, dass bei deren Verfassungswidrigkeit die ursprüngliche Gesetzesfassung in Kraft bleibt und deshalb unverändert angewendet werden kann, sofern sie ihrerseits verfassungskonform ist und sich aus dem Änderungsgesetz nicht ergibt, dass der Gesetzgeber die alte Regelung auf jeden Fall abschaffen wollte (BVerfG, Beschluss vom 19. Juli 2000 – 1 BvR 539/96, BVerfGE 102, 197-224, Orientierungssatz 3 und Rn. 85, juris; BayObLG, a.a.O., Rn. 8; Hömig in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, 60. EL Juli 2020 Rn. 39, BVerfGG § 95 Rn. 39). Diese Grundsätze sind – erst recht – auch im Falle der (Teil-) Nichtigkeit der Änderung einer Rechtsverordnung anzuwenden. Dass der Verordnungsgesetzgeber mit der Änderung der BKatV zur Erhöhung der Verkehrssicherheit lediglich in Teilbereichen die Regelgeldbußen erhöhen und weitere Regelfahrverbote einführen – nicht hingegen, die bisherige BKatV auf jeden Fall oder gar ersatzlos aufheben – wollte, steht außer Frage.
c.
15
Der Ahndung der am 18. Februar 2020 von dem Betroffenen begangenen Verkehrsordnungswidrigkeit durch das hier angefochtene Urteil vom 16. Juli 2020 steht schließlich auch § 4 Abs. 3 OWiG nicht entgegen. Zwar findet der Regelungsinhalt dieser Norm auf die BKatV einschließlich deren Anlagen Anwendung (Rogall in: Karlsruher Kommentar zum OWiG, 5. Auflage, § 4 Rn. 8; OLG Köln Beschluss vom 11. Januar 1994 – Ss 573/93 (B) 294 B, BeckRS 1994, 122878, Rn. 7; BayOblG, a.a.O., Rn. 10). § 4 Abs. 3 OWiG würde eine Ahndung der Verkehrsordnungswidrigkeit infolge einer (Teil-) Nichtigkeit der StVO-Novelle 2020 aber nur dann hindern, wenn die Rechtsgrundlage für die Sanktion des Betroffenen mit einer Geldbuße und einem Fahrverbot in der BKatV zu verorten wäre und auch die vorherige Fassung der BKatV ihre Wirksamkeit verloren hätte. Beides ist indes nicht der Fall. Wie bereits dargelegt, hätte eine etwaige (Teil-) Nichtigkeit der Änderung der BKatV nur die Fortgeltung der vorherigen Fassung zur Folge. Darüber hinaus ist die BKatV aber auch nur eine Zumessungsrichtlinie mit Rechtssatzqualität (BGH, Beschluss vom 28. November 1991 – 4 StR 366/91, Rn. 25, m.w.N.), nicht jedoch Rechtsgrundlage der Sanktionierung des Betroffenen. Die durch § 26a Abs. 1 Nrn. 2 und 3, Abs. 2 StVG eröffnete und vom Verordnungsgesetzgeber mit Einführung der Bußgeldkatalog-Verordnung wahrgenommene Möglichkeit, Regeltatbestände vorzugeben, für die ohne Hinzutreten weiterer Umstände regelmäßig der Höhe nach bestimmte Geldbußen festgesetzt werden sollen, sowie solche Fälle zu normieren, in denen sich die Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers regelmäßig als besonders grob oder beharrlich im Sinne von § 25 StVG darstellt, dient allein der Sicherstellung einer einheitlichen Rechtsanwendung und der Einschränkung des für das Tatgericht erforderlichen Begründungsaufwandes (BGH, Beschluss vom 28. November 1991 – 4 StR 366/91, Rn. 25 ff.). Alleinige Rechtsgrundlage für die Verhängung von Fahrverboten und Geldbußen sind auch unter dem Regime der BKatV §§ 24, 24a, 25 StVG i.V.m. § 49 StVO, 17 OWiG (BGH, Beschluss vom 28. November 1991 – 4 StR 366/91, Rn. 13, juris; BayObLG, a.a.O., Rn. 11; vgl. auch Ipsen, NVwZ 2020, 1326 ff., 1329).
III.
16
Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG.
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens.Der Streitwert wird auf 5.000 ,-- EUR festgesetzt.
Gründe
I.
1 Die Antragsteller wenden sich - sachdienlich ausgelegt - gegen § 1 Abs. 1 der Verordnung des Sozialministeriums zu Quarantänemaßnahmen für Ein- und Rückreisende zur Bekämpfung des Coronavirus SARS-CoV-2 (Corona-Verordnung Einreise-Quarantäne – CoronaVO EQ) vom 06.11.2020 in der ab 18.11.2020 gültigen Fassung.
2 § 1 Abs. 1 der CoronaVO EQ bestimmt, dass Personen, die aus dem Ausland in das Land Baden-Württemberg einreisen und sich zu einem beliebigen Zeitpunkt in den letzten zehn Tagen vor Einreise in einem Gebiet aufgehalten haben, das in diesem Zeitraum Risikogebiet nach § 1 Abs. 4 CoronaVO EQ war oder noch ist, verpflichtet sind, sich unverzüglich nach der Einreise für einen Zeitraum von zehn Tagen abzusondern. Als Risikogebiet im Sinne des § 1 Abs. 1 CoronaVO EQ gilt ein Staat oder eine Region außerhalb der Bundesrepublik Deutschland, für den oder die ein erhöhtes Risiko für eine Infektion mit dem Coronavirus besteht. Die Einstufung als Risikogebiet erfolgt mit Ablauf des ersten Tages nach Veröffentlichung durch das Robert-Koch-Institut im Internet, nachdem das Bundesministerium für Gesundheit, das Auswärtige Amt und das Bundesministerium des Inneren, für Bau und Heimat darüber entschieden haben (§ 1 Abs. 4 CoronaVO EQ). § 2 CoronaVO EQ normiert verschiedene Ausnahmen von der Verpflichtung zur Absonderung. § 3 Abs. 1 CoronaVO EQ regelt die Verkürzung der Absonderungsdauer ab dem fünften Tag nach der Einreise, wenn ein negatives Testergebnis in Bezug auf eine Infektion mit dem Coronavirus vorgelegt wird.
3 Die Antragsteller sind Eigentümer eines Ferienhauses auf Mallorca. Sie tragen vor, sie müssten regelmäßig nach Mallorca reisen, um sich um ihr Eigentum zu kümmern. Aktuell seien Bauarbeiten zur Installation eines Notstromaggregats geplant, denn es komme immer wieder zu Stromausfällen. Sie hätten auch Sorge, dass sich Obdachlose in ihrem unbewohnten Haus einquartieren könnten. Außerdem hätten sie auf Mallorca ein Patenkind, zu dem der Kontakt faktisch unmöglich gemacht werde.
4 Die streitgegenständliche Verordnung sei rechtswidrig und müsse außer Vollzug gesetzt werden. Sie verstoße gegen den Parlamentsvorbehalt und das Zitiergebot. Überdies liege ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG vor. Die Differenzierungen der CoronaVO EQ, insbesondere im Hinblick auf die in § 2 getroffenen Ausnahmen seien nicht mehr rational nachvollziehbar und damit willkürlich. Außerdem stelle sich das von Reiserückkehrern ausgehende Infektionsrisiko bei vergleichbaren oder höheren Infektionszahlen im Inland nicht anders dar, als wenn sie daheim geblieben wären. Dies sei eine sachlich nicht gerechtfertigte ungleiche Behandlung vergleichbarer Sachverhalte.
5 Weiterhin greife die CoronaVO EQ in nicht gerechtfertigter Weise in Grundrechte der Antragsteller aus Art. 14 Abs. 1 GG (Eigentumsgrundrecht), Art. 11 Abs. 1 GG (Freizügigkeit), die Ausreisefreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG und die Berufsfreiheit aus Art. 12 GG ein. Es sei ihnen nicht möglich, nach Mallorca zu reisen, ohne nach ihrer Rückkehr nach Deutschland zwei Wochen für Quarantäne einplanen zu müssen. Aufgrund des beruflichen Status könnten sich dies die Antragsteller schlicht nicht erlauben. Mittelbar liege darin also auch ein Eingriff in ihre Berufsfreiheit.
6 Die angegriffenen Regelungen seien unverhältnismäßig. Eine Testung vor der Rückreise sei ausreichend. Zwar gebe es die Möglichkeit, eine Ausnahmebewilligung zu beantragen, einen solchen Antrag hätten sie auch gestellt, aber dieser sei noch nicht beschieden worden. Selbst wenn eine Ausnahme erteilt würde, sei zu berücksichtigen, dass die einmal erteilte Ausnahme kurzfristig wieder aufgehoben werden könne. Es sei nicht zumutbar, insoweit ein eigenständiges vorläufiges Rechtsschutzverfahren zu führen.
7 Die Antragsteller haben hilfsweise beantragt, die streitgegenständliche Vorschrift ihnen gegenüber individuell auszusetzen. Es bestehe eine atypische Sondersituation der Antragsteller, die dies rechtfertige. Es sei außerdem nicht nachvollziehbar, warum ein Test eines europäischen Landes nicht gleichwertig mit einem deutschen Test sein solle, dafür gebe es keine sachliche Rechtfertigung. Auf Mallorca hätten sie deutlich weniger Kontakt mit potenziellen Trägern des Coronavirus. Die Hygienevorgaben seien sehr hoch.
8 Der Antragsgegner ist dem Antrag entgegengetreten. Auf die gewechselten Schriftsätze sowie den Akteninhalt wird verwiesen.
II.
9 Der Senat entscheidet über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 47 Abs. 6 VwGO in der Besetzung mit drei Richtern (§ 9 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 1 VwGO). Die Besetzungsregelung in § 4 AGVwGO ist auf Entscheidungen nach § 47 Abs. 6 VwGO nicht anwendbar (VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 15.12.2008 - GRS 1/08 - ESVGH 59, 154).
10 1. Der (Haupt-)Antrag ist zulässig, aber nicht begründet.
11 a) Ein Antrag nach § 47 Abs. 6 VwGO ist zulässig, wenn ein in der Hauptsache gestellter oder noch zu stellender Normenkontrollantrag nach § 47 Abs. 1 VwGO voraussichtlich zulässig ist (vgl. zu dieser Voraussetzung Ziekow, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl., § 47 Rn. 387) und die gesonderten Zulässigkeitsvoraussetzungen für den Antrag nach § 47 Abs. 6 VwGO erfüllt sind. Beides ist hier der Fall.
12 Die Statthaftigkeit des Antrags in der Hauptsache folgt aus § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO, § 4 AGVwGO. Danach entscheidet der Verwaltungsgerichtshof auch außerhalb des Anwendungsbereichs des § 47 Abs. 1 Nr. 1 VwGO über die Gültigkeit von im Rang unter dem Landesgesetz stehenden Rechtsvorschriften. Dazu gehören Verordnungen der Landesregierung und von Landesministerien.
13 Die Jahresfrist des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO ist gewahrt.
14 Die Antragsteller sind antragsbefugt. Die Antragsbefugnis nach § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO hat jede natürliche oder juristische Person, die geltend machen kann, durch die Rechtsvorschrift oder deren Anwendung in ihren Rechten verletzt zu sein oder in absehbarer Zeit verletzt zu werden. Es genügt dabei, wenn die geltend gemachte Rechtsverletzung möglich erscheint (ausf. dazu Senat, Urt. v. 29.04.2014 - 1 S 1458/12 - VBlBW 2014, 462, mit zahlreichen Nachweisen). Ist der Antrag auf eine künftige Anwendung der Rechtsvorschrift gestützt, besteht die Antragsbefugnis, wenn die Anwendung der Norm hinreichend wahrscheinlich ist (BVerwG, Beschl. v. 03.11.1993 - 7 NB 3.93 - NVwZ-RR 1994, 172 <173>). Das ist der Fall, wenn die Rechtsverletzung nach den gegebenen Umständen bereits vorausgesehen werden kann, weil die Rechtsverletzung mit hinreichender Gewissheit für so nahe Zukunft droht, dass ein vorsichtig und vernünftig Handelnder sich schon jetzt zur Antragstellung entschließen darf (HessVGH, Beschl. v. 28.09.1976 - V N 3/76 - juris Rn. 23; Beschl. v. 03.11.1980 - VIII N 2/79 - NJW 1981, 779; Kopp/Schenke, VwGO, 25. Aufl., § 47 Rn. 60). Nach diesem Maßstab besteht die Antragsbefugnis. Denn es ist möglich, dass die Antragsteller bald, nämlich bei einer Rückkehr nach Deutschland nach einem Aufenthalt auf Mallorca von der angegriffenen Regelung betroffen und jedenfalls in ihrem Grundrecht auf Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG sowie ihrem Grundrecht auf Gleichbehandlung aus Art. 3 Abs. 1 GG verletzt sind. Eine Grundrechtsverletzung zumindest in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG erscheint auch möglich, wenn die Antragsteller aufgrund der einzuhaltenden Quarantäne bei Rückkehr aus einem Risikogebiet ganz von ihren Reiseplänen Abstand nehmen sollten.
15 Für einen etwaigen Antrag in der Hauptsache und den nach § 47 Abs. 6 VwGO liegt ein Rechtsschutzinteresse jeweils vor. Denn mit einem Erfolg ihrer Anträge könnten die Antragsteller ihre Rechtsstellung verbessern.
16 b) Der Antrag nach § 47 Abs. 6 VwGO ist aber nicht begründet.
17 Nach § 47 Abs. 6 VwGO kann der Verwaltungsgerichtshof auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist. Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind zunächst die Erfolgsaussichten des Normenkontrollantrags in der Hauptsache, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen. Ist danach der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht im Sinne von § 47 Abs. 6 VwGO zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Ergibt diese Prüfung, dass ein Normenkontrollantrag in der Hauptsache voraussichtlich begründet wäre, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug der streitgegenständlichen Satzung oder Rechtsvorschrift zu suspendieren ist. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug der Rechtsvorschrift vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist. Lassen sich die Erfolgsaussichten des Normenkontrollverfahrens nicht abschätzen, ist über den Erlass einer beantragten einstweiligen Anordnung im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden: Gegenüberzustellen sind die Folgen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Normenkontrollantrag aber Erfolg hätte, und die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Antrag nach § 47 Abs. 1 VwGO aber erfolglos bliebe. Die für den Erlass der einstweiligen Anordnung sprechenden Erwägungen müssen die gegenläufigen Interessen dabei deutlich überwiegen, also so schwer wiegen, dass der Erlass der einstweiligen Anordnung - trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache - dringend geboten ist (BVerwG, Beschl. v. 25.02.2015 - 4 VR 5.14 -, ZfBR 2015, 381; Beschl. v. 16.09.2015 - 4 VR 2/15 -, juris; VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 09.08.2016 - 5 S 437/16 -, juris m.w.N.; Beschl. v. 13.03.2017 - 6 S 309/17 - juris). Mit diesen Voraussetzungen stellt § 47 Abs. 6 VwGO an die Aussetzung des Vollzugs einer untergesetzlichen Norm erheblich strengere Anforderungen, als § 123 VwGO sie sonst an den Erlass einer einstweiligen Anordnung stellt (BVerwG, Beschl. v. 18.05.1998 - 4 VR 2/98 - NVwZ 1998, 1065).
18 Hieran gemessen bleibt der Antrag der Antragsteller ohne Erfolg. Die Erfolgsaussichten des Normenkontrollantrags in der Hauptsache sind offen (aa). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung ist aber nicht i.S.v. § 47 Abs. 6 VwGO dringend geboten (bb).
19 aa) Die Erfolgsaussichten des Normenkontrollantrags in der Hauptsache sind offen. Denn eine abschließende Klärung der Rechtmäßigkeit von § 1 Abs. 1 CoronaVO EQ und der Einstufung Mallorcas als Risikogebiet muss einem etwaigen Hauptsacheverfahren nach § 47 VwGO vorbehalten bleiben (1). Davon abgesehen dürfte jedoch weder ein unverhältnismäßiger Eingriff in die Freiheitsgrundrechte der Antragsteller (2) noch ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 3 Abs.1 GG, dazu unter (3)) vorliegen. Auch ein Verstoß gegen Unionsrecht kommt aller Voraussicht nach nicht in Betracht (4).
20 (1) Die Regelung des § 1 Abs. 1 CoronaVO EQ ist auf die Rechtsgrundlage in § 32 Satz 1, 2 i.V.m. § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG gestützt. Hiernach kann durch Rechtsverordnung der Landesregierung (oder nach Subdelegation durch eine andere Stelle) bei sonstigen Kranken sowie Krankheitsverdächtigten, Ansteckungsverdächtigen und Ausscheidern angeordnet werden, dass sie in einem geeigneten Krankenhaus oder in sonst geeigneter Weise abgesondert werden. In § 17 der Verordnung der Landesregierung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS-CoV-2 (CoronaVO) vom 23. Juni 2020 (in der ab 02.11.2020 gültigen Fassung) i.V.m. § 21 Abs. 1 Satz 3 der Verordnung der Landesregierung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS-CoV-2 (CoronaVO) vom 30. November 2020 hat die Landesregierung das Sozialministerium ermächtigt, durch Rechtsverordnung Regelungen für Ein- und Rückreisende – insbesondere (1.) die Absonderung von Personen, die aus einem Staat außerhalb der Bundesrepublik Deutschland einreisen – zur Bekämpfung des Coronavirus zu erlassen.
21 Die Beantwortung der Frage, ob § 1 Abs. 1 CoronaVO EQ auf die Ermächtigungsgrundlage des § 32 Satz 1, 2 i.V.m. § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG gestützt werden kann, muss einer abschließenden Klärung in einem etwaigen Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Zu klären ist dabei zunächst, ob eine Person, die aus einem Risikogebiet gem. § 1 Abs. 4 CoronaVO EQ nach Baden-Württemberg einreist, als ansteckungsverdächtig iS.d. § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG i.V.m. § 2 Nr. 7 IfSG angesehen werden kann. Weiterhin offen ist die Frage, ob die Einstufung von Ländern als Risikogebiete auf einer tragfähigen Grundlage beruht (ausführlich zu dieser Diskussion: BayVGH, Beschl. v. 28.09.2020 – 20 NE 20.2142 – juris Rn. 23; OVG Schl.-Holst., Beschl. v. 30.10.2020 – 3 MR 51/20 – juris Rn. 14; VGH Bad.-Württemb., Beschl. v. 16.07.2020 – 1 S 1792/20 – juris Rn.26 ff).
22 Es drängt sich derzeit nicht auf, dass die bislang durch die zuständigen Stellen vorgenommenen Einstufungen von Gebieten als Risikogebiete i.S.d. § 1 Abs. 4 CoronaVO jeder Grundlage entbehren und ein Normenkontrollantrag in der Hauptsache daher voraussichtlich begründet wäre (vgl. Senat, Beschl. v. 16.07.2020, a.a.O, Rn. 33). Nach den Informationen des Robert-Koch-Instituts erfolgt die Einstufung als Risikogebiet
23 „nach gemeinsamer Analyse und Entscheidung durch das Bundesministerium für Gesundheit, das Auswärtige Amt und das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat. Die Einstufung als Risikogebiet basiert auf einer zweistufigen Bewertung. Zunächst wird festgestellt, in welchen Staaten/Regionen es in den letzten sieben Tagen mehr als 50 Neuinfizierte pro 100.000 Einwohner gab. In einem zweiten Schritt wird nach qualitativen und weiteren Kriterien festgestellt, ob z.B. für Staaten/Regionen, die den genannten Grenzwert nominell über- oder unterschreiten, dennoch die Gefahr eines nicht erhöhten oder eines erhöhten Infektionsrisikos vorliegt. Für die EU-Mitgliedstaaten wird seit der 44. Kalenderwoche hier insbesondere die nach Regionen aufgeschlüsselte Karte des Europäischen Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) berücksichtigt. Die Karte enthält Daten zur Rate der SARS-CoV-2-Neuinfektionen, zur Testpositivität und zur Testrate. Für Bewertungsschritt 2 liefert außerdem das Auswärtige Amt auf der Grundlage der Berichterstattung der deutschen Auslandsvertretungen sowie ggf. das Bundesministerium für Gesundheit sowie das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat qualitative Berichte zur Lage vor Ort, die auch die jeweils getroffenen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie beleuchten. Maßgeblich für die Bewertung sind insbesondere die Infektionszahlen und die Art des Ausbruchs (lokal begrenzt oder flächendeckend), Testkapazitäten sowie durchgeführte Tests pro Einwohner sowie in den Staaten ergriffene Maßnahmen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens (Hygienebestimmungen, Kontaktnachverfolgung etc.). Ebenso wird berücksichtigt, wenn keine verlässlichen Informationen für bestimmte Staaten vorliegen.“ (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikogebiete_neu.html, zuletzt abgerufen am 01.12.2020)
24 Es ist grundsätzlich nicht zu beanstanden, die Pflicht zur Absonderung an die Einreise aus einem ausländischen Risikogebiet anzuknüpfen, denn die Einreise aus anderen Ländern mit einem erheblichen Infektionsgeschehen stellt eine bedeutende Gefahrenquelle für die Weiterverbreitung des Coronavirus in Deutschland dar, der Aufenthalt und das Reisen in einem Risikogebiet birgt insoweit relevante Infektionsquellen (Senat, Beschl. v. 16.07.2020 – 1 S 1792/20 – juris Rn. 31, so auch Thür. OVG, Beschl. v. 15.06.2020 – 3 EN 375/20 - juris Rn. 73). Untermauert wird dieser Befund durch die Erfahrungen nach den Sommerferien 2020. Hier hat sich gezeigt, dass von Rückkehrern aus ausländischen Risikogebieten erhebliche Eintragungen des SARS-CoV-2-Virus nach Deutschland ausgingen. Das Robert-Koch-Institut führt hierzu in seinem Lagebericht vom 01.12.2020 aus:
25 „In der Anfangsphase der COVID-19-Epidemie in Deutschland lag in Meldewoche 11 der Anteil von allen Fällen mit Expositionsort im Ausland bei 46%. Im Zuge der Reisebeschränkungen ist dieser Anteil stetig gefallen, auf 0,4% in der Meldewoche 19. Seit der 25. Meldewoche gab es erste Grenzöffnungen, zunächst in Europa. Ab dann stieg der Anteil der Fälle mit Angabe eines wahrscheinlichen Infektionslandes im Ausland wieder an, erreichte seinen Höhepunkt in der Meldewoche 34 mit 49% und nimmt seitdem kontinuierlich wieder ab. Die absolute Zahl an Fällen mit Auslandsexposition war nach dem Ende der Sommerferienzeit (KW 38) bis KW 45 mit im Mittel 1700 Fällen pro Woche stabil. Sie nimmt seitdem ab auf derzeit 468 Fälle in KW 48. Der Anteil an allen Fällen mit einer Angabe einer Exposition im Ausland ist deutlich gesunken, auf 0,4% in KW 48. In KW 45-48 gaben 3.899 Personen einen möglichen Infektionsort im Ausland an.“ (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Dez_2020/2020-12-01-de.pdf?__blob=publicationFile)
26 (2) § 1 Abs. 1 CoronaVO EQ greift voraussichtlich nicht in unverhältnismäßiger Weise in die Freiheitsgrundrechte der Antragsteller ein.
27 (a) In der aus § 1 Abs. 1 CoronaVO EQ resultierenden Verpflichtung Rückreisender aus ausländischen Risikogebieten, sich für zehn Tage in häusliche Quarantäne oder in eine andere, eine Absonderung ermöglichende Unterkunft zu begeben, liegt voraussichtlich kein unverhältnismäßiger Eingriff in das die körperliche Bewegungsfreiheit schützende Grundrecht auf Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG.
28 Der Verordnungsgeber verfolgt mit der Absonderungsverpflichtung legitime Ziele ((aa)), das zur Erreichung derselben in § 1 Abs. 1 CoronaVO EQ gewählte Mittel ist geeignet ((bb)), erforderlich ((cc)) sowie beim derzeitigen Stand der Pandemie und des Infektionsgeschehens auch angemessen ((dd)).
29 (aa) Mit der angefochtenen Bestimmung verfolgt der Verordnungsgeber legitime Ziele.
30 In der hier streitgegenständlichen CoronaVO EQ werden Quarantänemaßnahmen im Zusammenhang mit dem internationalen Reiseverkehr angeordnet. Die Absonderungsverpflichtung aus § 1 Abs. 1 CoronaVO EQ bei Ein- bzw. Rückreise aus Risikogebieten im Ausland dient dem Ziel, Eintragungen von Infektionen aus dem Ausland zu verhindern und neue Infektionsherde zu unterbinden. Hierdurch soll auch der Erfolg, der in Deutschland und im europäischen Raum bereits ergriffenen Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus nicht weiter gefährdet werden (vgl. Begründung CoronaVO EQ, LT-Drucks. 16/9225 v. 06.11.2020, S. 10 f.).
31 In Deutschland gelten unter dem Stichwort „lockdown light“ seit dem 02.11.2020 wieder weitgehende Einschränkungen des öffentlichen Lebens. Mit § 13 der (allgemeinen) CoronaVO, hat der Verordnungsgeber im Kern die Schließung zahlreicher (Freizeit-)Einrichtungen und Betriebe, ein Beherbergungsverbot für private Reisen sowie in § 9 CoronaVO die Reduzierung privater Kontakte angeordnet.
32 Ziel all dieser Maßnahmen ist es, die Anzahl physischer Kontakte in der Bevölkerung signifikant zu reduzieren, um Infektionsketten zu unterbrechen und die weitere unkontrollierte Ausbreitung des Coronavirus abzubremsen (vgl. Verordnungsbegründung CoronaVO v. 30.11.2020, https://www.baden-wuerttemberg.de/fileadmin/redaktion/dateien/PDF/Coronainfos/201130_Begründung_5._CoronaVO.pdf, S. 1 ff., 27 ff.). Der Verordnungsgeber handelt hier in Erfüllung der ihn gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG grundsätzlich treffenden Schutzpflicht (vgl. zu Letzterem BVerfG, Beschl. v. 16.10.1977 - 1 BvQ 5/77 -, juris Rn. 13 f.). Damit verfolgt er legitime Ziele, denn die Ausbreitung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 ist von der WHO als Pandemie eingestuft worden. Die bisherigen Erfahrungen in der Bundesrepublik und in anderen Staaten zeigen, dass die exponentiell verlaufende Verbreitung des besonders leicht im Wege der Tröpfcheninfektion und über Aerosole von Mensch zu Mensch übertragbaren Virus nur durch eine strikte Minimierung der physischen Kontakte zwischen den Menschen eingedämmt werden kann. Entsprechend der aktuellen Einschätzung des dazu berufenen Robert-Koch-Instituts (vgl. Lagebericht vom 01.12.2020, abrufbar unter https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Dez_2020/2020-12-01-de.pdf?__blob=publicationFile), ist weiterhin eine große Anzahl an Übertragungen des Coronavirus in der Bevölkerung zu beobachten. Die Inzidenz der letzten 7 Tage liegt deutschlandweit bei zuletzt 137 Fällen pro 100.000 Einwohner. Seit Anfang September nimmt der Anteil älterer Personen unter den COVID-19-Fällen zu. Die 7-Tages-Inzidenz bei Personen über 60 Jahren liegt bei 117 Fällen/100.000 Einwohner. Die Zahl der intensivmedizinisch behandelten COVID-19-Fälle ist seit Mitte Oktober 2020 stark angestiegen, von 655 Patienten am 15.10.2020 auf 3.919 am 01.12.2020. Die berichteten R-Werte lagen im Oktober stabil deutlich über 1, seit Anfang November schwankt er um 1. Das bedeutet, dass im Durchschnitt jede Person, die mit SARS-CoV-2 infiziert ist, ca. eine weitere Person ansteckt. Da die Zahl der infizierten Personen derzeit in Deutschland sehr hoch ist, bedeutet dies weiterhin eine hohe Zahl von täglichen Neuerkrankungen (vgl. RKI, a.a.O.). Es steht zu befürchten, dass ab einer bestimmten Schwelle (in aktuellen wissenschaftlichen Einschätzungen wird die Zahl von weniger als 20.000 Neuinfektionen pro Tag in Betracht gezogen) die Kontrolle über das Infektionsgeschehen verlorengeht. Bei Überschreitung des Schwellenwerts sind die Nachverfolgung einzelner Ausbrüche und strikte Isolationsmaßnahmen nicht mehr realisierbar und eine unkontrollierte Ausbreitung in alle Bevölkerungsteile einschließlich vulnerabler Gruppen und damit einhergehend eine Überlastung des Gesundheitssystems zu befürchten (vgl. die Stellungnahme der Gesellschaft für Virologie zu einem wissenschaftlich begründeten Vorgehen gegen die Covid-19 Pandemie, 19.10.2020, https://www.g-f-v.org/sites/default/files/Stellungnahme% 20John %20Snow %20Memorandum_Public_3.pdf).
33 (bb) Die angefochtene Vorschrift stellt ein geeignetes Mittel dar, um die genannten legitimen Ziele zu erreichen.
34 Ein Gesetz ist geeignet, wenn mit seiner Hilfe der erstrebte Erfolg gefördert werden kann (vgl. Senat, Beschl. v. 09.04.2020 – 1 S 925/20 – juris Rn. 45 m.w.N.). Diese Voraussetzung erfüllt der angefochtene § 1 Abs. 1 CoronaVO EQ. Durch die Verpflichtung zur Absonderung nach Einreise kann die unbemerkte Eintragung von Infektionen aus dem Ausland verhindert werden. Nach den gängigen wissenschaftlichen und epidemiologischen Erkenntnissen genügt eine Absonderung Ansteckungsverdächtiger von zehn Tagen, um Ansteckungen anderer Menschen zu verhindern, da die Inkubationszeit im Mittel fünf bis sechs Tage beträgt und selten Krankheitssymptome später als nach dem zehnten Tag auftreten; ähnliches gilt für die Infektiösität, da nur vom achten bis zehnten Tag von kranken Personen infektiöses Virusmaterial ausgeschieden wird (vgl. RKI- Steckbrief Coronavirus [Nr. 5 und 10], https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html;jsessionid=FD627E2A56EB64144B913895CF295DA0.internet072#doc13776792bodyText5; s.a. Begründung CoronaVO EQ, a.a.O, S. 12).
35 Die Eignung der angefochtenen Bestimmung wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass – wie die Antragsteller geltend machen – das Infektionsgeschehen des Coronavirus in Deutschland und an ihrem Wohnort höher ist, als am Zielort ihrer Reise. Dieser Umstand ändert an der Frage der Geeignetheit der Maßnahme zur Eindämmung der Virusverbreitung nichts. Im Falle der Eintragung einer Infektion aus dem Ausland ist gerade die Verpflichtung zur Absonderung und die damit einhergehende Reduzierung von Kontakten geeignet, „neue“ Infektionsketten erst gar nicht entstehen zu lassen und so der Ausbreitung des Virus entgegenzuwirken.
36 (cc) Die Regelung in § 1 Abs. 1 CoronaVO EQ ist zur Erreichung der von dem Verordnungsgeber verfolgten Ziele auch aller Voraussicht nach im Rechtssinne erforderlich.
37 Ein Gesetz ist erforderlich, wenn der Gesetzgeber nicht ein anderes, gleich wirksames, aber das Grundrecht nicht oder weniger stark einschränkendes Mittel hätte wählen können, wobei dem Gesetzgeber insoweit ein Beurteilungsspielraum zusteht (vgl. BVerfG, Beschl. v. 20.06.1984, 1 BvR 1494/78 – juris Rn. 54 ff., und v. 09.03.1994 – 2 BvL 43/92 – juris Rn. 122, jeweils m.w.N.).
38 Der Erforderlichkeit der Verpflichtung zur Absonderung für zehn Tage steht insbesondere nicht der von den Antragstellern sinngemäß geltend gemachte Einwand entgegen, dass – wie bisher nach der Vorgängerregelung – eine Testung binnen 48 Stunden vor Ausreise aus dem Risikogebiet ausreichend sei. Wie oben bereits ausgeführt, beträgt die mittlere Inkubationszeit fünf bis sechs Tage. Ein Test vor Ausreise aus dem Risikogebiet hat, da bis zur Rückkehr weitere Ansteckungsgefahren (z.B. vor Ort, am Flughafen, bei der Rückreise) bestehen, notwendigerweise eine geringere Aussagekraft als ein Test nach bereits absolvierter fünftägiger Absonderung zuhause. Gerade die Erfahrungen im Zusammenhang mit dem Rückreiseverkehr nach den Sommerferien haben gezeigt, dass aufgrund der durchschnittlichen Inkubationszeit eine Vielzahl von Infektionen durch eine (negative) Testung vor der Rückreise nicht erfasst wurden. Dieses verbleibende Restrisiko wird vom Verordnungsgeber nur noch in bestimmten – in § 2 Abs. 3 CoronaVO näher konkretisierten Ausnahmefällen – toleriert, deren Anwendungsbereich im vorliegenden Falle aber nicht eröffnet ist.
39 (dd) Die Regelung in § 1 Abs. 1 CoronaVO EQ ist beim gegenwärtigen Stand des Infektionsgeschehens in Deutschland auch aller Voraussicht nach verhältnismäßig im engeren Sinne. Eingriffszweck und Eingriffsintensität stehen derzeit in einem angemessenen Verhältnis zueinander.
40 Der Antragsgegner verfolgt mit der Absonderungsverpflichtung den Schutz von hochrangigen, ihrerseits den Schutz der Verfassung genießenden wichtigen Rechtsgütern. Die Vorschrift dient, wie gezeigt, dazu, - auch konkrete - Gefahren für das Leben und die körperliche Unversehrtheit einer potenziell großen Zahl von Menschen abzuwehren. Die angefochtene Norm bezweckt zugleich, die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems in Deutschland durch die Verlangsamung des Infektionsgeschehens sicherzustellen. Der Antragsgegner kommt damit der ihn aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG grundsätzlich treffenden Schutzpflicht nach.
41 Der Senat misst den von dem Antragsgegner verfolgten Eingriffszwecken ein sehr hohes Gewicht bei. Er geht insbesondere davon aus, dass die Gefahren, deren Abwehr die angefochtene Vorschrift dient, derzeit in hohem Maße bestehen und das derzeit bereits bestehende exponentielle Wachstum in kurzer Zeit weiter ansteigen kann. Das RKI führt in seiner aktuellen „Risikobewertung zu COVID-19“ (Stand 01.12.2020) unter anderem aus:
42 „Es handelt sich weltweit, in Europa und in Deutschland um eine sehr dynamische und ernst zu nehmende Situation. Weltweit nimmt die Anzahl der Fälle weiter zu. Ab Ende August (KW 35) wurden wieder vermehrt Übertragungen in Deutschland beobachtet. Dieser Trend hat sich im Laufe der Herbstmonate intensiviert. Nach dem Teil-Lockdown ab dem 1. November konnte der anfängliche exponentielle Anstieg in ein Plateau überführt werden, die Anzahl neuer Fälle ist allerdings weiterhin sehr hoch. Darüber hinaus ist die Zahl der zu behandelnden Personen auf den Intensivstationen stark angestiegen.
43 Das Infektionsgeschehen ist zurzeit diffus, in vielen Fällen kann das Infektionsumfeld nicht mehr ermittelt werden. COVID-19-bedingte Ausbrüche betreffen private Haushalte, das berufliche Umfeld sowie insbesondere auch Alten- und Pflegeheime. Die aktuelle Entwicklung weist darauf hin, dass neben der Fallfindung und der Kontaktpersonennachverfolgung auch der Schutz der Risikogruppen, den das RKI seit Beginn der Pandemie betont hat, noch konsequenter umgesetzt werden muss. Nur wenn die Zahl der neu Infizierten insgesamt deutlich sinkt, können auch Risikogruppen zuverlässig geschützt werden.
44 Noch gibt es keine zugelassenen Impfstoffe und die Therapie schwerer Krankheitsverläufe ist komplex und langwierig. Das Robert Koch-Institut schätzt die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland weiterhin als hoch ein, für Risikogruppen als sehr hoch.“ (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html, zuletzt abgerufen am 03.12.2020).
45 Diese Einschätzung des RKI beruht auf einer Auswertung der zurzeit vorhandenen wissenschaftlichen Erkenntnisse und ist inhaltlich nachvollziehbar. Sie gibt dem Senat Anlass, die vom Antragsgegner mit § 1 Abs. 1 CoronaVO EQ verfolgten Zwecke mit einem sehr hohen Gewicht in die gebotene Abwägung einzustellen. Dies rechtfertigt es gegenwärtig zweifellos, weiterhin auch normative und mit Grundrechtseingriffen verbundene Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zu ergreifen.
46 Die dem entgegenstehenden - grundrechtlich geschützten - Belange der Antragsteller, die für die Beurteilung der Zumutbarkeit der angefochtenen Bestimmung und des mit ihr bewirkten Grundrechtseingriffs zu berücksichtigen sind, weisen ebenfalls ein erhebliches Gewicht auf, denn nach der Rückreise aus einem ausländischen Risikogebiet würden sie verpflichtet, zehn Tage – nach Vorlage eines entsprechenden negativen Testergebnisses wenigstens fünf Tage – in häuslicher Quarantäne zu verbleiben und keinen Besuch zu empfangen.
47 Diese Beeinträchtigungen sind den Antragstellern aber bei der gebotenen Abwägung zum gegenwärtigen Zeitpunkt zumutbar. Zu berücksichtigen ist, dass die zehntägige Absonderungsverpflichtung gem. § 3 CoronaVO EQ nach fünf Tagen ab der Einreise enden kann, wenn die Person über ein negatives Testergebnis, welches aus einer mindestens fünf Tage nach der Einreise erfolgten Testung resultiert, verfügt. Dies verkürzt die verordnete Absonderung um etwas weniger als die Hälfte der Zeit. Weitere Verkürzungen oder Ausnahmen von der Absonderungsverpflichtung können sich aus den Regelungen des § 2 CoronaVO EQ ergeben. Die dort in Abs. 1 bis 4 normierten Ausnahmen knüpfen an die Dauer des Aufenthalts in einem Risikogebiet, bestimmte persönliche Gründe, berufliche Tätigkeiten oder ausgewählte Gemeinwohlaspekte an. Ausnahmen für touristische Reisen sind nur unter engen Voraussetzungen in § 2 Abs. 3 Nr. 7 CoronaVO EQ vorgesehen und setzen bestehende internationale Vereinbarungen voraus, die aktuell nicht bestehen.
48 Weiterhin steht es den Betroffenen gem. § 2 Abs. 5 CoronaVO EQ offen, einen Antrag an die zuständige Behörde auf Erteilung einer Ausnahmebewilligung zu richten. Diese Vorschrift ermöglicht eine Ausnahme von der Absonderungsverpflichtung für bestimmte atypische Sachverhaltskonstellationen, in denen nach Abwägung aller betroffenen Belange ein triftiger Grund eine Befreiung von der Absonderungspflicht rechtfertigt. Dieser Antrag ist unter Darlegung aller Aspekte an die zuständige Behörde zu richten (s.a. Begründung CoronaVO EQ, a.a.O., S. 22).
49 Schließlich ist im Rahmen der Angemessenheit zu berücksichtigen, dass die Einstufung ausländischer Staaten als Risikogebiete i.S.d. § 1 Abs. 4 CoronaVO EQ der ständigen Überprüfung unterliegt. So hat das Robert-Koch-Institut kürzlich (am 27.11.2020) bekanntgegeben, dass bestimmte Regionen Irlands sowie die Insel Peleponnes in Griechenland nicht mehr als Risikogebiet gelten (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikogebiete_neu.html;jsessionid=86E9D7B241E567C5E6F0E6E94283EE72.internet081?nn=13490888, zuletzt abgerufen am 30.11.2020). Da gegenwärtig die 7-Tages-Inzidenz auf den Balearen bei ca. 90 liegt (https://cerclemallorca.es/covid-data-balearic-islands-de/, Stand 30.11.2020, abgerufen am 30.11.2020), kommt bei einem weiteren Abflauen des Infektionsgeschehens eine Rücknahme der Einstufung als Risikogebiet in Betracht.
50 Darüber hinaus wird der Verordnungsgeber – wie bei allen eingreifenden Maßnahmen im Zusammenhang mit der Coronavirus-Pandemie – weiterhin gehalten sein, jederzeit kritisch im Blick zu behalten, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang die Maßnahmen das verfolgte Ziel tatsächlich erreichen und ob das Gesamtkonzept der Infektionsschutznahmen in den Corona-Verordnungen weiterhin in sich stimmig ist. Unter Berücksichtigung der Entwicklung der Infektionszahlen sowie der daraus gegebenenfalls resultierenden Belastung des Gesundheitswesens, wird er vor dem Hintergrund der bereits bewirkten Grundrechtseingriffe fortlaufend gründlich zu bewerten haben, ob die getroffenen Maßnahmen noch angemessen sind oder ob die Infektionsketten und die Infektionsgefahr auch mit milderen Eingriffen als beherrschbar angesehen werden können.
51 (b) Ob ein Eingriff in das Grundrecht auf Freizügigkeit aus Art. 11 GG besteht, kann hier offen bleiben. Dieser wie auch der vorliegenden Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) der Antragsteller, wäre aus den vorstehenden Erwägungen jedenfalls ebenfalls verhältnismäßig und damit gerechtfertigt.
52 (c) Ein Eingriff in die Grundrechte aus Art. 12 Abs. 1 GG sowie Art. 14 Abs. 1 GG liegt voraussichtlich nicht vor.
53 Die Absonderungspflicht gem. § 1 Abs. 1 CoronaVO EQ nach Rückkehr aus einem ausländischen Risikogebiet berührt die Berufsfreiheit der Antragsteller nicht unmittelbar. Zwar kann sie tatsächliche Auswirkungen auf die Berufstätigkeit der Antragsteller haben, weil diese für die Dauer der Absonderung weder ihre Wohnung verlassen noch Besuch empfangen dürfen. Für die Qualifizierung solcher faktischer Beeinträchtigungen als Eingriffe in die Berufsfreiheit ist jedoch erforderlich, dass eine objektiv berufsregelnde Tendenz erkennbar ist, oder dass die staatliche Maßnahme als nicht bezweckte, aber doch vorhersehbare und in Kauf genommene Nebenfolge eine schwerwiegende Beeinträchtigung der beruflichen Betätigungsfreiheit bewirkt (vgl. ständige Rspr. des BVerfG, Beschl. v. 30.10.1961 – 1 BvR 833/59 – BVerfGE 13, 181 <186>); Urt. v. 14.07.1998 – 1 BvR 1640/97 – BVerfGE 98, 218 <258 f. >; Sachs/Mann, 8. Aufl. 2018, GG Art. 12 Rn. 95 m.w.N.). Dies ist hier weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Der reine Verweis der Antragsteller auf ihre „Selbständigkeit“ vermag eine berufsregelnde Tendenz nicht substantiiert aufzuzeigen. Die Absonderungsverpflichtung verfolgt grundsätzlich eine berufsneutrale Zwecksetzung und bewirkt allenfalls eine reflexhafte Rückwirkung auf die Berufstätigkeit.
54 Die angefochtene Regelung der CoronaVO EQ stellt schließlich keinen Eingriff in die Eigentumsfreiheit nach Art. 14 Abs. 1 GG dar, sie beschränkt in keiner Weise die Zugriffsmöglichkeit der Antragsteller auf ihr Eigentum. Sie haben nach den derzeit geltenden Regelungen der CoronaVO EQ gerade die Möglichkeit, jederzeit auf ihr Eigentum zuzugreifen und es zu nutzen. Die Reise zum Ort des Ferienhauses ist weder durch eine Grenzschließung noch durch ein – grundsätzlich nach § 28a Abs. 1 Nr. 11 IfSG anordenbares – Reiseverbot verunmöglicht.
55 (3) Die Anordnung zur Absonderung in § 1 Abs. 1 CoronaVO EQ für Reiserückkehrer verstößt voraussichtlich auch nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG.
56 (a) Eine verfassungswidrige Ungleichbehandlung von Einreisenden aus ausländischen Risikogebieten und Personen, die sich im Inland in einem Gebiet mit erhöhter (i.e. über der Schwelle von 50 Neuinfektionen/100.000 Einwohner in den letzten 7 Tagen liegenden) Inzidenz aufgehalten haben, liegt voraussichtlich nicht vor, auch wenn die Inzidenz am Zielort der Reise vergleichbar oder niedriger als im Inland ist.
57 Wenn sich der Verordnungsgeber dafür entscheidet, die Absonderung für Einreisende aus sog. „Risikogebieten“ anzuordnen, ist er bei der Ausgestaltung der hierzu getroffenen Regelungen an den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebunden. Dieser gebietet dem Normgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Der Gleichheitssatz ist dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten oder Normbetroffenen im Vergleich zu einer anderen anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die unterschiedliche Behandlung rechtfertigen können. Dabei verwehrt Art. 3 Abs. 1 GG dem Gesetzgeber nicht jede Differenzierung. Differenzierungen bedürfen jedoch stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Differenzierungsziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind (st. Rspr., vgl. BVerfG, Beschl. v. 15.07.1998 - 1 BvR 1554/89 u.a. - BVerfGE 98, 365, 385; Beschl. v. 21.06.2011 - 1 BvR 2035/07 - BVerfGE 129, 49, 68 f.; Urt. v. 19.02.2013 - 1 BvL 1/11 u.a. - BVerfGE 133, 59, 86).
58 Der allgemeine Gleichheitssatz enthält nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keinen für jeden Regelungsbereich in gleicher Weise geltenden Maßstab. Je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen reichen die Grenzen für die Normsetzung vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse. Insoweit gilt ein stufenloser, am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab, dessen Inhalt und Grenzen sich nicht abstrakt, sondern nur nach den jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereichen bestimmen lassen (BVerfG, Beschl. v. 21.07.2010 - 1 BvR 611/07 u.a. - BVerfGE 126, 400, 416; Beschl. v. 18.07.2012 - 1 BvL 16/11 - BVerfGE 132, 179, 188).
59 Der jeweils aus Art. 3 Abs. 1 GG folgende Maßstab gilt für die normsetzende Exekutive entsprechend. Jedoch ist der dem Verordnungsgeber zukommende Gestaltungsspielraum enger. Ein solcher besteht von vornherein nur in dem von der gesetzlichen Ermächtigungsnorm abgesteckten Rahmen (Art. 80 Abs. 1 GG). Der Verordnungsgeber darf keine Differenzierungen vornehmen, die über die Grenzen einer formell und materiell verfassungsmäßigen Ermächtigung hinaus eine Korrektur der Entscheidungen des Gesetzgebers bedeuten würden. In diesem Rahmen muss er nach dem Gleichheitssatz im wohlverstandenen Sinn der ihm erteilten Ermächtigung handeln und hat sich von sachfremden Erwägungen freizuhalten (BVerfG, Beschl. v. 23.07.1963 - 1 BvR 265/62 - BVerfGE 16, 332, 338 f.; Beschl. v. 12.10.1976 - 1 BvR 197/73 - BVerfGE 42, 374, 387 f.; Beschl. v. 23.06.1981 - 2 BvR 1067/80 - BVerfGE 58, 68, 79; Beschl. v. 26.02.1985 - 2 BvL 17/83 - BVerfGE 69, 150, 160; Brenner, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl., Art. 80 Abs. 1 GG Rn. 73). Der Verordnungsgeber soll das Gesetz konkretisieren und „zu Ende denken“, weiter gehen seine Befugnisse jedoch nicht. Er muss daher den Zweckerwägungen folgen, die im ermächtigenden Gesetz angelegt sind. Gesetzlich vorgegebene Ziele darf er weder ignorieren noch korrigieren (Nierhaus, in: BK, Art. 80 Abs. 1 GG Rn. 330, 336 [Stand: November 1998]).
60 Die Regelungen des Verordnungsgebers in der CoronaVO EQ zu einer Absonderungspflicht für Reiserückkehrer aus ausländischen Risikogebieten haben sich daher an den Zwecken der Verordnungsermächtigung nach § 32 Satz 1 i.V.m. § 30 Abs. 1 IfSG auszurichten, wenn sie Ungleichbehandlungen vornehmen. Hieraus folgt, dass Ungleichbehandlungen grundsätzlich allein aus infektionsschutzrechtlichen Gründen erfolgen dürfen, da nur zu diesem Zweck die Verordnungsermächtigung erteilt ist. Denn § 32 Satz 1 i.V.m. §§ 28 bis 31 IfSG geben nur Befugnisse zu Schutzmaßnahmen aus Gründen des Infektionsschutzes, soweit und solange diese zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich sind (so schon Senat in zahlreichen Entscheidungen, vgl. Beschl. v. 30.04.2020 – 1 S 1101/20 – juris Rn. 46; Beschl. v. 06.11.2020 – 1 S 3388/20 – juris Rn. 17 ff.).
61 Diese Anforderungen hat der Normgeber hier voraussichtlich hinreichend beachtet. Die Gruppe der Reiserückkehrer aus ausländischen Risikogebieten sowie die Gruppe der Personen, die sich im Inland in einem Gebiet mit erhöhter Inzidenz aufgehalten haben, sind aus infektionsschutzrechtlicher Sicht keine vergleichbare Gruppe i.S.d. Art. 3 Abs. 1 GG ((aa)). Doch selbst wenn einer Vergleichbarkeit dieser Personengruppen angenommen würde, wäre die Ungleichbehandlung hinsichtlich der Absonderungspflicht aus infektionsschutzrechtlichen Gründen gerechtfertigt ((bb)).
62 (aa) In Deutschland gelten seit dem 02.11.2020 bundesweite und überwiegend einheitliche Vorschriften im Sinne eines „lockdown light“, die sowohl die gesamte Mobilität als auch den Reiseverkehr innerhalb der Bundesrepublik massiv einschränken: In Baden-Württemberg besteht ein Beherbergungsverbot für touristische Reisen (§ 13 Abs. 2 Nr. 3 CoronaVO) sowie die Verpflichtung zur Schließung von Gastronomiebetrieben für den Publikumsverkehr (§ 13 Abs. 2 Nr. 9 CoronaVO). Weiterhin wurden zahlreiche Einschränkungen des Freizeitbereichs (vgl. § 13 Abs. 2 Nr. 1,2,5,6,7,8 CoronaVO), wie beispielsweise aufgrund der Schließung von Vergnügungsstätten, Kunsteinrichtungen, Kinos, Museen, Theater, Messen und Ausstellungen, Freizeitparks, Sportanlagen, Schwimmbäder und Saunen, vorgenommen sowie Betriebsverbote für vielfältige Dienstleistungsbetriebe, die körpernahe Dienstleistungen anbieten, verhängt (§ 13 Abs. 2 Nr. 11 CoronaVO). Darüber hinaus bestehen Kontaktbeschränkungen gem. § 9 CoronaVO sowie allgemeinen Hygienemaßnahmen wie z.B. die Abstandsregel (§ 2 CoronaVO), die Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckungen im öffentlichen Bereich (§ 3 CoronaVO) sowie das Erfordernis zum Erstellen von Hygienekonzepten (§ 14 i.V.m. §§ 4ff. CoronaVO).
63 All diese Maßnahmen sind Teil des aktuellen Gesamtkonzepts zur Pandemiebekämpfung, zum Schutz der Bevölkerung vor individuellen Gesundheitsgefahren sowie der Vermeidung der Überlastung des gesamten Gesundheitswesens. Sie betreffen alle Personen, die sich im Bundesgebiet aufhalten und zielen darauf, die Verbreitung des Coronavirus einzudämmen.
64 Der Normgeber kann diese Beschränkungen des öffentlichen Lebens und individueller Freiheiten allerdings nur für seinen territorialen Hoheitsbereich treffen. Auf Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung im Ausland hat er hingegen keinen Einfluss. Reisen daher Personen aus einem ausländischen Risikogebiet ein, waren diese für die Zeit des Aufenthalts in diesem Gebiet nicht den gleichen Beschränkungen, die der Verordnungsgeber Reisenden in Baden-Württemberg oder Daheimgebliebenen auferlegt hat, unterworfen. Für den Verordnungsgeber ist nicht in jedem Einzelfall – bezogen auf jedes Land außerhalb der Bundesrepublik – nachprüfbar, welchen Infektionsrisiken Einreisende ausgesetzt waren. Aus diesem Grund sind diese beiden Gruppen bereits nicht vergleichbar.
65 (bb) Selbst wenn jedoch von einer wesentlichen Gleichheit der Gruppen und insoweit von einer Ungleichbehandlung auszugehen wäre, wäre diese jedenfalls aus infektionsschutzrechtlicher Sicht sachlich begründet und damit gerechtfertigt.
66 Die 7-Tages-Inzidenzen der meisten anderen Länder der Welt liegen weit über der in Deutschland. Für Europa betrachtet befindet sich Deutschland (Stand 27.11.2020) mit 152,8 Neuinfektionen in den letzten 7 Tagen/ 100.000 Einwohnern im unteren Drittel der 7-Tagesinzidenz. Spanien liegt mit 160,9 knapp darüber, während beispielsweise für Österreich mit 419,6 ein im Vergleich zu Deutschland ein fast dreimal so hoher Wert vorliegt (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1180169/umfrage/laender-mit-den-meisten-coronainfektionen-in-der-letzten-woche-in-europa/, Stand 27.11.2020, zuletzt abgerufen am 30.11.2020). Reiserückkehrer sind entgegen der Auffassung des OVG Nordrhein-Westfalen (Beschl. v. 20.11.2020 – 13 B 1770/20.NE) sehr wohl in den allermeisten Ländern im Vergleich zu Deutschland erhöhten Infektionsgefahren ausgesetzt.
67 Wie oben gezeigt, darf der Antragsgegner daher davon ausgehen, dass eine Reisetätigkeit ins Ausland eine durchaus relevante Gefahr für eine ansteigende Dynamik des Infektionsgeschehens in Baden-Württemberg darstellt, da die Gefahr der Eintragung zusätzlicher Infektionen besteht. Der Verordnungsgeber verfolgt letztlich im Inland wie für Einreisen aus dem Ausland, wenn auch durch unterschiedliche Maßnahmenbündel, dasselbe Ziel, nämlich Infektionsketten zu unterbrechen um dadurch die Ausbreitung des Coronavirus unter Kontrolle zu behalten.
68 (b) Auch die in § 2 CoronaVO EQ normierten Ausnahmetatbestände für Einreisende aus ausländischen Risikogebieten stellen voraussichtlich keinen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG dar. Insbesondere sind sie nicht willkürlich, das Ausnahmenkonzept ist in sich schlüssig. Die Ausnahmetatbestände wurden entlang nachvollziehbarer Kriterien normiert und berücksichtigen infektionsschutzrechtliche Gesichtspunkte. Sie dienen im Wesentlichen der Abfederung unbilliger Härten im familiären Bereich sowie wirtschaftlichen und gemeinwohlbezogenen Interessen. Allen Ausnahmetatbeständen ist gemein, dass sie entweder nur kurzfristige Einreisen nach Baden-Württemberg oder (Lebens-)Bereiche mit besonderen infektionsschutzrechtlichen Maßnahmen (z.B. in § 2 Abs. 4 CoronaVO EQ) betreffen. In Bezug auf diese Bereiche wird von einer niedrigeren Gefahr der Einschleppung von Infektionen nach Baden-Württemberg ausgegangen. Soweit bestimmte Personengruppen aus zwingenden Gründen des Gemeinwohls oder aufgrund bestimmter persönlicher Härten von der Absonderungspflicht befreit werden, gilt dies nur bei Vorlage eines negativen Testergebnisses, das nicht älter als 48 Stunden sein darf (§ 2 Abs. 3 Nr. 1 CoronaVO EQ). Ausnahmen für Urlaubsrückkehrer gibt es lediglich (im Gegensatz zu den Regelungen der Vorgängerverordnung) unter den sehr engen Voraussetzungen des § 2 Abs. 3 Nr. 7 CoronaVO EQ, die derzeit aber keine praktische Relevanz besitzen. Lediglich bei Vorliegen eines triftigen Grunds besteht die Möglichkeit der Erteilung einer Ausnahmegenehmigung durch die zuständige Behörde (§ 2 Abs. 5 CoronaVO EQ).
69 (4) § 1 Abs. 1 CoronaVO EQ begründet voraussichtlich auch keinen Verstoß gegen den unionsrechtlichen Grundsatz der Freizügigkeit nach Art. 21 AEUV. Dieser verleiht jedem Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Dieses Recht kann von den Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer Zuständigkeit – u.a. aus Gründen des Gesundheitsschutzes – beschränkt werden (Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim, 71. EL August 2020, AEUV Art. 21 Rn. 39). Eine solche Beschränkung stellen die Vorschriften der CoronaVO EQ – insbesondere die Regelungen, die eine Absonderungspflicht begründen – dar.
70 Bei der Prüfung der Unionsrechtmäßigkeit der Beschränkungen ist die „Empfehlung des Rates für eine koordinierte Vorgehensweise bei der Beschränkung der Freizügigkeit aufgrund der COVID-19-Pandemie“ (https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-11689-2020-REV-1/de/pdf) zu berücksichtigen. Diese Empfehlung, die der unionsweiten Koordinierung der Maßnahmen der Pandemiebekämpfung dient, soll gleichzeitig die Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit gewährleisten (Erwägungsgrund Nr. 9). Eine solche Empfehlung ist zwar für die Mitgliedstaaten nicht verbindlich (Art. 288 Abs. 5 AEUV), die innerstaatlichen Gerichte sind aber verpflichtet, bei der Auslegung innerstaatlicher Rechtsvorschriften, die verbindliche gemeinschaftliche Vorschriften ergänzen sollen, Empfehlungen des Europäischen Rates heranzuziehen (vgl. EuGH, Urt. v. 13.12.1989 - Rs C - 322/88 - BeckRS 9998, 80943; BayVGH, Beschl. v. 24.11.2020 – 20 NE 20.2605 –, juris Rn. 33).
71 Nr. 17 der Empfehlung statuiert, dass die Mitgliedstaten die Einreise aus anderen Mitgliedstaaten „im Prinzip“ nicht verweigern „sollten“. Den Mitgliedstaaten wird aber ausdrücklich eingeräumt, dass sie von Personen, die aus einem „gemäß Nummer 10 nicht als „grün“ eingestuften Gebiet [d.h. einem Gebiet mit einer 14-Tagesinzidenz von unter 25/100.000 Einwohnern und einer Testpositivitätsrate von unter 4%] einreisen, verlangen [können], dass sie a) sich in Quarantäne bzw. Selbstisolierung begeben“.
72 Die Regelung der CoronaVO EQ und insbesondere § 1 Abs. 1 CoronaVO EQ stehen voraussichtlich mit dieser Empfehlung des Rates in Einklang. Mit dieser Vorschrift wird die Einreise gerade nicht unmöglich gemacht, sondern nur unter den Vorbehalt der Absonderung gestellt. Auch die Einstufung als Risikogebiet gem. § 1 Abs. 4 CoronaVO EQ berücksichtigt die in der Empfehlung vorgegebenen Kennzahlen insoweit, als sie regelmäßig erst ab einer 7-Tages-Inzidenz von 50/100.000 Einwohnern vorgenommen wird (vgl. RKI: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikogebiete_neu.html).
73 bb) Nach der im Hinblick auf die offenen Erfolgsaussichten erforderlichen Folgenabwägung kann der Senat ein deutliches Überwiegen der von den Antragstellern geltend gemachten Belange gegenüber den von dem Antragsgegner vorgetragenen gegenläufigen Interessen nicht feststellen. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung erscheint daher nicht dringend geboten.
74 Gegenüberzustellen sind die Beeinträchtigungen, die die Antragsteller in Folge der Verpflichtung zu einer mindestens fünftägigen Absonderung hinzunehmen haben, sowie die zu erwartenden Auswirkungen einer (vorläufigen) Außervollzugsetzung der angefochtenen Vorschriften. Die Absonderungsverpflichtung wiegt für die Betroffenen schwer, denn in dieser Zeit ist ihr Bewegungsradius erheblich eingeschränkt und auf das häusliche Umfeld begrenzt. Auf der anderen Seite könnten durch die unerkannte Einschleppung einer im ausländischen Risikogebiet erworbenen Infektion im Geltungsbereich der Verordnung neue Infektionsketten entstehen und Leib und Leben einer Vielzahl von Personen gefährdet werden. Das Ziel der derzeit im Inland verhängten Maßnahmen, die Verbreitung des Coronavirus einzudämmen, um einer Überlastung des Gesundheitswesens entgegenzuwirken, würde damit konterkariert.
75 2. Soweit die Antragsteller hilfsweise beantragen, im Wege der einstweiligen Anordnung gem. § 47 Abs. 6 VwGO, die CoronaVO EQ vorläufig gegenüber den Antragstellern außer Kraft zu setzen, hat auch dieser Antrag keinen Erfolg. Er ist bereits nicht zulässig.
76 Gegenstand eines Normenkontrollverfahrens nach § 47 Abs. 1 VwGO als objektives Beanstandungsverfahren ist die Prüfung der Gültigkeit einer Rechtsvorschrift. Im Falle einer erfolgreichen Normenkontrolle kommt nur eine allgemein verbindliche Entscheidung in Betracht (vgl. § 47 Abs. 5 Satz 2 VwGO). Für das akzessorische Eilverfahren gilt insoweit nichts anderes (Ziekow, in NK-VwGO, 5. Aufl. 2018, § 47 Rn. 404; Schoch, in Schoch/Schneider VwGO, 39. EL Juli 2020, § 47, Rn. 182). Im Wege der einstweiligen Anordnung gem. § 47 Abs. 6 VwGO kann regelmäßig nur eine gänzliche oder teilweise Aussetzung des Vollzugs bzw. der Anwendung der angegriffenen Rechtsvorschrift mit genereller Wirkung in Betracht kommen (vgl. VGH Bad.-Württemb., Beschl. v. 19.09.1980 – 9 S 1762/80 – VBlBW 1981, 114 f; OVG Nds., Beschl. v. 23.06.1961 – I A 100/61 – juris Ls.; OVG Schl.-Holst., Beschl. v. 25.01.2000 – 2 M 53/99 – juris Rn. 9).
77 Dessen ungeachtet legen die Antragsteller keine hinreichenden Gründe dar, nach denen bezogen auf ihren individuellen Vortrag die vorläufige Aussetzung des Vollzugs der angegriffenen Vorschrift geboten wäre. Es steht ihnen jederzeit offen, bei der zuständigen Behörde einen Antrag auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung gem. § 3 Abs. 5 CoronaVO EQ zu stellen.
78 3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1, 2 GKG. Der Streitwert von 5.000,-- EUR ist im vorliegenden Eilverfahren wegen Vorwegnahme der Hauptsache nicht zu reduzieren.
79 Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
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Tenor
I. Auf die Berufung der Klagepartei wird das Urteil des Landgerichts Landshut vom 16.08.2019, Az. 73 O 3959/18, teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klagepartei 6.162,74 € nebst Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 29.01.2019 zu bezahlen, Zug um Zug gegen Rückgabe und Übereignung des Fahrzeugs VW Polo mit der Fahrzeugidentifizierungsnummer …30.
2. Die Beklagte wird verurteilt, die Klagepartei von den vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 808,13 € freizustellen.
3. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
III. Von den Kosten des Rechtsstreits trägt die Klagepartei 74%, die Beklagte 26%.
IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
V. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Die Klagepartei verlangt von der Beklagten Schadensersatz wegen des Erwerbs eines Pkw, in den ein von der Beklagten hergestellter Motor der Baureihe „EA 189“ eingebaut ist.
Wegen des Sachverhalts im Einzelnen wird auf das landgerichtliche Urteil verwiesen. Hinsichtlich der Anträge im Berufungsverfahren und des Kilometerstands zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat wird auf das Protokoll vom 02.12.2020 Bezug genommen.
Im Übrigen bedarf es keines Tatbestands, da gegen das Urteil kein Rechtsmittel zulässig ist (§ 313 a Abs. 1 Satz 1, § 544 Abs. 2 ZPO).
II.
Die Berufung der Klagepartei ist zulässig und zum Teil begründet.
1. Die Beklagte haftet der Klagepartei aus vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung gem. §§ 826, 31 BGB (vgl. BGH, Urteil vom 25. Mai 2020 - VI ZR 252/19).
Die Beklagte hat gem. §§ 249 ff. BGB der Klagepartei sämtliche aus der sittenwidrigen Schädigung resultierenden Schäden zu ersetzen.
Der Ersatzanspruch richtet sich bei § 826 BGB auf das negative Interesse. Wenn wie hier der Geschädigte durch Täuschung eines Dritten zum Abschluss eines Vertrags veranlasst wurde, steht ihm im Rahmen der Naturalrestitution gem. § 249 Abs. 1 BGB ein Anspruch auf Rückgängigmachung der Folgen des Vertrags zu, das heißt Ausgleich der für den Vertrag getätigten Aufwendungen durch den Schädiger gegen Herausgabe des aus dem Vertrag Erlangten.
Die Klagepartei kann daher den von ihr aufgewendeten Kaufpreis Zug um Zug gegen Herausgabe und Übereignung des erlangten Fahrzeugs an die Beklagte zurückverlangen. Sie muss sich allerdings im Wege des Vorteilsausgleichs die von ihr gezogenen Nutzungen anrechnen lassen (vgl. BGH, aaO, juris Rn. 64-77).
Die zeitanteilige lineare Wertminderung ist im Vergleich zwischen tatsächlichem Gebrauch und voraussichtlicher Gesamtnutzungsdauer, ausgehend vom Bruttokaufpreis im Wege der Schätzung gemäß § 287 ZPO zu ermitteln (BGH, Urteil vom 17.05.1995, VIII ZR 70/97, NJW 1995, 2159, 2161). Dabei ist Anknüpfungspunkt der gezahlte Bruttokaufpreis, der den Nutzungswert des Fahrzeugs verkörpert. Dieser betrug 17.250 Euro. Die im Einzelfall unter gewöhnlichen Umständen zu erzielende Gesamtfahrlaufleistung stellt den Gesamtgebrauchswert dar. Der Senat schätzt gemäß § 287 ZPO die Gesamtlaufleistung auf 250.000 Kilometer. Die gefahrenen Kilometer belaufen sich auf 160.865 km. Dies ergibt eine zu berücksichtigende Nutzungsentschädigung von 11.087,27 Euro. Damit verbleibt ein ersatzfähiger Betrag von 6.162,74 Euro.
2. Der Klagepartei steht ein Anspruch auf Verzinsung des Kaufpreises abzüglich der Nutzungsentschädigung seit Rechtshängigkeit (§ 291 BGB) zu. Die Zustellung der Klage ist am 28.01.2019 erfolgt, so dass Zinsen ab 29.01.2019 zu zahlen sind. Darüber hinaus bestehen keine Ansprüche auf Zinsen.
a. Zinsen nach §§ 849, 246 BGB in Höhe von 4% jährlich ab Zahlung des Kaufpreises kann die Klagepartei nicht verlangen, da sie den bezahlten Kaufpreis nicht ersatzlos weggegeben hat, sondern ihr im Gegenzug Eigentum und Besitz an dem streitgegenständlichen Fahrzeug einschließlich abstrakter Nutzungsmöglichkeit eingeräumt wurden. Auf die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 30.07.2020 - VI ZR 354/19, Tz. 17 ff. wird Bezug genommen.
b. Ferner kann die Klagepartei keine Verzugszinsen gem. §§ 286 Abs. 2 Nr. 4, 288 Abs. 1 BGB verlangen. Zwar kann der Schuldner nach § 286 Abs. 2 Nr. 4 BGB auch ohne Mahnung in Verzug geraten, wenn aus besonderen Gründen unter Abwägung der beiderseitigen Interessen der sofortige Eintritt des Verzuges gerechtfertigt ist und kann dies insbesondere dann anzunehmen sein, wenn der Schuldner eine herauszugebende Sache durch eine unerlaubte Handlung erlangt hat, weil der Täter einer unerlaubten Handlung einer besonderen Aufforderung zur Rückgabe grundsätzlich nicht bedarf (Palandt/Grüneberg, BGB, 79. Aufl. 2020, § 286, Rn. 25). Eine solche Fallgestaltung liegt hier nicht vor (vgl. BGH aaO Tz. 22).
c. Durch das vorgerichtliche Schreiben der Klägervertreter ist kein Verzug der Beklagten eingetreten, weil die Klagepartei die ihr obliegende Gegenleistung nicht ordnungsgemäß angeboten hat.
3. Die Klagepartei hat Anspruch auf Freistellung von den vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 808,13 Euro.
Für den Gegenstandswert bzgl. der vorgerichtlichen Tätigkeit ist der Wert des berechtigt verfolgten Anspruchs zum Zeitpunkt des Tätigwerdens des Klägervertreters im November 2018 maßgeblich. Der Senat schätzt - ausgehend von einer „linearen“ Verteilung der durch die Klagepartei mit dem Auto gefahrenen Kilometer - die damals berechtigte Forderung auf rund 9.250 Euro. Damit ergibt sich der oben genannte Gebührenanspruch (incl. Auslagenpauschale und Umsatzsteuer).
4. Die Beklagte befindet sich nicht in Annahmeverzug, weil die Klagepartei durchgehend die Zahlung eines deutlich höheren Betrages verlangt hat, als sie hätte beanspruchen können.
III.
1. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 97 Abs. 1, 92 Abs. 1 S. 1 ZPO. Bei der Bemessung der Kostenquote berücksichtigt der Senat auch, dass die Klagepartei hinsichtlich des geltend gemachten Anspruchs auf Zinsen von der Kaufpreiszahlung bis zur Rechtshängigkeit - was einem Betrag von rund 5.600 Euro entspricht - unterlegen ist. Der Umstand, dass Zinsen als Nebenforderung bei der Bemessung des Streitwerts außer Betracht bleiben, führt nicht dazu, dass eine Zuvielforderung in diesem Bereich bei der Kostenverteilung nicht berücksichtigt werden kann. Ein Teilunterliegen kann auch angenommen werden, soweit eine Partei mit einem Nebenanspruch unterliegt (vgl. BGH, Urteil vom 28.04.1988 - IX ZR 127/87, juris Rn. 28).
2. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit stützt sich auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.
3. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor. Die entscheidungserheblichen Fragen sind durch die Entscheidungen des Bundesgerichtshofs vom 25.05.2020 und vom 30.07.2020 geklärt.
Beschluss
Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 17.250,00 € festgesetzt.
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Tatbestand
1
Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Anerkennung eines Rückenschadens als Dienstunfallfolge.
2
Die am … geborene Klägerin ist im Range einer Polizeikommissarin als Ausbilderin bei der Beklagten beschäftigt. Am 09. Mai 2017 ereignete sich bei einer Trainingseinheit, bei der es um Arten der Waffensicherung ging, ein Unfall. Diesen beschrieb die Klägerin in ihrer Unfallanzeige vom 19. Juni 2017 wie folgt:
3
„Im AZT-Unterricht stellten wir Trainer die verschiedenen Möglichkeiten der Waffensicherung vor. Im Kleingruppentraining bei den Studierenden korrigierte ich deren Ausführungen. Dabei brachte ich eine Studierende nach hinten und wollte sie angedeutet zu Boden bringen. Während der Bewegung drehte ich mich unglücklich ein. Nach dem Unterricht verspürte ich Schmerzen im unteren Rückenbereich und hatte später Probleme den Oberkörper aufzurichten. Ein Fremdverschulden kann ausgeschlossen werden.“
4
Mit dieser Unfallanzeige erklärte die Klägerin zudem, die vorstehenden Angaben seien richtig und vollständig. Gleichzeitig legte sie eine Stellungnahme ihres Kollegen PK F. vor, der am 09. Mai 2017 mit ihr als Verantwortlicher beim Abwehr- und Zugriffstraining tätig gewesen war. In der Stellungnahme heißt es wörtlich:
5
„Während der Trainingseinheit teilte PK’in A. mir mit, dass sie soeben im Rahmen der Vorführung einer Übung für Studenten nach einer ungünstigen Bewegen Schmerzen im unteren Rücken erlitten habe, woraufhin ich für den Rest der Trainingseinheit die weiteren praktischen Elemente übernahm…..“
6
Die Klägerin befand sich eigenen Angaben zufolge wegen Rückproblemen seit dem 31. März 2014 bis zum 08. Oktober 2018 bei Herrn Dr. G., H., in ärztlicher Behandlung. Sie beschreibt ihre Beschwerden mit dauerhaftem Kopfschmerz und Verspannungen nach HWS. Anlass für die Behandlung war nach Angaben der Klägerin in der mündlichen Verhandlung eine Halswirbelstauchung, die seinerzeit als Dienstunfall anerkannt worden sei.
7
Am 23. Mai 2017 ließ die Klägerin bei der Radiologischen und Nuklearmedizinischen Gemeinschaftspraxis I. und Kollegen in J. eine Kernspinntomographie der Lendenwirbelsäule durchführen.Ausweislich des Arztbriefes vom 26. Mai 2017 lautet die Anamnese: „MRT LWS. chron. LWS Syndrom bei deg. Veränderungen.“Die abgegebene Beurteilung lautet: „Lumbosacrale Übergangsstörung mit partieller Lumbalisation SWK 1 bei hypoplastischer Bandscheibe SWK 1/2 und hypoplastischen Wirbelgelenken. SWK 1 nimmt weiterhin am Aufbau der Massa lateralis teil. Zählweise LWK 1 bis 5 weiter mit SWK 1 unverändert, letztes bandscheibentragendes Segment somit SWK.“ Weiter werden beschrieben:
8
- flach großbogig linkskonvexe Torsionsskoliose. Abgeflachte Lordose im LSÜ. Sonst. Steilstellung einschließlich TLÜ.
9
- LWK 5/SWK 1: Fortgeschrittene Chondrose, dorsale subtotale BSF-Höhenminderung. Dorsomedian nach links flach auslaufend intraforaminal breitbasiger NPP sagittal 5,8 mm. Rechts flache Protrusion. Hochgradig relative SK5 11.7mm, absolute Enge linkslateraler Recessus mit erheblicher Beeinträchtigung Radix S1 im Abgangsbereich. Rechts relative Enge, mögliche Reizzustände Radix S1 rechts, Neuroforamen kombiniert basal diskalbetont relativ eingeengt.
10
- LWK 3 bis 5: Flache Protrusion ohne relavante Beeinträchtigung des Spinalkanals. Neuroforamen basal diskal geringfügig eingeengt.
11
- Übrige Segmente intakt.
12
Mit Bescheid vom 06. November 2017 lehnte es die Beklagte ab, dass bei der Klägerin am 09. Mai 2017 aufgetretene Schmerzereignis im unteren Rücken als Dienstunfall anzuerkennen. Die in der Unfallanzeige angegebenen Schmerzen im unteren Rücken seien wie im Arztbrief vom 26. Mai 2017 beurteilt worden. Die dort beschriebenen Schädigungen seien degenerativen Ursprungs und nicht mit einer dienstlichen Unfallschädigung in Zusammenhang zu bringen. Der eingetretene körperliche Schaden wäre ohne Vorliegen der vorbestehenden degenerativen Wirbelsäulenschäden mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht eingetreten. Ein traumatischer Bandscheibenschaden sei ohne das Vorhandensein pathologischer und somit prädisponierender Wirbelkörpermorphologie nicht möglich.
13
Hiergegen legte die Klägerin am 29. November 2017 Widerspruch ein. Sie bat zunächst um Überprüfung ihres Antrags.Mit später aufgehobenem Bescheid vom 18. Januar 2018 lehnte die Beklagte erneut die Anerkennung eines Dienstunfalls ab. Sie führte in diesem Bescheid aus, die festgestellten Schädigungen seien in keiner Weise durch die geschilderte Drehbewegung oder auch durch ein anderes einmaliges Traumaereignis erklärbar. Bei einem banalen Verdrehtrauma wäre weder eine bildgebende Diagnostik notwendig gewesen, noch eine ambulante Rehabilitationsmaßnahme. Die Wirbelsäulenschäden und die damit einhergehenden erheblichen Beschwerden seien somit nicht Folgen eines Dienstunfalles, sondern Beschwerden aus innerer Ursache heraus, ausgelöst durch ein hierfür nicht adäquates Bagatelltrauma (Verdrehung).Daraufhin führte die Klägerin erstmals mit Schreiben vom 05. Februar 2018 zum Unfallhergang am 09. Mai 2017 aus, während des Trainings zur Waffensicherung zu Fall gekommen zu sein. Dabei habe sie das zusätzliche Gewicht der Studierenden zu tragen gehabt, die sich nach anfänglichem Widerstand plötzlich nach hinten fallen gelassen habe. Während dieses Gerangels habe sie sich verdreht und sei mit ihr zusammen nach hinten gefallen. Da sie ihre Hand noch an ihrer Waffe gehabt hätte, sei der Fall unkontrolliert und habe von ihr auch nicht abgebremst werden können.
14
Mit Widerspruchsbescheid vom 24. April 2018 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück.
15
Hiergegen hat die Klägerin am 22. Mai 2018 Klage erhoben.
16
Zur Begründung wiederholt und vertieft sie ihr Vorbringen zum Unfallhergang wie sie ihn erstmals mit Schreiben vom 05. Februar 2018 dargelegt hatte. Der in diesem Zusammenhang am 26. Mai 2017 diagnostizierte Bandscheibenvorfall sei unfallbedingt. Zur Stützung ihrer Argumentation legt die Klägerin weitere ärztliche Atteste vor. So dasjenige des Dr. G. vom 22. Juni 2017, in der es heißt, die Klägerin habe sich bei einem Dienstunfall einen Bandscheibenschaden L5/S1 zugezogen. Derselbe Mediziner attestiert am 06. Juli 2017 den nämlichen Bandscheibenschaden und stellt die Diagnosen M 51.0 G, M 99.80 LG und O 47.1 G. In diesem Attest erwähnt Dr. G., die Klägerin seit 10 Jahren zu behandeln. Schließlich attestiert Herr Dr. K. von der L. GmbH aus M. unter dem 05. September 2017 eine Retrolisthese L5 über Übergangswirbel Grad I mit BSV L5/S1 links. Die Anamnese lautet hierin, nach einer unglücklichen Drehbewegung im Dienst linksseitige starke Lumbago. Ein NMR LWS liege vor. Die Klägerin hatte sich hier am 05. September 2017 in der Neurochirurgischen Sprechstunde vorgestellt. Am Tag der mündlichen Verhandlung legte die Klägerin zwei weitere ärztliche Atteste vor. Auf die Sitzungsniederschrift nebst Anlagen wird insoweit Bezug genommen.
17
Die Klägerin beantragt,
18
die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 06. November 2017 und ihres Widerspruchsbescheides vom 24. April 2018 zu verpflichten, das Unfallereignis vom 09. Mai 2017 als Dienstunfall anzuerkennen.
19
Die Beklagte beantragt,
20
die Klage abzuweisen.
21
Zur Begründung führt sie aus, die Schäden an der Wirbelsäule der Klägerin seien Beschwerden aus innerer Ursache heraus. Es seien degenerative Veränderungen der Wirbelsäule diagnostiziert worden. Ohne diese wäre die Beschwerdesymptomatik nach dem Unfall gar nicht oder erheblich milder ausgefallen. Der eingetretene Schaden hätte auch im privaten Bereich auftreten können und sei daher eine Gelegenheitsursache im Sinne der Rechtsprechung.
22
Das Gericht hat Herrn Dr. G. um Einschätzung gebeten, welches aus seiner Sicht die (Haupt-)Ursache der Schädigung der Klägerin gewesen sei. Der Unfall oder eine anlagebedingte Erkrankung. Hierzu gab Dr. G. unter dem 06. November 2020 an, die Klägerin sei in der Zeit vom 31. März 2014 bis zum 08. Oktober 2018 in seiner orthopädischen Mitbehandlung gewesen. Sie habe sich am 10. Mai 2017 akut und ohne Termin vorgestellt. Sie habe Schmerzen in der Lendenwirbelsäule nach dem Sport. Es handele sich um einen Dienstunfall, bei dem sie einen Klienten habe auffangen müssen. Klinisch habe sich bei ihr ein Muskelhartspann der unteren Lendenwirbelsäule, eine Kreuzdarmbeinblockierung links sowie eine pseudoradikuläre Symptomatik im linken Bein gezeigt. Die LWS-Seitwärtsneigung habe links/rechts 10 0 30 Grad betragen. Weiterhin bestünden klinisch eine Wirbelsäulenfehlhaltung in der BWS und LWS und Vorbehandlungen in der Halswirbelsäule wie auch in der Lendenwirbelsäule. Die von ihr im Mai 2017 geschilderte Schmerzsymptomatik sei durchaus mit dem Unfall in Verbindung zu setzen, wobei jede Erkrankung nach 6 bis 8 Wochen ausheile.
23
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie die Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe
24
Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Bescheid der Beklagten vom 06. November 2017 und deren Widerspruchsbescheid vom 24. April 2018 sind rechtmäßig und die Klägerin hat einen Anspruch auf Anerkennung eines Dienstunfalls gegen die Beklagte nicht (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO).
25
Die dienstunfallrechtliche Behandlung eines Ereignisses beurteilt sich nach demjenigen Recht, das in dem Zeitpunkt galt, in dem sich der Unfall ereignete, sofern sich eine Neuregelung nicht ausdrücklich – in der Regel den Beamten begünstigende – Rückwirkung beimisst (BVerwG, Urteil vom 12.12.2019 – 2 A 6/18 -, Juris Rn. 15; OVG Lüneburg, Beschluss vom 19.12.2017 – 5 LA 152/17 -, Juris Rn. 13). Maßgeblich für die Frage ob es sich bei dem Schadensereignis, das die Klägerin am 09. Mai 2017 erfahren hat, um einen Dienstunfall handelt, ist demnach § 34 Nds. Beamtenversorgungsgesetz – NBeamtVG – i. d. F. vom 02. April 2013 (Nds. GVBl. 2013, 73).
26
Gemäß § 34 Abs. 1 S. 1 NBeamtVG ist Dienstunfall ein auf äußere Einwirkung beruhendes, plötzliches, örtlich und zeitlich bestimmbares, einen Körperschaden verursachendes Ereignis, das in Ausübung oder in Folge des Dienstes eingetreten ist. Das Merkmal „einen Körperschaden verursachendes Ereignis“ setzt einen mehrfachen Zurechnungszusammenhang zwischen dem Dienst, dem Ereignis und dem Körperschaden voraus. Nach der von der Kammer geteilten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Nds. Oberverwaltungsgerichts ist – wie im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung und der Kriegsopferversorgung – die Theorie der wesentlich mitwirkenden Ursache maßgeblich (BVerwG, a. a. O. Rn. 17; OVG Lüneburg a. a. O. Rn. 14). Diese Auffassung dient in erster Linie der Differenzierung zwischen mehreren Ursachen, die zu einem Unfall adäquat kausal geführt haben. Die Dienstunfallfürsoge soll nicht dazu führen, dass dem Beamten jedes irgendwie denkbare, in keiner Weise aus dem Dienst ableitbare Risiko abgenommen und dem Dienstherrn aufgebürdet wird. Vielmehr soll der Dienstherr mit der Unfallfürsorge nur die spezifischen Gefahren der Beamtentätigkeit oder die nach der Lebenserfahrung auf die Beamtentätigkeit rückführbaren, für den Schaden wesentlichen Risiken übernehmen. Der Kausalzusammenhang zwischen dem schädigenden Ereignis und dem Körperschaden besteht dann nicht mehr, wenn für den Erfolg eine weitere Bedingung ausschlaggebende Bedeutung hatte. Liegen mehrere Ursachen vor, ist jede von ihnen als wesentliche (Mit-)Ursache anzusehen, wenn sie annähernd die gleiche Bedeutung für den Eintritt des Erfolges hat. Danach ist der Dienstunfall dann als wesentliche Ursache im Rechtssinne anzuerkennen, wenn er bei natürlicher Betrachtungsweise entweder überragend zum Erfolg (Körperschaden) beigetragen hat oder zumindest annähernd die gleiche Bedeutung für den Eintritt des Schadens hatte wie die anderen Umstände insgesamt. Nach diesen Vorgaben ist eine sogenannte Gelegenheitsursache keine Ursache im Rechtssinne. Eine solche Gelegenheitsursache ist gegeben, wenn die Beziehung zum Dienst eine rein zufällige ist und das schädigende Ereignis nach menschlichem Ermessen bei jedem anderen nicht zu vermeidenden Anlass in naher Zukunft ebenfalls eingetreten wäre. Der Zusammenhang zum Dienst ist deshalb nicht anzunehmen, wenn ein anlagebedingtes Leiden durch ein dienstliches Vorkommnis nur rein zufällig ausgelöst worden ist. Dies ist in Fällen anzunehmen, in denen die krankhafte Veranlagung oder das anlagebedingte Leiden des Beamten so leicht aktualisierbar war, dass es zur Auslösung akuter Erscheinungen nicht besonderer, in ihrer Eigenart unersetzlichen Einwirkungen bedurfte, sondern auch ein anderes alltäglich vorkommendes Ereignis denselben Erfolg herbeigeführt hätte (BVerwG, a. a. O. Rn. 18 f.; Urteil vom 18.04.2002 – 2 C 22/01 -, Juris Rn. 10; OVG Lüneburg, Beschluss vom 20.02.2009 – 5 LA 155/07 -, Juris Rn. 8; OVG Lüneburg, Urteil vom 02.02.2005 – 2 L 3542/00 -, Juris Rn. 39). Gelegenheitsursachen in diesem Sinne sind gegeben, wenn die krankhafte Veranlagung oder das anlagebedingte Leiden so leicht ansprechbar waren, dass zur Auslösung eines akuten Erscheinens nicht besonderer, in ihrer Eigenart unersetzlicher Einwirkungen bedurfte, sondern auch ein anderes alltäglich vorkommendes Ereignis denselben Erfolg herbeigeführt hätte (BVerwG, Urteil vom 18.04.2002, a. a. O.; OVG Lüneburg, Beschluss vom 20.02.2009, a. a. O. Rn. 8). Bei einer wie vorliegend – zumindest nicht hinreichend auszuschließenden – Degeneration der Wirbelsäule spricht die Rechtsprechung einer Vorschädigung dann die Qualität der wesentlich wirkenden Ursache zu, wenn nicht ganz besondere Umstände eines atypischen Falles vorliegen. Da die Klägerin als Beamtin den vollen Beweis für das Vorliegen eines Dienstunfalls zu erbringen hat, was bedeutet, dass sie den Beweis für das Vorliegen eines Dienstunfalls mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit führen muss (BVerwG, Urteil vom 18.04.2002, a. a. O. Rn. 18; OVG Lüneburg, Beschluss vom 20.02.2009, a. a. O. Rn. 14), schließt die nicht entfernt liegende Möglichkeit einer Vorschädigung die Annahme einer mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bestehenden Kausalität zwischen Unfallereignis, dem Dienst und dem eingetretenen Körperschaden aus.
27
In Anwendung dieser Grundsätze handelt es sich bei den durch in der Radiologischen und Nuklearmedizinischen Gemeinschaftspraxis am 23.05.2017 nach Durchführung eines MRT festgestellten körperlichen Beeinträchtigungen der Klägerin nicht um einen durch einen Dienstunfall im Rechtssinne hervorgerufenen Schaden. Nach den Aussagen des im Rahmen der mündlichen Verhandlung angehörten Mitarbeiters im Regional Medizinischen Dienst Süd der Zentralen Polizeidirektion Niedersachsen, Medizinaldirektor Dr. N., wird durch diese ärztliche Bescheinigung festgestellt, dass bei der Klägerin ein Bandscheibenvorfall im Bereich des 5. Lendenwirbels und des 1. Sakralwirbels vorliegt. Ferner wird eine verbogene und verdrehte Wirbelsäule (Torsionsskoliose) beschrieben. Gleichzeitig sind degenerative Knorpelveränderungen (fortgeschrittene Chondrose) und krankhafte Wirbelsäulenverformungen (flach großbogig linkskonvexe Torsionsskoliose) bei anlagebedingter Unterentwicklung der Bandscheiben (hypoplastischer Bandscheibe SWK 1/2) festgestellt worden. Entsprechende Diagnosen finden sich in den ärztlichen Stellungnahmen des Dipl.-med. G. vom 06. Juli 2017 und 06. November 2020 und des Dr. med. K. vom 05. September 2017. Unabhängig davon, dass sie erst nach Ablauf der mit der Betreibensaufforderung vom 13. Oktober 2020 gesetzten Frist vorgelegt worden sind, ergibt sich auch aus den Attesten des Dr. med. O. vom 05. Dezember 2017 und des Dr. med. P. vom 01. Juni 2018 nichts anderes. Dr. N. t hat bei seiner Anhörung nachvollziehbar und schlüssig dargelegt, dass es sich um Folgeatteste nach erfolgloser Rehabilitationsmaßnahme handelt; sie attestieren einen persistierenden (fortdauernden) Bandscheibenvorfall. All diese Atteste beschreiben – nachvollziebar von Dr. N. t erläutert – eine degenerative Wirbelsäulenschädigung. Anlass Beweis zu erheben besteht, in Anbetracht des bloßen Bestreitens der ärztlichen Feststellungen mit Nichtwissen durch die Klägerin nicht. In diesem Zusammenhang ist auch von wesentlicher Bedeutung, dass aus ärztlicher Sicht ein traumatischer Befund zu erwarten gewesen wäre, wenn eine körperliche Beeinträchtigung durch das von der Klägerin geschilderte Ereignis eingetreten wäre. Zwar stellt Dr. G. in seiner ärztlichen Stellungnahme vom 06. November 2020 einen Zusammenhang zwischen der Schmerzsymptomatik und dem (vermeintlichen) Dienstunfall her. Diese Schmerzsymptomatik sagt indes nichts zum durch MRT diagnostizierten eindeutig degenerativen Befund. Sie würde, so Dr. G. in seiner Stellungnahme, wie jede Erkrankung auch in 6-8 Wochen ausheilen.
28
Im Ergebnis handelt es sich damit bei den durch MRT festgestellten Beeinträchtigungen der Klägerin um degenerative, anlagebedingte Veränderungen ihres Rückenstützapparates.
29
Der festgestellte Bandscheibenvorfall hätte auch ohne dienstlichen Bezug und Einsatz ebenso jederzeit im privaten Bereich, etwa beim Heben schwerer Gegenstände oder bei unglücklichen Verdrehungen eintreten können. Damit handelt es sich bei der während des dienstlichen Trainings erlittenen Verletzung um eine Gelegenheitsursache. Hieran ändert der unbestreitbare zeitliche und räumliche Zusammenhang mit der Dienstausübung der Klägerin nichts.
30
Zu Unrecht wendet die Klägerin dagegen insbesondere ein, der Schaden sei maßgeblich durch einen Sturz auf ihr Gürtelholster samt daran befindlicher Gegenstände verursacht und habe deshalb eindeutig dienstlichen Bezug und Ursache.
31
Zum einen bleibt, auch wenn man der Klägerin in ihrer Sachverhaltsschilderung folgen wollte, festzuhalten, dass bei der diagnostizierten Vorschädigung jederzeit auch im privaten Bereich ein Bandscheibenvorfall hätte passieren können. Der angebliche Sturz mit einer weiteren Person auf den eigenen Körper und diversen kantigen Gegenständen unter dem Körper, änderten damit nichts an der Annahme einer Gelegenheitsursache. Die Schilderung lässt allenfalls den dienstlichen Hergang des Unfalls plastischer erscheinen.
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Zum anderen widerspricht ein solcher, von der Klägerin erstmals mit Schreiben vom 05. Februar 2018 geschilderte, Unfallhergang der von der Klägerin am 19. Juni 2017 abgegebenen Unfallanzeige nach § 51 NBeamtVG.
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Nach § 51 Abs. 1 NBeamtVG sind Unfälle, aus denen Unfallfürsorgeansprüche nach diesem Gesetz entstehen können, innerhalb einer Ausschlussfrist von 2 Jahren nach dem Eintritt des Unfalls bei der oder den Dienstvorgesetzten der oder des Verletzten zu melden. Anknüpfungspunkt der Meldepflicht nach § 51 Abs. 1 NBeamtVG ist weder eine Unfallfolge noch ein bereits entstandener Anspruch, sondern der Unfall selbst. Unabhängig davon, ob der Beamte das Ereignis als Dienstunfall einstuft, soll er seinen Dienstherrn in die Lage versetzen, selbst die hierfür erforderlichen Ermittlungen anzustellen und eine zeitnahe Klärung des Sachverhalts sicherzustellen. Damit werden einerseits Aufklärungsschwierigkeiten vermieden, die sich bei späteren Ermittlungen ergeben könnten; zum anderen wird der Dienstherr in die Lage versetzt präventive Maßnahmen zur Vermeidung weiterer Schäden zu ergreifen (BVerwG, Urteil vom 30.08.2018 – 2 C 18/17 -, Juris Rn. 15). Deshalb kommt der durch den Beamten schriftlich abgegebenen Unfallschilderung besondere Bedeutung zu.In der, im Tatbestand wörtlich wiedergegebenen, Schilderung der Unfallursache und des Unfallherganges hat die Klägerin mit keinem Wort einen gemeinsamen Sturz mit einer Studierenden geschildert, bei dem sie, die Klägerin, auf ihrem Gürtelholster und den daran befindlichen Gegenständen gelandet und die Studierende auf ihr zu Fall gekommen sei. Die Schilderung beschränkt sich darauf, sie habe eine Studierende nach hinten gebracht und sie angedeutet zu Boden bringen wollen. Während der Bewegung habe sie sich unglücklich eingedreht. Hieraus kann allein der Schluss gezogen werden, dass sich die Klägerin bei ihrer Aktion unglücklich verdreht hat, was den Bandscheibenvorfall hervorgerufen hat. Die Klägerin hat mit ihrer Unterschrift unter die Unfallanzeige ausdrücklich erklärt, die vorstehenden Angaben seien richtig und vollständig. Hieran muss sich die Klägerin festhalten lassen. Die von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung gegebene Erklärung, sie habe die Unfallanzeige ursprünglich stressbedingt und um die bearbeitenden Kollegen nicht zu belasten, nicht vollständig ausgefüllt, mag menschlich erklärlich sein, entschuldigt die Klägerin indes nicht. In Anbetracht der Förmlichkeit der Unfallanzeige – sie ist schriftlich auf gesondertem Vordruck und binnen einer bestimmten Frist abzugeben -, wäre es von der berufsbedingt in diesen Angelegenheiten geschulten Klägerin zu erwarten gewesen, dass sie die Anzeige mit der gebotenen Sorgfalt ausfüllt. Der Stressfaktor mag zudem für die Anzeige im Juni 2017 eine Erklärung sein, für den Zeitpunkt der Widerspruchseinlegung hat die Klägerin derartiges in der mündlichen Verhandlung indes nicht vorgetragen. Allerdings hat sie auch mit ihrem Widerspruchsschreiben vom 29. November 2017 eine Korrektur der Unfallschilderung nicht vorgenommen.
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Im Sinne eines bloßen Verdrehtraumas äußert sich auch der von der Klägerin als Zeuge für ihre Schilderung der Ereignisse benannte PK F.. In dessen Stellungnahme vom 22. Juni 2017 heißt es, die Klägerin habe ihm während der Trainingseinheit mitgeteilt, dass sie soeben im Rahmen der Vorführung einer Übung für Studenten nach einer ungünstigen Bewegung Schmerzen im unteren Rücken erlitten habe.Der ursprünglich geschilderte Unfallhergang findet sich auch in der auf Angaben der Klägerin beruhenden Anamnese des Dr. K. vom 05. September 2017 wieder. Dort wird als Ursache des Schadens eine “unglückliche Drehbewegung“ genannt. Auch in der im Laufe des gerichtlichen Verfahrens eingegangenen Bescheinigung des die Klägerin seinerzeit mitbehandelnden Facharztes für Orthopädie, Dr. G. vom 06. November 2020 ist von dem von der Klägerin geschilderten schweren Sturzereignis nicht die Rede. Dr. G. nennt als Ursache der Schädigung, die Grund für die Vorstellung der Klägerin bei ihm am 10. Mai 2017 gewesen ist, dass die Klägerin beim Sport einen Klienten habe auffangen müssen. Sämtliche von der Klägerin gegebenen Sachverhaltsschilderungen, sei es gegenüber ihrem Dienstherrn, sei es gegenüber ihren Ärzten, enthalten ein Sturzereignis nicht.
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Im Ergebnis vermag das Gericht, ohne dass es für den Rechtsstreit nach dem oben Gesagten etwas austrägt, nicht von einem Sturz der Kläger auf ihren waffenbehängten Gurt auszugehen.
36
Das Gericht sieht weder Anlass, wie von der Klägerin angeregt, Beweis zu erheben, noch erneut in die mündliche Verhandlung einzutreten. Der Sachverhalt ist – auch unter Würdigung der in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Atteste vom 05. Dezember 2017 und 01. Juni 2018 – geklärt. Ein Bedarf für weitere Erörterungen, der einen Wiedereintritt in die mündliche Verhandlung gemäß § 104 Abs. 3 Satz 2 VwGO rechtfertigen könnte, ist nicht ersichtlich. Die Klägerin hatte im Rahmen der mündlichen Verhandlung ausreichend und umfassend Gelegenheit, ihren (Rechts-) Standpunkt vorzutragen. Neue Gesichtspunkte sind nicht aufgetreten. Im Übrigen wäre die Klägerin mit ihrem Begehren gemäß § 87 b Abs. 3 VwGO ausgeschlossen. Sie hat die fraglichen ärztlichen Atteste, auf die sie ihr Wiedereintrittsbegehren stützt, außerhalb der mit der Ladungsverfügung gesetzten, ausdrücklich auf die Vorlage weiterer ärztlicher Stellungnahmen bezogenen Stellungnahmefrist (Betreibensaufforderung) vorgelegt. Eine Erklärung hierfür wurde nicht vorgetragen. Ein Wiedereintritt in die mündliche Verhandlung würde den Rechtsstreit verzögern.
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Tenor
1. Der Senat beabsichtigt, die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts München I vom 10.09.2020, Az. 26 O 18553/19, gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen.
2. Hierzu besteht Gelegenheit zur Stellungnahme binnen zwei Wochen nach Zustellung dieses Beschlusses.
Gründe
Nach einstimmiger Auffassung des Senats hat das Landgericht die Klage - auch unter Berücksichtigung der Ausführungen in der Berufungsschrift - zu Recht abgewiesen.
1. Der Berücksichtigung des erstmals in der Berufungsinstanz erfolgten Sachvortrages, der Versicherungsschein sei nicht dem Kläger, sondern dessen Makler U. S. zugesandt worden und des entsprechenden Beweisangebots, steht § 531 ZPO entgegen; es hätte Veranlassung bestanden, das - nachdem die Beklagte Beweis durch Einvernahme des Zeugen F.angeboten hatte und das Landgericht diesen Zeugen geladen hatte - dem Landgericht rechtzeitig vor dem Termin vorzutragen und den Zeugen S. gegenbeweislich anzubieten. Wenn der Vortrag des Klägers zutrifft, dass er den Versicherungsschein über seinen Makler erhalten hatte, dann hat sich das für ihn nicht nachträglich herausgestellt.
2. Lässt man den neu in der Berufungsinstanz vorgetragenen Sachverhalt und das neu in der Berufungsinstanz angebotene Beweismittel außer acht, so steht dem Kläger kein bereicherungsrechtlicher Rückabwicklungsanspruch zu.
2.1. Die Widerspruchsbelehrung auf dem Policenbegleitschreiben (Muster Anlage B 1) ist ordnungsgemäß; sie entspricht § 5a VVG in der Fassung vom 13.7.2001 und ist weder von der drucktechnischen Gestaltung noch vom Inhalt her zu beanstanden (vgl. z.B. Senat, Beschluss vom 20.04.2015 - Az. 25 U 4040/14 - der Bundesgerichtshof hat die Nichtzulassungsbeschwerde gegen diesen Beschluss mit Beschluss vom 11.11.2015 - Az. IV ZR 264/15 zurückgewiesen).
2.2. Der Kläger gesteht zu, sich an die bei Vertragsschluss übersandten Unterlagen nicht mehr erinnern zu können (Bl. 53,54 d.A.). Da er den Zugang des Policenbegleitschreibens trotzdem bestreitet, handelt es sich um ein Bestreiten mit Nichtwissen. Ein solches Bestreiten mit Nichtwissen ist allerdings prozessual unzulässig und führt dazu, dass die Behauptung der Beklagten zum Zugang als unstreitig anzusehen ist. Im Einzelnen:
Einer Partei ist es grundsätzlich gemäß § 138 Abs. 4 ZPO verwehrt, eigene Handlungen und Wahrnehmungen mit Nichtwissen zu bestreiten. Nur ausnahmsweise kommt ein Bestreiten eigener Handlungen und Wahrnehmungen dann in Betracht, wenn die Partei nach der Lebenserfahrung glaubhaft macht, sich an gewisse Vorgänge nicht mehr erinnern zu können. Die bloße Behauptung, sich nicht zu erinnern, reicht indessen nicht aus (BGH, Urteil vom 28.09.2016 - Az. IV ZR 41/14, VersR 2016,1483; BGH, Beschluss vom 07.11.2007 - Az. IV ZR 149/04; BGH, Urteil vom 10.10.1994 - Az. II ZR 95/93; OLG Naumburg, Urteil vom 14.02.2013 - Az. 4 U 63/12, Senat, Beschluss vom 22.10.2020 - Az. 25 U 3434/20).
An die Glaubhaftmachung sind zwar nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht die im Rahmen des § 294 ZPO geltenden Maßstäbe anzulegen, sie ist jedoch im Sinne einer nach der Lebenserfahrung anzunehmenden Plausibilität zu verstehen. Ein behauptetes Vergessen dürfte danach glaubhaft sein, wenn ein langer Zeitraum verstrichen ist und die behaupteten Ereignisse keine besondere Originalität und Einzigartigkeit aufwiesen, eine Vernichtung oder ein Fehlen von Unterlagen, sofern ein vernünftig und besonnen Handelnder in der Position der Partei die Unterlagen nicht aufbewahrt oder entsorgt hätte.
Auch unter Zugrundelegung der über den Wortlaut des § 138 Abs. 4 ZPO hinausgehenden Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes ist jedenfalls vorliegend ein Bestreiten mit Nichtwissen nicht zulässig. Nach der Lebenserfahrung (und nach der vom Zeugen F. geschilderten, auch senatsbekannten allgemeinen Vorgehensweise zur automatisierten gemeinsamen Erstellung und zum gemeinsamen Ausdruck der Policen, der Verbraucherinformationen und der Begleitschreiben, insbesondere auch der Bestätigung, dass sich aus dem EDV System ergibt, dass ein Policenbegleitschreiben erstellt wurde und ohne Auffälligkeiten an den Kläger - A. B., B.weg 14, … H. - versandt wurde) spricht viel dafür, dass die Beklagte das Policenbegleitschreiben mit der für den Versicherungsnehmer wichtigen Information zum Widerspruchsrecht mit der Police und den Verbraucherinformationen versandt hat, so dass bereits äußerst unwahrscheinlich ist, dass der Kläger das Schreiben nicht erhalten hat. Der Kläger hat nicht dargetan, dass er sich ausreichend darum bemüht hat, zu erkunden ob das Policenbegleitschreiben ihm zugegangen ist. Substantiiert wäre insoweit vorzutragen, wo die von der Versicherung übersandten Unterlagen aufbewahrt wurden, wer Zugang hatte, ob sich der Aufbewahrungsort geändert hat, welche Möglichkeiten einer falschen Einordnung der Unterlagen es gegeben haben könnte, welche konkreten Bemühungen der Kläger unternommen hat, nach dem Verbleib der Unterlagen zu forschen und was das Ergebnis war. Den Erhalt des Policenbegleitschreibens kann die Klagepartei daher nicht mit Nichtwissen bestreiten. Bestreitet eine Partei unzulässig mit Nichtwissen, führt das dazu, dass der Vortrag des Gegners gemäß § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden gilt (vgl. BGH, Urteil vom 23.7.2019 - Az. VI ZR 337/18, NJW 2019, 3788; BGH, Urteil vom 22.04.2016 - Az. V ZR 256/14, BeckRS 2016, 12559; BGH, Urteil vom 19. 4. 2001 - I ZR 238/98; BGH, Urteil vom 10.10.1994 - Az. II ZR 95/93).
2.3. Im Übrigen wäre - auch bei einem zulässigen Bestreiten - die Beweiswürdigung des Landgerichts überzeugend, zutreffend und bindend, § 529 Abs. 1 ZPO. Dass auf der 3. Seite des vom Kläger in Kopie vorgelegten Lebensversicherungsvertrages im oberen Bereich die Adresse des Klägers abgedruckt ist, weckt keine Zweifel an der Beweiswürdigung des Landgerichts. Der Richter darf und muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen (BGH, Urteil vom 06.05.2015 - VIII ZR 161/14, NJW 2015, 2111; OLG Frankfurt/M, Beschluss vom 29.03.2017 - Az.12 U 193/15). Angesichts der Angaben des Zeugen F. - der Kläger selbst gibt an, keine ausreichende Erinnerung zu haben - ist es äußerst unwahrscheinlich, dass die Beklagte das Begleitschreiben nicht mit versandt hat; die rein theoretisch bestehende Möglichkeit, dass der durch Ösen zusammengeheftete Versicherungsschein so aufgeschlagen kuvertiert wurde, dass sich die 3. Seite mit der Adressangabe oben befand und so eine Versendung ohne Begleitschreiben möglich wurde, ist insbesondere auch unter Berücksichtigung der Aussage des Zeugen F. so unwahrscheinlich, dass sie nicht zu Zweifeln an der Beweiswürdigung führt.
2.4. Unabhängig von einer europarechtlich ggfs. zweifelhaften Zulässigkeit des Policenmodells (vgl. hierzu: BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 02.02.2015 - 2 BvR 2437/14) ist es der Klagepartei jedenfalls nach Treu und Glauben wegen widersprüchlicher Rechtsausübung verwehrt, sich nach jahrelanger Durchführung des Vertrages auf dessen angebliche Unwirksamkeit zu berufen und daraus Bereicherungsansprüche herzuleiten.
Der Klagepartei wurde eine ordnungsgemäße Widerspruchsbelehrung erteilt. Sie erhielt die erforderlichen Verbraucherinformationen. Der Widerspruch wurde über 14 Jahre nach Vertragsschluss erklärt. Der Vertrag wurde über einen Zeitraum von ca. 9 Jahren durchgeführt.
Der Senat schließt sich in ständiger Rechtsprechung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (z. B. BGH, Urteil vom 24. Juni 2020 - Az. IV ZR 275/19; BGH, Urteil vom 16.07.2014 - Az. IV ZR 73/13, VersR 2014,1065; Entscheidungen vom 08.03.2017 - Az. IV ZR 98/16, 10.06.2015 - Az. IV ZR 105/13, VersR 2015,876, vom 17.08.2015 - Az. IV ZR 310/14 und vom 16.09.2015 - Az. IV ZR 142/13, BeckRS 2015, 16559), bestätigt durch das Bundesverfassungsgericht (Entscheidung vom 02.02.2015 - Az. 2 BvR 2437/14, VersR 2015, 693; Beschluss vom 04.03.2015 - Az. 1 BvR 3280/14; Beschluss vom 23.05.2016 - Az. 1 BvR 2230/15 und 1 BvR 2231/15) an, dass ein Bereicherungsanspruch des Versicherungsnehmers - bei ordnungsgemäßer Widerspruchsbelehrung und längerer Durchführung des Vertrages - schon wegen widersprüchlichen Verhaltens ausgeschlossen ist (vgl. z.B. Urteil vom 29.05.2020 - Az. 25 U 6057/19; Beschluss vom 11.01.2018 - Az. 25 U 3916/17; Beschlüsse vom 22.11.2017 - Az. 25 U 4262/16, 18.07.2017 - Az. 25 U 1934/17, 20.04.2015 - Az. 25 U 237/15, vom 01.06.2015 - Az. 25 U 3379/14, vom 15.06.2015 - Az. 25 U 812/15, Endurteile vom 28.08.2015 - Az. 25 U 1671/14 und 25 U 1931/14). Diese Voraussetzungen sind vorliegend gegeben. Der Vertrag wurde im Jahr 2004 abgeschlossen, die Klagepartei hat die vereinbarten Prämien für die Zeit vom 01.04.2004 bis zur Kündigung im Mai 2013 bezahlt bzw. mittels einer Einzugsermächtigung abbuchen lassen; 2013 hat der Kläger sich den vertraglich vereinbarten Rückkaufswert auszahlen lassen; den Widerspruch hat er erst 2018 erklärt. Die Versicherungsgesellschaft nahm die Prämien entgegen und ging erkennbar von einem bestehenden Versicherungsvertrag aus. Daher konnte die Klagepartei bis zur Kündigung erwarten, Versicherungsschutz zu genießen, der zweifelsfrei bei Eintritt eines Versicherungsfalls in Anspruch genommen worden wäre. Durch das Verhalten der Klagepartei wurde bei dem Versicherer auch schutzwürdiges Vertrauen auf die Beständigkeit der vertraglichen Bindung begründet. Die Versicherungsgesellschaft muss sich grundsätzlich für ihre gesamte Kalkulation - insbesondere in Hinblick auf Rückstellungen für die Überschussbeteiligung - darauf verlassen können, dass langfristig angelegte Vertragsbeziehungen nicht plötzlich nach vielen Jahren rückabgewickelt werden müssen. Daneben ist außerdem das Vertrauen des Versicherers in den grundsätzlichen Bestand des vom deutschen Gesetzgeber gesetzten Rechts - auch bei etwaigen Zweifeln an der Europarechtskonformität - schutzwürdig und entsprechend zu berücksichtigen.
3. Selbst bei unterstelltem Fehlen des Policenbegleitschreibens würde der Senat im vorliegenden Fall von einem Rechtsmissbrauch ausgehen. In diesem Fall hätte die Beklagte den Kläger zwar bei Vertragsschluss nicht drucktechnisch hervorgehoben, aber immerhin in den Allgemeinen Bedingungen inhaltlich zutreffend über sein Widerspruchsrecht belehrt. Aus dem übersichtlichen Inhaltsverzeichnis zum Versicherungsschein ergibt sich, dass die Belehrung sich auf S. 27 befindet. Die Belehrung unter § 3 der Allgemeinen Bedingungen für die Fondsgebundene Lebensversicherung ist inhaltlich nicht zu beanstanden. Der Kläger hat erst 14 Jahre nach Vertragsschluss und ca. 5 Jahre nach Vertragsabwicklung widersprochen. Im Einzelnen:
Es ist im Einzelfall zu prüfen, ob eine Rechtsausübung rechtsmissbräuchlich ist. Die Anwendung der Grundsätze von Treu und Glauben im Einzelfall obliegt der tatrichterlichen Beurteilung (BGH, Urteil vom 26.09.2018 - Az. IV ZR 304/15, Rn. 23; BGH, Urteil vom 01.06.2016 - IV ZR 482/14, NJOZ 2016, 1370; OLG Karlsruhe, Urteil vom 30.05.2018 - Az. 12 U 14/18; BGH, Hinweisbeschluss vom 27.9.2017 - Az. IV ZR 506/15, NJW-RR 2018, 161; BGH, Beschluss vom 11.11.2015 - Az. IV ZR 117/15; vgl. auch BGH, Beschluss vom 23.01.2018 - Az. XI ZR 298/17, Rn. 9, juris, zu Verbraucherkreditverträgen; Senat, Urteil vom 31.08.2018 - Az. 25 U 607/18 - die Nichtzulassungsbeschwerde hat der Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 03.06.2020 unter dem Az. IV ZR 214/18 zurückgewiesen; OLG Hamm, Beschluss vom 20.03.2019 - Az. 20 U 15/19, VersR 2019, 1133).
Grundsätzlich kann der Versicherer bei nicht ordnungsgemäßer Belehrung kein schutzwürdiges Vertrauen für sich in Anspruch nehmen, da er die Situation selbst herbeigeführt hat (BGH, Urteil vom 26.09.2018 - Az. IV ZR 304/15; BGH, Urteil vom 01.06.2016 - Az. IV ZR 343/15). Die Annahme eines rechtsmissbräuchlichen Verhaltens kommt allerdings auch bei nicht ordnungsgemäßer Belehrung in Betracht (BGH, Beschlüsse vom 27.01.2016 und vom 22.03.2016 - Az. IV ZR 130/15; BGH, Beschlüsse vom 11.11.2015 und 13.01.2016 - Az. IV ZR 117/15, BeckRS 2016, 02174, NJW 2016, 375; BGH, Urteil vom 29.07.2015 - Az. IV ZR 384/14, r+s 2015, 435: offengelassen für nur marginale Fehler in der Widerspruchsbelehrung; Senat, Urteil vom 31.08.2018 - Az. 25 U 607/18 - die Nichtzulassungsbeschwerde hat der Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 03.06.2020 unter dem Az. IV ZR 214/18 zurückgewiesen; Senat, Beschlüsse vom 18.06.2019 und 23.09.2019 - Az. 25 U 737/19 - die Nichtzulassungsbeschwerde hat der Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 28.10.2020 unter dem Az. IV ZR IV ZR 272/19 zurückgewiesen; Senat, Beschluss vom 22.11.2018 - Az. 25 U 3563/17 - die Nichtzulassungsbeschwerde gegen diesen Beschluss wurde vom BGH am 26.06.2019 unter Az. IV ZR 297/18 zurückgewiesen; OLG Hamm, Urteil vom 13.01.2017 - Az. 20 U 159/16 - die Nichtzulassungsbeschwerde wurde vom BGH am 06.12.2017 unter Az. IV ZR 51/17 zurückgewiesen; OLG Brandenburg, Urteil vom 12.08.2019 - Az. 11 U 95/18, NJW-RR 2019,1443 OLG Hamm, Beschluss vom 20.03.2019 - Az. 20 U 15/19, VersR 2019, 1133; OLG Hamm, Beschluss vom 19.09.2018 -Az. I -20 U 102/18; OLG Karlsruhe, Urteil vom 30.05.2018 - Az. 12 U 14/18; OLG Karlsruhe, Urteil vom 06.12.2016 - Az. 12 U 137/16; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 24.10.2016 - Az. I-4 U 131/16; KG, Urteil vom 12.04.2016 - Az. 6 U 102/15 - rechtskräftig; OLG Köln, Urteil vom 26.02.2016 - Az. 20 U 178/15; OLG Dresden, Beschluss vom 20.08.2018 - Az.4 U 644/18; OLG Dresden, Urteil vom 26.08.2015 - Az. 7 U 146/15, VersR 2015,1498; OLG Frankfurt/Main, Urteil vom 19.10.2015 - Az. 3 U 49/15; OLG Stuttgart, Urteil vom 06.11.2014 - Az. 7 U 147/10 - VersR 2015, 878; LG Wiesbaden, Urteil vom 12.02.2015 - Az. 9 O 116/14, bestätigt durch OLG Frankfurt/Main, Urteil vom 19.11.2015 - Az. 3 U 49/15).
Unredliche Absichten oder ein Verschulden sind für die Annahme von unzulässiger Rechtsausübung wegen widersprüchlichen Verhaltens nicht erforderlich (vgl. BGH, Urteil vom 16.07.2014, Az. IV ZR 73/13). Erforderlich ist, dass gravierende Umstände vorliegen.
Vorliegend veranlassen folgende - im Rahmen einer Gesamtbetrachtung als besonders gravierend anzusehende - Umstände den Senat, davon auszugehen, dass sich die Klagepartei rechtsmissbräuchlich auf ihr Widerspruchsrecht beruft:
3.1. Der Widerspruch erfolgte sehr lange Zeit, nämlich über 14 Jahre nach Vertragsschluss (nach der aktuellen gesetzlichen Regelung, deren Wertung auch in die Beurteilung der Frage, ob treuwidriges Verhalten vorliegt, miteinzubeziehen ist, kann selbst bei arglistigem Verhalten eines Vertragspartners oder widerrechtlicher Drohung nach Ablauf von 10 Jahren eine Anfechtung nicht mehr erfolgen, bei einer Täuschung auch dann, wenn der Getäuschte von den Umständen der Täuschung keine Kenntnis hatte - § 124 Abs. 3 BGB; diese Wertung kann ohne Weiteres für die Frage herangezogen werden, wie stark das Zeitmoment ins Gewicht fällt und welche Anforderungen an das Umstandsmoment zu stellen sind; der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs - Urteil vom 01.06.2016 - Az. IV ZR 482/14, Urteil vom 11.11.2015 - Az. IV ZR 513/14, Urteil vom 29.07.2015 - Az. IV ZR 448/14 kann nichts Gegenteiliges entnommen werden: aus diesen Entscheidungen ergibt sich nur, dass nicht immer dann, wenn die 10 - Jahresfrist verstrichen ist, das Vertragslösungsrecht verwirkt ist, nicht aber dass die Zeitdauer und die gesetzlichen Wertungen hierzu im Rahmen der Gesamtabwägung nicht berücksichtigt werden dürften).
Je länger der Zeitablauf bis zur Ausübung des Widerspruchsrechts ist, umso höher ist das schutzwürdige Vertrauen des Vertragspartners in den Bestand des Vertrages und umso mehr Gewicht erhält dieses Vertrauen, während umgekehrt der gesetzliche Schutzzweck für die Einräumung des Widerspruchsrechts, dem Vertrag (in zeitlichem Zusammenhang mit seinem Abschluss) widersprechen zu können, mit zunehmendem Zeitablauf immer mehr verblasst und in den Hintergrund tritt. Der Bundesgerichtshof hat zur Frage der (einen Unterfall des Rechtsmissbrauchs darstellenden) Verwirkung entschieden: Zwischen diesen Umständen und dem erforderlichen Zeitablauf besteht eine Wechselwirkung insofern, als der Zeitablauf umso kürzer sein kann, je gravierender die sonstigen Umstände sind, und dass umgekehrt an diese Umstände desto geringere Anforderungen gestellt werden, je länger der abgelaufene Zeitraum ist (BGH, Urteil vom 19. 10. 2005 - Az. XII ZR 224/03, NJW 2006, 219, vgl. auch BGH, Beschluss vom 23. Januar 2018 - Az. XI ZR 298/17 -, juris Rn. 9).
Sofern - wie im Fall einer nicht ordnungsgemäßen Belehrung noch besondere Umstände vorhanden sein müssen, damit sich die Ausübung des Widerspruchsrechts als rechtsmissbräuchlich darstellt, müssen diese Umstände mit zunehmendem Zeitablauf weniger ausgeprägt sein als bei bloß kurzem Zeitablauf, wobei - da auch der Fehler des Versicherers zu berücksichtigen ist - sie dennoch in der Gesamtbetrachtung gravierend sein müssen.
3.2. Folgende Umstände begründen hier die Annahme eines Rechtsmissbrauchs:.
Wie dargestellt war die Belehrung inhaltlich richtig, bei unterstellter Nichtübersendung des Policenbegleitschreibens allerdings drucktechnisch nicht ausreichend hervorgehoben.
Der Versicherer hat sich aber ersichtlich darum bemüht, die Klagepartei ausreichend deutlich zu belehren; er hat nicht versucht, die Belehrung in einem größeren Text zu verstecken und damit eine Kenntnis des Versicherungsnehmers von seinem Recht, sich durch einseitige Erklärung vom Vertrag zu lösen zu verhindern. Zudem war auch das System bei der Beklagten darauf ausgelegt, dass das Policenbegleitschreiben mit der unübersehbaren Belehrung mit der Police ausgedruckt wird. Schließlich hat die Beklagte den Kläger - vom Kläger zugestanden (Bl. 54 d.A.) - nachbelehrt; trotzdem hat der Kläger jahrelang zugewartet, bis er widersprochen hat.
Der Kläger hat über 9 Jahre Versicherungsschutz genossen, der zweifelsfrei bei Eintritt eines Versicherungsfalls in Anspruch genommen worden wäre. Das Geltendmachen eines Formmangels kann eine unzulässige Rechtsausübung sein, wenn eine Partei, die längere Zeit aus einem formnichtigen Vertrag - auch mittelbare - Vorteile gezogen hat, sich unter Berufung auf den Formmangel vertraglichen Verpflichtungen entziehen will (BGH, Urteil vom 23. 10. 2001 - Az. XI ZR 63/01, NJW 2002, 368 unter II.3., beckonline; BGH, Urteil vom 26. 5. 1999 - Az. VIII ZR 141/98, NJW 1999, 2664; BGH, Urteil vom 28.01.1993 - Az. IX ZR 259/91, NJW 1993, 1126; BGH, Urteil vom 28. 11. 1957 - Az. VII ZR 42/57, NJW 1958, 217; Schimansky/Bunte/Lwowski, BankR-HdB, 3. Abschnitt. Einlagen- und Kreditgeschäft 16. Kapitel. Kreditvertrag § 81 Verbraucherdarlehensrecht Rn. 385, beckonline m.w.N.; vgl. auch Peters WM 2020,1395 zu Fällen in denen Widerrufsberechtigte aus dem Vertrag Vorteile gezogen haben). Dieser Rechtsgedanke gilt entsprechend für die vorliegende Konstellation, bei der die Klagepartei sich auf eine formal unzureichende Belehrung beruft und daraus ein ewiges Widerspruchsrecht herleiten will, obwohl sie den Vertrag sehr lange Zeit durchgeführt hat und die Vorteile des Vertrages in Anspruch genommen hat.
Der Vertrag wurde im Jahr 2013 von der Klagepartei gekündigt und abgewickelt; die Klagepartei hat sich den vereinbarten Wert auszahlen lassen und dann noch bis Juni 2018 gewartet, bis sie den Widerspruch erklärt hat. Zwar schließt eine Kündigung und eine darauf folgende einvernehmliche Auszahlung des Rückkaufswertes einer Lebensversicherung - wenn der Versicherungsnehmer nicht ausreichend belehrt wurde oder auf andere Weise Kenntnis von seinem Widerspruchsrecht/Widerrufsrecht hatte - den späteren Widerspruch/Widerruf des Vertrages nicht aus (BGH, Urteil vom 13.09.2017 - Az. IV ZR 445/14, zfs 2017, 629; BGH, Urteil vom 17.05.2017 - Az. IV ZR 499/14; BGH, Entscheidung vom 16.10.2013 - Az. IV ZR 52/12). Das verbietet aber nicht, die einvernehmliche Vertragsabwicklung bei der Würdigung, ob die Ausübung des Widerspruchsrechts im Einzelfall rechtsmissbräuchlich ist, zu berücksichtigen. Der Zeitablauf zwischen Kündigung und Widerspruch ist in die Bewertung miteinzubeziehen. Für Verbraucherdarlehensverträge hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass die maßgebliche Frist für das Zeitmoment mit dem Zustandekommen des Verbraucherdarlehensvertrags anläuft, dagegen der Zeitraum zwischen der (einvernehmlichen - im entschiedenen Fall vorzeitigen) Beendigung des Verbraucherdarlehensvertrags und dem Widerruf nicht (nur) das Zeit-, sondern das Umstandsmoment betrifft; hierbei kann gerade bei beendeten Verbraucherdarlehensverträgen das Vertrauen des Unternehmers auf ein Unterbleiben des Widerrufs schutzwürdig sein, auch wenn die von ihm erteilte Widerrufsbelehrung ursprünglich den gesetzlichen Vorschriften nicht entsprach und er es in der Folgezeit versäumt hat, den Verbraucher nachzubelehren (BGH, Beschluss vom 23.01.2018 - Az. XI ZR 298/17, BeckRS 2018, 3224). Eine solche Konstellation ist vorliegend aufgrund der langjährigen Vertragsdurchführung, der erfolgten einvernehmlichen Abwicklung und des langen Zeitraums zwischen Abwicklung und Widerspruch gegeben (ständige Rechtsprechung des Senats, z.B. Urteil vom 31.08.2018 - Az. 25 U 607/18 - die Nichtzulassungsbeschwerde hat der Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 03.06.2020 unter dem Az. IV ZR 214/18 zurückgewiesen). Die Beklagte konnte insbesondere auch nach Ablauf der regulären Verjährungsfrist erwarten, nicht mehr in Anspruch genommen zu werden.
Vorliegend versucht der Kläger durch Ausübung des Widerspruchsrechts lediglich die Rendite zu seinen Gunsten zu verändern. Die Ausnutzung einer formalen Rechtsposition ist rechtsmissbräuchlich, wenn ein schutzwürdiges Eigeninteresse fehlt; erforderlich ist eine umfassende Bewertung der gesamten Fallumstände unter Berücksichtigung der Interessen der Beteiligten (OLG Frankfurt a. M. Urt. v. 3.7.2019 - Az. 23 U 66/18, BeckRS 2019, 29605; OLG Schleswig Urt. v. 31.3.2016 - Az. 5 U 188/15, BeckRS 2016, 118384; Grüneberg in Palandt, 79. Auflage 2020, § 242 BGB Rn. 50: Rechtsausübung zur Erreichung vertragsfremder oder unlauterer Zwecke). Im Rahmen der Prüfung, ob die Berufung auf das Widerspruchsrecht rechtsmissbräuchlich ist, ist - wie dargelegt - u.a. auch zu berücksichtigen, welche Zielsetzung durch den Widerspruch verfolgt wird. Das gesetzlich eingeräumte Widerspruchsrecht soll den Versicherungsnehmer vor übereilten Abschlüssen schützen (Schutz vor einem Abschluss ohne ausreichende Information über den Inhalt des Vertrages), nicht aber dem Versicherungsnehmer ermöglichen, mit dem nachträglichen Wissensvorsprung der für den Ertrag der Kapitalanlage wesentlichen Faktoren seine Entscheidung rückgängig zu machen und dadurch Verluste zu minimieren oder eine Rendite zu erzielen oder zu erhöhen(ständige Rechtsprechung des Senats, z.B. Urteil vom 31.08.2018 - Az. 25 U 607/18 zur beabsichtigten Renditeerhöhung - die Nichtzulassungsbeschwerde hat der Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 03.06.2020 unter dem Az. IV ZR 214/18 zurückgewiesen). Das entspricht auch der Rechtsauffassung des EuGH: „Bei der Beurteilung der Bedürfnisse des Versicherungsnehmers ist jedoch auf den Zeitpunkt des Vertragsabschlusses abzustellen. Vorteile, die der Versicherungsnehmer aus einem verspäteten Rücktritt ziehen könnte, bleiben außer Betracht. Ein solcher Rücktritt würde nämlich nicht dazu dienen, die Wahlfreiheit des Versicherungsnehmers zu schützen, sondern dazu, ihm eine höhere Rendite zu ermöglichen oder gar auf die Differenz zwischen der effektiven Rendite des Vertrags und dem Satz der Vergütungszinsen zu spekulieren.“ (EuGH,Urteil vom 19.12. 2019 - Az. C-355/18, C- 356/18 und C-357/18, NJW 2020, 667, beckonline Rn. 120 zum österreichischen Recht in dem Vergütungszinsen anstelle von Nutzungsherausgabe bestimmt ist). Nach Auffassung der Generalsanwältin beim EuGH in den Schlussanträgen vom 11.07.2019 zu den Verfahren C-355/18, C- 356/18 und C-357/18 steht es dem nationalen Richter frei, einem nicht zu leugnenden Missbrauchsrisiko (besonders bei fondsgebundenen Lebensversicherungsverträgen) im Einzelfall Rechnung zu tragen und den mit dem Rücktritt konkret verfolgten Zweck hinreichend zu würdigen (Generalanwalt beim EuGH Schlussantrag v. 11.7.2019 - C-355/18, BeckRS 2019, 14135). Der Versicherungsnehmer einer fondsgebundenen Lebensversicherungen hat nach der ursprünglichen Vereinbarung mit Gewinnchancen, aber auch mit Verlustrisiken zu rechnen; für diese Art der Anlage hat er sich entschieden. Mit der jetzigen Ausübung des Widerspruchsrechts versucht die Klagepartei, ihre Entscheidung rückgängig zu machen und mit dem nachträglichen Wissensvorsprung der für den Ertrag der Kapitalanlage wesentlichen Faktoren ihre Rendite zu erhöhen; die Ausübung des Widerspruchsrechts trägt also hier nicht dem ursprünglichen Zweck der Einräumung des Rechts Rechnung, sondern zielt auf der Basis nachfolgender Erkenntnisse auf eine Erhöhung der Rendite zu Lasten der anderen Versicherungsnehmer ab. Die gesetzgeberische Zielsetzung ist nach über 14 Jahren ohnehin nicht mehr erreichbar.
Da die Berufung keine Aussicht auf Erfolg hat, legt der Senat aus Kostengründen die Rücknahme der Berufung nahe. Im Falle der Berufungsrücknahme ermäßigen sich vorliegend die Gerichtsgebühren von 4,0 auf 2,0 Gebühren (vgl. Nr. 1222 des Kostenverzeichnisses zum 25 U 5829/20 - Seite 9 - GKG).
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Tenor
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 7.500 Euro festgesetzt.
Gründe:
1Die Beschwerde hat keinen Erfolg.
2Das Beschwerdevorbringen, auf dessen Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigt keine andere Entscheidung.
3Das Verwaltungsgericht hat den Antrag der Antragstellerin auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen die Baugenehmigung der Antragsgegnerin vom 29. April 2019 zur Errichtung einer Kindertagesstätte auf dem Grundstück G.‑straße 15 in C. (im Folgenden: Vorhaben) im Wesentlichen mit der Begründung abgelehnt, die Baugenehmigung verstoße nicht gegen nachbarschützende Vorschriften des Bauplanungs- oder Bauordnungsrechts.
4Das Vorhaben ist bei der im Eilverfahren nur möglichen summarischen Prüfung wegen des vorhabenbedingten Kraftfahrzeugverkehrs nicht etwa der Antragstellerin gegenüber deshalb rücksichtslos, weil sich dadurch die Erschließungssituation ihres Grundstücks unzumutbar verschlechtern würde. Dass es auf innerstädtischen öffentlichen Straßen immer wieder zu einer zeitweisen Verdichtung des Verkehrs und zu Staus kommen kann, gehört zu den nachteiligen Auswirkungen einer mobilen, auf den individuellen Kraftfahrzeugverkehr ausgerichteten Gesellschaft und beeinträchtigt regelmäßig weder die Erschließung eines an einer solchen Straße gelegenen Grundstücks im rechtlichen Sinne noch den von der Antragstellerin bemühten Anliegergebrauch. Es gibt grundsätzlich unter keinem der beiden Aspekte einen rechtlich schützenswerten Anspruch des an einem Grundstück dinglich Berechtigten darauf, dass dieses Grundstück über die öffentliche Straße, an der es liegt, zu jeder Zeit ohne jegliche Verzögerung und ohne vorübergehende Behinderung durch andere Verkehrsteilnehmer, die die öffentliche Straße ebenfalls ordnungsgemäß für die Durchfahrt oder als Anlieger zu einem anderen Grundstück nutzen, mit dem Kraftfahrzeug zu erreichen ist.
5Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 16. Juli 2018 – 10 B 56/18 –, juris, Rn. 16.
6Dass dies hier ausnahmsweise anders sein könnte, ist nicht erkennbar. Soweit das Beschwerdevorbringen der Antragstellerin ihren Vortrag zu den beengten Verkehrsverhältnissen und den fehlenden Parkmöglichkeiten in der Umgebung des Vorhabengrundstücks wiederholt, sieht der Senat bei Auswertung des Lichtbild- und Kartenmaterials keinen Anlass, die Würdigung des Verwaltungsgerichts in Zweifel zu ziehen. Ihr Hinweis auf einem Beschluss des Nds. OVG vom 20. Dezember 2013 – 1 ME 21/13 –, in dem in einem „Ausnahmefall“,
7vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 27. Oktober 2014 – 1 ME 145/14 –, juris, Rn. 14,
8der Leistungsfähigkeit einer Straße wegen ihrer Gestaltung als verkehrsberuhigter Bereich und ihrer geringen Breite außerordentlich enge Grenzen gesetzt waren,
9vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 20. Dezember 2013 – 1 ME 214/13 –, juris, Rn. 14,
10gibt für die Beurteilung der hier maßgeblichen Einzelfallumstände nichts her.
11Sollte die Antragstellerin zwischen dem für ein Wohngebiet typischen und dem vorhabenbedingten Verkehr der geplanten Kindertagesstätte unterscheiden wollen, verkennt sie, dass Kindertagesstätten in reinen Wohngebieten, auch wenn sie nicht im Sinne des § 3 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO den Bedürfnissen der Bewohner des Gebiets dienen, als Anlagen für soziale Zwecke (§ 3 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO) ausnahmsweise und in allgemeinen Wohngebieten (§ 4 Abs. 2 Nr. 3 BauNVO) allgemein zulässig sind. Bei der hier gebotenen Abwägung ist von der Typisierung von Nutzungen in der Baunutzungsverordnung als einer insoweit sachverständigen Konkretisierung allgemeiner städtebaulicher Grundsätze auszugehen und somit auf die Vorschriften des ersten Abschnitts (§§ 1 bis 15) der Baunutzungsverordnung als Auslegungs- oder Orientierungshilfe zurückzugreifen.
12Vgl. BVerwG, Urteil vom 16. September 2010 – 4 C 7.10 –, juris, Rn. 18; OVG Schl.-H., Beschluss vom 1. Februar 2019 – 1 MB 1/19 –, juris, Rn. 17.
13Daraus folgt, dass Nachbarn auch in Wohngebieten regelmäßig nicht nur Geräuscheinwirkungen von Kindertageseinrichtungen (vgl. § 22a Abs. 1a BImSchG); sondern auch den mit solchen Einrichtungen verbundenen Verkehr regelmäßig hinzunehmen haben.
14Die aus der Luft gegriffenen Behauptungen der Antragstellerin zu dem zu erwartenden Verhalten der Eltern der in der Kindertagesstätte betreuten Kinder im öffentlichen Straßenverkehr führen insoweit nicht weiter. Auch die Kritik an der von dem Verwaltungsgericht zugrunde gelegten Annahme, in der Kindertagesstätte würden insgesamt zehn Personen beschäftigt, ist unzutreffend, weil sich diese Zahl den genehmigten Bauvorlagen entnehmen lässt.
15Soweit die Antragstellerin schließlich auch die Lärm- und Abgasimmissionen durch die Nutzung der für das Vorhaben genehmigten acht Stellplätze entlang der gemeinsamen Grundstücksgrenze bis weit in den Ruhebereich ihres Grundstücks hinein beklagt, sind zwar Beeinträchtigungen für ihr Grundstück, die sich grundsätzlich nicht mit einem Vergleich mit den Immissionen von straßennah errichteten Stellplätzen und Garagen von Wohngebäuden in der Umgebung abtun lassen, nicht von der Hand zu weisen, doch kann insoweit auch nicht – wie die Antragstellerin vorträgt – von einer „stundenlangen Elternnutzung bei laufendem Motor im Minutentakt“ ausgegangen werden. Vielmehr dürften die Beeinträchtigungen durch die Nutzung der Stellplätze in der Regel, wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, auf die Bring- und Abholzeiten morgens und nachmittags und auf die Werktage beschränkt und der Antragstellerin daher zumutbar sein.
16Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
17Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG.
18Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Tenor
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Landgerichts Ingolstadt vom 25.11.2019, Az. 53 O 884/19, teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 17.633,05 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 23.05.2019 Zug um Zug gegen Rückgabe und Übereignung des Fahrzeugs Audi A 1 1.6 TDI mit der Fahrgestellnummer …52 zu zahlen.
2. Die Beklagte wird verurteilt, die Kosten der außergerichtlichen Rechtsverfolgung in Höhe von 1.100,51 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 23.05.2019 zu zahlen.
3. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Im Übrigen wird die Berufung der Beklagten zurückgewiesen.
III. Von den Kosten des Rechtsstreits hat die Klägerin 21%, die Beklagte 79% zu tragen.
IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Jede Partei kann die Vollstreckung durch Leistung einer Sicherheit in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die vollstreckende Partei Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
V. Die Revision gegen dieses Urteil wird zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin macht gegen die Beklagte Ansprüche im Zusammenhang mit dem Erwerb eines vom sog. Dieselabgasskandal betroffenen Fahrzeugs geltend.
Mit Kaufvertrag vom 04.03.2015 (Anlage K 1) erwarb die Klägerin von einem Autohaus den hier streitgegenständlichen gebrauchten Audi A 1 Sportback, 1.6 Liter TDI, 66 kW (90 PS), Erstzulassung 07.10.2013, zu einem Kaufpreis von 19.700 €. Der Kilometerstand zum Zeitpunkt des Kaufs betrug 6.333 km. Das Fahrzeug wurde am 03.03.2020 abgemeldet und hat seitdem einen Kilometerstand von 37.145 km.
Zum Zeitpunkt des Kaufs befand sich in dem Fahrzeug, das von der Beklagten hergestellt ist, ein von der V.-AG (V.-AG) entwickelter und produzierter Dieselmotor des Typs EA 189 (EU5) nebst einer Motorsteuerungssoftware, die erkennt, ob das Fahrzeug auf dem Prüfstand dem Neuen Europäischen Fahrzyklus unterzogen wird. Es wird in diesem Fall in den Abgasrückführungsmodus 1, einen Stickoxidoptimierten Modus, geschaltet. In diesem Modus findet eine Abgasrückführung mit niedrigem Stickoxidausstoß statt. Im normalen Fahrbetrieb außerhalb des Prüfstandes schaltet der Motor dagegen in den Abgasrückführungsmodus 0, bei dem die Abgasrückführungsrate geringer und der Stickoxidausstoß höher ist. Grundlage der Erteilung der Typgenehmigung sind die Abgasmessungen auf dem Prüfstand.
Die Beklagte hatte, wie sie in der Berufung unbestritten vorgetragen hat, in den Jahren 2005/ 2006 durch ihr Produkt-Strategie-Komitee, dem auch ein Vorstand angehört, beschlossen, dass der von VW entwickelte Motor in bestimmten Fahrzeugen der Beklagten serienmäßig eingebaut wird. Der erste Einsatz erfolgte im Jahr 2007. Die Beklagte hat den Motor samt Software als externes Produkt von der V.-AG zur Verwendung in ihren Fahrzeugen erworben. Die Hardware der Motorsteuerungsgeräte hat die Beklagte von den Zulieferern Bosch oder Continental erhalten. Ohne Einflussmöglichkeit von Mitarbeitern der Beklagten und ohne Einblick in die technischen Details wurde die auf das jeweilige Fahrzeug abgestimmte Software ab 2008 auf den automatisierten Fertigungslinien der Beklagten vom Konzernserver der V.-AG heruntergeladen. Die Software war zur Vermeidung von Einflussnahme außerhalb der Entwicklungsverantwortung verriegelt und verschlossen. Im Auftrag der Beklagten organisierte die Konzernmutter das EG-Typengenehmigungsverfahren. Von Mitarbeitern der V.-AG wurden die entsprechenden Fahrzeuge der Beklagten dem Technischen Dienst vorgestellt. Die Beklagte bekam lediglich die Rechnungen und den Prüfbericht, der keine Beanstandung enthielt.
Die Verwendung der von der Beklagten als „Umschaltlogik“ bezeichneten Steuerungsoftware wurde dem Kraftfahrt-Bundesamt weder von der V.-AG noch von der Beklagten im Rahmen der Tests zur Erreichung der Typgenehmigung offengelegt. Erst am 22.09.2015 veröffentlichte die V.-AG eine Adhoc-Mitteilung, mit der Auffälligkeiten bei Fahrzeugen mit dem Motor vom Typ EA 189 eingeräumt wurden. Dem Kraftfahrtbundesamt war es mit den damals zur Verfügung stehenden Tests nicht möglich, die Umschaltlogik zu erkennen.
Nach Bekanntwerden der Softwareproblematik verpflichtete das Kraftfahrtbundesamt die Beklagte zur Entfernung der als unzulässige Abschalteinrichtung qualifizierten „Umschaltlogik“ und dazu, geeignete Maßnahmen zur Wiederherstellung der Vorschriftsmäßigkeit zu ergreifen. Daraufhin wurde ein Software-Update entwickelt, welches zwischenzeitlich auf das Fahrzeug der Klägerin aufgespielt worden ist.
Mit Anwaltsschreiben vom 19.12.2018 forderte die Klägerin, anwaltlich vertreten, die Beklagte zur Rückzahlung des Kaufpreises in Höhe von 19.700 € Zug um Zug gegen Herausgabe und Übereignung des vorbezeichneten Fahrzeugs abzüglich einer Nutzungsentschädigung auf, wobei der Kilometerstand des Fahrzeugs aber nicht mitgeteilt worden ist (Anlage K 11). Ferner wurde die Erstattung von außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten verlangt und eine Frist bis zum 24.12.2018 gesetzt. Die Klage vom 16.04.2019 wurde der Beklagten am 22.05.2019 zugestellt.
Die Klägerin vertritt die Ansicht, dass sie von der Beklagten vorsätzlich sittenwidrig geschädigt worden sei. Der im Fahrzeug verbaute Motor sei mit Wissen des Vorstands der Beklagten mit einer Betrugssoftware versehen worden, um die Behörden über die Einhaltung der gesetzlichen Abgasgrenzwerte zu täuschen und auf diese Weise preiswerte und scheinbar saubere Dieselfahrzeuge in hoher Stückzahl veräußern zu können. Hierdurch hätten sich die Beklagte und die V.-AG gegenüber der Konkurrenz über den geringeren Preis einen entscheidenden Marktvorteil verschafft. Die Entwicklungsabteilung der V.-AG und der Beklagten hätten nicht ohne Kenntnis des Vorstandes entschieden, die sog. „B.-Software“ weiter zu entwickeln und serienmäßig in den Motorserien der konzernangehörigen Fahrzeuge einzubauen. Auch sei aufgrund von Überkreuzregelungen im Vorstand der Beklagten und der V.-AG, der arbeitsteiligen Kooperation, der komplexen Logistik und Anpassung der Technik an die Fahrzeuge sowie der bekannten Problematik der Einhaltung der Abgaswerte ohne Langzeitschäden an Motor und Partikelfilter von einer gemeinsamen und bewussten Entscheidung auf der Vorstandsebene der Beklagten und der V.-AG auszugehen, die Betrugssoftware trotz der Warnungen der Fa. B. serienmäßig in die Fahrzeuge zu implementieren. Auch aufgrund der Organisationsstruktur der Beklagten sei ausgeschlossen, dass die Bestellung, Implementierung, Adaption und Bezahlung der Betrugssoftware nicht auf der höchsten Ebene des Unternehmens veranlasst worden sei.
Die Klägerin habe dadurch ein Fahrzeug erhalten, das wegen des überhöhten Schadstoffausstoßes nicht über eine gültige Genehmigung auf der Grundlage der EG-Typgenehmigung verfüge. Es habe die Gefahr bestanden, dass das Fahrzeug stillgelegt werden muss. Das Fahrzeug habe zudem einen erheblichen Wertverlust erlitten. Die Klägerin hätte den Wagen nicht gekauft, wenn sie von der Manipulation der Abgaswerte im Prüfverfahren und der dadurch drohenden Folgen gewusst hätte.
Die Beklagte hingegen hält Schadensersatzansprüche der Klägerin nicht für gegeben. Sie meint, das Fahrzeug enthalte gar keine unzulässige Abschalteinrichtung und bestreitet, dass der Klägerin ein Schaden entstanden sei. Eine sittenwidrige Schädigung durch die Beklagte liege nicht vor, auch fehle es an der Kausalität zwischen angeblicher Täuschung und Schaden. Jedenfalls sei ein etwaiger Schaden durch das Aufspielen des Updates entfallen. Eine - unterstellt von der Beklagten verursachte - Fehlvorstellung der Klägerin über die Schadstoffemission sei für deren Kaufentscheidung nicht maßgeblich gewesen. Eine Haftung der Beklagten scheide auch deshalb aus, weil sie den Motor nicht entwickelt habe. Ihr seien weder Kenntnisse noch Entscheidungen der V.-AG zuzurechnen. Konkret verantwortliche Personen könne die Klägerin nicht benennen, schon daran scheitere die Haftung, zumal die Beklagte nur für ihre Organe einzustehen habe. Eine sekundäre Darlegungslast treffe die Beklagte nicht. Abgesehen davon hätte die Beklagte nach dem Stand der Ermittlungen keine Erkenntnisse dazu, dass Vorstandsmitglieder im aktienrechtlichen Sinn die Entwicklung der Umschaltlogik für den Motor EA 189 in Auftrag gegeben oder gebilligt hätten.
Das Landgericht hat der Klage mit Urteil vom 25.11.2019 nach Anhörung der Klägerin im Wesentlichen stattgegeben. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass sich der Anspruch der Klägerin aus § 826 BGB ergebe. Die Beklagte habe durch das Inverkehrbringen des Fahrzeugs unter Verschweigen der gesetzeswidrigen Softwareprogrammierung der Klägerin vorsätzlich und in gegen die guten Sitten verstoßender Weise einen Schaden zugefügt. Die jeweils verantwortlichen Mitarbeiter der Beklagten hätten die unzulässige Software aufgespielt in Kenntnis der Tatsache, dass die gesetzlichen Voraussetzungen der Typzulassung nicht vorgelegen hätten. Die Täuschungshandlung sei nur vorsätzlich denkbar, weil die Beklagte als etablierte Fahrzeugherstellerin und Herstellerin des Motors Kenntnis von der Programmierung und den einschlägigen Rechtsnormen gehabt haben müsse. Ein eigenmächtiges Handeln von Mitarbeitern, die nicht Repräsentanten der Beklagten sind, sei nicht vorstellbar. Im Übrigen sei die Beklagte auch der ihr obliegenden sekundären Darlegungslast nicht ausreichend nachgekommen. Welcher konkrete Repräsentant der Beklagten vorsätzlich gehandelt habe, müsse vor diesem Hintergrund nicht festgestellt werden. Das Verhalten der Beklagten verstoße gegen die guten Sitten, weil um den Preis der bewussten Täuschung die Kunden geschädigt worden seien. Durch die Bindung an den nicht erwartungsgerechten Vertrag sei der Klägerin ein Schaden entstanden, der den Anspruch auf Rückabwicklung auslöse. Die Klägerin müsse sich aber den Abzug von Gebrauchsvorteilen in Form einer Nutzungsentschädigung gefallen lassen. Der Anspruch sei nicht verjährt und nach fruchtloser Mahnung zu verzinsen. Deliktische Zinsen könnten nicht verlangt werden, außergerichtliche Rechtsanwaltskosten seien nur in Höhe einer 1,3 Geschäftsgebühr zuzusprechen.
Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf die tatsächlichen Feststellungen im landgerichtlichen Urteil Bezug genommen, § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO.
Gegen das landgerichtliche Urteil haben zunächst beide Parteien Berufung eingelegt. Die Klägerin hat ihre Berufung mit Schriftsatz vom 05.10.20 (Bl. 548 d.A.) zurückgenommen.
Die Beklagte ist der Ansicht, dass das Landgericht der Klage rechtsfehlerhaft stattgegeben und zu Unrecht einen Schadensersatzanspruch bejaht habe. In der Berufungsbegründung vom 28.03.2020 wiederholt die Beklage im Wesentlichen ihren bereits erstinstanzlich erfolgten Vortrag und stellt insbesondere darauf ab, dass die Beklagte nur Herstellerin des Fahrzeugs sei, den im Fahrzeug verbauten Motor des Typs EA 189 aber nicht entwickelt habe. Die Beklagte sei an dieser Entwicklung nicht beteiligt gewesen.
Mit Schriftsatz vom 06.10.2020, Bl. 562 ff. d.A., hat die Beklagte ihren diesbezüglichen Vortrag noch vertieft und ergänzt. Sie legt dar, weswegen aus ihrer Sicht die inzwischen ergangene Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur Haftung der V.-AG auf vorliegende Fallgestaltung nicht übertragen werden könne. Sie meint, sie habe keinen Anlass gehabt, die von der V.-AG entwickelten Motoren im Rahmen oder in Vorbereitung des Typgenehmigungsverfahrens eigenständig zu überprüfen. Die Beklagte habe - wie im Bereich der Zulieferung von Produkten durch externe Firmen - der V.-AG vertrauen können und keine Verpflichtung gehabt, eigene Tests durchzuführen. Die Beklagte habe bis heute keine belastbaren Anhaltspunkte dafür, dass Vorstandsmitglieder im aktienrechtlichen Sinne oder potentielle Repräsentanten bei Inverkehrbringen des Fahrzeugs oder bei Kaufvertragsabschluss Kenntnis von der „Umschaltlogik“ gehabt hätten. Die Haftung der Beklagten könne weder auf angebliche Sorgfaltspflichtverletzungen, noch auf vermeintliches Organisationsverschulden noch auf eine konzernweite Wissenszusammenrechnung gestützt werden. Insoweit verweist die Beklagte auf ein von ihr in Auftrag gegebenen Rechtsgutachten von Prof. Dr. G. vom 21.09.2020.
Im Einzelnen wird auf die Berufungsbegründung vom 28.02.2020, Bl. 346 ff d.A. sowie den Schriftsatz vom 30.07.2020, Bl. 464 ff und vom 06.10.2020, Bl. 562 ff d.A. Bezug genommen.
Die Beklagte beantragt im Berufungsverfahren,
das am 25.11.2019 verkündete Urteil des Landgerichts Ingolstadt, Az. 53 O 884/19 im Umfang der Beschwer der Beklagten abzuändern und die Klage vollumfänglich abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Die Klägerin verteidigt die erstinstanzliche Entscheidung und ist der Meinung, dass weder eine Verletzung von Verfahrensrecht noch eine Verletzung materiellen Rechts durch das Landgericht vorliege. Rechtsfehlerfrei habe das Landgericht eine vorsätzliche, sittenwidrige Schädigung zu Lasten der Klägerin angenommen. Der Schaden sei auch nicht durch das Software-Update entfallen, welches im Übrigen nicht zu besseren Emissionswerten geführt habe und mit dem eine neue Abschalteinrichtung implementiert worden sei. Die Beweislastverteilung im Rahmen der Kausalität sei nicht verkannt worden. Ebenso korrekt habe das Landgericht eine Repräsentantenhaftung angenommen. Die Implementierung der Abschaltvorrichtung - einer Fortentwicklung der bei der Beklagten entwickelten „Akustikfunktion“ - sei schier ohne Wissen und Wollen der dafür verantwortlichen Ingenieure nicht möglich. Die Klagepartei hält auch daran fest, dass der Vorstand sowohl die Funktionsweise als auch die Unzulässigkeit der verwendeten Technik gekannt und deren Einsatz gebilligt hätte. Hiervon sei aufgrund der Gesamtumstände auszugehen.
Im Einzelnen wird auf die Berufungserwiderung, Schriftsatz vom 05.08.2020, Bl. 504 ff. d.A., sowie den weiteren Schriftsatz vom 05.10.2020, Bl. 548 ff. d.A., verwiesen.
Der Senat hat über den Rechtsstreit am 19.10.2020 mündlich verhandelt. Die Beklagte verzichtete in diesem Termin auf die Einrede der Verjährung und hielt auch den Antrag auf Anhörung bzw. Vernehmung der Klägerin als Partei zur Frage der Kausalität nicht mehr aufrecht. Insoweit wird auf das Sitzungsprotokoll, Bl. 610 ff. d.A., verwiesen.
Gründe
II.
Die zulässige Berufung der Beklagten hat insoweit Erfolg, als sich die vom Kaufpreis in Abzug zu bringende Nutzungsentschädigung aufgrund der unstreitig bis zur Abmeldung erfolgten weiteren Nutzung des Fahrzeugs erhöht hat. Erfolg hat die Berufung weiter in Bezug auf vom Landgericht getroffene Nebenentscheidungen, nämlich den festgestellten Annahmeverzug und einen Teil der Zinsen.
Im Ergebnis hat das Landgericht aber zur Recht angenommen, dass die Beklagte der Klägerin nach § 826 BGB haftet. Im Übrigen ist die Berufung unbegründet.
1. In weiten Teilen kann bezüglich der Haftung der Beklagten nach § 826 BGB auf die grundsätzliche Entscheidung des Bundesgerichtshofs in Bezug auf die Konzernmutter, die V.-AG, Bezug genommen werden, Urteil vom 25.05.2020, Az. VI ZR 252/19. Die dort getroffenen Aussagen zur Frage der Täuschung, der Sittenwidrigkeit, des Vorliegens eines Schadens, der Kausalität, der Verpflichtung zu einer sekundären Darlegungslast und Teilen der subjektiven Tatbestandsvoraussetzungen können auch auf vorliegende Fallgestaltung übertragen werden. Gründe, die Sach- und Rechtslage vorliegend anders zu beurteilen, sind nicht ersichtlich.
Zentraler und höchstrichterlich noch nicht geklärter Streitpunkt des Verfahrens ist die Frage, ob für den unstreitigen Einsatz der „Umschaltlogik“ im Fahrzeug der Klägerin auch die Beklagte deliktisch haftet oder nur die in diesem Verfahren nicht beteiligte V.-AG. Der Senat sieht eine Haftung der hiesigen Beklagten nach §§ 826, 31 BGB gegenüber der Klägerin nicht allein aufgrund einer Zurechnung fremden Fehlverhaltens, sondern im Kern aufgrund eigenen deliktischen Handelns. Dies beruht auf dem von der Beklagten zu verantwortenden Inverkehrbringen des streitgegenständlichen Fahrzeugs mit einer manipulativen, auf Täuschung ausgerichteten unzulässigen Abschalteinrichtung.
a) Das Inverkehrbringen von Fahrzeugen mit einem Motor, der über die streitgegenständliche Abschalteinrichtung bzw. Umschaltlogik verfügt, stellt eine konkludente Täuschung der Klagepartei durch die Beklagte dar, weil die Käufer der bemakelten Fahrzeuge, gleichgültig, ob sie das Fahrzeug neu oder gebraucht erwarben, arglos davon ausgingen, dass die gesetzlichen Vorgaben eingehalten werden. Die Käufer durften darauf vertrauen, dass das erworbene Fahrzeug entsprechend seinem objektiven Verwendungszweck im Straßenverkehr eingesetzt werden kann, über eine uneingeschränkte Betriebserlaubnis verfügt und die erforderlichen Zulassungs- und Genehmigungsverfahren rechtmäßig durchlaufen worden sind. Tatsächlich enthielt der Motor - wie dargelegt - zum Zeitpunkt des Kaufs eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 S. 1 VO (EG) 715/2007, weil der Stickoxidausstoß auf dem Prüfstand gegenüber dem normalen Fahrbetrieb durch den Einsatz einer entsprechenden Motorsteuerungssoftware reduziert worden ist. Die Technik war nicht nur zweifelsfrei unzulässig, sie diente vielmehr der gezielten Täuschung über die Einhaltung der zulässigen Abgaswerte. Dies hatte zur Folge, dass die Gefahr einer Betriebsuntersagung durch die für die Zulassung zum Straßenverkehr zuständige Behörde bestand und ein weiterer Betrieb des Fahrzeugs im öffentlichen Straßenverkehr möglicherweise nicht (mehr) möglich war, vgl. BGH Urteil vom 25.05.2020, Az. VI ZR 252/19.
b) Durch diese Täuschung entstand der Klägerin als Käuferin eines vom sog. Dieselabgasskandal betroffenen Fahrzeugs ein Schaden, der in dem Abschluss des Kaufvertrags als ungewollte Verbindlichkeit zu sehen ist. Dieser Schaden ist auch nicht durch das später durchgeführte Software-Update entfallen, vgl. BGH aaO vom 25.05.20, Rn. 44 ff.
c) Der Schaden in Form des Kaufvertragsabschlusses wurde durch das Handeln der Beklagten verursacht. Die haftungsbegründende Kausalität zwischen schädigender Handlung der Beklagten und dem Eintritt des Schadens bei der Klägerin ist zu bejahen, weil bereits die allgemeine Lebenserfahrung die Annahme rechtfertigt, dass ein Käufer, der ein Fahrzeug zur eigenen Nutzung erwirbt, bei der bestehenden Gefahr einer Betriebsbeschränkung oder -untersagung von dem Erwerb des Fahrzeugs abgesehen hätte, vgl. BGH aaO Rn 51. Die Beklagte hat im Termin vom 19.10.2020 ihren Antrag auf nochmalige Anhörung bzw. Vernehmung der anwesenden Klägerin als Partei nicht aufrechterhalten.
d) Das Verhalten der Beklagten war sittenwidrig, auch wenn sie - wie sie vorträgt - den Motor EA 189 nicht entwickelt haben sollte.
Sittenwidrig ist ein Verhalten, das nach seinem Gesamtcharakter, der durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Dafür genügt es im Allgemeinen nicht, dass der Handelnde eine Pflicht verletzt und einen Vermögensschaden hervorruft, vielmehr muss eine besondere Verwerflichkeit seines Verhaltens hinzutreten, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zutage getretenen Gesinnung oder den eingetretenen Folgen ergeben kann, ständige Rechtsprechung des BGH, Urteil vom 28.06.2016, Az. VI ZR 536/15, vom 07.05.2019, Az. VI ZR 512/17, zuletzt 25.05.2020, Az. VI ZR 252/19.
Nicht nur das Verhalten der V.-AG, sondern auch der hiesigen Beklagten ist objektiv als sittenwidrig zu qualifizieren, weil auch die beklagte A.-AG auf der Grundlage einer strategischen Entscheidung im eigenen Kosten- und Gewinninteresse Fahrzeuge in den Verkehr gebracht hat, deren Motorsteuerungssoftware bewusst und gewollt so programmiert war, dass die gesetzlichen Abgaswerte mittels einer unzulässigen Abschalteinrichtung nur auf dem Prüfstand eingehalten wurden. Damit ging eine erhöhte Belastung der Umwelt mit Stickoxiden einher und es bestand die Gefahr einer Betriebsbeschränkung oder - untersagung der betroffenen Fahrzeuge. Ein solches Verhalten ist im Verhältnis zu einer Person, die eines der bemakelten Fahrzeuge in Unkenntnis der illegalen Abschalteinrichtung erwirbt, besonders verwerflich und mit den grundlegenden Wertungen der Rechts- und Sittenordnung nicht zu vereinbaren, BGH aaO Rn. 16.
Auch die hier beklagte A.-AG hat nach Überzeugung des Senats das an sich erlaubte Ziel der Gewinnerhöhung ausschließlich dadurch erreicht, dass sie auf der Grundlage einer strategischen Unternehmensentscheidung die zuständige Typgenehmigungsbehörde und die für sie handelnden Technischen Dienste arglistig getäuscht hat. Die Einwände der Beklagten, dass das Zulassungsverfahren durch die V.-AG erfolgt ist und die Beklagte nur die Rechnungen und beanstandungsfreien Prüfberichte erhalten hat, greifen aus nachfolgenden Gründen nicht durch.
aa) Verantwortlich für alle Belange des EG-Typgenehmigungsverfahrens und für die Übereinstimmung der Produktion bleibt die Beklagte als Herstellerin ihrer Fahrzeuge, vgl. Art. 5 der RL 2007/46/EG. Sie kann sich nicht darauf berufen, dass allein die V.-AG Pflichten verletzt hätte, was ihr verborgen geblieben sei und ihr nicht zurechenbar sei, obwohl vorgetragen wird, dass die V.-AG im Auftrag der A.-AG gehandelt hat.
Fahrzeuge dürfen in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union nur zum Straßenverkehr zugelassen werden, wenn sie einer amtlichen Genehmigung entsprechen. Dabei ist für Personenkraftwaren die RL 2007/46/EG maßgeblich. Diese enthält eine Vielzahl von Einzelvorschriften für die verschiedenen technischen Systeme und Bauteile der Fahrzeuge. Die an die Abgasemissionen der Fahrzeuge zu stellenden Anforderungen regelt die VO (EG) 715/2007 und die dazu erlassene Durchführungsverordnung (EG) Nr. 692/2008. Die VO (EG) 715/2007 verpflichtet den Hersteller in Art. 5 Abs. 1, das Fahrzeug so auszurüsten, dass die das Emissionsverhalten voraussichtlich beeinflussenden Bauteile so konstruiert, gefertigt und montiert sind, dass das Fahrzeug unter normalen Betriebsbedingungen dieser Verordnung und ihren Durchführungsmaßnahmen entspricht. Gemeint sind damit die realen Betriebsbedingungen, die sich unter Umständen im Labor nicht vollständig nachbilden lassen. Ferner bestimmt Art. 5 Abs. 2, dass die Verwendung von Abschalteinrichtungen, die die Wirkung von Emissionskontrollsystemen verringern, grundsätzlich unzulässig ist.
Vor der Erteilung einer EG-Typgenehmigung ist das im Anhang II der (EG) Nr. 692/2008 geforderte Prüfverfahren durchzuführen, das näher in der UN-Regelung Nr. 83 beschrieben ist. Dabei prüft der Technische Dienst im Auftrag der Genehmigungsbehörde das Fahrzeug nach den Vorgaben der Vorschriften und erstellt über die ermittelten Ergebnisse einen Bericht. Obwohl Art. 5 Abs. 2 der VO (EG) 715/2007 zwar ein Verbot unzulässiger Abschalteinrichtungen deklariert, gab es aber damals keinen Test zur Ermittlung etwaiger unzulässiger Abschalteinrichtungen im Zuge des vorgesehenen Prüfungsverfahrens. Das erleichterte die Täuschung des Kraftfahrt-Bundesamtes.
Der Beklagten ist vorzuwerfen, dass sie mit der Abgabe der Beschreibungsunterlagen und ihrem Antrag auf Erteilung einer EG-Typgenehmigung eine eigene Erklärung gegenüber der Genehmigungsbehörde abgegeben hat, was die Verpflichtung einschloss, den Motor eigenständig auf Funktionsmäßigkeit und Gesetzesmäßigkeit zu überprüfen. Mit dem Antrag auf Erteilung einer EG-Typgenehmigung wird zumindest konkludent erklärt, dass das Fahrzeug die gesetzlichen Vorschriften einhält und insbesondere über keine unzulässige Abschalteinrichtung verfügt. Dem Anhang I der RL 2007/46/EG Ziffer 3 lässt sich - entgegen der Ansicht der Beklagten - auch entnehmen, dass zur Antriebsmaschine eine Beschreibung des Systems zu erfolgen hat. Dass die V.-AG auch diese Beschreibungsunterlagen gefertigt und vorgelegt hat, wird von der Beklagten nicht vorgetragen, sondern nur, dass Mitarbeiter der Konzernmutter die Fahrzeuge der Beklagten dem Technischen Dienst vorgestellt haben.
Im Übrigen hält der Senat aber auch die vollständige Übertragung des gesamten EG-Typgenehmigungsverfahrens auf die Konzernmutter nicht für zulässig und sieht darin ein Organisationsverschulden. Juristische Personen sind verpflichtet, den Gesamtbereich ihrer Tätigkeit so zu organisieren, dass für alle wichtigen Aufgabengebiete, hier dem Inverkehrbringen der Fahrzeuge, ein verfassungsmäßiger Vertreter zuständig sein muss, der die wesentlichen Entscheidungen selbst trifft, vgl. BGH, Urteil vom 08.07.1980, Az. VI ZR 158/78. Die Beklagte kann sich ihrer haftungsrechtlichen Verantwortung nicht dadurch entziehen, dass sie einen so elementaren Teilbereich wie das EG-Typgenehmigungsverfahren der Konzernmutter überlässt.
Tut sie dies dennoch, dann muss sie sich auch das Wissen der V.-AG von der Verwendung der unzulässigen Abschalteinrichtung (von dem vorliegend auszugehen ist) entsprechend § 166 Abs. 1 BGB zurechnen lassen. Denn die Beklagte schildert selbst, dass die V.-AG in ihrem Auftrag im behördlichen Verfahren tätig geworden ist, mithin eine rechtsgeschäftliche Handlung des Vertreters vorliegt. Wer sich im rechtsgeschäftlichen Verkehr bei der Abgabe von Willenserklärungen - hier dem Antrag auf Erteilung einer EG-Typgenehmigung - eines Vertreters bedient, muss es im schutzwürdigen Interesse des Adressaten hinnehmen, dass ihm die Kenntnis des Vertreters als eigene zugerechnet wird.
Oder anders ausgedrückt, wer sich zur Erledigung eigener Angelegenheiten Dritter bedient, muss sich deren Wissen zurechnen lassen, vgl. BeckOK, BGB Hau/ Poseck, 55. Edition, Stand 01.08.2020, Rn. 1 zu § 166 BGB.
bb) Die Beklagte kann sich nicht darauf berufen, dass im Zulassungsverfahren die Emissionsgrenzwerte nur auf dem Rollenprüfstand geprüft werden und ihr es nicht möglich gewesen wäre, Prüfungen im realen Fahrbetrieb vorzunehmen. Unabhängig von den zur Verfügung stehenden Überprüfungsmöglichkeiten hätte die Beklagte jedenfalls bei der V.-AG nachfragen können, wie die Motorsteuerungssoftware programmiert ist, damit die vorgeschriebenen Grenzwerte eingehalten werden können. Die Beklagte hätte sich auch ohne Weiteres von der Konzernmutter die entsprechenden Unterlagen geben lassen können. Insoweit wird nicht vorgetragen, dass man dies versucht hätte, aber von Seiten der Konzernmutter dies abgelehnt worden sei oder dass man solche Unterlagen bekommen hätte, die aber geschönt gewesen seien. Selbst das von der Beklagten vorgelegte Rechtsgutachten von Prof. Dr. G. geht auf S. 23 davon aus, dass „die Möglichkeit der Aufdeckung der Abschalteinrichtung durch die AUDIeigene Entwicklungsabteilung - vermittels einer grundlegenden Prüfung der Software bzw. einer Neuentwicklung von Testverfahren - nicht vollständig ausgeschlossen werden kann…“
cc) Hinzu kommen folgende Aspekte:
Zum Zeitpunkt der Entwicklung und des Einbaus des streitgegenständlichen Motors war das Spannungsverhältnis zwischen kostengünstiger Produktion und Begrenzung der Stickoxidemissionen allgemein bekannt. Die Beklagte ist ihrerseits Herstellerin von Dieselmotoren (nebst Steuerungstechnik), die serienmäßig bei Fahrzeugen des Konzerns zum Einsatz kommen. Dass sich kein Verantwortlicher bei der Beklagten dafür interessiert haben will, ob und wie die Konzernmutter bei dem Motor EA 189 diesen Konflikt gelöst haben könnte, erscheint nicht plausibel. Zudem hat zum damaligen Zeitpunkt der europäische Gesetzgeber das grundsätzliche Verbot unzulässiger Abschalteinrichtungen normiert, wodurch der oben beschrieben Zielkonflikt erneut Bedeutung gewann.
Letztlich ist aber sogar davon auszugehen, dass eine entsprechende Kenntnis von der Funktionsweise der Software bei der Beklagten vorhanden war. Die Beklagte hat nämlich den Vortrag der Klagepartei im Schriftsatz vom 05.10.2020, Seite 8 ff., Bl. 555 d.A., dahingehend, dass die hier streitgegenständliche Umschaltlogik eine Fortentwicklung der bei der Beklagten entwickelten „Akustikfunktion“ ist, nicht bestritten, so dass dieser Vortrag als zugestanden gilt, § 138 Abs. 3 ZPO. Im Hinblick auf den sehr konkreten Sachvortrag der Klagepartei kann ein Bestreiten der Beklagten nicht dem ansonsten erfolgten Vortrag entnommen werden.
dd) Schließlich räumt die Beklagte sogar ein, dass die grundsätzliche Entscheidung in Bezug auf die Verwendung des Motors EA 189 in den Jahren 2005/2006 von dem Produkt-Strategie-Komitee getroffen worden ist, dem auch ein Vorstand angehört hat. Dass das vorgenannte Komitee der Beklagten keine Kenntnis von den Details des Motors gehabt hat, dessen serienmäßiger Einsatz ab 2007 beschlossen worden ist, hält der Senat ebenfalls nicht für plausibel. Es ist nicht nachvollziehbar, dass der Einsatz des Motors in einer Vielzahl von Fahrzeugen angeordnet wird, der unstreitig beteiligte Vorstand sich bei dieser Entscheidung, die die Beklagte selbst wegen ihrer Bedeutung als „Meilenstein“ bezeichnet, nicht darüber informiert, welche Eigenschaften der Motor hat und wie es gelingt, das bekannte Problem der Einhaltung der Stickoxidwerte zu lösen. Die Beklagte trägt hier nicht einmal vor, welcher Vorstand diesem Komitee angehört hat, ob dieser in Bezug auf seinen Kenntnisstand befragt worden ist und was gegebenenfalls die Antwort war. Der ihr obliegenden sekundären Darlegungslast ist die Beklagte hier nicht in ausreichendem Maß nachgekommen.
Auch die Käufer von Fahrzeugen der hiesigen Beklagten vertrauten darauf, dass die gesetzlichen Vorgaben eingehalten werden und wurden darin arglistig getäuscht. Die Sittenwidrigkeit des Handelns ergibt sich aus dem nach Ausmaß und Vorgehen besonders verwerflichen Charakter der Täuschung von Kunden, der Täuschung des Kraftfahrtbundesamtes unter Inkaufnahme nicht nur der Schädigung der Käufer, sondern auch der Umwelt allein im Profitinteresse.
e) Die subjektiven Voraussetzungen der Haftung nach § 826 BGB sind ebenfalls erfüllt. In subjektiver Hinsicht setzt § 826 BGB einen Schädigungsvorsatz sowie Kenntnis der Kausalität des eigenen Verhaltens für den Eintritt des Schadens und der das Sittenwidrigkeitsurteil begründenden tatsächlichen Umstände voraus. Der Schädigungsvorsatz enthält ein Wissensund Wollenselement. Der Handelnde muss die Schädigung des Anspruchsstellers gekannt bzw. vorausgesehen und in seinen Willen aufgenommen haben und mindestens mit bedingtem Vorsatz gehandelt haben, BGH, Urteil vom 28.06.2016, Az. VI ZR 536/15.
Die Haftung einer juristischen Person nach § 826 BGB i.V.m. § 31 BGB setzt zudem voraus, dass ihr „verfassungsmäßig berufender Vertreter“ den objektiven und subjektiven Tatbestand verwirklicht hat. Die erforderlichen Wissens- und Wollenselemente müssen dabei kumuliert bei einem solchen Vertreter vorliegen, der auch den objektiven Tatbestand verwirklicht hat, eine mosaikartige Zusammensetzung der kognitiven Elemente bei verschiedenen Personen ist hingegen nicht zulässig, vgl. BGH, Urteil vom 18.07.2019, Az. VI ZR 536/15. Darauf weist zutreffend auch das von der Beklagten vorgelegte Rechtsgutachten hin, S. 15.
Der Senat geht nicht davon aus, dass eine Wissenszurechnung im Konzern die Haftung der Beklagten begründet. Der Umstand, dass die beteiligten Gesellschaften in einem Konzern verbunden sind, genügt nämlich für sich genommen nicht, um eine Wissenszurechnung zu begründen, vgl. BGH, Urteil vom 13.12.1089, Az. IV a ZR 177/88, Rn. 14, OLG Stuttgart, Urteil vom 04.09.2019, Az. 13 U 136/18, Mükomm. BGB, 7. Auflage 2018, § 166 Rn. 61.
Die Haftung der Beklagten beruht vielmehr - wie schon ausgeführt - auf ihrem eigenen deliktischen Handeln, dem von ihr zu verantwortenden Inverkehrbringen des streitgegenständlichen Fahrzeugs.
Im Hinblick auf den neuen Vortrag im Schriftsatz vom 06.10.2020 ist die Beklagte der ihr obliegenden sekundären Darlegungslast in größerem Umfang als bisher nachgekommen, weil sie zur Organisationsstruktur, der Arbeitsorganisation, den damaligen internen Zuständigkeiten, den Berichtspflichten und den von ihr veranlassten Ermittlungen näher vorgetragen hat. Diese neuen tatsächlichen Ausführungen, die von der Klagepartei nicht bestritten worden sind, legt der Senat seiner Entscheidung zugrunde, weil unstreitiger Tatsachenvortrag nie verspätet ist. Die Beklagte argumentiert allerdings damit, dass schon keine belastbaren Anhaltspunkte für eine Kenntnis der Vorstandsmitglieder im aktienrechtlichen Sinn oder von potentiellen Repräsentanten bestehe, weshalb ein vertieftes Vorgehen nicht angezeigt sei und keine Verpflichtung zu weiteren Aufklärungsmaßnahmen von Seiten des Aufsichtsrats bestehe. Dies teilt der Senat aus nachfolgenden Gründen nicht. Auch die subjektiven Voraussetzungen für eine Haftung nach § 826 BGB sind erfüllt.
aa) Zur Produktion erklärt die Beklagte nunmehr, dass bereits in den Jahren 2005/2006 vom Produkt-Strategie-Komitee, dem auch ein nicht namentlich benannter Vorstand angehört hat, die grundsätzliche Entscheidung getroffen worden ist, dass in bestimmten Fahrzeugen der Beklagten der von der Konzernmutter entwickelte Motor vom Typ EA 189 eingebaut wird, was letztlich ab 2007 zu einem serienmäßigen Einsatz geführt hat. Die Beklagte behauptet dazu weiter, dass weder Organe noch Repräsentanten, nicht einmal Werksmitarbeiter der Beklagten Kenntnis von den Details des Motors, insbesondere der Software gehabt hätten, weil diese verschlossen und verriegelt war und so vom Konzernserver in der Fertigung aufgespielt worden ist. Dies hält der Senat - wie oben bereits ausgeführt - nicht für plausibel. Es ist nicht nachvollziehbar, dass das oben genannte Komitee, dem unstreitig auch ein Organ der Beklagten angehört hat, den Einsatz eines Motors in eigenen Fahrzeugen befürwortet, sich aber keine Gedanken darüber macht, wie der Motor funktioniert, welche Eigenschaften er hat und wie es gelingt, die entsprechenden Stickoxidgrenzwerte einzuhalten. Bei dem Motor handelt es sich um das Kernstück des Fahrzeugs und bei der Verwendung um eine grundlegende, eine Vielzahl von Fahrzeugen betreffende Strategieentscheidung, die mit erheblichen persönlichen Haftungsrisiken für die entscheidenden Personen verbunden ist. Da die Beklagte auch selbst Dieselmotoren entwickelt und die Frage, wie die gesetzlichen Grenzwerte technisch und wirtschaftlich kostengünstig eingehalten werden können unter Kfz-Herstellern zu der damaligen Zeit ein Hauptthema war, kann nicht nachvollzogen werden, dass die Beklagte kein Interesse daran hatte zu wissen, wie es der Mutterkonzern geschafft hat, die strengen Grenzwerte einzuhalten. Es scheint ausgeschlossen, dass die Beklagte den von der Konzernmutter entwickelten Motor ohne eigene Prüfung und Kenntnis der wesentlichen Merkmale „blind“ in ihre eigenen Fahrzeuge eingebaut hat. Es liegt vielmehr auf der Hand, dass im Unternehmen der Beklagten mindestens ein handelnder Repräsentant an der Entscheidung über die Verwendung der unzulässigen Abschalteinrichtung beteiligt war. Dies folgt schon aus der Tragweite der Entscheidung, aber auch aus den gesamten Umständen.
Deshalb kann auch vorliegend - entgegen den Ausführungen im Rechtsgutachten Grigoleit, Seite 17 ff. - in Bezug auf die Frage der personalen Anknüpfung - wie es der BGH in dem Urteil vom 25.05.2020 getan hat - auf die bewusste Beteiligung eines Organmitglieds an der grundlegenden strategischen Entscheidung abgestellt werden.
bb) Die Beklagte kann sich nicht darauf zurückziehen, dass sie den Motor samt Software nur als externes Produkt von der V.-AG zugekauft hat und dieser vertrauen durfte. Der Bundesgerichtshof hat in der von der Beklagten zitierten Entscheidung vom 03.06.1975, Az. VI ZR 192/73, ausgeführt, dass einem Unternehmer, der für die von ihm hergestellten Geräte vorgefertigte Einbauteile verwendet, grundsätzlich die Sorgfaltspflichten eines Herstellers obliegen. Davon kann es zwar Ausnahmen geben, wovon hier allerdings schon wegen der Bedeutung des Motors für das Fahrzeug keine Rede sein kann. Die Beklagte durfte sich vorliegend nicht allein auf die fachliche Betriebserfahrung ihrer Konzernmutter und deren durchgeführte Prüfungen verlassen. Sie hätte vielmehr die konkreten Eigenschaften bei der V.-AG erfragen müssen und sich selbst von der mangelfreien Beschaffenheit des Motors im Hinblick auf ihre eigene Verantwortlichkeit im EG-Typgenehmigungsverfahren überzeugen müssen. Der Auffassung von Prof. Dr. G. auf Seite 22 ff. des Gutachtens folgt der Senat aus den obigen Gründen nicht.
Was das Zulassungsverfahren betrifft, zu dem die Beklagte - von der Klägerin nicht bestritten - vorträgt, dass hier nur Mitarbeiter der V.-AG gehandelt hätten, wird auf die obigen Ausführungen verwiesen. Die Beklagte hat gegenüber der EG-Typgenehmigungsbehörde eine eigene Erklärung abgegeben und zumindest konkludent erklärt, dass die dem Technischen Dienst von der V.-AG vorgestellten Fahrzeuge keine unzulässigen Abschalteinrichtungen enthalten und den Gesetzen entsprechen. Da dies tatsächlich nicht zutraf, ist das Verhalten der Beklagten als vorsätzlich zu bewerten, weil die Folgen des Handelns bewusst in Kauf genommen worden sind. Selbst wenn man dies nicht so sehen wollte, hält der Senat aufgrund der Tatsache, dass die Beklagte die Durchführung des EG-Typengnehmigungsverfahrens vollständig und ohne weitere Kontrolle der Konzernmutter überlassen hat, eine Zurechnung des bei der V.-AG zweifelsfrei vorhandenen Täuschungs- und Schädigungsvorsatzes entsprechend § 31 BGB für gerechtfertigt.
f) Auf der Basis der getroffenen Feststellungen ist damit von einem Schädigungsvorsatz der handelnden Personen auszugehen, die von den sittenwidrigen, strategischen Unternehmensentscheidungen Kenntnis hatten. Nicht nur der objektive Tatbestand, sondern auch sämtliche für den Vorsatz nach § 826 BGB erforderlichen Wissens- und Wollenselemente sind damit bei den entsprechenden Entscheidungsträgern verwirklicht. Vorstandsmitglieder oder Repräsentanten, die in eigener oder zurechenbarer Kenntnis der Funktionsweise der Software ihren serienmäßigen Einsatz in Motoren anordnen oder nicht unterbinden, billigen ihn auch und sind sich der Schädigung der späteren Fahrzeugerwerber bewusst.
2. Die Beklagte hat gemäß §§ 826, 31, 249 ff. BGB der Klägerin sämtliche aus der sittenwidrigen Schädigung resultierende Schäden zu ersetzen.
Die Klägerin kann damit den von ihr aufgewendeten Kaufpreis Zug um Zug gegen Rückgabe und Übereignung des erlangten Fahrzeugs an die Beklagte zurückverlangen. Sie muss sich aber dasjenige anrechnen lassen, was ihr durch das schädigende Ereignis zugeflossen ist. Dass die Grundsätze der Vorteilsausgleichung auch bei einem Anspruch aus vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung gemäß § 826 BGB anzuwenden sind, hat der Bundesgerichtshof in der Entscheidung vom 25.05.2020, Az. VI ZR 252/19, ausdrücklich bestätigt, Rn. 66 ff. Er hat auch ausgeführt, dass dem keine europarechtlichen Normen entgegenstehen. Der Senat nimmt auf die Ausführungen des Bundesgerichtshofs Bezug, aaO, Rn. 73 ff. Geklärt ist mit dieser Entscheidung weiter, dass die vom Landgericht vorgenommene Berechnungsweise nach der Formel Bruttokaufpreis x gefahrene Kilometer / Restlaufleistung keinen rechtlichen Bedenken unterliegt und die Höhe der gezogenen Vorteile nach § 287 ZPO geschätzt werden kann. Vorliegend hatte das Fahrzeug beim Erwerb durch die Klägerin einen Kilometerstand von 6.333 km. Am 03.03.2020 wurde das Fahrzeug mit einem Kilometerstand von 37.145 km von der Klägerin abgemeldet. Dies hat die Beklagte im Termin vor dem Senat unstreitig gestellt. Damit ist die Klägerin 30.812 km gefahren. Unter Zugrundelegung des Kaufpreises von 19.700 € und einer Restlaufleistung von 293.667 km ergibt sich damit eine Nutzungsentschädigung für die gefahrenen Kilometer in Höhe von 2.066,95 €. Es verbleibt somit ein Rückzahlungsanspruch in Höhe von 17.633,05 €. Die zu erwartende Gesamtlaufleistung schätzt der Senat im Rahmen des ihm eingeräumten Ermessens gemäß § 287 ZPO wie das Landgericht auf 300.000 km, da von einer durchschnittlichen Laufleistung des verbauten 1.6 l TDI Dieselmotors auszugehen ist.
3. Der Klägerin stehen entgegen den Ausführungen des Landgerichts Zinsen nur aufgrund der Rechtshängigkeit zu, §§ 291, 288 Abs. 1 BGB ab dem 23.05.2019. Die Beklagte befand sich nicht bereits vor der Zustellung der Klageschrift im Schuldnerverzug, § 286 BGB. Zwar hat die Klägerin außergerichtlich gegenüber der Beklagten ihre Ansprüche mit Anwaltsschreiben vom 19.12.2018 angemeldet und eine Frist bis zum 24.12.2018 gesetzt. Jedoch ist dieses Schreiben nicht geeignet, einen Schuldnerverzug der Beklagten zu begründen, weil der Abzug einer Nutzungsentschädigung zwar angeboten, ein Kilometerstand aber nicht mitgeteilt worden ist, so dass von einer Zuvielforderung auszugehen ist. Die Beklagte wäre nur dann in Schuldnerverzug geraten, wenn seitens der Klägerin die ihr obliegende Gegenleistung ordnungsgemäß angeboten worden wäre, vgl. BGH aaO, Rn. 85.
4. Der Antrag auf Feststellung, dass sich die Beklagte mit der Rücknahme des streitgegenständlichen Fahrzeugs in Annahmeverzug befindet, hätte ebenfalls nicht festgestellt werden dürfen. Der Feststellungsantrag zum Annahmeverzug ist zwar zulässig, vgl. §§ 756, 726 Abs. 1 ZPO, der Antrag ist aber unbegründet, weil die Voraussetzungen der §§ 293, 295 BGB vorliegend nicht erfüllt sind. Das außergerichtliche Anwaltsschreiben der Klägerin war - wie oben ausgeführt - nicht geeignet, den Annahmeverzug zu begründen, weil die Klägerin die Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs nicht zu den Bedingungen angeboten hat, von denen sie diese hätte abhängig machen dürfen. Ein zur Begründung von Annahmeverzug auf Seiten der Beklagten geeignetes Angebot ist unter diesen Umständen nicht gegeben. Noch mit der ursprünglich eingelegten Berufung wandte sich die Klägerin gegen den Abzug einer Nutzungsentschädigung.
5. Die Entscheidung des Landgerichts zu den zugesprochenen Rechtsanwaltskosten begegnet keinen rechtlichen Bedenken. Die Klägerin kann die ihr entstandenen außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten als Teil des Schadens nach § 826, 249 ff. BGB verlangen. Der Anspruch besteht in der vom Landgericht zugesprochenen Höhe. Die vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten sind von der Beklagten in der ausgeurteilten Höhe zu erstatten, weil sie - entgegen der Auffassung der Beklagten - zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung erforderlich und zweckmäßig waren. Angesichts der sich stellenden Rechtsfragen ist es nicht zu beanstanden, wenn sich die Klägerin anwaltlich vorab hat beraten lassen und zunächst mit anwaltlicher Hilfe versucht hat, vorgerichtlich eine gütliche Einigung zu erzielen. Da sich die Beklagte im Lauf der Zeit durchaus auf außergerichtliche Lösungen eingelassen hat, musste ein betroffener Käufer nicht von vornherein davon ausgehen, dass ein anwaltliches Aufforderungsschreiben zwecklos ist. Auch diesbezüglich sind Zinsen allerdings erst ab Rechtshängigkeit geschuldet.
III.
Die Kostenquote entspricht dem jeweiligen Obsiegen bzw. Unterliegen der Parteien, §§ 92 Abs. 1, 97 Abs. 1 ZPO, wobei in Bezug auf die von der Klägerin geltend gemachten deliktischen Zinsen, 4% aus 19.700 € für den Zeitraum von 19.03.2015 bis 24.12.2018 ein fiktiver Streitwert von gerundet 2.955 € anzusetzen war, um der Zuvielforderung Rechnung zu tragen. Der fiktive Streitwert erster und zweiter Instanz beträgt damit 22.655 €.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, Nr. 711 ZPO.
Die Revision ist gemäß § 542 Abs. 2 S. 1 ZPO zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen. Einige wesentliche Punkte sind zwar durch die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 25.05.2020 geklärt, offen ist jedoch die Frage, ob auch die Konzerntöchter der V.-AG, insbesondere die Beklagte, für die von ihnen hergestellten, mit einem EA 189 (nebst unzulässiger Abschalttechnik) ausgestatteten Fahrzeuge deliktisch haften. Diese Frage ist in der obergerichtlichen Rechtsprechung umstritten.
Verkündet am 30.11.2020
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Tenor
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Landgerichts Ingolstadt vom 14.10.2019, berichtigt mit Beschluss vom 08.11.2019, Az.: 53 O 2495/18, abgeändert und wie folgt neu gefasst:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klagepartei 25.436,93 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 19.02.2019 Zug um Zug gegen Rückgabe und Übereignung des Fahrzeugs Audi Q5 mit der Fahrzeugidentifikationsnummer …81 zu zahlen.
2. Die Beklagte wird verurteilt, die Kosten der außergerichtlichen Rechtsverfolgung in Höhe von 1.358,86 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 19.02.2019 zu zahlen.
3. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Im Übrigen wird die Berufung der Beklagten zurückgewiesen.
III. 1. Von den Kosten des Rechtsstreits erster Instanz trägt die Klagepartei 55% und die Beklagte 45%.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Jede Partei kann die Vollstreckung durch Leistung einer Sicherheit in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die vollstreckende Partei Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
V. Die Revision gegen dieses Urteil wird zugelassen.
Gründe
I.
Die Klagepartei macht gegen die Beklagte Ansprüche im Zusammenhang mit dem Erwerb eines vom sog. Dieselabgasskandal betroffenen Fahrzeugs geltend.
1. Mit Kaufvertrag vom 30.04.2009 erwarb die Klagepartei von einem Autohaus - A. Z. O. - den hier streitgegenständlichen Audi Q5, 2.0 TDI, Euro 5, 125 kw, Erstzulassung 2009, zu einem Kaufpreis von 40.750,00 € brutto als Neuwagen. Zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hatte der Wagen einen Kilometerstand von 110.987 km. Die Beklagte ist Herstellerin des Fahrzeugs, in dem ein Motor vom Typ EA 189 der V.-AG verbaut ist.
Die im Zusammenhang mit dem Motor verwendete Software erkennt, ob das Fahrzeug auf einem Prüfstand dem Neuen Europäischen Fahrzyklus (NEFZ) unterzogen wird und schaltet in diesem Fall in den Abgasrückführungsmodus 1, einen Stickoxid (NOx)-optimierten Modus. In diesem Modus findet eine Abgasrückführung mit niedrigem Stickoxidausstoß statt. Im normalen Fahrbetrieb außerhalb des Prüfstands schaltet der Motor dagegen in den Abgasrückführungsmodus 0, bei dem die Abgasrückführungsrate geringer und der Stickoxidausstoß höher ist. Grundlage der Erteilung der Typgenehmigung waren die Abgasmessungen auf dem Prüfstand. Die Stickoxidgrenzwerte der Euro 5-Norm wurden nur im Abgasrückführungsmodus 1 eingehalten.
Die Verwendung der von der Beklagten als „Umschaltlogik“ bezeichneten Steuerungssoftware wurde dem Kraftfahrtbundesamt weder von der V.-AG noch von der Beklagten im Rahmen der Tests bzw. Antragstellung zur Erreichung der EG-Typgenehmigung offengelegt. Erst am 22.09.2015 veröffentlichte die V.-AG eine Adhoc-Mitteilung, mit der Auffälligkeiten bei Fahrzeugen mit dem Motor vom Typ EA 189 eingeräumt wurden.
Nach Bekanntwerden der Softwareproblematik verpflichtete das Kraftfahrtbundesamt die Beklagte zur Entfernung der als unzulässige Abschalteinrichtung qualifizierten „Umschaltlogik“ und dazu, geeignete Maßnahmen zur Wiederherstellung der Vorschriftsmäßigkeit zu ergreifen. Daraufhin wurde ein Software-Update entwickelt, welches auf das Fahrzeug der Klagepartei am 22.03.2017 aufgespielt worden ist.
Mit Anwaltsschreiben vom 13.12.2018 forderte die Klagepartei die Beklagte zur Rückzahlung des Kaufpreises abzüglich einer Nutzungsentschädigung Zug um Zug gegen Herausgabe und Übereignung des streitgegenständlichen Fahrzeugs auf; der Kilometerstand des Fahrzeugs als Grundlage der Berechnung der Nutzungsentschädigung war nicht mitgeteilt worden. Außerdem forderte sie zur Zahlung der vorgerichtlichen Anwaltskosten in Höhe von 2.613,24 € auf. Es wurde eine Frist bis zum 21.12.2018 gesetzt.
Die Klage vom 24.12.2018, bei Gericht eingegangen am 27.12.2018, wurde der Beklagten am 18.02.2019 zugestellt. Mit der Klage forderte die Klagepartei die Verurteilung zur Rückzahlung des Kaufpreises nebst Delikts- und Verzugszinsen abzüglich einer im Termin zu beziffernden Nutzungsentschädigung Zug um Zug gegen Herausgabe und Übereignung des streitgegenständlichen Fahrzeugs und beantragte die Feststellung des Annahmeverzugs der Beklagten mit der Rücknahme des Wagens. Außerdem beantragte sie die Verurteilung zur Zahlung von Rechtsanwaltskosten in Höhe von 2.613,24 € nebst Verzugszinsen.
Die Klagepartei vertritt die Ansicht, dass sie von der Beklagten vorsätzlich sittenwidrig geschädigt worden sei. Der im Fahrzeug verbaute Motor sei mit Wissen des Vorstands der Beklagten mit einer Betrugssoftware versehen worden, um die Behörden über die Einhaltung der gesetzlichen Abgasgrenzwerte zu täuschen und auf diese Weise preiswerte und scheinbar saubere Dieselfahrzeuge in hoher Stückzahl veräußern zu können. Hierdurch hätten sich die Beklagte und die V.-AG gegenüber der Konkurrenz über den geringeren Preis einen entscheidenden Marktvorteil verschafft. Die Entwicklungsabteilung der V.-AG und der Beklagten hätten nicht ohne Kenntnis des Vorstandes entschieden, die sog. „B.-Software“ weiter zu entwickeln und serienmäßig in den Motorserien der konzernangehörigen Fahrzeuge einzubauen. Auch sei aufgrund von Überkreuzregelungen im Vorstand der Beklagten und der V.-AG, der arbeitsteiligen Kooperation, der komplexen Logistik und Anpassung der Technik an die Fahrzeuge sowie der bekannten Problematik der Einhaltung der Abgaswerte ohne Langzeitschäden an Motor und Partikelfilter von einer gemeinsamen und bewussten Entscheidung auf der Vorstandsebene der Beklagten und der V.-AG auszugehen, die Betrugssoftware trotz der Warnungen der Firma B. serienmäßig in die Fahrzeuge zu implementieren. Auch aufgrund der Organisationsstruktur der Beklagten sei ausgeschlossen, dass die Bestellung, Implementierung, Adaption und Bezahlung der Betrugssoftware nicht auf der höchsten Ebene des Unternehmens veranlasst worden sei. Sie habe sich durch Verschweigen der unzulässigen Abschalteinrichtung gegenüber dem Kraftfahrtbundesamt die EG-Typengenehmigung erschlichen. Die Klagepartei habe ein Fahrzeug erhalten, das wegen des überhöhten Schadstoffausstoßes nicht den Anforderungen der EG-Typgenehmigung genüge. Damit habe die Gefahr bestanden, dass das Fahrzeug stillgelegt werden muss. Das Fahrzeug habe zudem einen erheblichen Wertverlust erlitten. Mit dem Software-Update sei eine neue unzulässige Abschalteinrichtung implementiert worden. Die Klagepartei hätte den Wagen nicht gekauft, wenn sie von der Manipulation der Abgaswerte im Prüfverfahren und der dadurch drohenden Folgen gewusst hätte.
Die Beklagte hingegen hält Schadensersatzansprüche der Klagepartei nicht für gegeben. Sie meint, dass das Fahrzeug keine unzulässige Abschalteinrichtung enthält und es wurde bestritten, dass der Klagepartei ein Schaden entstanden ist. Das Fahrzeug verfüge über eine wirksame EG-Typengenehmigung und Übereinstimmungsbescheinigung. Eine sittenwidrige Schädigung durch die Beklagte liege nicht vor, auch fehle es an der Kausalität zwischen angeblicher Täuschung und Schaden. Jedenfalls sei ein etwaiger Schaden durch das Aufspielen des Updates entfallen. Eine - unterstellt von der Beklagten verursachte - Fehlvorstellung der Klagepartei über die Schadstoffemission sei für deren Kaufentscheidung nicht maßgeblich gewesen. Eine Haftung der Beklagten scheide auch deshalb aus, weil sie den Motor nicht entwickelt habe. Die Klagepartei trage schon nicht substantiiert vor, dass die Beklagte von der Verwendung der als unzulässig gerügten Software Kenntnis gehabt habe. Abgesehen davon habe die Beklagte nach dem Stand der Ermittlungen keine Erkenntnisse dazu, dass Vorstandsmitglieder im aktienrechtlichen Sinn zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens des Fahrzeugs bzw. Kaufvertragszeitpunkt von der Programmierung oder von der Verwendung der streitgegenständlichen Software in Fahrzeugen mit einer EG-Typgenehmigung Kenntnis hatten bzw. die Entwicklung oder Verwendung der Software in Auftrag gegeben haben, an ihrer Entwicklung beteiligt waren oder von der Entwicklung der Software wussten bzw. deren Einsatz billigten.
Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die tatsächlichen Feststellungen im landgerichtlichen Urteil Bezug genommen, § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO.
2. Das Landgericht hat der Klage mit Urteil vom 14.10.2019 im Wesentlichen stattgegeben. Lediglich in Bezug auf die Anrechnung einer Nutzungsentschädigung und die beantragten deliktischen Zinsen und die Erstattung von den außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten blieb der Urteilsausspruch hinter dem Klageantrag zurück.
Zur Begründung wurde ausgeführt, dass sich der klägerische Anspruch aus § 826 BGB (und auch aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 6 Abs. 1, 27 EG-FGV) ergibt. Die Beklagte habe die Klagepartei durch das Inverkehrbringen von Dieselmotoren mit der gesetzeswidrigen Softwareprogrammierung zur Abgasreduktion bei erkanntem Prüfstandslauf geschädigt, und zwar in vorsätzlicher und gegen die guten Sitten verstoßender Weise. Die der Beklagten zuzurechnende Schädigungshandlung sei nur vorsätzlich denkbar, weil die Programmierung der hier in Rede stehenden Software ein aktives und ergebnisorientiertes Handeln voraussetzten. Abzustellen sei auf den Zeitpunkt des Inverkehrbringens der Fahrzeuge. Ein eigenmächtiges Handeln von Mitarbeitern, die nicht Repräsentanten der Beklagten sind, sei nicht vorstellbar. Im Übrigen sei die Beklagte auch der ihr obliegenden sekundären Darlegungslast nicht ausreichend nachgekommen. Welcher konkrete Repräsentant der Beklagten vorsätzlich gehandelt habe, müsse vor diesem Hintergrund nicht festgestellt werden. Das Verhalten der Beklagten verstoße gegen die guten Sitten, weil zur Kostensenkung und Erzielung von Wettbewerbsvorteilen um den Preis der bewussten Täuschung die Kunden benachteiligt worden seien. Die Schädigungshandlung sei kausal für den Erwerb des Wagens und damit den Schaden geworden, denn zur Überzeugung des Landgerichts hätten potentielle Erwerber vom Kauf abgesehen, wenn sie gewusst hätten, dass die Inverkehrgabe der Fahrzeuge rechtlichen Bedenken unterliegt. Durch die Bindung an den nicht erwartungsgerechten Vertrag sei der Klagepartei ein Schaden entstanden, der einen Anspruch auf Rückabwicklung auslöse. Die Klagepartei müsse sich aber den Abzug von Gebrauchsvorteilen in Form einer Nutzungsentschädigung gefallen lassen. Der Anspruch sei wegen Verzugs zu verzinsen. Es liege Annahmeverzug der Beklagten mit der Rücknahme vor. Außergerichtliche Rechtsanwaltskosten seien nur in Höhe einer 1,3 Geschäftsgebühr zuzusprechen. Im Übrigen sei die Klage abzuweisen.
3. Dagegen richtet sich die Berufung der Beklagten, mit der sie an ihrem erstinstanzlichen Begehren festhält. Sie ist der Ansicht, dass das Landgericht der Klage rechtsfehlerhaft stattgegeben und zu Unrecht einen Schadensersatzanspruch bejaht habe. In der Berufungsbegründung vom 15.01.2020 (Bl. 430 ff. d.A.) wiederholt und vertieft sie im Wesentlichen ihren bereits erstinstanzlich erfolgten Vortrag und stellt insbesondere darauf ab, dass sie nur Herstellerin des Fahrzeugs ist, den im Fahrzeug verbauten Motor des Typs EA 189 aber nicht (mit-)entwickelt habe.
In den Schriftsätzen vom 03.08.2020, Bl. 481 ff. d.A., und vom 24.09.2020, Bl. 494 ff. d.A., vertieft die Beklagte ihren Vortrag insbesondere zur Art der Entwicklung und Produktion ihrer Fahrzeuge und legt dar, weshalb aus ihrer Sicht die inzwischen ergangene Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur Haftung der V.-AG auf die vorliegende Fallgestaltung nicht übertragen werden könne.
Die Beklagte habe als Herstellerin des Fahrzeugs in den Jahren 2005/2006 durch ihr Produkt-Strategie-Komitee, dem jeweils auch einzelne Mitglieder des Vorstands angehörten, beschlossen, dass der von V. entwickelte Motor in bestimmten Fahrzeugen der Beklagten serienmäßig eingebaut wird. Der erste Einsatz sei im Jahr 2007 erfolgt. Im Nachgang zu der grundsätzlichen Entscheidung zur Verwendung des Motors EA 189 habe die Beklagte jeweils mit der Entwicklung weiterer Fahrzeugtypen erneut die Entscheidung zum Einsatz des Motors EA 189 getroffen. Die Beklagte habe den Motor samt Software als externes Produkt von der V.-AG zur Verwendung in ihren Fahrzeugen erworben. Die Hardware der Motorsteuerungsgeräte habe die Beklagte von den Zulieferern B. und C. erhalten. Ohne Einflussmöglichkeit von Mitarbeitern der Beklagten sei die auf das jeweilige Fahrzeug abgestimmte Software ab 2008 auf den automatisierten Fertigungslinien der Beklagten vom Konzernserver der V.-AG heruntergeladen worden. Die Software sei dabei zur Vermeidung von Einflussnahme außerhalb der Entwicklungsverantwortung verriegelt gewesen.
Im Auftrag der Beklagten habe die Konzernmutter das Emissions-Typgenehmigungsverfahren organisiert. Von Mitarbeitern der V.-AG seien die entsprechenden Fahrzeuge der Beklagten dem Technischen Dienst vorgestellt worden, die Beklagte habe lediglich die Rechnungen und die Protokolle mit den Testergebnissen bekommen.
Die Beklagte habe keinen Anlass gesehen, die von der V.-AG entwickelten Motoren im Rahmen oder in Vorbereitung des Typgenehmigungsverfahrens eigenständig zu überprüfen. Eine entsprechende Verpflichtung habe nicht bestanden. Dem Kraftfahrtbundesamt sei es mit den damals zur Verfügung stehenden Tests nicht möglich gewesen, die Umschaltlogik zu erkennen. Im Rahmen der Qualitätskontrolle der laufenden Produktion sei das grundsätzliche Funktionieren des Emissionskontrollsystems überprüft und überwacht worden, dass die Serienfahrzeuge mit den EG-Typgenehmigungsunterlagen übereinstimmen. Im Rahmen dieses „Conformity of Production (CoP)“ Tests habe die „Umschaltlogik“ nicht erkannt werden können.
Die Beklagte habe von der Programmierung keine Kenntnis gehabt, weil sie nicht an der Entwicklung des Motors beteiligt gewesen sei. Es handele sich um ein bloßes Zuliefererprodukt wie auch andere von der Beklagten bezogene Bauteile von Zulieferern. Sie habe der V.-AG vertrauen können und keine Verpflichtung gehabt, eigene Tests durchzuführen, zumal mit den damaligen Tests die Manipulation nicht erkannt habe werden können.
Die Haftung der Beklagten könne weder auf angebliche Sorgfaltspflichtverletzungen, vermeintliches Organisationsverschulden noch auf eine konzernweite Wissenszusammenrechnung gestützt werden. Insoweit verweist die Beklagte auf ein von ihr in Auftrag gegebenes Rechtsgutachten von Prof. Dr. G. vom 21.09.2020. Sie habe im EG-Typengenehmigungsverfahren keine Angabepflichten verletzt; insbesondere sei in dem Antrag auf Erteilung der EG-Typengenehmigung keine Erklärung dahingehend zu sehen, dass das Fahrzeug sämtlichen gesetzlichen Anforderungen entspricht; im Rahmen des EG-Typengenehmigungsverfahrens sei vielmehr nur relevant gewesen, dass die erforderlichen Grenzwerte in den vorgeschriebenen Prüfstandstestverfahren eingehalten würden. Die Anträge auf Typengenehmigung enthielten gerade nicht die Aussage, dass das Fahrzeug über keine Abschalteinrichtungen verfügt.
Im Einzelnen wird auf die Berufungsbegründung sowie die weiteren Schriftsätze Bezug genommen.
Die Beklagte beantragt im Berufungsverfahren,
das am 14.10.2019 verkündete Urteil des Landgerichts Ingolstadt, Az.: 53 O 2495/18, im Umfang der Beschwer der Beklagten abzuändern und die Klage vollumfänglich abzuweisen.
Die Klagepartei beantragt,
die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Die Klagepartei verteidigt die erstinstanzliche Entscheidung und nimmt Bezug auf die Entscheidung des BGH vom 25.05.2020, Az.: VI ZR 252/19. Im Einzelnen wird auf die Berufungserwiderung, Schriftsatz vom 05.08.2020, Bl. 494 ff. d.A., sowie die weiteren Schriftsätze verwiesen.
4. Der Senat hat über den Rechtsstreit am 28.09.2020 mündlich verhandelt. Es wird auf das Sitzungsprotokoll, Bl. 539 ff. d.A., verwiesen.
II.
Die zulässige Berufung der Beklagten hat nur in Bezug auf den ausgeurteilten Zinslauf und die Feststellung des Annahmeverzugs Erfolg. Im Ergebnis hat das Landgericht aber zu Recht angenommen, dass die Beklagte der Klagepartei nach § 826 BGB haftet. Im Übrigen ist die Berufung unbegründet.
Der Senat berücksichtigt bei seiner Entscheidung den ergänzenden Sachvortrag der Beklagten im Schriftsatz vom 24.09.2020, dem die Klagepartei mit nachgelassenem Schriftsatz vom 22.10.2020 zwar nicht in Bezug auf die ausführlichen Darlegungen der Einzelheiten der Produktion und Entwicklung durch die Beklagte entgegengetreten ist. Allerdings hat sich die Klagepartei bereits erstinstanzlich wiederholt dazu geäußert, dass und warum ihrer Ansicht nach die Beklagte (mit-)verantwortlich ist für den Einsatz der manipulativen Software in dem von ihr hergestellten Fahrzeug und dies auch in dem nachgelassenen Schriftsatz weiter ausgeführt. Zur Überzeugung des Senats ist jedoch auch auf der Basis des ergänzenden Vortrags der Beklagten im Schriftsatz vom 24.09.2020 zu den Arbeitsabläufen und der arbeitsteiligen Aufgabenverteilung zwischen der Beklagten und der V.-AG eine Haftung der Beklagten zu bejahen. Im Einzelnen:
1. In weiten Teilen kann bezüglich der Haftung der Beklagten nach § 826 BGB auf die grundsätzliche Entscheidung des Bundesgerichtshofs in Bezug auf die Konzernmutter, die V. -AG, Bezug genommen werden, Urteil vom 25.05.2020, Az.: VI ZR 252/19. Die dort getroffenen Aussagen zur Frage der Täuschung, der Sittenwidrigkeit, des Vorliegens eines Schadens, der Kausalität, der Verpflichtung zu einer sekundären Darlegungslast und Teilen der subjektiven Tatbestandsvoraussetzungen können auch auf vorliegende Fallgestaltung übertragen werden. Gründe, die Sach- und Rechtslage vorliegend anders zu beurteilen, sind nicht ersichtlich. Anders als die Beklagte meint, ist die Frage der sekundären Darlegungslast hier nicht abweichend zu beurteilen im Hinblick auf die von ihr geltend gemachte fehlende Schutzbedürftigkeit der Klagepartei wegen des Bestehens eines anderen Schuldners, nämlich der V.-AG. Die Reichweite der sekundären Darlegungslast unter dem Aspekt des fairen Verfahrens ist bezogen auf das konkrete Prozessrechtsverhältnis zu beurteilen; Dritte spielen dabei keine Rolle (vgl. BVerfG, Beschluss vom 18.02.2019, Az.: 1 BvR 2556/17, Rdnr. 12 f.).
Zentraler und höchstrichterlich noch nicht geklärter Streitpunkt des Verfahrens ist die Frage, ob für den unstreitigen Einsatz der „Umschaltlogik“ im Fahrzeug der Klagepartei auch die Beklagte deliktisch haftet oder nur die in diesem Verfahren nicht beteiligte V.-AG. Der Senat sieht eine Haftung der hiesigen Beklagten nach §§ 826, 31 BGB gegenüber der Klagepartei nicht allein aufgrund einer Zurechnung fremden Fehlverhaltens, sondern im Kern aufgrund eigenen deliktischen Handelns. Dies beruht auf dem von der Beklagten zu verantwortenden Inverkehrbringen des streitgegenständlichen Fahrzeugs mit einer manipulativen, auf Täuschung ausgerichteten unzulässigen Abschalteinrichtung.
a) Das Inverkehrbringen von Fahrzeugen mit einem Motor, der über eine nicht offen gelegte Abschalteinrichtung bzw. Umschaltlogik verfügt, stellt eine konkludente Täuschung der Klagepartei durch die Beklagte dar, weil die Käufer der bemakelten Fahrzeuge, gleichgültig, ob sie das Fahrzeug neu oder gebraucht erwarben, arglos davon ausgingen, dass die gesetzlichen Vorgaben eingehalten werden. Die Käufer durften darauf vertrauen, dass das erworbene Fahrzeug entsprechend seinem objektiven Verwendungszweck im Straßenverkehr eingesetzt werden kann, über eine uneingeschränkte Betriebserlaubnis verfügt und die erforderlichen Zulassungs- und Genehmigungsverfahren rechtmäßig durchlaufen worden sind. Tatsächlich enthielt der Motor - wie dargelegt - zum Zeitpunkt des Kaufs eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 S. 1 VO (EG) 715/2007, weil der Stickoxidausstoß auf dem Prüfstand gegenüber dem normalen Fahrbetrieb gezielt durch den Einsatz einer entsprechenden Motorsteuerungssoftware reduziert worden ist. Die Technik war nicht nur zweifelsfrei unzulässig, sie diente vielmehr der gezielten Täuschung über die Einhaltung der zulässigen Abgaswerte. Dies hatte zur Folge, dass die Gefahr einer Betriebsuntersagung durch die für die Zulassung zum Straßenverkehr zuständige Behörde bestand und ein weiterer Betrieb des Fahrzeugs im öffentlichen Straßenverkehr möglicherweise nicht (mehr) möglich war, vgl. BGH, Urteil vom 25.05.2020, Az.: VI ZR 252/19.
b) Durch diese Täuschung entstand der Klagepartei als Käuferin eines vom sog. Dieselabgasskandal betroffenen Fahrzeugs ein Schaden, der in dem Abschluss des Kaufvertrags als ungewollte Verbindlichkeit zu sehen ist. Dieser Schaden ist auch nicht durch das später durchgeführte Software-Update entfallen, vgl. BGH, Urteil vom 25.05.20, Az.: VI ZR 252/19, Rdnr. 44 ff.
c) Der Schaden in Form des Kaufvertragsabschlusses wurde durch das Handeln der Beklagten verursacht. Die haftungsbegründende Kausalität zwischen schädigender Handlung der Beklagten und dem Eintritt des Schadens bei der Klagepartei ist zu bejahen, weil bereits die allgemeine Lebenserfahrung die Annahme rechtfertigt, dass ein Käufer, der ein Fahrzeug zur eigenen Nutzung erwirbt, bei der bestehenden Gefahr einer Betriebsbeschränkung oder -untersagung von dem Erwerb des Fahrzeugs abgesehen hätte, vgl. BGH, a.a.O., Rdnr. 51. Die erstinstanzlichen Feststellungen insoweit sind nicht zu beanstanden. Im Termin zur mündlichen Verhandlung hat der Senat darauf hingewiesen (Bl. 541 d.A.), dass eine Anhörung/Einvernahme der Klagepartei nicht beabsichtigt ist. Erklärungen dazu wurden nicht abgegeben.
d) Das Verhalten der Beklagten war sittenwidrig, auch wenn sie - anders als die V.-AG - den Motor EA 189 nicht (mit-)entwickelt haben sollte.
Sittenwidrig ist ein Verhalten, das nach seinem Gesamtcharakter, der durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Dafür genügt es im Allgemeinen nicht, dass der Handelnde eine Pflicht verletzt und einen Vermögensschaden hervorruft, vielmehr muss eine besondere Verwerflichkeit seines Verhaltens hinzutreten, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zutage getretenen Gesinnung oder den eingetretenen Folgen ergeben kann (ständige Rechtsprechung des BGH, Urteil vom 28.06.2016, Az.: VI ZR 536/15, vom 07.05.2019, Az.: VI ZR 512/17, zuletzt 25.05.2020, Az.: VI ZR 252/19).
Nicht nur das Verhalten der V.-AG, sondern auch der hiesigen Beklagten ist objektiv als sittenwidrig zu qualifizieren, weil auch die beklagte A.-AG auf der Grundlage einer strategischen Entscheidung im eigenen Kosten- und Gewinninteresse Fahrzeuge in den Verkehr gebracht hat, deren Motorsteuerungssoftware bewusst und gewollt so programmiert war, dass die gesetzlichen Abgaswerte auf dem Prüfstand nur mittels einer unzulässigen Abschalteinrichtung eingehalten wurden. Damit ging eine erhöhte Belastung der Umwelt mit Stickoxiden einher und es bestand die Gefahr einer Betriebsbeschränkung oder -untersagung der betroffenen Fahrzeuge. Ein solches Verhalten ist im Verhältnis zu einer Person, die eines der bemakelten Fahrzeuge in Unkenntnis der illegalen Abschalteinrichtung erwirbt, besonders verwerflich und mit den grundlegenden Wertungen der Rechts- und Sittenordnung nicht zu vereinbaren, BGH, a.a.O. Rdnr. 16. Auch die hier beklagte A.-AG hat nach Überzeugung des Senats das an sich erlaubte Ziel der Gewinnerhöhung ausschließlich dadurch erreicht, dass sie auf der Grundlage einer strategischen Unternehmensentscheidung die zuständige EG-Typgenehmigungsbehörde und die für sie handelnden Technischen Dienste arglistig getäuscht hat. Die Einwände der Beklagten, dass das Emissions-Zulassungsverfahren durch die V.-AG erfolgt ist und die Beklagte nur die Rechnungen und beanstandungsfreien Prüfberichte erhalten hat, greifen nicht durch.
Die Beklagte als Herstellerin des hier streitgegenständlichen Fahrzeugs hat gegenüber dem Kraftfahrtbundesamt als zuständiger EG-Typengenehmigungsbehörde in dem erforderlichen EG-Typengenehmigungsverfahren eine eigene falsche Erklärung dahingehend abgegeben, dass der Fahrzeugtyp genehmigungsfähig ist und mithin nicht über die tatsächlich bestehende unzulässige Abschalteinrichtung verfügt. Sie handelte dabei arglistig.
aa) Fahrzeuge dürfen in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union nur in Verkehr gebracht werden, wenn sie einer amtlichen Genehmigung für das Gesamtfahrzeug entsprechen. Dabei ist für Personenkraftwagen die RL 2007/46/EG (RL 2007/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. September 2007 zur Schaffung eines Rahmens für die Genehmigung von Kraftfahrzeugen und Kraftfahrzeuganhängern sowie von Systemen, Bauteilen und selbstständigen technischen Einheiten für diese Fahrzeuge - Rahmenrichtlinie) maßgeblich. Diese enthält eine Vielzahl von Einzelvorschriften für die verschiedenen technischen Systeme und Bauteile der Fahrzeuge. Die an die Abgasemissionen der Fahrzeuge zu stellenden Anforderungen regelt die VO (EG) 715/2007 (Euro 5 und 6 - Verordnung (EG) Nr. 715/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2007 über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen (Euro 5 und Euro 6) und über den Zugang zu Reparatur- und Wartungsinformationen für Fahrzeuge) und die dazu erlassene Durchführungsverordnung (EG) Nr. 692/2008 (Verordnung (EG) Nr. 692/2008 der Kommission vom 18. Juli 2008 zur Durchführung und Änderung der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen (Euro 5 und Euro 6) und über den Zugang zu Reparatur- und Wartungsinformationen für Fahrzeuge). Diese Vorgaben sind in nationales Recht umgesetzt, soweit erforderlich, durch die EG-Fahrzeuggenehmigungsverordnung (EG-FGV - Verordnung über die EG-Genehmigung für Kraftfahrzeuge und ihre Anhänger sowie für Systeme, Bauteile und selbständige technische Einheiten für diese Fahrzeuge). Aber auch vor Inkrafttreten der genannten Normen war zur Zulassung eine EG-Typengenehmigung erforderlich, und zwar auf der Grundlage der RL 70/156/EWG (RL 70/156/EWG des Rates vom 6. Februar 1970 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Betriebserlaubnis für Kraftfahrzeuge und Kraftfahrzeuganhänger), geändert durch die RL 2001/116/EG (RL 2001/116/EG der Kommission vom 20. Dezember 2001 zur Anpassung der RL 70/156/EWG des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Betriebserlaubnis für Kraftfahrzeuge und Kraftfahrzeuganhänger an den technischen Fortschritt). Die Anforderungen im Hinblick auf die Abgase regelte hierzu ergänzend die RL 70/220/EWG (RL 70/220/EWG des Rates vom 20. März 1970 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Maßnahmen gegen die Verunreinigung der Luft durch Abgase von Kraftfahrzeugmotoren mit Fremdzündung), geändert durch die RL 98/69/EG (Euro 4 - RL 98/69/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Oktober 1998 über Maßnahmen gegen die Verunreinigung der Luft durch Emissionen von Kraftfahrzeugen und zu Änderung der RL 70/220/EWG des Rates). Diese Vorgaben waren im nationalen Recht umgesetzt in der Verordnung über die EG-Typengenehmigung für Fahrzeuge und Fahrzeugteile (EG-TypV).
Zuständige nationale Genehmigungsbehörde ist das Kraftfahrtbundesamt, § 2 Abs. 1 EG-FGV. Verantwortlich für die Beantragung der EG-Typengenehmigung für das Gesamtfahrzeug in Bezug auf einen Fahrzeugtyp ist der Hersteller, hier die Beklagte, § 3 Abs. 5 S. 1 EG-FGV.
bb) Zur Überzeugung des Senats hat die Beklagte mit dem Antrag auf EG-Typengenehmigung gleichzeitig konkludent erklärt, dass der Fahrzeugtyp den materiellrechtlichen Genehmigungsanforderungen genügt, mithin die vorgeschriebenen Grenzwerte auf dem Prüfstand gerade nicht nur mittels einer unzulässigen Abschalteinrichtung eingehalten werden, § 4 Abs. 4 EG-FGV i.V.m. Art. 9 Abs. 1 Buchst. a i.V.m. Anhang IV Teil I Nr. 2a der RL 2007/46/EG i.V.m. Art. 4 Abs. 1, 5 Abs. 1 und Abs. 2 VO (EG) 715/2007.
Zum einen lässt sich dem Anhang III Teil I Ziffer 3 zu Richtline 2007/46/EG entnehmen, dass bei der Antragstellung auch zur Antriebsmaschine eine ausführliche Beschreibung jedenfalls des Systems zu erfolgen hat. Diese Beschreibungsbögen waren zu unterzeichnen und mit Datum sowie Dienststellung des Unterzeichners zu versehen (siehe am Ende [nach dortigem Teil III] der eben genannten Fundstelle).
Zum anderen lassen die europäischen Bestimmungen - anders als die Beklagte meint - schon nach Wortlaut, Sinn und Zweck keinen Raum für die von der Beklagten vorgenommene Auslegung, der Antrag auf Erteilung der Typengenehmigung habe nur den Erklärungswert, dass das Fahrzeug die vorgeschriebenen Abgaswerte in den Testprüfstandsverfahren einhalte und umfasse gerade nicht die Erklärung, dass keine unzulässigen Abschalteinrichtungen vorliegen. Zwar hat der europäische Gesetzgeber die Anforderungen im Laufe der Zeit weiter verschärft und stellt nunmehr das Abgasverhalten im realen Betrieb in den Vordergrund. Gleichwohl war schon nach der bis dahin geltenden Rechtslage klargestellt, dass Abschalteinrichtungen grundsätzlich unzulässig sind, mithin Grenzwerte in den vorgeschriebenen Testverfahren gerade nicht allein wegen einer solchen Abschalteinrichtung eingehalten werden dürfen.
Ausgangspunkt der europäischen Rechtssetzung bereits in den 1970er Jahren war die Gewährleistung des reibungslosen Funktionierens des Gemeinsamen Marktes; unter anderem die deutschen Bestimmungen in der Straßenverkehrszulassungsordnung zu Maßnahmen gegen die Verunreinigung der Luft durch Kraftfahrzeugmotoren gaben den Anstoß (Erwägungsgründe der Richtlinien 70/156/EWG und 70/220/EWG). Mit dem ersten Aktionsprogramm der EG für den Umweltschutz, das bereits 1973 vom Rat gebilligt wurde, wurde dazu aufgerufen, den neuesten wissenschaftlichen Fortschritten bei der Bekämpfung der Luftverschmutzung durch Abgase von Fahrzeugen Rechnung zu tragen und das bereits bestehende europäische Recht entsprechend anzupassen (Erwägungsgrund Nr. 2 der RL 98/69/EG). Seither und bis heute ist das Ziel der Verbesserung der Luftqualität durch Verringerung von Abgasen mittels Verschärfung von Emissionsvorschriften - unter anderem Stickoxidemissionen - fortwährend Teil der Agenda der europäischen Rechtsetzung (Erwägungsgründe Nr. 3, 4, 5, 11, 12 RL 98/69/EG, Erwägungsgründe 4, 5, 6 Verordnung (EG) 715/2007). Ziel der Maßnahmen ist die Eindämmung der Luftverschmutzung und damit die Reduktion der Emissionen bei normalem Fahrzeugbetrieb und -gebrauch. Bereits mit der RL 98/69/EG, d.h. schon Ende der 1990er Jahre, sah sich der Europäische Gesetzgeber gezwungen, Abschalteinrichtungen für emissionsmindernde Einrichtungen zu begrenzen und nur dann nicht als solche zu werten, wenn sie u.a. zum Motorschutz notwendig sind (Art. 1 Nr. 2 i.V.m. Anhang zur Änderung der Anhänge der RL 70/220/EWG - Anhang I, dort Nr. 4 der RL 98/69/EG). Im Rahmen der VO (EG) 715/2007 fand dies seinen Niederschlag in Art. 5: Art. 5 Abs. 1 verpflichtet den Hersteller, dass das Fahrzeug so auszurüsten ist, dass die das Emissionsverhalten voraussichtlich beeinflussenden Bauteile so konstruiert, gefertigt und montiert sind, dass das Fahrzeug unter normalen Betriebsbedingungen dieser Verordnung und ihren Durchführungsmaßnahmen entspricht. Gemeint sind damit die realen Betriebsbedingungen, die sich unter Umständen im Labor nicht vollständig nachbilden lassen. Art. 3 Nr. 10 VO (EG) 715/2007 (so auch bereits Art. 1 Nr. 2 i.V.m. Anhang zur Änderung der Anhänge der RL 70/220/EWG - Anhang I, dort Nr. 4 der RL 98/69/EG) definiert „Abschalteinrichtungen“ als ein Konstruktionsteil, das bestimmte Parameter ermittelt, um die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems unter Bedingungen, die bei normalem Fahrzeugbetrieb vernünftigerweise zu erwarten sind, zu verringern. Art. 5 Abs. 2 VO (EG) 715/2007 bestimmt, dass die Verwendung solcher Abschalteinrichtungen grundsätzlich unzulässig ist. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem von der Beklagten zitierten Erwägungsgrund Nr. 5 der VO (EU) 2016/646 (Verordnung (EU) 2016/646 der Kommission vom 20. April 2016 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 692/2008 hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen (Euro 6)). Dieser lautet: „‘Abschalteinrichtungen‘ im Sinne von Artikel 3 Absatz 10 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 zur Verringerung der Emissionsminderungsleistung sind verboten. Die jüngsten Ereignisse haben deutlich gemacht, dass die Durchsetzung von Rechtsvorschriften in dieser Hinsicht verstärkt werden muss. Daher ist es angemessen, eine bessere Überwachung der vom Hersteller bei der Typgenehmigung angewandten Emissionsminderungsstrategie zu verlangen, gemäß den Grundsätzen, die nach der Verordnung (EG) Nr. 595/2009 und ihren Durchführungsbestimmungen bereits für schwere Nutzfahrzeuge gelten (Euro 6).“ Nach dem klaren Wortlaut steht das Verbot außer Frage, lediglich seine Durchsetzung soll verstärkt werden.
Schließlich lassen die europäischen Vorgaben keinen Zweifel an der umfassenden Verantwortlichkeit des Herstellers im Typengenehmigungsverfahren, derer die Beklagte sich als weltweit tätiger, großer Motoren- und Automobilhersteller zur Überzeugung des Senats bewusst war: Art. 3 Nr. 27 RL 2007/46/EG (früher ähnlich bereits in Art. 2 RL 70/156/EWG) definiert den Hersteller als die „Person oder Stelle, die gegenüber der Genehmigungsbehörde für alle Belange des Typengenehmigungsverfahrens- oder … verantwortlich ist. Die Person oder Stelle muss nicht notwendigerweise an allen Stufen der Herstellung des Fahrzeugs, des Systems, des Bauteils oder der selbständigen technischen Einheit, das bzw. die Gegenstand des Genehmigungsverfahrens ist, unmittelbar beteiligt sein.“ Dies wird unter der Überschrift „Pflichten des Herstellers“ in Art. 5 Abs. 1 RL 2007/46/EG wiederholt. Nach Art. 4 „Pflichten des Herstellers“ der VO (EG) 715/2007 bzw. Art. 3 Abs. 1 und Abs. 6 VO (EG) 692/2008 „weist (der Hersteller) nach“, dass alle von ihm verantworteten Neufahrzeuge über eine Typengenehmigung verfügen, die Grenzwerte eingehalten werden und die Fahrzeuge den ausführlichen Prüfanforderungen entsprechen, bzw. er „gewährleistet, dass die bei der Emissionsprüfung ermittelten Werte unter den in dieser Verordnung angegebenen Prüfbedingungen den geltenden Grenzwert nicht überschreiten.“ (Anm.: Hervorhebungen durch den Senat). Art. 5 Abs. 1 VO (EG) 715/2007 verpflichtet den Hersteller, dass das Fahrzeug so auszurüsten ist, dass die das Emissionsverhalten voraussichtlich beeinflussenden Bauteile so konstruiert, gefertigt und montiert sind, dass das Fahrzeug unter normalen Betriebsbedingungen dieser Verordnung und ihren Durchführungsmaßnahmen entspricht. Art. 5 Abs. 2 legt die grundsätzliche Unzulässigkeit von Abschalteinrichtungen fest.
cc) Diese eigene und falsche Erklärung der Beklagten gegenüber dem Kraftfahrtbundesamt als zuständiger EG-Genehmigungsbehörde ist der Beklagten als arglistige Täuschung vorwerfbar. Die Beklagte kann sich nicht darauf berufen, dass allein die V.-AG Pflichten verletzt hätte, was ihr verborgen geblieben sei und ihr nicht zurechenbar sei, obwohl vorgetragen wird, dass die V.-AG im Auftrag der A.-AG gehandelt hat.
(1) Der Beklagten ist vorzuwerfen, dass die Abgabe einer eigenen Erklärung gegenüber der EG-Typgenehmigungsbehörde die Verpflichtung einschloss, den Motor eigenständig auf Funktionsmäßigkeit und Gesetzesmäßigkeit zu überprüfen, weil - wie ausgeführt - mit dem Antrag auf Erteilung einer EG-Typgenehmigung zumindest konkludent erklärt wird, dass das Fahrzeug die gesetzlichen Vorschriften einhält, insbesondere über keine unzulässige Abschalteinrichtung verfügt, und der Hersteller im EG-Typengenehmigungsverfahren umfassend verantwortlich ist.
Juristische Personen sind verpflichtet, den Gesamtbereich ihrer Tätigkeit so zu organisieren, dass für alle wichtigen Aufgabengebiete, hier dem Inverkehrbringen der Fahrzeuge, ein verfassungsmäßiger Vertreter zuständig sein muss, der die wesentlichen Entscheidungen selbst trifft, vgl. BGH, Urteil vom 08.07.1980, Az.: VI ZR 158/78, Rdnr. 61 ff. Die Beklagte kann damit einen so elementaren Teilbereich wie das Emissions-Typgenehmigungsverfahren nicht auf die Konzernmutter übertragen und sich so einer Haftung entziehen. Sie muss sich dann das Wissen der V.-AG von der Verwendung der unzulässigen Abschalteinrichtung entsprechend § 166 Abs. 1 BGB zurechnen lassen. Denn die Beklagte schildert selbst, dass die V.-AG in ihrem Auftrag im behördlichen Verfahren tätig geworden ist, mithin eine rechtsgeschäftliche Handlung des Vertreters vorliegt, vgl. Art. 3 Nr. 28 RL 2007/46/EG. Wer sich im rechtsgeschäftlichen Verkehr bei der Abgabe von Willenserklärungen, hier dem Antrag auf Erteilung einer EG-Typgenehmigung, eines Vertreters bedient, muss es im schutzwürdigen Interesse des Adressaten hinnehmen, dass ihm die Kenntnis des Vertreters als eigene zugerechnet wird. Oder anders ausgedrückt, wer sich zur Erledigung eigener Angelegenheiten Dritter bedient, muss sich deren Wissen zurechnen lassen, vgl. BeckOK, BGB Hau/Poseck, 55. Edition, Stand 01.08.2020, Rdnr. 1 zu § 166 BGB.
Die Beklagte kann sich nicht darauf berufen, dass im Zulassungsverfahren die Emissionsgrenzwerte nur auf dem Rollenprüfstand geprüft werden und ihr es nicht möglich gewesen wäre, Prüfungen im realen Fahrbetrieb vorzunehmen bzw. es damals kein Prüfverfahren gab, mit dem das Vorhandensein unzulässiger Abschalteinrichtungen hätte ermittelt werden können. Unabhängig von den zur Verfügung stehenden Überprüfungsmöglichkeiten hätte die Beklagte jedenfalls bei der V.-AG nachfragen können - und müssen, wie die Motorsteuerungssoftware programmiert ist, damit die vorgeschriebenen Grenzwerte eingehalten werden können. Die Beklagte hätte sich auch ohne Weiteres von der Konzernmutter die entsprechenden Unterlagen geben lassen können. Insoweit wird nicht vorgetragen, dass man dies versucht hätte, aber von Seiten der Konzernmutter dies abgelehnt worden sei oder dass man solche Unterlagen bekommen hätte, die aber geschönt gewesen seien. Selbst das von der Beklagten vorgelegte Rechtsgutachten von Prof. Dr. G. geht auf S. 23 davon aus, dass „die Möglichkeit der Aufdeckung der Abschalteinrichtung durch die A.-eigene Entwicklungsabteilung - vermittels einer grundlegenden Prüfung der Software bzw. einer Neuentwicklung von Testverfahren - nicht vollständig ausgeschlossen werden kann…“.
Zum Zeitpunkt der Entwicklung und des Einbaus des streitgegenständlichen Motors war das Spannungsverhältnis zwischen kostengünstiger Produktion und Begrenzung der Stickoxidemissionen - notwendig wegen der strengen EU-Vorgaben - außerdem allgemein bekannt, was die Beklagte - die selbst aufgrund ihrer eigenen Entwicklung und Herstellung von u.a. Dieselmotoren sachkundig ist - zum Anlass für eine genaue Prüfung hätte nehmen müssen, als aus Sicht der für die Motorenentwicklung zuständigen Konzernmutter die Auflösung dieses Konflikts angeblich gelungen war. Zudem stand bereits zum Zeitpunkt der Entwicklung des streitgegenständlichen Motors, dem der Einbau durch die Beklagte folgte, die Problematik der Verwendung von Abschalteinrichtungen lange und fortwährend auf der Agenda des europäischen Gesetzgebers (auf die vorstehenden Ausführungen wird Bezug genommen), was der Beklagten als weltweit tätiger (Diesel-)Motoren- und Fahrzeughersteller zur Überzeugung des Senats bekannt war.
(2) Aber auch unabhängig hiervon ist der Senat davon überzeugt, dass eine entsprechende Kenntnis von der Funktionsweise der Software bei der Beklagten vorhanden war.
Die Beklagte schildert, dass die grundsätzliche Entscheidung in Bezug auf die Verwendung des Motors EA 189 in den Jahren 2005/2006 von dem Produkt-Strategie-Komitee getroffen worden ist, dem auch Vorstandsmitglieder angehört haben. Dass das vorgenannte Komitee der Beklagten keine Kenntnis von den Details des Motors - das Herzstück eines Autos, und eben nicht nur ein Zuliefererteil wie jedes andere - gehabt hat, dessen serienmäßiger Einsatz ab 2007 beschlossen worden ist, hält der Senat nicht für plausibel. Es ist nicht nachvollziehbar, dass der Einsatz des Motors in einer großen Vielzahl von Fahrzeugen angeordnet wird, die beteiligten Vorstandsmitglieder sich bei dieser Entscheidung, die die Beklagte selbst als „Meilenstein“ bezeichnet, - trotz der im Raum stehenden auch persönlichen Haftungsrisiken - nicht darüber informieren, welche Eigenschaften der Motor hat und wie es gelingt, den bekannten Zielkonflikt zwischen kostengünstiger Produktion und strengen EU-Vorgaben zu Stickoxidwerten zu lösen.
Die Beklagte trägt hier aber nicht einmal vor, welche Vorstandsmitglieder dem Produkt-Strategie-Komitee angehört haben, ob diese in Bezug auf ihren Kenntnisstand befragt worden sind und was gegebenenfalls die Antwort war. Der ihr obliegenden sekundären Darlegungslast ist die Beklagte hier damit nicht in ausreichendem Maß nachgekommen. Die Kenntnis gilt damit als zugestanden, § 138 Abs. 3 ZPO. Dies gilt vorliegend umso mehr, als der Senat auf die Notwendigkeit zum weiteren Vortrag explizit vorab hingewiesen hat (Verfügung vom 10.06.2020, Bl. 478 f. d.A.).
dd) Auch die Käufer von Fahrzeugen der hiesigen Beklagten vertrauten darauf, dass die gesetzlichen Vorgaben eingehalten werden und wurden darin arglistig getäuscht. Die Sittenwidrigkeit des Handelns ergibt sich aus dem nach Ausmaß und Vorgehen besonders verwerflichen Charakter der Täuschung von Kunden, der Täuschung des Kraftfahrtbundesamtes unter Inkaufnahme nicht nur der Schädigung der Käufer, sondern auch der Umwelt allein im Profitinteresse.
e) Die subjektiven Voraussetzungen der Haftung nach § 826 BGB sind ebenfalls erfüllt. In subjektiver Hinsicht setzt § 826 BGB einen Schädigungsvorsatz sowie Kenntnis der Kausalität des eigenen Verhaltens für den Eintritt des Schadens und der das Sittenwidrigkeitsurteil begründenden tatsächlichen Umstände voraus. Der Schädigungsvorsatz enthält ein Wissensund Wollenselement. Der Handelnde muss die Schädigung des Anspruchsstellers gekannt bzw. vorausgesehen und in seinen Willen aufgenommen haben und mindestens mit bedingtem Vorsatz gehandelt haben, BGH, Urteil vom 28.06.2016, Az.: VI ZR 536/15.
Die Haftung einer juristischen Person nach § 826 BGB i.V.m. § 31 BGB setzt zudem voraus, dass ihr „verfassungsmäßig berufender Vertreter“ den objektiven und subjektiven Tatbestand verwirklicht hat. Die erforderlichen Wissens- und Wollenselemente müssen dabei kumuliert bei einem solchen Vertreter vorliegen, der auch den objektiven Tatbestand verwirklicht hat, eine mosaikartige Zusammensetzung der kognitiven Elemente bei verschiedenen Personen ist hingegen nicht zulässig, vgl. BGH, Urteil vom 18.07.2019, Az.: VI ZR 536/15. Darauf weist zutreffend auch das von der Beklagten vorgelegte Rechtsgutachten hin, S. 15.
Der Senat geht nicht davon aus, dass eine Wissenszurechnung im Konzern die Haftung der Beklagten begründet. Der Umstand, dass die beteiligten Gesellschaften in einem Konzern verbunden sind, genügt nämlich für sich genommen nicht, um eine Wissenszurechnung zu begründen, vgl. BGH, Urteil vom 13.12.1989, Az.: IV a ZR 177/88, Rdnr. 14, OLG Stuttgart, Urteil vom 04.09.2019, Az.: 13 U 136/18, Müko-BGB, 7. Auflage 2018, § 166 Rdnr. 61.
Die Haftung der Beklagten beruht vielmehr - wie schon ausgeführt - auf ihrem eigenen deliktischen Handeln, dem von ihr zu verantwortenden Inverkehrbringen des streitgegenständlichen Fahrzeugs.
Im Hinblick auf den neuen Vortrag im Schriftsatz vom 24.09.2020 ist die Beklagte der ihr obliegenden sekundären Darlegungslast in größerem Umfang als bisher nachgekommen, weil sie zur Organisationsstruktur, der Arbeitsorganisation, den damaligen internen Zuständigkeiten, den Berichtspflichten und den von ihr veranlassten Ermittlungen näher vorgetragen hat. Die Beklagte argumentiert allerdings damit, dass schon keine belastbaren Anhaltspunkte für eine Kenntnis der Vorstandsmitglieder im aktienrechtlichen Sinn oder von potentiellen Repräsentanten bestünden, weshalb ein vertieftes Vorgehen nicht angezeigt sei und keine Verpflichtung zu weiteren Aufklärungsmaßnahmen von Seiten des Aufsichtsrats bestehe. Dies teilt der Senat - insbesondere in Bezug auf die Vorstandsmitglieder, die in dem Produkt-Strategie-Komitee mitgewirkt haben - aus nachfolgenden Gründen nicht:
Zur Produktion erklärt die Beklagte nunmehr, dass bereits in den Jahren 2005/2006 vom Produkt-Strategie-Komitee, dem auch nicht namentlich benannte Vorstandsmitglieder angehört haben, die grundsätzliche Entscheidung getroffen worden ist, dass in bestimmten Fahrzeugen der Beklagten der von der Konzernmutter entwickelte Motor vom Typ EA 189 eingebaut wird, was letztlich ab 2007 zu einem serienmäßigen Einsatz geführt hat. Die Beklagte behauptet dazu weiter, dass weder Organe noch Repräsentanten, nicht einmal Werksmitarbeiter der Beklagten Kenntnis von den Details des Motors, insbesondere der Software gehabt hätten, weil diese verschlossen und verriegelt war und so vom Konzernserver in der Fertigung aufgespielt worden ist. Dies hält der Senat - wie oben bereits ausgeführt - nicht für plausibel. Es ist nicht nachvollziehbar, dass das oben genannte Komitee, dem auch ein Organ der Beklagten angehört hat, den Einsatz eines Motors in eigenen Fahrzeugen befürwortet, sich aber keine Gedanken darüber macht, wie der Motor funktioniert, welche Eigenschaften er hat und wie es gelingt, die entsprechenden Stickoxidgrenzwerte einzuhalten. Bei dem Motor handelt es sich um das Kernstück des Fahrzeugs und bei der Verwendung um eine grundlegende, eine Vielzahl von Fahrzeugen betreffende Strategieentscheidung, die mit erheblichen persönlichen Haftungsrisiken für die entscheidenden Personen verbunden ist. Da die Beklagte auch selbst Dieselmotoren entwickelt und die Frage, wie die gesetzlichen Grenzwerte technisch und wirtschaftlich kostengünstig eingehalten werden können, unter Kfz-Herstellern zu der damaligen Zeit ein Hauptthema war, kann nicht nachvollzogen werden, dass die Beklagte kein Interesse daran hatte zu wissen, wie es der Mutterkonzern geschafft hat, die strengen Grenzwerte einzuhalten. Es scheint ausgeschlossen, dass die Beklagte den von der Konzernmutter entwickelten Motor ohne eigene Prüfung und Kenntnis der wesentlichen Merkmale „blind“ in ihre eigenen Fahrzeuge eingebaut hat. Es liegt vielmehr auf der Hand, dass im Unternehmen der Beklagten mindestens ein handelnder Repräsentant an der Entscheidung über die Verwendung der unzulässigen Abschalteinrichtung beteiligt war. Dies folgt schon aus der Tragweite der Entscheidung, aber auch aus den gesamten Umständen.
Deshalb kann auch vorliegend - entgegen den Ausführungen im Rechtsgutachten G., Seite 17 ff. - in Bezug auf die Frage der personalen Anknüpfung - wie es der BGH in dem Urteil vom 25.05.2020 getan hat - auf die bewusste Beteiligung eines Organmitglieds an der grundlegenden strategischen Entscheidung abgestellt werden.
Die Beklagte kann sich nicht darauf zurückziehen, dass sie den Motor samt Software nur als externes Produkt von der V.-AG zugekauft hat und dieser vertrauen durfte. Der Bundesgerichtshof hat in der von der Beklagten zitierten Entscheidung vom 03.06.1975, Az.: VI ZR 192/73, ausgeführt, dass einem Unternehmer, der für die von ihm hergestellten Geräte vorgefertigte Einbauteile verwendet, grundsätzlich die Sorgfaltspflichten eines Herstellers obliegen. Davon kann es zwar Ausnahmen geben, wovon hier allerdings schon wegen der Bedeutung des Motors für das Fahrzeug keine Rede sein kann. Der Motor eines Fahrzeugs ist eben nicht bloß ein Zuliefererteil wie jedes andere. Die Beklagte durfte sich vorliegend nicht allein auf die fachliche Betriebserfahrung ihrer Konzernmutter und deren durchgeführte Prüfungen verlassen. Sie hätte vielmehr die konkreten Eigenschaften bei der V.-AG erfragen müssen und sich selbst von der mangelfreien Beschaffenheit des Motors im Hinblick auf ihre eigene Verantwortlichkeit im EG-Typgenehmigungsverfahren überzeugen müssen. Der Auffassung von Prof. Dr. G. auf Seite 22 ff. des Gutachtens folgt der Senat aus den obigen Gründen, letztlich wegen der abweichenden Wertung des Sachverhalts, nicht.
Was das Zulassungsverfahren betrifft, zu dem die Beklagte vorträgt, dass hier in Bezug auf den Motor nur Mitarbeiter der V.-AG gehandelt hätten, wird auf die obigen Ausführungen verwiesen. Die Beklagte hat gegenüber der EG-Typgenehmigungsbehörde eine eigene Erklärung abgegeben und zumindest konkludent erklärt, dass die dem Technischen Dienst von der V.-AG vorgestellten Fahrzeuge keine unzulässigen Abschalteinrichtungen enthalten und den Gesetzen entsprechen. Da dies tatsächlich nicht zutraf, ist das Verhalten der Beklagten als vorsätzlich zu bewerten, weil die Folgen des Handelns bewusst in Kauf genommen worden sind. Selbst wenn man dies nicht so sehen wollte, hält der Senat aufgrund der Tatsache, dass die Beklagte sich im Hinblick auf das Emissions-Typengenehmigungsverfahren vollständig und ohne weitere Kontrolle auf die Konzernmutter verlassen hat, eine Zurechnung des bei der WV-AG zweifelsfrei vorhandenen Täuschungs- und Schädigungsvorsatzes entsprechend § 31 BGB für gerechtfertigt.
f) Auf der Basis der getroffenen Feststellungen ist damit von einem Schädigungsvorsatz der handelnden Personen auszugehen, die von den sittenwidrigen, strategischen Unternehmensentscheidungen Kenntnis hatten. Nicht nur der objektive Tatbestand, sondern auch sämtliche für den Vorsatz nach § 826 BGB erforderlichen Wissens- und Wollenselemente sind damit bei den entsprechenden Entscheidungsträgern verwirklicht. Vorstandsmitglieder oder Repräsentanten, die in eigener oder zurechenbarer Kenntnis der Funktionsweise der Software ihren serienmäßigen Einsatz in Motoren anordnen oder nicht unterbinden, billigen ihn auch und sind sich der Schädigung der späteren Fahrzeugerwerber bewusst.
2. Die Beklagte hat gemäß §§ 826, 31, 249 ff. BGB der Klagepartei sämtliche aus der sittenwidrigen Schädigung resultierenden Schäden zu ersetzen. Die Klagepartei kann damit den von ihr aufgewendeten Kaufpreis Zug um Zug gegen Rückgabe und Übereignung des erlangten Fahrzeugs an die Beklagte zurückverlangen.
Sie muss sich aber dasjenige anrechnen lassen, was ihr durch das schädigende Ereignis zugeflossen ist. Dass die Grundsätze der Vorteilsausgleichung auch bei einem Anspruch aus vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung gemäß § 826 BGB anzuwenden sind, hat der Bundesgerichtshof in der Entscheidung vom 25.05.2020, Az.: VI ZR 252/19, ausdrücklich bestätigt, Rdnr. 66 ff. Er hat auch ausgeführt, dass dem keine europarechtlichen Normen entgegenstehen. Der Senat nimmt auf die Ausführungen des Bundesgerichtshofs Bezug, a.a.O., Rdnr. 73 ff. Geklärt ist mit dieser Entscheidung weiter, dass eine lineare Berechnungsweise nach der Formel Bruttokaufpreis x gefahrene Kilometer / Gesamt- bzw. Restlaufleistung - wie vom Landgericht durchgeführt - keinen rechtlichen Bedenken unterliegt und die Höhe der gezogenen Vorteile nach § 287 ZPO geschätzt werden kann.
Vorliegend hatte das Fahrzeug beim Erwerb durch die Klagepartei einen Kilometerstand von 0 km. Zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hatte das Fahrzeug einen Kilometerstand von 110.987 km. Unter Zugrundelegung des Kaufpreises von 40.750,00 € und einer Gesamtlaufleistung von 300.000 km ergibt sich damit eine Nutzungsentschädigung für die gefahrenen Kilometer in Höhe von 15.075,73 €. Die zu erwartende Gesamtlaufleistung schätzt der Senat - wie das Landgericht - im Rahmen des ihm eingeräumten Ermessens gemäß § 287 ZPO auf 300.000 km, da von einer durchschnittlichen Laufleistung des hier verbauten Dieselmotors 2.0 TDI, 125 kw, Euro 5, auszugehen ist. Es verbliebe somit ein Rückzahlungsanspruch in Höhe von 25.674,27 €. Dieser ist jedoch begrenzt durch die insoweit rechtskräftige erstinstanzliche Beschränkung des Anspruchs auf einen Betrag von 25.436,93 €.
3. Der Klagepartei stehen entgegen den Ausführungen des Landgerichts Zinsen nur aufgrund der Rechtshängigkeit zu, §§ 291, 288 Abs. 1 BGB, ab dem 19.02.2019.
Die Beklagte befand sich nicht bereits vor der Zustellung der Klageschrift im Schuldnerverzug, § 286 BGB. Zwar hat die Klagepartei außergerichtlich gegenüber der Beklagten ihre Ansprüche mit Anwaltsschreiben vom 13.12.2018 angemeldet und eine Frist bis zum 21.12.2018 gesetzt. Jedoch ist dieses Schreiben nicht geeignet, einen Schuldnerverzug der Beklagten zu begründen, weil der Abzug einer Nutzungsentschädigung zwar angeboten, ein Kilometerstand aber nicht mitgeteilt worden ist, so dass von einer Zuvielforderung auszugehen ist. Die Beklagte wäre nur dann in Schuldnerverzug geraten, wenn seitens der Klagepartei die ihr obliegende Gegenleistung ordnungsgemäß angeboten worden wäre, vgl. BGH a.a.O., Rdnr. 85.
4. Dem Antrag auf Feststellung, dass sich die Beklagte mit der Rücknahme des streitgegenständlichen Fahrzeugs in Annahmeverzug befindet, hätte ebenfalls nicht entsprochen werden dürfen.
Der Feststellungsantrag zum Annahmeverzug war zwar im Moment des erledigenden Ereignisses, hier der Weiterveräußerung, zulässig, vgl. §§ 756, 726 Abs. 1 ZPO, er war aber unbegründet, weil die Voraussetzungen der §§ 293, 295 BGB vorliegend nicht erfüllt waren. Das außergerichtliche Anwaltsschreiben der Klagepartei war - wie oben ausgeführt - nicht geeignet, den Annahmeverzug zu begründen, weil die Klagepartei die Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs nicht zu den Bedingungen angeboten hat, von denen sie diese hätte abhängig machen dürfen. Ein zur Begründung von Annahmeverzug auf Seiten der Beklagten geeignetes Angebot ist unter diesen Umständen nicht gegeben. Noch im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht wandte sich die Klagepartei gegen den Abzug einer Nutzungsentschädigung (Bl. 399 d.A.).
5. Die Entscheidung des Landgerichts zu den zugesprochenen Rechtsanwaltskosten begegnet keinen rechtlichen Bedenken.
Grundsätzlich können entstandene außergerichtliche Rechtsanwaltskosten als Teil des Schadens nach §§ 826, 249 ff. BGB verlangt werden. Der Anspruch besteht in der vom Landgericht zugesprochenen Höhe. Die vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten sind von der Beklagten in der ausgeurteilten Höhe zu erstatten, weil sie - entgegen der Auffassung der Beklagten - zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung erforderlich und zweckmäßig waren.
Angesichts der sich stellenden Rechtsfragen ist es nicht zu beanstanden, wenn sich die Klagepartei anwaltlich vorab hat beraten lassen und zunächst mit anwaltlicher Hilfe versucht hat, vorgerichtlich eine gütliche Einigung zu erzielen. Da sich die Beklagte im Lauf der Zeit durchaus auf außergerichtliche Lösungen eingelassen hat, musste ein betroffener Käufer nicht von vornherein davon ausgehen, dass ein anwaltliches Aufforderungsschreiben zwecklos ist. Zinsen sind diesbezüglich allerdings erst ab Rechtshängigkeit geschuldet.
III.
Die Kostenquote entspricht dem jeweiligen Obsiegen bzw. Unterliegen der Parteien, §§ 92 Abs. 1, 97 Abs. 1 ZPO.
In Bezug auf die von der Klagepartei in erster Instanz geltend gemachten deliktischen Zinsen war erstinstanzlich ein fiktiver Streitwert anzusetzen, um der Zuvielforderung Rechnung zu tragen. Der fiktive Streitwert erster Instanz beträgt damit gerundet 56.470 €. Die Klagepartei unterliegt daher erstinstanzlich insgesamt in Höhe von 55%.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, Nr. 711, 713 ZPO.
Die Revision ist gemäß § 542 Abs. 2 S. 1 ZPO zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen. Einige wesentliche Punkte sind zwar durch die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 25.05.2020 geklärt, offen ist jedoch die Frage, ob auch die Konzerntöchter der V.-AG, insbesondere die Beklagte, für die von ihnen hergestellten, mit einem Motor des Typs EA 189 (nebst unzulässiger Abschalttechnik) ausgestatteten Fahrzeuge deliktisch haften. Diese Frage ist in der obergerichtlichen Rechtsprechung umstritten.
Verkündet am 30.11.2020
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Tenor
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Landgerichts Ingolstadt vom 17.01.2019, Az. 44 O 379/18, abgeändert und wie folgt neu gefasst:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 9.235,23 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 17.03.2018 Zug um Zug gegen Rückgabe und Übereignung des Fahrzeugs Audi A3 1.6 TDI mit der Fahrgestellnummer …95 zu zahlen.
2. Die Beklagte wird verurteilt, die Klagepartei von den Kosten der außergerichtlichen Rechtsverfolgung in Höhe von 887,03 € freizustellen.
3. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
III. Von den Kosten des Rechtsstreits der ersten Instanz trägt die Klägerin 10%, die Beklagte 90%. Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Beklagte.
IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch die Klägerin durch Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
V. Die Revision gegen dieses Urteil wird zugelassen.
Gründe
I.
Die Klägerin macht gegen die Beklagte Ansprüche im Zusammenhang mit dem Erwerb eines vom sog. Dieselabgasskandal betroffenen Fahrzeugs geltend.
Mit Kaufvertrag vom 01.03.2014 (Anlage K 12) erwarb die Klägerin bei der Firma Automobile L. den streitgegenständlichen Audi A3, 1.6 TDI Sportback, zu einem Kaufpreis von 12.000,00 €. Geliefert wurde das Fahrzeug am 08.03.2014. Bei Erwerb hatte der Wagen eine Laufleistung von 112.650 km.
Zum Zeitpunkt des Kaufs befand sich in dem Fahrzeug, das von der Beklagten hergestellt ist, ein von der V.-AG serienmäßig produzierter Dieselmotor des Typs EA 189 (EU5) nebst einer Motorsteuerungssoftware, die erkennt, ob das Fahrzeug auf dem Prüfstand dem Neuen Europäischen Fahrzyklus unterzogen wird. Es wird in diesem Fall in den Abgasrückführungsmodus 1, einen Stickoxidoptimierten Modus, geschaltet. In diesem Modus findet eine Abgasrückführung mit niedrigem Stickoxidausstoß statt. Im normalen Fahrbetrieb außerhalb des Prüfstandes schaltet der Motor dagegen in den Abgasrückführungsmodus 0, bei dem die Abgasrückführungsrate geringer und der Stickoxidausstoß höher ist. Grundlage der Erteilung der Typgenehmigung sind die Abgasmessungen auf dem Prüfstand.
Die Verwendung der Software wurde dem Kraftfahrt-Bundesamt weder von der V.-AG noch von der Beklagten im Rahmen der Tests zur Erreichung der Typgenehmigung offengelegt. Erst am 22.09.2015 veröffentlichte die V.-AG eine Adhoc-Mitteilung, mit der Auffälligkeiten bei Fahrzeugen mit dem Motor vom Typ EA 189 eingeräumt wurden.
Nach Bekanntwerden der Softwareproblematik verpflichtete das Kraftfahrtbundesamt die Beklagte zur Entfernung der unzulässigen Abschalteinrichtung und dazu, geeignete Maßnahmen zur Wiederherstellung der Vorschriftsmäßigkeit zu ergreifen. Daraufhin wurde ein Software-Update entwickelt, welches auf das Fahrzeug der Klägerin aufgespielt worden ist.
Mit Anwaltsschreiben vom 13.12.2017 (Anlage K 10) erklärte die Klägerin gegenüber der Beklagten Anfechtung des und Rücktritt vom Kaufvertrag, begehrte Schadenersatz und forderte die Beklagte unter Fristsetzung von 2 Wochen zur Rückzahlung von 10.537,00 € (Kaufpreis abz. Nutzungsentschädigung unter Zugrundelegung einer Gesamtlaufleistung von 350.000 km) auf. Die Beklagte wies die klägerischen Ansprüche mit Schreiben vom 11.01.2018 zurück. Die Klage wurde der Beklagten am 16.03.2018 zugestellt.
Die Klägerin trug in erster Instanz zunächst vor, sie habe gegenüber der Beklagten einen Anspruch auf Rückzahlung des Kaufpreises aus § 812 BGB nach Anfechtung des Kaufvertrags wegen arglistiger Täuschung, sowie aus sittenwidriger Schädigung. Die Beklagte habe die Klägerin durch das Inverkehrbringen von Dieselmotoren unter Verschweigen der gesetzeswidrigen Softwareprogrammierung in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise vorsätzlich geschädigt. Die Beklagte habe bei der Entwicklung des streitgegenständlichen Motors eine tragende Rolle gespielt. Sie sei selbst mit der Fertigung des Motors betraut gewesen und habe die Manipulationssoftware mitentwickelt. Es stehe außer Zweifel, dass der Vorstand der Beklagten und führende Mitarbeiter von der Manipulation des Motors Kenntnis gehabt hätten, da sie selbst für die Entwicklung zuständig gewesen seien bzw. den Auftrag erteilt hätten. Dies zeige sich schon daran dass die Beklagte auch in folgenden Motorgenerationen illegale Manipulationen vorgenommen habe. Auch unter dem Gesichtspunkt Organisationsverschulden sei eine Haftung der Beklagten anzunehmen, ebenso greife die Zurechnung nach § 31 BGB bzw. § 831 BGB.
Die Beklagte weist darauf hin, dass ein Kaufvertrag zwischen ihr und der Klägerin nicht besteht. Weiter hält sie Schadensersatzansprüche der Klägerin nicht für gegeben. Sie bestreitet, dass das Fahrzeug eine unzulässige Abschalteinrichtung enthalte sowie dass der Klägerin überhaupt ein Schaden entstanden sei. Eine sittenwidrige Schädigung durch die Beklagte liege nicht vor, auch fehle es an der Kausalität zwischen angeblicher Täuschung und Schaden. Jedenfalls sei ein etwaiger Schaden durch das Aufspielen des Updates entfallen. Eine - unterstellt von der Beklagten verursachte - Fehlvorstellung der Klägerin über die Schadstoffemission sei für ihre Kaufentscheidung nicht maßgeblich gewesen. Eine Haftung der Beklagten scheide auch deshalb aus, weil sie den Motor nicht entwickelt habe. Die Klägerin trage schon nicht substantiiert vor, dass die Beklagte von der Verwendung der als unzulässig gerügten Software Kenntnis gehabt habe. Abgesehen davon habe die Beklagte nach dem Stand der Ermittlungen keine Erkenntnisse dazu, dass Vorstandsmitglieder im aktienrechtlichen Sinn die Entwicklung der Umschaltlogik für den Motor EA 189 in Auftrag gegeben oder gebilligt hätten.
Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die tatsächlichen Feststellungen im landgerichtlichen Urteil Bezug genommen, § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO.
Das Landgericht hat der Klage mit Urteil vom 17.01.2019 nach Anhörung der Klägerin im Wesentlichen stattgegeben. Zur Begründung hat es ausgeführt, der klägerischer Anspruch ergebe sich aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV, 249 ff BGB. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV seien Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB. Die Beklagte habe durch die Verwendung einer unrichtigen Übereinstimmungsbescheinigung gegen das Schutzgesetz verstoßen. Vorangegangen sei eine unwahre Angabe des Herstellers bei der Beantragung der Typengenehmigung beim KBA, indem er die gesetzeswidrige Softwareprogrammierung verschwiegen habe. Dieses Verhalten sei kausal für den Schaden der Klägerin gewesen, die ein Fahrzeug erwerben wollte, das den nationalen und gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften entsprach. Die jeweils verantwortlichen Mitarbeiter der Beklagten hätten vorsätzlich gehandelt. Die Täuschungshandlung sei nur vorsätzlich denkbar, weil der Beklagten als etablierter Fahrzeugherstellerin und Herstellerin des Motors Kenntnis von den Voraussetzungen der Typengenehmigung unterstellt werden könne. Der Beklagten sei nach § 31 BGB die Haftung für ihre Repräsentanten auch zuzurechnen. Im Übrigen sei die Beklagte auch der ihr obliegenden sekundären Darlegungslast nicht ausreichen nachgekommen. Welcher konkrete Repräsentant der Beklagten vorsätzlich gehandelt habe, müsse vor diesem Hintergrund nicht festgestellt werden. Durch die Bindung an den nicht erwartungsgerechten Vertrag sei der Klägerin ein Schaden entstanden, der den Anspruch auf Rückabwicklung auslöse. Die Klägerin müsse sich aber den Abzug von Gebrauchsvorteilen in Form einer Nutzungsentschädigung, bezogen auf eine Gesamtlaufleistung von 300.000 km, gefallen lassen. Außergerichtliche Rechtsanwaltskosten seien nur in Höhe einer 1,3 Geschäftsgebühr zuzusprechen.
Gegen das Urteil wendet sich die Beklagte mit ihrer Berufung.
Sie rügt, das Landgericht habe der Klage rechtsfehlerhaft stattgegeben und zu Unrecht einen Schadensersatzanspruch bejaht. Sie ist der Auffassung, § 27 EG-FGV sei kein Schutzgesetz. Auch eine Haftung nach § 826 BGB bestehe nicht. Die Beklagte sei nur Herstellerin des Fahrzeugs und habe den im Fahrzeug verbauten Motor des Typs EA 189 nicht entwickelt. Eine sekundäre Darlegungslast obliege der Beklagten nicht. Ein Schaden sei bei der Klägerin nicht eingetreten. Auch habe die Klägerin den Kausalzusammenhang nicht nachgewiesen.
Im Schriftsatz vom 21.09.2020, Bl. 481 ff. d.A., ergänzt mit Schriftsatz vom 24.11.2020, vertieft die Beklagte ihren Vortrag und legt dar, weshalb ihrer Meinung nach die inzwischen ergangene Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur Haftung der V.-AG auf vorliegende Fallgestaltung nicht übertragen werden könne. Die Beklagte habe als Herstellerin des Fahrzeugs in den Jahren 2005/2006 durch ihr Produkt-Strategie-Komitee, dem jeweils auch einzelne Mitglieder des Vorstands angehörten, beschlossen dass der von VW entwickelte Motor in bestimmten Fahrzeugen der Beklagten serienmäßig eingebaut wird. Der erste Einsatz sei im Jahr 2007 erfolgt. Die Beklagte habe den Motor samt Software als externes Produkt von der V.-AG zur Verwendung in ihren Fahrzeugen erworben. Die Hardware der Motorsteuerungsgeräte habe die Beklagte von den Zulieferern B. und C. erhalten. Ohne Einflussmöglichkeit von Mitarbeitern der Beklagten sei die auf das jeweilige Fahrzeug abgestimmte Software ab 2008 auf den automatisierten Fertigungslinien der Beklagten vom Konzernserver der V.-AG heruntergeladen worden. Die Software sei dabei zur Vermeidung von Einflussnahme außerhalb der Entwicklungsverantwortung verriegelt gewesen.
Im Auftrag der Beklagten habe die Konzernmutter das EGTypgenehmigungsverfahren organisiert. Von Mitarbeitern der V.-AG seien die entsprechenden Fahrzeuge der Beklagten dem Technischen Dienst vorgestellt worden, die Beklagte habe lediglich die Rechnungen und die Protokolle mit den Testergebnissen bekommen.
Die Beklagte habe keinen Anlass gesehen, die von der V.-AG entwickelten Motoren im Rahmen oder in Vorbereitung des Typgenehmigungsverfahrens eigenständig zu überprüfen. Eine entsprechende Verpflichtung habe nicht bestanden. Dem Kraftfahrt-Bundesamt sei es mit den damals zur Verfügung stehenden Tests nicht möglich gewesen, die Umschaltlogik zu erkennen. Im Rahmen der Qualitätskontrolle der laufenden Produktion sei das grundsätzliche Funktionieren des Emissionskontrollsystems überprüft und überwacht worden, dass die Serienfahrzeuge mit den EG-Typgenehmigungsunterlagen übereinstimmen. Im Rahmen dieses „Conformity of Production (CoP)“ Tests habe die „Umschaltlogik“ nicht erkannt werden können.
Die Beklagte habe von der Programmierung keine Kenntnis gehabt, weil sie nicht an der Entwicklung des Motors beteiligt gewesen sei. Die Haftung der Beklagten könne weder auf angebliche Sorgfaltspflichtverletzungen, vermeintliches Organisationsverschulden oder eine konzernweite Wissenszusammenrechnung gestützt werden. Insoweit verweist die Beklagte auf ein von ihr in Auftrag gegebenes Rechtsgutachten von Prof. Dr. G. vom 21.09.2020 (Anlage BB 53).
Im Einzelnen wird auf die Berufungsbegründung vom 29.04.2019 (Bl. 251 ff d.A.) sowie die Schriftsätze vom 02.10.2019 (Bl. 356 ff d.A.), vom 04.11.2019 (Bl. 397 ff d.A.), vom 02.03.2020 (Bl. 442 ff d.A.), vom 20.04.2020 (Bl. 463 ff d.A.), vom 21.09.2020 (Bl. 481 ff d.A.) und vom 24.11.2020 Bezug genommen.
Die Beklagte beantragt im Berufungsverfahren,
das am 17.09.2019 verkündete Urteil des Landgerichts Ingolstadt, Az. 44 O 379/18 im Umfang der Beschwer der Beklagten abzuändern und die Klage vollumfänglich abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Die Klägerin verteidigt die erstinstanzliche Entscheidung und ist der Meinung, dass weder eine Verletzung von Verfahrensrecht noch eine Verletzung materiellen Rechts durch das Landgericht vorliege. Rechtsfehlerfrei sei ein für die Klägerin nachteiliger Vertragsschluss angenommen worden, weil das streitgegenständliche Fahrzeug nicht jederzeit uneingeschränkt zulassungsfähig gewesen sei. Der Schaden sei auch nicht durch das Software-Update entfallen. Die Beweislastverteilung im Rahmen der Kausalität sei nicht verkannt worden. Ebenso korrekt habe das Landgericht eine Repräsentantenhaftung angenommen. Die Implementierung der Abschaltvorrichtungen sei ohne Wissen und Wollen der dafür verantwortlichen Ingenieure nicht möglich. Im Einzelnen wird auf die Berufungserwiderung vom 26.06.2019, Bl. 331 ff. d.A., die Schriftsätze vom 14.10.2019 (Bl. 393 ff d.A.), vom 04.11.2019 (Bl. 406 ff d.A.), vom 02.03.2020 (Bl. 435 ff d.A.) sowie den weiteren Schriftsatz vom 19.10.2019, Bl. 524 ff. d.A., verwiesen.
Der Senat hat über den Rechtsstreit am 14.10.2019 und am 26.10.2020 mündlich verhandelt und die Klägerin formlos angehört. Die Beklagte hielt den Antrag auf Vernehmung der Klägerin als Partei zur Frage der Kausalität nicht aufrecht. Auf die Sitzungsprotokolle, Bl. 389 ff und Bl. 553 ff. d.A., wird verwiesen.
II.
Die zulässige Berufung der Beklagten hat nur insoweit Erfolg, als auf Grund der zwischenzeitlichen Nutzung des Fahrzeugs eine höhere Nutzungsentschädigung, also ein geringerer Zahlungsanspruch der Klägerin auszusprechen war.
Im Ergebnis hat das Landgericht zu Recht angenommen, dass die Beklagte dem Kläger haftet, allerdings beruht der Anspruch auf § 826 BGB und nicht auf § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV, 249 ff BGB. Soweit das Urteil in den Gründen auf S. 19 Ausführungen enthält, dass die Beklagte nicht nur Herstellerin des streitgegenständlichen Fahrzeugs, sondern auch des darin verbauten Motors ist, ergibt sich aus dem Urteil im Übrigen (insbes. S. 20), dass das Landgericht zutreffend davon ausgegangen ist, dass die V.-AG den Motor produziert hat.
Der Senat berücksichtigt bei seiner Entscheidung den ergänzenden Sachvortrag der Beklagten im Schriftsatz vom 21.09.2020, dem die Klagepartei mit Schriftsatz vom 19.10.2020 nur in wenigen Einzelheiten, so etwa hinsichtlich der Auslesbarkeit der zugelieferten Software durch die Beklagte (S. 24 des Schriftsatzes vom 19.10.2020 = Bl. 547 d.A.), konkret entgegen getreten ist. Zu dem Vortrag der Beklagten zu den Abläufen heißt es insoweit nur, „die weiteren Ausführungen der Beklagten zu den Entwicklungsprozessen können daher nicht über die klägerischen Ansprüche hinweghelfen“ (S. 2 des Schriftsatzes = Bl. 525 d.A.). Allerdings hat sich die Klagepartei bereits erstinstanzlich wiederholt dazu geäußert, dass und warum ihrer Ansicht nach die Beklagte (mit-)verantwortlich ist für den Einsatz der manipulativen Software in dem von ihr hergestellten Fahrzeug. Auch die Rechtsausführungen der Beklagten im Schriftsatz vom 24.11.2020 hat der Senat geprüft und zur Kenntnis genommen. Der Senat hält aus nachfolgenden Erwägungen eine Beweisaufnahme nicht (mehr) für erforderlich, vielmehr ist auch auf der Basis des ergänzenden Vortrags der Beklagten im Schriftsatz vom 21.09.2020 zu den Arbeitsabläufen und der arbeitsteiligen Aufgabenverteilung zwischen der Beklagten und der V.-AG eine Haftung der Beklagten zu bejahen. Im Einzelnen:
1. Eine Haftung der Beklagten wegen Rücktritts vom Kaufvertrag oder Anfechtung wegen arglistiger Täuschung besteht nicht, weil die Beklagte nicht Vertragspartnerin des Kaufvertrags ist.
2. Die Haftung der Beklagten beruht auch nicht auf § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV, 249 ff BGB, weil § 27 EG-FGV kein Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB ist. Der Bundesgerichtshof hat dies in seinem Urteil vom 30.07.2020, Az. VI ZR 5/20, umfassend dargelegt. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf diese Ausführungen verwiesen.
3. Die Haftung der Beklagten ergibt sich jedoch aus §§ 826, 31 BGB. Dabei kann in weiten Teilen auf die grundsätzliche Entscheidung des Bundesgerichtshofs in Bezug auf die Konzernmutter, die V.-AG, Bezug genommen werden, Urteil vom 25.05.2020, Az. VI ZR 252/19. Die dort getroffenen Aussagen zur Frage der Täuschung, der Sittenwidrigkeit, des Vorliegens eines Schadens, der Kausalität, der Verpflichtung zu einer sekundären Darlegungslast und Teilen der subjektiven Tatbestandsvoraussetzungen können auch auf vorliegende Fallgestaltung übertragen werden. Gründe, die Sach- und Rechtslage vorliegend anders zu beurteilen, sind nicht ersichtlich. Insoweit sind auch die Ausführungen in den Hinweisbeschlüssen des Senats vom 13.01.2020 und 18.03.2020 im Hinblick auf eine gegebenenfalls nötige Beweisaufnahme zur subjektiven Seite der Haftung der Beklagten sowie zur Kausalität überholt (vgl. auch Hinweise zur Ladung vom 07.08.2020, Bl. 472 f d.A.).
Zentraler und höchstrichterlich noch nicht geklärter Streitpunkt des Verfahrens ist die Frage, ob für den unstreitigen Einsatz der „Umschaltlogik“ im Fahrzeug der Klägerin auch die Beklagte deliktisch haftet oder nur die in diesem Verfahren nicht beteiligte V.-AG. Der Senat sieht eine Haftung der hiesigen Beklagten nach §§ 826, 31 BGB gegenüber der Klägerin nicht allein aufgrund einer Zurechnung fremden Fehlverhaltens, sondern im Kern aufgrund eigenen deliktischen Handelns. Dies beruht auf dem von der Beklagten zu verantwortenden Inverkehrbringen des streitgegenständlichen Fahrzeugs mit einer manipulativen, auf Täuschung ausgerichteten unzulässigen Abschalteinrichtung.
a) Das Inverkehrbringen von Fahrzeugen mit einem Motor, der über eine nicht offen gelegte Abschalteinrichtung bzw. Umschaltlogik verfügt, stellt eine konkludente Täuschung der Klagepartei durch die Beklagte dar, weil die Käufer der bemakelten Fahrzeuge, gleichgültig, ob sie das Fahrzeug neu oder gebraucht erwarben, arglos davon ausgingen, dass die gesetzlichen Vorgaben eingehalten werden. Die Käufer durften darauf vertrauen, dass das erworbene Fahrzeug entsprechend seinem objektiven Verwendungszweck im Straßenverkehr eingesetzt werden kann, über eine uneingeschränkte Betriebserlaubnis verfügt und die erforderlichen Zulassungs- und Genehmigungsverfahren rechtmäßig durchlaufen worden sind. Tatsächlich enthielt der Motor des streitgegenständlichen Fahrzeugs jedoch zum Zeitpunkt des Kaufs eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 S. 1 VO (EG) 715/2007, weil der Stickoxidausstoß auf dem Prüfstand gegenüber dem normalen Fahrbetrieb gezielt durch den Einsatz einer entsprechenden Motorsteuerungssoftware reduziert worden ist. Die Technik war nicht nur zweifelsfrei unzulässig, sie diente vielmehr der gezielten Täuschung über die Einhaltung der zulässigen Abgaswerte. Dies hatte zur Folge, dass die Gefahr einer Betriebsuntersagung durch die für die Zulassung zum Straßenverkehr zuständige Behörde bestand und ein weiterer Betrieb des Fahrzeugs im öffentlichen Straßenverkehr möglicherweise nicht (mehr) möglich war, vgl. BGH, Urteil vom 25.05.2020, Az. VI ZR 252/19.
b) Durch diese Täuschung entstand der Klägerin als Käuferin eines vom sog. Dieselabgasskandal betroffenen Fahrzeugs ein Schaden, der in dem Abschluss des Kaufvertrags als ungewollte Verbindlichkeit zu sehen ist. Dieser Schaden ist auch nicht durch das später durchgeführte Software-Update entfallen, vgl. BGH, Urteil vom 25.05.2020, Az. VI ZR 252/19, Rn. 44 ff.
c) Der Schaden in Form des Kaufvertragsabschlusses wurde durch das Handeln der Beklagten verursacht. Die haftungsbegründende Kausalität zwischen schädigender Handlung der Beklagten und dem Eintritt des Schadens bei der Klägerin ist zu bejahen. Bereits die allgemeine Lebenserfahrung rechtfertigt die Annahme, dass ein Käufer, der ein Fahrzeug zur eigenen Nutzung erwirbt, bei der bestehenden Gefahr einer Betriebsbeschränkung oder -untersagung von dem Erwerb des Fahrzeugs abgesehen hätte, vgl. BGH aaO Rn 51. Hier hat die Klägerin aber auch bei ihrer Anhörung im Termin vom 26.10.2020 überzeugend angegeben, dass sie ein umweltfreundliches Auto kaufen wollte und darauf vertraut habe, dass ein Auto von der Beklagten in Ordnung ist. Sie fühle sich belogen. Die Beklagte hat im Termin ausdrücklich auf eine förmliche Einvernahme der Klägerin zur Kausalität verzichtet. Der Senat hat bereits in der Verhandlung darauf hingewiesen, dass er die Kausalität für gegeben ansieht.
d) Das Verhalten der Beklagten war sittenwidrig, auch wenn sie den Motor EA 189 nicht mitentwickelt haben sollte.
Sittenwidrig ist ein Verhalten, das nach seinem Gesamtcharakter, der durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Dafür genügt es im Allgemeinen nicht, dass der Handelnde eine Pflicht verletzt und einen Vermögensschaden hervorruft, vielmehr muss eine besondere Verwerflichkeit seines Verhaltens hinzutreten, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zutage getretenen Gesinnung oder den eingetretenen Folgen ergeben kann, ständige Rechtsprechung des BGH, Urteil vom 28.06.2016, Az. VI ZR 536/15, vom 07.05.2019, Az. VI ZR 512/17, zuletzt 25.05.2020, Az. VI ZR 252/19.
Nicht nur das Verhalten der V.-AG, sondern auch der hiesigen Beklagten ist objektiv als sittenwidrig zu qualifizieren, weil auch die beklagte A.-AG auf der Grundlage einer strategischen Entscheidung im eigenen Kosten- und Gewinninteresse Fahrzeuge in den Verkehr gebracht hat, deren Motorsteuerungssoftware bewusst und gewollt so programmiert war, dass die gesetzlichen Abgaswerte mittels einer unzulässigen Abschalteinrichtung nur auf dem Prüfstand eingehalten wurden. Damit ging eine erhöhte Belastung der Umwelt mit Stickoxiden einher und es bestand die Gefahr einer Betriebsbeschränkung oder - untersagung der betroffenen Fahrzeuge. Ein solches Verhalten ist im Verhältnis zu einer Person, die eines der bemakelten Fahrzeuge in Unkenntnis der illegalen Abschalteinrichtung erwirbt, besonders verwerflich und mit den grundlegenden Wertungen der Rechts- und Sittenordnung nicht zu vereinbaren, BGH, Urteil vom 25.05.2020, Az. VI ZR 252/19 Rn. 16.
Auch die hier beklagte A.-AG hat nach Überzeugung des Senats das an sich erlaubte Ziel der Gewinnerhöhung ausschließlich dadurch erreicht, dass sie auf der Grundlage einer strategischen Unternehmensentscheidung die zuständige Typgenehmigungsbehörde und die für sie handelnden Technischen Dienste arglistig getäuscht hat. Die Einwände der Beklagten, dass das Zulassungsverfahren durch die V.-AG erfolgt ist und die Beklagte nur die Rechnungen und Testergebnisse erhalten hat, greifen aus nachfolgenden Gründen nicht durch.
aa) Die Beklagte war als Herstellerin des Fahrzeugs umfassend für die Beantragung der Typgenehmigung verantwortlich.
Die Übereinstimmung eines Fahrzeugs mit einem genehmigten Typ, die durch die von einem Vertreter der Beklagten unterzeichnete Übereinstimmungserklärung bestätigt wird, ist Voraussetzung für dessen Zulassung im Gebiet der Europäischen Union. Zuständige nationale Genehmigungsbehörde für das Typgenehmigungsverfahren ist das Kraftfahrtbundesamt, § 2 Abs. 1 EG-FGV. Verantwortlich für die Beantragung der EG-Typengenehmigung für das Gesamtfahrzeug in Bezug auf einen Fahrzeugtyp ist der Hersteller, hier die Beklagte, § 3 Abs. 5 S. 1 EG-FGV. Die V.-AG hat im Typgenehmigungsverfahren, wie die Beklagte selbst vorträgt, im Auftrag der A.-AG gehandelt. Die Beklagte kann sich mithin nicht darauf berufen, dass allein die V.-AG Pflichten verletzt habe, was ihr verborgen geblieben und ihr nicht zurechenbar sei.
Für die Typgenehmigung für Personenkraftwagen ist die RL 2007/46/EG maßgeblich. Der Beklagten als Herstellerin obliegen dabei alle Belange des EG-Typgenehmigungsverfahrens und für die Übereinstimmung der Produktion, vgl. Art. 5 der RL 2007/46/EG, Art. 4 VO (EG) 715/2007. Die RL 2007/46/EG enthält eine Vielzahl von Einzelvorschriften für die verschiedenen technischen Systeme und Bauteile der Fahrzeuge. Die an die Abgasemissionen der Fahrzeuge zu stellenden Anforderungen regelt die VO (EG) 715/2007 und die dazu erlassene Durchführungsverordnung (EG) Nr. 692/2008. Die VO (EG) 715/2007 verpflichtet den Hersteller in Art. 5 Abs. 1 das Fahrzeug so auszurüsten, dass die das Emissionsverhalten voraussichtlich beeinflussenden Bauteile so konstruiert, gefertigt und montiert sind, dass das Fahrzeug unter normalen Betriebsbedingungen dieser Verordnung und ihren Durchführungsmaßnahmen entspricht. Gemeint sind damit die realen Betriebsbedingungen, die sich unter Umständen im Labor nicht vollständig nachbilden lassen. Ferner bestimmt Art. 5 Abs. 2 der VO (EG) 715/2007, dass die Verwendung von Abschalteinrichtungen, die die Wirkung von Emissionskontrollsystemen verringern, grundsätzlich unzulässig ist. Es gab aber zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens des streitgegenständlichen Fahrzeugs nach dem Vortrag der Beklagten keine Verfahren, die im Zuge des Prüfungsverfahrens das Vorhandensein von unzulässigen Abschalteinrichtungen betreffend die Bedatung des Motorsteuergeräts ermitteln hätten können. Das erleichterte die Täuschung des Kraftfahrt-Bundesamtes.
Für die Erteilung einer EG-Typgenehmigung prüft der Technische Dienst gemäß den Anhängen der Durchführungsverordnung (EG) Nr. 692/2008 im Auftrag der Genehmigungsbehörde das Fahrzeug nach den Vorgaben der Vorschriften und erstellt über die ermittelten Ergebnisse einen Bericht. Hier ist die V. AG gegenüber dem Technischen Dienst, der Firma A.E., im Auftrag der Beklagten aufgetreten.
Insgesamt lassen diese europäischen Vorgaben keinen Zweifel an der umfassenden Verantwortlichkeit des Herstellers im Typengenehmigungsverfahren, derer die Beklagte sich als weltweit tätiger großer Motoren- und Automobilhersteller zur Überzeugung des Senats bewusst war: Art. 3 Nr. 27 RL 2007/46/EG (früher ähnlich bereits in Art. 2 RL 70/156/EWG) definiert den Hersteller als die „Person oder Stelle, die gegenüber der Genehmigungsbehörde für alle Belange des Typengenehmigungsverfahrens- oder … verantwortlich ist. Die Person oder Stelle muss nicht notwendigerweise an allen Stufen der Herstellung des Fahrzeugs, des Systems, des Bauteils oder der selbständigen technischen Einheit, das bzw. die Gegenstand des Genehmigungsverfahrens ist, unmittelbar beteiligt sein.“ Dies wird unter der Überschrift „Pflichten des Herstellers“ in Art. 5 Abs. 1 RL 2007/46/EG wiederholt. Nach Art. 4 „Pflichten des Herstellers“ der VO (EG) 715/2007 bzw. Art. 3 Abs. 1 und Abs. 6 VO (EG) 692/2008 „weist (der Hersteller) nach“, dass alle von ihm verantworteten Neufahrzeuge über eine Typengenehmigung verfügen, die Grenzwerte eingehalten werden und die Fahrzeuge den ausführlichen Prüfanforderungen entsprechen, bzw. er „gewährleistet, dass die bei der Emissionsprüfung ermittelten Werte unter den in dieser Verordnung angegebenen Prüfbedingungen den geltenden Grenzwert nicht überschreiten.“
Der Beklagten ist mithin vorzuwerfen, dass sie als Herstellerin des Fahrzeugs mit der Abgabe der Beschreibungsunterlagen und ihrem Antrag auf Erteilung einer EG-Typgenehmigung eine eigene Erklärung gegenüber der Genehmigungsbehörde abgegeben hat, was die Verpflichtung einschloss, den Motor eigenständig auf Funktionsmäßigkeit und Gesetzesmäßigkeit zu überprüfen, weil mit dem Antrag auf Erteilung einer EG-Typgenehmigung zumindest konkludent erklärt wird, dass das Fahrzeug die gesetzlichen Vorschriften einhält und insbesondere über keine unzulässige Abschalteinrichtung verfügt. Dem Anhang I der RL 2007/46/EG Ziffer 3 lässt sich auch entnehmen, dass zur Antriebsmaschine eine Beschreibung des Systems zu erfolgen hat.
Im Übrigen hält der Senat aber auch die vollständige Übertragung des gesamten EG-Typgenehmigungsverfahrens auf die Konzernmutter nicht für zulässig und sieht darin ein Organisationsverschulden. Juristische Personen sind verpflichtet, den Gesamtbereich ihrer Tätigkeit so zu organisieren, dass für alle wichtigen Aufgabengebiete, hier das zentrale Genehmigungsverfahren, ein verfassungsmäßiger Vertreter zuständig sein muss, der die wesentlichen Entscheidungen selbst trifft, vgl. BGH, Urteil vom 08.07.1980, Az. VI ZR 158/78. Die Beklagte kann sich ihrer haftungsrechtlichen Verantwortung nicht dadurch entziehen, dass sie einen so elementaren Teilbereich wie das EG-Typgenehmigungsverfahren der Konzernmutter überlässt.
Tut sie dies dennoch, muss sie sich das Wissen der V.-AG von der Verwendung der unzulässigen Abschalteinrichtung (von dem vorliegend auszugehen ist) entsprechend § 166 Abs. 1 BGB zurechnen lassen. Denn die Beklagte schildert selbst, dass die V.-AG in ihrem Auftrag tätig geworden ist, mithin eine rechtsgeschäftliche Handlung des Vertreters vorliegt. Wer sich im rechtsgeschäftlichen Verkehr bei der Abgabe von Willenserklärungen, hier dem Antrag auf Erteilung einer EG-Typgenehmigung, eines Vertreters bedient, muss es im schutzwürdigen Interesse des Adressaten hinnehmen, dass ihm die Kenntnis des Vertreters als eigene zugerechnet wird. Oder anders ausgedrückt, wer sich zur Erledigung eigener Angelegenheiten Dritter bedient, muss sich deren Wissen zurechnen lassen, vgl. BeckOK, BGB Hau/ Poseck, 55. Edition, Stand 01.08.2020, Rn. 1 zu § 166 BGB.
bb) Die Beklagte kann sich nicht darauf berufen, dass im Zulassungsverfahren die Emissionsgrenzwerte nur auf dem Rollenprüfstand geprüft werden und es ihr damals mangels verfügbarer Geräte noch nicht möglich gewesen sei, Prüfungen im realen Fahrbetrieb vorzunehmen. Unabhängig von den zur Verfügung stehenden Überprüfungsmöglichkeiten hätte die Beklagte jedenfalls bei der V.-AG nachfragen können, wie die Motorsteuerungssoftware programmiert ist, damit die vorgeschriebenen Grenzwerte eingehalten werden können. Die Beklagte hätte sich auch ohne Weiteres von der Konzernmutter die entsprechenden Unterlagen geben lassen können. Insoweit wird nicht vorgetragen, dass man dies versucht hätte, aber von Seiten der Konzernmutter dies abgelehnt worden sei oder dass man solche Unterlagen bekommen hätte, die aber geschönt gewesen seien. Selbst das von der Beklagten vorgelegte Rechtsgutachten von Prof. Dr. G. geht auf S. 23 davon aus, dass „die Möglichkeit der Aufdeckung der Abschalteinrichtung durch die AUDIeigene Entwicklungsabteilung - vermittels einer grundlegenden Prüfung der Software bzw. einer Neuentwicklung von Testverfahren - nicht vollständig ausgeschlossen werden kann…“
cc) Hinzu kommt, dass zum Zeitpunkt der Entwicklung und des Einbaus des streitgegenständlichen Motors das Spannungsverhältnis zwischen kostengünstiger Produktion und Begrenzung der Stickoxidemissionen allgemein bekannt war. Die Beklagte ist selbst Herstellerin von Dieselmotoren (nebst Steuerungstechnik), die serienmäßig in Fahrzeugen des Konzerns zum Einsatz kommen. Dass sich unter diesen Umständen kein Verantwortlicher bei der Beklagten dafür interessiert haben will, ob und wie die Konzernmutter bei dem Motor EA 189 diesen Konflikt gelöst haben könnte, erscheint nicht plausibel. Zudem hat zum damaligen Zeitpunkt der europäische Gesetzgeber das grundsätzliche Verbot unzulässiger Abschalteinrichtungen normiert, wodurch der oben beschrieben Zielkonflikt zusätzliche Bedeutung gewann.
dd) Schließlich räumt die Beklagte auch ein, dass die grundsätzliche Entscheidung in Bezug auf die Verwendung des Motors EA 189 in den Jahren 2005/2006 von dem Produkt-Strategie-Komitee getroffen worden ist, dem auch mindestens ein Vorstandsmitglied angehört hat. Dass das vorgenannte Komitee der Beklagten keine Kenntnis von den Details des Motors gehabt hat, dessen serienmäßiger Einsatz ab 2007 beschlossen worden ist, hält der Senat nicht für plausibel. Es ist nicht nachvollziehbar, dass der Einsatz des Motors in einer Vielzahl von Fahrzeugen angeordnet wird, der unstreitig beteiligte Vorstand sich aber bei dieser Entscheidung, die die Beklagte selbst wegen ihrer Bedeutung als „Meilenstein“ bezeichnet, nicht darüber informiert, welche Eigenschaften der Motor hat und wie es gelingt, das bekannte Problem der Einhaltung der Stickoxidwerte zu lösen. Die Beklagte trägt hier nicht einmal vor, welches Vorstandsmitglied diesem Komitee angehört hat, ob dieses in Bezug auf seinen Kenntnisstand befragt worden ist und was gegebenenfalls die Antwort war. Der ihr obliegenden sekundären Darlegungslast ist die Beklagte hier nicht in ausreichendem Maß nachgekommen.
Auch die Käufer von Fahrzeugen der hiesigen Beklagten vertrauten darauf, dass die gesetzlichen Vorgaben eingehalten werden und wurden darin arglistig getäuscht. Die Sittenwidrigkeit des Handelns ergibt sich aus dem nach Ausmaß und Vorgehen besonders verwerflichen Charakter der Täuschung von Kunden sowie der Täuschung des Kraftfahrtbundesamtes unter Inkaufnahme nicht nur der Schädigung der Käufer, sondern auch der Umwelt allein im Profitinteresse.
e) Die subjektiven Voraussetzungen der Haftung nach § 826 BGB sind ebenfalls erfüllt. In subjektiver Hinsicht setzt § 826 BGB einen Schädigungsvorsatz sowie Kenntnis der Kausalität des eigenen Verhaltens für den Eintritt des Schadens und der das Sittenwidrigkeitsurteil begründenden tatsächlichen Umstände voraus. Der Schädigungsvorsatz enthält ein Wissensund Wollenselement. Der Handelnde muss die Schädigung des Anspruchsstellers gekannt bzw. vorausgesehen und in seinen Willen aufgenommen haben und mindestens mit bedingtem Vorsatz gehandelt haben, BGH, Urteil vom 28.06.2016, Az. VI ZR 536/15.
Die Haftung einer juristischen Person nach § 826 BGB i.V.m. § 31 BGB setzt zudem voraus, dass ihr „verfassungsmäßig berufener Vertreter“ den objektiven und subjektiven Tatbestand verwirklicht hat. Die erforderlichen Wissens- und Wollenselemente müssen dabei kumuliert bei einem solchen Vertreter vorliegen, der auch den objektiven Tatbestand verwirklicht hat, eine mosaikartige Zusammensetzung der kognitiven Elemente bei verschiedenen Personen ist hingegen nicht zulässig, vgl. BGH, Urteil vom 18.07.2019, Az. VI ZR 536/15. Darauf weist zutreffend auch das von der Beklagten vorgelegte Rechtsgutachten von Prof. Grigoleit hin, S. 15.
Der Senat geht nicht davon aus, dass eine Wissenszurechnung im Konzern die Haftung der Beklagten begründet. Der Umstand, dass die beteiligten Gesellschaften in einem Konzern verbunden sind, genügt nämlich für sich genommen nicht, um eine Wissenszurechnung zu begründen, vgl. BGH, Urteil vom 13.12.1089, Az. IV a ZR 177/88, Rn. 14, OLG Stuttgart, Urteil vom 04.09.2019, Az. 13 U 136/18).
Die Haftung der Beklagten beruht vielmehr - wie schon ausgeführt - auf ihrem eigenen deliktischen Handeln, dem von ihr zu verantwortenden Inverkehrbringen des streitgegenständlichen Fahrzeugs.
Im Hinblick auf den neuen Vortrag im Schriftsatz vom 21.09.2020, ergänzt durch den Schriftsatz vom 24.11.2020 ist die Beklagte der ihr obliegenden sekundären Darlegungslast in größerem Umfang als bisher nachgekommen, weil sie zur Organisationsstruktur, der Arbeitsorganisation, den damaligen internen Zuständigkeiten, den Berichtspflichten und den von ihr veranlassten Ermittlungen näher vorgetragen hat. Die Beklagte argumentiert allerdings damit, dass schon keine belastbaren Anhaltspunkte für eine Kenntnis der Vorstandsmitglieder im aktienrechtlichen Sinn oder von potentiellen Repräsentanten bestünden, weshalb ein vertieftes Vorgehen nicht angezeigt sei und keine Verpflichtung zu weiteren Aufklärungsmaßnahmen von Seiten des Aufsichtsrats bestehe. Dies teilt der Senat aus nachfolgenden Gründen nicht. Auch die subjektiven Voraussetzungen für eine Haftung nach § 826 BGB sind erfüllt.
aa) Zur Produktion erklärt die Beklagte nunmehr, dass bereits in den Jahren 2005/2006 vom Produkt-Strategie-Komitee, dem auch mindestens ein nicht namentlich benannter Vorstand angehört hat, die grundsätzliche Entscheidung getroffen worden ist, dass in bestimmten Fahrzeugen der Beklagten der von der Konzernmutter entwickelte Motor vom Typ EA 189 eingebaut wird, was letztlich ab 2007 zu einem serienmäßigen Einsatz geführt hat. Die Beklagte behauptet dazu weiter, dass weder Organe noch Repräsentanten, nicht einmal Werksmitarbeiter der Beklagten Kenntnis von den Details des Motors, insbesondere der Software gehabt hätten, weil diese verriegelt und verschlossen gewesen sei und so vom Konzernserver in der Fertigung aufgespielt worden sei. Dies hält der Senat - wie oben bereits ausgeführt - nicht für plausibel. Es ist nicht nachvollziehbar, dass das oben genannte Komitee, dem auch mindestens ein Vorstandsmitglied der Beklagten angehört hat, den Einsatz eines Motors in eigenen Fahrzeugen befürwortet, sich aber keine Gedanken darüber macht, wie der Motor funktioniert, welche Eigenschaften er hat, und wie es gelingt, die entsprechenden Stickoxidgrenzwerte einzuhalten. Bei dem Motor handelt es sich um das Kernstück des Fahrzeugs und bei der Verwendung um eine grundlegende, eine Vielzahl von Fahrzeugen betreffende Strategieentscheidung, die mit erheblichen persönlichen Haftungsrisiken für die entscheidenden Personen verbunden ist. Da die Beklagte auch selbst Dieselmotoren entwickelt und die Frage, wie die gesetzlichen Grenzwerte technisch und wirtschaftlich kostengünstig eingehalten werden können, unter Kfz-Herstellern zu der damaligen Zeit ein Hauptthema war, kann nicht nachvollzogen werden, dass die Beklagte kein Interesse daran hatte, zu wissen, wie es der Mutterkonzern geschafft hat, die strengen Grenzwerte einzuhalten. Es scheint ausgeschlossen, dass die Beklagte den von der Konzernmutter entwickelten Motor ohne eigene Prüfung und Kenntnis der wesentlichen Merkmale „blind“ in ihre eigenen Fahrzeuge eingebaut hat. Es liegt vielmehr auf der Hand, dass im Unternehmen der Beklagten mindestens ein handelnder Repräsentant an der Entscheidung über die Verwendung der unzulässigen Abschalteinrichtung beteiligt war. Dies folgt schon aus der Tragweite der Entscheidung, aber auch aus den genannten Umständen.
Deshalb kann auch vorliegend - entgegen den Ausführungen im Rechtsgutachten G., Seite 17 ff. - in Bezug auf die Frage der personalen Anknüpfung - wie es der BGH in dem Urteil vom 25.05.2020 getan hat - auf die bewusste Beteiligung eines Organmitglieds an der grundlegenden strategischen Entscheidung abgestellt werden.
bb) Die Beklagte kann sich nicht darauf zurückziehen, dass sie den Motor samt Software nur als externes Produkt von der V.-AG zugekauft hat und dieser vertrauen durfte. Der Bundesgerichtshof hat in der von der Beklagten zitierten Entscheidung vom 03.06.1975, Az. VI ZR 192/73, ausgeführt, dass einem Unternehmer, der für die von ihm hergestellten Geräte vorgefertigte Einbauteile verwendet, grundsätzlich die Sorgfaltspflichten eines Herstellers obliegen. Davon kann es zwar Ausnahmen geben, wovon hier allerdings schon wegen der Bedeutung des Motors für das Fahrzeug keine Rede sein kann. Die Beklagte durfte sich vorliegend nicht allein auf die fachliche Betriebserfahrung ihrer Konzernmutter und deren durchgeführte Prüfungen verlassen. Sie hätte vielmehr die konkreten Eigenschaften bei der V.-AG erfragen müssen und sich selbst von der mangelfreien Beschaffenheit des Motors im Hinblick auf ihre eigene Verantwortlichkeit im EG-Typgenehmigungsverfahren überzeugen müssen. Der Auffassung von Prof. Dr. G. auf Seite 22 ff. des Gutachtens folgt der Senat aus den obigen Gründen nicht. Die Beklagte ist als Herstellerin wie dargelegt für ihre Angaben im Typgenehmigungsverfahren verantwortlich und es liegt keine „Drittprüfung“ (S. 28 des Gutachtens) vor, wenn die Prüfung im Auftrag und zwingend im Namen des Herstellers, also der Beklagten erfolgt.
Was das Zulassungsverfahren betrifft, zu dem die Beklagte vorträgt, dass hier nur Mitarbeiter der V.-AG gehandelt hätten, wird auf die obigen Ausführungen verwiesen. Die Beklagte hat gegenüber der EG-Typgenehmigungsbehörde eine eigene Erklärung abgegeben und zumindest konkludent erklärt, dass die dem Technischen Dienst von der V.-AG vorgestellten Fahrzeuge keine unzulässigen Abschalteinrichtungen enthalten und den Gesetzen entsprechen. Da dies tatsächlich nicht zutraf, ist das Verhalten der Beklagten als vorsätzlich zu bewerten, weil die Folgen des Handelns bewusst in Kauf genommen worden sind. Selbst wenn man dies nicht so sehen wollte, hält der Senat aufgrund der Tatsache, dass die Beklagte die Durchführung des EG-Typengnehmigungsverfahrens vollständig und ohne weitere Kontrolle der Konzernmutter überlassen hat, eine Zurechnung des bei der V.-AG zweifelsfrei vorhandenen Täuschungs- und Schädigungsvorsatzes entsprechend § 31 BGB für gerechtfertigt.
f) Auf der Basis der getroffenen Feststellungen ist damit von einem Schädigungsvorsatz der handelnden Personen auszugehen, die von den sittenwidrigen, strategischen Unternehmensentscheidungen Kenntnis hatten. Nicht nur der objektive Tatbestand, sondern auch sämtliche für den Vorsatz nach § 826 BGB erforderlichen Wissens- und Wollenselemente sind damit bei den entsprechenden Entscheidungsträgern verwirklicht. Vorstandsmitglieder oder Repräsentanten, die in eigener oder zurechenbarer Kenntnis der Funktionsweise der Software ihren serienmäßigen Einsatz in Motoren anordnen oder nicht unterbinden, billigen ihn auch und sind sich der Schädigung der späteren Fahrzeugerwerber bewusst.
2. Die Beklagte hat gemäß §§ 826, 31, 249 ff. BGB der Klägerin sämtliche aus der sittenwidrigen Schädigung resultierende Schäden zu ersetzen.
Die Klägerin kann damit den von ihr aufgewendeten Kaufpreis Zug um Zug gegen Rückgabe und Übereignung des erlangten Fahrzeugs an die Beklagte zurückverlangen. Sie muss sich aber dasjenige anrechnen lassen, was ihr durch das schädigende Ereignis zugeflossen ist. Dass die Grundsätze der Vorteilsausgleichung auch bei einem Anspruch aus vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung gemäß § 826 BGB anzuwenden sind, hat der Bundesgerichtshof in der Entscheidung vom 25.05.2020, Az. VI ZR 252/19, ausdrücklich bestätigt, Rn. 66 ff. Er hat auch ausgeführt, dass dem keine europarechtlichen Normen entgegenstehen. Der Senat nimmt auf die Ausführungen des Bundesgerichtshofs Bezug, aaO, Rn. 73 ff. Geklärt ist mit dieser Entscheidung weiter, dass die grundsätzlich vom Landgericht vorgenommene lineare Berechnungsweise nach der Formel Bruttokaufpreis x gefahrene Kilometer / Restlaufleistung keinen rechtlichen Bedenken unterliegt und die Höhe der gezogenen Vorteile nach § 287 ZPO geschätzt werden kann. Die zu erwartende Gesamtlaufleistung schätzt der Senat im Rahmen des ihm eingeräumten Ermessens gemäß § 287 ZPO wie das Landgericht auf 300.000 km.
Vorliegend hatte das Fahrzeug beim Erwerb eine Laufleistung von 112.650 km und zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat von 155.815 km. Dies wurde von der Beklagten im Termin nicht bestritten. Unter Zugrundelegung des Kaufpreises von 12.000,00 € und einer Restlaufleistung bei Kauf von (300.000 km - 112.650 km =) 187.350 km ergibt sich damit eine Nutzungsentschädigung für die gefahrenen Kilometer in Höhe von 2.764,77 €. Es verbleibt somit ein Rückzahlungsanspruch in Höhe von 9.235,23 €.
3. Der Klägerin stehen Zinsen ab Rechtshängigkeit zu, §§ 291, 288 Abs. 1 BGB. Insoweit war das Urteil des Landgerichts geringfügig abzuändern, weil es Zinsen ab dem Tag der Zustellung der Klage, dem 16.03.2018, zugesprochen hat. Tatsächlich fallen Zinsen aber gemäß § 187 Abs. 1 BGB erst ab dem 17.03.2018 an, da der Tag der Zustellung nicht mit eingerechnet wird.
4. Die Entscheidung des Landgerichts zu den zugesprochenen Rechtsanwaltskosten begegnet keinen rechtlichen Bedenken. Die Klägerin kann die Freistellung von anfallenden außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten als Teil des Schadens nach § 826, 249 ff. BGB verlangen. Der Anspruch besteht in der vom Landgericht zugesprochenen Höhe. Die Beklagte hat die Klägerin von den vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in der ausgeurteilten Höhe zu freizustellen, weil sie - entgegen der Auffassung der Beklagten - zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung erforderlich und zweckmäßig waren. Angesichts der sich stellenden Rechtsfragen ist es nicht zu beanstanden, wenn sich die Klägerin anwaltlich vorab hat beraten lassen und zunächst mit anwaltlicher Hilfe versucht hat, vorgerichtlich eine gütliche Einigung zu erzielen. Da sich die Beklagte im Lauf der Zeit durchaus auf außergerichtliche Lösungen eingelassen hat, musste ein betroffener Käufer nicht von vornherein davon ausgehen, dass ein anwaltliches Aufforderungsschreiben zwecklos ist.
III.
Die Kostenquote entspricht dem jeweiligen Obsiegen bzw. Unterliegen der Parteien, §§ 92 Abs. 2 Nr. 1, 97 Abs. 1 ZPO. Die Beklagte ist im Berufungsverfahren im Wesentlichen unterlegen. Das Obsiegen liegt bei knapp 3% und ist daher geringfügig, zumal keine Gebührenstufe überschritten wird.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, Nr. 711 ZPO.
Die Revision ist gemäß § 542 Abs. 2 S. 1 ZPO zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen. Einige wesentliche Punkte sind zwar durch die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 25.05.2020 geklärt, offen und in der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte kontrovers beurteilt wird jedoch die Frage, ob die Beklagte A.-AG als Herstellerin der von ihr in den Verkehr gebrachten Fahrzeuge haftet (vgl. die von der Beklagten im Schriftsatz vom 24.11.2020 zitierten Entscheidung des OLG Frankfurt einerseits - eine Haftung der Beklagten bejahend dagegen Senatsurteil vom 08.06.2020, Az. 21 U 4760/19, das von der Beklagten trotz Revisionszulassung nicht angefochten wurde).
Verkündet am 30.11.2020
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Tenor
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Landgerichts Ingolstadt vom 22.11.2019, Az. 41 O 2378/18, teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 18.433,86 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 19.02.2019 Zug um Zug gegen Rückgabe und Übereignung des Fahrzeugs Audi A 4 mit der Fahrgestell - nummer …32 zu zahlen.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Im Übrigen werden die Berufung des Klägers und der Beklagten zurückgewiesen.
III. Von den Kosten des Rechtsstreits der ersten Instanz haben der Kläger 64% und die Beklagte 36%, von den Kosten des Rechtsstreits der zweiten Instanz haben der Kläger 70%, die Beklagte 30% zu tragen.
IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Jede Partei kann die Vollstreckung durch Leistung einer Sicherheit in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die vollstreckende Partei Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
V. Die Revision gegen dieses Urteil wird zugelassen.
Gründe
I.
Der Kläger macht gegen die Beklagte Ansprüche im Zusammenhang mit dem Erwerb eines vom sog. Dieselabgasskandal betroffenen Fahrzeugs geltend.
Gemäß Auftragsbestätigung vom 14.02.2011, Anlage K 1, erwarb der Kläger den hier streitgegenständlichen Pkw Audi A 4 Ambition Avant 2.0 TDI quattro, mit 170 PS als Neuwagen mit einem km-Stand von 0 km zu einem Kaufpreis von 39.608,19 €. Bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat der Kläger mit dem Fahrzeug 217.860 km zurückgelegt. Der Kläger hat den Kaufpreis des Fahrzeugs finanziert, wodurch Kreditkosten in Höhe von 3.748,32 € und ein weiterer Zinsaufwand von 3.845,82 € angefallen sind. Von dem mit dem Darlehen vereinbarten verbrieften Rückgaberecht des Fahrzeugs hat der Kläger keinen Gebrauch gemacht.
Zum Zeitpunkt des Kaufs befand sich in dem Fahrzeug, das von der Beklagten hergestellt ist, ein von der V.-AG (V.-AG) entwickelter und produzierter Dieselmotor des Typs EA 189 (EU5) nebst einer Motorsteuerungssoftware, die erkennt, ob das Fahrzeug auf dem Prüfstand dem Neuen Europäischen Fahrzyklus unterzogen wird. Es wird in diesem Fall in den Abgasrückführungsmodus 1, einen Stickoxidoptimierten Modus, geschaltet. In diesem Modus findet eine Abgasrückführung mit niedrigem Stickoxidausstoß statt. Im normalen Fahrbetrieb außerhalb des Prüfstandes schaltet der Motor dagegen in den Abgasrückführungsmodus 0, bei dem die Abgasrückführungsrate geringer und der Stickoxidausstoß höher ist. Grundlage der Erteilung der Typgenehmigung sind die Abgasmessungen auf dem Prüfstand.
Die Beklagte, hatte, wie sie in der Berufung unbestritten vorgetragen hat, in den Jahren 2005/ 2006 durch ihr Produkt-Strategie-Komitee, welches sich aus Mitgliedern des Vorstands sowie Mitgliedern aus den Fachabteilungen zusammensetzte, beschlossen, dass der von VW entwickelte Motor in bestimmten Fahrzeugen der Beklagten serienmäßig eingebaut wird. Der erste Einsatz erfolgte im Jahr 2007. Die Beklagte erwarb den Motor samt Software als externes Produkt von der V.-AG zur Verwendung in ihren Fahrzeugen. Die Hardware der Motorsteuerungsgeräte erhielt die Beklagte von den Zulieferern B. oder C. Ohne Einflussmöglichkeit von Mitarbeitern der Beklagten wurde die auf das jeweilige Fahrzeug abgestimmte Software ab 2008 auf den automatisierten Fertigungslinien der Beklagten vom Konzernserver der V.-AG heruntergeladen. Die Software war dabei zur Vermeidung von Einflussnahme außerhalb der Entwicklungsverantwortung verriegelt.
Im Auftrag der Beklagten organisierte die Konzernmutter das EGTypgenehmigungsverfahren. Von Mitarbeitern der V.-AG wurden die entsprechenden Fahrzeuge der Beklagten dem Technischen Dienst vorgestellt, die Beklagte bekam lediglich die Rechnung und die Protokolle mit den für die Emissions-Typgenehmigungsverfahren erforderlichen Testergebnisse.
Die Verwendung der von der Beklagten als „Umschaltlogik“ bezeichneten Steuerungssoftware wurde dem Kraftfahrt-Bundesamt weder von der V.-AG noch von der Beklagten im Rahmen der Tests zur Erreichung der Typgenehmigung offengelegt. Erst am 22.09.2015 veröffentlichte die V.-AG eine Adhoc-Mitteilung, mit der Auffälligkeiten bei Fahrzeugen mit dem Motor vom Typ EA 189 eingeräumt wurden. Dem Kraftfahrt-Bundesamt war es mit den damals zur Verfügung stehenden Tests nicht möglich, die Umschaltlogik zu erkennen.
Nach Bekanntwerden der Softwareproblematik verpflichtete das Kraftfahrtbundesamt die Beklagte zur Entfernung der als unzulässige Abschalteinrichtung qualifizierten „Umschaltlogik“ und dazu, geeignete Maßnahmen zur Wiederherstellung der Vorschriftsmäßigkeit zu ergreifen. Daraufhin wurde ein Software-Update entwickelt, welches im Jahr 2017 auf das Fahrzeug des Klägers aufgespielt worden ist.
Mit Anwaltsschreiben vom 15.12.2018 forderten die Prozessbevollmächtigte der Klagepartei die Beklagte vergeblich zur Rückzahlung des Kaufpreises, dort beziffert mit 39.608,19 €, abzüglich einer Nutzungsentschädigung (wobei der Kilometerstand des Fahrzeugs aber nicht mitgeteilt wurde), Zug um Zug gegen Rückgabe und Übereignung des Fahrzeugs sowie vorgerichtlicher Anwaltskosten bis zum 21.12.2018 auf. Die auf den 21.12.2018 datierte Klage ging am 22.12.2018 bei Gericht ein und wurde der Beklagten am 18.02.2019 zugestellt.
Der Kläger vertritt die Ansicht, dass er von der Beklagten vorsätzlich sittenwidrig geschädigt worden sei. Der im Fahrzeug verbaute Motor sei mit Wissen des Vorstands der Beklagten mit einer Betrugssoftware versehen worden, um die Behörden über die Einhaltung der gesetzlichen Abgasgrenzwerte zu täuschen und auf diese Weise preiswerte und scheinbar saubere Dieselfahrzeuge in hoher Stückzahl veräußern zu können. Hierdurch hätten sich die Beklagte und die V.-AG gegenüber der Konkurrenz über den geringeren Preis einen entscheidenden Marktvorteil verschafft. Die Entwicklungsabteilung der V.-AG und der Beklagten hätten nicht ohne Kenntnis des Vorstandes entschieden, die sog. „B.-Software“ weiter zu entwickeln und serienmäßig in den Motorserien der konzernangehörigen Fahrzeuge einzubauen. Auch sei aufgrund von Überkreuzregelungen im Vorstand der Beklagten und der V.-AG, der arbeitsteiligen Kooperation, der komplexen Logistik und Anpassung der Technik an die Fahrzeuge sowie der bekannten Problematik der Einhaltung der Abgaswerte ohne Langzeitschäden an Motor und Partikelfilter von einer gemeinsamen und bewussten Entscheidung auf der Vorstandsebene der Beklagten und der V.-AG auszugehen, die Betrugssoftware trotz der Warnungen der Fa. B. in die Fahrzeuge zu implementieren. Auch aufgrund der Organisationsstruktur der Beklagten sei ausgeschlossen, dass die Bestellung, Implementierung, Adaption und Bezahlung der Betrugssoftware nicht auf der höchsten Ebene des Unternehmens veranlasst worden sei.
Der Kläger habe ein Fahrzeug erhalten, das wegen des überhöhten Schadstoffausstoßes nicht über eine gültige Genehmigung auf der Grundlage der EG-Typgenehmigung verfüge. Damit habe die Gefahr bestanden, dass das Fahrzeug stillgelegt werden muss. Das Fahrzeug habe zudem einen erheblichen Wertverlust erlitten. Der Kläger hätte den Wagen nicht gekauft, wenn er von der Manipulation der Abgaswerte im Prüfverfahren und den dadurch drohenden Folgen gewusst hätte.
Die Beklagte hingegen hält Schadensersatzansprüche des Klägers nicht für gegeben. Sie meint, das Fahrzeug enthalte gar keine unzulässige Abschalteinrichtung und bestreitet, dass dem Kläger ein Schaden entstanden sei. Eine sittenwidrige Schädigung durch die Beklagte liege nicht vor, auch fehle es an der Kausalität zwischen angeblicher Täuschung und Schaden. Jedenfalls sei ein etwaiger Schaden durch das Aufspielen des Updates entfallen. Eine - unterstellt von der Beklagten verursachte - Fehlvorstellung des Klägers über die Schadstoffemission sei für dessen Kaufentscheidung nicht maßgeblich gewesen. Eine Haftung der Beklagten scheide auch deshalb aus, weil sie den Motor nicht entwickelt habe. Ihr seien weder Kenntnisse noch Entscheidungen der V.-AG zuzurechnen. Konkret verantwortliche Personen könne der Kläger nicht benennen, schon daran scheitere die Haftung, zumal die Beklagte nur für ihre Organe einzustehen habe. Eine sekundäre Darlegungslast treffe die Beklagte nicht. Abgesehen davon hätte die Beklagte nach dem Stand der Ermittlungen keine Erkenntnisse dazu, dass Vorstandsmitglieder im aktienrechtlichen Sinn die Entwicklung der Umschaltlogik für den Motor EA 189 in Auftrag gegeben oder gebilligt hätten.
Das Landgericht hat der Klage mit Urteil vom 22.11.2019, berichtigt mit Beschluss vom 07.01.2020, im Wesentlichen stattgegeben. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass sich der klägerische Anspruch u.a. aus § 826 BGB ergebe. Die Beklagte habe durch das Inverkehrbringen des Fahrzeugs unter Verschweigen der gesetzeswidrigen Softwareprogrammierung dem Kläger vorsätzlich und in gegen die guten Sitten verstoßender Weise einen Schaden zugefügt. Die schädigende Handlung sei der Beklagten zuzurechnen. Die jeweils verantwortlichen Mitarbeiter der Beklagten hätten vorsätzlich eine falsche Übereinstimmungsbescheinigung für das Fahrzeug ausgestellt. Die Täuschungshandlung sei nur vorsätzlich denkbar, weil der Beklagten als etablierte Fahrzeugherstellerin unter arbeitsteiligem Einbau des von ihrem Mutterkonzern hergestellten Motors die Kenntnis der Programmierung ihrer eigenen Fahrzeuge sowie der für sie einschlägigen Rechtsnormen unterstellt werden könne. Im Übrigen sei die Beklagte auch der ihr obliegenden sekundären Darlegungslast nicht ausreichend nachgekommen. Welcher Repräsentant der Beklagten vorsätzlich gehandelt habe, müsse nicht konkret festgestellt werden. Das Verhalten der Beklagten verstoße gegen die guten Sitten, weil die Täuschung der Beklagten der Kostensenkung gedient habe und durch scheinbar umweltfreundliche Prüfstandwerte Wettbewerbsvorteile erzielt worden seien. Durch die Bindung an den nicht erwartungsgerechten Vertrag sei dem Kläger ein Schaden entstanden, der den Anspruch auf Rückabwicklung auslöse. Der Kläger müsse sich aber den Abzug von Gebrauchsvorteilen in Form einer Nutzungsentschädigung gefallen lassen. Der Anspruch sei nicht deshalb ausgeschlossen, weil der Kläger von seinem verbrieften Rückgaberecht keinen Gebrauch gemacht hat. Nach fruchtloser Mahnung sei der klägerische Anspruch zu verzinsen. Deliktische Zinsen könnten jedoch nicht verlangt werden, der Freistellungsanspruch für außergerichtliche Rechtsanwaltskosten sei nur in Höhe einer 1,3 Geschäftsgebühr zuzusprechen. Ein Annahmeverzug der Beklagten wurde festgestellt.
Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf die tatsächlichen Feststellungen im landgerichtlichen Urteil Bezug genommen, § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO.
Gegen das landgerichtliche Urteil haben beide Parteien Berufung eingelegt. Der Kläger hat seine Berufung teilweise, nämlich in Bezug auf die geltend gemachten deliktischen Zinsen, zurückgenommen (Schriftsatz vom 05.10.2020, Bl. 510 d.A.)
Der Kläger wendet sich mit seiner Berufung gegen den Abzug einer Nutzungsentschädigung. Ein solcher Abzug dürfe hier nicht vorgenommen werden, weil der Kläger das Fahrzeug mangels fehlender EU-Typgenehmigung nicht hätte nutzen dürfen. Die Beklagte, die den Kläger getäuscht habe, dürfe nicht für jeden Kilometer Fahrt belohnt werden, das folge auch aus dem europarechtlichen Effektivitätsgrundsatz. Im Einzelnen wird auf die Berufungsbegründung des Klägers, Schriftsatz vom 30.01.2020, Bl. 327 ff. d.A., Bezug genommen.
Was die Berufung der Beklagten betrifft, so verteidigt der Kläger die erstinstanzliche Entscheidung und ist der Meinung, dass weder eine Verletzung von Verfahrensrecht noch eine Verletzung materiellen Rechts durch das Landgericht vorliege. Dem Kläger sei - wie das Landgericht zutreffend festgestellt habe - ein Schaden entstanden, weil der Kläger ein Fahrzeug erworben habe, das nicht seinen Vorstellungen entsprochen habe. Der Schaden sei auch nicht durch das Software-Update entfallen. Die Beweislastverteilung im Rahmen der Kausalität sei nicht verkannt worden. Auch die zugesprochenen Nebenentscheidungen seien nicht zu beanstanden. Im Einzelnen wird auf die Berufungserwiderung, Schriftsatz vom 28.08.2020, Bl. 494 ff. d.A., verwiesen.
Der Kläger beantragt,
unter Abänderung des Urteils des Landgerichts Ingolstadt, Az. 41 O 2378/18, vom 22.11.2019 die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger weitere 25.533,85 Euro zzgl. Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 22.12.2018 zu zahlen.
Ferner beantragt er, die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
die Berufung des Klägers zurückzuweisen und das am 22.11.2019 verkündete Urteil des Landgerichts Ingolstadt, 41 O 2378/18 im Umfang der Beschwer der Beklagten abzuändern und die Klage vollumfänglich abzuweisen.
Die Beklagte ist der Ansicht, dass das Landgericht der Klage rechtsfehlerhaft stattgegeben und zu Unrecht einen Schadensersatzanspruch bejaht habe. In der Berufungsbegründung vom 27.02.2020 wiederholt die Beklage im Wesentlichen ihren bereits erstinstanzlich erfolgten Vortrag und stellt insbesondere darauf ab, dass die Beklagte nur Herstellerin des Fahrzeugs sei, den im Fahrzeug verbauten Motor des Typs EA 189 aber allein die V.-AG entwickelt habe. Bei dem vorliegend dem Kläger eingeräumten verbrieften Rückgaberecht im Rahmen der Finanzierung scheide auch ein kausaler Schaden des Klägers aus.
In den Schriftsätzen vom 13.08.2020, Bl. 408 ff. d.A., und vom 05.10.2020, Bl. 509 ff. d.A., vertieft die Beklagte ihren Vortrag und legt dar, weshalb ihrer Meinung nach die inzwischen ergangene Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur Haftung der V.-AG auf vorliegende Fallgestaltung nicht übertragen werden könne. Die Beklagte habe von der Programmierung keine Kenntnis gehabt, weil sie nicht an der Entwicklung des Motors beteiligt gewesen sei. Sie meint, sie habe der V.-AG vertrauen können und keine Verpflichtung gehabt, eigene Tests durchzuführen. Die Beklagte habe bis heute keine belastbaren Anhaltspunkte dafür, dass Vorstandsmitglieder im aktienrechtlichen Sinne oder potentielle Repräsentanten bei Inverkehrbringen des Fahrzeugs oder bei Kaufvertragsabschluss Kenntnis von der „Umschaltlogik“ gehabt hätten. Die Haftung der Beklagten könne weder auf angebliche Sorgfaltspflichtverletzungen, noch auf vermeintliches Organisationsverschulden noch auf eine konzernweite Wissenszusammenrechnung gestützt werden. Insoweit verweist die Beklagte auf ein von ihr in Auftrag gegebenes Rechtsgutachten von Prof. Dr. G. vom 21.09.2020.
Die Berufung des Klägers sei jedenfalls unbegründet. Soweit das Landgericht die Klage abgewiesen hat, sei dies zutreffend und verfahrenssowie rechtsfehlerfrei geschehen. Der Nutzungsersatz sei im Wege der Vorteilsanrechnung bei der Rückabwicklung in Abzug zu bringen. Der Verzicht auf eine Anrechnung hätte zur Folge, dass die Klagepartei besser stünde, als ohne das schädigende Ereignis, was gegen das schadensrechtliche Bereicherungsverbot verstoße.
Im Einzelnen wird auf die Berufungsbegründungen sowie die weiteren Schriftsätze Bezug genommen.
Der Senat hat über den Rechtsstreit am 19.10.2020 mündlich verhandelt. In diesem Termin wurde der Kläger informatorisch angehört. Insoweit wird auf das Sitzungsprotokoll, Bl. 569 ff. d.A., verwiesen. Mit Beschluss vom 30.10.2020 hat der Senat die vom unterbevollmächtigten Klägervertreter in der Sitzung beantragte vorsorgliche Schriftsatzfrist auf den Schriftsatz der Beklagten vom 07.10.2020 abgelehnt, Bl. 573 ff. d.A..
II.
Die zulässige Berufung des Klägers ist unbegründet, die Berufung der Beklagten hat nur in soweit Erfolg, als sich die vom Kaufpreis in Abzug zu bringende Nutzungsentschädigung aufgrund der unstreitig erfolgten weiteren Nutzung des Fahrzeugs erhöht hat. Erfolg hat die Berufung weiter in Bezug auf vom Landgericht getroffene Nebenentscheidungen, nämlich den festgestellten Annahmeverzug, einen Teil der Zinsen sowie der Freistellung von außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten.
Im Ergebnis hat das Landgericht aber zur Recht angenommen, dass die Beklagte der Klagepartei nach § 826 BGB haftet. Eine Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 27 Abs. 1 EG-FGV kommt hingegen nicht in Betracht, da die Normen der EG-FGV nicht das wirtschaftliche Selbstbestimmungsrecht von einzelnen Käufern schützt, vgl. BGH, Urteil vom 30.07.2020, Az. VI ZR 5/20.
A.
Berufung der Beklagten:
Das neue tatsächliche Vorbringen der Beklagten zur Organisationsstruktur, der Arbeitsorganisation, den damaligen internen Zuständigkeiten, den Berichtspflichten und den von ihr veranlassten Ermittlungen im Schriftsatz vom 05.10.2020 war der Entscheidung zugrunde zu legen, weil der Kläger dieses Vorbringen nicht bestritten hat und unstreitiges Vorbringen nicht verspätet ist. Wie im Beschluss des Senats vom 30.10.2020 ausgeführt, war dem Kläger die im Termin zur mündlichen Verhandlung vorsorglich beantragte Schriftsatzfrist nicht zu gewähren, da keine sachlichen Gründe vorgetragen wurden, weswegen die Klagepartei sich nicht bis zum Termin zum Vorbringen der Beklagten hätte äußern können.
1. In weiten Teilen kann bezüglich der Haftung der Beklagten nach § 826 BGB auf die grundsätzliche Entscheidung des Bundesgerichtshofs in Bezug auf die Konzernmutter, die V.-AG, Bezug genommen werden, Urteil vom 25.05.2020, Az. VI ZR 252/19. Die dort getroffenen Aussagen zur Frage der Täuschung, der Sittenwidrigkeit, des Vorliegens eines Schadens, der Kausalität, der Verpflichtung zu einer sekundären Darlegungslast und Teilen der subjektiven Tatbestandsvoraussetzungen können auch auf vorliegende Fallgestaltung übertragen werden. Gründe, die Sach- und Rechtslage vorliegend anders zu beurteilen, sind nicht ersichtlich.
Zentraler und höchstrichterlich noch nicht geklärter Streitpunkt des Verfahrens ist die Frage, ob für den unstreitigen Einsatz der „Umschaltlogik“ im Fahrzeug des Klägers auch die Beklagte deliktisch haftet oder nur die in diesem Verfahren nicht beteiligte V.-AG. Der Senat sieht eine Haftung der hiesigen Beklagten nach §§ 826, 31 BGB gegenüber der Klagepartei nicht allein aufgrund einer Zurechnung fremden Fehlverhaltens, sondern im Kern aufgrund eigenen deliktischen Handelns. Dies beruht auf dem von der Beklagten zu verantwortenden Inverkehrbringen des streitgegenständlichen Fahrzeugs, in dem ursprünglich eine unzulässige Abschalteinrichtung vorhanden war.
a) Das Inverkehrbringen von Fahrzeugen mit einem Motor, der über eine nicht offen gelegte Abschalteinrichtung bzw. Umschaltlogik verfügt, stellt eine konkludente Täuschung der Klagepartei durch die Beklagte dar, weil die Käufer der bemakelten Fahrzeuge, gleichgültig, ob sie das Fahrzeug neu oder gebraucht erwarben, arglos davon ausgingen, dass die gesetzlichen Vorgaben eingehalten werden. Die Käufer durften darauf vertrauen, dass das erworbene Fahrzeug entsprechend seinem objektiven Verwendungszweck im Straßenverkehr eingesetzt werden kann, über eine uneingeschränkte Betriebserlaubnis verfügt und die erforderlichen Zulassungs- und Genehmigungsverfahren rechtmäßig durchlaufen worden sind. Tatsächlich enthielt der Motor des streitgegenständlichen Fahrzeugs jedoch zum Zeitpunkt des Kaufs eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 S. 1 VO (EG) 715/2007, weil der Stickoxidausstoß auf dem Prüfstand gegenüber dem normalen Fahrbetrieb gezielt durch den Einsatz einer entsprechenden Motorsteuerungssoftware reduziert worden ist. Die Technik war nicht nur zweifelsfrei unzulässig, sie diente vielmehr der gezielten Täuschung über die Einhaltung der zulässigen Abgaswerte. Dies hatte zur Folge, dass die Gefahr einer Betriebsuntersagung durch die für die Zulassung zum Straßenverkehr zuständige Behörde bestand und ein weiterer Betrieb des Fahrzeugs im öffentlichen Straßenverkehr möglicherweise nicht (mehr) möglich war, vgl. BGH Urteil vom 25.05.2020, Az. VI ZR 252/19.
b) Durch diese Täuschung entstand dem Kläger als Käufer eines vom sog. Dieselabgasskandal betroffenen Fahrzeugs ein Schaden, der in dem Abschluss des Kaufvertrags als ungewollte Verbindlichkeit zu sehen ist. Dieser Schaden ist auch nicht durch das später durchgeführte Software-Update entfallen, vgl. BGH aaO vom 25.05.20, Rn. 44 ff.
c) Der Schaden in Form des Kaufvertragsabschlusses wurde durch das Handeln der Beklagten verursacht. Die haftungsbegründende Kausalität zwischen schädigender Handlung der Beklagten und dem Eintritt des Schadens beim Kläger ist zu bejahen, weil bereits die allgemeine Lebenserfahrung die Annahme rechtfertigt, dass ein Käufer, der ein Fahrzeug zur eigenen Nutzung erwirbt, bei der bestehenden Gefahr einer Betriebsbeschränkung oder -untersagung von dem Erwerb des Fahrzeugs abgesehen hätte, vgl. BGH aaO Rn 51. Der Kläger wurde vom Senat im Termin vom 19.10.2020 informatorisch angehört, wonach sich keine Zweifel an der Kausalität ergaben. Der Kläger gab explizit an, dass er den Wagen nicht gekauft hätte, wenn er zum Zeitpunkt des Erwerbs im Jahr 2011 gewusst hätte, dass darin eine unzulässige Abschalteinrichtung verbaut ist. Befragt, ob er das Fahrzeug erworben hätte, wenn er gewusst hätte, dass gegebenenfalls auch eine Stilllegung des Fahrzeugs gedroht hätte, erklärte der Kläger: „Dann hätte ich das Fahrzeug garantiert nicht gekauft“. Der Kläger gab weiter auch nachvollziehbare Gründe dafür an, weshalb er von dem ihm eingeräumten vertraglichen Rückgaberecht keinen Gebrauch gemacht hat. Die Schlusszahlung habe nämlich nur noch 5.900 € betragen und der Wagen sei trotz der Betroffenheit vom Abgasskandal deutlich mehr wert gewesen.
d) Das Verhalten der Beklagten war sittenwidrig, auch wenn sie anders als die V.-AG den Motor EA 189 nicht entwickelt haben sollte.
Sittenwidrig ist ein Verhalten, das nach seinem Gesamtcharakter, der durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Dafür genügt es im Allgemeinen nicht, dass der Handelnde eine Pflicht verletzt und einen Vermögensschaden hervorruft, vielmehr muss eine besondere Verwerflichkeit seines Verhaltens hinzutreten, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zutage getretenen Gesinnung oder den eingetretenen Folgen ergeben kann, ständige Rechtsprechung des BGH, Urteil vom 28.06.2016, Az. VI ZR 536/15, vom 07.05.2019, Az. VI ZR 512/17, zuletzt 25.05.2020, Az. VI ZR 252/19.
Nicht nur das Verhalten der V.-AG, sondern auch der hiesigen Beklagten ist objektiv als sittenwidrig zu qualifizieren, weil auch die beklagte A.-AG auf der Grundlage einer strategischen Entscheidung im eigenen Kosten- und Gewinninteresse Fahrzeuge in den Verkehr gebracht hat, deren Motorsteuerungssoftware bewusst und gewollt so programmiert war, dass die gesetzlichen Abgaswerte mittels einer unzulässigen Abschalteinrichtung nur auf dem Prüfstand eingehalten wurden. Damit ging eine erhöhte Belastung der Umwelt mit Stickoxiden einher und es bestand die Gefahr einer Betriebsbeschränkung oder - untersagung der betroffenen Fahrzeuge. Ein solches Verhalten ist im Verhältnis zu einer Person, die eines der bemakelten Fahrzeuge in Unkenntnis der illegalen Abschalteinrichtung erwirbt, besonders verwerflich und mit den grundlegenden Wertungen der Rechts- und Sittenordnung nicht zu vereinbaren, BGH aaO Rn. 16.
Auch die hier beklagte A.-AG hat nach Überzeugung des Senats das an sich erlaubte Ziel der Gewinnerhöhung ausschließlich dadurch erreicht, dass sie auf der Grundlage einer strategischen Unternehmensentscheidung die zuständige Typgenehmigungsbehörde und die für sie handelnden Technischen Dienste arglistig getäuscht hat. Die Einwände der Beklagten, dass das Zulassungsverfahren durch die V.-AG erfolgt ist und die Beklagte nur die Rechnungen und die für das Typgenehmigungsverfahren erforderlichen Testergebnisse erhalten hat, greifen aus nachfolgenden Gründen nicht durch.
aa) Verantwortlich für alle Belange des EG-Typgenehmigungsverfahrens und für die Übereinstimmung der Produktion bleibt die Beklagte als Herstellerin ihrer Fahrzeuge, vgl. Art. 5 der RL 2007/46/EG. Sie kann sich nicht darauf berufen, dass allein die V.-AG Pflichten verletzt hätte, was ihr verborgen geblieben sei und ihr nicht zurechenbar sei, obwohl vorgetragen wird, dass die V.-AG im Auftrag der A.-AG gehandelt hat.
Fahrzeuge dürfen in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union nur zum Straßenverkehr zugelassen werden, wenn sie einer amtlichen Genehmigung entsprechen. Dabei ist für Personenkraftwaren die RL 2007/46/EG maßgeblich. Diese enthält eine Vielzahl von Einzelvorschriften für die verschiedenen technischen Systeme und Bauteile der Fahrzeuge. Die an die Abgasemissionen der Fahrzeuge zu stellenden Anforderungen regelt die VO (EG) 715/2007 und die dazu erlassene Durchführungsverordnung (EG) Nr. 692/2008. Die VO (EG) 715/2007 verpflichtet den Hersteller in Art. 5 Abs. 1, das Fahrzeug so auszurüsten, dass die das Emissionsverhalten voraussichtlich beeinflussenden Bauteile so konstruiert, gefertigt und montiert sind, dass das Fahrzeug unter normalen Betriebsbedingungen dieser Verordnung und ihren Durchführungsmaßnahmen entspricht. Gemeint sind damit die realen Betriebsbedingungen, die sich unter Umständen im Labor nicht vollständig nachbilden lassen. Ferner bestimmt Art. 5 Abs. 2, dass die Verwendung von Abschalteinrichtungen, die die Wirkung von Emissionskontrollsystemen verringern, grundsätzlich unzulässig ist.
Vor der Erteilung einer EG-Typgenehmigung ist das im Anhang II der (EG) Nr. 692/2008 geforderte Prüfverfahren durchzuführen, das näher in der UN-Regelung Nr. 83 beschrieben ist. Dabei prüft der Technische Dienst im Auftrag der Genehmigungsbehörde das Fahrzeug nach den Vorgaben der Vorschriften und erstellt über die ermittelten Ergebnisse einen Bericht. Obwohl Art. 5 Abs. 2 der VO (EG) 715/2007 zwar ein Verbot unzulässiger Abschalteinrichtungen deklariert, gab es aber damals kein Prüfverfahren, mit dem das Vorhandensein der hier verwendeten unzulässigen Abschalteinrichtung hätte ermittelt werden können. Das erleichterte die Täuschung des Kraftfahrt-Bundesamtes.
Der Beklagten ist vorzuwerfen, dass sie mit der Abgabe der Beschreibungsunterlagen und ihrem Antrag auf Erteilung einer EG-Typgenehmigung eine eigene Erklärung gegenüber der Genehmigungsbehörde abgegeben hat, was die Verpflichtung einschloss, den Motor eigenständig auf Funktionsmäßigkeit und Gesetzesmäßigkeit zu überprüfen, weil mit dem Antrag auf Erteilung einer EG-Typgenehmigung zumindest konkludent erklärt wird, dass das Fahrzeug die gesetzlichen Vorschriften einhält und insbesondere über keine unzulässige Abschalteinrichtung verfügt. Dem Anhang I der RL 2007/46/EG Ziffer 3 lässt sich - entgegen der Ansicht der Beklagten - auch entnehmen, dass zur Antriebsmaschine eine Beschreibung des Systems zu erfolgen hat. Dass die V.-AG auch diese Beschreibungsunterlagen gefertigt und vorgelegt hat, wird von der Beklagten nicht vorgetragen, sondern nur, dass Mitarbeiter der Konzernmutter auch Fahrzeuge der Beklagten dem Technischen Dienst vorgestellt haben.
Im Übrigen hält der Senat aber auch die vollständige Übertragung des gesamten EG-Typgenehmigungsverfahrens auf die Konzernmutter nicht für zulässig und sieht darin ein Organisationsverschulden. Juristische Personen sind verpflichtet, den Gesamtbereich ihrer Tätigkeit so zu organisieren, dass für alle wichtigen Aufgabengebiete, hier dem Inverkehrbringen der Fahrzeuge, ein verfassungsmäßiger Vertreter zuständig sein muss, der die wesentlichen Entscheidungen selbst trifft, vgl. BGH, Urteil vom 08.07.1980, Az. VI ZR 158/78. Die Beklagte kann sich ihrer haftungsrechtlichen Verantwortung nicht dadurch entziehen, dass sie einen so elementaren Teilbereich wie das EG-Typgenehmigungsverfahren der Konzernmutter überlässt.
Tut sie dies dennoch, dass muss sie sich auch das Wissen und die Absichten der V.-AG im Zusammenhang mit der Verwendung der unzulässigen Abschalteinrichtung nach § 166 Abs. 1 BGB zurechnen lassen. Denn die Beklagte schildert selbst, dass die V.-AG in ihrem Auftrag tätig geworden ist, mithin eine rechtsgeschäftliche Handlung des Vertreters vorliegt. Wer sich im rechtsgeschäftlichen Verkehr bei der Abgabe von Willenserklärungen - hier dem Antrag auf Erteilung einer EG-Typgenehmigung - eines Vertreters bedient, muss es im schutzwürdigen Interesse des Adressaten hinnehmen, dass ihm die Kenntnis des Vertreters als eigene zugerechnet wird.
Oder anders ausgedrückt, wer sich zur Erledigung eigener Angelegenheiten Dritter bedient, muss sich deren Wissen zurechnen lassen, vgl. BeckOK, BGB Hau/ Poseck, 55. Edition, Stand 01.08.2020, Rn. 1 zu § 166 BGB.
bb) Die Beklagte kann sich nicht darauf berufen, dass im Zulassungsverfahren die Emissionsgrenzwerte nur auf dem Rollenprüfstand geprüft werden und ihr es nicht möglich gewesen wäre, Prüfungen im realen Fahrbetrieb vorzunehmen. Unabhängig von den zur Verfügung stehenden Überprüfungsmöglichkeiten hätte die Beklagte jedenfalls bei der V.-AG nachfragen können, wie die Motorsteuerungssoftware programmiert ist, damit die vorgeschriebenen Grenzwerte eingehalten werden können. Die Beklagte hätte sich auch ohne Weiteres von der Konzernmutter die entsprechenden Unterlagen geben lassen können. Insoweit wird nicht vorgetragen, dass man dies versucht hätte, aber von Seiten der Konzernmutter dies abgelehnt worden sei oder dass man solche Unterlagen bekommen hätte, die aber geschönt gewesen seien. Selbst das von der Beklagten vorgelegte Rechtsgutachten von Prof. Dr. G. geht auf S. 23 davon aus, dass „die Möglichkeit der Aufdeckung der Abschalteinrichtung durch die A.-eigene Entwicklungsabteilung - vermittels einer grundlegenden Prüfung der Software bzw. einer Neuentwicklung von Testverfahren - nicht vollständig ausgeschlossen werden kann…“
cc) Hinzu kommen folgende Aspekte:
Zum Zeitpunkt der Entwicklung und des Einbaus des streitgegenständlichen Motors war das Spannungsverhältnis zwischen kostengünstiger Produktion und Begrenzung der Stickoxidemissionen allgemein bekannt. Die Beklagte ist ihrerseits Herstellerin von Dieselmotoren (nebst Steuerungstechnik), die serienmäßig bei Fahrzeugen des Konzerns zum Einsatz kommen. Dass sich kein Verantwortlicher bei der Beklagten dafür interessiert haben will, ob und wie die Konzernmutter bei dem Motor EA 189 diesen Konflikt gelöst haben könnte, erscheint nicht plausibel. Zudem hat zum damaligen Zeitpunkt der europäische Gesetzgeber das grundsätzliche Verbot unzulässiger Abschalteinrichtungen normiert, wodurch der oben beschriebene Zielkonflikt erneut Bedeutung gewann.
Letztlich ist aber sogar davon auszugehen, dass eine entsprechende Kenntnis von der Funktionsweise der Software bei der Beklagten vorhanden war. Die Beklagte hat nämlich den Vortrag der Klagepartei im Schriftsatz vom 05.10.2020, Seite 9 ff., Bl. 517 d.A., dahingehend, dass die hier streitgegenständliche Umschaltlogik eine Fortentwicklung der bei der Beklagten entwickelten „Akustikfunktion“ ist, nicht bestritten, so dass dieser Vortrag als zugestanden gilt, § 138 Abs. 3 ZPO. Im Hinblick auf den sehr konkreten Sachvortrag der Klagepartei kann ein Bestreiten der Beklagten nicht dem ansonsten erfolgten Vortrag entnommen werden. dd) Schließlich räumt die Beklagte auch ein, dass die grundsätzliche Entscheidung in Bezug auf die Verwendung des Motors EA 189 in den Jahren 2005/2006 von dem Produkt-Strategie-Komitee getroffen worden ist, dem auch Mitglieder des Vorstands angehörten. Dass das vorgenannte Komitee der Beklagten keine Kenntnis von den Details des Motors gehabt hat, dessen serienmäßiger Einsatz ab 2007 beschlossen worden ist, hält der Senat ebenfalls nicht für plausibel. Es ist nicht nachvollziehbar, dass der Einsatz des Motors in einer Vielzahl von Fahrzeugen angeordnet wird, die unstreitig beteiligten Vorstandsmitglieder sich aber bei dieser Entscheidung, die die Beklagte selbst wegen ihrer Bedeutung als „Meilenstein“ bezeichnet, nicht darüber informieren, welche Eigenschaften der Motor hat und wie es gelingt, das bekannte Problem der Einhaltung der Stickoxidwerte zu lösen. Die Beklagte trägt hier nicht einmal vor, welche Mitglieder des Vorstands diesem Komitee angehört haben, ob diese in Bezug auf ihren Kenntnisstand befragt worden sind und was gegebenenfalls die Antwort war. Der ihr obliegenden sekundären Darlegungslast ist die Beklagte hier nicht in ausreichendem Maß nachgekommen.
Auch die Käufer von Fahrzeugen der hiesigen Beklagten vertrauten darauf, dass die gesetzlichen Vorgaben eingehalten werden und wurden darin arglistig getäuscht. Die Sittenwidrigkeit des Handelns ergibt sich aus dem nach Ausmaß und Vorgehen besonders verwerflichen Charakter der Täuschung von Kunden, der Täuschung des Kraftfahrtbundesamtes unter Inkaufnahme nicht nur der Schädigung der Käufer, sondern auch der Umwelt allein im Profitinteresse.
e) Die subjektiven Voraussetzungen der Haftung nach § 826 BGB sind ebenfalls erfüllt. In subjektiver Hinsicht setzt § 826 BGB einen Schädigungsvorsatz sowie Kenntnis der Kausalität des eigenen Verhaltens für den Eintritt des Schadens und der das Sittenwidrigkeitsurteil begründenden tatsächlichen Umstände voraus. Der Schädigungsvorsatz enthält ein Wissensund Wollenselement. Der Handelnde muss die Schädigung des Anspruchsstellers gekannt bzw. vorausgesehen und in seinen Willen aufgenommen haben und mindestens mit bedingtem Vorsatz gehandelt haben, BGH, Urteil vom 28.06.2016, Az. VI ZR 536/15.
Die Haftung einer juristischen Person nach § 826 BGB i.V.m. § 31 BGB setzt zudem voraus, dass ihr „verfassungsmäßig berufender Vertreter“ den objektiven und subjektiven Tatbestand verwirklicht hat. Die erforderlichen Wissens- und Wollenselemente müssen dabei kumuliert bei einem solchen Vertreter vorliegen, der auch den objektiven Tatbestand verwirklicht hat, eine mosaikartige Zusammensetzung der kognitiven Elemente bei verschiedenen Personen ist hingegen nicht zulässig, vgl. BGH, Urteil vom 18.07.2019, Az. VI ZR 536/15. Darauf weist zutreffend auch das von der Beklagten vorgelegte Rechtsgutachten hin, S. 15.
Der Senat geht nicht davon aus, dass eine Wissenszurechnung im Konzern die Haftung der Beklagten begründet. Der Umstand, dass die beteiligten Gesellschaften in einem Konzern verbunden sind, genügt nämlich für sich genommen nicht, um eine Wissenszurechnung zu begründen, vgl. BGH, Urteil vom 13.12.1089, Az. IV a ZR 177/88, Rn. 14, OLG Stuttgart, Urteil vom 04.09.2019, Az. 13 U 136/18, MüKomm. BGB, 7. Auflage 2018, § 166 Rn. 61.
Die Haftung der Beklagten beruht vielmehr - wie schon ausgeführt - auf ihrem eigenen deliktischen Handeln, dem von ihr zu verantwortenden Inverkehrbringen des streitgegenständlichen Fahrzeugs.
Im Hinblick auf den neuen Vortrag im Schriftsatz vom 07.10.2020 ist die Beklagte der ihr obliegenden sekundären Darlegungslast in größerem Umfang als bisher nachgekommen, weil sie zur Organisationsstruktur, der Arbeitsorganisation, den damaligen internen Zuständigkeiten, den Berichtspflichten und den von ihr veranlassten Ermittlungen näher vorgetragen hat. Diese neuen tatsächlichen Ausführungen, die von der Klagepartei nicht bestritten worden sind, legt der Senat seiner Entscheidung zugrunde, weil unstreitiger Tatsachenvortrag nie verspätet ist. Die Beklagte argumentiert allerdings damit, dass schon keine belastbaren Anhaltspunkte für eine Kenntnis der Vorstandsmitglieder im aktienrechtlichen Sinn oder von potentiellen Repräsentanten bestünden, weshalb ein vertieftes Vorgehen nicht angezeigt sei und keine Verpflichtung zu weiteren Aufklärungsmaßnahmen von Seiten des Aufsichtsrats bestehe. Dies teilt der Senat aus nachfolgenden Gründen nicht. Auch die subjektiven Voraussetzungen für eine Haftung nach § 826 BGB sind erfüllt.
aa) Zur Produktion erklärt die Beklagte nunmehr, dass bereits in den Jahren 2005/2006 vom Produkt-Strategie-Komitee, dem auch nicht namentlich benannte Mitglieder des Vorstands angehört haben, die grundsätzliche Entscheidung getroffen worden ist, dass in bestimmten Fahrzeugen der Beklagten der von der Konzernmutter entwickelte Motor vom Typ EA 189 eingebaut wird, was letztlich ab 2007 zu einem serienmäßigen Einsatz geführt hat. Die Beklagte behauptet dazu weiter, dass weder Organe noch Repräsentanten, nicht einmal Werksmitarbeiter der Beklagten Kenntnis von den Details des Motors, insbesondere der Software gehabt hätten, weil diese verriegelt war und so vom Konzernserver in der Fertigung aufgespielt worden ist. Dies hält der Senat - wie oben bereits ausgeführt - nicht für plausibel. Es ist nicht nachvollziehbar, dass das oben genannte Komitee, dem unstreitig auch Organe der Beklagten angehört haben, den Einsatz eines Motors in eigenen Fahrzeugen befürwortet, sich aber keine Gedanken darüber macht, wie der Motor funktioniert, welche Eigenschaften er hat und wie es gelingt, die entsprechenden Stickoxidgrenzwerte einzuhalten. Bei dem Motor handelt es sich um das Kernstück des Fahrzeugs und bei der Verwendung um eine grundlegende, eine Vielzahl von Fahrzeugen betreffende Strategieentscheidung, die mit erheblichen persönlichen Haftungsrisiken für die entscheidenden Personen verbunden ist. Da die Beklagte auch selbst Dieselmotoren entwickelt und die Frage, wie die gesetzlichen Grenzwerte technisch und wirtschaftlich kostengünstig eingehalten werden können unter Kfz-Herstellern zu der damaligen Zeit ein Hauptthema war, kann nicht nachvollzogen werden, dass die Beklagte kein Interesse daran hatte zu wissen, wie es der Mutterkonzern geschafft hat, die strengen Grenzwerte einzuhalten. Es scheint ausgeschlossen, dass die Beklagte den von der Konzernmutter entwickelten Motor ohne eigene Prüfung und Kenntnis der wesentlichen Merkmale „blind“ in ihre eigenen Fahrzeuge eingebaut hat. Es liegt vielmehr auf der Hand, dass im Unternehmen der Beklagten mindestens ein handelnder Repräsentant an der Entscheidung über die Verwendung der unzulässigen Abschalteinrichtung beteiligt war. Dies folgt schon aus der Tragweite der Entscheidung., aber auch aus den gesamten Umständen.
Deshalb kann auch vorliegend - entgegen den Ausführungen im Rechtsgutachten Grigoleit, Seite 17 ff. - in Bezug auf die Frage der personalen Anknüpfung - wie es der BGH in dem Urteil vom 25.05.2020 getan hat - auf die bewusste Beteiligung mindestens eines Organmitglieds an der grundlegenden strategischen Entscheidung abgestellt werden.
bb) Die Beklagte kann sich nicht darauf zurückziehen, dass sie den Motor samt Software nur als externes Produkt von der V.-AG zugekauft hat und dieser vertrauen durfte. Der Bundesgerichtshof hat in der von der Beklagten zitierten Entscheidung vom 03.06.1975, Az. VI ZR 192/73, ausgeführt, dass einem Unternehmer, der für die von ihm hergestellten Geräte vorgefertigte Einbauteile verwendet, grundsätzlich die Sorgfaltspflichten eines Herstellers obliegen. Davon kann es zwar Ausnahmen geben, wovon hier allerdings schon wegen der Bedeutung des Motors für das Fahrzeug keine Rede sein kann. Die Beklagte durfte sich vorliegend nicht allein auf die fachliche Betriebserfahrung ihrer Konzernmutter und deren durchgeführte Prüfungen verlassen. Sie hätte vielmehr die konkreten Eigenschaften bei der V.-AG erfragen müssen und sich selbst von der mangelfreien Beschaffenheit des Motors im Hinblick auf ihre eigene Verantwortlichkeit im EG-Typgenehmigungsverfahren überzeugen müssen. Der Auffassung von Prof. Dr. G. auf Seite 22 ff. des Gutachtens folgt der Senat aus den obigen Gründen nicht.
Was das Zulassungsverfahren betrifft, zu dem die Beklagte - von dem Kläger nicht bestritten - vorträgt, dass hier nur Mitarbeiter der V.-AG gehandelt hätten, wird auf die obigen Ausführungen verwiesen. Die Beklagte hat gegenüber der EG-Typgenehmigungsbehörde eine eigene Erklärung abgegeben und zumindest konkludent erklärt, dass die dem Technischen Dienst von der V.-AG vorgestellten Fahrzeuge keine unzulässigen Abschalteinrichtungen enthalten und den Gesetzen entsprechen. Da dies tatsächlich nicht zutraf, ist das Verhalten der Beklagten als vorsätzlich zu bewerten, weil die Folgen des Handelns bewusst in Kauf genommen worden sind. Selbst wenn man dies nicht so sehen wollte, hält der Senat aufgrund der Tatsache, dass die Beklagte die Durchführung des EG-Typengnehmigungsverfahrens vollständig und ohne weitere Kontrolle der Konzernmutter überlassen hat, eine Zurechnung des bei der V.-AG zweifelsfrei vorhandenen Täuschungs- und Schädigungsvorsatzes entsprechend § 31 BGB für gerechtfertigt.
f) Auf der Basis der getroffenen Feststellungen ist damit von einem Schädigungsvorsatz der handelnden Personen auszugehen, die von den sittenwidrigen, strategischen Unternehmensentscheidungen Kenntnis hatten. Nicht nur der objektive Tatbestand, sondern auch sämtliche für den Vorsatz nach § 826 BGB erforderlichen Wissens- und Wollenselemente sind damit bei den entsprechenden Entscheidungsträgern verwirklicht. Vorstandsmitglieder oder Repräsentanten, die in eigener oder zurechenbarer Kenntnis der Funktionsweise der Software ihren serienmäßigen Einsatz in Motoren anordnen oder nicht unterbinden, billigen ihn auch und sind sich der Schädigung der späteren Fahrzeugerwerber bewusst.
2. Die Beklagte hat deshalb gemäß §§ 826, 31, 249 ff. BGB dem Kläger sämtliche aus der sittenwidrigen Schädigung resultierende Schäden zu ersetzen.
Die Klagepartei kann damit den von ihr aufgewendeten Kaufpreis Zug um Zug gegen Rückgabe und Übereignung des erlangten Fahrzeugs an die Beklagte zurückverlangen. Sie muss sich aber dasjenige anrechnen lassen, was ihr durch das schädigende Ereignis zugeflossen ist. Dass die Grundsätze der Vorteilsausgleichung auch bei einem Anspruch aus vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung gemäß § 826 BGB anzuwenden sind, hat der Bundesgerichtshof in der Entscheidung vom 25.05.2020, Az. VI ZR 252/19, ausdrücklich bestätigt, Rn. 66 ff. Er hat auch ausgeführt, dass dem keine europarechtlichen Normen entgegenstehen. Der Senat nimmt auf die Ausführungen des Bundesgerichtshofs Bezug, aaO, Rn. 73 ff.
Geklärt ist mit dieser Entscheidung weiter, dass die vom Landgericht vorgenommene Berechnungsweise nach der Formel Bruttokaufpreis x gefahrene Kilometer / Restlaufleistung keinen rechtlichen Bedenken unterliegt und die Höhe der gezogenen Vorteile nach § 287 ZPO geschätzt werden kann. Vorliegend hatte das Neufahrzeug beim Erwerb durch den Kläger einen Kilometerstand 0 km. Bis zum 19.10.2020 ist der Kläger mit dem Fahrzeug 217.860 km gefahren. Dies hat die Beklagte im Termin vor dem Senat unstreitig gestellt. Damit ergibt sich folgende Rechnung: Bruttokaufpreis von 39.608,19 € mal 217.860 km dividiert durch 300.000 km Gesamtlaufleistung. Damit ergibt sich eine Nutzungsentschädigung für die gefahrenen Kilometer in Höhe von 28.763,47 €, die vom Kaufpreis abzuziehen ist, so dass 10.844,72 € verbleiben. Hinzu kommen noch die Finanzierungskosten in Höhe von insgesamt 7.594,48 €. Es verbleibt somit ein Rückzahlungsanspruch in Höhe von 18.433,86 €. Die zu erwartende Gesamtlaufleistung schätzt der Senat im Rahmen des ihm eingeräumten Ermessens gemäß § 287 ZPO wie das Landgericht auf 300.000 km, da von einer durchschnittlichen Laufleistung des verbauten 2.0 l TDI Dieselmotors auszugehen ist. In der Entscheidung vom 25.05.2020, Az. VI ZR 252/19 hat der Bundesgerichtshof bei einem VW Sharan mit einem 2.0 TDI Motor ebenfalls die Annahme von 300.000 km Gesamtfahrleistung gebilligt.
3. Dem Kläger stehen entgegen den Ausführungen des Landgerichts Zinsen nur ab Rechtshängigkeit zu, §§ 291, 288 Abs. 1 BGB, mithin ab dem 19.02.2019. Die Beklagte befand sich nicht bereits vor der Zustellung der Klageschrift im Schuldnerverzug, § 286 BGB. Zwar hat die Prozessbevollmächtigte des Klägers außergerichtlich gegenüber der Beklagten die Ansprüche mit Anwaltsschreiben vom 15.12.2018 angemeldet und eine Frist bis zum 21.12.2018 gesetzt. Jedoch ist dieses Schreiben nicht geeignet, einen Schuldnerverzug der Beklagten zu begründen, weil der Abzug einer Nutzungsentschädigung zwar angeboten, ein Kilometerstand aber nicht mitgeteilt worden ist, so dass von einer Zuvielforderung auszugehen ist. Die Beklagte wäre nur dann in Schuldnerverzug geraten, wenn seitens des Klägers die ihr obliegende Gegenleistung ordnungsgemäß angeboten worden wäre, vgl. BGH aaO, Rn. 85.
4. Der Antrag auf Feststellung, dass sich die Beklagte mit der Rücknahme des streitgegenständlichen Fahrzeugs in Annahmeverzug befindet, hätte ebenfalls nicht festgestellt werden dürfen. Der Feststellungsantrag zum Annahmeverzug ist zwar zulässig, vgl. §§ 756, 726 Abs. 1 ZPO, der Antrag ist aber unbegründet, weil die Voraussetzungen der §§ 293, 295 BGB vorliegend nicht erfüllt sind. Das außergerichtliche Anwaltsschreiben der Klagepartei war - wie oben ausgeführt - nicht geeignet, den Annahmeverzug zu begründen, weil der Kläger die Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs nicht zu den Bedingungen angeboten hat, von denen er diese hätte abhängig machen dürfen. Ein zur Begründung des Annahmeverzugs auf Seiten der Beklagten geeignetes Angebot ist unter diesen Umständen nicht gegeben. Der Kläger hat im Übrigen im Lauf des Rechtsstreits seine Meinung zum Abzug einer Nutzungsentschädigung geändert und verfolgt noch mit der Berufung das Ziel, dass keine Anrechnung vorgenommen wird.
5. Einen Anspruch auf Freistellung von außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten bejaht der Senat, anders als das Landgericht, nicht. Grundsätzlich können zwar außergerichtliche Rechtsanwaltskosten Teil des Schadens nach § 826, 249 ff. BGB sein, vorliegend ist aber aufgrund der zeitlichen Abfolge zwischen außergerichtlichem Anspruchsschreiben und Klageeinreichung zum einen davon auszugehen, dass die Klagepartei bereits vorab einen unbedingten Klageauftrag erteilt hatte. Zum anderen fehlt es an der notwendigen Erforderlichkeit und Zweckmäßigkeit für die vorgerichtliche Tätigkeit. In dem außergerichtlichen Schreiben vom 15.12.2018 (Samstag) wurde eine äußerst kurze Frist, nämlich bis zum 21.12.2018 (Freitag) gesetzt. Noch vor Fristablauf und bereits unter diesem Datum wurde die Klage verfasst, die bereits am 22.12.2018 bei Gericht eingereicht wurde. Bei dieser Sachlage kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägervertreter ernsthaft angenommen haben, das Schreiben könne zu einer einvernehmlichen Streitbeilegung ohne gerichtliches Verfahren führen. Die Tätigkeit, die zum Anfall der außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten geführt hat, kann bei dieser Sachlage nicht als zweckmäßig und notwendig angesehen werden.
B.
Berufung des Klägers:
1. Wie oben unter A. 2. bereits ausgeführt, hat das Landgericht zutreffend angenommen, dass sich der Kläger im Wege des Vorteilsausgleichs die von ihm gezogenen Nutzungen anrechnen lassen muss. Dies hat der BGH in dem Urteil vom 25.05.2020, aaO, Rdnr. 64 ff., ausdrücklich bestätigt und ausgeführt, dass der Geschädigte im Hinblick auf das schadensersatzrechtliche Bereicherungsverbot nicht besser gestellt werden darf, als er ohne das schädigende Ereignis stünde. Soweit der Kläger darauf abstellt, dass er das Fahrzeug gar nicht hätte nutzen dürfen, so dürfte dies im Hinblick auf die Reaktion des Kraftfahrt-Bundesamtes, das lediglich eine Nebenbestimmung zur Typgenehmigung erlassen hat, nicht zutreffen, es bleibt aber auch dabei, dass der Kläger das Fahrzeug unstreitig tatsächlich genutzt hat.
Der Bundesgerichtshof hat sich in der genannten Entscheidung auch mit der Problematik des Unionsrechts auseinander gesetzt und überzeugend begründet, weswegen der Abzug von 21 U 7238/19 - Seite 17 - Nutzungen nicht unionsrechtswidrig ist. Darauf nimmt der Senat Bezug, weil kein Anlass besteht, an der Richtigkeit der höchstrichterlichen Entscheidung zu zweifeln. Die von der Klagepartei zitierten landgerichtlichen Entscheidungen sind im Hinblick auf die Ausführungen des Bundesgerichtshofs im Jahr 2020 überholt.
III.
Die Kostenquote entspricht dem jeweiligen Obsiegen bzw. Unterliegen der Parteien, §§ 92 Abs. 1, 97 Abs. 1 ZPO, wobei in Bezug auf die vom Kläger geltend gemachten deliktischen Zinsen, 4% aus 47.202,33 € für den Zeitraum von 14.02.11 bis 21.12.2018 ein fiktiver Streitwert von gerundet 13.253 € anzusetzen war (nicht 16,713,56 €, die das Landgericht auf Seite 16 des Urteils errechnet hat), um der Zuvielforderung Rechnung zu tragen. Der fiktive Streitwert erster und zweiter Instanz beträgt damit 60.455,69 €. Die unterschiedliche Kostenquote für die erste und zweite Instanz ergibt sich aus der Höhe der abgezogenen Nutzungsentschädigung.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, Nr. 711 ZPO.
Die Revision ist gemäß § 542 Abs. 2 S. 1 ZPO zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen. Einige wesentliche Punkte sind zwar durch die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 25.05.2020 geklärt, offen ist jedoch die Frage, ob auch die Konzerntöchter der V.-AG, insbesondere die Beklagte, für die von ihnen hergestellten Fahrzeuge deliktisch haften. Diese Frage ist in der obergerichtlichen Rechtsprechung umstritten.
Verkündet am 30.11.2020
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt.
Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 20.000 Euro festgesetzt.
Gründe
1Der zulässige Antrag ist unbegründet.
2Aus den innerhalb der Frist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO dargelegten Gründen ergeben sich weder ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (Zulassungsgrund gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) noch besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten der Rechtssache (Zulassungsgrund gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO), eine Abweichung des angefochtenen Urteils von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts, auf der das Urteil beruht (Zulassungsgrund gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO) oder ein der Beurteilung des beschließenden Senats unterliegender Verfahrensmangel, auf dem die Entscheidung beruhen kann (Zulassungsgrund gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO).
3Stützt der Rechtsmittelführer seinen Zulassungsantrag auf den Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, muss er sich mit den entscheidungstragenden Annahmen des Verwaltungsgerichts auseinandersetzen. Dabei muss er den tragenden Rechtssatz oder die Feststellungen tatsächlicher Art, die er mit seinem Antrag angreifen will, bezeichnen und mit schlüssigen Gegenargumenten infrage stellen. Daran fehlt es hier.
4Das Verwaltungsgericht hat die Klage der Klägerin gegen die der Beigeladenen von dem Beklagten erteilte Baugenehmigung vom 23. November 2016 für die beantragte Änderung der Nutzung des „Herrenhaus C.“ genannten Gebäudekomplexes auf dem Grundstück in C1., Gemarkung B., Flur 42, Flurstück 6 in eine Event-Gastronomie (im Folgenden: Vorhaben) abgewiesen. Die Baugenehmigung verletze die Klägerin nicht in ihren Rechten. Sie sei nicht zu ihren Lasten unbestimmt. Ein Verstoß gegen Vorschriften des Bauplanungsrechts, die dem Schutz der Klägerin zu dienen bestimmt seien, liege nicht vor. Das Vorhabengrundstück und das Grundstück der Klägerin befänden sich im Außenbereich. Ein Verstoß gegen das in § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 BauGB enthaltene Rücksichtnahmegebot sei nicht gegeben. Das Vorhaben verursache keine schädlichen Umwelteinwirkungen auf dem Grundstück der Klägerin. Dies gelte auch für die von dem Vorhaben voraussichtlich ausgehenden Geräuschimmissionen. Die für das Wohnhaus der Klägerin prognostizierten vorhabenbedingten Beurteilungspegel von 43 dB(A) tags und 34 dB(A) nachts lägen weit unter den von der TA Lärm unter Nr. 6.1 Buchstabe d) vorgegebenen Immissionsrichtwerten von 60 dB(A) tags und 45 dB(A) nachts für Kern-, Dorf- und Mischgebiete, die hier heranzuziehen seien. Dass die Immissionsprognose von fehlerhaften Annahmen ausgegangen sei, lasse sich nicht feststellen. Einer konkreten Prognose des von der Musikanlage des Vorhabens ausgehenden tieffrequenten Schalls habe es nicht bedurft. Es lägen keine konkreten Anhaltspunkte dafür vor, dass mit der Nutzung des Vorhabens schädliche Umwelteinwirkungen in Form von tieffrequenten Geräuschen verbunden sein könnten. Eine Überschreitung des für den Schutz der Klägerin maßgeblichen Immissionsrichtwerts für die Nachtzeit von 45 dB(A) wäre selbst bei einem Verstoß gegen die dem Immissionsschutz dienenden Auflagen zur Baugenehmigung nicht unmittelbar zu befürchten. Die Einhaltung der Auflagen könne darüber hinaus gewährleistet werden.
5Die Auffassung des Verwaltungsgerichts, die Baugenehmigung sei nicht zu ihren Lasten unbestimmt, zieht die Klägerin nicht durchgreifend in Zweifel.
6Das Verwaltungsgericht ist davon ausgegangen, dass die Auflage Nr. 3, wonach die Einhaltung eines Rauminnenpegels bei Beschallung des Wintergartens von maximal 92 dB(A) zur Tagzeit (bis 22.00 Uhr) und 87 dB(A) zur Nachtzeit (nach 22.00 Uhr) durch einen Limiter mit Messmikrofon und Zeitschaltuhr sicherzustellen ist, eindeutig so zu verstehen sei, dass sie auch für eine Beschallung durch Live-Musik gelte. Die Klägerin hält dem entgegen, dass bei Veranstaltungen, wie sie im Herrenhaus C. stattfänden, möglicherweise auch Live-Musik gespielt werde, die sich nicht limitieren lasse. Der Sache nach rügt die Klägerin damit, dass nach den realen Verhältnissen mit der Einhaltung der Auflage Nr. 3 nicht gerechnet werden könne und sie deshalb untauglich sei, den Schutz der Anwohner vor unzumutbaren vorhabenbedingten Lärmbeeinträchtigungen zu gewährleisten. Eine Unbestimmtheit der Auflage Nr. 3 lässt sich hiermit jedoch nicht begründen.
7Dass die Baugenehmigung hinsichtlich der Nutzung der Außenflächen des Vorhabengrundstücks zu ihren Lasten unbestimmte Regelungen enthalte, zeigt die Klägerin nicht auf. Das Verwaltungsgericht hat insoweit ausgeführt, dass insbesondere nach der Betriebsbeschreibung eine Nutzung der Außenflächen zur Nachtzeit, mit Ausnahme des Raucherbereichs im nordwestlichen Innenhof, zweifelsfrei nicht zulässig sei. Die Klägerin setzt sich hiermit nicht weiter auseinander, sondern trägt lediglich vor, die Baugenehmigung enthalte kein Verbot, die übrigen Außenflächen nach 22.00 Uhr zu nutzen. Eines ausdrücklichen Verbots dieser Art bedarf es aber nicht, um auch insoweit den Schutz der Anwohner vor unzumutbaren vorhabenbedingten Lärmbeeinträchtigungen zu wahren, denn maßgeblich ist, was die Baugenehmigung, zu der die Betriebsbeschreibung gehört, an Nutzungen konkret zulässt. Die pauschale Rüge der Klägerin, die gewerbliche Nutzung der Außenflächen als Veranstaltungsflächen sei auch im Übrigen nicht beschränkt, genügt ebenfalls nicht im Ansatz, um eine Rechtsverletzung wegen einer zu ihren Lasten gehenden Unbestimmtheit der Baugenehmigung darzulegen.
8Auch soweit sie weiterhin bemängelt, dass die nach der Baugenehmigung im Herrenhaus C. möglichen Veranstaltungen ihrer Art nach nicht hinreichend konkret beschrieben seien, legt sie keine Unbestimmtheit der Baugenehmigung dar. Das Verwaltungsgericht hat insoweit ausgeführt, es sei nicht ersichtlich, dass die Klägerin durch eine fehlende Spezifizierung der zugelassenen Veranstaltungen in ihren Rechten verletzt sein könnte, wenn die für alle Veranstaltungen geltenden Auflagen eingehalten würden. Dem setzt die Klägerin nichts Erhebliches entgegen. Soweit sie auch in diesem Zusammenhang bezweifelt, dass die Auflagen geeignet seien, unzumutbare vorhabenbedingte Geräuschimmissionen auf ihrem Grundstück zu verhindern, ergibt sich daraus – wie oben bereits ausgeführt – keine Unbestimmtheit der Baugenehmigung zu ihren Lasten.
9Die Klägerin zeigt nicht auf, dass die mit der Nutzung des Vorhabens vermutlich verbundenen Geräuschimmissionen für sie nicht zumutbar seien.
10Sie rügt zwar, die Einhaltung der einschlägigen Auflagen sei nicht sichergestellt, setzt sich aber mit der Annahme des Verwaltungsgerichts, dass selbst bei einem Verstoß gegen diese Auflagen eine Überschreitung des für ihr Grundstück maßgeblichen Immissionsrichtwerts von 45 dB(A) nachts nicht unmittelbar zu befürchten sei, nicht auseinander.
11Dass die Einhaltung der Auflage Nr. 4, wonach die Fenster und Türen des Eventraumes sowie die des Wintergartens ab 22.00 Uhr geschlossen zu halten sind, nicht gewährleistet werden könne, zieht sie im Übrigen nur insoweit in Zweifel, als sie meint, deren Umsetzung kollidiere zwangsläufig mit brandschutzrechtlichen Anforderungen. Inwieweit sich hieraus eine Rechtsverletzung zu ihren Lasten ergeben könnte, ergibt sich aus dem Zulassungsvorbringen nicht.
12Dass eine Überwachung der Einhaltung der Auflage Nr. 3 im laufenden Betrieb nicht voraussetzt, dass etwaig betroffene Nachbarn „selbst durch einfache Wahrnehmungen deren Einhaltung prüfen und Verstöße dagegen dokumentieren können“, hat das Verwaltungsgericht zutreffend und ohne, dass hierin eine Abweichung von der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts liegen würde (hierzu unten), ausgeführt. Im Übrigen unterstellt die Klägerin, der Betreiber der Event-Gastronomie im Herrenhaus C. werde Live-Bands mit ihrem eigenen Equipment ohne Limiter spielen lassen. Ein solcher Verstoß gegen die Auflage Nr. 3 wäre jedoch durch die Bauaufsichtsbehörde im Rahmen einer Überwachungsmaßnahme ohne Weiteres festzustellen.
13Die Auffassung des Verwaltungsgerichts, es habe im Baugenehmigungsverfahren keiner konkreten Prognose des bei der Nutzung des Vorhabens möglicherweise verursachten tieffrequenten Schalls bedurft, zieht die Klägerin nicht in Zweifel. Das Verwaltungsgericht hat unter Auswertung der vorliegenden gutachterlichen Äußerungen ausführlich erläutert, warum es keine konkreten Anhaltspunkte dafür gebe, dass von dem Betrieb der genehmigten Musikanlage schädliche Umweltauswirkungen in der Gestalt von tieffrequenten Geräuschen zu erwarten seien. Es hat unter anderem Bezug genommen auf die Stellungnahme des Gutachters der L. T. GmbH, wonach bei einer Kontrollmessung am Wohngebäude C2. 2 – das Wohngebäude der Klägerin ist circa 130 m weiter von dem Vorhabengrundstück entfernt – die Beschallung des Wintergartens bei geöffneten Türen die nach Nr. A.1.5 des Anhangs zur TA Lärm ermittelte Differenz LCeq – LAeq den Wert von 20 dB unterschritten habe. Messungen der Firma D. J. mbH vor Umsetzung der Lärmschutzauflagen hätten dieses Ergebnis bestätigt. Die Klägerin tritt dem allein mit der Behauptung entgegen, die besagten Messungen hätten nicht bei einer Beschallung durch Live-Musik ohne Regulierung der Lautstärke stattgefunden. Dass eine solche Live-Musik entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts nach der Baugenehmigung zulässig wäre, ergibt sich aus dem Zulassungsvorbringen – wie bereits ausgeführt – nicht. Dass in der in Nr. A.1.5 des in Nr. 7.3 TA Lärm in Bezug genommenen Anhangs enthaltenen Auflistung der Schallquellen, die tieffrequente Geräusche verursachen können, Musikanlagen nicht aufgeführt werden, wohl aber im Anhang A des Beiblatts zur DIN 45680, war für das Verwaltungsgericht im Übrigen nicht ausschlaggebend.
14Die Rechtssache weist keine besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten auf (Zulassungsgrund gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO).
15Dies wäre nur dann der Fall, wenn die Angriffe der Klägerin gegen die Tatsachenfeststellungen oder die rechtlichen Würdigungen, auf denen das angefochtene Urteil beruht, begründeten Anlass zu Zweifeln an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung gäben, die sich nicht ohne weiteres im Zulassungsverfahren klären ließen, sondern die Durchführung eines Berufungsverfahrens erfordern würden.
16Dass der Ausgang des Rechtsstreits in diesem Sinne offen ist, lässt sich auf der Grundlage des Zulassungsvorbringens nicht feststellen, denn die Klägerin stellt die Richtigkeit des angefochtenen Urteils unter den von ihr in diesem Zusammenhang angesprochenen Aspekten wie vorstehend ausgeführt nicht ernsthaft in Frage.
17Aus dem Zulassungsvorbringen ergibt sich nicht, dass das angefochtene Urteil von einer Entscheidung eines der in § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO genannten Gerichte abweicht und auf dieser Abweichung beruht. Wird der Zulassungsantrag mit dem Zulassungsgrund der Divergenz begründet, muss zur Darlegung dieses Zulassungsgrundes ein die angefochtene Entscheidung tragender abstrakter, aber inhaltlich bestimmter Rechtssatz aufgezeigt werden, der zu einem ebensolchen Rechtssatz in einer Entscheidung eines der in der Vorschrift genannten Gerichte in Widerspruch steht.
18Dass das Verwaltungsgericht von einem in den Entscheidungen des 4. Senats des Oberverwaltungsgerichts (Beschluss vom 3. November 2015 – 4 B 652/15 – und Beschluss vom 22. Dezember 2015 – 4 A 1852/14 –) aufgestellten Rechtssatz abgewichen wäre, ergibt sich aus dem Zulassungsvorbringen nicht. Der von der Klägerin formulierte vermeintliche Rechtssatz „Auflagen, die der Gewährleistung des Schutzes von Nachbarn einer Gastronomie dienen, müssen eine wirksame Kontrolle auch durch die durch die Nebenbestimmungen geschützten Personen ermöglichen, beispielsweise dadurch, dass Verstöße leicht zu dokumentieren sind“, findet sich in den genannten Entscheidungen nicht. Auch der von ihr insbesondere in Bezug genommenen Passage in dem Beschluss vom 3. November 2015 – 4 B 652/15 –, juris, Rn. 54, lässt sich unter Berücksichtigung des Kontextes nicht entnehmen, der 4. Senat habe die allgemeine Anforderung aufstellen wollen, dass Lärmschutzauflagen in einer (gaststättenrechtlichen) Genehmigung nur dann effektiv seien, wenn deren Einhaltung auch durch betroffene Nachbarn kontrolliert, im besten Fall ein Verstoß fotografisch dokumentiert werden könne. Eine solche Anforderung machte für eine ganze Reihe von Lärmschutzauflagen ersichtlich keinen Sinn.
19Es liegt schließlich auch kein der Beurteilung des Senats unterliegender Verfahrensmangel gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO vor, auf dem das angegriffene Urteil beruhen kann.
20Die Klägerin zeigt nicht auf, dass das Verwaltungsgericht den von ihr in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisantrag fehlerhaft abgelehnt hat. Es hat die unter Beweis gestellte Frage als nicht entscheidungserheblich betrachtet, weil sie ein Szenario unterstelle, das von der Baugenehmigung, die die Nutzung nicht limitierter Musikanlagen ausschließe, nicht gedeckt sei. Dies ist ausgehend von der insoweit maßgeblichen materiellen Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts nicht zu beanstanden. Die Klägerin hält dem ihre abweichende Auffassung vom Inhalt der Baugenehmigung, insbesondere vom Inhalt der Auflage Nr. 3 entgegen beziehungsweise beruft sich auch in diesem Zusammenhang darauf, die Einhaltung der Auflage Nr. 3 sei nicht sichergestellt. Hieraus ergibt sich jedoch nichts dafür, dass die Ablehnung des Beweisantrags wegen fehlender Entscheidungserheblichkeit fehlerhaft gewesen sein könnte.
21Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 VwGO.
22Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 40, 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 GKG.
23Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Sätze 1 und 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
24Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags ist das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).
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Tenor
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
Die Revision wird zugelassen.
1Tatbestand:
2Der am 18. Juli 1997 geborene Kläger ist armenischer Staatsangehöriger. Er reiste nach eigenen Angaben am 23. August 2019 in das Bundesgebiet ein und stellte am 12. September 2019 einen Asylantrag. Zum Zeitpunkt seiner Einreise verfügte der Kläger über ein Schengen-Visum, ausgestellt am 14. August 2019 durch die polnische Vertretung in Kaliningrad, mit einer Gültigkeit bis zum 15. Februar 2020.
3Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) wandte sich mit Gesuch vom 13. September 2019 an die polnischen Behörden und bat um Aufnahme des Klägers. Die polnischen Behörden stimmten mit Schreiben vom 24. September 2019 einer Aufnahme des Klägers zu.
4Mit Bescheid vom 27. September 2019 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG nicht vorliegen. Die Abschiebung in die Republik Polen wurde angeordnet. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und auf 12 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
5Der Kläger hat am 8. Oktober 2019 Klage erhoben und zugleich einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt (15 L 2716/19.A), den das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 31. Oktober 2019 - den Beteiligten zugestellt am gleichen Tag - abgelehnt hat. Auf den weiteren einstweiligen Rechtsschutzantrag des Klägers (15 L 776/20.A) hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 18. Mai 2020 in Abänderung des Beschlusses vom 31. Oktober 2019 im Verfahren - 15 L 2716/19.A - die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet.
6Mit Schreiben vom 30. März 2020 teilte die Beklagte dem Kläger mit, sie habe gemäß § 80 Abs. 4 VwGO i. V. m. Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO die Vollziehung der Abschiebungsanordnung ausgesetzt. Im Hinblick auf die Entwicklung der Corona-Krise seien derzeit Dublin-Überstellungen nicht zu vertreten. Daher werde bis auf weiteres die Überstellung des Klägers ausgesetzt. Die zeitweise Aussetzung des Überstellungsverfahrens impliziere nicht, dass der zuständige Dublin-Staat nicht mehr zur Übernahme bereit und verpflichtet sei. Vielmehr sei der Vollzug vorübergehend nicht möglich. Die abgegebene Erklärung gelte unter dem Vorbehalt des Widerrufs.
7Zur Begründung seiner Klage hat der Kläger im Wesentlichen geltend gemacht, die Überstellungsfrist nach Art. 29 Dublin III-VO sei am 30. April 2020 abgelaufen, sodass die Beklagte für die Prüfung seines Asylantrags zuständig geworden sei. Daran ändere auch die Aussetzung der Vollziehung durch das Bundesamt nichts, da diese nicht von Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO gedeckt sei.
8Der Kläger hat beantragt,
9die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 27. September 2019 zu verpflichten, festzustellen, dass die Bundesrepublik für sein Asylverfahren zuständig ist und deshalb sein Asylverfahren in Deutschland durchzuführen ist,
10hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass in seiner Person die Voraussetzungen der Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorliegen.
11Die Beklagte hat beantragt,
12die Klage abzuweisen.
13Zur Begründung hat sie sich auf die Gründe des angefochtenen Bescheids bezogen.
14Mit Urteil vom 9. Juli 2020 hat das Verwaltungsgericht den Bescheid des Bundesamts vom 27. September 2019 aufgehoben. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Ablehnung des Asylantrags des Klägers als unzulässig nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 a) AsylG sei zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung rechtswidrig. Die sechsmonatige Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO sei bereits am 30. April 2020 abgelaufen mit der Folge, dass die Beklagte gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO für die Prüfung des Asylantrags des Klägers zuständig geworden sei. Die unter dem 31. März 2020 erfolgte Aussetzung der Vollziehung durch das Bundesamt habe sich - ungeachtet der Wirkungen einer solchen Aussetzung im nationalen Recht - nach den Regelungen der Dublin III-VO nicht auf den Ablauf der Überstellungsfrist ausgewirkt, da sie sich nicht auf Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO stützen lasse.
15Zur Begründung der vom Senat zugelassenen Berufung macht die Beklagte geltend, ihre Aussetzungsentscheidung vom 31. März 2020 habe zu einer Unterbrechung der Überstellungsfrist geführt, so dass bislang noch kein Zuständigkeitsübergang gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO stattgefunden habe. Die Rahmenvorgaben der Dublin III-VO ermöglichten eine Auslegung dahin, dass - zumal wegen einer wie hier völlig atypischen Sonderkonstellation - eine behördliche Aussetzung der Überstellungsfrist statthaft sei und zur Unterbrechung der Frist führe. Möglicherweise habe die Sondersituation durch die Corona-Krise bereits per se zu einer Unterbrechung laufender Überstellungsfristen geführt. Zumindest seien die Mitgliedstaaten in dieser Konstellation befugt, gemäß Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO eine Aussetzung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss der (behördlichen) Überprüfung zu verfügen. Eine solche Aussetzungsentscheidung dürfe ergehen, wenn Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung bestünden. Denn dann hätten die Belange eines Antragstellers auf Gewährung effektiven Rechtschutzes Vorrang vor dem Beschleunigungsgedanken. Solche Zweifel hätten sich vorliegend daraus ergeben, dass aufgrund der erfolgten Grenzschließungen in Folge der Corona-Pandemie nicht festgestanden habe, dass die Überstellung auch tatsächlich zeitnah erfolgen könne.
16Die Wirksamkeit des gerichtlichen Rechtschutzes erlaube ferner eine behördliche Aussetzung aus sachlich vertretbaren Erwägungen, die nicht rechtlich zwingend sein müssten, auch unterhalb dieser Schwelle, wenn diese den Beschleunigungsgedanken und die Interessen des zuständigen Mitgliedstaates nicht willkürlich verkennen würden und auch sonst nicht rechtsmissbräuchlich seien, was hier aufgrund der durch die Corona-Pandemie hervorgerufenen außerordentlichen Lage der Fall sei. Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO lasse sich dagegen nicht entnehmen, dass eine Vollziehung nur zu dem Zweck ausgesetzt werden dürfe, eine gerichtliche Klärung der Rechtmäßigkeit der Überstellungsentscheidung zu ermöglichen. Diese finale Verknüpfung ergebe sich weder aus dem deutschen Wortlaut der Norm noch aus ihrer englischen bzw. französischen Fassung. Die Formulierung „bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung“ deute vielmehr lediglich auf einen zeitlichen Gleichlauf des Rechtsbehelfs und einer Aussetzungsentscheidung hin und bestimme im Übrigen einen maximalen Zeitraum, der aber von den Behörden nicht ausgeschöpft werden müsse. Daran ändere auch die Mitteilung der EU-Kommission vom 17. April 2020 nichts, wonach keine Vorschrift der Dublin III-VO es erlaube, in der derzeitigen Corona-Krise vom Prinzip des Zuständigkeitsübergangs nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO abzuweichen. Denn die Kommission gehe in der Mitteilung gerade nicht darauf ein, ab welchem Zeitpunkt die Überstellungsfrist zu laufen beginne bzw. ob eine noch laufende Überstellungsfrist nach Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO unterbrochen werden könne, sodass das Vorgehen des Bundesamts den Vorgaben der EU-Kommission nicht widerspreche.
17Die Aussetzungsentscheidung sei weder willkürlich noch rechtsmissbräuchlich. Ziel der Vollzugsaussetzung sei nicht nur ein (nicht gerechtfertigtes) Hinausschieben bzw. Verhindern des anstehenden Ablaufs der Überstellungsfrist, die aufgrund behördlicher Versäumnisse nicht mehr gewahrt werden könne. Die Aussetzung sei vielmehr erfolgt, um dem tatsächlich aufgrund der Corona-Pandemie bestehenden Vollzugshindernis und der dadurch herbeigeführten vorübergehenden Rechtswidrigkeit der Abschiebungsanordnung Rechnung zu tragen.
18Die Beklagte beantragt,
19das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage abzuweisen.
20Der Kläger beantragt,
21die Berufung zurückzuweisen.
22Zur Begründung bezieht er sich auf die Entscheidungsgründe des klageabweisenden Urteils und ergänzt, die überwiegende Mehrheit der Verwaltungsgerichte halte die ausgesprochene Vollzugsaussetzung des Bundesamts für unionsrechtswidrig. Zu diesem Ergebnis komme auch eine Ausarbeitung des Deutschen Bundestags zur Aussetzung von Überstellungsfristen nach der Dublin III-VO im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie vom 2. Juni 2020.
23Die Beteiligten haben übereinstimmend ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.
24Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Bundesamts Bezug genommen.
25Entscheidungsgründe:
26Mit Einverständnis der Beteiligten entscheidet der Senat gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung.
27Die zulässige Berufung hat keinen Erfolg.
28Das Verwaltungsgericht hat den Bescheid des Bundesamts vom 27. September 2019 zu Recht aufgehoben, da dieser rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
29A. Die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig in Ziffer 1. des Bescheids kann nicht (mehr) auf § 29 Abs. 1 Nr. 1 a) AsylG gestützt werden.
30Danach ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III-VO), für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
31Gemäß Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO erfolgt die Überstellung aus dem ersuchenden Mitgliedstaat in den zuständigen Mitgliedstaat nach Maßgabe der innerstaatlichen Rechtsvorschriften des ersuchenden Mitgliedstaats und nach Abstimmung der beteiligten Mitgliedstaaten, sobald dies praktisch möglich ist, spätestens aber innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO aufschiebende Wirkung hat. Wird die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt, ist nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet und die Zuständigkeit geht auf den ersuchenden Mitgliedstaat über. Gemäß Satz 2 der Vorschrift kann die Frist höchstens auf ein Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung aufgrund der Inhaftierung der betreffenden Person nicht erfolgen konnte, oder aber auf höchstens 18 Monate, wenn die betreffende Person flüchtig ist.
32I. Da weder vorgetragen noch sonst ersichtlich ist, dass das Bundesamt die Republik Polen als den um die Aufnahme bzw. Wiederaufnahme ersuchten Mitgliedstaat über einen der in Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO genannten Gründe für eine Fristverlängerung informiert hat, betrug die maßgebliche Überstellungsfrist entsprechend Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III‑VO sechs Monate.
33Diese sechsmonatige Überstellungsfrist hat ursprünglich am 24. September 2019 zu laufen begonnen, nachdem die polnischen Behörden einer Überstellung des Klägers zugestimmt hatten. Sie ist durch die Stellung des (ersten) gerichtlichen Eilantrags (15 L 2716/19.A) unterbrochen worden und hat mit dessen Ablehnung am 31. Oktober 2019, den Beteiligten zugestellt am gleichen Tag, erneut zu laufen begonnen.
34Vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 26. Mai 2016 ‑ 1 C 15.15 -, juris.
35Die Überstellungsfrist ist daher am 30. April 2020 abgelaufen.
36II. Die durch das Bundesamt angeordnete Aussetzung der Vollziehung der im angefochtenen Bescheid enthaltenen Abschiebungsanordnung nach § 80 Abs. 4 VwGO i. V. m. Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO mit Schriftsatz vom 30. März 2020 hat nicht zu einer (erneuten) Unterbrechung oder Aussetzung der Überstellungsfrist geführt. Nach Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass die zuständigen Behörden beschließen können, von Amts wegen tätig zu werden, um die Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung auszusetzen. Diese unionsrechtlich vorgesehene Möglichkeit ist im nationalen Recht durch § 80 Abs. 4 VwGO eröffnet, nach dessen Satz 1 die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, in den Fällen des Entfallens der aufschiebenden Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 2 VwGO die Vollziehung aussetzen kann, soweit nicht bundesgesetzlich etwas anderes bestimmt ist.
37Die Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung gemäß § 80 Abs. 4 VwGO durch die Behörde ist zwar generell geeignet, die in Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO vorgesehene Überstellungsfrist zu unterbrechen.
38Vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Januar 2019 - 1 C 16.18 -, juris, Rn. 19; siehe auch EuGH, Urteil vom 13. September 2017 - C-60/16 -, juris, Rn. 71 (zu Art. 28 Abs. 3 UAbs. 3 Dublin III-VO).
39Allerdings ist die im vorliegenden Verfahren angeordnete Aussetzung nicht mit Unionsrecht vereinbar.
401. Der Senat schließt sich der zutreffenden Rechtsauffassung des Oberverwaltungsgerichts Schleswig-Holstein in seinem Beschluss vom 9. Juli 2020 - 1 LA 120/20 - sowie des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts in seinem Beschluss vom 27. Oktober 2020 - 10 LA 217/20 - an, wonach eine Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung im Sinne von Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO voraussetzt, dass diese zum Zwecke einer Prüfung der Überstellungsentscheidung (in Form eines Rechtsbehelfsverfahrens oder einer behördlichen Überprüfung) angeordnet wird. Eine von der Durchführung eines solchen Prüfungsverfahrens unabhängige Aussetzung der Überstellungsentscheidung sieht Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO nicht vor.
41a. Bereits dem Wortlaut des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO lässt sich mit der Bezugnahme auf den Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung entnehmen, dass mit der mitgliedstaatlichen Aussetzungsentscheidung im Sinne dieser Vorschrift eine rechtschutzbezogene Prüfung der Überstellungsentscheidung verbunden sein muss. Eine Aussetzung der Vollziehung im Sinne des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO kommt - anders als nach nationalem Verfahrensrecht - nur dann in Betracht, wenn der Betroffene einen Rechtsbehelf im Sinne der Vorschrift eingelegt hat (der im Zeitpunkt der Aussetzungsentscheidung noch anhängig sein muss). Nach dem Wortlaut bestimmt der Abschluss dieser Prüfung den Zeitpunkt, bis zu dem die Durchführung der Überstellungsentscheidung ausgesetzt werden kann.
42Vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 27. Oktober 2020 - 10 LA 217/20 -, juris, Rn. 19; OVG S.-H., Beschluss vom 9. Juli 2020 - 1 LA 120/20 -, juris, Rn. 9.
43Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass sich eine solche finale Verknüpfung weder aus dem deutschen Wortlaut („um die Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung auszusetzen“) noch der englischen oder französischen Sprachfassung („pending the outcome of the appeal or review“ bzw. „en attendant l’issue du recours ou de la demande de révision“ [bis das Ergebnis der Beschwerde oder des Antrags auf bzw. der Überprüfung vorliegt]) ergebe, sondern die Sprachfassungen vielmehr lediglich einen zeitlichen Gleichlauf zwischen Rechtsbehelf und Aussetzungsentscheidung implizierten.
44So aber u. a. VG Karlsruhe, Urteil vom 26. August 2020 - 1 K 1026/20 -, juris, Rn. 48; VG Minden, Beschluss vom 6. Juli 2020 - 12 L 485/20.A -, juris, Rn. 55 ff.
45b. Die Notwendigkeit einer finalen Verknüpfung im o. g. Sinne ergibt sich nämlich ferner aus der Systematik sowie dem Sinn und Zweck der Norm.
46aa. Bereits die Überschrift des Art. 27 Dublin III-VO („Rechtsmittel“ bzw. „Remedies“ oder „Voies de recours“) sowie dessen systematische Einordnung in den Abschnitt IV der Verordnung („Verfahrensgarantien“ bzw. „Procedural safeguards“ oder „Garanties procédurales“) machen deutlich, dass Ziel der Vorschrift die Gewährleistung der Möglichkeit einer rechtschutzbezogenen Prüfung der mitgliedstaatlichen Überstellungsentscheidung (im Einzelfall) und damit eines effektiven Rechtsschutzes für die jeweiligen Antragsteller und andere Personen im Sinne des Art. 18 Abs. 1 c) oder d) Dublin III-VO ist.
47bb. Die Notwendigkeit der finalen Verknüpfung zwischen Rechtsbehelf und Aussetzungsentscheidung folgt darüber hinaus aus der normativen Einbettung der Vorschrift in den Kontext des Art. 27 Abs. 1 bis 3 Dublin III-VO, der ersichtlich auf die Gewährleistung eines wirksamen Rechtsmittels abzielt. Nach Art. 27 Abs. 1 Dublin III-VO hat der Antragsteller oder eine andere Person im Sinne von Art. 18 Abs. 1 c) oder d) Dublin III-VO das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gegen eine Überstellungsentscheidung in Form einer auf Sach- und Rechtsfragen gerichteten Überprüfung durch ein Gericht, das er innerhalb einer angemessenen Frist wahrnehmen kann (Abs. 2). Nach Abs. 3 sehen die Mitgliedstaaten in ihrem innerstaatlichen Recht „zum Zwecke eines Rechtsbehelfs gegen eine Überstellungsentscheidung oder einer Überprüfung einer Überstellungsentscheidung“ vor, dass einem Rechtsbehelf entweder von Gesetzes wegen aufschiebende Wirkung zukommt, so dass die betroffene Person bis zum Abschluss seiner rechtsschutzbezogenen Prüfung im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats bleiben kann, oder dass der Betroffene eine Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung gerichtlich beantragen kann.
48cc. Auch mit dem Recht auf ein effektives Rechtsmittel (Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO i. V. m. Art. 47 GRC) wäre es nicht vereinbar, dem Mitgliedstaat eine Möglichkeit zur unilateralen Verlängerung bzw. Unterbrechung der Überstellungsfrist aus nicht rechtsschutzbezogenen und nicht in der Verantwortungssphäre des Betroffenen liegenden Gründen einzuräumen. Andernfalls würde so den zuständigen Behörden die Möglichkeit eröffnet, eine Unterbrechung der Überstellungsfrist in Fällen selbst herbeizuführen, in denen die Dublin III-VO eine Verlängerung der Überstellungsfrist gerade nicht vorsieht. Zudem würde so die - durch Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO ausdrücklich eröffnete - Entscheidung des Bundesgesetzgebers unterlaufen, grundsätzlich dem Kläger die Entscheidung zu überlassen, ob er in Folge der Klageerhebung eine Unterbrechung der Überstellungsfrist in Kauf nehmen will (vgl. §§ 34a Abs. 2, 75 AsylG).
49vgl. zu diesem Wertungswiderspruch auch Deutscher Bundestag (PE 6: Fachbereich Europa), Ausarbeitung zur Aussetzung von Überstellungsfristen nach der Dublin-III-Verordnung im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie vom 2. Juni 2020 - PE 6 - 3000 - 031/20 -, S. 14 f.; VG Karlsruhe, Urteil vom 1. Oktober 2020 - A 9 K 343/20 -, juris, Rn. 25, 30.
50c. Darüber hinaus ist bei der Auslegung des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO neben den aufgezeigten Auslegungserwägungen insbesondere auch das Dublin-System insgesamt zu berücksichtigen.
51Vgl. zur Auslegung von Art. 27 Abs. 1 Dublin III-VO EuGH, Urteil vom 7. Juni 2016 - C-63/15 -, juris, Rn. 35, m. w. N.
52Ziel des Dublin-Systems ist es, einerseits einen angemessenen Ausgleich zwischen der Gewährung effektiven Rechtsschutzes und der Ermöglichung einer raschen Bestimmung des für die inhaltliche Prüfung des Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats zu schaffen (vgl. Erwägungsgrund 5 zur Dublin III-VO) und andererseits zu verhindern, dass sich Asylbewerber durch Weiterwanderung den für die Prüfung ihres Asylbegehrens zuständigen Mitgliedstaat aussuchen (Verhinderung von Sekundärmigration). Der Zuständigkeitsübergang nach Ablauf der Überstellungsfrist soll verhindern, dass Asylanträge monate- oder gar jahrelang nicht geprüft werden, zugleich soll das Ziel einer möglichst schnellen Prüfung nicht dazu führen, dass dem jeweiligen Mitgliedstaat keine zusammenhängende Überstellungsfrist von sechs Monaten zur Verfügung steht, in der nur noch die Überstellungsmodalitäten zu regeln sind oder der Beschleunigungsgedanke zulasten eines effektiven Rechtsschutzes verwirklicht wird. Der Beschleunigungsgedanke steht demnach grundsätzlich in einem Spannungsverhältnis mit dem Recht auf effektiven Rechtsschutz.
53Vgl. dazu EuGH, Urteil vom 7. Juni 2016 ‑ C‑63/15 -, juris, Rn. 56 f.; BVerwG, Urteile vom 8. Januar 2019 - 1 C 16.18 -, juris, Rn. 26, und vom 27. April 2016 - 1 C 24.15 -, juris, Rn. 13.
54Ausgehend hiervon ist auch mit Blick auf Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO eine Auslegung geboten, die den genannten widerstreitenden Interessen Rechnung trägt. Eine Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung im Sinne des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO, die den Fristbeginn nach Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO verzögert und somit dem Beschleunigungsgedanken zuwider läuft, kann demnach nur zugunsten der Gewährung effektiven Rechtsschutzes vorgenommen werden.
55Vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 27. Oktober 2020 - 10 LA 217/20 -, juris, Rn. 22; OVG S.-H., Beschluss vom 9. Juli 2020 - 1 LA 120/20 -, juris, Rn. 12.
56d. Nichts anderes ergibt sich aus der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts. Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht ausgeführt, dass eine behördliche Aussetzungsentscheidung im Sinne des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO auch dann ergehen kann, wenn diese auf sachlich vertretbaren Erwägungen beruht, die den Beschleunigungsgedanken und die Interessen des zuständigen Mitgliedstaats nicht willkürlich verkennen und auch sonst nicht missbräuchlich sind.
57Vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Januar 2019 ‑ 1 C 16.18 -, juris, Rn. 27.
58Jedoch ist auch in diesen Fällen die behördliche Aussetzung nur vor dem Hintergrund des effektiven Rechtsschutzes erlaubt. Das ergibt sich aus dem Zusammenhang der Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts:
59„Eine behördliche Aussetzungsentscheidung darf hiernach auch unionsrechtlich jedenfalls dann ergehen, wenn Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung bestehen […]; dann haben die Belange eines Antragstellers auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes offenkundig Vorrang vor dem Beschleunigungsgedanken. Die Wirksamkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes […] erlaubt eine behördliche Aussetzung aus sachlich vertretbaren Erwägungen, die nicht rechtlich zwingend sein müssen, auch unterhalb dieser Schwelle, wenn diese den Beschleunigungsgedanken und die Interessen des zuständigen Mitgliedstaats nicht willkürlich verkennen und auch sonst nicht missbräuchlich sind.
60[…]
61Diese - auf die Wahrung der Effektivität des nationalen Verfahrens […] bezogenen - Vorgänge sind jedenfalls ein hinreichender, sachlich rechtfertigender Anlass für eine behördliche Aussetzung der Vollziehung nach § 80 Abs. 4 VwGO. […]
62Die behördliche Aussetzungsentscheidung war hier schon deswegen sachlich geboten, frei von Willkür und nicht rechtsmissbräuchlich, weil sie die Berücksichtigung der Effektivität […] gerichtlichen Rechtsschutzes sicherstellte, ohne eine endgültige Veränderung der Rechtslage durch einen Zuständigkeitsübergang infolge Ablaufs der Überstellungsfrist zu bewirken. (Hervorhebungen durch den Senat)“
63Vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Januar 2019 ‑ 1 C 16.18 -, juris, Rn. 27, 31 f.
64Darüber hinaus ist auch der Kontext zu berücksichtigen, in welchem die zitierte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts ergangen ist. Das Bundesamt hatte im dortigen Verfahren auf Bitte des Bundesverfassungsgerichts bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde gemäß § 80 Abs. 4 VwGO die Vollziehung der Abschiebungsanordnung ausgesetzt, um eine rechtliche Prüfung der Überstellungsentscheidung durch das Verfassungsgericht zu ermöglichen. Die damalige Aussetzungsentscheidung, welche das Bundesverwaltungsgericht im Nachgang als willkürfrei und nicht rechtsmissbräuchlich erachtet hat, erging demnach ausdrücklich mit dem Ziel der Gewährung effektiven Rechtsschutzes (für die Dauer der Verfassungsbeschwerde).
65Sofern die Beklagte und die von ihr in der Berufungsbegründung zitierten verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen,
66u. a. VG Düsseldorf, Urteil vom 21. Juli 2020 - 22 K 8762/18.A -, juris, Rn. 103 ff.; VG Trier, Beschluss vom 5. August 2020 - 7 L 2362/20.TR -, juris, Rn. 11; VG Karlsruhe, Urteil vom 26. August 2020 - A 1 K 1026/20 -, juris, Rn. 34 f.,
67aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ableiten, dass jede sachlich vertretbare, willkürfreie und nicht rechtsmissbräuchliche Erwägung eine Aussetzung im Sinne des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO stützen kann, verkennen sie, dass auch das Bundesverwaltungsgericht die Aussetzung nur - wie aufgezeigt - vor dem Hintergrund der Gewährung wirksamen Rechtsschutzes erlaubt hat.
68Vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 27. Oktober 2020 - 10 LA 217/20 -, juris, Rn. 26 ff.; OVG S.-H., Beschluss vom 9. Juli 2020 - 1 LA 120/20 -, juris, Rn. 13 ff.
692. Zudem lässt sich Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO entnehmen, dass die praktische Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Überstellung grundsätzlich von der Frage nach der aufschiebenden Wirkung einer rechtlichen Prüfung der Überstellungsentscheidung zu trennen ist.
70a. Aus der Vorschrift ergibt sich, dass die Überstellungsfrist unabhängig von der praktischen Möglichkeit der Überstellung spätestens sechs Monate nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO aufschiebende Wirkung hat, endet. Dies bedeutet, dass die Norm mit Blick auf den Beginn der Überstellungsfrist die Frage nach der tatsächlichen Möglichkeit der Überstellung eindeutig von der Frage der aufschiebenden Wirkung einer rechtlichen Prüfung der Überstellungsentscheidung trennt. Außerdem ergibt sich aus dieser Vorschrift deutlich, dass es sich bei der Sechsmonatsfrist um eine Höchstfrist handelt, binnen derer die Überstellung zu erfolgen hat, sobald dies praktisch möglich ist. Etwas anderes gilt ausschließlich in Fällen, in denen der Adressat der Überstellungsentscheidung die Unmöglichkeit der Überstellung selbst verschuldet. Diese Fälle sind jedoch in Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO abschließend geregelt.
71Vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 27. Oktober 2020 - 10 LA 217/20 -, juris, Rn. 23; OVG S.-H., Beschluss vom 9. Juli 2020 - 1 LA 120/20 -, juris, Rn. 17.
72b. Dieses Normverständnis wird auch durch die Verlautbarung der Europäischen Kommission vom 17. April 2020 gestützt. Darin hat die Europäische Kommission ausgeführt, dass keine Bestimmung der Verordnung es erlaube, in einer Situation wie der, die sich aus der Corona-Pandemie ergebe, von der Regelung zum Zuständigkeitsübergang nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO abzuweichen.
73Vgl. Europäische Kommission, COVID-19: Hinweise zur Umsetzung der einschlägigen EU-Bestimmungen im Bereich der Asyl- und Rückführungsverfahren und zur Neuansiedlung vom 17. April 2020 - 2020/C 126/02 -, ABl. EU C 126, S. 12 (16).
74Zwar verhält sich die Kommission insoweit nicht ausdrücklich zu der Frage, ob die sich aufgrund der Corona-Pandemie ergebende Situation zur Anwendung des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO berechtigt. Sie bezieht jedoch auch gerade eine Aussetzung der Überstellungsentscheidung nach Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO mit der sich infolge der Aussetzung nach Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO ergebenden Unterbrechung der Überstellungsfrist und einem verzögerten Zuständigkeitsübergang (Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO) in keiner Weise in ihre Ausführungen zum Zuständigkeitsübergang in Folge der Corona-Pandemie mit ein.
75Vgl. OVG S.-H., Beschluss vom 9. Juli 2020 ‑ 1 LA 120/20 -, juris, Rn. 18.
76In diese Richtung deuten auch die Pläne der EU-Kommission mit ihrem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Bewältigung von Krisensituationen und Situationen höherer Gewalt im Bereich Migration und Asyl vom 23. September 2020,
77- COM(2020) 613 final, 2020/0277 (COD) -, abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52020PC0613
78&from=DE,
79nach welcher es Mitgliedstaaten zukünftig in Situationen höherer Gewalt unter strengen Voraussetzungen erlaubt sein soll, Mitteilungs- bzw. Überstellungsfristen gegenüber den anderen Mitgliedstaaten zu verlängern (vgl. Erwägungsgrund 28 und § 8 Abs. 1 der geplanten Verordnung). Die aus Sicht der Kommission notwendige Einführung einer solchen Verlängerungsmöglichkeit in Situationen höherer Gewalt (zu denen die aktuelle durch die Corona-Pandemie bedingte Lage zählen dürfte) zeigt, dass nach dem derzeit geltenden Recht keine solche Verlängerung bzw. Aussetzung wegen tatsächlicher Unmöglichkeit der Überstellung (in Krisensituationen) vorgesehen ist.
80c. Soweit die Beklagte sich darauf beruft, dass in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs anerkannt sei, dass der überstellende Mitgliedstaat über einen zusammenhängenden Sechsmonatszeitraum verfügen solle, um die Überstellung zu bewerkstelligen,
81vgl. EuGH, Urteil vom 29. Januar 2009 - C-19/08 -, juris, Rn. 43; BVerwG, Urteil vom 8. Januar 2019 - 1 C 16.18 -, juris Rn. 17,
82steht dies dem Auslegungsergebnis ebenfalls nicht entgegen. Vielmehr fallen tatsächliche Hindernisse, die innerhalb der zusammenhängenden Sechsmonatsfrist auftreten und nicht in Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO geregelt sind, in die Risikosphäre des überstellenden Staates.
83Vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 27. Oktober 2020 - 10 LA 217/20 -, juris, Rn. 29.
843. Dies zugrunde gelegt hat die Aussetzung der Vollziehung durch das Bundesamt wegen eines Verstoßes gegen Unionsrecht nicht zu einer Unterbrechung der Überstellungsfrist geführt. Denn es ist nicht ersichtlich, dass die Aussetzung mit der Zielsetzung einer rechtschutzbezogenen Prüfung der Überstellungsentscheidung vorgenommen worden ist. Die Aussetzungsentscheidung ist vielmehr allein aufgrund einer vorübergehenden und vom Kläger als Adressat der Überstellungsentscheidung nicht zu vertretenden tatsächlichen Unmöglichkeit der Überstellung in Form von Einreisesperren in Reaktion auf die weltweite Corona-Pandemie getroffen worden.
85a. Dies ergibt sich schon unmittelbar aus dem Schreiben des Bundesamts vom 30. März 2020, wonach im Hinblick auf die Entwicklung der Corona-Krise derzeit Dublin-Überstellungen nicht zu vertreten seien. Mit der Bezugnahme auf die tatsächliche Unmöglichkeit einer Überstellung hat die Beklagte dabei nicht auf Umstände Bezug genommen, welche die Zuständigkeit des jeweiligen Zielstaates in Frage stellen, sondern lediglich auf solche, die die Durchführbarkeit der Überstellung innerhalb der Überstellungsfrist betreffen. Auch aus dem zweiten Absatz des Schreibens, der sich mit den vermeintlichen Rechtsfolgen einer solchen Aussetzungsentscheidung befasst, wird deutlich, dass die Aussetzungsentscheidung nicht der Ermöglichung einer rechtschutzbezogenen Überprüfung, sondern (vorrangig) der Herbeiführung einer Unterbrechung der Überstellungsfrist diente.
86b. Bekräftigt wird dieser Eindruck einer ausschließlich auf eine Unterbrechung der Überstellungsfrist abzielenden Aussetzungsentscheidung durch den Umstand, dass die Beklagte entsprechende Aussetzungsentscheidungen weder spezifisch im Hinblick auf die Überstellung des Klägers noch im Hinblick auf sämtliche anhängigen Überstellungsentscheidungen nach Polen, sondern im Hinblick auf alle in Betracht kommenden Dublin-Staaten unabhängig davon getroffen hat, ob gegen die jeweiligen Überstellungsverfahren noch Rechtsbehelfe anhängig waren.
87Vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Luise Amtsberg, Franziska Brantner, Filiz Polat, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 23. Juni 2020, BT-Drs. 19/20299, S. 3 f.
88Schon die Außerachtlassung der - auch vom Bundesverwaltungsgericht angenommenen - Mindestvoraussetzung der Anhängigkeit eines Rechtsbehelfs macht deutlich, dass die Entscheidungspraxis des Bundesamts nicht auf die Ermöglichung eines wirksamen Rechtsschutzes (im Einzelfall), sondern alleine auf eine unilaterale Verlängerung der Überstellungsfrist abzielte. Die Einheitlichkeit der Aussetzungspraxis sowohl im Hinblick auf stark von der Corona-Pandemie betroffene Staaten - wie Italien und Spanien - einerseits und im maßgeblichen Zeitpunkt kaum betroffene Staaten - wie Bulgarien, Griechenland oder eben Polen - andererseits, legt ebenfalls den Schluss nahe, dass die Aussetzungsentscheidungen alleine eine Reaktion auf die tatsächliche Unmöglichkeit der Überstellung darstellten. Dass das Bundesamt im Zeitpunkt der Aussetzung Zweifel an der Zumutbarkeit von Überstellungen in sämtliche Dublin-Staaten gehegt oder die Auswirkungen der Pandemie auf die jeweiligen Aufnahmebedingungen ernstlich geprüft hätte, hat es selbst nicht behauptet.
89c. Schließlich entfaltet auch der Umstand Indizwirkung, dass das Bundesamt die Aussetzung der Vollziehung nicht bis zur Rechtskraft einer etwaigen Hauptsacheentscheidung, sondern lediglich unter dem Vorbehalt des Widerrufs bzw. „bis auf weiteres“ erklärt hat. Zwar war das Bundesamt von Rechts wegen nicht verpflichtet, eine entsprechende Befristung ausdrücklich auszusprechen, da sich diese unmittelbar aus § 80b Abs. 1 VwGO ergibt. Auch dürfte der Beklagten beizupflichten sein, dass es sich bei der Formulierung in Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO „bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung“ um eine Maximalfrist handeln dürfte. Der ausdrückliche Hinweis auf die Möglichkeit eines jederzeitigen Widerrufs, die alleine mit der vorübergehenden Unmöglichkeit der Überstellung begründet wurde, zeigt jedoch, dass die Aussetzung unabhängig von den Vorgaben in Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO erfolgt ist.
90d. Abgerundet werden diese Gesamtumstände schließlich dadurch, dass das Bundesamt die im Zeitraum von März bis Juni 2020 getroffenen Aussetzungsentscheidungen in einer Vielzahl von Verfahren widerrufen, hierbei maßgeblich auf die weitgehende Aufhebung der Reisebeschränkungen Bezug genommen und diese als Grund für die Aussetzungsentscheidung benannt hat. Auch die so begründete Aufhebung der jeweiligen Aussetzungsentscheidungen lässt nur den Schluss zu, dass die ursprüngliche Aussetzung nicht - wie aber von Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO vorgesehen - der Ermöglichung wirksamen Rechtsschutzes gedient hat.
91Vgl. hierzu VG Karlsruhe, Urteil vom 1. Oktober 2020 - A 9 K 343/20 -, juris, Rn. 32 ff.
92III. Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage durch das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 18. Mai 2020 (15 L 776/20.A) hat ebenfalls keine Auswirkungen auf den Ablauf der Überstellungsfrist. Denn zum Zeitpunkt der gerichtlichen Beschlussfassung war die Überstellungsfrist bereits abgelaufen, sodass eine (erneute) Unterbrechung nicht mehr möglich war.
93B. Mit der Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung nach Art. 29 Abs. 1 Nr. 1 a) AsylG unterliegt auch die mit Ziffer 2. des angegriffenen Bescheids ausgesprochene Feststellung des Nichtvorliegens von Abschiebungsverboten hinsichtlich der Republik Polen der Aufhebung, weil sie verfrüht ergangen ist.
94Vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 ‑ 1 C 4.16 -, juris, Rn. 21.
95Die auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG gestützte Abschiebungsanordnung (Ziffer 3.) teilt das rechtliche Schicksal der Unzulässigkeitsentscheidung, weil eine Zuständigkeit der Republik Polen nicht mehr gegeben ist. Mit der Aufhebung der Abschiebungsanordnung entfällt zugleich die Grundlage für die Anordnung des auf § 11 Abs. 1 AufenthG gestützten Einreise- und Aufenthaltsverbots in Ziffer 4. des Bescheids (vgl. § 11 Abs. 2 Satz 2 AufenthG).
96C. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 2 VwGO, 83b AsylG.
97Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus den §§ 167 VwGO, 708 Nr. 10, 709 Satz 2, 711 Satz 1 ZPO.
98Die Revision wird zugelassen, weil die Frage, ob eine behördliche Aussetzungsentscheidung nach Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO i. V. m. § 80 Abs. 4 VwGO nur mit der Zielsetzung einer rechtschutzbezogenen Prüfung der Überstellungsentscheidung oder auch unabhängig davon vorgenommen werden darf, grundsätzliche Bedeutung hat.
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Tenor
Das angegriffene Urteil wird geändert.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
1Tatbestand:
2Die 1953 geborene Klägerin, eine syrische Staatsangehörige arabischer Volks- und sunnitischer Religionszugehörigkeit, verließ 2015 Syrien, reiste im selben Jahr über den Libanon, die Türkei und Griechenland mit dem Flugzeug nach Deutschland ein und beantragte am 27.1.2016 Asyl. Ihr 1987 verstorbener Ehemann war als palästinensischer Flüchtling bei dem UNRWA (United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East) registriert. Vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden Bundesamt) machte sie zu ihren Ausreisegründen geltend: Sie habe Angst vor den Bombardierungen in Syrien. Seit dem Tod ihres Mannes sei es sehr schwer gewesen, die Kinder zu erziehen. Sie sei sehr krank und müsse Medikamente nehmen, die sie sich nicht mehr leisten könne. Mit Bescheid vom 9.5.2017 gewährte das Bundesamt der Klägerin subsidiären Schutz, lehnte aber unter Nr. 2 den weitergehenden Asylantrag ab.
3Die Klägerin hat gegen die Verweigerung der Flüchtlingsanerkennung rechtzeitig Klage erhoben.
4Die Klägerin hat beantragt,
5die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheides vom 9.5.2017 zu verpflichten, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
6Die Beklagte hat beantragt,
7die Klage abzuweisen.
8Mit dem angegriffenen Urteil hat das Verwaltungsgericht die Beklagte verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Dagegen richtet sich die vom Senat zugelassene und rechtzeitig begründete Berufung der Beklagten.
9Die Beklagte trägt vor: Nach zutreffender Rechtsprechung des erkennenden Senats drohe unverfolgt ausgereisten Syrern keine politische Verfolgung allein wegen illegaler Ausreise, eines Asylantrags und des Aufenthalts im europäischen Ausland. Die Klägerin sei keine Palästinenserin und habe auch keinen Unterstützungsanspruch gegen das UNRWA. Soweit sie gesundheitliche Probleme geltend mache, sei dies für den Anspruch auf Flüchtlingsanerkennung irrelevant.
10Die Beklagte beantragt,
11das angegriffene Urteil zu ändern und die Klage abzuweisen.
12Die Klägerin beantragt,
13die Berufung zurückzuweisen.
14Sie trägt vor: Sie leide an verschiedenen Krankheiten. Bis zum Tod ihres Mannes habe sie soziale Hilfe von dem UNRWA erhalten. Danach sei diese Hilfe eingestellt und den Kindern gewährt worden. Sie selbst sei keine Palästinenserin. Bis etwa fünf Monate vor der Ausreise habe sie im Camp Jarmuk gelebt, das von Palästinensern bewohnt werde. Das Haus sei dann im Krieg zerstört worden, weshalb sie mit ihrer Tochter nach Rok El Din gezogen sei. Sie habe somit faktisch unter dem Schutz des UNRWA gestanden. Sie habe keine Möglichkeit mehr, in das Camp zurückzukehren, da ihr wohl das UNRWA den Schutz verweigern würde. Es müsse auch bezweifelt werden, ob das UNRWA überhaupt noch in der Lage sei, Schutz zu bieten. Auch wegen ihrer Erkrankungen könnten weder das UNRWA noch das syrische Gesundheitswesen einen ausreichenden Schutz zur Verfügung stellen. Da somit das UNRWA bis kurz vor der Ausreise Schutz gewährt habe, der dann weggefallen sei, habe sie Anspruch auf Flüchtlingsanerkennung unabhängig davon, ob sie selbst Palästinenserin sei oder Anspruch auf Schutz des UNRWA habe.
15Der Senat hat eine amtliche Auskunft des Auswärtigen Amtes eingeholt. Auf die Auskunft vom 7.5.2020 (GA 91) und auf den Beweisbeschluss vom 15.1.2019 (GA 65) wird Bezug genommen.
16Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Unterlagen Bezug genommen.
17Entscheidungsgründe:
18Im Einverständnis der Beteiligten entscheidet der Senat ohne mündliche Verhandlung (§§ 101 Abs. 2, 125 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung ‑ VwGO ‑).
19Die zulässige Berufung ist begründet. Die zulässige Klage ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte zu Unrecht verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Die Ablehnung der Zuerkennung im angegriffenen Bescheid ist rechtmäßig (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
20Nach § 3 Abs. 1 des Asylgesetzes - AsylG - ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Ablommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention, GFK), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Verfolgungsgründen) außerhalb des Landes (Herkunftslands) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
21Die Klägerin ist nicht von der Anwendung dieser Vorschrift nach § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG ausgeschlossen. Danach ist ein Ausländer nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D GFK genießt. Diese Ausschlussklausel bezweckt in Umsetzung von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 1 der Richtlinie 2011/95/EU und des Art. 1 Buchst. D Satz 1 GFK, diejenigen Personen, denen bereits durch die Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge ein besonderer Flüchtlingsstatus eingeräumt wurde, von der Anwendung des allgemeinen Flüchtlingsrechts auszunehmen, also national von der Anwendung des § 3 Abs. 1 AsylG, so wie sie unionsrechtlich von der Anerkennung als Flüchtling nach Art. 2 Buchst d der Richtlinie 2011/95/EU und völkerrechtlich von der Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention ausgenommen sind. Palästina-Flüchtlinge genießen einen solchen speziellen Flüchtlingsschutz, für die das UNRWA Schutz und Beistand gewährt.
22Vgl. EuGH, Urteil vom 25.7.2018 ‑ C-585/16 ‑, juris, Rn. 84 f.; Urteil vom 19.12.2012 ‑ C-364/11 -, juris, Rn. 48; Urteil vom 17.6.2010 ‑ C-31/09 ‑, juris, Rn. 44; BVerwG, Urteil vom 14.5.2019 ‑ 1 C 5.18 ‑, juris, Rn. 20; Urteil vom 25.4.2019 ‑ 1 C 28.18 ‑, juris, Rn. 18; Urteil vom 4.6.1991 ‑ 1 C 42.88 ‑, juris, Rn. 24.
23Der Ausschluss des allgemeinen Flüchtlingsrechts für solche besonderen Flüchtlinge, die anderweitigen Schutz oder Beistand der Vereinten Nationen als durch den UNHCR erhalten, und damit der Verweis auf diese Unterstützung statt des allgemeinen Flüchtlingsrechts ist nur gerechtfertigt, wenn diesen Flüchtlingen der Schutz oder Beistand auch noch gewährt wird. Daher regelt § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG in Übereinstimmung mit Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95/EU und Art. 1 Buchst. D Satz 2 GFK, dass der genannte Ausschluss nicht eingreift, wenn ein solcher Schutz oder Beistand nicht länger gewährt wird, ohne dass die Lage der Betroffenen endgültig geklärt worden ist. Dann sollen diese Personen, deren besonderer Flüchtlingsstatus ja bereits feststeht, "ipso facto" (Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95/EU und Art. 1 Buchst. D Satz 2 GFK) den Flüchtlingsschutz der Richtlinie bzw. der Flüchtlingskonvention genießen, also durch die Tatsache des Wegfalls des Schutzes oder Beistands selbst und somit unabhängig von der Feststellung einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung im Einzelfall.
24EuGH, Urteil vom 25.7.2018 ‑ C-585/16 ‑, juris, Rn. 86; BVerwG, Urteil vom 14.5.2019 ‑ 1 C 5.18 ‑, juris, Rn. 26.
25Wie sich aus dem Zusammenspiel der Vorschriften, die eine Einheit bilden, ergibt, setzt eine ipso-facto-Anerkennung die Erfüllung beider Vorschriften voraus, nämlich erstens dass der Betroffene den Schutz oder Beistand der UNRWA genießt (weil er zum durch das UNRWA durch Schutz und Beistand unterstützen Personenkreis gehört) und zweitens dass dieser Schutz oder Beistand aus irgendeinem Grund nicht länger gewährt wird.
26BVerwG, Urteil vom 14.5.2019 ‑ 1 C 5.18 ‑, juris, Rn. 14 f.
27Gehört jemand nicht zum durch Schutz oder Beistand unterstützten Personenkreis, ist die Anwendung des allgemeinen Flüchtlingsrechts von vorneherein nicht ausgeschlossen und der Betroffene muss, um als Flüchtling anerkannt zu werden, die Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 AsylG erfüllen, also flüchtlingsrechtlich relevant verfolgt werden. Nur wenn jemand zum durch Schutz oder Beistand unterstützten Personenkreis gehört, dieser Schutz oder Beistand aber aus irgendeinem Grund nicht länger gewährt wird, ist der Betroffene als ipso-facto-Flüchtling anzuerkennen.
28Hier erfüllt die Klägerin nicht die Voraussetzungen des § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG, sie gehört nicht zum durch Schutz oder Beistand des UNRWA unterstützten Personenkreis. Dabei lässt es der Senat offen, ob allein die Tatsache, Schutz oder Beistand von dem UNRWA gewährt zu bekommen, bereits ausreicht, um zu dem von § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG erfassten Personenkreis zu gehören. Dem Wortlaut nach ist das der Fall. Der Sinn und Zweck der Ursprungsvorschrift des Art. 1 Buchst. D Satz 1 GFK war aber nicht, jedermann, der irgendwie in den Genuss von Schutz und Beistand der Vereinten Nationen gekommen ist, den allgemeinen Flüchtlingsschutz zu versagen, sondern Palästinenser in ihrer Eigenschaft als "Palästinaflüchtlinge" auf den besonderen Schutz der Vereinten Nationen statt den der Genfer Flüchtlingskonvention zu verweisen.
29EuGH, Urteil vom 25.7.2018 ‑ C-585/16 ‑, juris, Rn. 84.
30Im Laufe der Zeit hat das UNRWA jedoch seinen Aufgabenkreis weit über die ursprüngliche Zuständigkeit ausgedehnt. So gewährt es nicht nur den eigentlichen Palästinaflüchtlingen Schutz und Beistand, nämlich den zwischen dem 1.6.1946 und dem 15.5.1948 in Palästina ansässigen Personen, die Heim und Lebensunterhalt im Gefolge des 1. israelisch-arabischen Krieges 1948/49 verloren haben, und den Kindern männlicher Palästinaflüchtlinge (Kategorie III.A.1. der Consolidated Eligibility and Registration Instructions ‑ CERI ‑), sondern auch späteren Palästinaflüchtlingen, nämlich solchen, die im Gefolge des 3. israelisch-arabischen (Sechstage-)Krieges 1967 oder späterer Kriege geflüchtet sind (Kategorie III.B. Unterpunkt 1 CERI). Unterstützt werden weiter neben Gruppen, die heute allenfalls für deren Kinder noch relevant sind (Kategorien III.A.2.1 bis 2.3 CERI), die Ehemänner weiblicher Palästinaflüchtlinge und deren Kinder (Kategorie III.A.2.4 CERI, die Ehefrauen männlicher Palästinaflüchtlinge (Kategorie III.A.2.5 CERI) sowie nach islamischem Recht durch Palästinaflüchtlinge unterstützte Pflegekinder (Kategorie III.A.2.6 CERI), im Einzelfall vom Generalkommissar des UNRWA aus humanitären oder sonst mandatsbezogenen Gründen bestimmte Personen oder Personengruppen (Kategorie III.B. Unterpunkt 2 CERI), durch Notprogramme für die besetzten Palästinagebiete begünstigte Personen (Kategorie III.B. Unterpunkt 3 CERI), durch das Kleinkredit- und Kleinunternehmensprogramm der UNRWA unterstützte Personen (Kategorie III.B. Unterpunkt 4 CERI), UNRWA-Mitarbeiter und deren Familien (Kategorie III.B. Unterpunkt 5 CERI) sowie Personen, die in Flüchtlingscamps und ‑kommunen leben (Kategorie III.B. Unterpunkt 6 CERI). Durch diese Ausweitungen des Schutzes und des Beistands auf weitere Personengruppen jenseits der Palästinaflüchtlinge ist auch die Klägerin, die weder Palästinenserin noch ‑ bis zu ihrer Ausreise aus Syrien ‑ Flüchtling, sondern nur eine in Damaskus geborene syrische Staatsangehörige und Ehefrau eines Palästinaflüchtlings war, in den Genuss von Schutz und Beistand der UNRWA gekommen. Daher spricht vieles dafür, dass nach Sinn und Zweck des Art. 1 Buchst. D Satz 1 GFK § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG den Wortlaut einschränkend dahin auszulegen ist, dass nur Personen erfasst sind, die als Palästinaflüchtlinge Schutz oder Beistand der UNRWA genießen. Dann ist die Klägerin schon deshalb nicht vom allgemeinen Asylrecht ausgeschlossen und für die Anwendung des § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG kein Raum.
31Das kann jedoch hier dahinstehen. Unabdingbar ist für § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG jedenfalls, dass das UNRWA einem Betroffenen Schutz oder Beistand gewährt. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat dies dahin konkretisiert, dass Personen von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 1 der Richtlinie 2011/95/EU erfasst sind, die den UNRWA-Beistand "kurz vor Einreichung eines Asylantrags in einem Mitgliedstaat tatsächlich in Anspruch genommen haben", dann aber nicht mehr gewährt bekommen haben.
32EuGH, Urteil vom 19.12.2012 ‑ C-364/11 -, juris, Rn. 52.
33Das ist bei der Klägerin nach ihrem eigenen Vortrag seit dem Tod ihres Mannes 1987 nicht mehr der Fall. Die Klägerin zählt seitdem nicht mehr zum begünstigten Personenkreis, wie das Auswärtige Amt mit seiner Stellungnahme vom 7.5.2020 bestätigt hat. Sie mag darüber hinaus bis knapp fünf Monate vor der Ausreise im Flüchtlingscamp Jarmuk gewohnt haben. Das stellt aber keinen Schutz oder Beistand im Sinne § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG dar. Selbst wenn sie in dieser Zeit UNRWA‑Dienstleistungen genossen haben sollte (sanitäre Einrichtungen, Umweltgesundheitsmaßnahmen, vgl. Kategorie III.B. Unterpunkt 6 CERI für Bewohner von Flüchtlingscamps) und dies als Schutz oder Beistand im Sinne des § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG anzusehen wäre, wäre dies mit ihrem Auszug aus dem Camp nach Zerstörung des Wohnhauses und dem Umzug nach Rok El Din etwa fünf Monate vor der Ausreise aus Syrien beendet gewesen, die Klägerin wäre damit aus dem Kreis der unterstützungsberechtigten Personen herausgefallen. Die Klägerin genoss somit kurz vor ihrem Asylantrag keinen Schutz oder Beistand des UNRWA mehr. Damit ist § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG nicht einschlägig und allgemeines Flüchtlingsrecht anzuwenden.
34Gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 und 2 AsylG gelten Handlungen als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Nach § 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG kann als eine solche Verfolgung insbesondere die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt gelten. Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann, sind u.a. gemäß § 3c Nr. 1 und 2 AsylG der Staat und Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen.
35Zwischen den genannten Verfolgungsgründen und den genannten Verfolgungshandlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG), wobei es unerheblich ist, ob der Ausländer tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylG). Erforderlich ist ein gezielter Eingriff, wobei die Zielgerichtetheit sich nicht nur auf die durch die Handlung bewirkte Rechtsgutsverletzung selbst bezieht, sondern auch auf die Verfolgungsgründe, an die die Handlung anknüpfen muss. Maßgebend ist im Sinne einer objektiven Gerichtetheit die Zielrichtung, die der Maßnahme unter den jeweiligen Umständen ihrem Charakter nach zukommt.
36Vgl. BVerwG, Urteil vom 19.1.2009 ‑ 10 C 52.07 ‑, BVerwGE 133, 55, Rn. 22, 24.
37Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d. h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen.
38Vgl. BVerwG, Urteil vom 20.2.2013 ‑ 10 C 23.12 ‑, BVerwGE 146, 67, Rn. 19.
39Beim Flüchtlingsschutz gilt für die Verfolgungsprognose ein einheitlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Dieser in dem Tatbestandsmerkmal "... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ..." des Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 (ABl. L 337/9) enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) auf die tatsächliche Gefahr abstellt ("real risk"); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit.
40Vgl. BVerwG, Urteil vom 1.3.2012 ‑ 10 C 7.11 ‑, Buchholz 402.25 § 73 AsylVfG, Nr. 43, Rn. 12, zur Vorgängerrichtlinie.
41Das gilt unabhängig von der Frage, ob der Ausländer vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. Die Privilegierung des Vorverfolgten erfolgt durch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU, nicht durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Nach dieser Vorschrift besteht eine tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Verfolgungshandlungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgungshandlungen entkräften.
42Vgl. BVerwG, Urteil vom 1.6.2011 ‑ 10 C 25.10 ‑, BVerwGE 140, 22, Rn. 21 f.
43Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab erfordert die Prüfung, ob bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine "qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann.
44Vgl. BVerwG, Urteil vom 20.2.2013 ‑ 10 C 23.12 ‑, BVerwGE 146, 67, Rn. 32.
45Ausgehend von diesen Maßstäben ist die Furcht der Klägerin vor politischer Verfolgung unbegründet.
46Die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer solchen Verfolgung kann nicht festgestellt werden. In Betracht kommt eine Verfolgung durch den syrischen Staat, da eine ‑ hypothetische ‑ Abschiebung alleine über eine Flugverbindung denkbar ist. Insoweit kommt hier ernsthaft nur Damaskus in Betracht.
47Vgl. Auswärtiges Amt, Stellungnahme vom 12.10.2016 gegenüber dem Verwaltungsgericht Trier, Az. 313-516.00 SYR, zu den beiden allein geöffneten Flughäfen Damaskus und dem im Kurdengebiet gelegenen Qamishly. Daneben soll auch noch der unter Kontrolle des syrischen Regimes stehende Flughafen Latakia für internationale Flüge offen stehen, vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Auskunft der SFH-Länderanalyse vom 21.3.2017, Syrien: Rückkehr, S. 6.
48Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus den vor dem Bundesamt geschilderten Umständen. Aus ihnen ergibt sich allein, dass sie aus Furcht vor den Kriegseinwirkungen und mangelhafter Krankheitsversorgung das Land verlassen hat. Das begründet keine beachtliche Wahrscheinlichkeit flüchtlingsrechtlich relevanter Verfolgung.
49Der Senat hat die tatsächliche Situation in Syrien dahin bewertet, dass aus dem Ausland rückkehrenden syrischen Asylbewerbern, auch wenn sie Syrien illegal verlassen haben, keine politische Verfolgung droht wegen einer zugeschriebenen regimefeindlichen Gesinnung.
50Vgl. zu den Gründen im Einzelnen OVG NRW, Urteile vom 21.2.2017 ‑ 14 A 2316/16.A ‑, NRWE, Rn. 30 ff. und juris, Rn. 28 ff., vom 4.5.2017 ‑ 14 A 2023/16.A ‑, NRWE, Rn. 32 ff. und juris, Rn. 30 ff., vom 7.2.2018 ‑ 14 A 2390/16.A ‑, NRWE, Rn. 36 ff. und juris, Rn. 34 ff., und vom 18.4.2019 ‑ 14 A 2608/18.A ‑, NRWE, Rn. 43 ff. und juris, Rn. 41 ff., und vom 13.3.2020 ‑ 14 A 2778/17.A ‑, NRWE, Rn. 35 ff. und juris, Rn. 33 ff.
51Daran hält der Senat fest.
52Politische Verfolgung aus diesen Gründen verneinend ebenso Schl.-H. OVG, Urteile vom 23.11.2016 ‑ 3 LB 17/16 ‑, juris, Rn. 37 ff., und vom 17.8.2018 ‑ 2 LB 30/18 ‑, juris, Rn. 35 ff. und 104; OVG Rh.‑Pf., Urteil vom 16.12.2016 ‑ 1 A 10922/16 ‑, juris, Rn. 55 ff.; OVG Saarl., Urteil vom 17.10.2017 ‑ 2 A 365/17 ‑, juris, Rn. 22 ff.; Nds. OVG, Urteil vom 27.6.2017 - 2 LB 91/17 -, juris, Rn. 43 ff., und Beschluss vom 5.12.2018 ‑ 2 LB 570/18 ‑, juris, Rn. 28 ff.; OVG Berlin-Bbg., Urteil vom 22.11.2017 ‑ 3 B 12/17 ‑, juris, Rn. 27 ff., Hamb. OVG, Urteil vom 11.1.2018 ‑ 1 Bf 81/17.A ‑, juris, Rn. 62 ff.; OVG Bremen, Urteil vom 24.1.2018 ‑ 2 LB 194/17 ‑, juris, Rn. 39 ff.; Sächs. OVG, Urteil vom 7.2.2018 ‑ 5 A 1245/17.A ‑, juris, Rn. 21 ff.; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 23.10.2018 ‑ A 3 S 791/18 ‑, juris, Rn. 18 ff.; Thür. OVG, Urteil vom 15.6.2018 ‑ 3 KO 155/18 ‑, juris, Rn. 60 ff.; Bay. VGH, Urteil vom 22.6.2018 ‑ 21 B 18.30852 ‑, juris, Rn. 22 ff., insbes. 35; Hess. VGH, Urteil vom 26.7.2018, ‑ 3 A 403/18.A ‑, juris, Rn. 13.
53Das angegriffene Urteil und das klägerische Vorbringen geben keine Veranlassung zu einer veränderten Bewertung. Neuere Erkenntnisse, die darauf schließen lassen, dass die Situation von Rückkehrern aus Europa anders zu beurteilen wäre, liegen nicht vor.
54Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 VwGO i. V. m. 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO in Verbindung mit den §§ 708 Nr. 10 sowie 711 der Zivilprozessordnung. Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen. Die hier allein ‑ erneut ‑ entschiedene Frage von grundsätzlicher Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) ist die Tatsachenfrage, ob eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG für nach Syrien rückkehrende Asylbewerber wegen der Asylantragstellung hier besteht. Das unterliegt nicht der Beurteilung des Revisionsgerichts (§ 137 Abs. 2 VwGO).
55Vgl. dazu BVerwG, Beschluss vom 24.4.2017 ‑ 1 B 22.17 ‑, juris.
56Soweit die Auslegung des § 3 Abs. 3 AsylG in Rede steht, stellt sich keine klärungsbedürftige Frage, da die Klägerin eindeutig von der Regelung nicht erfasst wird, denn sie genoss keinen Schutz oder Beistand der UNRWA kurz vor Einreichung des Asylantrags.
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Tenor
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe
I.
1
Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen die Einstellung eines Ermittlungsverfahrens wegen des Tatverdachts auf sexuellen Missbrauch von Widerstandsunfähigen gemäß § 179 StGB a.F.
2
1. Die Beschwerdeführerin erstattete am 19./22. April 2013 Strafanzeige. Sie gab an, in der Nacht vom 18./19. April 2013 mit einem Bekannten in München unter anderem eine Bar besucht zu haben. Gegen 01:00 Uhr habe sie gemeinsam mit diesem das Lokal verlassen, um sich mit der U-Bahn auf den Heimweg zu begeben. Auf dem Weg zur U-Bahn habe sie einen Mann kennengelernt, mit dem sie in die Bar beziehungsweise das daneben befindliche Lokal zurückgekehrt sei. Kurze Zeit danach setze ihr Erinnerungsvermögen aus. Nur bruchstückhaft könne sie sich erinnern, dass sie sich zu einem späteren Zeitpunkt mit zwei ihr unbekannten Männern in einer Parkanlage befunden habe. Mit mindestens einem habe sie Geschlechtsverkehr gehabt. Körperliche oder verbale Gegenwehr habe sie nicht geleistet, da sie nach ihrem Eindruck unter dem Einfluss von K.o.-Tropfen gestanden habe. Gegen 04:45 Uhr sei sie wieder zu Hause eingetroffen. Ihr Mobiltelefon und ihr Münzgeld seien aus dem Geldbeutel verschwunden gewesen. Dagegen habe sich in ihrer Handtasche eine ihr unbekannte Sonnenbrille befunden. Nach ihrer Erinnerung habe einer der beiden Männer seine Sonnenbrille gesucht.
3
Die Staatsanwaltschaft München I stellte mit Bescheid vom 20. März 2014 das gegen einen Herrn M. geführte Ermittlungsverfahren gemäß § 170 Abs. 2 StPO ein. An der Sonnenbrille habe zwar eine DNA-Spur des Beschuldigten festgestellt werden können. Dies allein genüge jedoch nicht für eine Anklageerhebung, zumal die bei der Beschwerdeführerin festgestellten vaginalen DNA-Spuren nicht mit der DNA des Beschuldigten übereinstimmten. Die Beschwerdeführerin habe zudem angegeben, dass sie nicht mehr sagen könne, von welchem der beiden Männer, mit denen sie sich im Park befunden habe, die Brille stammen könne.
4
2. Durch ein weiteres daktyloskopisches Gutachten des Bayerischen Landeskriminalamtes vom 1. März 2018 konnten eine auf der Sonnenbrille gesicherte DNA-Spur sowie die bei der Beschwerdeführerin festgestellten vaginalen DNA-Spuren einem Herrn H. zugeordnet werden. Die Staatsanwaltschaft München I leitete am 15. Mai 2018 gegen den Beschuldigten H. ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des sexuellen Missbrauchs widerstandsunfähiger Personen nach § 179 StGB a.F. ein. Mit Bescheid vom 7. Januar 2019 stellte die Staatsanwaltschaft München I das Ermittlungsverfahren gemäß § 170 Abs. 2 StPO ein. Der Tatnachweis sei nicht mit der für eine Anklageerhebung erforderlichen Sicherheit zu führen. Der Beschuldigte mache keine Angaben. Der Mitbeschuldigte M. bestreite den Tatvorwurf. Die Geschädigte könne sich weitgehend nicht an die Vorkommnisse erinnern. Ohne weitere belastbare Beweismittel könne nicht nachgewiesen werden, dass die Täter subjektiv davon ausgegangen seien, dass die sexuellen Handlungen gegen den Willen der Beschwerdeführerin oder unter Ausnutzung einer eventuellen Widerstandsunfähigkeit stattgefunden hätten. Es könne zudem nicht ausgeschlossen werden, dass die Beschwerdeführerin in der Tatnacht auch mit anderen Männern sexuellen Kontakt gehabt habe.
5
Auf die Beschwerde gegen die Einstellung des Ermittlungsverfahrens hin griff die Staatsanwaltschaft München I das Ermittlungsverfahren wieder auf. Zur Frage der Widerstandsunfähigkeit und deren Erkennbarkeit holte sie ein rechtsmedizinisches Gutachten ein. Mit Bescheid vom 14. November 2019 stellte die Staatsanwaltschaft München I das Verfahren erneut gemäß § 170 Abs. 2 StPO ein. Auch unter Berücksichtigung der durch die ergänzenden Ermittlungen gewonnenen Erkenntnisse könne nicht aufgeklärt werden, was sich im Vorfallszeitraum zugetragen habe. Ein Tatnachweis für eine Vergewaltigung gemäß § 177 StGB a.F. könne nicht geführt werden. Die Beschwerdeführerin habe selbst angegeben, es sei keine Gewalt angewendet worden. Auch habe sie nicht gesagt, dass sie keinen Geschlechtsverkehr möchte. Nach dem Ergebnis der körperlichen Untersuchung und Auskunft des Sachverständigen sei zwar möglich, dass die Hämatome am rechten Oberarm von einem Haltegriff resultierten. Weitere, eindeutige Spuren beziehungsweise Verletzungen, aus denen auf eine Gewaltanwendung geschlossen werden könne, seien jedoch nicht festgestellt worden. Auch sei nicht nachweisbar, dass der Beschuldigte die - unterstellte - Anwendung von Gewalt gezielt zur Überwindung eines geleisteten oder erwarteten Widerstands eingesetzt habe. Auch ein Tatnachweis für einen sexuellen Missbrauch Widerstandsunfähiger gemäß § 179 StGB a.F. könne nicht geführt werden. Nach dem Gutachten des Instituts für Rechtsmedizin vom 21. Mai 2019 sowie den ergänzenden gutachterlichen Stellungnahmen vom 29. Mai 2019 und vom 16. Juli 2019 seien Hinweise auf K.o.-Tropfen nicht gefunden worden. Die Beschwerdeführerin sei zum Tatzeitpunkt zwar hochgradig alkoholisiert gewesen. Allein aus dem Grad der Alkoholisierung könne nach Auskunft des Gutachters jedoch nicht auf eine Widerstandsunfähigkeit geschlossen werden. Für den Vorfallszeitraum seien keine weiteren Anknüpfungspunkte, Zeugen oder sonstigen Beweismittel vorhanden. Allein die Tatsache, dass die Beschwerdeführerin Erinnerungslücken beschrieben habe, lasse nach Einschätzung des Sachverständigen nicht auf eine Widerstandsunfähigkeit schließen. Auch könne nicht belegt werden, dass der Beschuldigte eine etwaige Widerstandsunfähigkeit der Beschwerdeführerin erkannt und ausgenutzt habe. In diesem Zusammenhang sei auch die Aussage des Zeugen M. relevant, welcher schildere, dass er häufig, so auch am fraglichen Abend mit dem Beschuldigten in der Grünanlage gewesen sei und Alkohol konsumiert habe, und dass der Beschuldigte generell ein erhebliches Alkoholproblem gehabt habe. Zugunsten des Beschuldigten sei dessen möglicherweise erhebliche Alkoholisierung zu werten.
6
3. Der hiergegen eingelegten Beschwerde gab die Generalstaatsanwaltschaft München mit Bescheid vom 18. Februar 2020 keine Folge. Die Geschehnisse zwischen 02:00 Uhr und 04:00 Uhr in der Nacht des 19. April 2013 seien nicht mit einer für eine Anklageerhebung ausreichenden Sicherheit aufzuklären. Allein der Umstand, dass es zwischen dem Beschuldigten H. und der Beschwerdeführerin zum Geschlechtsverkehr gekommen sei, genüge nicht zur Annahme eines hinreichenden Tatverdachts eines sexuellen Missbrauchs Widerstandsunfähiger. Substanzen, die nach den Erkenntnissen der Rechtsmedizin als K.o.-Tropfen Verwendung finden könnten, seien nicht festgestellt worden. Dagegen sei die Beschwerdeführerin nach den gutachterlichen Feststellungen zum Zeitpunkt des Geschlechtsverkehrs mit dem Beschuldigten H. hochgradig alkoholisiert gewesen. Es sei daher bereits zweifelhaft, ob sich die Beschwerdeführerin bei der Tat im Zustand der Widerstandsunfähigkeit befunden habe. Allein das Vorliegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung beim Opfer genüge hierfür nicht. Auch aus den bei der körperlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin festgestellten Verletzungen sei kein tragfähiger Rückschluss auf eine Widerstandsunfähigkeit zu diesem Zeitpunkt möglich. Jedenfalls sei das Vorliegen der subjektiven Tatseite des § 179 StGB a.F. beim Beschuldigten H. nicht mit einer für eine Anklageerhebung ausreichenden Sicherheit zu belegen. Es sei zwar grundsätzlich möglich, Beweisanzeichen für ein vorsätzliches Handeln durch einen Rückschluss aus den festgestellten objektiven Umständen der Tatbegehung zu gewinnen. An derartigen Ereignissen mangele es hier jedoch. Insbesondere seien keinerlei Erkenntnisse vorhanden, ob der Beschuldigte ebenfalls hochgradig alkoholisiert gewesen sei oder unter dem Einfluss von Betäubungsmitteln gestanden habe.
7
4. Das Oberlandesgericht München verwarf den Antrag auf gerichtliche Entscheidung mit Beschluss vom 27. Mai 2020 als unzulässig. Die Staatsanwaltschaft gehe davon aus, dass trotz der umfangreichen Ermittlungen kein Tatnachweis zu führen sei. So habe bereits der genaue Zeitpunkt nicht ermittelt werden können. Bei der Beschwerdeführerin seien im fraglichen Zeitraum von 02:00 Uhr bis 04:30 Uhr des Tattages Erinnerungslücken vorhanden. Nach dem in Auftrag gegebenen Gutachten sei die Beschwerdeführerin im Zeitraum des Vorfalls hochgradig alkoholisiert gewesen. Die Verabreichung von K.o.-Tropfen habe aufgrund des zum Untersuchungszeitpunkt länger zurückliegenden Zeitraums nicht mehr nachgewiesen werden können. Wo und mit wem die Beschwerdeführerin die erheblichen Alkoholmengen zu sich genommen habe, könne nicht mehr geklärt werden, ebenso wenig, ob und in welchem alkoholisierten Zustand sich der Beschuldigte zum Zeitpunkt der Tat befunden habe und ob die hochgradige Alkoholisierung der Beschwerdeführerin und die von ihr behauptete Widerstandsunfähigkeit für ihn erkennbar gewesen sei. Eine Gegenwehr habe nach Angaben der Beschwerdeführerin bei Vollziehung des Geschlechtsverkehrs nicht stattgefunden. Der Sachverständige habe aufgrund fehlender Anknüpfungstatsachen nicht klären können, ob die Beschwerdeführerin zum Tatzeitpunkt widerstandsunfähig und dies für einen Außenstehenden erkennbar gewesen sei. Erinnerungslücken würden nach den Ausführungen des Sachverständigen nicht zwingend zur Widerstandsunfähigkeit im Tatzeitraum führen ebenso wenig wie eine hochgradige Alkoholisierung. Die Bewertung der Staatsanwaltschaft sei daher auch aufgrund der Stellungnahme des Sachverständigen nicht zu beanstanden, zumal das von der Beschwerdeführerin vermisste Handy weder beim Beschuldigten habe geortet noch gefunden werden können. Bei dieser Sachlage könne daher schon nach dem Antragsvorbringen ein Vorsatz des Beschuldigten, die Widerstandsunfähigkeit der Beschwerdeführerin auszunutzen, nicht mit der für eine Anklageerhebung notwendigen Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden. Eine weitere Sachaufklärung könne bei der Sachlage ausgeschlossen werden, zumal die behauptete Tat inzwischen sieben Jahre zurückliege.
8
5. Das Oberlandesgericht München verwarf den Antrag auf Nachholung des rechtlichen Gehörs gemäß § 33a StPO mit Beschluss vom 16. Juli 2020 als unzulässig. Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör sei bereits nicht ausreichend prüf- und nachvollziehbar dargelegt. Im Übrigen seien sämtliche von der Anhörungsrüge der Beschwerdeführerin umfassten Angriffe gegen den Beschluss vom 27. Mai 2020 nochmals geprüft worden. Eine andere Bewertung könne aus den im Beschluss vom 27. Mai 2020 genannten Gründen nicht erfolgen, da ein genauer Tathergang auch nach den Angaben der Beschwerdeführerin nicht ermittelt werden könne und ein Vorsatz hinsichtlich einer von der Beschwerdeführerin behaupteten Widerstandsunfähigkeit ihrer Person zum Tatzeitpunkt beim Beschuldigten nicht nachzuweisen sei.
II.
9
Mit ihrer am 8. Juli 2020 beim Bundesverfassungsgericht eingegangenen Verfassungsbeschwerde macht die Beschwerdeführerin geltend, durch die angegriffenen Entscheidungen in ihren Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten aus Art. 3 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG verletzt zu sein.
10
1. Art. 3 Abs. 1 GG sei verletzt, da der Beschluss des Oberlandesgerichts vom 27. Mai 2020 wesentliche Aspekte der zur Verfügung stehenden Beweismittel unberücksichtigt lasse, ohne dass hierfür ein vernünftiger Grund erkennbar sei. Der Zeuge M. habe ausgesagt, er könne nicht ausschließen, am Tatort und zum Tatzeitpunkt mit der Beschwerdeführerin in Kontakt gewesen zu sein. Das Oberlandesgericht setze sich mit dieser Aussage nicht auseinander. Vielmehr hebe das Gericht darauf ab, das von der Beschwerdeführerin vermisste Handy habe beim Beschuldigten weder geortet noch gefunden werden können. Aus den Akten sei jedoch nicht ersichtlich, dass überhaupt der Versuch einer Ortung angestrengt worden sei. Das Oberlandesgericht stelle dennoch willkürlich einen Zusammenhang zwischen der Stellungnahme des Sachverständigen und einem angeblichen Ortungsversuch her.
11
2. Auch Art. 19 Abs. 4 GG sei verletzt, da das Oberlandesgericht die formellen und inhaltlichen Anforderungen des Antrags auf gerichtliche Entscheidung gemäß § 172 Abs. 2 Satz 1 StPO verkenne. Die Beschwerdeführerin verhalte sich zu jedem verfügbaren Tatsachenindiz und der hierzu ergangenen Beweiswürdigung durch die Staatsanwaltschaft. Auf Seite 48 des Schriftsatzes werde ausdrücklich auf die einzelnen Beschwerdevorbringen verwiesen. Dies umfasse insbesondere die Angaben auf Seite 11, wo sich der Schriftsatz ausdrücklich zum Vorbringen der Staatsanwaltschaft verhalte. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Ausführungen der Staatsanwaltschaft erfolge überdies auf den Seiten 32, 35 und 36 des Schriftsatzes. Damit sei sowohl eine quantitativ als auch qualitativ ausführliche Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der Ermittlungsbehörden in Ausschöpfung aller Indizien und zwar auch solcher, die auf die inneren Tatbestandsmerkmale hinweisen, erfolgt.
12
3. Das Oberlandesgericht verletze überdies Art. 103 Abs. 1 GG. Die wesentliche Begründung des Beschlusses - es könne nicht mehr aufgeklärt werden, ob und in welchem alkoholisierten Zustand sich der Beschuldigte zum Zeitpunkt der Tat befunden habe und ob er die von der Beschwerdeführerin behauptete Widerstandsunfähigkeit habe erkennen können - sei nicht nachvollziehbar. Dies lasse darauf schließen, dass das Oberlandesgericht den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags der Beschwerdeführerin, nämlich die dargelegte Verdichtung der geschilderten Indizienkette hin zu einem hinreichenden Tatverdacht gegen den Beschuldigten, nicht berücksichtigt habe. Für eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG spreche auch, dass das Gericht die Ausführungen des Gutachters in einen Zusammenhang mit einem angeblich erfolglosen Ortungsversuch des vermissten Handys stelle.
III.
13
Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen (§ 93a Abs. 2 BVerfGG), weil sie unzulässig ist. Sie genügt offensichtlich nicht den Anforderungen der § 23 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1, § 92 BVerfGG.
14
1. Nach diesen Vorschriften ist ein Beschwerdeführer gehalten, den Sachverhalt, aus dem sich die Grundrechtsverletzung ergeben soll, substantiiert und schlüssig darzulegen (vgl. BVerfGE 81, 208 <214>; 113, 29 <44>; 130, 1 <21>). Ferner muss sich die Verfassungsbeschwerde mit dem zugrunde liegenden einfachen Recht sowie mit der verfassungsrechtlichen Beurteilung des vorgetragenen Sachverhalts auseinandersetzen und hinreichend substantiiert darlegen, dass eine Grundrechtsverletzung möglich erscheint (vgl. BVerfGE 28, 17 <19>; 89, 155 <171>; 140, 229 <232 Rn. 9>). Richtet sich die Verfassungsbeschwerde gegen eine gerichtliche Entscheidung, bedarf es in der Regel einer ins Einzelne gehenden argumentativen Auseinandersetzung mit der angegriffenen Entscheidung und ihrer konkreten Begründung. Dabei ist auch darzulegen, inwieweit das jeweils bezeichnete Grundrecht verletzt sein und mit welchen verfassungsrechtlichen Anforderungen die angegriffene Maßnahme kollidieren soll (vgl. BVerfGE 99, 84 <87>; 108, 370 <386 f.>; 115, 166 <179 f.>; 140, 229 <232 Rn. 9>). Soweit das Bundesverfassungsgericht für bestimmte Fragen bereits verfassungsrechtliche Maßstäbe entwickelt hat, muss anhand dieser Maßstäbe dargelegt werden, inwieweit Grundrechte durch die angegriffenen Maßnahmen verletzt werden (vgl. BVerfGE 77, 170 <214 ff.>; 123, 186 <234>; 140, 229 <232 Rn. 9>).
15
2. Nach diesen Maßstäben zeigt die Beschwerdeführerin nicht substantiiert und schlüssig die Möglichkeit einer Verletzung in Grund- oder grundrechtsgleichen Rechten auf.
16
a) Die Beschwerdeführerin legt insbesondere keine Verletzung des Anspruchs auf effektive Strafverfolgung aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG dar.
17
aa) Ein Anspruch auf effektive Strafverfolgung besteht - neben Konstellationen, in denen Amtsdelikte oder Straftaten gegen Opfer in einem "besonderen Gewaltverhältnis" zum Staat im Raum stehen, für die ihm eine spezifische Fürsorge- und Obhutspflicht obliegt - vor allem dort, wo der Einzelne nicht in der Lage ist, erhebliche Straftaten gegen seine höchstpersönlichen Rechtsgüter Leben, körperliche Unversehrtheit, sexuelle Selbstbestimmung und Freiheit der Person abzuwehren, und ein Verzicht auf die effektive Verfolgung solcher Taten zu einer Erschütterung des Vertrauens in das Gewaltmonopol des Staates und einem allgemeinen Klima der Rechtsunsicherheit und Gewalt führen kann. In solchen Fällen kann, gestützt auf Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG, ein Tätigwerden des Staates und seiner Organe auch mit den Mitteln des Strafrechts verlangt werden (vgl. BVerfGE 39, 1 <36 ff.>; 49, 89 <141 f.>; 53, 30 <57 f.>; 77, 170 <214>; 88, 203 <251>; 90, 145 <195>; 92, 26 <46>; 97, 169 <176 f.>; 109, 190 <236>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Januar 2020 - 2 BvR 859/17 -, Rn. 22).
18
Dies bedeutet indes nicht, dass der in Rede stehenden Verpflichtung stets nur durch Erhebung einer Anklage genügt werden kann. Vielfach wird es ausreichend sein, wenn die Staatsanwaltschaft und - nach ihrer Weisung - die Polizei die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel personeller und sächlicher Art sowie ihre Befugnisse nach Maßgabe eines angemessenen Ressourceneinsatzes auch tatsächlich nutzen, um den Sachverhalt aufzuklären und Beweismittel zu sichern. Die Erfüllung der Verpflichtung zur effektiven Strafverfolgung setzt eine detaillierte und vollständige Dokumentation des Ermittlungsverlaufs ebenso voraus wie eine nachvollziehbare Begründung der Einstellungsentscheidungen. Sie unterliegt der gerichtlichen Kontrolle (§§ 172 ff. StPO) (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 26. Juni 2014 - 2 BvR 2699/10 -, Rn. 14; Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Oktober 2014 - 2 BvR 1568/12 -, Rn. 15, sowie vom 19. Mai 2015 - 2 BvR 987/11 -, Rn. 24 m.w.N.). Das Oberlandesgericht ist in diesem Kontext verpflichtet, die Erfüllung des Anspruchs auf effektive Strafverfolgung sowie die detaillierte und vollständige Dokumentation des Ermittlungsverlaufs und die Begründung der Einstellungsentscheidungen zu kontrollieren (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 26. Juni 2014 - 2 BvR 2699/10 -, Rn. 15; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Oktober 2014 - 2 BvR 1568/12 -, Rn. 20; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. März 2015 - 2 BvR 1304/12 -, Rn. 23; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 15. Januar 2020 - 2 BvR 1763/16 -, Rn. 42).
19
bb) Nach diesen Maßstäben steht der Beschwerdeführerin zwar ein Anspruch auf effektive Strafverfolgung aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 und Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG zu. Gegenstand des Ermittlungsverfahrens war der Verdacht des sexuellen Missbrauchs widerstandsunfähiger Personen nach § 179 StGB a.F. und damit einer erheblichen Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Auch kann ein Verzicht auf die effektive Verfolgung einer solchen Tat im Hinblick auf den hohen Stellenwert des höchstpersönlichen Rechtsguts der sexuellen Selbstbestimmung zu einer Erschütterung des Vertrauens in das Gewaltmonopol des Staates und zu einem allgemeinen Klima der Rechtsunsicherheit und Gewalt führen.
20
Die Beschwerdeführerin macht jedoch gar nicht geltend, dass die angegriffenen Entscheidungen dem Anspruch auf effektive Strafverfolgung nicht gerecht werden. Insbesondere rügt sie insoweit nicht, dass es der Durchführung weiterer Ermittlungen bedurft hätte. Das ist auch nicht ersichtlich. Soweit sie auf den nicht erfolgten Ortungsversuch des von ihr vermissten Handys Bezug nimmt, erfolgt dies ausschließlich unter dem Gesichtspunkt eines geltend gemachten Willkürverstoßes des Oberlandesgerichts.
21
b) Auch soweit die Beschwerdeführerin einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG rügt, ist ein Grundrechtsverstoß nicht hinreichend dargelegt.
22
aa) Objektiv unhaltbar im Sinne des in Art. 3 Abs. 1 GG verankerten Willkürverbots ist ein Richterspruch, wenn er unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass er auf sachfremden Erwägungen beruht. Das ist anhand objektiver Kriterien festzustellen. Einen subjektiven Schuldvorwurf enthält die Feststellung von Willkür nicht (vgl. etwa BVerfGE 86, 59 <63>). Fehlerhafte Rechtsanwendung allein macht eine Gerichtsentscheidung nicht willkürlich, wenn das Gericht sich mit der Rechtslage eingehend auseinandergesetzt hat und seine Auffassung nicht jeden sachlichen Grundes entbehrt (vgl. BVerfGE 87, 273 <278 f.>; 96, 189 <203>).
23
bb) Hiervon ausgehend ist ein Willkürverstoß des Oberlandesgerichts nicht erkennbar. Soweit die Beschwerdeführerin darauf abstellt, das Oberlandesgericht habe sich nicht mit der Aussage des Zeugen M. auseinandergesetzt, geht sie nicht darauf ein, dass das Oberlandesgericht in seinem Beschluss vom 27. Mai 2020 auf die Ausführungen der Staatsanwaltschaft und Generalstaatsanwaltschaft Bezug genommen hat und dass in der in dem Bescheid der Generalstaatsanwaltschaft vom 18. Februar 2020 wiedergegebenen Stellungnahme der Staatsanwaltschaft dargelegt wird, dass die von der Beschwerdeführerin aus der Aussage des Zeugen M. gezogene Schlussfolgerung keineswegs zwingend sei.
24
Soweit die Beschwerdeführerin meint, das Oberlandesgericht habe willkürlich einen Zusammenhang zwischen dem angeblichen Ortungsversuch des Handys und der Stellungnahme des Sachverständigen hergestellt, ist ein Grundrechtsverstoß ebenfalls nicht erkennbar. Zwar ist das Oberlandesgericht offenbar zu Unrecht von einem erfolgten Ortungsversuch ausgegangen; inwieweit dies die Bewertung des Sachverständigengutachtens beeinflusst haben könnte, wird von der Beschwerdeführerin jedoch nicht dargelegt. Zudem hat das Gericht lediglich verstärkend darauf abgestellt, dass das Handy beim Beschuldigten weder geortet noch gefunden werden konnte. Anhaltspunkte dafür, dass die Entscheidung auf sachfremden Gesichtspunkten beruhen könnte, lassen sich daraus nicht entnehmen.
25
c) Eine Verletzung des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz gemäß Art. 19 Abs. 4 GG hat die Beschwerdeführerin ebenfalls nicht hinreichend substantiiert vorgetragen.
26
aa) Zwar verbietet Art. 19 Abs. 4 GG, ein von der Rechtsordnung eröffnetes Rechtsmittel durch eine überstrenge Handhabung verfahrensrechtlicher Vorschriften ineffektiv zu machen und für den Rechtsmittelführer "leer laufen" zu lassen (vgl. BVerfGE 96, 27 <39>). Auch dürfen Formerfordernisse nicht weitergehen, als es durch ihren Zweck geboten ist, da von ihnen die Gewährung des Rechtsschutzes abhängt. Dies gilt auch für die Darlegungsanforderungen nach § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO (vgl. BVerfGK 14, 211 <214>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Juli 2016 - 2 BvR 2040/15 -, Rn. 13); § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO spricht von der Angabe der Tatsachen, welche die Erhebung der öffentlichen Klage begründen sollen, und der diese belegenden Beweismittel.
27
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist es verfassungsrechtlich jedoch unbedenklich, wenn diese Norm dahingehend ausgelegt wird, dass der Antrag auf gerichtliche Entscheidung eine aus sich selbst heraus verständliche Schilderung des Sachverhalts enthalten muss, der bei Unterstellung des hinreichenden Tatverdachts die Erhebung der öffentlichen Klage in materieller und formeller Hinsicht rechtfertigt, und dass die Sachdarstellung in groben Zügen den Gang des Ermittlungsverfahrens, den Inhalt der angegriffenen Bescheide und die Gründe für ihre Unrichtigkeit wiederzugeben hat, wodurch das Oberlandesgericht in die Lage versetzt werden soll, ohne Rückgriff auf die Ermittlungsakten eine Schlüssigkeitsprüfung vorzunehmen (vgl. BVerfGK 2, 45 <50>; 5, 45 <48>; 14, 211 <214 f.>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 13. April 2016 - 2 BvR 1155/15 -, Rn. 4; stRspr). Es verstößt insofern nicht gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG, wenn von einem Antragsteller im Rahmen des § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO verlangt wird, dass er den für strafbar erachteten Sachverhalt in sich geschlossen so darstellt, dass dieser - als wahr unterstellt - die Erhebung der öffentlichen Klage gegen den Beschuldigten rechtfertigen würde (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Januar 2017 - 2 BvR 225/16 -, Rn. 6).
28
bb) Vor diesem Hintergrund ist es nicht zu beanstanden, dass das Oberlandesgericht das Antragsvorbringen hinsichtlich des Vorliegens der subjektiven Tatbestandsvoraussetzungen nicht für ausreichend angesehen hat. Insbesondere sind die von der Beschwerdeführerin angeführten Zitate aus ihrem Antrag auf gerichtliche Entscheidung erkennbar nicht geeignet, eine hinreichende Auseinandersetzung mit der Beweiswürdigung der Ermittlungsbehörden hinsichtlich des Vorliegens der subjektiven Tatbestandsmerkmale zu belegen.
29
d) Schließlich ist auch eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG nach dem Vortrag der Beschwerdeführerin nicht ersichtlich.
30
aa) Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, nicht aber der Rechtsansicht der Beschwerdeführerin zu folgen (vgl. BVerfGE 64, 1 <12>; 87, 1 <33>). Art. 103 Abs. 1 GG garantiert weder die Richtigkeit der getroffenen tatsächlichen Feststellungen (vgl. BVerfGE 76, 93 <98>) noch eine ordnungsgemäße Subsumtion und Entscheidungsbegründung (vgl. BVerfGE 65, 293 <295>) und schützt auch nicht davor, dass das Vorbringen eines Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts teilweise oder ganz unberücksichtigt bleibt (vgl. BVerfGE 21, 191 <194>; 70, 288 <294>).
31
bb) An diesen Anforderungen gemessen ist eine mögliche Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG nicht dargetan. Die Beschwerdeführerin macht geltend, die wesentliche Begründung des Beschlusses sei nicht nachvollziehbar. Damit legt sie gerade nicht dar, dass das Gericht ein bestimmtes Vorbringen nicht berücksichtigt hätte, sondern greift dessen Würdigung durch das Gericht an. Dies gilt auch, soweit sie anführt, das Gericht habe zu Unrecht die Ausführungen des Gutachters in einen Zusammenhang mit einem angeblich erfolglosen Ortungsversuch des vermissten Handys gestellt.
32
Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
33
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
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Tenor
1. Auf die sofortige Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss der Vergabekammer Mecklenburg-Vorpommern vom 07.01.2020 - 3 VK 08/19 - abgeändert. Der Nachprüfungsantrag der Antragstellerin wird zurückgewiesen.
2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und des Verfahrens vor der Vergabekammer jeweils einschließlich der notwendigen Auslagen des Antragsgegners und der Beigeladenen trägt die Antragstellerin. Im Übrigen erfolgt keine Erstattung.
3. Die Hinzuziehung anwaltlicher Bevollmächtigter durch den Antragsgegner und die Beigeladene vor der Vergabekammer und vor dem Senat war notwendig.
4. Der Wert des Beschwerdeverfahrens wird auf 155.000 € festgesetzt.
Gründe
I.
1
Gegenstand des Nachprüfungsverfahrens ist die beabsichtigte Vergabe von Softwaredienstleistungen ohne Ausschreibung.
2
Der Eigenbetrieb Jobcenter … des Antragsgegners nutzt für die Verwaltung von SGB II-Leistungen das Fachverfahren „X“ der Beigeladenen. Dieses wird nicht weiterentwickelt, der Support läuft aus. Deshalb beabsichtigt der Antragsgegner die Beschaffung eines neuen Systems (Echtbetrieb spätestens 12/2022). Sowohl die Beigeladene (“X-neu“) als auch die Antragstellerin (“Y“) bieten Softwarelösungen in diesem Bereich an, das Produkt der Beigeladenen wird bei weniger als 20, das der Antragstellerin bei 56 von 104 zugelassenen kommunalen Trägern im SGB II eingesetzt.
3
Der Antragsgegner nahm eine Markterkundung durch Internetrecherchen, Gespräche mit potentiellen Anbietern (Antragstellerin am 15.11.2018, Beigeladene am 28.11.2018) und Teilnahme am Tag der Jobcenter (27./28.11.2018) vor. In der Vergabeakte (Bl. 12) findet sich eine Notiz der Projektleiterin A des Antragsgegners vom 16.11.2018 über das Gespräch mit der Antragstellerin, für die deren Regionalvertriebsleiter B und deren Fachvertriebsmitarbeiter C teilnahmen. Danach sei bei deren Produkt ein integriertes DMS weder vorhanden noch angedacht, DMS anderer Anbieter könnten jedoch über Schnittstellen angebunden werden. Am 18.11.2018 sandte Herr B Frau A eine E-Mail mit ergänzenden Informationen (am 11.10.2019 zur Akte der Vergabekammer gereicht, dort Bd. II Anfang). In der Dokumentation der Markterkundung vom 11.02.2019 (Bl. 1 ff. der Vergabeakte) ist festgehalten, die Betriebssicherheit sei zu gewährleisten, Verzögerungen oder gar ein Ausfall der Leistungszahlungen seien vor dem Hintergrund der Sicherung des verfassungsrechtlich gewährleisteten Existenzminimums absolut inakzeptabel. Deshalb solle die Anzahl der Schnittstellen auf das Notwendigste beschränkt werden. Das Programm müsse insofern zwingend über ein leistungsfähiges, integriertes Dokumentenmanagementsystem (DMS) mit OCR (Schrifterkennung) als medienbruchfreie Lösung verfügen. Die Nutzung einer (externen) DMS-Lösung des Landkreises scheide bereits wegen des datenschutzrechtlichen Trennungsgebots für die Sozialdaten aus. Zudem sei bei einem externen DMS aufgrund der Datenmenge von Performance-Problemen auszugehen. Darüber hinaus müsse auch unter Berücksichtigung der referentiellen Integrität der alten Datenbank - Querverweise, Beziehungen, Bedingungen - eine fehlerfreie Migration von 100 % der Stamm-/Grunddaten und mindestens 90 % der weiteren Daten/Einträge zwingend sichergestellt sein und sei ein Parallelbetrieb von Alt- und Neuanwendung zu vermeiden. Es gebe vier Anbieter von Fachverfahren für den passiven und aktiven SGB II-Bereich, andere europäische Anbieter seien auf Grund der (notwendigen) hohen fachlichen Kenntnisse des deutschen Sozialrechts nicht identifiziert worden. Im Rahmen der Gespräche habe die Antragstellerin bestätigt, dass es kein integriertes DMS gebe. Im Ergebnis der Recherchen stellte der Antragsgegner fest, nur das Produkt der Beigeladenen verfüge über ein integriertes DMS. Die Beigeladene unterbreitete ein Angebot. Mit Verfügung vom 23.04.2019 (Bl. 16 der Vergabeakte) empfahl Frau A mit Blick auf DMS und Datenmigration die Direktvergabe an die Beigeladene. Mit Vermerk vom 22.05.2019 (Bl. 20 der Vergabeakte) wurden die Anforderungen, der Verfahrensgang und die Auswahlgründe nochmals niedergelegt.
4
Mit Bekanntmachung im EU-Amtsblatt vom 03.06.2019 veröffentlichte der Antragsgegner eine Vorinformation über die beabsichtigte Direktvergabe der „Beschaffung eines neuen ALG II-Fachverfahrens für den Eigenbetrieb Jobcenter“ an die Beigeladene unter Schätzung des Nettoauftragswerts auf 2.600.000 €. Mit Vergabevorschlag vom 17.06.2019 empfahl der Eigenbetrieb die Vergabe an die Beigeladene.
5
Die Antragstellerin rügte die beabsichtigte Vergabe mit Schreiben vom 13.08.2019 (Bl. 41 der Vergabeakte) als vergaberechtswidrig. Die Voraussetzungen des § 14 Abs. 4 Nr. 2 Buchst. b VgV lägen nicht vor. Y verfüge nicht nur über seit Jahren etablierte, leistungsfähige bidirektionale Schnittstellen zu sämtlichen marktführenden DMS, sondern besitze die notwendigen Funktionen, um „analog zu einem eigenständigen Dokumentenmanagementsystem programmintern erstellte Dokumente revisionssicher abzulegen, fremde Dokumente und Informationen in die elektronische Fallakte einzufügen und zu verwalten“. Zudem sei seit 2005 eine Vielzahl an verlustfreien Datenmigrationen aus verschiedensten Fachverfahren durchgeführt worden.
6
Der Antragsgegner wies die Rüge mit Schreiben vom 15.08.2019 zurück.
7
Mit bei der Vergabekammer am 30.08.2019 eingegangenem Nachprüfungsantrag hat die Antragstellerin die (beabsichtigte) Vergabe an die Beigeladene beanstandet. Sie hat die Auffassung vertreten, der Antrag sei zulässig. Insbesondere sei sie antragsbefugt, weil sie sich mit ihrem Produkt an einer Ausschreibung hätte beteiligen können. Der Antrag sei auch begründet. Die Voraussetzungen für eine Direktvergabe nach § 14 Abs. 4 Nr. 2 Buchst. b VgV lägen nicht vor. Das Leistungsbestimmungsrecht des Auftraggebers sei nach § 14 Abs. 6 VgV gegenüber einer Vergabe im Wettbewerb nach § 31 Abs. 6 VgV dahin eingeschränkt, dass es keine vernünftige Alternative geben dürfe. Eine vernünftige Alternative zu einem Betrieb eines externen DMS sei die Nutzung des vorhandenen kreiseigenen DMS. Ohnehin beinhalte ein integriertes DMS nach allgemeinem Verständnis, dass neben der Fachanwendung kein weiteres Softwareprodukt erforderlich sei, um die allgemeinen Anforderungen an eine Dokumentenverwaltung zu erfüllen, also ausschließlich die Fachanwendung genutzt werde, um Dokumentvorlagen zu erstellen, zu modifizieren, zu löschen, um Dokumente zu generieren, zu bearbeiten, zu löschen (“Ausgangspost“) und um weitere Informationen der Akte bzw. einer Person zuzuordnen (“Eingangspost“). Die Antragstellerin hat behauptet, das System Y erfülle diese Anforderungen. Mit Schriftsatz vom 24.10.2019 hat sie dann erklärt, ihre Fachanwendung verfüge über ein integriertes DMS. Alle von dem Antragsgegner hieran gestellten Anforderungen würden erfüllt. Darüber hinaus hat sie geltend gemacht, der Antragsgegner habe sein Leistungsbestimmungsrecht auch mangels Berücksichtigung des Onlinezugangsgesetzes (OZG) vergaberechtswidrig ausgeübt. Den Anforderungen des OZG werde nur eine schnittstellenbasierte Vernetzung gerecht, weil Verwaltungsportale des Bundes und der Länder zu vernetzen seien. Zur Datenmigration hat die Antragstellerin ihr Vorbringen aus der Rügeschrift wiederholt. Ihre Mitarbeiter hätten auch nicht erklärt, das Produkt verfüge nicht über ein integriertes DMS. Ohnehin dürften die Ergebnisse des Gesprächs vom 15.11.2018 nicht verwertet werden, weil der Antragsgegner die Mindestanforderungen nicht vorab bekannt gemacht habe. Im Übrigen schienen Antragsgegner und Beigeladene kollusiv zusammengewirkt zu haben (§ 138 BGB). Dies werde daran deutlich, dass der Antragsgegner nahezu wortgleich Textbausteine anderer Auftraggeber übernommen habe.
8
Schließlich streiten die Beteiligten, ob die vergaberechtlichen Nachprüfungsinstanzen zur Überprüfung eines kommunalrechtlichen Betätigungsverbots nach § 107 GO NRW berufen seien, ggf. die Voraussetzungen für ein wirtschaftliches Tätigwerden vorlägen bzw. Bestandschutz gelte.
9
Die Antragstellerin hat vor der Vergabekammer beantragt,
10
1. die Unwirksamkeit des Vertrags über die Bereitstellung des Systems X-neu zur Erbringung der Leistungen im SGB II festzustellen, der durch den Antragsgegner mit der Beizuladenden vermutlich im Juni 2019 geschlossen wurde,
11
2. dem Antragsgegner bei fortlaufender Beschaffungsabsicht aufzugeben, die Leistungen in einem gemeinschaftsrechtskonformen Verfahren auszuschreiben,
12
3. der Antragstellerin Einsicht in die Vergabeakte zu gewähren,
13
4. dem Antragsgegner die Kosten des Verfahrens einschließlich der Kosten der Antragstellerin zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung aufzuerlegen,
14
5. die Hinzuziehung der Verfahrensbevollmächtigten der Antragstellerin gemäß § 182 Abs. 4 GWB für notwendig zu erklären.
15
Der Antragsgegner hat beantragt,
16
1. die Anträge der Antragstellerin zurückzuweisen,
17
2. die Hinzuziehung eines anwaltlich Bevollmächtigen durch den Antragsgegner für erforderlich zu erklären,
18
3. der Antragstellerin die Kosten des Nachprüfungsverfahrens einschließlich der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung aufgewandten Kosten des Antragsgegners aufzuerlegen,
19
4. der Antragstellerin Einsicht in die Vergabeakten nicht zu gewähren.
20
Er hat die Auffassung vertreten, die Voraussetzungen für eine Direktvergabe lägen vor, weil im Ergebnis der - nochmals dargestellten - Markterkundung aus technischen Gründen kein Wettbewerb vorhanden sei. Dies betreffe DMS und Datenmigration. Zudem müsse ein Hosting beim Auftragnehmer in einem zertifizierten oder kommunalen Rechenzentrum erfolgen, müssten im Bestandsystem über Jahre gemeinsam entwickelte Programmfunktionen erhalten bleiben und sei eine möglichst weitgehende Nutzung des erworbenen Anwenderwissens der Mitarbeiter und die Reduzierung von Umstellungsaufwand und Mehrkosten gewünscht. Gemeinsam entwickelte Programmfunktionen wie die Abbildung des 4-Augen-Prinzips, ein Tool zur Erstellung der Eingliederungsvereinbarung und Matching-Funktion AV-2.0 könnten aber nur mit X-neu erhalten bleiben, weil naturgemäß ausgeschlossen werden könne, dass eine andere Software die Fortentwicklungen bereits integriert habe und es zu deren Implementierung einer langjährigen Zusammenarbeit bedürfe. Ein Wechsel dürfe auch zu Mehrkosten etwa bei erforderlichen Schulungen führen. Auch tatsächlich könne nur die Beigeladene die über Jahre ausgestaltete Datenstruktur nebst Verknüpfungen (referentielle Integrität) im Bestandsprogramm erkennen und verlustfrei in sein neues Fachverfahren übertragen. Die Software der Antragstellerin habe kein integriertes DMS, sondern lediglich eine integrierte Dokumentenverwaltung. Ein professionelles Datenmanagement müsse die Aspekte der Daten-/Informationsqualität und des Datenschutzes berücksichtigen, insbesondere die Datenkonsistenz über die gesamte Prozesskette gewährleisten. Interaktive und intelligente Verknüpfungen zur Arbeitserleichterung seien in der Dokumentenverwaltung der Antragstellerin nicht vorhanden. Es gehe nicht nur um die Verwaltung digitalisierter Schriftstücke mit Verschlagwortung für die bessere Auffindbarkeit. Der wesentliche Unterschied zwischen einer Dokumentenverwaltung und einem DMS bestehe darin, dass es im DMS neben der erforderlichen Dokumentenverwaltung um die Steuerung der Arbeitsabläufe und Prozesse rund um das Dokument gehe. Ein DMS werde als Informationsbasis für Organisationsprogramme eingesetzt und unterstütze die Erledigung der Aufgaben und Aufträge als Arbeitsablauf. Es ermögliche die Erledigung von Geschäftsprozessen in unmittelbarem Zusammenhang mit den entsprechenden Dokumenten. Es trage zur effektiven Zusammenarbeit bei, indem Zusammenarbeitslogiken, Workflow und Automatismen etabliert seien und damit in logischer und zeitlicher Abfolge festgelegt werde, wer was bis wann erledigen und wo wer was ablegen müsse, damit alle am Workflow Beteiligten Zugriff auf die benötigten Dokumente haben. Dies betreffe auch die Zusammenarbeit zwischen Mitarbeitern des operativen Bereichs und der Verwaltung. So seien Informationen zu Zahlungsstörungen (Verwaltung) direkt und sofort den zuständigen Mitarbeitern aus den operativen Bereichen zugänglich, die Verwaltung müsse nicht überlegen, wo der Vermerk bzw. die Information abzulegen und wer zu informieren sei. Abhängigkeiten würden definiert, um Fehler und Engstellen zu erkennen und optimieren zu können.
21
Die Beigeladene hat Stellung genommen.
22
Die Vergabekammer hat Akteneinsicht gewährt und zu der Frage, welcher Umfang der Datenmigration von der Antragstellerin im Rahmen der Gespräche zur Markterkundung angeboten worden sei, Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen A, D und B. Wegen des Ergebnisses wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 28.10.2019 verwiesen. Die Vergabekammer hat daraufhin einen Hinweis erteilt und eine Frist zur abschließenden Stellungnahme gesetzt. Die Beteiligten haben Protokollberichtigungsanträge gestellt.
23
Mit Beschluss vom 07.01.2020 hat die Vergabekammer die Protokollberichtigungsanträge zurückgewiesen und dem Antragsgegner bei fortbestehender Beschaffungsabsicht aufgegeben, die Leistungen in einem gemeinschaftsrechtskonformen Verfahren auszuschreiben. Zur Begründung hat sie ausgeführt, der Antragsgegner habe die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Vergabe im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb nach § 14 Abs. 4 Nr. 2 lit. b VgV - dass aus technischen Gründen kein Wettbewerb vorhanden sei - nicht bewiesen. Zwar sei die Leistungsbestimmung hinsichtlich Datenmigration und DMS nicht zu beanstanden. Die Sachverhaltsermittlung einschließlich der Zeugenvernehmungen lasse indes keinen verlässlichen Rückschluss darauf zu, dass die Gespräche zwischen Antragstellerin und Antragsgegner zur Datenmigration und zum integrierten DMS nicht zu oberflächlich verlaufen seien. Die Antragstellerin sei in ihren Rechten verletzt. Der Umstand, dass sie ein kommunales Unternehmen sei, stehe nicht entgegen. Dabei könne dahinstehen, ob die Vergabekammer eine Prüfungskompetenz für einen Verstoß gegen ein kommunalrechtliches Betätigungsverbot habe. Die überregionale Betätigung der Antragstellerin habe einen öffentlichen Zweck und gehe über reine Gewinnerzielungsabsicht hinaus. Fachanwendungen der vorliegenden Art würden mit der steigenden Zahl der Nutzer verbessert, was letztlich den Leistungsempfängern und den Mitarbeitern von Jobcentern zu Gute komme. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Beschluss der Vergabekammer vom 07.01.2020 Bezug genommen.
24
Gegen den am 10.01.2020 zugestellten Beschluss wendet sich der Antragsgegner mit seiner am 22.01.2020 eingegangenen sofortigen Beschwerde. Er macht geltend, der Nachprüfungsantrag sei bereits wegen Verstoßes gegen § 107 GO NRW unzulässig. Zudem sei die Antragstellerin nicht antragsbefugt, weil sie die Datenmigration gerade nicht zugesagt und ein integriertes DMS verneint habe. Im Lauf des Beschwerdeverfahrens erläutert der Antragsgegner, weshalb er ein integriertes DMS verlangt und welche Anforderungen er daran stellt. Im Präsentationstermin am 15.11.2018 sei klar geworden, dass die Antragstellerin nicht über ein integriertes DMS verfüge. Die Software verfüge auch tatsächlich nicht über ein genügendes DMS.
25
Der Antragsgegner beantragt,
26
1. den Beschluss der Vergabekammer Schwerin vom 07.01.2020 - Aktenzeichen 3 VK 08/19 - aufzuheben und den Nachprüfungsantrag abzulehnen,
27
2. der Antragstellerin die Kosten des Nachprüfungsverfahrens einschließlich der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung aufgewandten Kosten des Antragsgegners aufzuerlegen,
28
3. die Hinzuziehung eines anwaltlichen Bevollmächtigten durch den Antragsgegner für notwendig zu erklären.
29
Die Antragstellerin beantragt,
30
1. die sofortige Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss der Vergabekammer Mecklenburg-Vorpommern vom 07.01.2020 (Az.: 3 VK 08/19) zurückzuweisen,
31
2. dem Antragsgegner die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der Kosten der Antragstellerin zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung aufzuerlegen und
32
3. die Hinzuziehung der Verfahrensbevollmächtigten der Antragstellerin für das Beschwerdeverfahren für notwendig zu erklären.
33
Sie verteidigt die Entscheidung der Vergabekammer und wiederholt ihr bisheriges Vorbringen. Ihr DMS erfülle alle gestellten Funktionsanforderungen, insbesondere Erstellen, Bearbeiten und Löschen von Dokumenten, konsistente und revisionssichere Ablage der Dokumente, Einfügen und Verwalten externer Dokumente. Auch erfolge eine automatische Verknüpfung zueinander in Beziehung stehender Datensätze. Hierbei handele es sich um das Grundwesen einer relationalen Datenbank. Das DMS der Anwendung der Antragstellerin verfüge über ein „relatives Datenbankmanagementsystem“. Durch die automatische Verknüpfung sei es der Fachanwendung möglich, Geschäftsprozesse automatisch auszulösen. Werde etwa ein Kunde in eine Beschäftigung vermittelt, aktualisiere sich automatisch der berufliche Werdegang, ein händisches Nachtragen sei nicht erforderlich. Das DMS unterstütze Arbeitsabläufe, indem es allein aufgrund der Bearbeitung eines Datenfelds verknüpfte Arbeitsabläufe automatisch in Gang setze.
34
Die Beigeladene beantragt,
35
1. den Beschluss der Vergabekammer Schwerin vom 07. Januar 2020 - Az.: VK 08/19 - aufzuheben und den Nachprüfungsantrag abzulehnen,
36
2. der Antragstellerin die Kosten des Nachprüfungsverfahrens einschließlich der zur zweckentsprechenden Rechtverfolgung aufgewandten Kosten der Beigeladenen aufzuerlegen,
37
3. die Hinzuziehung eines anwaltlichen Bevollmächtigten für notwendig zu erklären.
38
Sie behauptet, die Antragstellerin verfüge über kein integriertes DMS. Dies ergebe sich bereits aus der Eigendarstellung in der Produktbroschüre. In der öffentlichen Darstellung der Antragstellerin gebe es keinerlei Hinweis auf das Vorhandensein eines integrierten DMS. Bei Vorhandensein würde die Antragstellerin dies aber offensiv im Marketing einsetzen. In der Branche sei bekannt, dass die Beigeladene als einziger Anbieter über ein integriertes DMS - ein Alleinstellungsmerkmal - verfüge. Auch das Vorbringen der Antragstellerin belege, dass kein integriertes DMS vorhanden sei. So habe sie zur „Workflow basierten Dokumentenverwaltung“ ausgeführt, die Implementierung der Workflows und deren Visualisierung erfolge mit von der Kommune zur Verfügung gestellter Software anderer Hersteller (GA II 90). Jedenfalls zum Zeitpunkt der Vergabeentscheidung seien die Funktionen auch nicht vorhanden gewesen. Tatsächlich verfüge das Produkt der Antragstellerin nicht über ein Dokumentenmanagement, nicht einmal über ein Datei-Management. Schließlich legt die Beigeladene ausführlich dar, ihre Software sei zum Zeitpunkt der Vergabeentscheidung voll einsatzfähig gewesen.
39
Der Senat hat mit Beschluss vom 02.04.2020 - auf den wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird - darauf hingewiesen, es fehle bereits an der Antragsbefugnis. Die Antragstellerin zeige nicht auf, die in ihrer Fachanwendung enthaltene Dokumentenverwaltung sei ein DMS bzw. erfülle die gestellten Anforderungen und sie könne im Fall der Ausschreibung deshalb ein zuschlagfähiges Angebot abgeben.
40
Die Antragstellerin hat hierzu mit Schriftsatz vom 29.04.2020 (GA II 1) Stellung genommen und ausgeführt, ihre Fachanwendung verfüge über ein integriertes DMS, das die gestellten Anforderungen erfülle. Hierfür hat sie zudem die Handbücher (Anlage BG7) vorgelegt. Das Handbuch für die Sachbearbeitung Teil 2 enthält auf den Seiten 414 bis 428 insbesondere folgende Passagen:
41
Dokumentenmanagement mit der digitalen Akte
42
Abgrenzung internes / externes Dokumentenmanagementsystem
43
... Steht ein solches externes Dokumentenmanagementsystem noch nicht ... zur Verfügung, so kann ... das integrierte Dokumentenmanagementsystem genutzt werden...
44
Sollten Sie die Einführung eines externen Dokumentenmanagementsystems oder aber die Ausweitung der Nutzung des integrierten Dokumentenmanagementsystems planen, ...
45
Das integrierte Dokumentenmanagementsystem (“Dokumentenverwaltung“) versetzt den Anwender in die Lage:
46
- sämtliche aus der Fachanwendung heraus erstellte Dokumente unveränderlich abzulegen.
47
- eingehende bzw. außerhalb der Fachanwendung erstellte Dokumente (in beliebigen marktüblichen Formaten wie EML, MSG, JPEG, TIFF, PDF, XLS, DOC, usw.) in das integrierte Dokumentenmanagementsystem zu importieren.
48
- Arbeitsabläufe (so genannte Workflows) in Abhängigkeit von bestimmten Parametern des jeweiligen Dokuments auszulösen, zu modifizieren oder aber auch zu beenden (zu stoppen).
49
Hinweis: Die Definition und Organisation von Arbeitsabläufen erfolgt in der Fachanwendung in Form von so genannten Prozessen. Details entnehmen Sie bitte dem Kapitel „Termin- und Aufgabenverwaltung / Interaktion mit dem integrierten Dokumentenmanagementsystem“.
...
50
Ablage von generierten Dokumenten im (integrierten) Dokumentenmanagementsystem (“Dokumentenverwaltung“)
51
Bei der Generierung eines Dokumentes werden alle Daten, die für die Ablage im integrierten Dokumentenmanagementsystem ... benötigt werden, ...
52
... kann dort wieder über das integrierte Dokumentenmanagementsystem aufgerufen werden. ...
53
Das integrierte Dokumentenmanagementsystem in einer geöffneten Fallakte
54
Nach dem Laden einer Fallakte können Sie die elektronische Akte, welche im integrierten Dokumentenmanagement der Fallakte zugeordnet worden ist, über den Eintrag „Dokumentenverwaltung“ im Menü ... öffnen.
...
55
die automatische Zuordnung und Ablage des Dokuments in dem integrierten Dokumentenmanagementsystem.
...
56
Das integrierte Dokumentenmanagementsystem (“Dokumentenverwaltung“) bietet ...
57
Im Übrigen sei die Fachanwendung der Beigeladenen zum Zeitpunkt der Vergabeentscheidung noch nicht funktionsfähig und einsatzbereit gewesen.
58
Mit Schriftsatz vom 15.10.2020 hat die Antragstellerin auf Anforderung durch den Senat Auszüge aus der am 15.11.2018 aktuellen Version des Y-Handbuchs für die Sachbearbeitung Teil 2 - mit Sperrvermerk versehen - vorgelegt (Anlage BG26 GA IV 91 ff.). Diese enthalten zunächst auf dem Deckblatt den Vermerk: „Stand der Dokumentation 13.11.2018“ und im Weiteren jeweils die Bezeichnung „Dokumentenverwaltung“, aber an keiner Stelle die Bezeichnung „integriertes DMS“. Ergänzend macht sie geltend, es sei nicht unter Beweis gestellt, dass kein anderer Wettbewerber ein Produkt mit integriertem DMS anbieten könne. So sei der Antragsgegner augenscheinlich davon ausgegangen, der Anbieter V-W sei nur ein Unternehmen. Tatsächlich handele es sich um zwei Unternehmen: V und W. Mit diesen Anbietern und der Z habe der Antragsgegner keine Gespräche geführt. DMS sei auch kein feststehender Begriff. Im Allgemeinen werde darunter die datenbankgestützte Verwaltung von elektronischen Dokumenten aller Art verstanden. Der Begriff Dokumentenverwaltungssystem werde synonym verwandt. Bei Erweiterung um Dienste von Groupware- und Workflow-Systemen spreche die Branche nicht von DMS, sondern von ECM-Lösungen (Enterprise Content Management). Das Handbuch mit Stand 13.11.2018 beweise, dass ein integriertes DMS vorhanden sei. Darin werde beschrieben, wie interne und externe Dokumente verwaltet werden könnten. Anstelle des Begriffs DMS sei noch der eingedeutschte Begriff Dokumentenverwaltung verwendet worden. Ein funktionaler Unterschied gehe damit nicht einher, die Begriffe verwende die Antragstellerin synonym. Hintergrund der Begrifflichkeiten sei, dass die Antragstellerin in den Handbüchern auf Anglizismen verzichtet und vorrangig deutsche Begriffe verwendet habe. Im Informationsgespräch habe die Antragstellerin bereits einen kleineren Teil der Funktionen des integrierten DMS vorgeführt, insbesondere die Erstellung und Bearbeitung von Dokumenten.
59
Der Auftrag ist bislang nicht erteilt.
60
Der Senat hat die Beteiligten angehört und Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen A, D, E, F, G, B, H und C. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Protokolle der mündlichen Verhandlung vom 03.09.2020 und 04.11.2020 Bezug genommen.
61
Mit nicht nachgelassenem Schriftsatz vom 10.11.2020 hat die Antragstellerin zum Ergebnis der Beweisaufnahme ausgeführt und ergänzend vorgetragen.
II.
62
1. Die sofortige Beschwerde ist zulässig, insbesondere fristgerecht eingelegt worden (§ 172 GWB). Sie hat auch in der Sache Erfolg.
63
Dabei ist der Nachprüfungsantrag nur insoweit Gegenstand des Beschwerdeverfahrens, als die Entscheidung zulasten des Antragsgegners ergangen ist. Über den (mangels Erteilung des Auftrags unzulässigen) Antrag auf Feststellung der Unwirksamkeit eines zwischen dem Antragsgegner und der Beigeladenen geschlossenen Vertrags über die Bereitstellung der Software ist deshalb unabhängig davon nicht zu entscheiden, ob die Vergabekammer hierzu eine Entscheidung (konkludent) getroffen hat oder hätte treffen müssen.
64
a) Der Nachprüfungsantrag ist zulässig.
65
Nach § 160 Abs. 2 GWB ist jedes Unternehmen antragsbefugt, das ein Interesse an dem öffentlichen Auftrag hat und eine Verletzung in seinen Rechten nach § 97 Abs. 6 GWB durch Nichtbeachtung von Vergabevorschriften geltend macht. Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Die Antragstellerin hat durch ihr Verhalten und ihre Erklärungen ihr Interesse an einer Auftragserteilung mit den streitgegenständlichen Leistungen dokumentiert und macht eine fehlerhafte Anwendung von § 14 Abs. 4 VgV geltend, der bieterschützende Wirkung entfaltet.
66
Darüber hinaus hat der Antragsteller eines Nachprüfungsverfahrens darzulegen, dass ihm durch die behauptete Verletzung der Vergabevorschriften ein Schaden entstanden ist oder zu entstehen droht (§ 160 Abs. 2 Satz 2 GWB). Die bloße Behauptung genügt insoweit nicht. Er muss vielmehr für jeden einzelnen behaupteten Rechtsverstoß schlüssig und nachvollziehbar darlegen, dass gerade dieser Fehler seine Aussichten auf den Zuschlag tatsächlich beeinträchtigt hat oder dass die Zuschlagschancen zumindest verschlechtert worden sein könnten. Dabei sind mit Rücksicht auf das Gebot effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) keine überspannten Anforderungen zu stellen. Ausreichend ist, dass ein Schadenseintritt nicht offensichtlich ausgeschlossen ist, der behauptete Vergaberechtsverstoß also geeignet ist, die Aussichten für die Auftragserteilung zu beeinträchtigen (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 29. Juli 2004 – 2 BvR 2248/03 –, Rn. 27 - 28, juris; BGH, Beschluss vom 26. September 2006 – X ZB 14/06 –, BGHZ 169, 131-153, Rn. 31; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 07. September 2003 – VII-Verg 26/03 –, Rn. 4, juris; Saarländisches Oberlandesgericht Saarbrücken, Beschluss vom 25. Juli 2007 – 1 Verg 1/07 –, Rn. 28, juris; BKartA Bonn, Beschluss vom 13. August 2020 – VK 1 - 54/20 –, Rn. 67, juris; Summa in: Heiermann/Zeiss/Summa, jurisPK-Vergaberecht, 5. Aufl., § 160 GWB (Stand: 27.03.2020), Rn. 100, 102, 121, 127, § 168 GWB (Stand: 02.08.2018), Rn. 18).
67
Diesen Anforderungen genügt das im Lauf des Beschwerdeverfahrens ergänzte Vorbringen der Antragstellerin. Es ist nach dem für die Zulässigkeitsprüfung geltenden Maßstab nicht festzustellen, das Produkt erfülle die gestellten Anforderungen offensichtlich nicht, verfüge also keinesfalls über ein integriertes DMS und bilde auch die geforderten Funktionalitäten nicht ab. Entsprechendes gilt für die Datenmigration. Die weiteren Anforderungen - Hosting in einem zertifizierten oder kommunalen Rechenzentrum, Erhalt der im Bestandsystem über Jahre entwickelten Programmfunktionen (etwa Abbildung des 4-Augen-Prinzips, Tool zur Erstellung der Eingliederungsvereinbarung und Matching-Funktion AV-2.0), möglichst weitgehende Nutzung des erworbenen Anwenderwissens der Mitarbeiter, Reduzierung von Umstellungsaufwand und Mehrkosten - sind nicht als Ausschlusskriterien definiert und bereits deshalb im Rahmen der Antragsbefugnis ohne Belang.
68
Für die Zulässigkeit nicht erheblich ist auch, ob die Antragstellerin von einem Vergabeverfahren wegen Verstoßes gegen § 107 GO NRW auszuschließen wäre.
69
b) Der Nachprüfungsantrag ist allerdings unbegründet. Eine Direktvergabe ohne Wettbewerb darf nach § 14 Abs. 4 Nr. 2 Buchst. b VgV erfolgen, wenn aus technischen Gründen kein Wettbewerb vorhanden ist, die vergaberechtlich zulässig gestellten Anforderungen (aa) also von keinem anderen Anbieter erfüllt werden (bb). Dabei kommt es nicht auf die subjektive Einschätzung des öffentlichen Auftraggebers an, sondern ob die Deckung des Beschaffungsbedarfs anderen Unternehmen objektiv unmöglich ist (MüKoEuWettbR/Fett, 2. Aufl. 2018, VgV § 14 Rn. 74; Ziekow/Völlink/Völlink, 4. Aufl. 2020, VgV § 14 a; BKartA Bonn, Beschluss vom 28. November 2016 – VK 1 - 104/16 –, Rn. 57, juris; siehe auch Erwägungsgrund 50 der Richtlinie 2014/24/EU). Dem Auftraggeber sind insoweit potentielle Möglichkeiten zur bewussten Manipulation des Beschaffungsvorgangs genommen. In der Konsequenz trägt er aber auch das Risiko einer bloßen Fehleinschätzung.
70
aa) (1) Grundsätzlich steht dem Auftraggeber das Bestimmungsrecht zu, ob und welchen Gegenstand er beschaffen will. Solange er dabei die Grenzen beachtet und nicht - offen oder versteckt - ein bestimmtes Produkt bevorzugt und andere Anbieter diskriminiert (§ 31 Abs. 6 VgV), ist er bei dieser Bestimmung im Grundsatz weitgehend frei. Er bestimmt über die an die zu beschaffenden Gegenstände zu stellenden technischen und ästhetischen Anforderungen. Es ist grundsätzlich keine Markterforschung oder Markterkundung notwendig, ob eine andere Lösung möglich ist. Darüber hinaus ist der Auftraggeber auch nicht verpflichtet, die Beschaffungsentscheidung unter sachverständiger Hilfe zu „verobjektivieren“, um eine möglichst produkt- oder technikoffene Leistungsbeschreibung zu erreichen. Das bedeutet allerdings nicht, dass dieses Bestimmungsrecht grenzenlos ist. Die Anforderung muss vielmehr objektiv auftrags- und sachbezogen und die Begründung nachvollziehbar sein. Ob Anforderungen erforderlich oder zweckmäßig sind, ist demgegenüber ohne Belang (Senat, Beschluss vom 12. August 2020 – 17 Verg 3/20 –, Rn. 49, juris; Beschluss vom 17. Juli 2019 – 17 Verg 1/19 –, Rn. 59, juris; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 03. August 2018 – Verg 30/18 –, Rn. 41, juris; Beschluss vom 01. August 2012 – Verg 10/12 –, Rn. 41, 46, 47, juris; Beschluss vom 27. Juni 2012 – Verg 7/12 –, Rn. 22, 24, juris).
71
Führt die Bestimmung des Auftragsgegenstands durch den öffentlichen Auftraggeber allerdings dazu, dass im Sinne des § 14 Abs. 4 Nr. 2 Buchst. b VgV die Leistung nur von einem bestimmten Unternehmen erbracht werden kann, greift das Korrektiv des § 14 Abs. 6 VgV, wonach die Voraussetzungen für die Anwendung des Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb - mithin eine Vergabe außerhalb des Wettbewerbs - nur dann gelten, wenn es keine vernünftige Alternative oder Ersatzlösung gibt und der mangelnde Wettbewerb nicht das Ergebnis einer künstlichen Einschränkung der Auftragsvergabeparameter ist. Die Bestimmungsfreiheit des Auftraggebers unterliegt damit engeren vergaberechtlichen Grenzen als bei Durchführung eines wettbewerblichen Verfahrens. Eine Leistungsbestimmung, die im Falle des § 14 Abs. 4 Nr. 2 VgV zu einem völligen Wettbewerbsverzicht führt, bedarf größerer Rechtfertigungstiefe als eine solche, die unter Aufrechterhaltung des Vergabewettbewerbs im Ergebnis (nur) zu einer hersteller- oder produktbezogenen Leistungsspezifikation gemäß § 31 Abs. 6 VgV führt (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 12. Juli 2017 – VII-Verg 13/17 –, Rn. 35, juris; Beschluss vom 07. Juni 2017 – VII-Verg 53/16 –, Rn. 34, juris; BKartA Bonn, Beschluss vom 29. September 2020 – VK 2 - 73/20 –, Rn. 64, juris). Ob eine mögliche Alternative oder Ersatzlösung vernünftig ist, unterliegt dabei der Einschätzung durch den Auftraggeber (Willweber in: Heiermann/Zeiss/Summa, jurisPK-Vergaberecht, 5. Aufl., § 14 VgV (Stand: 22.04.2020), Rn. 91).
72
(2) Hinsichtlich der Dokumentenverwaltung verlangt der Antragsgegner ein leistungsfähiges, integriertes DMS mit OCR (Schrifterkennung), das die Aspekte der Daten-/Informationsqualität und des Datenschutzes berücksichtigt, insbesondere die Datenkonsistenz über die gesamte Prozesskette gewährleistet, und interaktive und intelligente Verknüpfungen zur Arbeitserleichterung bietet. Neben den üblichen Funktionen einer Dokumentenverwaltung gehe es insbesondere darum, den Workflow um das Dokument herum abzubilden und zu automatisieren.
73
Diese vom Antragsgegner festgelegten Mindestanforderungen stehen mit dem Vergaberecht in Einklang. Sie sind sachbezogen begründet (u.a. Betriebssicherheit und Fachbetreuung aus einer Hand) und es ist nicht ersichtlich, sie seien gerade deshalb aufgestellt, um die Antragstellerin vom Auftrag auszuschließen, es gehe dem Antragsgegner also eigentlich gar nicht um das integrierte DMS. Dass der Antragsgegner die Nutzung eines unter Wahrung des Vergaberechts gesondert zu beschaffenden externen DMS - entweder durch Erweiterung des vom Antragsgegner bereits für andere Zwecke genutzten oder eines davon unabhängigen DMS - auf Grundlage seiner Beschaffungsdefinition nicht als vernünftige Alternative oder Ersatzlösung zu einem integrierten DMS ansieht, lässt Beurteilungsfehler nicht erkennen. Zwar wären Kostenfragen auszuklammern, weil diese im Rahmen der Ausschreibung Berücksichtigung finden könnten. Das nicht unterlegte Argument von Performance-Problemen bei Anbindung eines externen DMS genügt in dieser Pauschalität ebenfalls nicht. Demgegenüber ist nicht zu beanstanden, dass der Antragsgegner in einem Service „aus einer Hand“ und der Vermeidung von Risiken durch Anbindung von und Datenaustausch mit externen Komponenten Vorteile sieht, die die Nutzung eines externen DMS gerade nicht bieten kann. Der Gesichtspunkt der Losvergabe - Fachanwendung und DMS gesondert - greift insoweit nicht. Auch liegt keine künstliche Einschränkung der Auftragsvergabeparameter vor. So gingen Mitarbeiter des Antragsgegners ausweislich der Zeugenaussagen vor dem Senat bei dem Präsentationstermin selbst noch davon aus, sie würden mit der Antragstellerin „in die Zukunft gehen“. Auch dauerten die Verhandlungen über diesen Zeitpunkt hinaus an. Eine sachwidrige Vorfestlegung ist insoweit nicht zu erkennen. Vielmehr zielt die Vorgabe eines integrierten DMS nicht auf eine Einschränkung des potentiellen Bieterkreises ab, sondern entspricht offensichtlich genau den Vorstellungen des Antragsgegners von dem Produkt. Schließlich widerspricht ein integriertes DMS auch nicht den Anforderungen des Onlinezugangsgesetzes (OZG). Diese hatte der Antragsgegner ausdrücklich im Blick. Schnittstellen schließt er nicht vollständig aus, sondern möchte sie lediglich auf das - insbesondere zur Umsetzung des OZG - notwendige Maß begrenzen.
74
bb) Auf Grundlage des Schriftsatzes vom 10.11.2020 - dort Seite 9 Abs. 2 - hat der Senat davon auszugehen, dass das vermeintlich integrierte DMS der Antragstellerin jedenfalls die weitergehenden Anforderungen nicht erfüllt, weil damit das OZG nicht umgesetzt werden kann. Einer Direktvergabe an die Beigeladene steht die Software der Antragstellerin bereits deshalb nicht entgegen. Unabhängig davon kann der Senat letztlich offen lassen, ob das Produkt der Antragstellerin oder eines anderen Wettbewerbers mit Ausnahme der Beigeladenen überhaupt über ein integriertes DMS verfügt oder dessen Funktionalitäten zumindest anderweitig abbildet. Denn darauf kann sich die Antragstellerin jedenfalls nicht berufen.
75
(1) Im Ergebnis der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die Mitarbeiter der Antragstellerin am 15.11.2018 auf ausdrückliche Nachfrage erklärten, die Fachanwendung verfüge nicht über ein integriertes DMS und ein solches sei auch nicht geplant, sie habe lediglich eine Schnittstelle zu einem externen DMS.
76
Die Zeugin A hat dies bei ihrer Vernehmung sowohl vor der Vergabekammer als auch vor dem Senat bestätigt. Die Zeugin ist glaubwürdig. Anhaltspunkte, sie könne insoweit interessengeleitet falsche Aussagen getroffen haben, sind nicht erkennbar. Zwar steht sie als Projektleiterin „im Lager“ des Antragsgegners und hat insoweit ein Interesse am Ausgang des Verfahrens. Sie hat allerdings Nachfragen unumwunden beantwortet und nicht den Eindruck hinterlassen, Informationen zurückhalten oder verfälschen zu wollen. So hat sie etwa eingeräumt, am 15.11.2018 noch keine Festlegungen zum DMS getroffen und der Antragstellerin mitgeteilt zu haben. Auch hat sie bekundet, am Vormittag sei nur am Rande über das DMS gesprochen, erst am Nachmittag sei dies - wenn auch kurz - konkretisiert worden. Weitergehende Erinnerungslücken sind angesichts des Zeitablaufs plausibel. Die Aussage ist auch glaubhaft. Die Zeugin hat sowohl im Kern- als auch im Randbereich strukturgleich ausgesagt, ihre Angaben waren - soweit angesichts des Zeitablaufs noch möglich - detailliert, zudem auch nachvollziehbar. Für die Wahrheit der Aussage spricht ganz wesentlich der Inhalt des zum Vergabevorgang genommenen Vermerks der Zeugin vom 16.11.2018 (Anlage B1 GA 20), den sie wiederum auf Grundlage ihrer handschriftlichen Notizen erstellt hatte. Es sind keine Anhaltspunkte ersichtlich, die Zeugin könne am Tag nach der Besprechung unzutreffende Notizen gefertigt haben. Für bewusste Falschangaben bestand gar kein Anlass, weil die Zeugin nach eigenem Bekunden damals selbst noch bezweifelte, dass ein integriertes DMS überhaupt möglich sei, die Praktiker durchaus positive Rückmeldungen zum Produkt der Antragstellerin gegeben hatten und die Verhandlungen andauerten. Aber auch Anhaltspunkte für einen Irrtum sind nicht ersichtlich. So hat die Zeugin nachvollziehbar bekundet, weshalb sie überhaupt entsprechende Nachfragen zum DMS stellte: weil sie mit der Frage eines als erforderlich angesehenen DMS im Rahmen einer Arbeitsgruppe befasst gewesen und in diesem Zusammenhang 2018 auch zur Expo nach Hannover gefahren sei und dort mit verschiedenen DMS-Anbietern Kontakt aufgenommen habe, für sie deshalb relevant gewesen sei, ob ein DMS gesondert beschafft werden müsse, das DMS sei deshalb für sie - intern abgestimmt - Kernpunkt gewesen. Angesichts der daraus resultierenden subjektiven Bedeutung der Frage erscheint ausgeschlossen, dass die Zeugin Erklärungen des Zeugen B hierzu missverstanden oder bei Unklarheiten nicht nachgefragt haben könnte.
77
Die Angaben werden dadurch gestützt, dass die Antragstellerin ihre interne Dokumentenverwaltung noch im Nachprüfungsverfahren - also nach dem Präsentationstermin - zunächst in ausdrücklicher Abgrenzung von einem DMS selbst nicht als solches angesehen und die Nutzung eines über eine Schnittstelle anzubindenden, externen DMS empfohlen hat. Eine solche Empfehlung wäre nur verständlich, wenn ihre Fachanwendung nicht alle erforderlichen Funktionen bietet oder diese nicht in der gleichen Qualität umsetzt. Erst im Laufe des Verfahrens hat sie ihre Dokumentenverwaltung dann ohne inhaltliche Änderungen als DMS bezeichnet. Der 112-seitigen Produktbeschreibung (Anlage ASt7) lässt sich zu einem integrierten DMS ebenfalls nichts entnehmen: Die Bezeichnung „DMS“ taucht nur im Zusammenhang mit Schnittstellen auf (in Abschnitten 6 und 7 sowie unter Punkt 8.4.19.1), in Punkt 2.3 ist lediglich angegeben, dass die Datenhaltung mit Ausnahme der Druckvorlagen und Druckergebnisse in einer relationalen Datenbank erfolgt, in Abschnitt 7 sind Druckvorlagen (7.1.1.9), Druckausgaben und Textbausteine (7.1.2.2) sowie „Druckprotokoll / Dokumentenverwaltung“ mit den Unterpunkten „Fall- oder personenbezogen“, „Bescheidhistorie mit LINK auf internes Dokumentenarchiv“ und „In Fallakte hinterlegte Fremddokumente“ (7.1.2.4) erwähnt. Würde die Fachanwendung über ein integriertes DMS verfügen, das Beschaffung und Betrieb eines externen DMS entbehrlich machte, wäre zu erwarten, dass die entsprechenden Funktionen in der Produktbeschreibung aufgeführt wären. Selbst im etwa 5.500 Seiten umfassenden Handbuch - das zwar nicht dem Antragsgegner, aber den Vertriebsmitarbeitern der Antragstellerin bekannt war - war zum damaligen Zeitpunkt nur von Dokumentenverwaltung, nicht aber von einem integrierten Dokumentenmanagementsystem die Rede. Diese Bezeichnung wurde erst im laufenden Beschwerdeverfahren in das Handbuch aufgenommen. Wenn aber in den Vermarktungs- und internen Unterlagen der Begriff des integrierten DMS nicht gebraucht wird, erscheint es durchaus nachvollziehbar, dass die Vertriebsmitarbeiter eine dahingehende Frage verneinten.
78
Auch die in der Vergabeakte niedergelegten „Eindrücke der Praktiker“ stehen damit in Einklang. Herr F vermerkte Schnittstellen für diverse DMS, Herr I: „Die Daten werden manuell im Programm erfasst. Hierbei würde X-neu eine,bessere' Lösung darstellen, da es geplant ist, über den DMS Workflow Daten automatisch auszulesen und im Programm eintragen zu lassen“, Herr J: „X-neu wirkt insgesamt aufgeräumter und bietet gleichzeitig ein passendes DMS ab Werk an, welches bei Y offenbar extern eingekauft werden müsste“ und Herr K: „Unabhängiges DMS möglich“. In seinem Gedächtnisprotokoll vom 04.11.2019 führt Herr E aus, die Mitarbeiter der Antragstellerin hätten erklärt, ihre Fachanwendung verfüge nicht über ein integriertes DMS, sondern lediglich über eine Dokumentenverwaltung für die mit der Fachanwendung erzeugten Dokumente. Allerdings sei es möglich, über eine Schnittstelle alle marktgängigen DMS anzubinden, die Beschaffung eines DMS müsse dann zusätzlich erfolgen.
79
Auch weitere Zeugenaussagen stützen das Beweisergebnis. So hat die Zeugin D bekundet, die Beigeladene habe zuvor ihr Produkt mit einem integrierten DMS angepriesen, was sie sich gar nicht hätten vorstellen können und es deshalb besprechen wollten. Die Mitarbeiter der Antragstellerin hätten die Frage nach einem integrierten DMS dann auch verneint, was für sie damals nicht verwunderlich gewesen sei. Beim Tag der Jobcenter habe der Geschäftsführer der Beigeladenen erklärt, sie seien die einzige Firma, die ein Produkt mit integriertem DMS habe, hierzu habe dann keiner der anderen - auch nicht der Vertreter der Antragstellerin - etwas gesagt. Der Zeuge E hat angegeben, in der zweiten Besprechung sei es u.a. konkret darum gegangen, ob ein integriertes DMS vorhanden sei. Sie hätten damals kein DMS gehabt und sich bereits im Vorfeld mit dem Thema befasst. Die Antwort sei gewesen, dass das Produkt kein integriertes DMS habe, aber über eine offene Schnittstelle verfüge, über die jedes marktgängige DMS angebunden werden könne. Der Begriff DMS sei aus seiner Sicht belegt und er habe den Eindruck gehabt, dass den beiden Mitarbeitern der Antragstellerin auch klar war, was damit gemeint sei, weil sonst auch der Hinweis auf externe DMS keinen Sinn ergeben hätte. Es sei auch um die Unterscheidung zwischen DMS und Dokumentenverwaltung gegangen. Die Frage nach der Dokumentenverwaltung sei nach seiner Erinnerung bejaht worden. Der Zeuge F hat bekundet, er sei am Vormittag dabei gewesen, da sei auch eine Schnittstelle zu einem DMS benannt worden. Der Zeuge G hat erklärt, im Vorfeld sei bereits abgestimmt gewesen, dass ein DMS von enormer Bedeutung für die Nachfolgeanwendung sei. Es habe sich möglichst um ein System handeln sollen, dass sehr stark mit der Software verzahnt ist, weil ihm aus Veranstaltungen des Landkreises bekannt gewesen sei, dass die spätere Anbindung mit viel Kraft und Aufwand verbunden sei. Deshalb habe nicht zwangsläufig ein weiteres Projekt und eine weitere Ausschreibung dafür erfolgen sollen. Es sei auch über den Unterschied zwischen einem integrierten und einem externen DMS gesprochen worden. Die Frage nach einem integrierten DMS sei verneint worden, allerdings bestehe die Möglichkeit der Anbindung externer DMS über Schnittstellen. Die genannten Zeugen stehen zwar ebenfalls im Lager des Antragsgegners, was aber für sich genommen keinen Rückschluss auf unwahre Aussagen zulässt. Die Zeugen haben nicht den Eindruck hinterlassen, unzutreffende Angaben zu machen. Auch sie haben nachvollziehbare Erinnerungslücken - auch in für den Antragsgegner relevanten Punkten - unumwunden eingeräumt. Sie haben nachvollziehbar dargelegt, weshalb das Thema jeweils für sie wichtig war.
80
Die Aussagen der Zeugen B und C - die ihrerseits bei der Antragstellerin für die hier gegenständliche Vermarktung zuständig sind und insoweit ebenfalls ein Interesse am Ausgang des Verfahrens haben - begründen keine Zweifel, die der Überzeugungsbildung des Senats entgegenstünden. Die Angaben des Zeugen B vor der Vergabekammer sind bereits unergiebig. Dort hat er lediglich angegeben, man habe über das DMS diskutiert und auch über die Möglichkeit gesprochen, ein externes DMS anzubinden (Seite 13 des Protokolls). Demgegenüber hat er vor dem Senat bekundet, er habe erklärt, dass eine interne DMS-Lösung mitgeliefert werde, und aufgezeigt, dass dort Fallakten bearbeitet und Prozesse begleitet werden könnten. Er habe aber auch darauf hingewiesen, dass die Arbeitsweise mit einem internen DMS nur temporärer Natur sei und dass damals bereits 80 %, inzwischen 100 % der betreuten Jobcenter ein externes DMS nutzten oder dabei waren, eines einzuführen. Er habe beide Verfahrensweisen - internes wie auch externes DMS - dargestellt und zusammen mit dem Zeugen C in der Software gezeigt. Er wisse aber nicht mehr, wie das Ganze damals bezeichnet wurde. Das DMS sei eine Standardfunktionalität. In der Folge hat er dann - abweichend - angegeben, die Schnittstelle sei sicherlich nicht vorgeführt worden, weil sie kein externes DMS dabei gehabt hätten. Für die zweite Besprechung habe er in seinen Notizen jetzt nicht gefunden, dass es da auch um das DMS gegangen sei. Der Zeuge C habe tiefe Funktionskenntnisse zu der Software. Es könne sein, dass sich der Sprachgebrauch im Unternehmen inzwischen geändert habe. Auf jeden Fall sei das Wort „integriert“ genutzt worden. Ansonsten gebe es verschiedene Begriffe, wie Dokumentenverwaltung, Dokumentenmanagementsystem oder E-Akte. Sie hätten nicht explizit das DMS mit seinen Funktionalitäten vorgeführt, sondern die Software mit den Programmprozessen. In der Veranstaltung seien mutmaßlich die Begriffe DMS und Dokumentenverwaltungssystem genutzt worden, wohl eher nicht E-Akte. Dabei seien diese Begriffe für dieselben Inhalte, also synonym verwendet worden. Die Aussage des Zeugen ist bereits unergiebig, weil er für die zweite Besprechung keine Erinnerung geschildert, sondern lediglich auf seine - nicht notwendig umfassenden - Notizen verwiesen hat. Es mag sein, dass er seiner Erklärung zum integrierten DMS subjektiv keine dokumentationswürdige Bedeutung beigemessen hat, entscheidend ist insoweit aber der Empfängerhorizont. Im Übrigen ist die Aussage in wesentlichen Punkten auffallend allgemein gehalten und ausweichend und nicht auf die konkrete Besprechung bezogen. Soweit er angibt, er habe in der ersten Besprechung die interne DMS-Lösung genannt und erläutert, widerspricht das den Bekundungen aller anderen Zeugen und seinen eigenen Angaben zu den verwendeten Begrifflichkeiten. Auch hinsichtlich des Sprachgebrauchs im Unternehmen war die Antwort des Zeugen ausweichend. Tatsächlich ist unstreitig, dass das Handbuch aufgrund dieses und weiterer Vergabeverfahren im Frühjahr 2020 geändert und der Begriff „integriertes DMS“ aufgenommen wurde. Dass der Zeuge als Regionalvertriebsleiter, der jedenfalls auch für die hiesige Vergabe zuständig ist, davon nicht unterrichtet ist, ist schwer vorstellbar. Auch der Zeuge C hat abweichend vom Zeugen B bekundet, er habe das Dokumentenmanagement lediglich beiläufig gezeigt, als es um die Ablage eines erstellten Bescheids ging. Da habe er zudem erörtert, dass auch ein Import von Dokumenten möglich sei, vorgeführt habe er dies aber nicht. Allerdings hat auch er angegeben, im zweiten Teil sei das nach seiner Erinnerung kein Thema mehr gewesen. Ausgeschlossen ist es aber nach dieser Aussage nicht. Zudem hat der Zeuge, der nach Angaben seines Kollegen B tiefe Funktionskenntnisse der Software hat, bekundet, sie hätten damals eine „integrierte Dokumentenverwaltung“ im System gehabt. Ein DMS sei nach seinem Verständnis eher ein separates System und habe die ein oder andere Funktion mehr, etwa hinsichtlich des Zugriffs durch andere Abteilungen mit entsprechender Rechteverwaltung und der Workflow-Steuerung. Auf dieser Grundlage erscheint es durchaus plausibel, dass die Mitarbeiter der Antragstellerin am 15.11.2018 von einer Dokumentenverwaltung sprachen und die Frage nach einem DMS verneinten.
81
Schließlich spricht für das Beweisergebnis auch, dass die Antragstellerin im laufenden Beschwerdeverfahren zunächst ein undatiertes Handbuch vorgelegt, schriftsätzlich in Bezug genommen und damit den Eindruck erweckt hat, bereits zum Zeitpunkt des Präsentationstermins sei die Dokumentenverwaltung im Handbuch als integriertes DMS bezeichnet worden. Tatsächlich war dies nicht der Fall, wie sich aus der nunmehr vorgelegten Fassung des Handbuch für die Sachbearbeitung Teil 2 mit Bearbeitungsstand 13.11.2018 ergibt: Dort findet sich nur die Bezeichnung Dokumentenverwaltung. Dabei fällt auf, dass auf der alten Fassung des Handbuchs ein Bearbeitungsstand auf dem Deckblatt vermerkt ist, auf dem zunächst vorgelegten - der Antragstellerin günstigeren - aber nicht. Nach Angaben des Zeugen H werden die Daten auf dem Deckblatt vermerkt. Wenn aber der Bearbeitungsstand eigentlich auf dem Deckblatt vermerkt ist, muss er manuell gelöscht worden sein. Eine andere Erklärung bietet die Antragstellerin nicht, sie ist auch für den Senat nicht ersichtlich. Ein manuelles Löschen wiederum begründet den Verdacht, es habe mit der Vorlage bewusst ein falscher Eindruck vermittelt werden sollen. Das würde aber nur Sinn machen, wenn die Antragstellerin beim Präsentationstermin gerade nicht von einem integrierten DMS bzw. dahingehenden Äußerungen ihrer Mitarbeiter ausging.
82
(2) Erklärten aber ihre Mitarbeiter ausdrücklich, ihre Fachanwendung verfüge über kein integriertes DMS und ein solches sei auch nicht geplant, kann sich die Antragstellerin auf ein vermeintliches Vorhandensein einer solchen Komponente oder die vermeintlich anderweitige Abbildung der Funktionalitäten nicht berufen. Denn angesichts der klaren Aussage war der Antragsgegner zu weitergehenden Nachfragen oder Ermittlungen nicht gehalten. Dabei ist unerheblich, dass die Anforderung im Zeitpunkt des Präsentationstermins noch nicht als Ausschlusskriterium festgelegt und der Antragstellerin mitgeteilt war. Denn die Markterkundung ist dem Vergabeverfahren vorgelagert und dient erst der Ermittlung des konkreten Beschaffungsbedarfs. Der Auftraggeber darf nach späterer Festlegung potentielle Anbieter aus den weiteren Überlegungen ausklammern, soweit er sicher festgestellt hat, dass deren Leistungen die zulässigen Anforderungen nicht erfüllen. Die Kenntnis des Ausschlusskriteriums hätte bei redlichem Verhalten der Antragstellerin auch nicht zu einer anderen Antwort führen können, weil bei Unsicherheiten über das Vorliegen unabhängig vom Gewicht der Antwort nicht eine Verneinung zu erwarten wäre, sondern ein Zurückstellen der Antwort bis zur näheren Prüfung. Ob es sich bei einem DMS um einen feststehenden Begriff handelt, spielt keine Rolle, nachdem die Mitarbeiter der Antragstellerin das Vorhandensein ohne weitere Klärung verneinten, obwohl sie nach dem schriftsätzlichen Vorbringen und den Zeugenaussagen sogar geringere Anforderungen an ein DMS stellen als der Antragsgegner.
83
(3) Soweit die Antragstellerin erstmals mit Schriftsatz vom 15.10.2020 geltend macht, andere Wettbewerber verfügten über ein integriertes DMS und deshalb sei eine Direktvergabe unzulässig, ist sie bereits ihrer Rügeobliegenheit nach § 160 Abs. 3 GWB nicht nachgekommen. § 160 Abs. 3 S. 2 GWB greift nicht, weil ein nur durch die Nachprüfungsinstanzen für unwirksam zu erklärender Zuschlag noch nicht erteilt, eine Selbstkorrektur durch den Auftraggeber also noch möglich ist. Die Verneinung der Leistungsfähigkeit von Wettbewerbern stellt im Verhältnis zur Rüge der Nichtberücksichtigung der Antragstellerin einen gesonderten Verstoß dar, der auch gesondert zu rügen und rechtzeitig in das Nachprüfungsverfahren einzuführen wäre. Zwar zielt das Vorbringen ebenfalls auf einen Verstoß gegen § 14 Abs. 4 Nr. 2 Buchst. b VgV ab. Es handelt sich indes um gänzlich andere Umstände. Die mit der Rügeobliegenheit bezweckte Selbstkorrektur des Auftraggebers ist insoweit nicht möglich, wenn die Antragstellerin gar nicht aufzeigt, andere Anbieter würden die Leistungen erbringen können.
84
Unabhängig davon könnte sich die Antragstellerin angesichts ihrer ausdrücklichen Verneinung eines eigenen DMS auf die vermeintliche Leistungsfähigkeit anderer Wettbewerber nicht berufen, weil ihre Erklärung maßgeblichen Einfluss auf die Entscheidung des Antragsgegners hatte, von einer Ausschreibung abzusehen. Die weiteren Wettbewerber greifen ihrerseits die beabsichtigte Direktvergabe - und die darin enthaltene Verneinung eines integrierten DMS in deren Produkten - nicht an.
85
cc) Ohne Belang ist auch, ob das Produkt der Beigeladenen zur Zeit der Präsentation bereits funktionsfähig war. Ausreichend ist vielmehr, wenn der Antragsgegner im Rahmen des ihm zustehenden Beurteilungsspielraums davon ausgeht, dies werde spätestens bei Einführung der Fall sein.
86
Auch ein kollusives Zusammenwirken des Antragsgegners und der Beigeladenen ist bereits nicht ansatzweise dargetan. Es ergibt sich insbesondere nicht aus der Übereinstimmung von Formulierungen in mehreren Vergabeverfahren. Der Antragsgegner hat dies mit einem Austausch zwischen den Jobcentern erklärt.
87
Schließlich kommt es auf dieser Grundlage nicht mehr darauf an, ob die Antragstellerin die Anforderungen an die Datenmigration erfüllen könnte und ob sie von einem Vergabeverfahren wegen Verstoßes gegen § 107 GO NRW zwingend auszuschließen wäre, ob und ggf. in welchem Umfang also kommunalrechtliche Betätigungsverbote im vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahren überhaupt zu prüfen sind und ob ggf. die Antragstellerin vorliegend gegen § 107 GO NRW verstieße.
88
2. a) Die Kostenentscheidung für das Beschwerdeverfahren beruht auf den §§ 78, 175 Abs. 2 GWB. Nachdem sich die Beigeladene am Nachprüfungsverfahren aktiv beteiligt und insoweit auch das Risiko eigener Kostentragung übernommen hat, entspricht es der Billigkeit, die Erstattung ihrer außergerichtlichen Kosten einzubeziehen.
89
Über die Erforderlichkeit der Hinzuziehung eines Rechtsanwalts im Beschwerdeverfahren hat der Senat nach Maßgabe des § 175 Abs. 1 GWB nur für den Antragsgegner zu entscheiden.
90
b) Der Senat hat bei Abänderung der Entscheidung der Vergabekammer zugleich nach § 182 GWB über die dort entstandenen Kosten zu entscheiden. Die durch die Vergabekammer festgesetzte Gebührenhöhe bleibt unberührt. Es entspricht der Billigkeit, auch insoweit die Erstattung der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen anzuordnen, weil sie sich auch bereits vor der Vergabekammer durch substantielles Vorbringen in das Verfahren eingebracht und so das Risiko eigener Kostentragung übernommen hat. Ohne Belang ist, dass sie dort noch keine eigenen Sachanträge gestellt hat.
91
Auch vor der Vergabekammer war die Hinzuziehung anwaltlicher Bevollmächtigter erforderlich.
92
c) Der Streitwert ist gemäß § 50 Abs. 2 GKG mit fünf Prozent der Bruttoauftragssumme zu bemessen. In der Bekanntmachung ist der Nettowert angegeben.
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Tenor
Der Senat erwägt, die Berufung des Klägers gegen das Urteil der 1. Zivilkammer - Einzelrichter - des Landgerichts Koblenz vom 21.09.2020 durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen.
Gründe
1
Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung. Die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordern eine Entscheidung des Berufungsgerichts nicht. Die Berufung hat auch offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg. Ein Termin zur mündlichen Verhandlung ist nicht geboten. Dem Kläger wird eine Frist zur Stellungnahme gesetzt bis zum 18.12.2020. Es wird zur Vermeidung weiterer Kosten angeregt, die Berufung zurückzunehmen. In diesem Fall ermäßigen sich die Gerichtsgebühren von 4,0 auf 2,0 Gebühren (vgl. Nr. 1222 Kostenverzeichnis zum GKG). Die Gründe werden nachfolgend dargestellt:
I.
2
Einer Darstellung tatsächlicher Feststellungen i. S. d. § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO bedarf es nicht, weil ein Rechtsmittel gegen einen Zurückweisungsbeschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO unzweifelhaft nicht zulässig ist, §§ 522 Abs. 2 Satz 4, 540 Abs. 2, 313 a Abs. 1 Satz 1 ZPO i. V. m. §§ 543, 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO.
II.
3
Die Berufung des Klägers ist zulässig (1.), hat aber offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg. Das angefochtene Urteil beruht weder gemäß §§ 513 Abs. 1, 546 ZPO auf einer Rechtsverletzung, das heißt einer Nichtanwendung oder unrichtigen Anwendung einer Rechtsnorm, noch rechtfertigen die nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen eine andere Entscheidung. Das Landgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen (2.).
4
1. Die Berufung ist zulässig. Dem steht weder entgegen, dass sowohl in der Berufungsschrift als auch in der Berufungsbegründung, die jeweils vom Kläger eingescannt und als elektronisches Dokument im Dateiformat PDF (Version 1.4) eingereicht wurden, die verwendeten Schriftarten nicht entsprechend § 519 Abs. 4 bzw. § 520 Abs. 5 ZPO jeweils i. V. m. § 130a Abs. 1, Abs. 2 Satz 2 ZPO i. V. m. § 5 Nr. 1 der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach vom 24.11.2017 (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung -, im Folgenden: ERVV) sowie Nr. 1 der Bekanntmachung zu § 5 der Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung vom 20.12.2018 (Elektronischer-Rechtsverkehr-Bekanntmachung 2019 -, im Folgenden: ERVB 2019) in das Dokument eingebettet waren (a.) noch dass beide Dokumente bei Einreichung nicht durchsuchbar im Sinne des § 2 Abs. 1 ERVV gewesen sind (b.).
5
a) Durch die Regelungen in Nr. 1 ERVB 2019 werden für die Einreichung elektronischer Dokumente technische Vorgaben gemacht, durch die die gemäß § 5 Abs. 1 ERVV in Verbindung mit Nr. 1 der Bekanntmachung zu § 5 der Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung vom 19.12.2017 (Elektronischer-Rechtsverkehr-Bekanntmachung 2018 - ERVB 2018) zugelassenen Versionen des Dateiformats PDF mit weitergehenden Einschränkungen (insb. Einbettung sämtlicher verwendeter Schriftarten) versehen werden. Wie der Senat bereits im Hinweisbeschluss vom 09.11.2020, 3 U 844/20 (BeckRS 2020, 30105), dargelegt hat, ist dies weder von der Ermächtigungsgrundlage gemäß § 130a Abs. 2 Satz 2 ZPO in Verbindung mit § 5 Abs. 1 ERVV gedeckt noch mit der von § 5 Abs. 2 ERVV verlangten Mindestgültigkeit technischer Bekanntmachungen vereinbar. Nr. 1 ERVB 2019 ist daher jedenfalls insoweit nicht anzuwenden, als darin für Einreichungen im Dateiformat PDF bis Version 2.0 vorgegeben wird, dass sämtliche verwendeten Schriftarten in die Datei eingebettet werden müssen. Diese Auffassung wird, soweit es sich - wie hier - um eingescannte Schriftsätze handelt, auch vom Arbeitsgericht Lübeck geteilt (vgl. NZA 2020, 970 Rn. 35).
6
Entspricht ein bestimmender Schriftsatz mangels Einbettung sämtlicher verwendeter Schriftarten nicht den Vorgaben in Nr. 1 ERVB 2019 führt dies daher unabhängig von § 130a Abs. 6 ZPO jedenfalls dann nicht zur Formunwirksamkeit, wenn dieser Schriftsatz im Übrigen den formellen Vorgaben des § 130a Abs. 2 ZPO i. V. m. der ERVV entspricht und auf einem nach § 130a Abs. 3 ZPO zugelassenen Weg ordnungsgemäß übermittelt wurde.
7
b) Ob die entgegen § 2 Abs. 1 ERVV fehlende Durchsuchbarkeit von elektronisch eingereichten bestimmenden Schriftsätzen stets dazu führt, dass diese elektronischen Dokumente als nicht zur Bearbeitung durch das Gericht geeignet im Sinne des § 130a Abs. 2 Satz 1 ZPO - und damit vorbehaltlich einer Heilung nach § 130a Abs. 6 ZPO als unzulässig - anzusehen sind, ist umstritten:
8
aa) Nach teilweise vertretener Auffassung in Rechtsprechung (BAG, NZA 2020, 607, 608 Rn. 7) und Literatur (Bacher, MDR 2019, 1,5; jurisPK-ERV/Biallaß, 1. Aufl. 2020, § 2 ERVV Rn. 19; Tiedemann, jurisPR-ArbR 20/2020 Anm. 6; Radke, jM 2020, 461; Socha, FamRZ 2020, 1017, 1018 f.) führt ein Verstoß gegen § 2 Abs. 1 ERVV stets dazu, dass ein Dokument nicht zur Bearbeitung durch jedes Gericht geeignet ist. Die ERVV konkretisiere gemäß § 130a Abs. 2 Satz 2 ZPO die Anforderungen an ein zur Bearbeitung geeignetes Dokument bundeseinheitlich für jedes Gericht. Wegen der Heilungsmöglichkeiten des § 130a Abs. 6 ZPO bestünden auch keine Bedenken gegen die Vereinbarkeit dieser Regelungen mit der Garantie effektiven Rechtsschutzes.
9
bb) Demgegenüber darf nach anderer Ansicht unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 22.10.2004, 1 BvR 894/04), wonach der Zugang zu den Gerichten durch Anforderungen des formellen Rechts nicht in unverhältnismäßiger Weise erschwert werden darf, nicht stets bei einem Verstoß gegen die Formvorgaben der ERVV von der Nichtgeeignetheit des Dokuments zur Bearbeitung durch das Gericht ausgegangen werden. Vielmehr bedürfe es einer Abwägung im Einzel-fall, bei der stets der Zweck der verletzten Regelung (vgl. jurisPK-ERV/H. Müller, 1. Aufl. 2020, § 130a ZPO, Rn. 41 ff.; jurisPK-ERV/Rieke, 1. Aufl. 2020, § 158 SGG Rn. 15; in diese Richtung auch Mardorf, jM 2020, 266, 269) und die Folge des Verstoßes für die Bearbeitbarkeit durch das jeweilige Gericht (vgl. LG Mannheim, Urteil vom 04.09.2020, 1 S 29/20, juris) zu berücksichtigen seien.
10
cc) Der Senat schließt sich der letztgenannten Ansicht an. Zwar darf nicht außer Acht bleiben, dass die Regelungen der ERVV neben dem Individualrechtsschutz zugleich auch der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit dienen und deshalb einen einzelfallunabhängigen Geltungsanspruch erheben (vgl. BGH, Beschluss vom 15.05.2019, XII ZB 573/18, Rn. 20 zur Unzulässigkeit der Container-Signatur gemäß § 4 ERVV), dies bedeutet aber nicht zugleich, dass jeder Verstoß gegen die ERVV zur starren Rechtsfolge der (nach § 130a Abs. 6 ZPO heilbaren) Formunwirksamkeit führt. Denn § 130a Abs. 2 ZPO, den die ERVV näher ausgestaltet, soll lediglich gewährleisten, dass eingereichte elektronische Dokumente für das Gericht lesbar und bearbeitungsfähig sind (siehe BT-Drucks. 17/12634, Seite 25). Vor dem Hintergrund dieses Zwecks ist auch die Rechtsfolge eines Verstoßes zu bestimmen. Formunwirksamkeit tritt aus Sicht des Senats dann ein, wenn der Verstoß dazu führt, dass eine Bearbeitung durch das Gericht nicht möglich ist, z. B. weil sich die eingereichte Datei nicht öffnen bzw. der elektronischen Akte nicht hinzufügen lässt oder weil sie schadcodebelastet ist. Demgegenüber führen Verstöße gegen die ERVV dann nicht zur Formunwirksamkeit des Eingangs, wenn sie lediglich einen bestimmten Bearbeitungskomfort sicherstellen sollen, nicht aber der Lesbarkeit und Bearbeitbarkeit als solches entgegenstehen (jurisPK-ERV/H. Müller, 1. Aufl. 2020, § 130a ZPO, Rn. 43). Diese Differenzierung ergibt sich teilweise auch aus der ERVV selbst, die neben Muss-Vorschriften auch Soll-Bestimmungen enthält (z. B. § 2 Abs. 2 ERVV, § 3 ERVV). Dasselbe gilt nach Auffassung des Senats aber auch für Regelungen, die zwar nach dem Wortlaut der ERVV zwingend zu beachten sind, der Sache nach aber nicht die Lesbarkeit und/oder Bearbeitbarkeit durch das Gericht sicherstellen, sondern lediglich einen bestimmten Bearbeitungskomfort ermöglichen sollen.
11
Dies ist für das Kriterium der Durchsuchbarkeit in § 2 Abs. 1 Satz 1 ERVV der Fall. Hierfür spricht schon, dass der Verordnungsgeber selbst die Durchsuchbarkeit nicht für unverzichtbar erachtet, sondern sie nur fordert, soweit sie technisch möglich ist, was nach der Verordnungsbegründung z. B. dann nicht der Fall sein soll, wenn das Ausgangsdokument handschriftliche oder eingeschränkt lesbare Aufzeichnungen enthält (vgl. BR-Drucks. 645/17, Seite 12).
12
Auch aus dem Zweck der Regelung ergibt sich, dass es sich der Sache nach nicht um eine zwingende Anforderung, sondern lediglich um eine Komfortfunktion im Rahmen der Bearbeitung elektronischer Akten handelt. Durch die Einreichung durchsuchbarer Dokumente soll nämlich zum einen das maschinelle Vorlesen für blinde und sehbehinderte Personen und zum anderen die elektronische Weiterbearbeitung durch die Gerichte (insb. Volltextsuche) erleichtert werden (vgl. BR-Drucks. 645/17, Seite 12). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Möglichkeit des barrierefreien Zugangs und der Volltextsuche bei elektronischer Aktenführung nicht nur für Dokumente bestehen sollte, die nach § 130a ZPO elektronisch eingereicht wurden, sondern auch für durch das Gericht selbst erstellte elektronische Dokumente (§ 130b ZPO) sowie für Dokumente, die in Papierform eingereicht und durch das Gericht in die elektronische Form übertragen wurden (§ 298a Abs. 2 ZPO). Aus diesem Grund muss die Justiz ohnehin technische Lösungen vorhalten, die die Durchsuchbarkeit von Dokumenten herstellen (vgl. Insoweit auch § 298 Abs. 1a Satz 2 ZPO). Berücksichtigt man ergänzend, dass bei elektronischer Aktenführung ohnehin das Erfordernis besteht zur Vereinheitlichung und Qualitätssicherung nicht mit den auf verschiedenen Wegen eingegangenen „Originaldokumenten“ zu arbeiten, sondern mit sogenannten Repräsentatsdateien (siehe dazu ausführlich jurisPK-ERV/Gomm, 1. Aufl. 2020, Kapitel 7.1 Rn. 128 ff.; vgl. auch § 3 Abs. 3 BGAktFV), die in einem einheitlichen technischen Verfahren aufbereitet werden, das auch die Durchsuchbarkeit sicherstellt, besteht auch tatsächlich kein Erfordernis, die Durchsuchbarkeit elektronisch eingereichter Dokumente als zwingende Formvorschrift anzusehen. Denn die Durchführung des Verfahrens nach § 130a Abs. 6 ZPO würde auf dieser Grundlage einen bloßen Formalismus darstellen, durch den die Bearbeitbarkeit des Dokuments (bzw. des Repräsentats) nicht verändert wird. Es handelt sich bei der Vorgabe der Durchsuchbarkeit in § 2 Abs. 1 Satz 1 ERVV mithin lediglich um eine Ordnungsvorschrift, deren Verletzung nicht zur Unwirksamkeit des Eingangs führt.
13
Im Übrigen halten sowohl die Berufungsschrift als auch die Berufungsbegründung die Formvorgaben des § 130a ZPO ein, sodass die Berufung wirksam eingelegt und begründet wurde.
14
2. Die danach zulässige Berufung bleibt aber in der Sache offensichtlich ohne Erfolg. Dem Kläger steht ein Anspruch gegen den die Beklagte aus § 143 Abs. 1 Satz 1 InsO i. V. m. § 133 Abs. 1 InsO a. F., soweit er diesen mit der Berufung weiterverfolgt, nicht zu. Zu Recht hat das Landgericht die Klage abgewiesen, weil es sowohl hinsichtlich der Zahlung vom 08.08.2013 (3.715,14 €) als auch bezüglich des am 02.05.2014 an das Finanzamt K. geflossenen Betrags (2.200,00 €) an einer Rechtshandlung im Sinne der §§ 129, 133 Abs. 1 InsO a. F. fehlt.
15
Der Begriff der Rechtshandlung umfasst jedes von einem Willen getragene Handeln, das rechtliche Wirkungen auslöst und das Vermögen des Schuldners zum Nachteil der Insolvenzgläubiger verändern kann (vgl. BGH, NZI 2014, 321, 322). Bei Vermögensverschiebungen im Zusammenhang mit Zwangsvollstreckungsmaßnahmen liegt eine Rechtshandlung vor, wenn der Schuldner den Vermögenszufluss beim Gläubiger ermöglicht oder fördert (vgl. BGH, NJW-Spezial 2018, 565; BGH, NZI 2017, 854). Das Landgericht hat die Beweisaufnahme im Ergebnis zu Recht dahingehend gewürdigt, dass der insoweit darlegungs- und beweisbelastete Kläger eine solche Ermöglichungs- oder Förderungshandlung des Schuldners weder bezüglich der Zahlung vom 08.08.2013 noch bezüglich der Zahlung vom 02.05.2014 beweisen konnte. Im Einzelnen gilt für die beiden im Berufungsverfahren noch relevanten Zahlungen Folgendes:
16
a) Hinsichtlich der Zahlung vom 08.08.2013 in Höhe von 3.715,14 € hat der Kläger erstinstanzlich behauptet, der Schuldner habe diesen Betrag nicht an eine anwesende Vollstreckungsbeamtin übergeben, sondern überwiesen. Dies haben weder der Zeuge S. noch die Zeugin B. im Rahmen ihrer Vernehmung bestätigt. Daher ist das Landgericht der Sache nach zu Recht davon ausgegangen, dass sich der Kläger die Aussage des Zeugen S. bereits erstinstanzlich jedenfalls hilfsweise zu Eigen gemacht, soweit diese für den Kläger günstig war (vgl. dazu BGH, NJW-RR 2010, 495 Rn. 5). In der Berufung stützt der Kläger sein Begehren nunmehr ausdrücklich auf diese Behauptung, die er wiederholt und vertieft.
17
aa) Der Zeuge S. hat ausgesagt, den Geldbetrag an die Vollstreckungsschuldnerin übergeben zu haben. Seine Schilderung deckt sich insoweit auch mit dem Rechenschaftsvermerk vom 08.08.2013 (Anlagenband Beklagte). Danach hat die Zeugin B. als Vollstreckungsbeamtin am 08.08.2013 einen Betrag in Höhe von 3.715,14 € vom Schuldner, dem Zeugen S., angenommen. Insoweit rügt die Berufung im Ausgangspunkt zu Recht, dass dem - anders als wohl das Landgericht meint (vgl. LGU, Seite 7) - nicht die Aussage der Zeugin B. entgegensteht. Diese hat zwar bekundet, es habe sich nicht um eine „freiwillige Zahlung“ des Schuldners gehandelt, damit aber - wie sich aus dem weiteren Kontext der Aussage für den Senat zweifelsfrei ergibt - eine rechtliche Bewertung abgeben und nicht der Sache nach in Frage stellen wollen, dass der Schuldner ihr den Geldbetrag übergeben hat. Insbesondere aus dem sich anschließenden Satz der Zeugenaussage wird deutlich, dass die Zeugin lediglich die Freiwilligkeit der Zahlung in Frage stellen wollte, weil der Schuldner (erst) auf ihre Aufforderung hin zur Vermeidung von Vollstreckungsmaßnahmen gezahlt habe.
18
Mithin ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme mit der Berufung davon auszugehen, dass der am 08.08.2013 geflossene Geldbetrag nicht von der Zeugin B. gepfändet wurde, sondern dass die Zeugin dem Zeugen S. in ihrer Eigenschaft als Vollziehungsbeamtin nach § 285 Abs. 1 AO gegenübergetreten ist und dieser ihr sodann den Geldbetrag übergeben hat. Dies führt indes vorliegend nicht zu einer anderen rechtlichen Bewertung. Zahlungen des Schuldners an den anwesenden, vollstreckungsbereiten Vollziehungsbeamten erfüllen nämlich regelmäßig nicht die Voraussetzungen einer eigenen Rechtshandlung des Schuldners (vgl. BGH, NZI 2011, 249, Rn. 5). Etwas Anderes gilt nur, wenn der Schuldner wegen der Besonderheiten des Falles erwarten konnte, ein zwangsweiser Zugriff des Vollziehungsbeamten werde nicht sogleich möglich sein.
19
bb) Zu Recht hat das Landgericht das Ergebnis der Beweisaufnahme dahingehend gewürdigt, dass der Kläger eine derartige besondere Fallgestaltung nicht beweisen konnte.
20
Die Darlegungs- und Beweislast für solche Besonderheiten obliegt - anders als der Kläger mit seiner Berufung geltend macht - nach allgemeinen Grundsätzen dem anfechtenden Insolvenzverwalter, weil das Vorliegen einer Rechtshandlung für diesen günstig ist (BGH, ZIP 2010, 191 Rn. 28). Zur Annahme einer Rechtshandlung erforderlich sind dabei Handlungen des Schuldners, die mindestens ein der Vollstreckungstätigkeit vergleichbares Gewicht haben (BGH, BeckRS 2017, 114660 Rn. 17). Eine derartige Handlung liegt nach der Rechtsprechung unter anderem dann vor, wenn der Schuldner die Voraussetzungen für eine dann erfolgreiche Vollstreckungshandlung schafft, etwa wenn er den Gläubiger von dem bevorstehenden Zugriff anderer Gläubiger mit der Aufforderung, diesen zuvorzukommen, benachrichtigt, wenn er Pfändungsgegenstände verheimlicht, um sie gerade für den Zugriff des zu begünstigenden Gläubigers bereitzuhalten, wenn der Schuldner dem Gläubiger vorzeitig oder beschleunigt einen Vollstreckungstitel gewährt oder wenn der Schuldner mit Blick auf eine bevorstehende Vollstreckungsmaßnahme seinen Kassenbestand gezielt zur Befriedigung eines bestimmten Gläubigers aus Mitteln auffüllt, die ansonsten keinem sofortigen Zugriff des Vollstreckungsbeamten unterlegen hätten (z. B.: Abheben von Bankguthaben, vgl. zum Ganzen, BGH, NZI 2011, 249, 250 Rn. 12 f.).
21
Das Landgericht ist im Rahmen seiner umfangreichen Beweiswürdigung gemäß § 286 ZPO zutreffend zu dem Ergebnis gelangt, dass der Kläger einen derartigen Geschehensablauf nicht beweisen konnte. Zwar hat der Zeuge S. im Rahmen seiner Vernehmung zunächst bekundet, im Vorfeld der Zahlung vom 08.08.2013 sei es zu einem erfolglosen Vollstreckungsversuch durch die Zeugin B. gekommen, in dessen Folge er das Geld besorgt und ihr, der Zeugin B., bei einem weiteren Treffen auf dem Parkplatz des Geschäfts K. übergeben habe. Diese Aussage ist aber bereits nicht zum Beweis einer Ermöglichung der Vollstreckungshandlung durch den Schuldner geeignet, weil der Zeuge selbst im Rahmen seiner weiteren Aussage eingeräumt hat, dass er sich nicht sicher sei, ob es sich bei dem geschilderten Geschehen tatsächlich um die Zahlung vom 08.08.2013 handelte oder möglicherweise um einen anderen Vollstreckungsversuch. Diese Zweifel wiegen umso stärker, als der Zeuge selbst Erinnerungslücken eingeräumt hat, die in Anbetracht des langen Zeitablaufs zwischen dem Ereignis und der Beweisaufnahme (7 Jahre) plausibel sind. Zudem hat er bekundet, zur damaligen Zeit zahlreiche Gläubiger gehabt zu haben, bei denen er jeweils versucht habe bei Vollstreckungsversuchen Teilbeträge zu zahlen. Auf Basis dieser Angaben kann bereits allein aufgrund der Aussage des Zeugen S. nicht mit der für eine Überzeugungsbildung nach § 286 Abs. 1 ZPO erforderlichen Sicherheit davon ausgegangen werden, dass die am 08.08.2013 an die Zeugin B. gezahlten Beträge tatsächlich vom Schuldner zunächst aus Quellen beschafft wurden, auf die die Vollstreckungsbeamtin nicht ohnehin Zugriff gehabt hätte.
22
Dies gilt erst recht, wenn man die weiteren Ergebnisse der Beweisaufnahme in die Beweiswürdigung einbezieht. Dagegen, dass es vor dem 08.08.2013 einen fruchtlosen Vollstreckungstermin gab, spricht, dass hierüber - entgegen § 291 Abs. 1 AO - bei der Beklagten kein Vollstreckungsprotokoll existiert. Denn dieses ist bereits dann zwingend zu fertigen, wenn der Vollziehungsbeamte den Schuldner zur Zahlung auffordert (vgl. BeckOK-AO/Holzner, 14. Edition, § 291 AO Rn. 18). Soweit der Kläger hiergegen vorbringt es liege in der Natur der Sache, dass Vollziehungsbeamte fruchtlose Vollstreckungsversuche, nach denen der Schuldner zu einer freiwilligen Zahlung erscheine, selbstverständlich nicht protokollieren würden, um eine Anfechtungsmöglichkeit zu vermeiden, handelt es sich um eine unbeachtliche Behauptung ins Blaue hinein, mit der den Beamtinnen und Beamten der Beklagten ohne konkrete Anhaltspunkte ein ggf. disziplinar- bzw. strafrechtlich relevantes Verhalten vorgeworfen wird.
23
Gegen ein Treffen zur Übergabe auf dem K.-Parkplatz spricht, wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat, die Aussage der Zeugin B., die zwar keine konkreten Erinnerungen an die Termine beim Zeugen S. hatte, die aber ausgeschlossen hat, sich zur Geldübergabe auf dem Parkplatz der Firma K. mit diesem getroffen zu haben. Die Aussage des Zeugen S. widerspricht auch den Aussagen der - ebenfalls als Vollstreckungsbeamte tätigen - Zeugen N. und Sp., insoweit als der Zeuge S. bekundet hat, ihm sei immer vorab mitgeteilt worden, wann der nächste Besuch der Vollziehungsbeamten geplant sei. Beide Zeugen haben mitgeteilt, solche Vorabankündigungen nicht gemacht zu haben. In der Gesamtschau spricht daher vieles dafür, dass sich der Zeuge S. angesichts des Zeitablaufs und der Vielzahl an Gläubigern und Vollstreckungshandlungen nicht mehr zutreffend erinnert. Seine Angaben zum Termin am 08.08.2013 sind daher, wie das Landgericht zutreffend festgestellt hat, nicht glaubhaft. Auf die Glaubwürdigkeit des Zeugen kommt es daher im Ergebnis nicht an.
24
cc) Soweit der Kläger im Rahmen der Berufungsbegründung sowie im Schriftsatz vom 19.11.2020 (Bl. 31 ff. eAkte) als Indiz für eine Geldbeschaffung durch den Schuldner wertet, dass es unstreitig zu einem erfolglosen vorherigen Vollstreckungsversuch gekommen sei, trifft es bereits nicht zu, dass dies unstreitig ist. Erstinstanzlich hat der Kläger einen solchen fruchtlosen Vollstreckungsversuch selbst nicht behauptet, sondern lediglich, dass die Beklagte die Zwangsvollstreckung zuvor mit Schreiben vom 15.07.2013 (Anlage K 6, Bl. 11 Papierakte) angekündigt habe, was bezogen auf die im vorliegenden Rechtsstreit relevante Vollstreckungsbehörde (Finanzamt K.) und die hier streitgegenständlichen Beträge jedoch nicht zutrifft. Die Beklagte hat stets dargelegt, dass die Vollstreckungshandlungen so stattgefunden hätten wie aus den Protokollen und dem Rechenschaftsvermerk im Anlagenkonvolut B 1 ersichtlich. Wie der Kläger aus diesem Parteivorbringen einen unstreitigen fruchtlosen Vollstreckungsversuch vor dem 08.08.2013 herleitet, erschließt sich dem Senat nicht.
25
dd) Im Schriftsatz vom 19.11.2020 weist der Kläger zwar zu Recht darauf hin, dass in einer Geldbeschaffung zum Zwecke der Befriedigung eines Gläubigers, der die Zwangsvollstreckung eingeleitet hat, eine anfechtbare Rechtshandlung liegen kann, eine solche Geldbeschaffung hat der Kläger jedoch nicht bewiesen. Soweit der Kläger darauf verweist, der Zeuge S. habe bekundet, er habe das Geld „besorgt“, kann auf diese Aussage aus den unter bb) dargelegten Gründen eine Überzeugungsbildung nicht gestützt werden. Davon abgesehen, ist die Darstellung des Zeugen in diesem Punkt auch derart unkonkret, dass sie einer Würdigung und Überprüfung des Gerichts oder einer Widerlegung durch die Beklagte nicht zugänglich ist. Die sich auch hieraus ergebenden Zweifel daran, dass sich der Zeuge bezogen auf die konkrete Vollstreckungssituation zutreffend erinnert, gehen zu Lasten des Klägers. Wenn der Kläger diesen Erwägungen seine eigene Beweiswürdigung entgegensetzt, kann dies nicht zum Erfolg der Berufung führen. Auch sind die an die Beklagte gezahlten Beträge nicht derart hoch, dass sich der Kläger wie von ihm dargelegt auf einen Erfahrungssatz berufen könnte, wonach es ausgeschlossen sei, dass ein hochverschuldeter Gastronomiebetreiber derart hohe Bargeldbeträge in der Kasse habe.
26
b) Hinsichtlich der Zahlung am 02.05.2014 hat die Beklagte im Anlagenkonvolut B 1 ein Vollstreckungsprotokoll vorgelegt, aus dem sich ergibt, dass der Zeuge S. auf die Zahlungsaufforderung der Zeugin B. nicht freiwillig gezahlt und eine Durchsuchung verweigert hat und schließlich um 13:55 Uhr der Betrag von 2.200,00 € beim Schuldner gepfändet wurde. Das vom Vollziehungsbeamten im Sinne des § 285 Abs. 1 AO gemäß § 291 AO gefertigte Protokoll ist eine öffentliche Urkunde im Sinne des § 415 ZPO (vgl. BeckOK-AO/Holzner, 14. Edition, § 291 Rn. 23; BeckOK-ZPO/Ulrici, 38. Edition, § 762 ZPO Rn. 1). Sie begründet gemäß § 415 Abs. 1 ZPO den vollen Beweis, des darin beurkundeten Vorgangs.
27
Den nach § 415 Abs. 2 ZPO möglichen Beweis der unrichtigen Beurkundung hat der Kläger nicht erbracht. Hierzu ist der Beweis erforderlich, dass die Beurkundung objektiv den Tatbestand des § 348 StGB erfüllt (vgl. BeckOK-ZPO/Krafka, 38. Edition, § 415 ZPO Rn. 22). Es muss bewiesen sein, dass die Richtigkeit der Urkunde ausgeschlossen ist (vgl. BGH, NJW 2006, 150). Soweit der Kläger auch insoweit behauptet, es sei bekannt, dass die Vollziehungsbeamten darauf geschult seien, freiwillige Zahlungen zur Vermeidung der Anfechtungen als Pfändungen zu protokollieren, entbehrt dies einer nachvollziehbaren Grundlage. Auch aufgrund der Aussage des Zeugen S. ist dieser Beweis nicht erbracht. Insoweit verweist der Senat auf die unter a) dargestellten Zweifel an der Glaubhaftigkeit von dessen Angaben. Hinzu kommt, dass das Landgericht zu Recht darauf abgestellt hat, dass der konkret geschilderte Geschehensablauf, namentlich dass die Vollstreckungsbeamtin für einen beachtlichen Zeitraum in seinem Gastraum gewartet haben soll, bis der Zeuge S. die Geldmittel beschafft hat, zumindest Zweifel an der Plausibilität der Zeugenaussage gebieten. An die Widerlegung einer öffentlichen Urkunde sind jedoch strenge Anforderungen zu stellen (vgl. Musielak/Huber, ZPO, 17. Aufl. 2020, § 415 Rn. 12), die mit der Aussage des Zeugen S. eindeutig nicht erreicht werden.
28
Nach alldem hat die Berufung keine Aussicht auf Erfolg.
III.
29
Der Senat beabsichtigt, den Streitwert für das Berufungsverfahren auf 5.950,14 € festzusetzen.
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Tatbestand
1
Die Klägerin begehrt mit ihrer Disziplinarklage, den Beklagten aus dem Beamtenverhältnis zu entfernen.Der Beklagte wurde am C. in D. geboren. Er lebt in einer Lebensgemeinschaft und ist seit 2018 Vater einer Tochter. Nach seinem Studium der Anglistik/Amerikanistik und Geschichte für das Lehramt an Gymnasien schloss er die Erste Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien mit der Note „sehr gut“ (1,1) ab. Nach seinem Vorbereitungsdienst für das Lehramt an Gymnasien legte er im Oktober 2005 die 2. Staatsprüfung in den Fächern Englisch und Geschichte mit der Gesamtnote „sehr gut“ (1,0) ab. In der Zeit vom 2005 bis 2006 war er als Lehrkraft am Gymnasium E. beschäftigt. Mit Wirkung vom 1. August 2006 wurde er in das Beamtenverhältnis auf Probe übernommen und zum Studienassessor ernannt. Mit Wirkung vom 1. August 2007 wurde er unter Verleihung der Eigenschaft eines Beamten auf Lebenszeit zum Studienrat ernannt und nachfolgend mit Wirkung vom 2. September 2010 zum Oberstudienrat befördert. Zuletzt wurde er aus Anlass seiner Bewerbung um die Stelle eines Oberstudienrates am 17. Februar 2010 mit dem Gesamturteil „für die angestrebte Funktion entspricht Herr A. voll den Anforderungen und ist gut geeignet“ dienstlich beurteilt.
2
Der Beklagte war über mehrere Schuljahre bis ins Schuljahr 2011/12 Lehrer der am F. geborenen Schülerin G. H.. In jenem Schuljahr ging er mit der Schülerin eine sexuelle Beziehung ein, die die Schülerin im Mai 2012 beendete. Er meldete sich am 10. Februar 2012 wegen Erkrankung dienstunfähig. Die Dienstunfähigkeit dauerte bis zum 30. Juni 2013 an. In der Zeit vom 24. April 2012 bis 5. Juni 2012 befand er sich in stationärer Behandlung in der I. in J. (Fachklinik für psychogene Erkrankungen).
3
Die am K. geborene L. M. war vormals Schülerin des Gymnasiums E. und schloss dort ihre Schulausbildung in 2015 mit dem Abitur ab. Im nachfolgenden Schuljahr war sie an dieser Schule als Dienstfreiwillige im Rahmen eines Freiwilligen Sozialen Jahres bis zum 22. Juni 2016 tätig. Für die Betreuung der Dienstfreiwilligen war der damalige Schulleiter und eine andere Lehrkraft zuständig. Im Juni 2016 oder danach ging der Beklagte ein sexuelles Verhältnis mit L. M. ein.
4
Der Schulleiter des Gymnasiums E. berichtete am 28. Februar 2018 der Klägerin über den Beklagten. In seinem daraufhin angeforderten Bericht vom 4. April 2018 führte er zusammengefasst aus: Er habe im November 2017 die Aufgabe „Mitarbeit bei der Koordinierung der Sekundarstufe II“, die bisher Oberstudienrätin N. wahrgenommen habe, dem Beklagten übertragen, weil dieser später die Aufgabe der Außenstellenleitung hätte übernehmen sollen. Oberstudienrätin N. sei mit dieser Entscheidung nicht einverstanden gewesen. Sie habe sich wenige Tage später gegenüber dem Studiendirektor O. wie folgt geäußert: “Herrn A. mache ich fertig“. Im Dezember 2017 habe er von Studiendirektorin P. und Studiendirektor O. erfahren, dass es Spannungen zwischen Oberstudienrätin N. und dem Beklagten gebe. Eine Lehrerin (wie er später festgestellt habe Oberstudienrätin N.) habe sich an Studiendirektorin P. mit folgendem Anliegen gewandt: Eine ihrer Tutanten (wie er später festgestellt habe die Schülerin Q. R.) fühle sich beim Anblick des Beklagten nicht mehr wohl. Die Schülerin habe von ihrer Freundin L. M. erfahren, dass diese eine sexuelle Beziehung zum Beklagten während ihres Freiwilligen Sozialen Jahres am Gymnasium unterhalten habe. Ferner seien der Schülerin Gerüchte zu Ohren gekommen, wonach der Beklagte sechs Jahre zuvor eine Beziehung mit der Schülerin G. H. gehabt habe. Im Januar 2018 habe er mit dem Beklagten ein Gespräch geführt, um diesen mit den Anschuldigungen zu konfrontieren. Dabei habe der Beklagte eine sexuelle Beziehung zu L. M. im letzten Monat ihres Freiwilligen Sozialen Jahres eingeräumt. Eine frühere Beziehung zu L. M. habe der Beklagte verneint. Die Beziehung zur Schülerin G. H. habe der Beklagte bestätigt, wobei in dem Gespräch ein sexueller Kontakt nicht thematisiert worden sei. Zu seiner Beziehung zur Schülerin G. H. habe der Beklagte sich dahin geäußert, dass er zum damaligen Zeitpunkt sein ganzes Leben nur auf die Schule ausgerichtet gehabt habe, weil er nur dort Erfolg wahrgenommen habe. Dabei sei er eine zu enge Beziehung zu G. H. eingegangen. Als die Beziehung öffentlich zu werden drohte, habe er sich an den damaligen Schulleiter und den Beratungslehrer gewandt.
5
Weiter wird in dem Bericht ausgeführt: Der damalige Schulleiter habe “weitestgehend“ die Aussagen des Beklagten bestätigt. Auf Nachfrage hätte der frühere Schulleiter ausdrücklich verneint, dass es eine sexuelle Beziehung des Beklagten zur Schülerin G. H. gegeben hätte. Er - der frühere Schulleiter - hätte dem Beklagten die Karriere nicht verbauen wollen und gemeinsam mit dem Beratungslehrer versucht, die Situation vertraulich zu klären. Er hätte mit den Eltern der Schülerin gesprochen, die mit der Beziehung einverstanden gewesen wären und folgenden Punkten zugestimmt hätten: Die Beziehung würde weiterhin geduldet, absolute Verschwiegenheit wäre vereinbart worden und der Beklagte träte seinen Dienst erst nach dem Abitur der Schülerin wieder an. Oberstudienrätin N. und ihr Ehemann, Oberstudienrat N., hätten den Beklagten damals unterstützt und seien über den Sachverhalt informiert gewesen.
6
Außerdem berichtete der Schulleiter: In dem Gespräch mit dem Beklagten vom 7. Februar 2018 habe dieser erklärt, es hätte einmal im Zeitraum seiner Diensttätigkeit in seinem Haus einvernehmlichen Geschlechtsverkehr zwischen ihm und der Schülerin G. H. gegeben. Der frühere Schulleiter, der damalige Beratungslehrer und die Eltern der Schülerin seien darüber informiert gewesen.
7
Im Februar 2018 wandte sich die Mutter von L. M. an den Schulleiter und berichtete über die Verbreitung von Gerüchten über eine Beziehung ihrer Tochter mit dem Beklagten, die von der Schülerin Q. R. ausgingen und an denen Oberstudienrätin N. beteiligt sei. Der Schulleiter bat die Klägerin um baldige Versetzung sowohl der Oberstudienrätin N. als auch des Beklagten, um die Situation am Gymnasium zu deeskalieren.Die Klägerin verfügte im Einvernehmen mit dem Beklagen dessen Abordnung in der Zeit vom 4. April 2018 bis 28. September 2018 an die S. in T..
8
Studienrätin U. gab in ihrer Stellungnahme vom 18. April 2018 an: Der Beklagte habe im Jahr 2011 in ihrer Gegenwart auf die Schülerin G. H. gezeigt und gesagt, er wäre in sie verliebt und sie wären zusammen. Er hätte die Eltern der Schülerin kontaktiert, die beeindruckt gewesen wären, welches Risiko er für ihre Tochter aufzunehmen bereit wäre. Sie habe dem Beklagten am nächsten Schultag ultimativ aufgefordert, sich an den Schulleiter und den Beratungslehrer zu wenden. Der Beratungslehrer habe ihr später gesagt, dass er den Schulleiter über den Vorfall informieren würde. Der Beklagte sei dann von dem Geschichtskurs abgezogen und durch einen anderen Lehrer ersetzt worden. Er hätte parallel mit einer ambulanten Psychotherapie begonnen. Man habe ihr gesagt, im Februar 2012 hätte der Beklagte die Schule verlassen, um sich einer Therapie zu unterziehen.
9
In einem weiteren Bericht an die Klägerin führte der Schulleiter aus: Laut Aussage des Beklagten hätte der sexuelle Kontakt zu L. M. im Juni 2016 stattgefunden. Den konkreten Zeitpunkt des Geschlechtsverkehrs mit G. H. habe er - der Beklagte - nicht nennen können. Zu der Zeit sei er ihr Lehrer für bilingualen Unterricht der Jahrgangsstufe 11 gewesen.
10
Die Klägerin leitete am 20. April 2018 nach § 18 Abs. 1 Satz 1 NDiszG ein Disziplinarverfahren gegen den Beklagten wegen des Verdachts ein, mit der zum damaligen Zeitpunkt minderjährigen Schülerin G. H. eine Beziehung geführt zu haben, es während dieser Beziehung zu einem einmaligen einverständlichen Geschlechtsverkehr gekommen sei sowie im Juni 2016 mit der ehemaligen Schülerin L. M., während diese an der Schule ein Freiwilliges Soziales Jahr absolviert habe, ebenfalls eine sexuelle Beziehung unterhalten zu haben. Außerdem hörte sie ihn zur beabsichtigten vorläufigen Enthebung des Dienstes und zum Einbehalt von Bezügen an. Sie gab dem Beklagten Gelegenheit, sich hierzu zu äußern. Mit Verfügung vom 15. Mai 2018 enthob sie ihn vorläufig des Dienstes. Nachfolgend ordnete sie ihm gegenüber an, 40 vom Hundert der Dienstbezüge einzubehalten.
11
Nach gewährter Akteneinsicht nahm der Beklagte zur Sache Stellung und führte aus: Voranzustellen sei, dass seit der ihm vorgeworfenen Tat mehr als sechs Jahre vergangen seien. Seine Erinnerungen an diese Zeit seien daher nicht mehr so präsent wie bei einer Ermittlung unmittelbar im zeitlichen Anschluss an die vorgeworfenen Taten. Hinzu komme, dass er zur damaligen Zeit in einem seelisch sehr belastenden Zustand gewesen sei und sich deswegen in psychologischer Behandlung befunden habe. Wohl auch wegen dieser psychischen Ausnahmesituation erinnere er sich nicht mehr an alle Umstände bis ins Detail. Dass er eine Beziehung mit der minderjährigen Schülerin G. H. geführt habe, habe er dem Grunde nach bereits gegenüber dem Schulleiter eingeräumt. Seine damalige persönliche Situation sei Folgende gewesen: Sein Leben sei bis zum Jahr 2010 dadurch geprägt gewesen, dass er sich im Wesentlichen über seine Tätigkeit in der Schule definiert habe. Dort habe er berufliche Erfolge erzielt, sei bei Schülern, Eltern und Kollegen beliebt gewesen und habe eine Vielzahl von zusätzlichen Aufgaben für die Schule übernommen. Außerhalb der Schule habe sich sein Leben darauf zugespitzt, dass er völlig antriebslos gewesen sei, er kaum persönlichen Kontakt gehabt habe und er sich privat nicht mehr engagiert habe. Er habe sich vollständig über seine Tätigkeit in der Schule definiert. Im Jahr 2010 habe er gemerkt, dass ihn auch die Tätigkeit in der Schule immer mehr seelisch belastet habe. Er habe sich daher Hilfe bei einem Psychologen gesucht. Seit dem 29. Juni 2010 habe er sich in psychologischer Behandlung befunden, die jedoch zunächst die Tiefen seiner Problemlage nicht erreicht habe. Er habe die Schülerin G. H. bereits in der 10. Klasse unterrichtet. Im Rahmen eines USA-Austausches habe sie ihm von Schwierigkeiten mit ihren Eltern berichtet. Er habe den Eindruck gehabt, dass sich die Schülerin am Arm „ritzte“. Er habe sie ermuntert, mit ihren Eltern offen über die Sache zu sprechen. Hierüber habe er mit ihr mehrfach intensiv gesprochen und ihr Mut gemacht. Sie sei ihm für seine Unterstützung sehr dankbar gewesen. Hierdurch habe sich zwischen ihnen ein Vertrauensverhältnis entwickelt. In der 11. Klasse habe er G. H. im Fach Geschichte unterrichtet. Gegen Ende des Jahres 2011 habe sich das Verhältnis verdichtet. Seine psychische Erkrankung habe dazu geführt, dass er sich durch diese intensive persönliche Beziehung wertgeschätzt gefühlt habe. Sein Selbstwertgefühl, das in dieser Zeit sehr gering gewesen sei, sei dadurch gesteigert worden. Die Schülerin habe sich Ende des Jahres 2011 zu einer sehr gefestigten Persönlichkeit entwickelt. Sie sei emotional sehr stabil und geistig reifer als andere Schülerinnen in ihrem Alter gewesen. Ende Dezember 2011/Anfang Januar 2012 sei es dann zum Geschlechtsverkehr mit der Schülerin gekommen. Er erinnere sich, dass er in Gesprächen zuvor mehrfach geäußert habe, dass er diese Grenze nicht überschreiten dürfe. Aufgrund der zunehmenden Nähe zur Schülerin sei er nicht mehr in der Lage gewesen, diese Grenze weiter einzuhalten. Der Geschlechtsverkehr sei einvernehmlich erfolgt. Er habe die Schülerin nicht hierzu gedrängt. Der Schwerpunkt der Beziehung habe eindeutig bei langen Telefonaten gelegen. Bereits Ende des Jahres 2011 habe er sich auch seinem Psychologen offenbart und mit dessen Hilfe versucht, die Beziehung zu beenden. Zu diesem Zeitpunkt hätten die Eltern der Schülerin und die Eheleute N. von der Beziehung gewusst. Er habe mehr und mehr das Gefühl gehabt, dass die Beziehung innerhalb der Schule bekannt zu werden drohe. Er habe deshalb bei seiner Kollegin V. um Rat nachgesucht. Nach dem Gespräch mit dieser Kollegin habe er im Januar oder Februar 2012 Kontakt mit dem Beratungslehrer der Schule aufgenommen und mit dem damaligen Schulleiter gesprochen. Zu diesem Zeitpunkt habe er das Gefühl gehabt, ihm entgleite sowohl die Situation in der Schule als auch sein gesamtes übriges Leben. Der Schulleiter habe ihm nahegelegt, seine gesundheitlichen Probleme zu klären. Er habe zu diesem Zeitpunkt erkannt, dass er schon längst nicht mehr in der Lage gewesen sei, seinen Dienst zu versehen. Er sei daraufhin „krankgeschrieben“ worden. Gemeinsam mit seinem behandelnden Psychologen habe er einen stationären Aufenthalt in einer Fachklinik in der Zeit vom 24. April bis 5. Juni 2012 vorbereitet. Sein Psychologe habe Panikattacken (F41.0), Somatisierungsstörung mit ausgeprägter Diarrhoe (F45.32) und eine depressive Episode (F32.0) diagnostiziert. Nach seiner Krankschreibung habe er nur sporadisch Kontakt zur Schülerin gehabt. Das letzte Gespräch mit ihr habe er Anfang Mai 2012 gehabt. In diesem Telefonat seien sie übereingekommen, die Beziehung zu beenden. Während der restlichen Schulzeit der Schülerin (bis Sommer 2013) habe er zu ihr keinen Kontakt gehabt. Ihm sei bereits damals bewusst gewesen, dass er einen Fehler begehe, er aber aufgrund seiner psychischen Dekompensation nicht in der Lage gewesen sei, sich rechtzeitig von der Schülerin abzugrenzen. Geprägt sei sein Befinden in dieser Zeit davon gewesen, die Anerkennung von Kollegen und Schülern zu erreichen. Er sei in seinem Beruf aufgegangen. Er habe viele Aufgaben für die Schule freiwillig übernommen. Sein damaliges Verhalten sei stets von der Angst geprägt gewesen, von anderen als fehlbar erkannt und verurteilt zu werden. Dies habe zu Symptomen wie Herzrasen, Bauchschmerzen und Diarrhoe und ganz wesentlich zu Angstzuständen geführt. Er habe sich bemüht, alles perfekt zu machen. Durch diese Situation sei er stark belastet gewesen und er habe sich ratlos gefühlt - wie in einer Sackgasse -, sei zunehmend lustlos gewesen, habe Kontakt außerhalb der Schule gemieden und habe sich von Freunden zurückgezogen. Er habe unter Schlaflosigkeit gelitten und manchmal weinen müssen. Unter psychologischer Behandlung hätten sich die Symptome eine kurze Zeit gebessert. Eine weitere Therapie im Juli 2011 sei von der Krankenkasse abgelehnt worden. Seine Situation habe sich verschlechtert, so dass er ab Dezember 2011 die Behandlung zunächst selbst finanziert habe. Zu diesem Zeitpunkt seien die Belastungssymptome wieder so wie Mitte des Jahres 2010 vorhanden gewesen, hinzu seien Suizidgedanken gekommen. In dieser instabilen Situation habe er fälschlicherweise Halt in einer Beziehung zu der Schülerin gesucht. Er sei sich der Schwere seines Vergehens bewusst und er bedaure die damaligen Ereignisse zutiefst. Sie seien seiner psychischen Ausnahmesituation geschuldet gewesen, die er durch den Klinikaufenthalt und die daran anschließende und bis Dezember 2013 andauernde ambulante Psychotherapie überwunden habe. Insoweit verweise er auf die ärztlichen Stellungnahmen des Dipl.-Psychologen W. vom 6. März 2012 und des Dr. med. X. vom 5. März 2012. Nach der Beendigung der Beziehung zu G. H. habe er nie wieder ein Verhältnis mit einer Schülerin gehabt. Es habe seither auch keine Beschwerden über sein Verhalten gegenüber Schülern oder sein sonstiges Verhalten gegeben.
12
Der weitere Vorwurf, er habe eine sexuelle Beziehung zu der Dienstfreiwilligen L. M. unterhalten, sei zu Unrecht erhoben, weil darin kein Dienstvergehen zu sehen sei. Er habe sie nicht unterrichtet. Er habe sie erst im Rahmen ihres Freiwilligen Sozialen Jahres, wohl erst im Februar 2016, richtig kennengelernt. Soweit der Schulleiter behaupte, er - der Beklagte - habe ihm gegenüber eingeräumt, dass er sexuellen Kontakt mit L. M. während ihres letzten Dienstmonats gehabt habe, so würden seine Angaben nicht richtig wiedergegeben. Er meine sich zu erinnern, dass das Freiwillige Soziale Jahr zwar offiziell bis zum 30. Juni 2016 gegangen sei, L. M. aber zumindest die letzte Woche im Juni 2016 nicht mehr in der Schule tätig gewesen sei und sie sich vorher offiziell verabschiedet habe. Er könne sich nicht erinnern, ob der sexuelle Kontakt noch während des Freiwilligen Sozialen Jahres oder danach stattgefunden habe. Der Geschlechtsverkehr mit der damals 19-jährigen L. M. sei absolut einvernehmlich gewesen. Er habe sie zu nichts gedrängt. L. M. habe im Wesentlichen dem Schulleiter zugearbeitet und sie sei einer Lehrerin zur Seite gestellt worden. Darüber hinaus habe sie sich Klassen ausgesucht, in denen sie hospitiert habe. Dazu habe sie vor allem Klassen der Lehrerin N. und auch seine Klassen ausgewählt. In seinen Klassen habe sie keine Unterrichtsprojekte durchgeführt, sondern hospitiert und ihn bei der Binnendifferenzierung bzw. sozialen/pädagogischen Arbeit unterstützt. Sein persönlicher Kontakt zu L. M. sei dadurch entstanden, dass sie mit ihm und drei weiteren Lehrern einen Arbeitsraum in der Schule geteilt habe. Dort habe eine absolut gleichberechtigte Arbeitsatmosphäre zwischen allen Nutzern geherrscht. Er habe in L. M. nie eine ehemalige Schülerin der Schule gesehen. Es sei nicht zu beschönigen, dass er mit dem Verhältnis zur Schülerin G. H. eine ganz erhebliche dienstliche Verfehlung begangen habe. Bei der Bewertung sei zu berücksichtigen, dass er sich bei der Befragung des Schulleiters, die ohne jede Belehrung über die mögliche Eröffnung eines Disziplinarverfahrens und ein evtl. Aussageverweigerungsrecht erfolgt sei, außerordentlich kooperativ gezeigt habe. Die Beziehung zu der Schülerin sei auf seine damalige psychische Erkrankung zurückzuführen. In den sechs nachfolgenden Jahren habe er zeigen können, dass er ein hervorragender Lehrer sei, der die Schule maßgeblich mitgeprägt habe und immer bereit gewesen sei, zusätzliche Aufgaben zu übernehmen. Er habe damit die Gelegenheit genutzt, das Vertrauen in seine integre Dienstausübung wiederherzustellen. Aufgrund dieser Besonderheiten sei es gerechtfertigt, von der Entfernung aus dem Dienst abzusehen.
13
Am 27. Juni 2018 leitete die Staatsanwaltschaft Lüneburg gegen den Beklagten ein Ermittlungsverfahren ein (Az. 3302 Js 19891/18). Daraufhin setzte die Klägerin unter Verweis auf dieses Ermittlungsverfahren das behördliche Disziplinarverfahren nach § 23 Abs. 1 Satz 3 NDiszG aus.
14
Im Rahmen der Ermittlung der Staatsanwaltschaft wurde die frühere Schülerin G. H. am 19. Dezember 2018 als Zeugin vernommen. Die vernehmende Beamtin hielt in ihrem Eindrucksvermerk fest, dass sich die Zeugin von Anfang an aussagebereit gezeigt habe und sie - die Beamtin - nicht den Eindruck gewonnen habe, die Zeugin hielte bewusst Informationen zurück. Sie - die Zeugin - selbst sehe kein schuldhaftes Verhalten des Beklagten und sei deshalb an einer Strafverfolgung nicht interessiert.
15
G. H. führte in ihrer Vernehmung im Wesentlichen aus: Der Beklagte sei ihr Lehrer in den Fächern Geschichte (6. bis 11. Klasse) und Englisch (7. und 8. Klasse) gewesen. Während ihrer 6. und 7. Klasse habe sie ein paar Probleme zu Hause gehabt. Da habe sie sich an den Beklagten als Lehrer ihres Vertrauens gewandt. Seitdem habe zum Beklagten eine gute Lehrer-Schüler-Beziehung bestanden. Nach dem 3-wöchigen USA-Austausch, den der Beklagte während ihrer 9. oder 10. Klasse geleitet habe, hätten sie sich gut verstanden. Es sei dann „in eine Mailkonversation“ übergegangen. Da habe er vielleicht dezent „die Linie überschritten“. Nach ihrem 16. Geburtstag sei es in eine etwas andere Beziehung übergegangen. Die E-Mail-Beziehung sei ein kleines Geheimnis gewesen. Auch wenn es nichts Falsches gewesen sei, sei eine solche Beziehung zu einem Lehrer sehr ungewöhnlich gewesen. Sie habe nicht gewollt, dass darüber geredet werde oder jemand falsche Schlüsse daraus ziehe. Sexuelle Inhalte seien niemals Gegenstand der E-Mails gewesen. Ihre Familie habe von der Beziehung gewusst. Auch ihr Vater habe davon gewusst, auch wenn sie nie direkt mit ihm darüber gesprochen habe. Man habe sich auch einmal mit dem Kläger getroffen. Zu dem Zeitpunkt habe sich alles richtig angefühlt. Sie würde rückblickend nichts ändern, auch wenn es eine merkwürdige Situation gewesen sei. Mehr als dieser E-Mail-Verkehr habe sich ungefähr im Dezember 2011 entwickelt. Sie habe häufig zusammen mit anderen Mädels bei der Football-AG zugeschaut, die der Beklagte geleitet habe. Danach habe man manchmal auch gequatscht und es sei dann eher in Richtung Freundschaft gegangen. Irgendwann habe man mit SMS angefangen, dann habe man eben gemerkt, dass beiderseitig vielleicht mehr Interesse bestehe. Wie es dazu gekommen sei, sie glaube, das erste Mal, als er mit dem Fahrrad zu ihrem Dorf Y. gefahren sei und man sich außerhalb des Dorfes getroffen habe. Man habe sich 1- bis 2-mal im Monat dort auf den Feldwegen getroffen. Man habe dann einfach geredet, sich irgendwann auch geküsst. Dass sich das intensiviert habe, sei im Dezember 2011 gewesen. Der Beklagte habe sie - so glaube sie - zum ersten Mal im Dezember 2011 geküsst; das genaue Datum kenne sie nicht. Sie sei dann einmal mit ihren Schwestern zum Beklagten gefahren. Auch habe sie an einem Wochenende in Z. die Schwester des Beklagten kennengelernt. Es sei dann noch ein paar Monate so weitergegangen. Dann habe sie die Beziehung irgendwann - sie glaube im Mai 2012 - beendet. Sie habe ihm gesagt, dass - so glaube sie - sie das nicht mehr für gut befinde und sie damit abschließen wolle. Das habe er akzeptiert. Es sei sehr schwierig gewesen, weil sie ihn nicht habe verletzen wollen, weil er im Februar/März - so glaube sie - wegen Burn-out in eine Klinik gekommen sei. Seitdem hätten sie - glaube sie - ein oder zweimal telefoniert. Vielmehr Kontakt als Gratulieren zum Geburtstag hätten sie seitdem nicht mehr. Bei dem Besuch seiner Schwester in Z. habe sie mit dem Beklagten geschlafen. Das sei Neujahr 2012 gewesen. Es sei geschützter Geschlechtsverkehr gewesen. Er sei von ihrer Seite ausgegangen. Sie meine, sie habe die Initiative ergriffen. Sie hätten danach drei, vier Mal Geschlechtsverkehr gehabt. Die anderen Male seien sie bei ihm gewesen, einmal im Auto in der Zeit zwischen Januar und März 2012. Sie hätten damals verhütet. Er habe sie nicht unter Druck gesetzt. Sie wisse, dass er mit einer anderen ehemaligen Schülerin zusammen gewesen sei, bevor sie mit ihm zusammen gewesen sei. Die sei so Mitte 20 Jahre alt gewesen. Zu dem Zeitpunkt sei die andere nicht mehr Schülerin gewesen. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf das Vernehmungsprotokoll (Bl. 26 - 43 der Beiakte 1) verwiesen.
16
Die Staatsanwaltschaft Lüneburg stellte daraufhin durch Verfügung vom 28. Januar 2019 das Ermittlungsverfahren gegen den Beklagten nach § 170 Abs. 2 StPO mangels Nachweises einer Straftat ein. Nach Einsichtnahme in die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft verfügte die Klägerin unter dem 10. April 2019 die Fortsetzung des behördlichen Disziplinarverfahrens und teilte dem Beklagten mit, dass die Ermittlungen im Disziplinarverfahren abgeschlossen seien. Sowohl aufgrund der Feststellungen im Rahmen der strafrechtlichen Ermittlungen als auch aufgrund der Angaben des Beklagten stehe fest, dass dieser mit der zu dieser Zeit minderjährigen Schülerin G. H. eine sexuelle Beziehung unterhalten habe. Während dieser Beziehung sei es im Zeitraum Januar 2012 bis Mai 2012 mehrmals zu einverständlichen sexuellen Kontakten gekommen. Die Beziehung sei von Seiten der Schülerin im Mai 2012 beendet worden. Den weiteren Vorwurf, auch mit der ehemaligen Schülerin seiner Schule, L. M., ca. im Juni 2016 ein sexuelles Verhältnis unterhalten zu haben, habe der Beklagte eingestanden. Er habe jedenfalls eingeräumt, dass sich diese Beziehung entwickelt habe, während L. M. im Rahmen eines Freiwilligen Sozialen Jahres an seiner Schule tätig gewesen sei. Dabei sei er, soweit L. M. Arbeiten bzw. Hospitationen in seiner Klasse durchgeführt habe, in der Funktion eines Mentors tätig gewesen. Aufgrund der Ermittlungen stehe fest, dass der Beklagte schuldhaft gegen seine in § 34 Satz 3 BeamtStG normierte Pflicht verstoßen und ein Dienstvergehen begangen habe. Die Klägerin gab dem Beklagten Gelegenheit, sich abschließend zu den Vorwürfen zu äußern.
17
Hierauf machte der Beklagte ergänzend zu seinem bisherigen Vorbringen geltend:Hinsichtlich des Vorwurfs der Beziehung zu L. M. führe die Klägerin an, er sei als Mentor tätig gewesen. Was konkret hierunter zu verstehen sei und welcher disziplinarischer Vorwurf damit verbunden werde, bleibe unklar. L. M. s Mentorin sei eine andere Lehrerin gewesen. Aus ihrer Tätigkeit als Mitarbeiterin im Freiwilligen Sozialen Jahr habe sich keinerlei Abhängigkeitsverhältnis zu ihm ergeben. Hinsichtlich des Vorwurfs der Beziehung zur Schülerin G. H. gehe die Klägerin nicht auf seine damalige psychische Erkrankung ein. Die vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen und Atteste seien nicht gewürdigt worden. Dieser Aspekt dürfe aber nicht ausgeblendet werden. Ergänzend verweise er auf den Entlassungsbericht der I. vom 13. Juni 2012, in dem der Verlauf seiner Behandlung geschildert werde. Auch sei darin seine psychische Erkrankung beschrieben. Maßgebend sei seinerzeit seine mangelnde Abgrenzungsfähigkeit im Konflikt zu seiner Harmonisierungstendenz und seinem daraus resultierenden herabgesetzten Selbstwertgefühl gewesen. Die Beziehung zu der Schülerin G. H. sei Folge dieser Erkrankung gewesen. Für ihn sei in der damaligen Situation, die von seiner psychischen Erkrankung, insbesondere seinem geringen Selbstwertgefühl und seiner Aufopferung für alle schulischen Belange geprägt gewesen sei, die Kommunikation mit dieser Schülerin ein Anker und eine Selbstbestätigung im sonst perspektivlosen Leben gewesen. Dass dieser Kontakt falsch gewesen sei, sei ihm bewusst. In der akuten Situation habe er sich aufgrund seiner psychischen Erkrankung hiervon jedoch nicht freimachen können. Der körperliche Kontakt habe in dieser Beziehung eine deutlich untergeordnete Rolle eingenommen. Das Verhältnis sei nicht dadurch geprägt gewesen, dass er als Lehrer eine unterlegene Position der Schülerin ausgenutzt habe, um an ihr sexuelle Handlungen auszuüben. Es sei vielmehr von gegenseitigem geistigen Austausch geprägt gewesen. Er habe hieraus Selbstbestätigung gezogen, die er in seinem Privatleben nicht erhalten habe. Als die Schülerin die Beziehung beendet habe, habe er hiergegen keine Einwände erhoben, obwohl es ihn psychisch beeinträchtigt habe, wie auch dem Bericht der I. zu entnehmen sei. Dennoch habe er keinesfalls die Schülerin in irgendeiner Form bedrängen oder beeinträchtigen wollen. Daher habe er die Beendigung der Beziehung sofort akzeptiert. Inzwischen lebe er in einer festen Beziehung und sei Vater geworden. Er und seine Lebensgefährtin wollten heiraten. Aufgrund der durchgeführten Psychotherapien und seines gefestigten Privatlebens sei nicht mehr damit zu rechnen, dass er erneut in eine Ausnahmesituation geraten werde wie Ende 2011/Anfang 2012. Er habe in den Jahren 2013 bis 2018 bewiesen, dass er seine dienstliche Tätigkeit integer ausübe und trotz starker Identifikation mit seinem Beruf die Distanz zu seinen Schülern wahre. Ferner habe er seit dem Jahr 2013 zahlreiche Aufgaben für die Schule wahrgenommen. Er meine, dass es mehrere Aspekte gebe, die in seinem Fall dazu führen müssten, von einer Entfernung aus dem Dienst abzusehen. Zunächst sei im besonderen Maße seine psychische Erkrankung zu berücksichtigen. Die Beziehung zu der Schülerin sei durch den persönlichen Austausch und nicht durch die körperliche Nähe geprägt gewesen. Auf die Schülerin habe er keinerlei Druck ausgeübt. So habe die Schülerin entschieden, die Beziehung zu beenden und er habe trotz seiner schlechten psychischen Verfassung dies sofort akzeptiert. Außerdem sei die seit Beendigung dieser Beziehung verstrichene Zeit zu berücksichtigen. Er habe seinen Dienst mit großem Engagement versehen und allseits Anerkennung für seine berufliche Tätigkeit erhalten. Weiterhin habe er seit Ende 2017/Anfang 2018 erheblich unter den in der Schule unter fragwürdigen Umständen gestreuten Gerüchten über das Verhältnis aus dem Jahr 2011 zu leiden gehabt. Er habe zudem an der Aufklärung des Sachverhalts uneingeschränkt mitgewirkt.
18
Am 8. Oktober 2019 hat die Klägerin Disziplinarklage mit dem Ziel erhoben, den Beklagten aus dem Beamtenverhältnis zu entfernen. Sie führt zur Begründung im Wesentlichen aus: Der Beklagte habe nachhaltig die ihm obliegenden Pflichten verletzt. Er habe schuldhaft gegen seine Pflicht zu achtungs- und vertrauenswürdigem Verhalten aus § 34 Satz 3 BeamtStG verstoßen, indem er im Schuljahr 2011/2012 mit der zu diesem Zeitpunkt minderjährigen Schülerin seiner Schule, G. H., eine einvernehmliche sexuelle Beziehung sowie mit der ehemaligen Schülerin seiner Schule, L. M., ein sexuelles Verhältnis unterhalten habe, während diese im Rahmen eines Freiwilligen Sozialen Jahres vom 15. August 2015 bis 30. Juni 2016 an der Schule des Beklagten tätig gewesen sei. Selbst wenn hierdurch kein Straftatbestand erfüllt worden sei, verletze ein Lehrer seine Dienstpflichten, wenn er sich sexueller Übergriffe schuldig mache oder er sexuelle Handlungen zwischen ihm und Schülerinnen und/oder Schülern zulasse. Ein Lehrer, der sich sexuell mit einer minderjährigen Schülerin einlasse, schädigt sein Ansehen und das seines Berufsstandes schwer. Die Verpflichtung zur körperlichen Distanz bestehe selbst volljährigen Schülerinnen und Schülern gegenüber, und zwar auch dann, wenn diese damit vordergründig einverstanden seien. Auch wenn der Beklagte L. M. nicht hauptverantwortlich betreut habe, sei ihm zumindest während der in seinem Unterricht von ihr durchgeführten Projekte eine Beratungs- und Betreuungsfunktion zugekommen. Weder die Volljährigkeit der L. M. noch der Umstand, dass sie zum Tatzeitpunkt nicht mehr den Status einer Schülerin besessen habe, könnten dazu führen, dass die Distanzpflicht des Beklagten derart herabgesunken wäre, dass das Eingehen eines sexuellen Verhältnisses als mit der Wohlverhaltenspflicht vereinbar angesehen werden könnte, auch wenn dieser Verstoß weniger schwer wiege als die Beziehung zu der minderjährigen Schülerin G. H.. Der Beklagte habe seine Dienstpflichten vorsätzlich bzw. wenigstens grob fahrlässig verletzt. Bereits aufgrund seines Bildungsstands und seiner Ausbildung hätte er erkennen müssen, dass sein Verhalten im eindeutigen Widerspruch zu seinen dienstlichen Pflichten stehe. Schuldausschließungsgründe seien nicht ersichtlich. Dies gelte auch in Anbetracht der Erkrankung des Beklagten im zeitlichen Zusammenhang mit der Beziehung zu G. H.. Anhaltspunkte für einen Schuldausschließungsgrund oder eine verminderte Schuldfähigkeit seien weder vorgetragen noch ergäben sich solche aus den vorgelegten ärztlichen Berichten. Zudem sei bereits aus den Einlassungen des Beklagten ersichtlich, dass er sich zu jedem Zeitpunkt über die Tragweite seines Handelns im Klaren gewesen sei. Die Pflichtverletzungen seien als innerdienstliches Vergehen einzuordnen. Durch das Eingehen einer sexuellen Beziehung mit einer minderjährigen Schülerin habe der Beklagte ein schwerwiegendes Dienstvergehen begangen. Erschwerend wiege, wenn der Beklagte als Beweggrund für die Beziehung zu G. H. seine Erkrankung bzw. diese als Ursache für das Dienstvergehen anführe. Es sei in jeder Hinsicht mit den dienstlichen Pflichten eines Lehrers unvereinbar, wenn er es zulasse, dass eine Lehrer-Schüler-Beziehung einen solchen Stellenwert einnehmen könne. Dies gelte erst Recht angesichts dessen, dass sich der Beklagte bereits zu dieser Zeit in psychologischer Behandlung befunden habe. Die Auswirkungen des Fehlverhaltens für den dienstlichen Bereich und das Berufsbild der Lehrer seien gravierend. Darüber hinaus müsse die sexuelle Beziehung zu L. M. wegen ihrer Auswirkungen auf den dienstlichen Betrieb erschwerend berücksichtigt werden. Der Beklagte habe trotz seiner Erfahrungen aus der Beziehung mit der minderjährigen Schülerin und trotz der psychologischen Betreuung erneut den sexuellen Kontakt zu einer sehr viel jüngeren Frau gesucht bzw. diesen erneut zugelassen, obwohl auch L. M. ihm zumindest teilweise zu Ausbildungszwecken anvertraut und sie eine ehemalige Schülerin seiner Schule gewesen sei. Es bestünden keine Anzeichen, die darauf hindeuteten, dass es sich um ein persönlichkeitsfremdes (Fehl-)Verhalten des Beklagten gehandelt habe, welches von einer Notlage oder einer psychischen Ausnahmesituation gekennzeichnet gewesen sei. Dafür spreche bereits, dass sich die Beziehung zu G. H. nicht in einem einmaligen (sexuellen) Ereignis erschöpft, sondern sich langsam angebahnt habe und es zu mehreren sexuellen Kontakten gekommen sei. Auch wenn das dienstliche Verhalten bis zu dem vorliegenden Dienstvergehen kein Anlass zu Beanstandungen gegeben habe, seien die dadurch zu Tage getretenen Persönlichkeitsmängel gravierend. Der Umstand, dass der Beklagte bislang straf- und disziplinarrechtlich unbelastet sei, komme eine entlastende Bedeutung nicht zu. Gleiches gelte für die langjährige pflichtgemäße Dienstausübung.
19
Der Beklagte könne nicht mit Erfolg einwenden, das Dienstvergehen sei Folge einer Entgleisung während einer negativen, inzwischen überwundenen Lebensphase gewesen. Ein solcher Umstand könne nur dann mildernd berücksichtigt werden, wenn außergewöhnliche Verhältnisse vorgelegen hätten, die den Beamten während des Tatzeitraums oder im Tatzeitpunkt „aus der Bahn geworfen“ hätten. Wenn aber das Verhalten des Beamten zum Tatzeitpunkt in keiner Hinsicht auffällig gewesen sei, bestünden auch keine Anhaltspunkte für die Annahme, er sei aufgrund von außergewöhnlichen Umständen „zeitweilig aus der Bahn geworfen“. Allein die Darstellung einer seelisch starken Belastung, die Notwendigkeit einer psychotherapeutischen Behandlung und die getroffenen Diagnosen könnten vor diesem Hintergrund nicht ausreichend belegen, dass sich der Beklagte zum Tatzeitpunkt in außergewöhnlich belastenden Verhältnissen befunden habe. Dagegen spreche, dass er während des Zeitraums von 2010 bis 2012 - insbesondere auch während des Bestehens der sexuellen Beziehung zu G. H. - in der Lage gewesen sei, seinen dienstlichen Pflichten nachzukommen. Soweit der Beklagte vortrage, er habe mehr und mehr das Gefühl entwickelt, der schulischen Situation aufgrund seiner gesundheitlichen Einschränkung nicht mehr gewachsen zu sein, und ca. im Januar/Februar 2012 erkannt habe, dass er schon längst nicht mehr in der Lage gewesen sei, seinen Dienst zu versehen, möge dieses Vorbringen so zutreffen. Diese Umstände seien aber ausschließlich Belege für eine schwierige Lebensphase, die aber nicht als so außergewöhnlich belastend zu bewerten sei, als dass der Beklagte völlig hilflos und aus der Bahn geworfen gewesen wäre bzw. das Eingehen einer sexuellen Beziehung zu einer minderjährigen Schülerin in einem milderen Licht erscheinen ließe. Gegen die vom Beklagten geltend gemachte Schwere der Erkrankung spreche, dass die Kostenübernahme einer weiteren Therapie (im Juni 2011) gutachterlich abgelehnt worden sei. Aber selbst wenn außergewöhnlich belastende Umstände anzunehmen wären, fehle es an Anhaltspunkten dafür, dass sich die sexuelle Beziehung zu der Schülerin als Folge dieser Lebensumstände begreifen ließe. Die Ausführungen des Beklagten zu seiner damaligen Lebenssituation ließen ohne Weiteres den Schluss auf eine schwierige Lebensphase zu. Sie erklärten aber nicht oder böten keine Anhaltspunkte dafür, warum der Beklagte nicht in der Lage gewesen wäre, ein schweres Dienstvergehen wie das Eingehen einer Beziehung zu einer minderjährigen Schülerin zu verhindern, zumal ihm nach eigenem Bekunden stets bewusst gewesen sei, dass er hierdurch seine Dienstpflichten verletze. Ihm sei auch bewusst gewesen, dass er das Unrecht seines Verhaltens noch steigere, wenn er einen sexuellen Kontakt zu der Schülerin zulasse. Er habe zudem vorgetragen, dass er aufgrund der zunehmenden Nähe und nicht etwa aufgrund seiner schwierigen Situation nicht in der Lage gewesen sei, einem sexuellen Kontakt zu widerstehen, der sich zudem nicht in einem einmaligen Verkehr erschöpft habe. Den sexuellen Kontakten sei im Übrigen eine längere Anbahnungsphase vorausgegangen und der Beklagte habe sich bereits während dieser Phase in ärztlicher Behandlung befunden. Auch wenn der Schweregrad des Fehlverhaltens gegenüber L. M. hinter der Beziehung zu G. H. zurückbleibe, handele es sich erneut um das Eingehen einer sexuellen Beziehung mit einer sehr viel jüngeren Frau, die allein im Zusammenhang mit dem dienstlichen Wirken des Beklagten als Lehrer entstanden sei. Auch angesichts der Volljährigkeit der L. M. und des Umstandes, dass sie im Tatzeitraum nicht mehr Schülerin gewesen sei, müsse die sexuelle Beziehung zu ihr vor dem Hintergrund des dem Beklagten vorgeworfenen Verhaltens belastend und erschwerend gewürdigt werden. Der Beklagte habe damit belegt, dass er auch mehrere Jahre nach dem Verhältnis zu einer Schülerin nicht in der Lage gewesen sei, die nötige Sensibilität im Zusammenhang mit dem Eingehen von sexuellen Beziehungen im dienstlichen Kontext aufzubringen. Es sei für den Schulfrieden und die unvoreingenommene Tätigkeit des Beklagten unabdingbar, bereits jeden Anschein zu vermeiden, der darauf hindeute, er wäre nicht in der Lage, die erforderliche Distanz zu minderjährigen Schülern bzw. jungen Erwachsenen zu wahren. Dies habe der Beklagte trotz seiner Erfahrungen weder erkannt noch ausreichend berücksichtigt.
20
Durch sein Verhalten habe der Beklagte das Vertrauen, das der Dienstherr in die Selbstbeherrschung, Zuverlässigkeit und moralische Integrität seiner Lehrer setzen können müsse, von Grund auf erschüttert. Aufgrund der Gesamtwürdigung und auf der Grundlage aller im Einzelfall be- und entlastenden Gesichtspunkte müsse der Schluss gezogen werden, dass die durch das Fehlverhalten herbeigeführte Schädigung des Ansehens des Berufsbeamtentums in der Öffentlichkeit bei einer Fortsetzung des Beamtenverhältnisses nicht wieder gut zu machen sei und das unerlässliche Vertrauensverhältnis zwischen dem Beklagten und dem Dienstherrn endgültig zerstört sei. Mildere Maßnahmen unterhalb der Schwelle der Entfernung aus dem Beamtenverhältnis kämen damit nicht in Betracht.
21
Die Klägerin beantragt,
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den Beklagten eines Dienstvergehens schuldig zu sprechen und ihn aus dem Beamtenverhältnis zu entfernen.
23
Der Beklagte beantragt,
24
die Disziplinarklage abzuweisen, hilfsweise auf eine mildere Disziplinarmaßnahme zu erkennen als von der Klägerin beantragt.
25
Zur Begründung wiederholt und vertieft er sein bisheriges Vorbringen im behördlichen Disziplinarverfahren. Ergänzend trägt er im Wesentlichen vor: Die von der Klägerin in ihrer Disziplinarklage getroffenen Feststellungen seien zum Teil undifferenziert. Der zugrunde gelegte Zeitraum einer einvernehmlichen sexuellen Beziehung zu einer minderjährigen Schülerin vom 1. August 2011 bis 31. Juli 2012 sei fehlerhaft ermittelt. Der E-Mailverkehr mit der Schülerin habe sich erst ungefähr im Dezember 2011 entwickelt. Die Beziehung sei im Mai 2012 beendet gewesen, und zwar während seines Klinikaufenthalts. Es werde von der Klägerin der Eindruck erweckt, es habe eine gefestigte sexuelle Beziehung gegeben. Aus der Zeugenaussage der Schülerin werde jedoch deutlich, dass es drei- oder viermal zum Geschlechtsverkehr gekommen sei. Bei der Bewertung seines Fehlverhalten aufgrund seines Verhältnisses zu G. H. berücksichtige die Klägerin nicht hinreichend seine psychische Ausnahmesituation. Insoweit hätte sie würdigen müssen, ob diese negative Lebensphase als Milderungsgrund in Betracht komme, der dazu führe, dass er nicht aus dem Beamtenverhältnis entfernt werde. In der Situation des Jahres 2011/12 sei er völlig hilflos gewesen und habe sich überhaupt nicht erklären können, was da gerade geschehen sei. Er habe das Gefühl gehabt, ihm entgleite sein gesamtes Leben. Auch wenn er sich im Jahr 2010 einer psychologischen Behandlung unterzogen habe, habe sie ausweislich der Bescheinigung des Psychologen W. vom 6. März 2012 jedoch nicht die tieferen Schichten der Konflikte erreichen können. Die Symptomatik habe sich scheinbar verringert, jedoch habe er nicht an den Kern seiner Problemlage kommen können. Im Juli 2011 habe die Krankenkasse die Übernahme einer weiteren Therapie abgelehnt, obwohl der behandelnde Psychologe die Fortführung der Therapie befürwortet habe. Danach habe er zunächst keine Psychotherapie erhalten. Im Dezember 2011 und damit nach der von der Klägerin so bezeichneten „Anbahnungsphase“ habe er die psychologische Behandlung als Selbstzahler fortgesetzt. Das sei zum selben Zeitpunkt geschehen, als sich seine Beziehung zur Schülerin intensiviert habe. Man könne also erkennen, dass er sich um Unterstützung bemüht habe, aber keinesfalls Herr seiner Situation gewesen sei. Unmittelbar nach Beginn der ambulanten Psychotherapie seien nachhaltige Verbesserungen der seelischen Gesundheit noch nicht zu erwarten. Auch wenn es kein einmaliges Erlebnis gewesen sei, das ihn quasi aus der Bahn geworfen habe, habe sich seine Belastungssituation zu diesem Zeitpunkt gleichwohl kulminiert. Die Folgen einer kulminierenden Belastungssituation sei für ihn nicht so deutlich erkennbar gewesen, wie es die Klägerin darstellen wolle. Aus heutiger Sicht sei die damalige ambulante psychologische Behandlung nicht die ausreichende Hilfe gewesen. Nur wenige Monate später sei er stationär behandelt worden. Eine solche Behandlung wäre vermutlich von Anfang an geboten gewesen.
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Er sei von seiner psychischen Erkrankung geheilt. Er habe gelernt, wie er damit umgehen könne, wenn sich Schüler an ihn wendeten und um Hilfe bäten. Sein Verhalten gegenüber Schülerinnen und Schülern sei seit seiner Rückkehr in den Schuldienst stets einwandfrei gewesen. Gleiches gelte für den Umgang mit Referendaren. Seine Situation habe sich im Vergleich zu 2011/12 nachhaltig geändert. Die negative Lebensphase habe er überwunden. Seine Psychotherapie sei erfolgreich verlaufen, was er durch sein Verhalten im Schulbetrieb seit dem Jahr 2013 unter Beweis gestellt habe. Zu berücksichtigen sei, dass er nach Rückkehr in den Schuldienst eine Vielzahl von verantwortungsvollen Aufgaben in der Schule übernommen habe, tief in den Schulbetrieb integriert gewesen sei und dennoch keine intimen Verhältnisse zu Schülerinnen gepflegt habe. Entgegen der Annahme der Klägerin habe er sich die Beziehung zu der Schülerin nicht bewusst gesucht, um über seine Probleme hinwegzukommen. Er habe nach der Reflexion seines Handelns, die ihm erst durch die Psychotherapie möglich gewesen sei, nachträglich die Erkenntnis gewonnen, warum es zu der Beziehung zu der Schülerin habe kommen können.
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Soweit die Klägerin den sexuellen Kontakt zu der ehemaligen Schülerin L. M. erschwerend berücksichtigen wolle, sei dem zunächst entgegenzuhalten, dass der Vortrag der Klägerin nicht präzise sei. Er habe dargelegt, dass er sich nicht genau erinnern könne, wann er mit ihr Geschlechtsverkehr gehabt habe. Er meine sich zu erinnern, dass sie sich bereits eine Woche vor dem offiziellen Ende ihres Freiwilligen Sozialen Jahres in der Schule verabschiedet hätte. Er halte es für durchaus wahrscheinlich, dass der Geschlechtsverkehr erst danach stattgefunden habe, möglicherweise sogar nach dem 30. Juni 2016. Überdies sei L. M. nie seine Schülerin gewesen. Ein Absolvent des Freiwilligen Sozialen Jahres werde den Lehrern nicht als Auszubildender zugewiesen. Die Tätigkeit im Rahmen des Freiwilligen Sozialen Jahres sei ehrenamtlich, mithin weder ein Ausbildungs- noch Arbeitsverhältnis. Dass L. M. jünger sei als er, sei für die Frage, ob er seine negative Lebensphase überwunden habe, ohne Belang. Außerdem sei zu berücksichtigen, dass er an der Aufklärung des Falles uneingeschränkt mitgearbeitet und wahrheitsgemäß vorgetragen habe. Er sehe ein, dass er ein schweres Dienstvergehen begangen habe, das zu sanktionieren sei. Mit einer Zurückstufung sei er einverstanden.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Akten verwiesen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe
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Auf die zulässige Disziplinarklage ist der Beklagte eines Dienstvergehens schuldig zu sprechen und aus dem Beamtenverhältnis zu entfernern. Er machte sich aufgrund des nachstehenden Sachverhalts (dazu unter I.) eines schweren Dienstvergehens schuldig (dazu unter II.), das den Ausspruch der disziplinaren Höchstmaßnahme, die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis, verlangt (dazu unter III.).
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I.Die Kammer legt ihrer Entscheidung in Anwendung des § 52 Abs. 2 NDiszG die glaubhaften Angaben der Schülerin G. H. in ihrer Zeugenvernehmung im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren und die damit im Wesentlichen übereinstimmenden Ausführungen des Beklagten zugrunde. Danach ergibt sich folgender Sachverhalt:
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Der Beklagte war seit der 6. Klasse Lehrer der am AA. geborenen G. H. am Gymnasium E.. Er leitete einen dreiwöchigen USA-Austausch, an dem die Schülerin teilnahm. Sie wandte sich mit Problemen im Elternhaus an den Beklagten. Aufgrund des hierdurch entstandenen Vertrauensverhältnisses hatte sie sich vom Beklagten gut verstanden gefühlt. Das Verhältnis des Beklagten zur Schülerin ist in den letzten Wochen des Jahres 2011 in eine intensive E-Mail-Konversation übergegangen. Auch wenn in dieser E-Mail-Konversation sexuelle Dinge nicht thematisiert wurden, betrachtete die Schülerin eine solche Beziehung als ungewöhnlich. Diese E-Mail-Beziehung behandelten beide vertraulich. Mehr als dieser E-Mail-Verkehr entwickelte sich im Dezember 2011. Die Schülerin bekam den Eindruck, dass beiderseitig vielleicht mehr Interesse zueinander besteht. Es kam zu Treffen in der Feldmark in der Nähe des Wohnortes der Schülerin. Zu dieser Zeit gab es zunächst nur Gespräche, später tauschten sie Küsse aus. Sie besuchte mit ihren Schwestern den Beklagten. Ihre Eltern hatten Kenntnis von der Beziehung. Zum Jahreswechsel 2011/12 fuhr der Beklagte zusammen mit G. H. zu seiner in Z. lebenden Schwester. Sie übernachteten dort in einem Bett. An Neujahr 2012 vollzogen sie einvernehmlich Geschlechtsverkehr, wobei die Schülerin nach ihren glaubhaften Angaben initiativ war. Danach hatte der Beklage in den Monaten Januar bis März 2012 noch 3 oder 4mal Geschlechtsverkehr mit der Schülerin. Mehrere Lehrer des Kollegiums der Schule wussten von der Beziehung.
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Nach den glaubhaften Ausführungen der Studienrätin U. in ihrer Stellungnahme vom 18. April 2018 offenbarte der Beklagte ihr gegenüber noch im Jahr 2011, dass er und die Schülerin G. H. ineinander verliebt und sie zusammen seien und dass er deren Eltern kontaktiert habe. Ferner ergibt sich aus den beigezogenen Akten, dass der Beklagte die Beziehung im Februar 2012 zunächst gegenüber dem Beratungslehrer, anschließend gegenüber dem Schulleiter seiner Schule offenbarte. Hiernach meldete er sich am 10. Februar 2012 krank. Seine Dienstunfähigkeit dauerte bis zum 30. Juni 2013 an. Die Schülerin beendete die Beziehung im Mai 2012 während eines Klinikaufenthalts des Beklagten. Der Beklagte war mit der Trennung einverstanden. Danach gab es nur noch sporadische Kontakte, die über ein Gratulieren zum Geburtstag nicht hinausgingen.
33
Hinsichtlich des Verhältnisses zu L. M. geht die Kammer nach den vorliegenden Unterlagen und den Ausführungen des Beklagten von folgendem Sachverhalt aus: L. M. war Schülerin des Gymnasiums E. und erwarb dort in 2015 ihr Abitur. Sie war nicht Schülerin des Beklagten. In der Zeit vom 15. August 2015 bis 30. Juni 2016 absolvierte sie ein Freiwilliges Soziales Jahr. Maßnahmenträger war der ASC AB. e. V.. Dieser schloss mit dem Gymnasium E. einen Kooperationsvertrag, um L. M. einen Freiwilligendienst an dieser Schule zu ermöglichen. Nach dieser Vereinbarung waren der Schulleiter und eine andere Lehrkraft - nicht der Beklagte - als verantwortliche Mentoren für die Betreuung der Dienstfreiwilligen verantwortlich. L. M. wurde in verschiedenen Bereichen der Schule eingesetzt, u.a. in zwei Unterrichtsstunden/Woche im Fach Englisch. In welchem Umfang sie im Unterricht des Beklagten zur Hospitation tatsächlich eingesetzt wurde, ist offengeblieben. Konkrete Feststellungen dazu hat die Klägerin nicht getroffen. Sie befragte L. M. im Rahmen des behördlichen Disziplinarverfahrens nicht. In den von ihr eingereichten Unterlagen findet sich die Genehmigung einer Klassenfahrt unter Leitung des Beklagten für August 2016, an der L. M. als Begleitperson teilnehmen sollte. Der Beklagte hat eingeräumt, ein sexuelles Verhältnis mit L. M. gehabt zu haben, und zwar nachdem sie ihren tatsächlichen Dienst an der Schule beendet hatte (nach dem 23. Juni 2016 oder nach dem 30. Juni 2016), wobei in jenem Jahr die Sommerferien am 23. Juni 2016 begannen.
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II.Indem der Beklagten eine sexuelle Beziehung zu einer minderjährigen Schülerin seiner Schule einging, die über mehrere Monate andauerte, verletzte er seine Pflicht zu achtungs- und vertrauenswürdigem Verhalten (§ 34 Satz 3 BeamtStG) und beging somit ein Dienstvergehen im Sinne des § 47 Abs. 1 Satz 1 BeamtStG.
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1.Durch das konkret vorgeworfene Verhalten des erstgenannten Tatwurfes verstieß der Beklagte gegen seine innerdienstliche Wohlverhaltenspflicht gravierend, indem er die notwendige Distanz zu seiner Schülerin G. H. nicht wahrte.
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Nach § 34 Satz 3 BeamtStG muss das Verhalten der Beamten der Achtung und dem Vertrauen gerecht werden, die ihr Beruf erfordert. Die Wohlverhaltenspflicht ist amtsbezogen, so dass an ein leitendes Amt höhere Verhaltensanforderungen gestellt werden dürfen. Achtung ist die Wertschätzung und der Respekt, die dem Beamten von jedermann, insbesondere aber vom Dienstherrn und von der Allgemeinheit, entgegengebracht werden. Vertrauen betrifft die Erwartung, dass sich der Beamte, insbesondere aus Sicht des Dienstherrn und der Allgemeinheit, so verhält, wie es von ihm im Hinblick auf seine Dienstpflichten als berufserforderlich erwartet wird. Achtung und Vertrauen werden in ihrem Inhalt und in ihrem Umfang von den Erfordernissen des Berufs des Beamten bestimmt. Die Wohlverhaltenspflicht verlangt von dem Beamten, seine Lebensführung nach den geltenden Moralanschauungen auszurichten, also grundsätzlich die Gebote, die sich aus Sitte, Ehre und Anstand ergeben, jedenfalls soweit zu beachten, wie dies die dienstliche Stellung erfordert (vgl. Kammerurt. v. 17.4.2019 - 10 A 6/17 -, juris Rn. 175). Bezogen auf das Amt eines Lehrers verlangt die Wohlverhaltenspflicht, strikt körperliche Distanz zu seinen Schülerinnen und Schülern zu halten. Insoweit gilt Folgendes:
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Kinder und Jugendliche haben als eigenständige Personen das Recht auf Achtung ihrer Würde und gewaltfreie Erziehung. Der Staat trägt für deren altersgerechte Lebensbedingungen Sorge. Sie sind vor körperlicher und seelischer Vernachlässigung und Misshandlung zu schützen (vgl. Art. 4a der Niedersächsischen Verfassung). Dem entsprechend legt § 2 NSchG den Bildungsauftrag der Schule fest. Lehrer sind dazu berufen, bei der Erfüllung des umfassenden Bildungsauftrags der Schule mitzuwirken. Sie erteilen Unterricht und erziehen die ihnen anvertrauten Schüler unter Beachtung der Elternrechte. Lehrer sollen die zu Unterrichtenden mit dem geltenden Wertesystem, den ethischen Grundsätzen sowie die kulturellen Werte und damit die Moralvorstellungen der Gesellschaft bekannt machen sowie sie zu deren Einhaltung anhalten. Damit der so beschriebene Erziehungsauftrag glaubwürdig und überzeugend erfüllt werden kann, müssen Lehrer namentlich auf sittlichem Gebiet besonders zuverlässig und vertrauenswürdig sein. Hierzu gehört auch, zu Schülern - im stärkeren Maße zu minderjährigen Schülern - strikt körperliche Distanz zu wahren. Lehrende bedürfen in besonderem Maße des uneingeschränkten Vertrauens sowohl des Dienstherrn als auch der Eltern, die ihre Kinder in die Obhut der Schule geben - und, auf der Grundlage einer Schulpflicht, grundsätzlich geben müssen. Eltern und Öffentlichkeit müssen darauf vertrauen können, dass ein Lehrer Schüler nicht in verfängliche Situationen bringt, die es als fraglich erscheinen lassen, dass er die psychische und physische Integrität, die Intimsphäre sowie die sexuelle Selbstbestimmung der Schüler in der gebotenen Weise respektiert. Dies gilt im stärkeren Maße für minderjährige Schüler. Ein Lehrer hat jedes Verhalten zu unterlassen, das - ungeachtet zulässiger Hilfsbereitschaft und schulischer Zuwendung - den berechtigten Verdacht entsprechender Grenzüberschreitungen begründet, um den Sorgen der Eltern zu vermeiden und damit zusammenhängend den Schulfrieden zu wahren. Ein Lehrer, der die gebotene körperliche Distanz zu seinen Schülern vermissen lässt und sich nicht entsprechend seiner hohen Verantwortung insbesondere für die sittlichen Wertempfindungen in sexueller Hinsicht absolut korrekt verhält, indem er die ihm anvertrauten Schüler sexuell missbraucht, zu ihrem Nachteil den Straftatbestand der Körperverletzung erfüllt oder sich auf sonstige unpassende und unangemessene Weise den Schülern körperlich nähert, begeht daher schwere Verletzungen der Pflicht zu achtungs- und vertrauenswürdigem Verhalten (vgl. BVerwG, Beschl. v. 1.3.2012 - 2 B 140.11 -, juris Rn. 9; Niedersächsisches OVG, Urt. v. 12.1.2010 - 20 LD 13/07 -, juris Rn. 94; OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 18.4.2018 - 3d A 12/17.O -, juris Rn. 40 - 45, Beschl. v. 11.3.2014 - 6 A 157/14 -, juris Rn. 10 m.w.N., Urt. v. 30. 3.2017 - 3d A 1512/13.O -, juris Rn. 104 ff.).
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Die so beschriebene Grenze ist überschritten, weit bevor (strafrechtlich erhebliche) sexuelle Übergriffe oder gar sexueller Missbrauch zur Diskussion stehen. Im Übrigen hat körperliche Distanz das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern selbst dann zu prägen, wenn der Schüler mit deren Aufgabe vordergründig einverstanden ist (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 18.4.2018 - 3d A 12/17.O -, juris Rn. 45, Urt. v. 30.3.2017 - 3d A 1512/13.O -, juris Rn. 106; OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 8.3.2016 - 3 A 10861/15 -, juris Rn. 59; Thüringer OVG, Urt. v. 3.9.2013 - 8 DO 236/13 -, juris Rn. 128).
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Nach Maßgabe dessen hielt der Beklagte gegenüber der damals minderjährigen Schülerin G. H. die gebotene körperliche Distanz während einer über mehrere Monate andauernden und sich stetig intensiver werdenden Beziehung, die sich zu einer sexuellen Beziehung entwickelte, in der es mehrmals zu einvernehmlichem Geschlechtsverkehr gekommen ist, nicht ein. Diese Distanzverletzung umfasst zumindest den Zeitraum von Dezember 2011 bis Mai 2012, wobei es in den Monaten Januar bis März 2012 zu wiederholtem einvernehmlichen Geschlechtsverkehr kam und die Beziehung - trotz Offenbarung gegenüber dem Schulleiter und dem Beratungslehrer im Februar 2012 - erst im Mai 2012 von Seiten der minderjährigen Schülerin beendet wurde.
2.
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Hingegen vermag die Kammer in dem weiteren Vorwurf der Klägerin eine Dienstpflichtverletzung nicht zu erkennen. Die Dienstfreiwillige L. M. war zwar an der Schule des Beklagten tätig. Sie war zu der Zeit aber nicht mehr Schülerin und stand nicht im einem besonderen Schüler-Lehrer-Verhältnis zum Beklagten. Dieser hatte auch keine allgemeinen Aufsichtsrechte oder Weisungsbefugnisse gegenüber der Dienstfreiwilligen. Der zwischen dem Maßnahmenträger des Freiwilligen Sozialen Jahres und der Schule als Kooperationspartner geschlossene Kooperationsvertrag sah als Mentoren für die Dienstfreiwillige den Schulleiter und eine andere Lehrkraft, nicht jedoch den Beklagten vor. Die Kammer hat nicht konkret feststellen können, wann und in welchem Umfang die Dienstfreiwillige tatsächlich im Unterricht des Beklagten hospitierte. Insoweit bleiben die Angaben und Feststellungen der Klägerin im Ungefähren. Auch kann nicht mit der erforderlichen Gewissheit festgestellt werden, dass das sexuelle Verhältnis zwischen dem Beklagten und der Dienstfreiwilligen noch während ihrer Tätigkeit an seiner Schule begann oder erst später. Die Angaben und Feststellungen der Klägerin bleiben auch insoweit wenig konkret. Eigene Feststellungen traf die Klägerin - etwa durch eine Befragung der Betroffenen - nicht. Insoweit verbleiben allein die Angaben des Beklagten, die zum Zeitpunkt des Beginns des Verhältnisses zur Dienstfreiwilligen aufgrund unsicherer Erinnerung vage sind. Im Zweifel hat die Kammer zugunsten des Beklagten davon auszugehen, dass das sexuelle Verhältnis zu L. M. erst nach tatsächlicher Beendigung ihrer Tätigkeit an der Schule am 22. Juni 2016 (am 23. Juni 2016 begannen die Sommerferien) bestand. Hiernach kann der Vorwurf einer Verletzung der Wohlverhaltenspflicht des Beklagten in Bezug auf das sexuelle Verhältnis mit L. M. nicht festgestellt werden.
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3.Bei dem verbleibenden Vorwurf handelt es sich um ein innerdienstliches Dienstvergehen im Sinne des § 47 Abs. 1 Satz 1 BeamtStG. Die Unterscheidung zwischen inner- und außerdienstlichen Verfehlungen richtet sich nicht nur nach der formalen Dienstbezogenheit, d.h. der engen räumlichen und zeitlichen Beziehung des Verhaltens zur Dienstausübung. Vielmehr kommt es in erster Linie auf die materielle Dienstbezogenheit an. Entscheidend für die rechtliche Einordnung eines Verhaltens als innerdienstliche Pflichtverletzung ist dessen kausale und logische Einbindung in ein Amt und die damit verbundene dienstliche Tätigkeit (BVerwG, Urt. v. 10.12.2015 - 2 C 6.14 -, juris Rn. 11, Beschl. v. 24.10.2006 - 1 DB 6.06 -, juris Rn. 19, Urt. v. 20.2.2001 - 1 B 55.99 -, juris Rn. 57). Diese kausale und logische Einbindung in das Amt des Beamten als Lehrer ist hinsichtlich der Verfehlungen gegeben, die sich der Beklagte der minderjährigen Schülerin gegenüber hat zuschulden kommen lassen, auch wenn sie sich weder während der Schulstunden noch im Schulgebäude zugetragen haben. Das Näheverhältnis der Schülerin zu dem Beklagten, das dazu führte, dass es außerhalb zu Schule zu verschiedenen Kontakten kam, beruhte allein auf seiner Tätigkeit als ihr Lehrer (vgl. zur Einordnung als innerdienstliches Dienstvergehen: OVG Schleswig-Holstein, Urt. v. 27.11.2018 - 14 LB 2/17 -, juris Rn. 44 (sexuelle Handlungen an Schülerin im Haus des Lehrers); Bayerischer VGH, Urt. v. 27.10.2004 - 16a D 03.2067 -, juris Rn. 98 (Nachhilfeunterricht in elterlicher Wohnung); OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 18.4.2018 - 3d A 12/17.O -, juris Rn. 40 (Abholen mit PKW und Fahrt zu einem Café); Einordnung als außerdienstliche Dienstpflichtverletzung ohne nähere Begründung: OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 8.3.2016 - 3 A 10861/15 -, juris Rn. 30 (sexuelle Handlungen mit Schülerin im Haus des Lehrers); VG Wiesbaden, Urt. v. 21.11.2018 - 28 K 1477/15.Wi.D -, juris Rn. 156 (sexuelle Handlungen mit Schülerin im Haus des Lehrers); VG Hannover, Urt. v. 9.6.2015 - 18 A 131/14 -, juris Rn. 60 (Chats außerhalb der Schulzeit).
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Aber selbst wenn dieses Verhalten als außerhalb des Dienstes im Sinne des § 47 Abs. 1 Satz 2 BeamtStG zu qualifizieren wäre, stellte es ein Dienstvergehen dar, weil es nach den Umständen des Einzelfalles in besonderem Maße geeignet ist, das Vertrauen in einer für das Amt bedeutsamen Weise zu beeinträchtigen. Ein Beamter ist auch außerhalb seines Dienstes verpflichtet, der Achtung und dem Vertrauen gerecht zu werden, die sein Beruf erfordert (vgl. BVerwG, Urt. v. 28.7.2011 - 2 C 16.10 -, juris Rn. 21). Außerdienstliches Verhalten kann den Pflichtenkreis des Beamten dann berühren, wenn es die Achtungs- und Vertrauenswürdigkeit betrifft und dadurch mittelbar dienstrechtliche Relevanz erlangt. Als Dienstvergehen ist das außerdienstliche Verhalten von Beamten gemäß § 47 Abs. 1 Satz 2 BeamtStG dann anzusehen, wenn es nach den Umständen des Einzelfalls in besonderem Maße geeignet ist, das Vertrauen in einer für ihr Amt bedeutsamen Weise zu beeinträchtigen (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.6.2015 - 2 C 9.14 -, juris Rn. 12). Unterhalb dieser Schwelle erwartet der Gesetzgeber von Beamten kein wesentlich anderes Sozialverhalten als von jedem anderen Bürger (vgl. BT-Drs. 16/7076 S. 117 zum BBG sowie BT-Drs. 16/4027 S. 34 zum BeamtStG; vgl. auch BVerwG, Urt. v. 24.10.2019 - 2 C 3.18 -, juris Rn. 11, Urt. v. 27.6.2013 - 2 A 2.12 -, juris Rn. 24, Urt. v. 30.8.2000 - 1 D 37.99 -, BVerwGE 112, 19, 26 f.). Anknüpfungspunkt für den Amtsbezug ist das dem Beamten verliehene Amt im statusrechtlichen Sinne. Die Rechtsstellung des Beamten wird durch sein Statusamt geprägt (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.10.2019 - 2 C 3.18 -, juris Rn. 13, Urt. v. 11.12.2014 - 2 C 51.13 -, juris Rn. 28). Das Statusamt - und nicht die mit dem innegehabten Dienstposten verbundene Tätigkeit - bestimmt, mit welchem Aufgabenbereich der Beamte amtsangemessen beschäftigt und damit künftig verwendet werden kann. Die Bezugnahme auf das Statusamt folgt darüber hinaus aus der materiellen Pflichtenstellung des Beamten gemäß § 34 Satz 3 BeamtStG. Während Satz 2 dieser Vorschrift an die dem Beamten übertragenen Aufgaben anknüpft, nehmen Satz 1 und 3 jeweils auf den Beruf Bezug. Die Verpflichtung des Beamten zum Wohlverhalten ist nicht nur auf den gegenwärtigen Dienstposten beschränkt, sondern erstreckt sich auf alle nach dem Statusamt wahrnehmbaren Dienstposten.
43
Aus dem sachlichen Bezug des Dienstvergehens zum konkreten Aufgabenbereich kann sich aber eine Indizwirkung ergeben. Aus der Wohlverhaltenspflicht des Beamten gemäß § 34 Satz 3 BeamtStG ist bezogen auf Lehrer abzuleiten, dass sie gegenüber ihren Schülern verpflichtet sind, strikt körperliche Distanz zu halten. Je näher der Bezug des außerdienstlichen Fehlverhaltens des Beamten zu dem ihm übertragenen Aufgabenbereich ist, umso eher kann davon ausgegangen werden, dass sein Verhalten geeignet ist, das Vertrauen zu beeinträchtigen, das sein Beruf erfordert (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.10.2019 - 2 C 3.18 -, juris Rn. 14, Urt. v. 18.6.2015 - 2 C 9.14 -, juris Rn. 20, Urt. v. 8.5.2001 - 1 D 20.00 -, BVerwGE 114, 212, 218 f.). Das Eingehen einer sexuellen Beziehung eines Lehrers zu einer (minderjährigen) Schülerin, weist einen hinreichenden und klaren Bezug zum Statusamt eines Oberstudienrats auf, zumal er die Schülerin zur gleichen Zeit unterrichtete.
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Der Dienstbezug ist gegeben, wenn das außerdienstliche Verhalten den Beamten in der Dienstausübung beeinträchtigt. Dies ist der Fall, weil eine sexuelle Beziehung zu einer (minderjährigen) Schülerin bei einem Lehrer einen Persönlichkeitsmangel indiziert, der Anlass zu Zweifeln gibt, dass er der einem Lehrer als Dienstpflicht obliegenden Erziehungsaufgabe gegenüber den ihm anvertrauten Schülern jederzeit gerecht werden kann. Mit dem Bekanntwerden eines dem Beklagten angelasteten Fehlverhaltens ist ein Lehrer in der Aufgabenwahrnehmung zumindest stark beeinträchtigt, weil er elementare Rechte gerade derjenigen Personengruppe verletzt hat, deren Schutz und Erziehung ihm als Dienstpflicht obliegt und die ihm anvertraut sind. Insoweit genügt schon die bloße Eignung; zu einem konkreten Ansehensschaden oder konkreten Übergriffen muss es nicht gekommen sein (BVerwG, Beschl. v. 4.4.2019 - 2 B 32.18 -, juris Rn. 18, Beschl. v. 17.6.2019 - 2 B 82.18 -, juris Rn. 16, Beschl. v. 21.12.2010 - 2 B 29.10 -, juris Rn. 6, Urt. v. 19.8.2010 - 2 C 5.10 -, juris Rn. 15).
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4.Der Beklagte handelte auch schuldhaft, und zwar vorsätzlich. Von einem vorsätzlichen Handeln ist auszugehen, wenn der Beamte bewusst und gewollt das Verhalten verwirklicht, welches die Pflichtverletzung darstellt, wobei bedingter Vorsatz genügt (Niedersächsisches OVG, Urt. v. 10.12.2019 - 3 LD 3/19 -, juris Rn. 84; Lemhöfer, in: Plog/ Wiedow, BBG, Stand: Oktober 2019, Bd. 1, § 77 BBG Rn. 22). Dies ist hier der Fall. Dem Beklagten war bewusst, dass er sowohl durch das Eingehen als auch durch das Aufrechterhalten einer Beziehung mit einer Schülerin dem Distanzgebot zuwider eine gravierende Dienstpflichtverletzung begehen wird. Er überschritt - nach eigenem Bekunden bewusst - wiederholt die ihm bekannten Grenzen im Lehrer-Schüler-Verhältnis.
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III.Das vom Beklagten begangene Dienstvergehen verlangt den Ausspruch der disziplinaren Höchstmaßnahme. Eine mildere Disziplinarmaßnahme unter Berücksichtigung der Schwere des Dienstvergehens, des Persönlichkeitsbildes des Beklagten und des Umfangs, in dem er das Vertrauen des Dienstherrn und der Allgemeinheit beeinträchtigt hat, ist nach Auffassung der Kammer nicht gerechtfertigt. Es liegen keine Entlastungs- und Milderungsgründe vor, die es nach dem ihnen zukommenden Gewicht gerechtfertigt erscheinen lassen, dem Beklagten im Beamtenverhältnis zu belassen.
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Welche Disziplinarmaßnahme im Einzelfall angemessen ist, richtet sich nach der Schwere des Dienstvergehens (§ 14 Abs. 1 Satz 2 NDiszG) unter angemessener Berücksichtigung des Persönlichkeitsbildes des Beamten (§ 14 Abs. 1 Satz 3 NDiszG) und des Umfangs, in dem der Beamte das Vertrauen des Dienstherrn oder der Allgemeinheit beschädigt hat (§ 14 Abs. 1 Satz 4 NDiszG). Eine objektive und ausgewogene Zumessungsentscheidung setzt voraus, dass diese drei Bemessungskriterien mit dem ihnen im Einzelfall zukommenden Gewicht ermittelt und in die Entscheidung eingestellt werden. Dieses Erfordernis beruht letztlich auf dem im Disziplinarverfahren geltenden Schuldprinzip und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Übermaßverbot). Danach muss die gegen den Beamten ausgesprochene Disziplinarmaßnahme unter Berücksichtigung aller be- und entlastenden Umstände des Einzelfalls in einem gerechten Verhältnis zur Schwere des Dienstvergehens und zum Verschulden des Beamten stehen (BVerwG, Urt. v. 20.10.2005 - 2 C 12.04 -, juris Rn. 22).
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Ausgangspunkt der Maßnahmebemessung ist das Kriterium der Schwere des Dienstvergehens. Bei der Auslegung des Begriffs „Schwere des Dienstvergehens“ ist maßgebend auf das Eigengewicht der Verfehlung abzustellen. Hierfür können bestimmend sein objektive Handlungsmerkmale (insbesondere Eigenart und Bedeutung der Dienstpflichtverletzung, z. B. Kern- oder Nebenpflichtverletzung, sowie besondere Umstände der Tatbegehung, z. B. Häufigkeit und Dauer eines wiederholten Fehlverhaltens), subjektive Handlungsmerkmale (insbesondere Form und Gewicht der Schuld des Beamten, Beweggründe für sein Verhalten) sowie unmittelbare Folgen des Dienstvergehens für den dienstlichen Bereich und für Dritte, z. B. materieller Schaden (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.10.2005, a. a. O., Rn. 24, Urt. v. 11.1.2007 - 1 D 16.05 -, juris Rn. 55, Urt. v. 3.5.2007 - 2 C 9.06 -, juris Rn. 13, Urt. v. 7.2.2008 - 1 D 4.07 -, juris Rn. 14). Die angemessene Berücksichtigung des Persönlichkeitsbildes des Beamten (§ 14 Abs. 1 Satz 3 NDiszG) bedeutet, dass es für die Bestimmung der Disziplinarmaßnahme auch auf die persönlichen Verhältnisse und das sonstige dienstliche Verhalten des Beamten vor, bei und nach dem Dienstvergehen ankommt, insbesondere soweit es mit seinem bisher gezeigten Persönlichkeitsbild übereinstimmt oder etwa als persönlichkeitsfremdes Verhalten in einer Notlage oder einer psychischen Ausnahmesituation davon abweicht (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.10.2005, a. a. O., Rn. 25, Urt. v. 3.5.2007, a. a. O., Rn. 14). Die prognostische Frage nach dem Umfang der Beeinträchtigung des Vertrauens des Dienstherrn und der Allgemeinheit (§ 14 Abs. 1 Satz 4 NDiszG) schließlich betrifft die Erwartung, dass sich der Beamte aus Sicht des Dienstherrn und der Allgemeinheit so verhält, wie es von ihm im Hinblick auf seine Dienstpflichten als berufserforderlich erwartet wird. Hat ein Beamter durch ein schweres Dienstvergehen das Vertrauen des Dienstherrn oder der Allgemeinheit endgültig verloren, ist er aus dem Beamtenverhältnis zu entfernen (§ 14 Abs. 2 Satz 1 NDiszG).
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1.Nach Maßgabe dessen ist die Entfernung des Beklagten aus dem Beamtenverhältnis geboten, weil er eine Kernpflicht eines Lehrers in besonders schwerem Maße über einen längeren Zeitraum mit erheblichen nachteiligen Folgen für den Schulbetrieb und den Schulfrieden verletzte. Der Beruf des Lehrers verlangt eine besondere Zuverlässigkeit und Vertrauenswürdigkeit auf sittlichem Gebiet. Den Lehrern sind Kinder und Jugendliche anvertraut, die sich durchweg noch in einer starken Prägungsphase befinden und besonders nach emotionaler Zuwendung, Anerkennung, Verständnis und Zuneigung suchen. Die Lehrer sollen die geistigen, seelischen und körperlichen Fähigkeiten der heranwachsenden jugendlichen Menschen fördern und ihre Persönlichkeit weiterentwickeln. Diesen Erziehungsauftrag können die Lehrer glaubwürdig und überzeugend nur erfüllen, wenn sie ihr Verhältnis zu den Schülern von sexuellen Beziehungen und Handlungen jeder Art ausnahmslos freihalten. Ein Lehrer, der sich - wie der Beklagte - sexuell mit einer minderjährigen Schülerin einlässt, schädigt sein Ansehen und das seines Berufsstandes schwer; er schädigt unheilbar die an einen Lehrer in dieser Beziehung zu stellenden Erwartungen und ist in diesem Beruf nicht mehr tragbar. Er ist - unabhängig von der Reaktion einzelner Eltern oder Schüler - den Eltern und Schülern allgemein (deren Personenkreis sich zeitlich bedingt ändert) als Lehrer nicht mehr zuzumuten. Die Eltern, die ihre Kinder den vom Staat eingestellten Lehrern anvertrauen müssen, haben einen Anspruch darauf, dass das Verhältnis ihrer Kinder zu den Lehrern von sexuellen Handlungen der Lehrer freigehalten wird. Ein vom Vertrauen der Elternschaft getragener Schulbetrieb wäre sonst nicht denkbar (vgl. Niedersächsisches OVG, Urt. v. 12.1.2010 - 20 LD 13/07 -, juris Rn. 98, Urt. v. 27.5.2008 - 20 LD 5/07 -, juris Rn. 60).
50
Erschwerend kommt hinzu, dass der Beklagte nicht nur einmalig in eklatanter Weise gegen die ihm obliegenden Dienstpflichten verstieß, sondern während eines über mehrere Monate andauernden Zeitraums. Selbst nach Offenbarung der Beziehung gegenüber seinem damaligen Schulleiter setzte er sein Fehlverhalten fort, statt die Beziehung unmittelbar abzubrechen. Selbst wenn die erziehungsberechtigten Eltern der minderjährigen Schülerin umfassend hierüber Kenntnis und u. U. keine Einwände gegen diese Beziehung gehabt hätten, ließe dieser Umstand das Dienstvergehen weder entfallen noch als wesentlich weniger gewichtig erscheinen.
51
Weiter erschwerend zu berücksichtigen sind die erheblichen nachteiligen Folgen für den Schulbetrieb und den Schulfrieden im Nachgang zu dieser Beziehung. Ungeachtet dessen, dass es dem früheren Schulleiter noch gelungen ist, das Bekanntwerden des Verhältnisses des Beklagten zu G. H. in den Jahren 2011 und 2012 in der Schule weitestgehend zu verhindern, ist es nach Jahren doch bekannt geworden, wodurch der Schulbetrieb und der Schulfrieden erheblich belastet wurden. Nach Bekanntwerden des Verhältnisses in der Schule in 2017/18 gab es zunächst besorgte Nachfragen im Lehrerkollegium. Die Gerüchte legten sich nicht, sondern wurden befeuert (vgl. S. 3 Beiakte 2). Die Vorgänge verbreiteten sich in Schüler- und Elternschaft und gaben Anlass zur Sorge (vgl. Bl. 8 Beiakte 2) und Beschwerden (vgl. Bl. 29 Beiakte 2). Um die Situation am Gymnasium E. zu deeskalieren, schlug der Schulleiter vor, den Beklagten kurzfristig an eine andere Schule abzuordnen. Infolge der Abordnung des Beklagten während des laufenden Schulhalbjahres kam es zu einem Lehrerwechsel in einem Kurs kurz vor der Abiturprüfung. Dieser Umstand war Gegenstand von Beschwerden aus der Elternschaft, die Nachteile für die betroffenen Schüler in der Abiturprüfung befürchteten (vgl. Bl. 16 Beiakte 2). Außerdem berührten die Vorgänge den Betriebsfrieden im Lehrerkollegium, insbesondere zu den Umständen des Bekanntwerdens der Beziehung. Dies alles führte zu Spannungen im Lehrerkollegium und zu einer aufgeheizten Situation an der Schule (vgl. Bl. 18 f., 27 Beiakte 2), für die der Beklagte zwar nicht die alleinige, aber doch die maßgebliche Verantwortung trägt. Auch wenn die Umstände des allgemeinen Bekanntwerdens dieses Verhältnisses in der Schule in den Jahren 2017 und 2018 durch das Streuen von Gerüchten unter Beteiligung einer anderen gegenüber dem Beklagten missgünstigen Lehrkraft nicht unmittelbar von ihm ausgingen, sondern er hierdurch vielmehr einer besonderen Belastung ausgesetzt wurde, bleibt gleichwohl seine schwere Dienstpflichtverletzung maßgebliche Ursache für die späteren nachteiligen Folgen für den Schulbetrieb und den Schulfrieden.
52
2.Auch unter Berücksichtigung des Persönlichkeitsbildes des Beklagten kommt eine mildere Disziplinarmaßnahme als die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis nicht in Betracht. Soweit mildernde Umstände zugunsten des Beklagten vorliegen, kommt ihnen nicht ein Gewicht zu, das es die Schwere des Pflichtverstoßes und sonstige erschwerende Umstände aufzuwiegen und damit eine abweichende Maßnahmebemessung zu rechtfertigen vermag.
53
a.Der Beklagte kann nicht mildernd geltend machen, dass der Klägerin seine Beziehung zu einer Schülerin erst Anfang des Jahres 2018 und damit rd. sechs Jahre später zur Kenntnis gelangte. Denn insoweit hat der Gesetzgeber in § 16 Abs. 1 bis 3 NDiszG für die Disziplinarmaßnahmen nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 4 NDiszG zeitliche Grenzen gesetzt, nach deren Ablauf diese Disziplinarmaßnahmen nicht mehr ausgesprochen werden können. Für die Disziplinarmaßnahme der Entfernung aus dem Beamtenverhältnis (§§ 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5, 11 NDiszG) ist eine solche Frist gesetzlich nicht vorgesehen.
54
b.Dem Umstand, dass der Beklagte nach Begehen seiner Dienstpflichtverletzung in der Zeit von August 2013 bis Mai 2018 engagiert und beanstandungsfrei seinen Dienst als Lehrer leistete und es in dieser Zeit nicht zu weiteren Distanzunterschreitungen gegenüber Schülerinnen und Schülern gekommen ist, kommt ein maßgebliches Zumessungsgewicht zugunsten des Beklagten nicht zu. Selbst die Weiterbeschäftigung eines Beamten nach Aufdeckung eines Dienstvergehens wirkt sich grundsätzlich nicht maßnahmemildernd aus (vgl. BVerwG, Beschl. v. 27.9.2017 - 2 B 6.17 -, juris Rn. 7, Urt. v. 28.2.2013 - 2 C 3.12 -, juris Rn. 43 m.w.N.; Niedersächsisches OVG, Urt. v. 10.12.2019 - 3 LD 3/19 -, juris Rn. 136). Denn der Dienstherr kann von jedem Beamten erwarten, dass dieser sich mit vollem persönlichen Einsatz seinem Beruf widmet und die ihm übertragenen Aufgaben nach bestem Gewissen wahrnimmt und dabei seinen Dienstpflichten nachkommt.
55
c.Die Tatsache, dass der Beklagte straf- und disziplinarisch nicht vorbelastet ist, ist im Fall der Verwirkung der Höchstmaßnahme nicht zu seinen Gunsten zu berücksichtigen, da dieser Umstand den Normalfall und keine entlastend wirkende Besonderheit darstellt (vgl. BVerwG, Urt. v. 25.6.1997 - 1 D 72.96 -, juris Rn. 18).
56
d.Der Beklagte kann nicht mit Erfolg den von der Rechtsprechung anerkannten Milderungsgrund der freiwilligen Offenbarung vor dessen Entdeckung geltend machen. Dieser Milderungsgrund kommt in Betracht, wenn der Beamte das Dienstvergehen vor seiner Aufdeckung aus eigenem Antrieb ohne Furcht vor konkreter Entdeckung vorbehaltlos und vollständig offenlegt. Der Milderungsgrund greift hingegen nicht mehr ein, wenn der Beamte das Dienstvergehen offenbart, weil er damit rechnet, dass deswegen gegen ihn ermittelt wird. Durch die freiwillige Offenbarung zeigt der Beamte, dass er sein Fehlverhalten bereut und aus innerer Einsicht entschlossen ist, sich künftig rechtstreu zu verhalten. Sein Persönlichkeitsbild erscheint in einem günstigeren Licht, sodass die Erwartung gerechtfertigt ist, die von dem Beamten verursachte Ansehensschädigung könne hierdurch wieder ausgeglichen werden (vgl. BVerwG, Urt. v. 28.7.2011 - 2 C 16.10 -, juris Rn. 36 f.). Hier kann nicht festgestellt werden, dass der Beklagte vor seiner Aufdeckung aus eigenem Antrieb ohne Furcht vor konkreter Entdeckung vorbehaltlos und vollständig seine Beziehung zu G. H. offengelegt hat. Bezogen auf das Jahr 2012 war nach dem glaubhaften Bericht der Studienrätin U. für den Beklagten eine Situation entstanden, in dem er ohnehin mit der Offenbarung seines Fehlverhaltens rechnen musste, mithin eine völlig freiwillige Offenbarung gegenüber dem damaligen Schulleiter als Ausdruck der Reue und inneren Einsicht des Beklagten nicht gegeben war. Gegen die Anerkennung dieses Milderungsgrundes spricht zudem, dass er die Beziehung zu seiner Schülerin auch nach dem Gespräch mit dem Schulleiter über mehrere Monate fortführte. Hiernach bedarf es keiner Entscheidung, ob der Beklagte tatsächlich vorbehaltlos und in vollem Umfang sein Fehlverhalten gegenüber dem früheren Schulleiter offenbarte. Dieser bestreitet, vom Beklagte erfahren zu haben, dass es in der Beziehung zu der minderjährigen Schülerin zu einvernehmlichem Geschlechtsverkehr gekommen ist.
57
Es kann - auch wenn die Voraussetzungen dieses Milderungsgrundes nicht gegeben sind - gleichwohl mildernd berücksichtigt werden, sofern der Beamte durch seine vorbehaltlose Bereitschaft den Umfang seiner Verfehlung offenlegt und dadurch die Beweislage entscheidend zu seinen Ungunsten geändert hat (vgl. BVerwG, Urt. v. 6.6.2000 - 1 D 66.98 -, juris Rn. 24) oder durch seine Mitwirkung die Aufklärung des Dienstvergehens erst zu ermöglicht oder erheblich vereinfacht hat (vgl. BVerwG, Urt. v. 28.7.2011 - 2 C 16.10 -, juris Rn. 39). Zugunsten des Beklagten ist zwar anzuerkennen, dass er während des behördlichen Disziplinarverfahrens und bereits zuvor im Rahmen der Vorermittlungen sich offen und kooperativ zeigte und nicht versuchte, sein Fehlverhalten zu leugnen oder zu relativieren. Hierbei ist aber zu berücksichtigen, dass das Fehlverhalten unabhängig von der Mitwirkung des Beklagten maßgeblich durch die Zeugenvernehmung der Schülerin im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren aufgeklärt wurde, mithin eine entscheidende Änderung der Beweislage oder eine maßgebliche Ermöglichung der Aufklärung durch den Beklagten nicht festzustellen ist. Daher kommt der positiv zu bewertenden Mitwirkung des Beklagten bei der Aufklärung ein erhebliches Gewicht nicht zu.
58
e.Der Beklagte kann sich nicht auf den in der Rechtsprechung anerkannten Milderungsgrund berufen, das Fehlverhalten beruhe auf einer psychischen Ausnahmesituation. Ein solcher Milderungsgrund kann anerkannt werden, wenn eine solche Situation durch einen plötzlichen, unvorhergesehenen Eintritt eines Ereignisses hervorgerufen worden ist, das gemäß seiner Bedeutung für die besonderen Lebensverhältnisse des Betroffenen bei diesem einen seelischen Schock ausgelöst hat, der seinerseits zu der Begehung des Dienstvergehens geführt hat (BVerwG, Urt. v. 9.5.2001 - 1 D 22.00 -, juris Rn. 16, Urt. v. 8.12.1998 - 1 D 46.97 -, juris Rn. 11). Das Eingehen und das Aufrechterhalten einer Beziehung zu seiner Schülerin war für den Beklagten nicht Folge einer schockartig ausgelösten Ausnahmesituation, sondern sein Fehlverhalten war Ergebnis einer Entwicklung über einen längeren Zeitraum. Zudem muss sich der Beklagten entgegenhalten, dass er dazu beitrug, dass sich die Beziehung bis hin zu einer sexuellen Beziehung intensivierte und über mehrere Monate andauerte. Auch dieser Umstand steht der Annahme des Vorliegens einer solchen Ausnahmesituation entgegen.
59
f.Der Einwand des Beklagten, die ihm vorgeworfene Dienstpflichtverletzung beruhe auf einer negativen Lebensphase infolge einer psychischen Erkrankung, die er inzwischen überwunden habe, so dass es nicht mehr zu einem solchen Fehlverhalten kommen werde, rechtfertigt nicht ein Absehen von der ausgesprochenen Disziplinarmaßnahme des Entfernens aus dem Beamtenverhältnis.
60
Beruht das Fehlverhalten des Beamten auf einer Entgleisung während einer negativen Lebensphase, kann hierin je nach den Umständen des Einzelfalls ein mildernder Gesichtspunkt im Rahmen der Gesamtwürdigung nach § 14 NDiszG gesehen werden (vgl. zur inhaltsgleichen Regelung in § 13 BDG: BVerwG, Urt. v. 28.2.2013 - 2 C 3.12 -, juris Rn. 40). Dies setzt voraus, dass während des Zeitraums der Dienstpflichtverletzungen außergewöhnliche Verhältnisse vorlagen, die den Beamten zeitweilig aus der Bahn geworfen haben. Dabei muss die „negative Lebensphase“ derart zugespitzt gewesen sein, dass die Lage für den Beamten geradezu aussichtslos erschien, und sie muss für die Begehung der Taten unmittelbar und maßgeblich ursächlich gewesen sein. Mithin kommt eine mildernde Berücksichtigung nur dann in Betracht, wenn es sich um eine persönlich besonders belastende Situation gehandelt hat, die so gravierend gewesen ist, dass die Pflichtverletzung des Beamten in einem milderen Licht erscheint, weil ein an normalen Maßstäben orientiertes Verhalten vom Beamten nicht mehr erwartet und damit nicht mehr vorausgesetzt werden kann. Hinzukommen muss, dass er die negative Lebensphase in der Folgezeit überwunden hat (vgl. zum Ganzen: BVerwG, Beschl. v. 28.1.2020 - 2 B 34.19 -, juris Rn. 8, Beschl. v. 12.7.2018 - 2 B 1.18 -, juris Rn. 13; Niedersächsisches OVG, Urt. v. 22.3.2016 - 3 LD 1/14 -, juris Rn. 98 f. m.w.N.).
61
Diese Voraussetzungen liegen beim Beklagten nicht vor. Zwar geht die Kammer nach den vorgelegten ärztlichen Attesten und Berichten davon aus, dass der Kläger seit Juni 2010 an einer depressiven Symptomatik erkrankt war. Eine im Juli 2011 wegen Neurotischer Depression mit zwanghaften und narzisstischen Anteilen beantragte RL-Therapie wurde indes gutachterlich abgelehnt. Der Dipl.-Psychologe W. diagnostizierte in seiner Bescheinigung vom 12. März 2012 für den vorgenannten Zeitpunkt folgende Erkrankungen nach ICD-10: F34.1 (Dysthymia: chronische, wenigstens mehrere Jahre andauernde depressive Verstimmung, die weder schwer noch hinsichtlich einzelner Episoden anhaltend genug ist, um die Kriterien einer schweren, mittelgradigen oder leichten rezidivierenden depressiven Störung [ICD-10: F33.-] zu erfüllen) und F43.2 (Anpassungsstörungen: Zustände von subjektiver Bedrängnis und emotionaler Beeinträchtigung, die im Allgemeinen soziale Funktionen und Leistungen behindern und während des Anpassungsprozesses nach einer entscheidenden Lebensveränderung oder nach belastenden Lebensereignissen auftreten). Der Beklagte habe berichtet, dass es im Dezember 2011 zu Konflikten „über seine Arbeit an der Schule“ gekommen sei, die ihn so stark belastet hätten, dass dies zur weiteren psychischen Instabilität mit zeitweise latenten Suizidgedanken geführt habe, die eine Arbeitsunfähigkeit zur Folge gehabt habe. Der Dipl.-Psychologe bescheinigte unter dem 12. März 2012, dass „eine ambulante Behandlung … daher nicht mehr ausreichend“ erscheine, um den Patienten zu stabilisieren.
62
Unter dem 5. März 2012 bescheinigte der Hausarzt des Beklagten, Dr. med. X., dass der Beklagte unter einer Panikstörung und einer depressiven Episode leide. Im Verlauf der letzten Wochen sei es zu zunehmender psychischer Dekompensation gekommen, die aktuell zur Arbeitsunfähigkeit geführt habe. Aufgrund dieser Umstände sei eine laufende ambulante Psychotherapie nicht ausreichend.
63
Dem Entlassungsbericht der behandelnden Ärzte der I. vom 13. Juni 2012 sind folgende Diagnosen zu entnehmen: Der Beklagte habe unter Panikattacken (F41.0: Panikstörung [episodisch paroxysmale Angst] - das wesentliche Kennzeichen sind wiederkehrende schwere Angstattacken (Panik), die sich nicht auf eine spezifische Situation oder besondere Umstände beschränken und deshalb auch nicht vorhersehbar sind. Wie bei anderen Angsterkrankungen zählen zu den wesentlichen Symptomen plötzlich auftretendes Herzklopfen, Brustschmerz, Erstickungsgefühle, Schwindel und Entfremdungsgefühle [Depersonalisation oder Derealisation]; oft entsteht sekundär auch die Furcht zu sterben, vor Kontrollverlust oder die Angst, wahnsinnig zu werden. Die Panikstörung soll nicht als Hauptdiagnose verwendet werden, wenn der Betroffene bei Beginn der Panikattacken an einer depressiven Störung leidet. Unter diesen Umständen sind die Panikattacken wahrscheinlich sekundäre Folge der Depression), Somatisierungsstörung mit ausgeprägter Diarrhoe (F45.32) und einer depressiven Epidose (F32.0: leichte depressive Episode: Der betroffene Patient leidet unter einer gedrückten Stimmung und einer Verminderung von Antrieb und Aktivität. Die Fähigkeit zu Freude, das Interesse und die Konzentration sind vermindert. Ausgeprägte Müdigkeit kann nach jeder kleinsten Anstrengung auftreten. Der Schlaf ist meist gestört, der Appetit vermindert. Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen sind fast immer beeinträchtigt. Sogar bei der leichten Form kommen Schuldgefühle oder Gedanken über eigene Wertlosigkeit vor. Die gedrückte Stimmung verändert sich von Tag zu Tag wenig, reagiert nicht auf Lebensumstände und kann von so genannten "somatischen" Symptomen begleitet werden, wie Interessenverlust oder Verlust der Freude, Früherwachen, Morgentief, deutliche psychomotorische Hemmung, Agitiertheit, Appetitverlust, Gewichtsverlust und Libidoverlust) gelitten. Bei Aufnahme in der Klinik sei der Beklagte voll orientiert und bewusstseinsklar gewesen. Seine Stimmungslage sei subdepressiv (depressiver Zustand, der nicht das Ausmaß einer Depression erfüllt, bei dem ein Mensch depressiv-verstimmt wirkt) gewesen. Sein Antrieb und seine Schwingungsfähigkeit seien erhalten gewesen. Seine Introspektionsfähigkeit und seine Behandlungsmotivation seien gut gewesen. Es habe bei ihm keine Hinweise auf psychotisches Erleben oder auf akute Suizidalität gegeben. Im Einzelnen wird in dem Entlassungsbericht ausgeführt: Aufgrund der Anamnese habe sich der Beklagte schon früh in einem „Ambivalenzkonflikt zwischen der Sehnsucht nach Anerkennung des Vaters bei narzisstisch überhöhten Erwartungen des Vaters an ihn und einer mangelnden Achtung dem Vater gegenüber bei Identifikation mit der Mutter befunden, wo er sich als besserer Mensch als sein Vater erlebte“. In diesem Ambivalenzkonflikt sei ihm eine autonome selbstbestimmte Haltung nicht gelungen, weswegen er sich zunehmend seinen pubertierenden Schülern gegenüber emotional nicht mehr genug habe abgrenzen können und so in seiner Lehrerrolle, die er zuvor mit sehr viel Engagement und Elan und großer Kompetenz geführt habe, immer mehr in den Zwiespalt geraten sei, bis es schließlich zu einer Dekompensation gekommen sei. Psychotherapeutisch sei mit dem Beklagten an seiner mangelnden Abgrenzungsfähigkeit im Konflikt zu seiner Harmonisierungstendenz und seinem daraus resultierenden herabgesetzten Selbstwertgefühl sowie seinen Panikattacken mit ausgeprägter Angst vor dem Alleinsein gearbeitet worden. Gegen Ende der stationären Behandlung sei es zu einer von der Freundin initiierten Trennung gekommen, die der Beklagte habe akzeptieren können. In dieser Situation sei es jedoch zu keiner ausreichenden Aufhellung der Depression gekommen.
64
Die mit einem Psychologieoberrat sachkundig besetzte Kammer ist - auch ohne Einholung eines vom Beklagten angeregten Sachverständigengutachtens - zu der Überzeugung gelangt, dass das Fehlverhalten des Beklagten nicht Folge einer Entgleisung während einer negativen Lebensphase aufgrund seiner psychischen Erkrankung war. Insbesondere deuten die vom Beklagten beigebrachten ärztlichen Stellungnahmen und Berichte nicht darauf hin, dass beim Beklagten während des Zeitraums von Dezember 2011 bis Mai 2012 durchweg außergewöhnliche Verhältnisse vorgelegen hätten, die den Beklagten aus der Bahn geworfen hätten, mit der Folge, dass von ihm ein an normalen Maßstäben orientiertes Verhalten nicht mehr hätte erwartet und vorausgesetzt werden können. Beim Beklagten wurde eine depressive Episode ohne psychotische Merkmale diagnostiziert, die nach dem beschriebenen Krankheitsbild zwar die Alltagsfähigkeit zur Bewältigung der Anforderungen der hiervon betroffenen Person herabsetzt, deren Bewusstseins- und Entscheidungsfähigkeiten aber nicht in einer Form beeinträchtigt, die ableiten ließe, dass eine zugespitzte Lebenslage ohne alternative Handlungsalternativen zur aktiven Anbahnung, Intensivierung und Aufrechterhaltung einer sexuellen Beziehung zu einer gerade 16-jährigen Schülerin vorgelegen hätte. Vielmehr weist die geltend gemachte psychische Erkrankung in der Bevölkerung eine hohe Prävalenz auf, ohne das die angeführten Anforderungen an den genannten Milderungsgrund erfüllt würden.
65
Aber selbst wenn es aufgrund der psychischen Erkrankung beim Beklagten zu einer zugespitzten Lebenslage gekommen wäre, wofür nichts spricht, ist es nach fachkundiger Einschätzung fernliegend, dass diese Situation während des gesamten Zeitraums zwischen Anbahnung und Ende der Beziehung ununterbrochen vorgelegen hätte. Denn in dem Entlassungsbericht der I. wurde lediglich eine leichte Ausprägung der depressiven Symptomatik diagnostiziert. Zudem wurde bei Aufnahme in der Klinik - also zu einer Zeit, in der die Beziehung zur Schülerin noch fortbestand - festgestellt, dass der Beklagte voll orientiert und bewusstseinsklar sowie dessen Stimmungslage nur subdepressiv war. In Zeiten, in denen die Symptomatik nur leicht ausgeprägt war, ist nicht von einer zugespitzten Lebenssituation auszugehen. Weiter spricht gegen das Vorliegen einer zugespitzten Lebenslage, dass sie beim Beklagten bis etwa Mitte Februar 2012 nicht derart stark ausgeprägt war, dass eine Arbeitsunfähigkeit vorgelegen hätte. Vielmehr versah der Beklagte ohne Einschränkungen bis etwa Mitte Februar 2012 seinen Dienst.
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Außerdem kann nicht angenommen werden, dass für den Beklagten keine anderen Handlungsmöglichkeiten bestanden hätten. Spätestens nach dem Gespräch mit dem früheren Schulleiter des Gymnasiums im Februar 2012 muss beim Beklagten ein Bewusstsein für die Schwere und Tragweite seines Verhaltens wie auch ein Bewusstsein für alternative Handlungsmöglichkeiten vorhanden gewesen sein. Zudem war er seit Dezember 2011 in ambulanter psychotherapeutischer Behandlung. Gleichwohl brach er die Beziehung zur Schülerin nicht ab.
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Vor diesem Hintergrund vermag die gravierende Verletzung der Kardinaldienstpflicht eines Lehrers nicht in einem milderen Licht zu erscheinen, zumal der Beklagte selbst eingeräumt hat, um die jeweiligen Grenzüberschreitungen in einer intensiver werdenden Beziehung gewusst zu haben. Die sexuelle Übergriffigkeit auf eine gerade 16-jährigen Schülerin war für ihn mitnichten unvermeidbare Folge seiner schwierigen, aber nicht ausweglosen Lebensphase.
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3.Die Gesamtwürdigung der Umstände ergibt für die Kammer, dass sich der Beklagte im Hinblick auf die Erfüllung seiner Dienstpflichten in so hohem Maße als unzuverlässig erwiesen hat, dass das Vertrauen des Dienstherrn und der Allgemeinheit in ihn endgültig verloren ist.
69
a.Mit dem Eingehen einer sexuellen Beziehung mit einer minderjährigen Schülerin verfolgte der Beklagte als Lehrkraft ausschließlich persönliche Interessen, obwohl ihm während der über Monate andauernden Beziehung bewusst war, dass er damit eine herausgehobene Kernpflicht als Lehrer verletzte und damit dem erforderlichen Vertrauen sowohl des Dienstherrn als auch der Allgemeinheit in eine künftig ordnungsgemäße Pflichterfüllung des Beamten die Grundlage entzog. Die mit dem Fehlverhalten für ihn erkennbar eintretenden Folgen, vor allem für den Schulbetrieb und den Schulfrieden, die damit verbundenen erheblichen Nachteile für die ihm anvertrauten Schüler - in besonderer Weise für die Schüler des Abiturjahrgangs - sowie sein Kollegium nahm er billigend in Kauf. Ein solches Verhalten wird nicht ansatzweise dem Bildungsauftrag der Schule gerecht, an dessen Erfüllung gerade die Lehrkräfte - insbesondere auch durch Wahrnehmung einer Vorbildfunktion - mitzuwirken haben. Gerade im Rahmen der Ausbildung junger Menschen sind an die berufliche Stellung der Lehrkräfte und deren persönliche Integrität hohe Anforderungen zu stellen, auf die sich insbesondere die Eltern verlassen können müssen, die ihre Kinder im Rahmen der bestehenden Schulpflicht der Schule bzw. den in der jeweiligen Einrichtung Tätigen anvertrauen. Dies macht den Beklagten vor dem Hintergrund der von ihm als Lehrkraft wahrzunehmenden Vorbildfunktion für die Wahrnehmung des schulischen Erziehungsauftrags untragbar.
70
b.Die spätere Weiterbeschäftigung des Beklagten nach Offenbarung des Verhältnisses zu einer minderjährigen Schülerin gegenüber dem früheren Schulleiter kann nicht als Indiz für einen nicht vollständigen Vertrauensverlust des Dienstherrn angesehen werden. Das Maß der Beeinträchtigung des Vertrauens des Dienstherrn ist nach einem objektiven Maßstab und nicht nach der subjektiven Einschätzung des jeweiligen Dienstvorgesetzten - etwa des früheren Schulleiters - zu bestimmen (BVerwG, Beschl. v. 20.6.2017 - 2 B 84.16 -, juris Rn. 36). Schon aus Gründen der Gleichbehandlung (Art. 3 Abs. 1 GG) ist maßgeblich, inwieweit der Dienstherr bei objektiver Gewichtung des Dienstvergehens auf der Basis der festgestellten be- und entlastenden Umstände noch darauf vertrauen kann, dass der Beamte in Zukunft seinen Dienstpflichten ordnungsgemäß nachkommen wird. Zwar kann ausnahmsweise aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalles die Weiterbeschäftigung in derselben Dienststelle als ein Indiz für einen nicht vollständigen Vertrauensverlust angesehen werden (BVerwG, Urt. v. 21.6.2000 - 1 D 49.99 -, juris Rn. 18). Solche Umstände liegen hier aber nicht vor. Denn hier erlangte die Klägerin im Frühjahr 2012 schon keine Kenntnis von der sexuellen Beziehung des Beklagten zu einer minderjährigen Schülerin, so dass sie eine Entscheidung über eine „Weiterbeschäftigung“ trotz des vorrangegangenen Fehlverhaltens nicht treffen konnte. Ferner spricht gegen einen solchen Ausnahmefall, dass der Beklagte noch vor Ablauf von drei Jahren nach Wiederaufnahme seines Dienstes im August 2013 ein sexuelles Verhältnis zu einer 19jährigen Dienstfreiwilligen im schulischen Kontext einging, auch wenn darin eine eigenständige Dienstpflichtverletzung nicht zu sehen ist. Zeigt sich hierin doch in gewisser Weise eine Verhaltenswiederholung, da sich der Beklagte im Lichte seiner Erfahrungen aus der Beziehung zu der Schülerin G. H. dazu entschieden hat, erneut eine sexuelle Beziehung im schulischen Kontext einzugehen, die zumindest potentiell einen Anschein von Unangemessenheit haben kann sowie geeignet ist, den Schulbetrieb und Schulfrieden ernstlich zu gefährden. Aufgrund der Geschehnisse in 2011 und 2012 war ihm bewusst, dass ein Eingehen eines sexuellen Verhältnisses mit L. M. und dessen nicht fernliegendes Bekanntwerden (L. M. erwarb erst im vorangegangen Schuljahr an dem Gymnasium ihr Abitur und pflegte Kontakt zu Schülern nachfolgender Jahrgänge, etwa zu Q. R.) - wie geschehen - den Schulbetrieb und den Schulfrieden erheblich stören wird.
71
Selbst wenn man dies abweichend beurteilen und dem Beklagten insoweit eine günstige Prognose attestieren wollte, ist gleichwohl ein endgültiger Vertrauensverlust festzustellen, wenn die durch das Fehlverhalten des Beamten herbeigeführte Schädigung des Ansehens des Berufsbeamtentums bei einer Fortsetzung des Beamtenverhältnisses nicht wiedergutzumachen ist. In einem solchen Fall muss das Beamtenverhältnis im Interesse der Leistungsfähigkeit des öffentlichen Dienstes und der Integrität des Berufsbeamtentums beendet werden (BVerwG, Urt. v. 3.5.2007 - 2 C 9.06 -, juris Rn. 18). Hier hat der Beklagte durch das Eingehen einer über mehrere Monate andauernden sexuellen Beziehung zu einer gerade 16-jährigen Schülerin in derart schwerer Weise eine herausragende Kernpflicht des Lehrerberufs nachhaltig verletzt, dass dadurch das Ansehen des Beamtentums im Allgemeinen und die des Lehrerberufs im Besonderen derart erheblich beschädigt ist, dass das Vertrauen in den Beklagten von Grund auf zerstört ist und es durch eine nachfolgende beanstandungsfreie Tätigkeit nicht wieder aufleben kann. Dass ein solches Verhalten objektiv geeignet ist, den Schulfrieden erheblich zu stören und dem öffentlichen Ansehen der Schulverwaltung, der Lehrerschaft sowie dem gesamten öffentlichen Dienst erheblichen Schaden zuzufügen, liegt nach den Geschehnissen am Gymnasium E. im Frühjahr 2018 auf der Hand.
72
c.Die Entfernung des Beklagten aus dem Beamtenverhältnis verstößt nicht gegen den auch im Disziplinarverfahren geltenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Insoweit kommt es nicht auf die finanziellen oder sozialen Auswirkungen der Disziplinarmaßnahme für den Beamten an, und auch die Auswirkungen auf dessen Familie sind nicht in den Blick zu nehmen (Niedersächsisches OVG, Urt. v. 10.12.2019 - 3 LD 3/19 -, juris Rn. 139, Urt. v. 22.6.2010 - 20 LD 3/08 -, juris Rn. 62). In das Verhältnis zu setzen sind vielmehr die Zerstörung des Vertrauensverhältnisses, zu der das Fehlverhalten geführt hat, und die beabsichtigte Disziplinarmaßnahme. Ist ein Beamter - wie hier der Beklagte - durch ein ihm vorwerfbares Verhalten vertrauensunwürdig geworden und fehlt ihm damit eine entscheidende Grundlage für die Fortsetzung des Beamtenverhältnisses, ist seine Entfernung aus dem Beamtenverhältnis die einzige Möglichkeit, das durch den Dienstherrn sonst nicht lösbare Beamtenverhältnis einseitig zu beenden. Die darin liegende Härte für den Betroffenen ist nicht unverhältnismäßig, weil sie auf ihm zurechenbarem Verhalten beruht (BVerwG, Urt. v. 12.2.1992 - 1 D 2.91 -, juris Rn. 60; Niedersächsisches OVG, Urt. v. 10.12.2019 - 3 LD 3/193 - juris Rn. 139 m.w.N).
73
IV.Schließlich sieht die Kammer keinen Anlass, die Dauer der Gewährung des Unterhaltsbeitrags zu verkürzen oder zu verlängern. Nach § 11 Abs. 3 Satz 1 NDiszG erhält die- oder derjenige, die oder der aus dem Beamtenverhältnis entfernt wird, für die Dauer von sechs Monaten einen Unterhaltsbeitrag in Höhe von 50 vom Hundert der Bezüge, die ihr oder ihm bei Eintritt der Unanfechtbarkeit der Entscheidung zustehen. Die Gewährung des Unterhaltsbeitrags kann in der Entscheidung des Gerichts ganz oder teilweise ausgeschlossen werden, soweit die Beamtin oder der Beamte ihrer nicht würdig oder den erkennbaren Umständen nach nicht bedürftig ist (§ 11 Abs. 3 Satz 2 NDiszG). Die Gewährung des Unterhaltsbeitrags kann in der Entscheidung des Gerichts über sechs Monate hinaus verlängert werden, soweit dies notwendig ist, um eine unbillige Härte zu vermeiden; die Beamtin oder der Beamte hat die Umstände glaubhaft zu machen (§ 11 Abs. 3 Satz 3 NDiszG). Weder aus dem Vorbringen der Beteiligten noch anderweitig ergeben sich für die Kammer Gründe dafür, die Dauer des Bezugs des Unterhaltsbeitrags zu verkürzen oder zu verlängern.
74
Die Kostenentscheidung beruht auf § 69 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 NDiszG in Verbindung mit § 154 Abs. 1 VwGO.
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Tenor
Der angefochtene Beschluss wird (mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung) geändert.
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen An-ordnung verpflichtet, dem Antragsteller für sämtliche Klausuren der Abiturqualifikationsphase mit Ausnahme des Fachs Mathematik eine um 2/9 verlängerte Bearbeitungszeit und für die Klausuren im Fach Mathematik eine um 1/18 verlängerte Bearbeitungszeit einzuräumen.
Die weitergehende Beschwerde wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen tragen die Beteiligten jeweils zur Hälfte.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500,00 Euro festgesetzt.
1Gründe:
2Die Beschwerde ist gemäß § 146 Abs. 1 und 4 VwGO zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Der Senat prüft nach § 146 Abs. 4 Sätze 1 und 6 VwGO nur die fristgerecht dargelegten Beschwerdegründe. Diese Gründe rechtfertigen und gebieten es, unter entsprechender Änderung des angefochtenen Beschlusses dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO teilweise stattzugeben und den Antragsgegner zu verpflichten, dem Antragsteller für sämtliche Klausuren der Abiturqualifikationsphase mit Ausnahme des Fachs Mathematik eine um 2/9 verlängerte Bearbeitungszeit und für die Klausuren im Fach Mathematik eine um 1/18 verlängerte Bearbeitungszeit einzuräumen (I.). Die darüber hinausgehende Beschwerde hat hingegen keinen Erfolg (II.).
3I. Im Umfang der tenorierten Anordnung hat der Antragsteller die tatsächlichen Voraussetzungen sowohl eines Anordnungsanspruchs (1.) als auch eines Anordnungsgrundes (2.) glaubhaft gemacht (§ 123 Abs. 1 Satz 2, Abs. 3 VwGO, §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 ZPO).
41. Bei summarischer Prüfung spricht deutlich Überwiegendes dafür, dass der Schulleiter der Gesamtschule O. den dem Antragsteller gewährten Nachteilsausgleich unter dem 20 März 2019 ermessensfehlerhaft reduziert hat und der Antragsteller einen weitergehenden Ausgleich beanspruchen kann.
5Gemäß § 13 Abs. 7 Satz 1 Halbsatz 1 der Verordnung über den Bildungsgang und die Abiturprüfung in der gymnasialen Oberstufe (APO-GOSt) kann der Schulleiter, soweit es die Behinderung oder der sonderpädagogische Förderbedarf eines Schülers erfordert, Vorbereitungszeiten und Prüfungszeiten angemessen verlängern und sonstige Ausnahmen vom Prüfungsverfahren zulassen. Entsprechendes gilt bei einer besonders schweren Beeinträchtigung des Lesens und Rechtschreibens (Satz 2).
6Es deutet viel darauf hin, dass bei dem Antragsteller eine besonders schwere Beeinträchtigung des Lesens und Rechtschreibens vorliegt. In seinen fachärztlichen Attesten vom 6. März 2018 und 11. März 2019 hat Dr. med. S. N. (Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie - Psychotherapie -) für den Antragsteller eine Legasthenie diagnostiziert.
7Nach dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand handelt es sich bei der Legasthenie um eine dauerhafte Lese- und Schreibstörung aufgrund einer neurobiologischen, entwicklungsbiologisch und zentralnervös begründeten Störung der Hirnfunktion. Davon zu unterscheiden sind Lese- und Rechtschreibschwächen, die andere Ursachen haben und erfolgversprechend behandelt werden können. Legasthenie lässt Begabung und Intelligenz unberührt; die intellektuelle Erfassung von Sachverhalten ist nicht beeinträchtigt. Jedoch ist die Lese- und Schreibgeschwindigkeit verringert; Legastheniker benötigen überdurchschnittlich viel Zeit, um schriftliche Texte aufzunehmen und zu verarbeiten und um ihre Gedanken aufzuschreiben. Aufgrund dessen sind sie beeinträchtigt, ihre als solche nicht eingeschränkte intellektuelle Befähigung darzustellen, d. h. ihre tatsächlich vorhandenen Kenntnisse und Fähigkeiten in schriftlichen Prüfungen nachzuweisen. Hinzu kommt eine Rechtschreibschwäche; die Rechtschreibung von Legasthenikern ist überdurchschnittlich fehlerbehaftet.
8BVerwG, Urteil vom 29. Juli 2015 ‑ 6 C 35.14 ‑, BVerwGE 152, 330, juris, Rn. 18, m. w. N.
9Die Diagnose einer Legasthenie bei dem Antragsteller deckt sich mit den Angaben in der ‑ weder vom Antragsgegner noch vom Verwaltungsgericht erkennbar inhaltlich gewürdigten ‑ fachlichen Stellungnahme der Dr. T. X. (Einzelfallfachberatung LRS Dezernat 43 Bezirksregierung E. ) vom 13. Mai 2019. Denn darin wird darauf hingewiesen, dass bei dem Antragsteller schon in den Jahren 2007 bis 2011 eine „ausgeprägte Lese-Rechtschreib-Störung“ ‑ verbunden mit weiteren Erkrankungen ‑ durch die Kinderklinik St. D. ‑Hospital H. festgestellt worden sei. Es sei davon auszugehen, „dass M. ‘s Lese-Rechtschreib-Störung bei gleichzeitig guter sprachlicher Begabung persistiert“. Auch unter Berücksichtigung der weiteren Erkenntnisse aus dieser fachlichen Stellungnahme misst der Senat dem vom Verwaltungsgericht thematisierten Umstand, dass in dem Attest der Allgemeinmedizinerin Dr. med. A. C. vom 29. März 2019 von einer „ausgeprägten Lese-Rechtschreib-Schwäche“ (nicht: Störung) die Rede ist, keine maßgebliche Bedeutung zu.
10Liegen die tatsächlichen Voraussetzungen für die Gewährung eines schulischen Nachteilsausgleichs vor, so muss dieser nach § 13 Abs. 7 Satz 1 Halbsatz 1 APO-GOSt „angemessen“ sein, d. h. die ausgleichenden Maßnahmen haben sich an der konkreten Behinderung und der jeweiligen schulischen Leistung oder Prüfung zu orientieren. Der Nachteilsausgleich darf jedoch nicht zu einer Überkompensierung von Behinderungen und damit zu einer Verletzung der Chancengleichheit der anderen Schüler führen.
11Vgl. Bay. VGH, Urteil vom 19. November 2018 ‑ 7 B 16.2604 ‑, juris, Rn. 19, m. w. N.
12Ausgehend von diesen Maßgaben spricht alles dafür, dass die unter dem 20. März 2019 getroffene Entscheidung des Schulleiters der Gesamtschule O. , dem Antragsteller in allen Fächern außer Mathematik eine ‑ von der Dauer der jeweiligen Klausur unabhängige ‑ Korrekturzeit von 15 Minuten einzuräumen, ermessensfehlerhaft ist.
13Dabei kann dahinstehen, ob Zweifel an einer sachgerechten Ermessensbetätigung bereits daraus erwachsen, dass der Schulleiter in seiner Stellungnahme vom 17. Mai 2019 ausgeführt hat, ein Nachteilsausgleich sei „wenn möglich, im Lauf der S II abzubauen“ und beim Antragsteller werde „genug Spielraum“ gesehen, „dieser Vorgabe zu folgen“ (Seite 1). Die in dem Schreiben der Gesamtschule vom 20. März 2018 („Ergebnisprotokoll des Gesprächs mit SER, SEY, FOL, WIR am 18.3.2018“) angesprochene Arbeitshilfe des Schulministeriums („Gewährung von Nachteilsausgleichen für Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen, Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung und/oder besonderen Auffälligkeiten für die Gymnasiale Oberstufe sowie für die Abiturprüfung - Eine Orientierungshilfe für Schulleitungen“, Stand: Juli 2017),
14https://www.schulministerium.nrw.de/docs/bp/Lehrer/Recht_Beratung_Service/Service/Ratgeber/Nachteilsausgleiche/3-Arbeitshilfe_GymnasialeOberstufe-und-Abiturpruefung.pdf (zuletzt abgerufen am 22. November 2019),
15sieht nicht vor, dass ein bestehender Nachteilsausgleich mit oder nach dem Eintritt in die gymnasiale Oberstufe nach Möglichkeit abzubauen sei. Die Arbeitshilfe erkennt vielmehr an, dass „der grundsätzliche Anspruch auf Nachteilsausgleich … für die betroffenen Schülerinnen und Schüler in der Sekundarstufe II unverändert fort(besteht)“, und fordert lediglich, dass „die Nachteilsausgleiche aus der Sekundarstufe I hinsichtlich der Bildungsziele der Gymnasialen Oberstufe zu Beginn der Einführungsphase und ggf. im weiteren Verlauf des Bildungsgangs überprüft werden (müssen)“ (Seite 2). Es sei „zu prüfen, ob Art und Umfang des Nachteilsausgleichs noch den Bedürfnissen der betreffenden Schülerin bzw. des betreffenden Schülers angemessen sind und ob sie perspektivisch für die Abiturprüfungen genehmigungsfähig wären“ (Seite 3). Besteht die zugrunde liegende Behinderung, die den Nachteilsausgleich erforderlich macht, nach dem Übergang des Schülers in die Sekundarstufe II unverändert fort, widerspräche es auch ersichtlich dem Sinn und Zweck des Ausgleichs, seinen Abbau gezielt anzustreben; dafür bestünde keine rechtliche Grundlage.
16Ermessensfehlerhaft ist das Vorgehen des Schulleiters jedenfalls deshalb, weil die dem Antragsteller zugestandenen pauschalen Korrektur- und Lesezeitzuschläge von 15 bzw. 5 Minuten keine Rücksicht auf die jeweilige Dauer der vom Antragsteller zu schreibenden Klausuren nehmen. Die erstmalige Gewährung dieser Zeitzuschläge geht zurück auf das bereits angesprochene Schreiben der Gesamtschule vom 20. März 2018. Seinerzeit befand sich der Antragsteller noch in der Einführungsphase der gymnasialen Oberstufe, in der keine über 90 Minuten hinausgehenden Klausuren zu schreiben waren (vgl. Nr. 14.1.1 VV zu § 14 APO-GOSt). Gegenwärtig absolviert der Antragsteller indes das 3. Halbjahr der Qualifikationsphase, in der die Dauer der Klausuren von 90 bis 180 Minuten, ggf. sogar bis 225 Minuten variiert (vgl. Nr. 14.2.1 VV zu § 14 APO-GOSt). Anhaltspunkte dafür, dass sich insbesondere die Rechtschreibstörung des Antragstellers zwischenzeitlich signifikant gemildert hat, sind weder vom Antragsgegner vorgetragen noch sonst zu erkennen. Insbesondere spricht wenig dafür, dass die Steigerung des in den fachärztlichen Attesten des Dr. med. S. N. angegebenen Prozentrangs von 1,8 (6. März 2018) auf 3,6 (11. März 2019) eine erhebliche Verbesserung der Rechtschreibfertigkeiten des Antragstellers widerspiegelt, zumal Frau Dr. X. zu dem ersten Wert angegeben hatte, seine Rechtschreibung sei hiernach „als äußerst schwach einzuschätzen“. Muss mithin vom Fortbestehen einer gravierenden Rechtsschreibstörung ausgegangen werden, erweist es sich als ‑ offensichtlich ‑ verfehlt, an einem Zuschlag zur Bearbeitungszeit pauschal festzuhalten, der ursprünglich für 2‑stündige Klausuren als notwendig erachtet wurde, wenn der Antragsteller nunmehr Klausuren zu schreiben hat, die bis zu 4 bzw. 5 Schulstunden dauern. Denn es versteht sich von selbst, dass die zu erbringende Schreibleistung mit zunehmender Dauer der Klausur regelmäßig ansteigt. Der Nachteilsausgleich muss diesem Umstand Rechnung tragen, da er mit der Schreibleistung korreliert. Wenn ‑ wie hier ‑ nichts Greifbares für einen abweichenden Anpassungsfaktor spricht, erscheint es sachgerecht, den Zeitzuschlag mit zunehmender Klausurdauer proportional zu erhöhen.
17Der Einwand des Schulleiters, es sei „schwierig und wenig praktikabel …, für jedes Fach unterschiedliche Zeiten festzulegen“, überzeugt schon vom Ansatz her nicht. Welche konkreten und beachtlichen Hindernisse einer Gewährung differenzierter Zeitzuschläge bei der Klausurbearbeitung entgegenstehen sollen, bleibt offen. Letztlich liegt es in der Verantwortung der Schule, rechtlich geschuldete Nachteilsausgleiche, auch in Gestalt von zusätzlichen Bearbeitungszeiten, zu ermöglichen. Ebenso wenig verfängt der Hinweis des Schulleiters, man sei insoweit „der Empfehlung von Frau L. (Anlage 9)“ gefolgt. In der bezeichneten Email vom 15. März 2018 hat die LRSD L. , Bezirksregierung E. , ausgeführt, man halte „zurzeit für die Klausuren einen NTA von 15/15 angemessen, d. h. 15 Minuten Korrekturzeit und 15 Minuten zusätzliche Lesezeit“. Diese ausdrücklich („zurzeit“) auf die Verhältnisse des seinerzeit noch laufenden Schuljahres 2017/2018 bezogene Aussage gibt nichts Wesentliches für die folgenden Schuljahre der Qualifikationsphase her, soweit der Antragsteller darin erstmals Klausuren zu schreiben hatte bzw. hat, deren Zeitdauer z. T. deutlich über die zuvor üblichen 90 Minuten hinausgeht.
18Auch soweit der Schulleiter (in einem mit dem Berichterstatter des Senats geführten Telefongespräch) auf das von der Bezirksregierung E. herausgegebene „Merkblatt zur Gewährung von Nachteilsausgleichen im Abitur“,
19https://www.brd.nrw.de/schule/grundschule_foerderschule/pdf/Merkblatt-NTA---10-2017.pdf (zuletzt abgerufen am 22. November 2019),
20verwiesen hat, ergibt sich daraus keineswegs, dass hier ein pauschaler, von der Dauer der Klausuren unabhängiger Korrekturzeitzuschlag von 15 Minuten im Fall des Antragstellers nicht überschritten werden dürfe, weil diese Zeitspanne auch für die Abiturklausuren die obere Grenze markiere. Abgesehen davon, dass das Merkblatt ohnehin keine rechtliche Verbindlichkeit entfaltet, kann die darin bezogen auf „Rechtschreibschwächen“ vorgesehene 15‑minütige „Korrekturzeit nach Abschluss der inhaltlichen Arbeit“ schon deshalb nicht einschlägig sein, weil ‑ wie ausgeführt ‑ davon auszugehen ist, dass der Antragsteller an einer ‑ qualitativ andersartigen und gravierenderen ‑ Rechtschreibstörung leidet. Zudem sind die in dem Merkblatt angeführten Nachteilsausgleiche ausdrücklich „als Orientierung gedacht“, von der „im jeweils begründeten Einzelfall“ abgewichen werden kann.
21Das Argument des Verwaltungsgerichts, die Leistungen des Antragstellers hätten sich „nach den Erkenntnissen des Antragsgegners … im Vergleich der Bearbeitung von 2‑stündigen Klausuren einerseits und 3‑stündigen Klausuren andererseits bei jeweils gleichem Umfang des Nachteilsausgleichs nicht generell verschlechtert“ (Seite 5 des Beschlussabdrucks), ist schon deshalb wenig aussagekräftig, weil die erzielten Noten von zahlreichen weiteren Faktoren abhängen, und lässt im Übrigen außer Acht, dass die Dauer der Klausuren aktuell zum Teil über 3 Schulstunden hinausgeht. Dass der Antragsgegner „den Umfang der Gewährung des Nachteilsausgleichs beständig unter Kontrolle“ halte und ihn „mehrfach im Schuljahr im Rahmen der Laufbahnkonferenzen“ überprüfe, wie vom Verwaltungsgericht angenommen, führt nicht weiter, da der Antragsgegner ohne hinreichenden sachlichen Grund von einer pauschalen Obergrenze der Korrekturzeit von 15 Minuten ausgeht.
22Dem Antragsteller ist für sämtliche Klausuren der Abiturqualifikationsphase mit Ausnahme des Fachs Mathematik eine um 2/9 verlängerte Bearbeitungszeit zuzugestehen. Dieser Anteil berücksichtigt, dass dem Antragsteller für 90‑minütige Klausuren neben der zusätzlichen Korrekturzeit von 15 Minuten auch ein Zuschlag auf die Lesezeit im Umfang von 5 Minuten eingeräumt worden ist. Insoweit erscheint eine proportionale Anpassung an die Klausurdauer ebenfalls angemessen.
23Für die Klausuren im Fach Mathematik ist ihm eine um 1/18 verlängerte Bearbeitungszeit zu gewähren. Dieser Anteil basiert gleichermaßen auf dem fünfminütigen Zuschlag zur Lesezeit, den der Antragsteller in diesem Fach für 90‑minütige Klausuren ‑ allerdings ohne zusätzliche Korrekturzeit ‑ erhalten hat.
242. Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Die Versagung eines angemessenen Nachteilsausgleichs ist ihm nicht länger zuzumuten.
25II. Die weitergehende Beschwerde bleibt erfolglos.
261. Soweit der Antragsgegner den Zuschlag auf die Lesezeit von 15 auf 5 Minuten reduziert hat, setzt sich die Beschwerde mit der darauf bezogenen Begründung des Verwaltungsgerichts (Seite 3, letzter Absatz, bis Seite 4, erster Absatz, des Beschlussabdrucks) nicht auseinander.
272. Für das Fach Mathematik hat der Antragsteller einen Anordnungsanspruch, der darauf zielt, ihm auch einen Zuschlag zur Korrekturzeit einzuräumen, nicht glaubhaft gemacht. Der Vortrag, dass er „in der letzten Mathematikklausur, die sehr textlastig war, … mit der Zeit überhaupt nicht hingekommen“ sei, gibt nichts Stichhaltiges dafür her, dass er in diesem Fach eines von der regelmäßig zu erbringenden Schreibleistung abhängigen Zeitzuschlags bedarf, um die aus seiner Rechtschreibstörung erwachsenden Beeinträchtigungen angemessen zu kompensieren.
28Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 VwGO.
29Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 1 und 2, 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG.
30Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 66 Abs. 3 Satz 3, 68 Abs. 1 Satz 5 GKG).
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Tenor
Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 26. August 2020 - 4 K 2138/20 - geändert.Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragsteller gegen die Baugenehmigung des Landratsamtes Karlsruhe vom 25. März 2020 wird angeordnet.Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt.Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000 Euro festgesetzt.
Gründe
I.1 Die Antragsteller wenden sich im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für die Errichtung eines Seniorenzentrums.2 Sie sind Miteigentümer des Grundstücks Flst.-Nr. ... der Gemarkung ..., das mit einem Einfamilienhaus bebaut ist. Es befindet sich im Geltungsbereich des Bebauungsplans „Gageneck“ der Gemeinde Walzbachtal, zuletzt geändert am 18. Juni 2012 (3. Änderung), der für das Grundstück ein allgemeines Wohngebiet festsetzt.3 Das Baugrundstück liegt im Geltungsbereich des Bebauungsplans „Kirchberg“ der Gemeinde Walzbachtal vom 11. Mai 2020, der für das Grundstück ein Sondergebiet Pflege- und Betreuungszentrum festsetzt. Es ist von dem Grundstück der Antragsteller durch den zwischen den Grundstücken verlaufenden ...-... Weg getrennt. Der Bebauungsplan wurde erstmals am 23. Juli 2018 als Satzung beschlossen. Auf den Antrag der Antragsteller wurde er allerdings mit Beschluss des Senats vom 27. März 2019 (5 S 404/19) außer Vollzug gesetzt. Die Gemeinde führte daraufhin ein ergänzendes Verfahren durch und beschloss den Bebauungsplan erneut als Satzung. Der Satzungsbeschluss vom 11. Mai 2020 wurde am 28. Mai 2020 ortsüblich bekanntgemacht. Auf Antrag der Gemeinde Walzbachtal hat der Senat mit Beschluss vom heutigen Tag (5 S 1920/20) seinen Beschluss vom 27. März 2019 geändert und den Antrag der Antragsteller auf Außervollzugsetzung des Bebauungsplans abgelehnt.4 Trotz und in Kenntnis der Außervollzugsetzung des Bebauungsplans hat das Landratsamt Karlsruhe am 25. März 2020 gestützt auf § 33 BauGB der Beigeladenen die Baugenehmigung für die Errichtung eines Seniorenzentrums mit 75 Betten, 30 Wohnungen und einer Tagespflegeeinrichtung erteilt. Das Vorhaben ist unterteilt in drei Gebäudeteile (Häuser A, B, C). Vorgesehen sind ferner eine Tiefgarage mit 21 Stellplätzen im Haus A und sieben oberirdische Stellplätze entlang der östlichen Außenwand von Haus C. Die Baugenehmigung enthält unter Nr. 19 und 20 folgende Nebenbestimmung:5 19. Bezüglich des Nachbarschafts- bzw. Immissionsschutzes muss durch geeignete bauliche, technische oder organisatorische Maßnahmen sichergestellt sein, dass die nachfolgend aufgelisteten Immissionsrichtwerte gemäß den Vorgaben des Bebauungsplans „Kirchberg“ bei der Errichtung und dem späteren Betrieb des Seniorenzentrums und der Tagespflege in der Umgebungsbebauung sicher eingehalten werden:6 Allg. Wohngebiet: tagsüber 55 dB(A) nachts 40 dB(A).7 20. Anlieferungen dürfen nur zwischen 6.00 Uhr und 22.00 Uhr stattfinden. Zwischen 22.00 Uhr und 6.00 Uhr sind diese verboten.8 Die Antragsteller legten gegen die Baugenehmigung Widerspruch ein und beantragten beim Verwaltungsgericht Karlsruhe, ihnen vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren. Das Verwaltungsgericht hat diesen Antrag mit Beschluss vom 26. August 2020 (4 K 2138/20) abgelehnt und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, der zulässige Antrag sei nicht begründet, weil die Antragsteller nicht in ihren subjektiven Rechten verletzt seien. Die Baugenehmigung könne wegen der Außervollzugsetzung des Bebauungsplans nicht auf § 33 BauGB gestützt werden. Die Zulässigkeit des Vorhabens beurteile sich nach § 35 BauGB; es verstoße jedoch nicht zu Lasten der Antragsteller gegen das in § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 BauGB verankerte Rücksichtnahmegebot. Die Nebenbestimmung Nr. 19 zur Baugenehmigung sehe vor, dass das Vorhaben die Werte der TA-Lärm einzuhalten habe. Das Gutachten des Büros ... und ... belege, dass sie auch tatsächlich eingehalten würden. Zudem werde in Nebenbestimmung Nr. 20 die Forderung des Schallgutachters umgesetzt, dass Anlieferungen im Nachtzeitraum zwischen 22 Uhr und 6 Uhr auszuschließen seien. Die weitere Forderung des Schallgutachters, dass in diesem Zeitraum auch keine Schichtwechsel stattfinden, lasse sich unter „organisatorische Maßnahmen“ im Sinne der Nebenbestimmung Nr. 19 fassen. Die Geruchsimmissionen durch das geplante Mülllager in Haus C seien ebenfalls nicht rücksichtslos. Die diesbezüglichen Einwendungen der Antragsteller seien eher spekulativ. Das Bauvorhaben entfalte auch keine erdrückende Wirkung. Die Befürchtung, dass Kraftfahrzeuge den zwischen dem Baugrundstück und dem Grundstück der Antragsteller verlaufenden ... Weg als Zufahrt zu dem Seniorenzentrum nutzten, sei eher hypothetisch, da die Zufahrt über die ... Straße erfolgen solle. Die bauordnungsrechtlichen Abstandsflächen würden eingehalten. Ein Verstoß gegen § 17 Abs. 3 LBOAVO liege nicht vor, denn die Antragsteller hätten nicht substantiiert dargelegt, dass sie durch das Mülllager erheblichen Lärm- und Geruchsbelästigungen ausgesetzt sein würden und die Lüftung des Mülllagers nicht wirksam sein werde.9 Gegen diesen Beschluss wenden sich die Antragsteller mit ihrer Beschwerde und tragen vor, die Baugenehmigung sei nicht nur rechtswidrig, sondern nichtig, da sie wegen eines groben Verstoßes gegen die Bindungswirkung des Senatsbeschlusses vom 27. März 2019 und eines groben Verstoßes gegen Bauplanungsrecht offensichtlich an einem besonders schwerwiegenden Fehler leide. Hilfsweise tragen sie vor, die Baugenehmigung verletze sie auch in ihren Rechten. Die Nebenbestimmung Nr. 19 sei unbestimmt, weil sie sich auf Vorgaben des Bebauungsplans „Kirchberg“ beziehe, der Bebauungsplan aber keine Vorgaben enthalte. Die Unbestimmtheit betreffe Merkmale des Vorhabens, deren genaue Festlegung zum Schutz ihrer subjektiven Rechte erforderlich seien. Nach dem Gutachten „Schall“ sei sicherzustellen, dass in der Nacht kein Schichtwechsel stattfinden dürfe. Die Baugenehmigung stelle dies jedoch nicht sicher. Ferner gehe das Gutachten mit Blick auf die Emissionsquellen von falschen und unvollständigen Annahmen aus, sodass nicht hinreichend sicher feststehe, dass die Immissionsrichtwerte der TA-Lärm für ein allgemeines Wohngebiet eingehalten werden könnten. Zudem sei die Vorbelastung nicht ermittelt worden. Eine erforderliche, ständig wirksame Lüftung des Mülllagers sei nicht vorhanden, da die Baugenehmigung den Einbau einer Lüftungsanlage nicht vorschreibe.10 Der Antragsgegner tritt der Beschwerde entgegen. Die Beigeladene hat sich nicht geäußert und auch keinen Antrag gestellt.11 Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die dem Senat vorliegenden Akten des Landratsamtes Karlsruhe und des Verwaltungsgerichts Karlsruhe sowie auf die gewechselten Schriftsätze verwiesen.II.12 1. Die Beschwerde ist zulässig und begründet.13 Die von den Antragstellern im Beschwerdeverfahren dargelegten Gründe (vgl. § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) geben Anlass, die vom Verwaltungsgericht zu ihrem Nachteil getroffene Abwägungsentscheidung gemäß § 80a Abs. 3 und 1 Nr. 2 sowie § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO zu ändern und ihrem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gegen die der Beigeladenen von der Antragsgegnerin erteilte Baugenehmigung vom 25. März 2020 zu entsprechen.14 Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ist zulässig. Die nach § 42 Abs. 2 VwGO analog erforderliche Antragsbefugnis liegt schon deshalb vor, weil die Antragsteller geltend machen, das Bauvorhaben verstoße zu ihren Lasten gegen das Rücksichtnahmegebot, und ein solcher Verstoß nicht offensichtlich und nach jeder Betrachtungsweise ausgeschlossen ist. Der Antrag ist auch begründet. Das private Interesse der Antragsteller, von den Wirkungen der der Beigeladenen erteilten Baugenehmigung vom 25. März 2020 vorläufig verschont zu bleiben, überwiegt das (besondere) öffentliche Interesse und das Interesse der Beigeladenen, von der kraft Gesetzes (vgl. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO in Verbindung mit § 212a Abs. 1 BauGB) sofort vollziehbaren Baugenehmigung Gebrauch machen zu dürfen. Denn aufgrund der im Verfahren des vorläufigen Rechtschutzes allein möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage dürfte der Widerspruch der Antragsteller gegen die Baugenehmigung Erfolg haben.15 a) Die Baugenehmigung ist zwar nicht nichtig (aa)). Sie dürfte aber rechtswidrig sein und das Rücksichtnahmegebot zu Lasten der Antragsteller verletzen, weil nach Aktenlage nicht hinreichend sichergestellt ist, dass von dem Bauvorhaben nur Lärmimmissionen ausgehen, die den Antragstellern zuzumuten sind (bb)). Zum einen dürften die Geräuschimmissionen der Lüftungsanlage des Bauvorhabens nicht zutreffend ermittelt worden sein und zum anderen ist nicht sichergestellt, dass die Antragsteller nachts keinen unzumutbaren Lärmimmissionen infolge von Schichtwechseln im Seniorenzentrum ausgesetzt sind. In dieser Situation gebührt dem Interesse der Antragsteller an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs gegen die Baugenehmigung Vorrang vor dem gegenläufigen Interesse der Beigeladenen.16 aa) Die Baugenehmigung ist entgegen der Auffassung der Antragsteller nicht deswegen nichtig, weil sie auf der Grundlage des § 33 BauGB erteilt wurde, obwohl der Bebauungsplan „Kirchberg“ zu diesem Zeitpunkt außer Vollzug gesetzt war. Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 VwVfG ist ein Verwaltungsakt nichtig, soweit er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offensichtlich ist. Ein Verstoß gegen eine Rechtsbestimmung allein führt grundsätzlich nicht zur Nichtigkeit, selbst wenn es sich - wie hier - um eine Verfassungsbestimmung wie Art. 20 Abs. 3 GG handelt, der die Bindung der Verwaltung an Recht und Gesetz vorschreibt (BVerwG, Urteil vom 21.10.1983 - 8 C 174.81 - NJW 1984, 2113, juris Rn. 17; Sachs in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 44 Rn. 103).17 bb) Die Baugenehmigung dürfte aber rechtswidrig sein und die Antragsteller in ihren Rechten verletzen.18 (1) Die Baugenehmigung wurde auf der Grundlage von § 33 BauGB erteilt. Dies war objektiv rechtswidrig. Die Vorschrift des § 33 BauGB ist nicht anwendbar, wenn - wie hier - ein Bebauungsplan außer Vollzug gesetzt ist, und zwar auch dann nicht, wenn die Gemeinde ein ergänzendes Verfahren eingeleitet und bereits Schritte zur Beseitigung der dem Bebauungsplan anhaftenden Mängel unternommen hat. Die Außervollzugsetzung hat zur Folge, dass der Bebauungsplan so zu behandeln ist, als existiere er nicht. Auf bereits erteilte Baugenehmigungen kann sie sich zwar nicht mehr auswirken, weitere Baugenehmigungen können auf der Grundlage des Bebauungsplans jedoch nicht erteilt werden (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 5.11.2013 - 2 B 1010/13 - BauR 2014, 834, juris Rn. 17 und Schoch in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 47 Rn. 185). Das Planaufstellungsverfahren wird durch die Außervollzugsetzung auch nicht in einen Stand nach § 33 BauGB zurückversetzt. Anderenfalls würde diese leerlaufen. Nichts anderes gilt, wenn die Gemeinde ein ergänzendes Verfahren durchführt. Auch in diesem Fall findet § 33 BauGB keine Anwendung. Denn die Bindungswirkung der Außervollzugsetzung erfasst auch die geänderte Fassung des Bebauungsplans (Schoch in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 47 Rn. 185b), da auch bei Durchführung eines ergänzenden Verfahrens die Identität des Bebauungsplans gewahrt bleibt (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.9.2003 - 4 CN 20.02 - NVwZ 2004, 226, juris Rn. 10).19 (2) Der Senat hat allerdings mit Beschluss vom heutigen Tag seinen Beschluss vom 27. März 2019 auf Antrag der Gemeinde Walzbachtal geändert und den Antrag der Antragsteller abgelehnt, den Bebauungsplan „Kirchberg“ außer Vollzug zu setzen. Das hat zur Folge, dass der Bebauungsplan taugliche Grundlage einer Baugenehmigung sein kann. Diese nachträgliche Änderung der Rechtslage zugunsten der Beigeladenen ist zu berücksichtigen, denn es wäre nicht sinnvoll und mit der verfassungsmäßigen Garantie des Eigentums nicht vereinbar, eine (bei ihrem Erlass fehlerhafte) Baugenehmigung aufzuheben, obwohl sie sogleich nach der Aufhebung wiedererteilt werden müsste (BVerwG, Beschluss vom 22.4.1996 - 4 B 54.96 - NVwZ-RR 1996, 628, juris Rn. 4).20 Die Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung ist daher nunmehr nach § 30 Abs. 1 BauGB in Verbindung mit den Festsetzungen des Bebauungsplans „Kirchberg“ zu beurteilen. Das Bauvorhaben entspricht zwar den Festsetzungen dieses Bebauungsplans. Gleichwohl verletzt es voraussichtlich die Antragsteller in ihren Rechten, weil es die nach § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO gebotene Rücksichtnahme vermissen lässt. Denn es können von ihm Belästigungen oder Störungen ausgehen, die in dessen Umgebung unzumutbar sind.21 (a) Die Antragsteller machen mit ihrer Beschwerde geltend, der Lüftungsraum des Vorhabens befinde sich unmittelbar neben dem Müllraum im Haus C, das ihrem Grundstück am nächsten liege. Der Raum verfüge über eine Fensteröffnung in Richtung ihres Grundstücks. Die durch die Lüftungsanlage verursachten Geräusche seien in der schalltechnischen Untersuchung des Büros ... und ... nicht ermittelt worden.22 Den Bauvorlagen ist zwar nicht mit Gewissheit zu entnehmen, ob der Raum im Untergeschoss des Hauses C, der mit „Lüftungsraum“ bezeichnet ist, tatsächlich der Raum ist, in dem die Lüftungsanlage untergebracht werden soll. Die Beigeladene und der Antragsgegner haben dem Vortrag der Antragsteller jedoch nicht widersprochen. Ausgehend von diesem Vortrag dürfte die der schalltechnischen Untersuchung zugrundeliegende Annahme, es seien nach außen hin keine Betriebsgeräusche wahrnehmbar, wohl nicht zutreffen. Denn der „Lüftungsraum“ besitzt zum einen ein Fenster in der südlichen Außenwand, die den Antragstellern zugewandt ist, zum anderen ist er mit einer Doppelflügeltür mit dem benachbarten Müllraum verbunden, der über eine „natürliche Belüftung“ in Form eines Gitters an der östlichen Seite verfügt. Es kommt hinzu, dass die Annahme, außen seien keine Betriebsgeräusche der Lüftungsanlage wahrnehmbar, allein auf den Angaben der Bauherrin beruht. Jegliche Angaben zu Lage, Art, Bauweise und technischen Merkmalen der Lüftungsanlage waren dem Schallgutachter demnach unbekannt. Angaben hierzu liegen auch jetzt nicht vor.23 Vor diesem Hintergrund kann nicht angenommen werden, dass die Antragsteller keinen unzumutbaren Lärmimmissionen durch das Bauvorhaben der Beigeladenen ausgesetzt sein werden. Das gilt auch unter Berücksichtigung der Ergebnisse der schalltechnischen Untersuchung, nach der die Immissionsrichtwerte der TA-Lärm für ein allgemeines Wohngebiet von 55 dB(A) am Tag und 40 dB(A) nachts deutlich unterschritten werden. Denn der Senat ist nicht dazu in der Lage, das etwaige Ausmaß der Lärmimmissionen der Lüftungsanlage auch nur annähernd abzuschätzen. Die Position des Raums für die Lüftungsanlage sowie die Fragen, ob der Raum ein Fenster besitzt und in welche Richtung es zeigt, sind bereits für den Rohbau relevant. Sollte sich erweisen, dass von der Lüftungsanlage unzumutbare Lärmimmissionen ausgehen, bestünde das Risiko, dass durch die Verwirklichung des Bauvorhabens zu Lasten der Antragsteller vollendete Tatsachen geschaffen werden. Dem steht das Interesse der Beigeladenen gegenüber, möglichst schnell mit der Verwirklichung des Bauvorhabens beginnen zu können. Allerdings haben es die Beigeladene und der Antragsgegner selbst in der Hand, relativ schnell klären zu lassen, ob und in welchem Ausmaß Lärmimmissionen von der Lüftungsanlage verursacht werden. Dies rechtfertigt es, dem Interesse der Antragsteller Vorrang zu gewähren vor dem Interesse der Beigeladenen und des Antragsgegners.24 Ob Betriebsgeräusche der Lüftungsanlage im Untergeschoss auch deshalb außen wahrnehmbar sind, weil die Lüftungsanlage über Leitungen mit der Außenwelt verbunden ist, bedarf daher keiner näheren Betrachtung. Denn die durch die Lüftungsanlage verursachten Schallimmissionen sind nach dem Ausgeführten ohnehin noch zu untersuchen. Dabei ist auch die Frage zu klären, ob und welche Immissionen durch Leitungen verursacht werden, die nach außen führen.25 (b) Die Antragsteller machen ferner geltend, die Baugenehmigung stelle nicht sicher, dass sie von unzumutbaren nächtlichen Lärmimmissionen durch Schichtwechsel des Personals verschont bleiben. Dieser Einwand dürfte berechtigt sein. Die schalltechnische Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass von den Flächen im Plangebiet keine Belastungen durch Gewerbelärm ausgehen, die das Umfeld unzumutbar stören, „sofern keine Anlieferungen und kein Schichtwechsel im Nachtzeitraum stattfinden“. Die Vorgaben, dass weder ein Schichtwechsel noch Anlieferungen im Nachtzeitraum stattfinden, seien sicherzustellen. Durch die Nebenbestimmung Nr. 20 zur Baugenehmigung werden zwar Anlieferungen zwischen 22 Uhr und 6 Uhr untersagt. Ein Verbot eines Schichtwechsels in der Nacht enthält die Baugenehmigung jedoch nicht. Nach Auffassung des Verwaltungsgerichts lässt sich die Unzulässigkeit eines Schichtwechsels im Nachzeitraum unter den Begriff der „organisatorischen Maßnahmen“ nach Nr. 19 der Nebenbestimmungen fassen. Daran hat der Senat jedoch durchgreifende Zweifel. Denn die Schallprognose geht von der Prämisse aus, dass nachts kein Schichtwechsel stattfindet. Ist dies nicht sichergestellt, trifft die Prognose nicht mehr zu. Daher kann es nicht der Entscheidung des Betreibers des Seniorenzentrums überlassen bleiben, ob ein Schichtwechsel im Nachtzeitraum stattfindet oder nicht.26 cc) Das weitere Beschwerdevorbringen der Antragsteller gegen die Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung dürfte dagegen ohne Erfolg bleiben.27 (1) Die Antragsteller meinen, die Nebenbestimmung Nr. 19 sei unbestimmt; die Unbestimmtheit beziehe sich auf Merkmale des Vorhabens, deren genaue Festlegung zum Schutz ihrer subjektiven Rechte erforderlich seien. Das trifft wohl nicht zu.28 Die Antragsteller rügen zwar zu Recht, dass die Nebenbestimmung Nr. 19 auf Vorgaben des Bebauungsplans verweise, dieser jedoch keine Vorgaben enthalte. Daraus folgt jedoch nicht, dass die Nebenbestimmung unbestimmt ist, denn die Nebenbestimmung selbst beschränkt die zulässigen Schallimmissionen verbindlich auf 55 dB(A) tagsüber und 40 dB(A) nachts. Der Hinweis der Antragsteller auf den Beschluss des Senats vom 30. Januar 2019 (5 S 1913/18) führt zu keinem anderen Ergebnis. Der Senat hat darin zwar ausgeführt, die Bestimmtheit einer Baugenehmigung erfordere in Bezug auf den gebotenen Immissionsschutz zum einen, dass sich ihr die erforderlichen Kenngrößen der Annahme entnehmen lassen müssen, und zum anderen, dass sie einen zielorientierten Immissionsrichtwert als Grenzwert verbindlich festlege. Er hat jedoch auch betont, es sei eine Frage der Begründetheit im Übrigen, ob die einem festgelegten Immissionsgrenzwert zugrundeliegende Immissionsprognose fehlerfrei sei, ob die Festlegung eines Immissionsgrenzwerts allein oder in Kombination mit weiteren Nebenbestimmungen genüge, um schädliche, nach dem Stand der Technik vermeidbare Umwelteinwirkungen für die Nachbarschaft zu verhindern oder ob es insoweit weiterer Nebenbestimmungen bedürfe. Eine solche, die Begründetheit im Übrigen betreffende Fallkonstellation liegt auch hier vor, denn es geht letztlich um die Richtigkeit der Immissionsprognose und darum, ob die Baugenehmigung alle erforderlichen Bestimmungen enthält, um unzumutbare Beeinträchtigungen der Nachbarschaft auszuschließen.29 Die Nebenbestimmung Nr. 19 schreibt zwar nicht vor, nach welchem Rechenwerk die Beurteilungspegel zu bestimmen sind. Die Nebenbestimmung betrifft jedoch ausdrücklich Schallimmissionen, die beim Betrieb des Seniorenzentrums entstehen. Es ist daher ohne Weiteres erkennbar, dass mit der Nebenbestimmung die Immissionsrichtwerte der TA-Lärm für ein allgemeines Wohngebiet als Grenzwerte festgelegt werden sollten, sodass zur Berechnung der Beurteilungspegel die TA-Lärm heranzuziehen ist.30 (2) Die Antragsteller halten ferner die schalltechnische Untersuchung deshalb für fehlerhaft, weil die unter der Überschrift „Lüftungsanlagen“ behandelte Rückkühlungsanlage keine Lüftungsanlage sei. Sie tragen jedoch nicht vor, was daraus folgt, sodass ihr Einwand erfolglos bleibt.31 (3) Mit ihrer Rüge, durch Lüftungsöffnungen seien Parkgeräusche der Tiefgarage auch im Freien wahrzunehmen, dürften die Antragsteller im Widerspruchsverfahren voraussichtlich keinen Erfolg haben. Denn die Tiefgarage befindet sich im Untergeschoss von Haus A und ist mehr als 100 m von der nördlichen Grenze des Grundstücks der Antragsteller entfernt.32 (4) Auch ihr Einwand, die Vorbelastungen seien nicht ermittelt worden, dürfte nicht erfolgreich sein. Die bereits vorhandene Belastung durch Verkehrslärm hat der Gutachter ermittelt. Dass bereits Belastungen durch Gewerbelärm vorhanden sind, behaupten die Antragsteller selbst nicht und ist den Akten auch sonst nicht zu entnehmen.33 (5) Lärmimmissionen, die durch Entsorgungs- und Müllfahrzeuge verursacht werden, hat der Gutachter zwar nicht berücksichtigt, wie die Antragsteller zu Recht vortragen. Dieser Verkehr dürfte jedoch nur am Tag stattfinden und nicht zu unzumutbaren Schallimmissionen führen. Denn zum einen gelten nach Nr. 6.4 der TA-Lärm die Immissionsrichtwerte während des Tages für eine Beurteilungszeit von 16 Stunden, d.h. die Schallimmissionen werden über diesen Zeitraum gemittelt. Zum anderen liegt der im Gutachten prognostizierte Beurteilungspegel aus Gewerbelärm am Wohnhaus der Antragsteller deutlich unterhalb des maßgeblichen Wertes von 55 dB(A).34 (6) Eine Beeinträchtigung durch Geruchsimmissionen, die durch das Mülllager im Untergeschoss von Haus C verursacht werden, halten die Antragsteller zwar unter bestimmten klimatischen Bedingungen für möglich und rügen das Fehlen einer Lüftungsanlage für den Müllraum. Eine unzumutbare Beeinträchtigung durch Geruchsimmissionen liegt jedoch nicht nahe, denn zum einen befinden sich die der Entlüftung des Müllraums dienenden Gitter an der Ostfassade und nicht an der den Antragstellern zugewandten Südfassade. Zum anderen beträgt der Abstand zwischen dem Bauvorhaben und der nördlichen Grundstücksgrenze der Antragsteller nach dem genehmigten Lageplan mindestens 14 m. Unter diesen Umständen sind Geruchsimmissionen aus dem Mülllager, die das Maß der Zumutbarkeit übersteigen, auch bei ungünstigen klimatischen Verhältnissen nicht wahrscheinlich.35 2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1und 3, § 162 Abs. 3 VwGO. Da die Beigeladene keinen Antrag gestellt hat, können ihr keine Kosten auferlegt werden. Es entspricht auch nicht der Billigkeit, dem Antragsgegner die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen aufzuerlegen.36 Die Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 Satz 1, § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 und § 39 Abs. 1 GKG in Anlehnung an Nr. 1.1.3, 1.5 und 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013. Der Senat hält in Anwendung des Rahmenvorschlags der Nr. 9.7.1 das Interesse der Antragsteller in der Hauptsache mit dem „mittleren“ Wert von 10.000 Euro für angemessen erfasst. Dies entspricht der ständigen Rechtsprechung der Bausenate des Verwaltungsgerichtshofs (vgl. Beschluss vom 12.12.2019 - 5 S 2431/19 - juris Rn. 36 und Beschluss vom 21.7.2020 - 8 S 702/19 - juris Rn. 51). Die Bausenate haben sich darauf verständigt, bei Nachbarklagen gegen eine Baugenehmigung unabhängig von der Größe des Bauvorhabens grundsätzlich von einem Wert von 10.000 Euro auszugehen. Der Wert ist für das Beschwerdeverfahren nach Nr. 1.5 Satz 1 des Streitwertkatalogs auf die Hälfte zu reduzieren, da die Antragsteller sich nur noch gegen die Auswirkungen der zukünftigen Nutzung des Grundstücks der Beigeladenen zur Wehr setzen.37 Der Beschluss ist unanfechtbar. | {
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Tenor
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 5.000 Euro festgesetzt.
1G r ü n d e :
2Die Beschwerde ist unbegründet. Aus der Beschwerdebegründung, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, ergibt sich nicht, dass das Verwaltungsgericht dem Antrag hätte stattgeben müssen, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller vorläufig, bis zu einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren 2 K 6262/19, unter erneuter Berufung in das Beamtenverhältnis auf Widerruf die Fortsetzung seiner Ausbildung im Bachelor-Studiengang Polizeivollzugsdienst zu gestatten.
3Das Verwaltungsgericht hat zu Recht entschieden, dass der Antragsteller schon die tatsächlichen Voraussetzungen eines Anordnungsanspruchs nicht glaubhaft gemacht hat, da nicht davon auszugehen sei, dass klar erkennbare, überwiegende Erfolgsaussichten des Rechtsschutzbegehrens in der Hauptsache bestünden. Der Antragsteller habe die Wiederholungsklausur HS 1.2 vom 7. März 2019 und damit die Ba-chelorprüfung insgesamt nicht bestanden.
4Die Rüge, eine sachgerechte Bearbeitung der Aufgabenstellung sei auch angesichts des beigefügten und nicht mit einem Maßstab versehenen Kartenmaterials nicht möglich gewesen, habe keinen Erfolg. Es könne offenbleiben, ob Mängel hinsichtlich der Aufgabenstellung vorgelegen hätten. Jedenfalls könne sich der Antragsteller hierauf nicht mehr berufen. Der Grundsatz der Chancengleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG) verlange, dass die Prüflinge ihre Prüfungsleistungen möglichst unter gleichen äußeren Prüfungsbedingungen erbringen könnten. Er verlange aber nicht, die Sorge für einen ordnungsgemäßen Ablauf allein der Prüfungsbehörde und den Prüfern aufzuerlegen. Aus dem zwischen dem Prüfling und der Prüfungsbehörde begründeten Rechtsverhältnis ergebe sich für den Kandidaten nach dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) eine Mitwirkungspflicht, die auch die Pflicht zur rechtzeitigen Geltendmachung von Mängeln des Prüfungsverfahrens beinhalte. Der Prüfling sei daher nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung gemäß § 242 BGB aufgrund seiner Mitwirkungsobliegenheit verpflichtet, Verfahrensmängel unverzüglich geltend zu machen, wenn er hieraus rechtliche Konsequenzen ziehen wolle. Diese Obliegenheit diene der Wahrung der Chancengleichheit in zweierlei Hinsicht. Sie solle zum einen verhindern, dass der Prüfling, indem er in Kenntnis des Verfahrensmangels zunächst die Prüfung fortsetze und das Prüfungsergebnis abwarte, sich mit einer späteren Rüge eine zusätzliche - ihm nicht zustehende - Prüfungschance verschaffe. Zum anderen solle der Prüfungsbehörde eine zeitnahe Überprüfung des gerügten Mangels mit dem Ziel einer noch rechtzeitigen Korrektur oder Kompensation ermöglicht werden. Dem Antragsteller habe es demnach oblegen, den von ihm als solchen empfundenen Mangel jedenfalls vor Bekanntgabe des Prüfungsergebnisses gegenüber der Prüfungsbehörde zu rügen. Dies habe er indes unterlassen. Allein bis zur Bekanntgabe des Prüfungsergebnisses habe er nahezu einen Monat verstreichen lassen, ohne die ihm bekannten Mängel zu rügen. Wenn der Antragsteller auf der einen Seite mit dem Erheben der Rüge gegebenenfalls in der Hoffnung abwarte, doch noch bestanden zu haben, müsse er auf der anderen Seite das Risiko des Scheiterns dieser Erwartung auf sich nehmen.
5Aus diesen Gründen dringe er auch mit seinem Einwand nicht durch, der der Klausur zugrunde liegende Sachverhalt weise Lücken auf.
6Ebenfalls verfange die Rüge nicht, dass ein Teil der Prüflinge an den Karnevalstagen seinen Dienst in T. habe ordnungsgemäß ableisten müssen, während andere Prüflinge zwei Tage frei gehabt hätten und demgemäß einer anderen (geringeren) Belastung im Rahmen der Prüfungsvorbereitung ausgesetzt gewesen seien. Auch diese Rüge der Ungleichbehandlung sei verspätet erhoben worden. Ohne dass es entscheidungserheblich darauf ankomme, stelle die Kammer in diesem Zusammenhang fest, dass es dem Antragsteller im Übrigen frei gestanden habe, sich bereits frühzeitig auf die Prüfung vorzubereiten, zumal es sich um eine Wiederholungsklausur gehandelt habe. Auch sei nicht ersichtlich geschweige denn näher vorgetragen worden, inwieweit er durch den angeführten Dienst in seiner Leistungsfähigkeit am Klausurtag beeinträchtigt gewesen sein wolle.
7Die Rüge, der Dozent - Herr D. - habe andere Maßstäbe zugrunde gelegt, sei unsubstantiiert. Soweit der Antragsteller ausführe, dieser Dozent habe „regelmäßig“ etwa die Nennung von Paragraphen nicht gefordert, räume er selbst ein, dass Herr D. hierauf jedenfalls nicht gänzlich verzichtet habe. Zudem müssten Prüflinge davon ausgehen, dass es zu einem etwa krankheitsbedingten Wechsel des Korrektors komme und der dann zur Bewertung berufene Korrektor andere - prüfungsrechtlich nicht zu beanstandende - Maßstäbe anlege. Überdies lasse der Einwand des Antragstellers gänzlich unberücksichtigt, dass die Bewertung auch noch durch einen Zweitkorrektor erfolge. Vor diesem Hintergrund habe der Antragsteller davon ausgehen müssen, dass jedenfalls insoweit andere Maßstäbe gestellt werden könnten.
8Unsubstantiiert sei schließlich der Vorwurf, die Klausur eines Mitstudierenden sei erheblich besser bewertet worden, obwohl die Prüfungsteile miteinander vergleichbar seien. Es bleibe in diesem Zusammenhang bereits völlig offen, um welche Vergleichsklausur es sich hierbei handeln solle.
9Auch inhaltliche Bewertungsfehler seien nicht ersichtlich. Die Rüge des Antragstellers, dass bis zum Anfertigen der Klausur waffenrechtliche Vorschriften noch gar nicht zum Lerninhalt gehört hätten, gehe fehl. Nach der Aufgabe 7 hätten die Prüflinge lediglich den Sachbeweis bezogen auf die Schusswaffe und die daran befindlichen beziehungsweise zu erwartenden Spuren analysieren sollen. Waffenrechtliche Vorschriften seien nicht Gegenstand der Aufgabenstellung gewesen. Dies habe auch der Korrektor KD G. in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 7. Juni 2019 hervorgehoben. Soweit in den Randbemerkungen die von dem Antragsteller gewählte Methode des Fließtextes bemängelt worden sei, lasse auch dies keinen Bewertungsfehler erkennen. Der Korrektor Q. habe in seiner Stellungnahme vom 7. Juni 2019 hierzu festgestellt, dass insoweit die in den Vorlesungen vereinbarten und den Studierenden bekannten Standards gelten würden, die im Übrigen auch regelmäßig geübt würden.
10Schließlich dringe der Antragsteller nicht mit der Rüge durch, bestimmte Anforderungen wie etwa die Definition der Spontanäußerung seien von dem Dozenten D. nicht gelehrt worden. Es verstehe sich von selbst, dass nicht sämtlicher Prüfungsgegenstand einer Klausur zuvor in Unterrichtseinheiten (vor-)besprochen werden müsse. Vielmehr könne von Studierenden, die einen Bachelorabschluss anstrebten, erwartet werden, dass sie sich zulässigen Prüfungsstoff auch selbst aneigneten.
11Das hiergegen gerichtete Beschwerdevorbringen greift nicht durch. Ins Leere geht der Einwand des Antragstellers, die sofortige Rüge der von ihm aufgezeigten Mängel in der Aufgabenstellung und des Kartenmaterials habe ihm in der angespannten Prüfungssituation nicht abverlangt werden können. Das Verwaltungsgericht hat ihm nicht entgegengehalten, dass er diese Mängel nicht bereits in der Prüfungssituation gerügt hat. Es hat vielmehr tragend darauf abgestellt, dass er jedenfalls seiner Obliegenheit nicht nachgekommen sei, die von ihm angeführten Mängel vor der Bekanntgabe des Prüfungsergebnisses gegenüber der Prüfungsbehörde zu rügen. Soweit der Antragsteller meint, er habe aufgrund der „Hinweise zu Störungen durch inhaltliche Fehler in den Klausuren, formale Aufbaufehler und sonstige Unregelmäßigkeiten“, die u. a. vorsähen, dass etwaige Einwendungen nach der Klausur an das Prüfungsamt herangetragen werden könnten, annehmen dürfen, dass er Mängel erst im Widerspruchsverfahren aufzeigen müsse, ist dies nicht nachvollziehbar. Die Hinweise verhalten sich auch nach dem Vorbringen des Antragstellers gerade nicht zu der Frage, bis zu welchem Zeitpunkt und in welchem Verfahren Einwendungen an das Prüfungsamt herangetragen werden können. Im Übrigen verkennt der Antragsteller, dass es dem Prüfling obliegt, sich über die rechtlichen Vorgaben des Prüfungsablaufs und erst recht über das mögliche Vorgehen bei bereits eingetretener Störung zuverlässig - insbesondere durch Nachfragen beim Prüfungsamt - zu informieren.
12Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 14. Mai 2020 - 6 B 534/20 -, nicht veröffentlicht.
13Dass der Antragsteller um entsprechende Informationen nachgesucht hat, ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Auch in Anbetracht des Umstandes, dass es sich um eine Wiederholungsprüfung handelte, wäre ihm eine entsprechende Nachfrage ohne Weiteres zumutbar gewesen.
14Der von dem Antragsteller erhobene Einwand gegen die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zu der vermeintlich unterschiedlichen Belastung der Prüflinge aufgrund der Heranziehung zum Dienst an den Karnevalstagen führt ebenfalls nicht zum Erfolg der Beschwerde. Soweit der Antragsteller darauf verweist, dass er erst nach der Bekanntgabe des Prüfungsergebnisses von den ungleichen Bedingungen erfahren habe und seine Rüge daher nicht verspätet sei, ist dieser Vortrag unsubstantiiert. Insbesondere hat der Antragsteller auch im Beschwerdeverfahren nicht vorgetragen, geschweige denn glaubhaft gemacht, wann er erstmals davon erfahren hat, dass und welche anderen Prüfungsteilnehmer an den Karnevalstagen nicht zum Dienst herangezogen worden sind. Unabhängig davon ist jedoch auch nicht hinreichend dargetan, dass sich aus diesem Umstand eine relevante Verletzung der Chancengleichheit des Antragstellers ergibt. Der Antragsteller verweist mit seinem Beschwerdevorbringen darauf, dass es aufgrund der unterschiedlichen Belastung infolge der Heranziehung zum Dienst bzw. der Gelegenheit der nicht zum Dienst herangezogenen Prüflinge, unmittelbar vor der Prüfung ihr Wissen aufzufrischen, zu einem „abstrakten" Vorteil und mithin zu einem Verstoß gegen den Grundsatz der Chancengleichheit gekommen sei. Dieser hänge davon ab, welche Form der Prüfungsvorbereitung der jeweilige Prüfling bevorzuge. Insoweit lässt der Antragsteller indes bereits außer Acht, dass die Prüfungsbedingungen für die betroffenen Prüflinge nicht völlig identisch sein müssen. Insbesondere bei einer größeren Teilnehmerzahl und der Vielzahl räumlicher, zeitlicher und personeller Gegebenheiten, die Prüfungen beeinflussen (können), wäre die Forderung nach vollständiger Identität der Prüfungsbedingungen, auch der Möglichkeiten der Prüfungsvorbereitungen, irreal, zumal sich das Ausmaß der Auswirkungen solcher Umstände nach den Befindlichkeiten einzelner Kandidaten unterscheiden kann.
15Vgl. Kathke in: Schütz/Maiwald, Beamtenrecht - Kommentar, 26. UPD September 2020, 6.1.4.3.2.5 Mängel im Prüfungsverfahren, Rn. 487.
16Mit dem Verweis auf einen „abstrakten“ Vorteil trägt der Antragsteller überdies selbst keinen zu seinen Lasten eingetretenen Verstoß gegen den Grundsatz der Chancengleichheit vor, sondern führt selbst aus, dass dieser abstrakte Vorteil davon abhänge, welche Form der Prüfungsvorbereitung der einzelne Prüfling bevorzuge.
17Schließlich setzt sich der Antragsteller auch nicht mit der Erwägung des Verwaltungsgerichts auseinander, dass weder ersichtlich geschweige denn näher vorgetragen worden sei, inwieweit er durch den angeführten Dienst in seiner Leistungsfähigkeit am Klausurtag beeinträchtigt gewesen sei.
18Auch die Rüge des Antragstellers, bei einer Korrektur der Klausur durch den Dozenten D. wären die von diesem in der Vorbereitung auf die Klausur dargelegten Bewertungsmaßstäbe und Bearbeitungsanforderungen zur Anwendung gekommen, an die er - der Antragsteller - sich gehalten habe, greift nicht durch. Die in diesem Zusammenhang erhobenen Einwände, insbesondere dass nach § 12 Abs. 5 StudO BA grundsätzlich Prüferin oder Prüfer der jeweils Lehrende bzw. Ausbildende sei, ziehen die Erwägungen des Verwaltungsgerichts nicht durchgreifend in Zweifel, Prüflinge müssten davon ausgehen, dass es zu krankheitsbedingten Wechseln des Korrektors kommen könne und dass der dann zur Prüfung berufene Korrektor andere prüfungsrechtlich nicht zu beanstandende Maßstäbe anlege. Bei der vom Antragsteller insoweit in Bezug genommenen Vorschrift der Studienordnung handelt es sich zudem lediglich um eine Soll-Vorschrift, die gerade einen krankheitsbedingten Korrektorenwechsel nicht ausschließt. Auch der Einwand, das Verwaltungsgericht gehe von der unzutreffenden Annahme aus, dass die Bewertung stets noch durch einen Zweitkorrektor erfolge, und der in diesem Zusammenhang stehende Hinweis des Antragstellers auf § 13 Abs. 4 StudO BA, wonach eine Zweitkorrektur nur vorgesehen sei, wenn die Wiederholungen von schriftlichen Prüfungsformen schlechter als ausreichend (4,0) bewertet würden, führt nicht zum Erfolg der Beschwerde. Das Verwaltungsgericht hat jedenfalls zu Recht festgestellt, dass es unter den Voraussetzungen der genannten Vorschrift zu einer Zweitkorrektur kommen kann und der Antragsteller vor diesem Hintergrund davon hätte ausgehen müssen, dass insoweit andere Maßstäbe gestellt werden könnten. Die abschließenden Ausführungen in der Beschwerdebegründung bei einer Korrektur durch den Dozenten D. wäre es nicht zu einer Zweitkorrektur gekommen, da nicht davon auszugehen sei, dass die Klausur anhand dessen Maßstäben schlechter als ausreichend oder mit nicht bestanden bewertet worden wäre, sind rein spekulativ.
19Der Antragsteller dringt ebenfalls nicht mit seiner Rüge durch, das Verwaltungsgericht sei der unzutreffenden Annahme, dass nicht sämtlicher Prüfungsgegenstand in den Unterrichtseinheiten vorbesprochen werden müsse. Vielmehr sei nur das prüfungsrelevant, was auch gelehrt worden sei, und es könne andernfalls ein „in die Irre führen“ oder sogar eine Täuschung des Prüflings vorliegen. Das Verwaltungsgericht hat seine Ausführungen auf die erstinstanzlich erhobene Rüge des Antragsstellers bezogen, dass Herr D. die Definition der Spontanäußerung nicht gelehrt habe, und insoweit darauf hingewiesen, dass von Studierenden, die einen Bachelorabschluss anstrebten, erwartet werden könne, dass sie sich zulässigen Prüfungsstoff auch selbst aneigneten. Gegenüber dieser Erwägung ist unter den konkreten Gegebenheiten nichts zu erinnern.
20Der Einwand, es bestünden grundsätzliche Zweifel, ob die dem Prüfungsergebnis zugrundeliegende Prüfungsordnung überhaupt den verfassungsrechtlichen Anforderungen genüge und das Prüfungsergebnis aus diesem Grund keinen Bestand haben könne, führt ebenfalls nicht zum Erfolg der Beschwerde. Die Beschwerde legt einen Verstoß gegen die verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht hinreichend dar. Der Antragsteller führt an, dass Regelungen, die für die Aufnahme eines Berufs den Nachweis erworbener Fähigkeiten durch Bestehen einer Prüfung verlangten, als subjektive Berufszugangsbeschränkung einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung bedürften, und verweist auf Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts im Urteil vom 15. März 2017 - 6 C 46.15 -.
21Das Rechtsstaatsprinzip und das Demokratieprinzip des Grundgesetzes verpflichten den parlamentarischen Gesetzgeber, in dem durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Grundrechtsbereich die wesentlichen Entscheidungen über die Ausbildung und Prüfung selbst zu treffen. Es ist jedoch, so das Bundesverwaltungsgericht weiter, geklärt, dass neben Vorschriften über den Prüfungsstoff, das Prüfungssystem und die Einzelheiten des Prüfungsverfahrens auch die Festlegung der Bestehensvoraussetzungen in aller Regel nicht zu diesen dem parlamentarischen Gesetzgeber vorbehaltenen Leitentscheidungen gehören. Insoweit wird den Anforderungen von Rechtsstaats- und Demokratieprinzip bereits dadurch hinreichend Genüge getan, dass der parlamentarische Gesetzgeber durch die Vorgabe von Ziel und Inhalt der Ausbildung die Regelungen auf untergesetzlicher Ebene nach Tendenz und Programm begrenzt und berechenbar macht, zumal die prüfungsrechtliche Rechtsetzung auch auf untergesetzlicher Ebene in weitreichendem Maße bereits durch Grundsätze gesteuert wird, die sich unmittelbar aus Art. 12 Abs. 1 GG, Art. 3 Abs. 1 GG und dem Rechtsstaatsprinzip ergeben.
22Vgl. BVerwG, Urteil vom 15. März 2017 - 6 C 46.15 -, NVwZ-RR 2017, 693 = juris Rn. 11 m. w. N.
23Hiervon ausgehend ist dem Beschwerdevorbringen kein tragfähiger Anhaltspunkt dafür zu entnehmen, dass der parlamentarische Gesetzgeber die für die vorliegend in Rede stehende Laufbahnprüfung geltenden Bestehensregelungen selbst festlegen musste bzw. die für die VAPPol II Bachelor maßgebliche landesrechtliche Ermächtigungsgrundlage - § 187 Abs. 2 LBG NRW in der bis zum 31. März 2009 geltenden Fassung (entsprechend § 111 Abs. 2 LBG NRW in der bis zum 21. April 2017 geltenden Fassung bzw. § 110 Abs. 2 LBG NRW in der seit dem 22. April 2017 geltenden Fassung) - den Anforderungen des Gesetzesvorbehalts nicht genügt.
24Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 1 und 2, 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG.
25Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 66 Abs. 3 Satz 3, 68 Abs. 1 Satz 5 GKG).
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Tenor
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 5.000 Euro festgesetzt.
1G r ü n d e :
2Die Beschwerde ist unbegründet. Aus der Beschwerdebegründung, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, ergibt sich nicht, dass das Verwaltungsgericht dem Antrag hätte stattgeben müssen, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller vorläufig, bis zu einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren 2 K 7083/19, unter erneuter Berufung in das Beamtenverhältnis auf Widerruf die Fortsetzung seiner Ausbildung im Bachelor-Studiengang Polizeivollzugsdienst zu gestatten.
3Das Verwaltungsgericht hat zu Recht entschieden, dass der Antragsteller schon die tatsächlichen Voraussetzungen eines Anordnungsanspruchs nicht glaubhaft gemacht hat, da nicht davon auszugehen sei, dass klar erkennbare, überwiegende Erfolgs-aussichten des Rechtsschutzbegehrens in der Hauptsache bestünden. Der Antragsteller habe die Wiederholungsklausur HS 1.2 vom 7. März 2019 und damit die Bachelorprüfung insgesamt nicht bestanden.
4Die Rüge, eine sachgerechte Bearbeitung der Aufgabenstellung sei auch angesichts des beigefügten und nicht mit einem Maßstab versehenen Kartenmaterials nicht möglich gewesen, habe keinen Erfolg. Es könne offenbleiben, ob Mängel hinsichtlich der Aufgabenstellung vorgelegen hätten. Jedenfalls könne sich der Antragsteller hierauf nicht mehr berufen. Der Grundsatz der Chancengleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG) verlange, dass die Prüflinge ihre Prüfungsleistungen möglichst unter gleichen äußeren Prüfungsbedingungen erbringen könnten. Er verlange aber nicht, die Sorge für einen ordnungsgemäßen Ablauf allein der Prüfungsbehörde und den Prüfern aufzuerlegen. Aus dem zwischen dem Prüfling und der Prüfungsbehörde begründeten Rechtsverhältnis ergebe sich für den Kandidaten nach dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) eine Mitwirkungspflicht, die auch die Pflicht zur rechtzeitigen Geltendmachung von Mängeln des Prüfungsverfahrens beinhalte. Der Prüfling sei daher nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung gemäß § 242 BGB aufgrund seiner Mitwirkungsobliegenheit verpflichtet, Verfahrensmängel unverzüglich geltend zu machen, wenn er hieraus rechtliche Konsequenzen ziehen wolle. Diese Obliegenheit diene der Wahrung der Chancengleichheit in zweierlei Hinsicht. Sie solle zum einen verhindern, dass der Prüfling, indem er in Kenntnis des Verfahrensmangels zunächst die Prüfung fortsetze und das Prüfungsergebnis abwarte, sich mit einer späteren Rüge eine zusätzliche - ihm nicht zustehende - Prüfungschance verschaffe. Zum anderen solle der Prüfungsbehörde eine zeitnahe Überprüfung des gerügten Mangels mit dem Ziel einer noch rechtzeitigen Korrektur oder Kompensation ermöglicht werden. Dem Antragsteller habe es demnach oblegen, den von ihm als solchen empfundenen Mangel jedenfalls vor Bekanntgabe des Prüfungsergebnisses gegenüber der Prüfungsbehörde zu rügen. Dies habe er indes unterlassen. Allein bis zur Bekanntgabe des Prüfungsergebnisses habe er nahezu einen Monat verstreichen lassen, ohne die ihm bekannten Mängel zu rügen. Wenn der Antragsteller auf der einen Seite mit dem Erheben der Rüge gegebenenfalls in der Hoffnung abwarte, doch noch bestanden zu haben, müsse er auf der anderen Seite das Risiko des Scheiterns dieser Erwartung auf sich nehmen.
5Aus diesen Gründen dringe er auch mit seinem Einwand nicht durch, der der Klausur zugrunde liegende Sachverhalt weise Lücken auf.
6Ebenfalls verfange die Rüge nicht, dass ein Teil der Prüflinge an den Karnevalstagen seinen Dienst in Selm habe ordnungsgemäß ableisten müssen, während andere Prüflinge zwei Tage frei gehabt hätten und demgemäß einer anderen (geringeren) Belastung im Rahmen der Prüfungsvorbereitung ausgesetzt gewesen seien. Auch diese Rüge der Ungleichbehandlung sei verspätet erhoben worden. Ohne dass es entscheidungserheblich darauf ankomme, stelle die Kammer in diesem Zusammenhang fest, dass es dem Antragsteller im Übrigen frei gestanden habe, sich bereits frühzeitig auf die Prüfung vorzubereiten, zumal es sich um eine Wiederholungsklausur gehandelt habe. Auch sei nicht ersichtlich geschweige denn näher vorgetragen worden, inwieweit er durch den angeführten Dienst in seiner Leistungsfähigkeit am Klausurtag beeinträchtigt gewesen sein wolle.
7Die Rüge, der Dozent - Herr D. - habe andere Maßstäbe zugrunde gelegt, sei unsubstantiiert. Soweit der Antragsteller ausführe, dieser Dozent habe „regelmäßig“ etwa die Nennung von Paragraphen nicht gefordert, räume er selbst ein, dass Herr D. hierauf jedenfalls nicht gänzlich verzichtet habe. Zudem müssten Prüflinge davon ausgehen, dass es zu einem etwa krankheitsbedingten Wechsel des Korrektors komme und der dann zur Bewertung berufene Korrektor andere - prüfungsrechtlich nicht zu beanstandende - Maßstäbe anlege. Überdies lasse der Einwand des Antragstellers gänzlich unberücksichtigt, dass die Bewertung auch noch durch einen Zweitkorrektor erfolge. Vor diesem Hintergrund habe der Antragsteller davon ausgehen müssen, dass jedenfalls insoweit andere Maßstäbe gestellt werden könnten.
8Fehl gehe der Vorwurf, die Klausur eines Mitstudierenden sei erheblich besser bewertet worden, obwohl sie nach Dafürhalten des Antragstellers und seines Prozessbevollmächtigten ein deutlich schwächeres Leistungsbild zeige, als der entsprechende Prüfungsteil des Antragstellers. Ungeachtet dessen, dass es naturgemäß nicht auf die Einschätzung des Antragstellers oder seines Prozessbevollmächtigten vom Leistungsbild einer anderen Klausur ankomme, fehle es bereits an einer Vergleichbarkeit der beiden Prüfungsbewertungen. Ausweislich der zum Hauptsacheverfahren eingereichten Kopie eines Kommilitonen des Antragstellers sei dieser einem anderen Kurs zugeordnet gewesen und der maßgebliche Prüfungsteil Kriminalistik/Kriminaltechnik (KR/KT) von einem anderen Prüfer korrigiert worden als die Prüfungsarbeit des Antragstellers. Insgesamt verkenne der Vorwurf daher in mehrerer Hinsicht den jedem Korrektor eingeräumten prüfungsrechtlichen Bewertungsspielraum. So nehme der jeweilige Prüfer die Bewertung anhand von Maßstäben vor, die er in Bezug auf die konkrete Prüfungsaufgabe autonom erstellt. Sie beruhten auf einem Bezugssystem, das vor allem durch seine persönlichen Erfahrungen, Einschätzungen und Vorstellungen gebildet werde. Diese Maßstäbe müsse der Prüfer aus Gründen der Chancengleichheit auf die Bewertung aller Bearbeitungen derselben Prüfungsaufgabe anwenden. Auf ihrer Grundlage treffe er eine Vielzahl fachlicher und prüfungsspezifischer Wertungen; diese Wertungen setze er nach der Bedeutung, die er ihnen aufgabenbezogen beimesse, in ein Verhältnis zueinander. Vor diesem Hintergrund könne der Antragsteller hier aus dem pauschalen Hinweis auf die Bewertung eines Kommilitonen aus einem anderen Kurs durch einen anderen Korrektor auch nichts herleiten. In Anknüpfung daran greife auch der Einwand, die unterschiedliche Bewertung der Klausuren vom Antragsteller und seines Kommilitonen könne nur durch die Anwendung eines unterschiedlichen Bewertungsmaßstabs zulasten des Antragstellers erklärt werden, nicht durch. Eine Abweichung in fachspezifischer Hinsicht zeige der Antragsteller weder auf, noch sei eine solche ersichtlich. Selbst wenn im Übrigen hinsichtlich der prüfungsspezifischen Bewertung ein unterschiedlicher Maßstab der Korrektoren zugrunde gelegen hätte - wofür belastbare Anhaltspunkte weder aufgezeigt noch sonst ersichtlich seien -, ließe dies längst nicht die Schlussfolgerung der Fehlerhaftigkeit des für die Klausur des Antragstellers angelegten Bewertungsmaßstabs zu. Denn insoweit sei zu berücksichtigen, dass prüfungsspezifische Bewertungen einer verwaltungsgerichtlichen Kontrolle nur insoweit unterlägen, als sich die Frage stelle, ob der Prüfer die Prüfungsleistung vollständig und richtig zur Kenntnis genommen habe, sachwidrige Erwägungen in die Bewertung habe einfließen lassen, seine autonomen Bewertungsmaßstäbe einheitlich angewandt und allgemeingültige Bewertungsgrundsätze beachtet habe. Schließlich müssten die prüfungsspezifischen Wertungen und Gewichtungen nachvollziehbar sein; sie dürften insbesondere keine inhaltlichen Widersprüche enthalten. Belastbare Umstände dafür, der Korrektor des Antragstellers habe auch nur einen dieser Aspekte nicht beachtet oder fehlerhaft angewandt, seien nicht einmal im Ansatz substantiiert geltend gemacht oder ersichtlich.
9Auch inhaltliche Bewertungsfehler seien nicht ersichtlich. Die Rüge des Antragstellers, dass bis zum Anfertigen der Klausur waffenrechtliche Vorschriften noch gar nicht zum Lerninhalt gehört hätten, gehe fehl. Nach der Aufgabe 7 hätten die Prüflinge lediglich den Sachbeweis bezogen auf die Schusswaffe und die daran befindlichen beziehungsweise zu erwartenden Spuren analysieren sollen. Waffenrechtliche Vorschriften seien nicht Gegenstand der Aufgabenstellung gewesen. Dies habe auch der Korrektor KD G in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 9. Juni 2019 hervorgehoben. Soweit in den Randbemerkungen die von dem Antragsteller gewählte Methode des Fließtextes bemängelt worden sei, lasse auch dies keinen Bewertungsfehler erkennen. Der Korrektor Q. habe in seiner Stellungnahme vom 8. Juni 2019 hierzu festgestellt, dass insoweit die in den Vorlesungen vereinbarten und den Studierenden bekannten Standards gelten würden, die im Übrigen auch regelmäßig geübt würden.
10Schließlich dringe der Antragsteller nicht mit der Rüge durch, bestimmte Anforderungen wie etwa die Definition der Spontanäußerung seien von dem Dozenten D. nicht gelehrt worden. Es verstehe sich von selbst, dass nicht sämtlicher Prüfungsgegenstand einer Klausur zuvor in Unterrichtseinheiten (vor-)besprochen werden müsse. Vielmehr könne von Studierenden, die einen Bachelorabschluss anstrebten, erwartet werden, dass sie sich zulässigen Prüfungsstoff auch selbst aneigneten.
11Das hiergegen gerichtete Beschwerdevorbringen greift nicht durch. Ins Leere geht der Einwand des Antragstellers, die sofortige Rüge der von ihm aufgezeigten Mängel in der Aufgabenstellung und des Kartenmaterials habe ihm in der angespannten Prüfungssituation nicht abverlangt werden können. Das Verwaltungsgericht hat ihm nicht entgegengehalten, dass er diese Mängel nicht bereits in der Prüfungssituation gerügt hat. Es hat vielmehr tragend darauf abgestellt, dass er jedenfalls seiner Obliegenheit nicht nachgekommen sei, die von ihm angeführten Mängel vor der Bekanntgabe des Prüfungsergebnisses gegenüber der Prüfungsbehörde zu rügen. Soweit der Antragsteller meint, er habe aufgrund der „Hinweise zu Störungen durch inhaltliche Fehler in den Klausuren, formale Aufbaufehler und sonstige Unregelmäßigkeiten“, die u. a. vorsähen, dass etwaige Einwendungen nach der Klausur an das Prüfungsamt herangetragen werden könnten, annehmen dürfen, dass er Mängel erst im Widerspruchsverfahren aufzeigen müsse, ist dies nicht nachvollziehbar. Die Hinweise verhalten sich auch nach dem Vorbringen des Antragstellers gerade nicht zu der Frage, bis zu welchem Zeitpunkt und in welchem Verfahren Einwendungen an das Prüfungsamt herangetragen werden können. Im Übrigen verkennt der Antragsteller, dass es dem Prüfling obliegt, sich über die rechtlichen Vorgaben des Prüfungsablaufs und erst recht über das mögliche Vorgehen bei bereits eingetretener Störung zuverlässig - insbesondere durch Nachfragen beim Prüfungsamt - zu informieren.
12Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 14. Mai 2020 - 6 B 534/20 -, nicht veröffentlicht.
13Dass der Antragsteller um entsprechende Informationen nachgesucht hat, ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Auch in Anbetracht des Umstandes, dass es sich um eine Wiederholungsprüfung handelte, wäre ihm eine entsprechende Nachfrage ohne Weiteres zumutbar gewesen.
14Der von dem Antragsteller erhobene Einwand gegen die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zu der vermeintlich unterschiedlichen Belastung der Prüflinge aufgrund der Heranziehung zum Dienst an den Karnevalstagen führt ebenfalls nicht zum Erfolg der Beschwerde. Soweit der Antragsteller darauf verweist, dass er erst nach der Bekanntgabe des Prüfungsergebnisses von den ungleichen Bedingungen erfahren habe und seine Rüge daher nicht verspätet sei, ist dieser Vortrag unsubstantiiert. Insbesondere hat der Antragsteller auch im Beschwerdeverfahren nicht vorgetragen, geschweige denn glaubhaft gemacht, wann er erstmals davon erfahren hat, dass und welche anderen Prüfungsteilnehmer an den Karnevalstagen nicht zum Dienst herangezogen worden sind. Unabhängig davon ist jedoch auch nicht hinreichend dargetan, dass sich aus diesem Umstand eine relevante Verletzung der Chancengleichheit des Antragstellers ergibt. Der Antragsteller verweist mit seinem Beschwerdevorbringen darauf, dass es aufgrund der unterschiedlichen Belastung infolge der Heranziehung zum Dienst bzw. der Gelegenheit der nicht zum Dienst herangezogenen Prüflinge, unmittelbar vor der Prüfung ihr Wissen aufzufrischen, zu einem „abstrakten“ Vorteil und mithin zu einem Verstoß gegen den Grundsatz der Chancengleichheit gekommen sei. Dieser hänge davon ab, welche Form der Prüfungsvorbereitung der jeweilige Prüfling bevorzuge. Insoweit lässt der Antragsteller indes bereits außer Acht, dass die Prüfungsbedingungen für die betroffenen Prüflinge nicht völlig identisch sein müssen. Insbesondere bei einer größeren Teilnehmerzahl und der Vielzahl räumlicher, zeitlicher und personeller Gegebenheiten, die Prüfungen beeinflussen (können), wäre die Forderung nach vollständiger Identität der Prüfungsbedingungen, auch der Möglichkeiten der Prüfungsvorbereitung, irreal, zumal sich das Ausmaß der Auswirkungen solcher Umstände nach den Befindlichkeiten einzelner Kandidaten unterscheiden kann.
15Vgl. Kathke in: Schütz/Maiwald, Beamtenrecht - Kommentar, 26. UPD September 2020, 6.1.4.3.2.5 Mängel im Prüfungsverfahren, Rn. 487.
16Mit dem Verweis auf einen „abstrakten“ Vorteil trägt der Antragsteller überdies selbst keinen zu seinen Lasten eingetretenen Verstoß gegen den Grundsatz der Chancengleichheit vor, sondern führt selbst aus, dass dieser abstrakte Vorteil davon abhänge, welche Form der Prüfungsvorbereitung der einzelne Prüfling bevorzuge.
17Schließlich setzt sich der Antragsteller auch nicht mit der Erwägung des Verwaltungsgerichts auseinander, dass weder ersichtlich geschweige denn näher vorgetragen worden sei, inwieweit er durch den angeführten Dienst in seiner Leistungsfähigkeit am Klausurtag beeinträchtigt gewesen sei.
18Auch die Rüge des Antragstellers, bei einer Korrektur der Klausur durch den Dozenten D. wären die von diesem in der Vorbereitung auf die Klausur dargelegten Bewertungsmaßstäbe und Bearbeitungsanforderungen zur Anwendung gekommen, an die er - der Antragsteller - sich gehalten habe, greift nicht durch. Die in diesem Zusammenhang erhobenen Einwände, insbesondere dass nach § 12 Abs. 5 StudO BA grundsätzlich Prüferin oder Prüfer der jeweils Lehrende bzw. Ausbildende sei, ziehen die Erwägungen des Verwaltungsgerichts nicht durchgreifend in Zweifel, Prüflinge müssten davon ausgehen, dass es zu krankheitsbedingten Wechseln des Korrektors kommen könne und dass der dann zur Prüfung berufene Korrektor andere prüfungsrechtlich nicht zu beanstandende Maßstäbe anlege. Bei der vom Antragsteller insoweit in Bezug genommenen Vorschrift der Studienordnung handelt es sich zudem lediglich um eine Soll-Vorschrift, die gerade einen krankheitsbedingten Korrektorenwechsel nicht ausschließt. Auch der Einwand, das Verwaltungsgericht gehe von der unzutreffenden Annahme aus, dass die Bewertung stets noch durch einen Zweitkorrektor erfolge, und der in diesem Zusammenhang stehende Hinweis des Antragstellers auf § 13 Abs. 4 StudO BA, wonach eine Zweitkorrektur nur vorgesehen sei, wenn die Wiederholungen von schriftlichen Prüfungsformen schlechter als ausreichend (4,0) bewertet würden, führt nicht zum Erfolg der Beschwerde. Das Verwaltungsgericht hat jedenfalls zu Recht festgestellt, dass es unter den Voraussetzungen der genannten Vorschrift zu einer Zweitkorrektur kommen kann und der Antragsteller vor diesem Hintergrund davon hätte ausgehen müssen, dass insoweit andere Maßstäbe gestellt werden könnten. Die abschließenden Ausführungen in der Beschwerdebegründung bei einer Korrektur durch den Dozenten D. wäre es nicht zu einer Zweitkorrektur gekommen, da nicht davon auszugehen sei, dass die Klausur anhand dessen Maßstäben schlechter als ausreichend oder mit nicht bestanden bewertet worden wäre, sind rein spekulativ.
19Der Antragsteller dringt ebenfalls nicht mit seiner Rüge durch, das Verwaltungsgericht sei der unzutreffenden Annahme, dass nicht sämtlicher Prüfungsgegenstand in den Unterrichtseinheiten vorbesprochen werden müsse. Vielmehr sei nur das prüfungsrelevant, was auch gelehrt worden sei, und es könne andernfalls ein „in die Irre führen“ oder sogar eine Täuschung des Prüflings vorliegen. Das Verwaltungsgericht hat seine Ausführungen auf die erstinstanzlich erhobene Rüge des Antragsstellers bezogen, dass Herr D. die Definition der Spontanäußerung nicht gelehrt habe, und insoweit darauf hingewiesen, dass von Studierenden, die einen Bachelorabschluss anstrebten, erwartet werden könne, dass sie sich zulässigen Prüfungsstoff auch selbst aneigneten. Gegenüber dieser Erwägung ist unter den konkreten Gegebenheiten nichts zu erinnern.
20Ebenso wenig dringt der Antragsteller mit seinen Einwendungen gegen die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zur Vergleichbarkeit der Klausur des Antragstellers und der Klausur seines Kommilitonen sowie zu der Entwicklung der Beurteilungsmaßstäbe durch den jeweiligen Prüfer durch. Soweit der Antragsteller vorträgt, dass er und der fragliche Kommilitone nicht zwei unterschiedlichen Kursen zugeordnet gewesen seien, ergibt sich aus dem Deckblatt der Klausur des Antragstellers, dass dieser dem Kurs MH 17/53 angehörte, während das Deckblatt der Klausur des Kommilitonen den Kurs MH 17/52 ausweist. Des Weiteren entsprechen die vom Antragsteller beanstandeten Ausführungen des Verwaltungsgerichts zur Entwicklung der Beurteilungsmaßstäbe und der Überprüfbarkeit des prüfungsrechtlichen Beurtei-lungsspielraums der ständigen Rechtsprechung des Senats und sind nicht zu bean-standen. Auch ergibt sich aus den weiteren Einwänden des Antragsstellers kein Be-wertungsfehler zulasten des Antragstellers. Seine Rüge, er habe alle Gesichts-punkte, die der Kommilitone erkannt habe, ebenfalls erkannt und dargelegt, wobei seine Ausführungen zum Teil differenzierter gewesen seien, sodass sich eine derartige Abweichung der Bewertung sicherlich nicht mit dem dem jeweiligen Prüfer zustehenden Beurteilungsspielraum rechtfertigen lasse, greift in Anbetracht der Randbemerkungen des Korrektors an der Klausur des Antragstellers nicht durch. Es kann dahinstehen, ob die Behauptungen des Antragsstellers zur Differenziertheit seiner Ausführungen zutreffen, jedenfalls ergibt sich aus diesen Randbemerkungen, dass die Ausführungen in der Klausur zum Teil zueinander nicht konsistent sind und ist des Weiteren festzustellen, dass der Korrektor bei der Bearbeitung der Aufgabe 7, welche ebenfalls zum Prüfungsteil KR/KT gehört, in seinen Randbemerkungen erhebliche inhaltliche Kritik an den Ausführungen des Antragstellers aufzeigt, die vom diesem nicht substanziell in Zweifel gezogen wird.
21Der Einwand, es bestünden grundsätzliche Zweifel, ob die dem Prüfungsergebnis zugrundeliegende Prüfungsordnung überhaupt den verfassungsrechtlichen Anforderungen genüge und das Prüfungsergebnis aus diesem Grund keinen Bestand haben könne, führt ebenfalls nicht zum Erfolg der Beschwerde. Die Beschwerde legt einen Verstoß gegen die verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht hinreichend dar. Der Antragsteller führt an, dass Regelungen, die für die Aufnahme eines Berufs den Nachweis erworbener Fähigkeiten durch Bestehen einer Prüfung verlangten, als subjektive Berufszugangsbeschränkung einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung bedürften, und verweist auf Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts im Urteil vom 15. März 2017 - 6 C 46.15 -.
22Das Rechtsstaatsprinzip und das Demokratieprinzip des Grundgesetzes verpflichten den parlamentarischen Gesetzgeber, in dem durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Grundrechtsbereich die wesentlichen Entscheidungen über die Ausbildung und Prüfung selbst zu treffen. Es ist jedoch, so das Bundesverwaltungsgericht weiter, geklärt, dass neben Vorschriften über den Prüfungsstoff, das Prüfungssystem und die Einzelheiten des Prüfungsverfahrens auch die Festlegung der Bestehensvoraus-setzungen in aller Regel nicht zu diesen dem parlamentarischen Gesetzgeber vor-behaltenen Leitentscheidungen gehören. Insoweit wird den Anforderungen von Rechtsstaats- und Demokratieprinzip bereits dadurch hinreichend Genüge getan, dass der parlamentarische Gesetzgeber durch die Vorgabe von Ziel und Inhalt der Ausbildung die Regelungen auf untergesetzlicher Ebene nach Tendenz und Programm begrenzt und berechenbar macht, zumal die prüfungsrechtliche Rechtsetzung auch auf untergesetzlicher Ebene in weitreichendem Maße bereits durch Grundsätze gesteuert wird, die sich unmittelbar aus Art. 12 Abs. 1 GG, Art. 3 Abs. 1 GG und dem Rechtsstaatsprinzip ergeben.
23Vgl. BVerwG, Urteil vom 15. März 2017 - 6 C 46.15 -, NVwZ-RR 2017, 693 = juris Rn. 11 m. w. N.
24Hiervon ausgehend ist dem Beschwerdevorbringen kein tragfähiger Anhaltspunkt dafür zu entnehmen, dass der parlamentarische Gesetzgeber die für die vorliegend in Rede stehende Laufbahnprüfung geltenden Bestehensregelungen selbst festlegen musste bzw. die für die VAPPol II Bachelor maßgebliche landesrechtliche Ermächtigungsgrundlage - § 187 Abs. 2 LBG NRW in der bis zum 31. März 2009 geltenden Fassung (entsprechend § 111 Abs. 2 LBG NRW in der bis zum 21. April 2017 geltenden Fassung bzw. § 110 Abs. 2 LBG NRW in der seit dem 22. April 2017 geltenden Fassung) - den Anforderungen des Gesetzesvorbehalts nicht genügt.
25Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 1 und 2, 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG.
26Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 66 Abs. 3 Satz 3, 68 Abs. 1 Satz 5 GKG).
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Tenor
Die Antragsgegnerin wird im Wege einer einstweiligen Anordnung verpflichtet, die H. M. GmbH anzuweisen, dem Antragsteller die Nutzung der Veranstaltungsfläche „T.“, soweit diese nicht bereits anderweitig vermietet ist, für den Zeitraum vom ... November 2020 bis zum ... Dezember 2020 zu den üblichen Vertragsbedingungen zur Verfügung zu stellen.Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.Der Streitwert wird auf 5.000 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
1 Der Antragsteller begehrt den Zugang zum Festplatz T., die sich im Gemeindegebiet der Antragsgegnerin befindet.
2 Der Antragsteller ist der Landesverband Baden-Württemberg der A. Er plant die Durchführung von mehreren Parteitagen, auf denen jeweils Wahlversammlungen zur Aufstellung der Kandidatenlisten für die kommende Landtagswahl in Baden-Württemberg sowie für die Bundestagswahl vorgenommen werden sollen. Zu diesem Zweck soll auf dem Festplatz der T. vom ... November 2020 bis zum ... Dezember 2020 ein Zelt errichtet werden, in welchem die Wahlversammlungen stattfinden können. Hierzu werde eine Fläche von bis zu 6.000 m² benötigt.
3 Der Festplatz T. steht im Eigentum der Antragsgegnerin und hat eine Gesamtfläche von 30.000 m². Die Antragsgegnerin verpachtete den Platz mit Vertrag vom ... ... 2001 an die H. M. GmbH.
4 Der Gemeinderat der Antragsgegnerin fasste am ... 2008 einen Beschluss hinsichtlich der weiteren Nutzung des Festplatzes T. Dort heißt es unter anderem:
5 „1. Die Plätze T. und V. werden dahingehend entwidmet, dass ihre Eigenschaft als öffentliche Einrichtung aufgehoben wird.
6 2. Es wird zugestimmt, dass die H. M: GmbH im Rahmen ihrer zivilrechtlichen Zuständigkeit und Verfügungsmacht über diese beiden Plätze diese für Veranstaltungen nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten bewirtschaften kann, um daraus Einnahmen zu erzielen.“
7 An der H. M. GmbH sind neben der Antragsgegnerin auch der Verkehrsverein H. e. V., die Stadtinitiative H. e. V., die Gesellschaft zur Förderung des Gastgewerbes Baden-Württemberg mbH und der Landesverband der Schausteller und Marktkaufleute Baden-Württemberg e. V. beteiligt.
8 Der Gesellschaftsvertrag der H. M. GmbH enthält unter anderem folgende Regelungen:
9 „§ 2 Zweck der Gesellschaft und Gegenstand des Unternehmens
10 (1) Gegenstand des Unternehmens ist im Rahmen der kommunalrechtlichen Aufgabenstellung die Konzeption, die Organisation und die Durchführung eines ganzheitlichen Stadtmarketings für H. (...)
11 § 3 Stammkapital und Stammeinlagen
12 (1) (...)Die Beteiligung der Gesellschafter ergibt sich aus der jeweils gültigen Liste der Gesellschafter. (...)
13 § 11 Aufsichtsrat
14 (1) Der Aufsichtsrat besteht aus 13 Mitgliedern.(2) Dem Aufsichtsrat gehören an:
15 a) der Oberbürgermeister der Stadt H. kraft Amtes (...)b) 6 Mitglieder des Gemeinderats der Stadt H. (...)
16 § 12 Sitzungen des Aufsichtsrats
17 (1) Vorsitzender des Aufsichtsrats ist der jeweilige Oberbürgermeister der Stadt H. (...).
18 § 13 Zuständigkeit des Aufsichtsrats
19 (1) Der Aufsichtsrat überwacht die Tätigkeit der Geschäftsführung.(...)(4) Der Vorsitzende des Aufsichtsrats ist Vorgesetzter der Geschäftsführung.
20 Aus dem Beteiligungsbericht 2019 der Stadt H. ergibt sich, dass die Antragsgegnerin zu 61 % an der H. M. GmbH beteiligt ist.
21 Der Aufsichtsrat der H. M. GmbH beschloss am ... 2018 eine ab dem ... 2020 gültige Benutzungsordnung für den Festplatz T. Darin heißt es unter anderem:
22 „§ 1 Allgemeines
23 1. Die T. H. ist ein Festplatz zur Durchführung von Veranstaltungen jeglicher Art. (...)
24 § 2 Nutzung als Parkplatz
25 1. Zu Zeiten, an denen keine Veranstaltungen auf dem Festplatz T. stattfinden, steht der Platz als Parkfläche für PKWs zur Verfügung. (...)
26 § 3 Zulassungen von Veranstaltungen
27 1. Die Entscheidung, ob eine Veranstaltung zugelassen wird, trifft die H. M. GmbH, vertreten durch die Geschäftsführung, im Rahmen der Ausübung ihrer gewöhnlichen Geschäftstätigkeit.“
28 Mit Schreiben vom ... September 2020 beantragte der Antragsteller zur Durchführung mehrerer Parteiveranstaltungen die Überlassung des Festplatzes T. am ... Oktober, ... Oktober und vom ... bis zum ... Oktober 2020. Hierbei sollte das Zelt am ... Oktober 2020 auf- und ab dem ... Oktober 2020 wieder abgebaut werden. Am ... September 2020 teilte der Antragsteller mit, dass die Termine im Oktober zu kurzfristig seien und ob der Festplatz daher im Zeitraum vom ... November 2020 bis zum ... Dezember 2020 an zwei aufeinanderfolgenden Wochenenden zur Verfügung gestellt werden könne.
29 Die H. M. GmbH wies den Antragsteller mit Schreiben vom ... September 2020 darauf hin, dass ab dem ... September 2020 auf einer Teilfläche der T. eine Corona-Teststation errichtet werden solle und die Zeiträume vom ... November 2020 bis zum ... November 2020 sowie vom ... November 2020 bis zum ... Dezember 2020 grundsätzlich zur Verfügung stünden.
30 Mit Schreiben vom gleichen Tag reservierte der Antragsteller die Termine vom ... November 2020 bis zum ... November 2020 sowie vom ... Dezember 2020 bis zum ... Dezember 2020 zuzüglich jeweils vier bis fünf Tage für den Auf- und Abbau.
31 Am ... September 2020 schloss das Gesundheitsamt der Antragsgegnerin mit der H. M. GmbH einen Mietvertrag über eine Teilfläche des Festplatzes der T. zur Durchführung eines Corona-Testcenters ab dem ... September 2020 vorerst bis zum ... Dezember 2020.
32 Der Antragsteller reservierte am ... September 2020 zusätzlich den Zeitraum vom ... Dezember 2020 bis zum ... Dezember 2020, ebenfalls zuzüglich vier bis fünf Tagen für den Auf- und Abbau.
33 Mit Schreiben vom ... September 2020 lehnte die H. M. GmbH nach Rücksprache mit der Antragsgegnerin die Überlassung des Festplatzes T. an den Antragsteller ab. Sie führte hierzu insbesondere aus, dass der Festplatz T. derzeit mit einer Corona-Teststation belegt sei. Diese nehme zwar nicht die gesamte Fläche ein, es könne jedoch jederzeit eine Erweiterung der Fläche notwendig werden. Neben der Teststation sei die Errichtung einer Fieberambulanz geplant. Die verbleibende Restfläche könne nicht zur Verfügung gestellt werden, da diese als Parkfläche benötigt werde. Daneben bestünden vertragliche Verpflichtungen gegenüber einem Flohmarktbetreiber. Dieser habe Anspruch auf zehn weitere Termine bis Ende des Jahres 2020. Allerdings gebe es noch keine Terminsvereinbarung.
34 Auf eine entsprechende Nachfrage des Antragstellers bei der Antragsgegnerin teilte diese mit Schreiben vom ... September 2020 mit, dass die Abstimmung der verschiedenen Ämter zwar besser hätte laufen können, allerdings seien die Gründe für die Ablehnung der Veranstaltung berechtigt und nicht lediglich vorgeschoben.
35 Am ... Oktober 2020 hat der Antragsteller einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt.
36 Zur Begründung führt er aus, er beabsichtige die Veranstaltung von mehreren Parteitagen, auf denen jeweils die Wahlversammlung zur Aufstellung der Kandidatenlisten für die kommende Landtagswahl Baden-Württemberg am 14. März 2020 sowie für die Bundestagswahl 2021 vorgenommen werden solle. Die Versammlungen würden unter Einhaltung aller erforderlichen Infektionsschutz- und Hygienemaßnahmen durchgeführt werden. Dem Antragsteller stehe ein Anspruch auf Zugang zum Festplatz T. zu, da es sich um eine öffentliche Einrichtung handele und die geplante Veranstaltung vom Widmungszweck umfasst sei. Die Veranstaltung sei im Sinne der Corona-Verordnung rechtlich privilegiert und könne daher durchgeführt werden.
37 Er beantragt,
38 die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm den Festplatz auf der T. in H. vom ... November 2020 bis zum ... Dezember 2020 zur Verfügung zu stellen.
39 Die Antragsgegnerin beantragt,
40 den Antrag abzulehnen.
41 Sie ist der Auffassung, dass es sich beim Festplatz T. nicht um eine öffentliche Einrichtung handele. Durch den Gemeinderatsbeschluss vom ... 2008 sei diese wirksam entwidmet worden. Selbst wenn es sich um eine öffentliche Einrichtung handele, fehle es bisher an einer Verwaltungspraxis hinsichtlich der Vergabe der Fläche für Parteien. Außerdem werde auf einer Teilfläche des Festplatzes T. derzeit eine Corona-Teststation sowie eine Fieberambulanz betrieben. Die für diese Nutzung überlassene Teilfläche des Festplatzes sei nunmehr aus dem Pachtvertrag zwischen der Antragsgegnerin und der H. M. GmbH herausgenommen worden. Es sei jederzeit damit zu rechnen, dass die Teststation oder die Fieberambulanz erweitert werden müssten und eine Durchführung der Veranstaltung des Antragsstellers dann nicht mehr möglich sei. Der Antrag sei überdies teilweise unzulässig, da der Antragsteller bisher keinen Antrag auf Zulassung bis einschließlich zum ... Dezember 2020 gestellt habe.
42 Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte Bezug genommen.
II.
43 Der Antrag hat Erfolg.
44 1. Der Verwaltungsrechtsweg ist eröffnet.
45 Nach § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO ist der Verwaltungsrechtsweg in allen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art gegeben, soweit die Streitigkeiten nicht durch Bundesgesetz einem anderen Gericht ausdrücklich zugewiesen sind. Ob eine Streitigkeit öffentlich-rechtlich oder privatrechtlich ist, richtet sich, wenn eine ausdrückliche gesetzliche Rechtswegzuweisung fehlt, nach der sich aus dem Tatsachenvortrag des Antragstellers ergebenden Natur des Rechtsverhältnisses, aus dem der im Rechtsstreit geltend gemachte Anspruch hergeleitet wird.
46 Danach ist die vorliegende Streitigkeit eine öffentlich-rechtliche, nichtverfassungsrechtlicher Art, da der Antragsteller einen Anspruch auf Zugang zu einer öffentlichen Einrichtung geltend macht.
47 Nach der sogenannten Zwei-Stufen-Theorie ist bei der Benutzung von Einrichtungen der Gemeinde, die dem wirtschaftlichen, sozialen oder kulturellen Wohl ihrer Einwohner dienen (gemeindliche Einrichtungen), zu unterscheiden zwischen dem Anspruch auf Zugang zu der Einrichtung einerseits, der regelmäßig nach öffentlichem Recht zu beurteilen ist und darum nach § 40 Abs. 1 VwGO der Erkenntniszuständigkeit der Verwaltungsgerichte unterliegt, und den Modalitäten der Benutzung andererseits, die auch privatrechtlich ausgestaltet sein können und über die bei solcher Ausgestaltung gemäß § 13 Gerichtsverfassungsgesetz - GVG - vor den ordentlichen Gerichten gestritten werden muss (vgl. BVerwG, Beschluss vom 29. Mai 1990, Az.: 7 B 30.90, Rn. 4, juris). Diese Unterscheidung zwischen dem öffentlich-rechtlichen Streit über das „Ob“ und dem privatrechtlichen Streit über das „Wie“ der Benutzung der Einrichtung betrifft Einrichtungen der kommunalen Daseinsvorsorge jeder Art einschließlich solcher Einrichtungen, die die Gemeinde nicht selbst betreibt, sondern von einer von ihr begründeten und/oder beherrschten selbstständigen juristischen Person des Privatrechts betreiben lässt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 29. Mai 1990, Az.: 7 B 30.90, Rn. 4, juris). Der Bürger kann daher auch bei einer derartigen Fallgestaltung, wenn ihm der Zugang zu der Einrichtung verweigert wird, zur Durchsetzung seines öffentlich-rechtlichen Benutzungsanspruchs die Gemeinde vor dem Verwaltungsgericht verklagen. Gibt das Verwaltungsgericht der Klage statt, so muss ihm die Gemeinde den Zugang zu der Einrichtung, sofern sie darüber nicht ohnehin selbst entscheidet, durch Einwirkung auf die ihr unterstehende privatrechtliche Betriebsgesellschaft verschaffen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 29. Mai 1990, Az.: 7 B 30.90, Rn. 4, juris).
48 An dieser Stelle bedarf es noch keiner abschließenden Klärung, ob es sich bei dem Festplatz T. um eine öffentliche Einrichtung im Sinne des § 10 Abs. 2 GemO handelt. Begründet wird der Verwaltungsrechtsweg vielmehr allein dadurch, dass der Antragsteller die Antragsgegnerin als Gebietskörperschaft in Anspruch nimmt, weil er sie für verpflichtet hält, ihm den Festplatz nach öffentlich-rechtlichen Vorschriften zur Verfügung zu stellen beziehungsweise ihm Zugang zu verschaffen; ob die Voraussetzungen dafür vorliegen, ist keine Frage des Rechtswegs, sondern der Begründetheit des Antrags (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Januar 1974, Az.: VII C 25.71, Rn. 7, juris; Verwaltungsgerichthof Baden-Württemberg, Urteil vom 20. November 1979, Az.: I 2400/78, Rn. 17, juris).
49 2. Der Antrag ist zulässig.
50 a. Statthafte Antragsart ist eine einstweilige Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO.
51 Nach § 123 Abs. 5 VwGO gelten die Vorschriften der Absätze 1 bis 3 nicht für die Fälle der §§ 80 und 80a VwGO. Daher kommt eine einstweilige Anordnung nach § 123 VwGO nur in Betracht, wenn vorläufiger Rechtsschutz in Form der aufschiebenden Wirkung nicht möglich ist, vor allem also, wenn in der Hauptsache eine Verpflichtungsklage - auch in der Form der Versagungsgegenklage -, oder eine allgemeine Leistungsklage - auch in der Form der Unterlassungsklage zu erheben wäre (vgl. Puttler in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 123, Rn. 29).
52 Danach ist ein Antrag nach § 123 VwGO statthaft, da in der Hauptsache eine Leistungsklage auf Zugangsverschaffung zu erheben wäre. Da es sich bei der H. M. GmbH um eine von der Antragsgegnerin beherrschte juristische Person handelt, die Antragsgegnerin hält 61 % der Anteile der Gesellschaft und verfügt über eine Mehrheit im Aufsichtsrat, wäre der Anspruch, wenn er bestünde, durch eine entsprechende Ausübung der Gesellschafterrechte der Antragsgegnerin zu erfüllen.
53 b. Insbesondere besteht eine Antragsbefugnis entsprechend § 42 Abs. 2 VwGO. Auch im Verfahren zum Erlass einer einstweiligen Anordnung bedarf der Antragsteller einer Antragsbefugnis entsprechend § 42 Abs. 2 VwGO. Danach ist ein Antrag auf eine einstweilige Anordnung nur zulässig, wenn der Antragsteller geltend macht, durch Unterlassen der begehrten Handlung in seinen Rechten verletzt zu werden. Nach dem Vorbringen des Antragstellers muss es zumindest möglich erscheinen, dass dieser in eigenen Rechten verletzt ist oder ihm eine solche Verletzung droht (vgl. Puttler in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 123, Rn. 69). Dabei muss er die Verletzung einer Norm geltend machen, die nicht nur, aber zumindest auch den Schutz seiner Rechte bezweckt (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Juni 1993, Az.: 3 C 3.89, Rn. 35, juris).
54 Ein Anspruch auf Überlassung der gemieteten Räumlichkeiten ergibt sich zwar nicht aus § 10 Abs. 2 GemO. Diese Vorschrift gewährt nur den Gemeindeeinwohnern und - vermittelt über § 10 Abs. 4 GemO - nur den in der Gemeinde ansässigen juristischen Personen bzw. Personenvereinigungen einen Anspruch auf Zugang zu einer öffentlichen Einrichtung. Der Antragsteller hat seinen Sitz aber nicht in H., sondern in S.
55 Ein Anspruch auf Zugang zu der T. könnte sich jedoch aus § 5 Abs. 1 PartG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 und Abs. 3 GG sowie Art. 21 GG ergeben. Danach ist es geboten, politische Parteien gleich zu behandeln, wenn ein Träger öffentlicher Gewalt den Parteien kommunale Einrichtungen zur Nutzung zur Verfügung stellt. Das Recht auf Chancengleichheit ist verletzt, wenn ein Träger öffentlicher Gewalt die Nutzung einer öffentlichen Einrichtung einer Partei verweigert, obwohl er sie anderen Parteien einräumt oder eingeräumt hat (vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. März 2007, Az.: 2 BvR 447/07 - BVerfGK 10, 363; Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 16. Oktober 2014, Az.: 1 S 1855/14, Rn. 11, juris). Bei dem Antragsgegner handelt es sich um den Landesverband einer Partei.
56 c. Als solcher ist der Antragsteller gemäß § 61 Nr. 2 VwGO, § 3 Satz 2 PartG beteiligungsfähig.
57 Er ist einer der Landesverbände der Partei A. und somit ein Gebietsverband auf höchster Stufe und damit gemäß § 3 Satz 2 PartG beteiligungsfähig (vgl. VG Berlin, Urteil vom 6. Juni 2019, Az.: 1 K 571.17, Rn. 15, juris; VG Stuttgart, Urteil vom 21. Januar 2019, Az.: 4 K 8787/18. Rn. 18, juris).
58 d. Schließlich besteht das erforderliche Rechtschutzbedürfnis.
59 Ein Rechtschutzbedürfnis besteht, wenn der Antragsteller den begehrten Eilrechtsschutz mit einer einstweiligen Anordnung überhaupt erlangen kann und wenn eine einstweilige Anordnung zur Wahrung seiner Rechte erforderlich ist, insbesondere weil er den Rechtsschutz auf andere Weise nicht leichter und schneller erreichen kann (vgl. Puttler in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 123, Rn. 70).
60 Nach diesen Maßstäben dürfte ein Rechtschutzbedürfnis des Antragstellers gegeben sein. Ein einfacherer Weg zur Durchsetzung seines Begehrens dürfte nicht bestehen. Zwar hat der Antragsteller bei der H. M. GmbH ursprünglich nur eine Nutzung des Festplatzes T. bis zum ... Dezember 2020 angefragt (vgl. E-Mail vom ... September 2020, 14:03 Uhr). Allerdings dürfte eine erneute Anfrage hinsichtlich einer Nutzung bis zum ... Dezember 2020 nicht erforderlich gewesen sein, da aus der Ablehnung der H. M. GmbH erkennbar ist, dass diese eine Zulassung des Antragstellers auch insoweit nicht ermöglichen würde. Auch die Antragsgegnerin hat durch ihr Schreiben vom ... September 2020 deutlich gemacht, dass sie die Entscheidung der H. M. GmbH für zutreffend erachtet.
61 3. Der Antrag ist auch begründet.
62 Gemäß § 123 Abs. 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag auch vor Klageerhebung eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen, nötig erscheint (sog. Regelungsanordnung). Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist (vgl. § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO), dass einerseits ein Anspruch glaubhaft gemacht wird, dessen vorläufiger Sicherung die begehrte Anordnung dienen soll (Anordnungsanspruch), und dass andererseits die Gründe glaubhaft gemacht werden, die eine gerichtliche Eilentscheidung erforderlich machen (Anordnungsgrund).
63 Mit seinem Begehren erstrebt der Antragsteller der Sache nach allerdings keine vorläufige bzw. einstweilige Regelung, sondern eine Verpflichtung der Antragsgegnerin, die die Hauptsache vorwegnimmt. Eine solche Vorwegnahme der Hauptsache kommt nur ausnahmsweise in Betracht, wenn dies zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes geboten ist, d.h. wenn andernfalls schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre, und zugleich ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass der mit der Hauptsache verfolgte Anspruch begründet ist (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 30. Juli 2018, Az.: 9 S 1272/18 , juris Rn. 3).
64 a. Der Antragsteller kann sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auf einen Anordnungsanspruch berufen.
65 Ein Überlassungsanspruch gegenüber der Antragsgegnerin folgt aus § 5 PartG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 und Art. 21 Abs. 1 GG. Nach diesen Vorschriften ist es geboten, politische Parteien gleich zu behandeln, wenn ein Träger öffentlicher Gewalt den Parteien kommunale Einrichtungen zur Nutzung zur Verfügung stellt (vgl. Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 16. Oktober 2014, Az.: 1 S 1855/14, Rn. 11, juris). Der Antrag richtet sich auch gegen den richtigen Antragsgegner gemäß § 78 VwGO. Zwar wird der Festplatz T. durch die H. M. GmbH und somit eine juristische Person des Privatrechts betrieben. Allerdings hält die Antragsgegnerin 61 % der Anteile dieser GmbH und verfügt in deren weisungsberechtigten Aufsichtsrat über eine Mehrheit, sodass sie in der Lage ist die Geschäftsleitung der H. M. GmbH anzuweisen, dem Antragsteller den Zugang zur Einrichtung zu gewähren.
66 aa. Der Festplatz auf der T. in H. dürfte eine öffentliche Einrichtung im Sinne des § 10 Abs. 2 GemO sein.
67 Eine öffentliche Einrichtung im Sinne dieser Vorschrift ist gegeben, wenn die Gemeinde personelle und/oder sachliche Mittel im öffentlichen Interesse zur Förderung des wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Wohls durch Widmung zur unmittelbaren Benutzung durch die Einwohner zur Verfügung stellt. Die Widmung als öffentliche Einrichtung bedarf grundsätzlich keiner Form (vgl. Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Urteil vom 9. Januar 1996, Az.: 2 S 2757/95, Rn. 27, juris; Pautsch in Ade/Pautsch, Gemeindeordnung für Baden-Württemberg, 2018, § 10, Rn. 4). Sie kann durch eindeutige Willenserklärung im Wege eines Rechtssatzes oder eines Verwaltungsakts, aber auch als rechtlich nicht formalisierter Rechtsakt stillschweigend oder konkludent erfolgen, wenn ein entsprechender Behördenwille nach außen erkennbar ist. Fehlt es auch hieran, so wird vermutet, dass für die Allgemeinheit nutzbare kommunale Einrichtungen „öffentliche Einrichtungen“ sind. Diese Vermutung ist durch die Gemeinde nur widerlegbar, wenn sie den Nachweis führen kann, dass sich aus der eindeutigen Beschränkung der Bereitstellung ergibt, dass die Einrichtung als private Einrichtung betrieben werden soll (vgl. Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. September 1975, Az.: III A 1279/75, juris; VG Arnsberg, Urteil vom 20. August 2007, Az.: 14 K 274/07, Rn. 27, juris).
68 Nach diesen Maßstäben dürfte eine öffentliche Einrichtung vorliegen.
69 Denn der Festplatz T. steht den Einwohnern im Interesse der Förderung des wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Wohls jedenfalls durch konkludente Widmung zur unmittelbaren Benutzung zur Verfügung. Hierfür spricht zunächst die Beschreibung der Antragsgegnerin auf deren Internetseite. Danach ist der Festplatz T. „mit einer Fläche von knapp 30.000 m² der größte Veranstaltungsplatz H´s. Nicht nur Großveranstaltungen wie das H. Volksfest finden hier statt, sondern auch Circus-Gastspiele, Regionalmessen und Ausstellungen sowie Flohmärkte. Außerhalb der Veranstaltungszeiten wird die T. als Parkplatz genutzt (vgl. https://www....tourismus/tagungen-und-incentives/tagungslocations/T..html)“. Darüber hinaus spricht auch die derzeit geltende Benutzungsordnung des Festplatzes T., wonach grundsätzlich Veranstaltungen jeglicher Art zulässig sind, für das Vorliegen einer öffentlichen Einrichtung. Der Umstand, dass die T. durch die H. M. GmbH privatrechtlich bewirtschaftet wird, steht der Qualifizierung als öffentliche Einrichtung nicht entgegen. Solche Veranstaltungsflächen zu schaffen oder vorzuhalten ist keine gemeindliche Pflichtaufgabe, sondern eine freiwillige Selbstaufgabe der Antragsgegnerin, die solche Einrichtungen daher privatrechtlich oder öffentlich-rechtlich organisieren kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 21. Juli 1964, Az.: 1 C 60.61, DÖV 1964, 710).
70 Der Festplatz T. dürfte trotz des Gemeinderatsbeschlusses der Antragsgegnerin vom ... 2008 weiterhin als öffentliche Einrichtung gewidmet sein.
71 Ist die Widmung einer öffentlichen Einrichtung nicht formgebunden, bedarf auch die Entwidmung als "actus contrarius" keiner besonderen Form. Denn für die Schließung einer öffentlichen Einrichtung gelten dieselben Grundsätze wie für ihre Schaffung (vgl. Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 11. September 2020, Az.: OVG 12 S 30/20, Rn. 16, juris; VG Aachen, Beschluss vom 9. Mai 2017, Az.: 4 L 599/17, Rn. 33, juris). Beschließt eine Gemeinde, eine öffentliche Einrichtung nicht weiter zu betreiben, so ist darin eine Entwidmung zu sehen, es sei denn die tatsächliche Übung der Gemeinde verhält sich widersprüchlich. Bei freiwilligen Aufgaben entscheidet die Gemeinde nach pflichtgemäßem Ermessen, ob sie eine einmal errichtete öffentliche Einrichtung fortführt, schließt oder im Sinne einer materiellen Privatisierung die Trägerschaft der öffentlichen Einrichtung auf einen Privaten überträgt, ohne sich selbst für die Zukunft Einwirkungsbefugnisse vorzubehalten (vgl. Engel/Heilshorn, Kommunalrecht Baden-Württemberg, 11. Auflage 2018, § 21, Rn. 72; VG Bayreuth, Beschluss vom 13. Oktober 2016, Az.: B 5 E 16.679, Rn. 19, juris).
72 Danach dürfte der Festplatz T. nicht wirksam entwidmet worden sein. Zwar hat der Gemeinderat der Antragsgegnerin am ... 2008 beschlossen, dass die Plätze T. und V. dahingehend entwidmet würden, dass ihre Eigenschaft als öffentliche Einrichtung aufgehoben werde. Allerdings fehlt es an der erforderlichen Umsetzung des Gemeinderatsbeschlusses durch Realakt. Die T. wurde und wird auch nach diesem Gemeinderatsbeschluss weiter als Festplatz betrieben und nach wie vor von der H. M. GmbH vermietet. Die Antragsgegnerin besitzt weiterhin eine Einwirkungsbefugnis auf die H. M. GmbH, sodass sie - wie auch im vorliegenden Verfahren -Einfluss darauf nehmen kann, ob der Festplatz vermietet wird. Sowohl vor dem Gemeinderatsbeschluss am ... 2008 als auch danach dürfte sich an den Gesellschafterverhältnissen innerhalb der H. M. GmbH nichts geändert haben, da die Stadt nach wie vor eine Mehrheit im Aufsichtsrat hat und die prozentuale Mehrheit der Geschäftsanteile hält. Hinzu kommt, dass auch die Benutzungsordnung des Festplatzes T. - wie bereits aufgezeigt - dafür spricht, dass es sich um eine öffentliche Einrichtung handelt. Allein der Umstand, dass der Festplatz T. an eine juristische Person des Privatrechts verpachtet ist, ändert an ihrer Eigenschaft als öffentliche Einrichtung nichts (vgl. VG Bayreuth, Beschluss vom 13. Oktober 2016, Az.: B 5 E 16.679, Rn. 19, juris).
73 Selbst wenn die Entwidmung wirksam erfolgt sein sollte, dürfte die Gemeinde den Festplatz T., trotz ihres am ... 2008 gegenteilig erklärten Willens, erneut konkludent gewidmet haben. Der Festplatz T. wurde und wird auch nach dem Gemeinderatsbeschluss vom ... 2008 als Festplatz weiterbetrieben. Dabei handelt es sich nicht nur um eine vorübergehende Duldung der Weiterführung der Nutzung, sondern um eine bewusste Fortführung der Nutzung durch die H. M. GmbH, die nach wie vor durch die Antragsgegnerin beherrscht wird (vgl. zur nur vorübergehenden Duldung VG Aachen, Beschluss vom 9. Mai 2017, Az.: 4 L 599/17, Rn. 41, juris).
74 bb. Die vom Antragsteller angestrebte Nutzung des Festplatzes T. zur Durchführung eines Parteitags entspricht dem Zweck dieser Einrichtung.
75 Der nach § 5 Abs. 1 Satz 1 PartG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 und Abs. 3 Satz 1 sowie Art. 21 GG grundsätzliche gegebene Zulassungsanspruch (hier Verschaffungsanspruch) besteht nicht unbeschränkt. Vielmehr wird er durch den Zweck der öffentlichen Einrichtung, wie er in der Widmung zum Ausdruck kommt, begrenzt (vgl. Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 16. Oktober 2014, Az.: 1 S 1855/14, Rn. 12, juris). Fehlt es an einer ausdrücklichen Widmung durch Satzung oder Beschluss, kommt es maßgeblich auf die tatsächliche Vergabepraxis an, aus der sich eine konkludente Widmung für bestimmte Arten von Veranstaltungen ergeben könnte (vgl. Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 16. Oktober 2014, Az.: 1 S 1855/14, Rn. 14, juris).
76 Nach diesen Maßstäben hält sich die geplante Abhaltung von Parteitagen zur Vorbereitung und Durchführung der Aufstellungsversammlungen für die Landtags- und Bundestagswahl im Rahmen des Widmungszwecks, da die tatsächliche Vergabepraxis anhand der Benutzungsordnung der H. M. GmbH für den Festplatz T. H. in der ab dem ... Januar 2020 gültigen Fassung konkretisiert wurde und diese Benutzungsordnung eine solche Veranstaltung erfassen dürfte. Danach steht die T. für die Durchführung von Veranstaltungen jeglicher Art und somit auch Parteiveranstaltungen zur Verfügung. § 1 Abs. 1 der Benutzungsordnung spricht insoweit explizit von „Veranstaltungen jeglicher Art“. Da sich in den nachfolgenden Bestimmungen kein Ausschluss hinsichtlich der Veranstaltung von Parteitagen findet, ist davon auszugehen, dass solche vom Widmungszweck umfasst sind. In den §§ 5 - 8 der Benutzungsordnung finden sich weitergehende Anforderungen an Zirkusunternehmen (§ 5), Floh-, Trödel-, und sonstige Marktveranstaltungen (§ 6), die Zulassung von Volksfesten oder volksfestähnlichen Veranstaltungen (§ 7) sowie an die Zulassung von Messen und Ausstellungen (§ 8). Da hier jedoch keine Bestimmungen zur Veranstaltung von Parteitagen getroffen wurden, spricht die Regelungssystematik der Benutzungsordnung dafür, dass diese ohne besondere Einschränkungen zulässig sind. Demnach dürfte es nicht darauf ankommen, dass der Festplatz T. seit dem Beschluss des Gemeinderats vom ... 2008 nach Angaben der Antragsgegnerin bisher nicht zur Durchführung von Parteitagen zur Verfügung gestellt worden sei. Wie sich aus einem Besprechungsprotokoll über eine Dezernentenbesprechung der Antragsgegnerin vom ... Oktober 2020 ergibt, geht sie selbst davon aus, dass die Benutzungsordnung des Festplatzes T. der geplanten Veranstaltung des Antragstellers nicht entgegengehalten werden kann.
77 cc. Dem Anspruch des Antragsgegners kann auch nicht der Einwand der Kapazitätserschöpfung entgegengehalten werden.
78 Die Antragsgegnerin hat nicht überzeugend dargelegt, dass die derzeit bestehende Nutzung eines Teils des Festplatzes T. als Corona-Teststation nebst Fieberambulanz dem Verschaffungsanspruch des Antragstellers entgegensteht. Aus dem von der Antragsgegnerin vorgelegten Vertrag der H. M. GmbH mit dem Gesundheitsamt der Antragsgegnerin über die Vermietung einer Teilfläche des Festplatzes T. ergibt sich nicht, dass die Veranstaltung eines Parteitags auf der verbleibenden Fläche des Festplatzes T. in dem geplanten Umfang ausgeschlossen wäre. Zwar ist aus dem von der Antragsgegnerin vorgelegten Mietvertrag der H. M. GmbH mit dem Gesundheitsamt der Antragsgegnerin nicht ohne Weiteres ersichtlich, welcher Anteil der Flächen des Festplatzes T. bereits beansprucht wird. Das Gericht entnimmt aber den von der Antragsgegnerin vorgelegten Plänen, dass nur eine Fläche vom nördlichen Ende des Festplatzes bis zur Höhe des T.-turms zur Verfügung gestellt wurde (vgl. Anlage A3, A27 und A 28 der Antragsgegnerin zum Schriftsatz vom ... Oktober 2020). Die übrige Fläche im Süden ist nach dem Verständnis des Gerichts nicht von der derzeitigen vertraglichen Vereinbarung umfasst und dürfte demnach für die geplante Veranstaltung des Antragstellers in einer Größenordnung von bis zu 6.000 m² ausreichen.
79 Die Erwägungen der Antragsgegnerin, die Corona-Teststation und Fieberambulanz erweitern zu müssen, sind zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts zu unbestimmt, um sie dem Anspruch des Antragstellers entgegenzuhalten. Aus dem von der Antragsgegnerin vorgelegten Vertrag zwischen ihr und der H. M. GmbH ergibt sich lediglich, dass für den Betrieb der Corona-Teststation eine Fläche an die Stadt vermietet wurde. Hingegen hat die Antragsgegnerin keine Vereinbarung zwischen ihr und der H. M. GmbH getroffen, die eine Möglichkeit zur Ausdehnung der bereits genutzten Fläche für die Teststation enthält.
80 Soweit die Antragsgegnerin vorgetragen hat, dass sie den von ihr gemieteten Teil der Fläche aus dem Pachtvertrag mit der H. M. GmbH herausgenommen habe, um dort die Corona-Teststation sowie die Fieberambulanz zu betreiben, ist dies anhand der vorgelegten Unterlagen nicht nachvollziehbar. Immerhin hat sie einen Mietvertrag zwischen ihrem Gesundheitsamt und der H. M. GmbH über diese Teilfläche vorgelegt. Selbst wenn die Antragsgegnerin die für die Corona-Teststation und Fieberambulanz genutzte Fläche aus ihrem Pachtvertrag mit der H. M. GmbH jedoch herausgenommen haben sollte, stünde die übrige Fläche nach wie vor für die Veranstaltung des Antragstellers zur Verfügung.
81 Auch von Seiten der H. M. GmbH wird die Durchführbarkeit der geplanten Veranstaltung neben der bestehenden Teststation sowie der geplanten Fieberambulanz nicht in Frage gestellt. Soweit diese die Ablehnung der Zulassung des Antragstellers damit begründet, dass man die restliche Fläche des Festplatzes T. als Parkplatz benötigen würde, dürfte die Nutzung der Fläche als Parkplatz der Nutzung des Festplatzes T. durch den Antragsteller nicht entgegenstehen. Insoweit ergibt sich aus § 2 der Benutzungsordnung, dass zu Zeiten, an denen keine Veranstaltungen stattfinden, der Platz als Parkfläche für PKWs zur Verfügung steht. Daraus wird deutlich, dass der Nutzung als Parkplatz keine Priorität gegenüber einer etwaigen Vermietung zukommt und einer solchen damit auch nicht entgegengehalten werden kann. Wäre eine dauerhafte teilweise Benutzung des Festplatzes T. als Parkplatz gewollt gewesen, hätte dies in der Benutzungsordnung geregelt werden müssen.
82 Schließlich dürften etwaige vertragliche Verpflichtungen der H. M. GmbH gegenüber einem Flohmarktbetreiber dem Anspruch des Antragstellers nicht entgegenstehen. Nach Auskunft der H. M. GmbH stehen derzeit keine verbindlichen Flohmarkttermine fest (vgl. E-Mail der H. M. GmbH vom ... September 2020, 9:53 Uhr). Hinzu kommt, dass nach Angaben der H. M. GmbH die Veranstaltung eines Flohmarkts neben dem Betrieb der Corona-Teststation nicht in Betracht komme.
83 dd. Der Anspruch des Antragstellers wird auch nicht durch die derzeit geltende Corona-Verordnung (CoronaVO) des Landes Baden-Württemberg vom 23. Juni 2020 in der ab dem 2. November 2020 gültigen Fassung in Frage gestellt.
84 Nach § 1a Abs. 1 CoronaVO gehen die Regelungen des § 1a Absätze 2 bis 9 CoronaVO den übrigen Regelungen der Verordnung und der aufgrund dieser Verordnung erlassenen Rechtsverordnungen vor, soweit diese abweichende Angaben enthalten. Die Beschränkungen des § 1a Abs. 2 und Abs. 3 CoronaVO finden gemäß § 1a Abs. 4 CoronaVO jedoch keine Anwendung auf Versammlungen nach § 11 CoronaVO. Nach § 11 CoronaVO sind abweichend von §§ 9 und 10 CoronaVO Zusammenkünfte zulässig, die der Wahrnehmung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit nach Art. 8 GG zu dienen bestimmt sind. Nach Art. 8 Abs. 1 GG haben alle Deutschen das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln. Eine Versammlung im Sinne des Art 8 GG ist eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24. Oktober 2001, Az.: 1 BvR 1190/90, 1 BvR 2173/93, 1 BvR 433/96, BVerfGE 104, 92 (104), Rn. 41, juris; BVerfG, Urteil vom 22. Februar 2011, Az.: 1 BvR 699/06, BVerfGE 128, 226 (250), Rn. 63, juris; Höfling in Sachs, GG, 8. Auflage 2018, Art. 8, Rn. 17).
85 Nach diesen Maßstäben dürfte es sich bei der geplanten Veranstaltung des Antragstellers jedenfalls im Hinblick auf die Vorbereitung und Durchführung der Aufstellungsversammlung zur Wahl der Bewerber für die Landtagswahl um eine schützenswerte Versammlung handeln. Geplant ist eine Zusammenkunft mehrerer Personen, die auf unmittelbare Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichtet ist. Denn nach § 1 Abs. 2 PartG wirken Parteien an der Bildung des politischen Willens des Volkes auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens mit, indem sie insbesondere auf die Gestaltung der öffentlichen Meinung Einfluss nehmen, die politische Bildung anregen und vertiefen, die aktive Teilnahme der Bürger am politischen Leben fördern, zur Übernahme öffentlicher Verantwortung befähigte Bürger heranbilden, sich durch Aufstellung von Bewerbern an den Wahlen in Bund, Ländern und Gemeinden beteiligen, auf die politische Entwicklung in Parlament und Regierung Einfluss nehmen, die von ihnen erarbeiteten politischen Ziele in den Prozess der staatlichen Willensbildung einführen und für eine ständige lebendige Verbindung zwischen dem Volk und den Staatsorganen sorgen. Da das Volk an der Ausübung der Staatsgewalt in Gestalt von Wahlen und Abstimmungen teilnimmt (Art. 20 Abs. 2 GG) und die Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken, ist ihre zentrale Rolle bei Wahlen verfassungskräftig festgelegt (vgl. Ipsen in Sachs, GG, 8. Auflage 2018, Art. 21, Rn. 23).
86 Soweit der Antragsteller weit über 1.200 Personen bei seinen Veranstaltungen insgesamt erwartet, dürfte auch insoweit die CoronaVO nicht entgegenstehen. Diese gibt für Versammlungen nach Art. 8 GG keine Höchstteilnehmerzahl vor. Gleichwohl dürften bei der Vorbereitung und Durchführung der Mitgliederversammlungen des Antragstellers Maßnahmen zum Infektionsschutz zu beachten sein (vgl. § 11 Abs. 2 CoronaVO). Den Ordnungsbehörden bleibt es unbenommen, aus Infektionsschutzgründen im Einzelfall Auflagen zu erlassen oder, wenn der Infektionsschutz unter keinen Umständen eingehalten werden kann, die Aufstellungsversammlung zu verbieten.
87 ee. Die bereits erfolgte Vermietung des Festplatzes T. an die Antragsgegnerin zur Errichtung einer Corona-Teststation und einer Fieberambulanz dürfte dem Anspruch des Antragstellers zwar nicht entgegenstehen, allerdings kann der Antragsteller die Fläche des Festplatzes T. nur insoweit beanspruchen, als diese nicht bereits an die Antragsgegnerin vermietet ist.
88 b. Schließlich besteht auch ein Anordnungsgrund.
89 Ein Anordnungsgrund ist gegeben, wenn es dem Antragsteller unzumutbar ist, den Abschluss des Hauptsacheverfahrens abzuwarten. Dies ist nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO jedenfalls dann der Fall, wenn ein Recht des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert wird (vgl. Puttler in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 123, Rn. 80, 81).
90 Nach diesen Maßstäben ist es dem Antragsteller nicht zumutbar, den Abschluss eines Hauptsacheverfahrens abzuwarten.
91 Die vom Antragsteller ab dem ... November 2020 geplante Veranstaltung hängt von der Gewährung gerichtlichen Rechtschutzes ab. Es dürfte dem Antragsteller im Hinblick auf die Regelung des § 22 LWO sowie die bevorstehenden Weihnachtsfeiertage nicht zumutbar sein, die geplante Veranstaltung zu verschieben. Nach § 22 Abs. 1 LWO fordert der Landeswahlleiter durch Bekanntmachung im Staatsanzeiger für Baden-Württemberg zur Einreichung von Wahlvorschlägen in den Wahlkreisen auf und gibt dabei an, bis zu welchem Zeitpunkt Wahlvorschläge spätestens bei den Kreiswahlleitern eingereicht werden müssen. Vorliegend sind die Wahlvorschläge bis spätestens Donnerstag, den ... Januar 2021, 18:00 Uhr, schriftlich beim zuständigen Kreiswahlleiter einzureichen (vgl. https://im.baden-wuerttemberg.de/de/land-kommunen/lebendige-demokratie/wahlen/landtagswahl-2021/). Da der Antragsteller für die Durchführung der geplanten Veranstaltung nach eigenen Angaben drei Wochenenden benötigt, kommt eine Verschiebung nicht in Betracht.
92 4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
93 5. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1 GKG in Anlehnung an Nr. 22.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Eine Herabsetzung des Streitwerts im Hinblick auf die Vorläufigkeit des beantragten Rechtsschutzes (Nr. 1.5. des Streitwertkatalogs) kam im Hinblick darauf, dass der Rechtsschutzantrag auf eine Vorwegnahme der Hauptsache und damit auf eine endgültige Entscheidung gerichtet ist, nicht in Betracht.
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Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Leistung einer Sicherheit in Höhe von 110 % des Vollstreckungsbetrages abwenden, wenn nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
1T a t b e s t a n d
2Der Kläger ist am 00.00.1973 in Q. /Russland geboren. Sein Vater ist der am 00.00.1941geborene Herr Y. U. , seine Mutter die am 00.00.1943 geborene Frau M. U. , geb. U1. . Als Großeltern väterlicherseits sind der 1898 geborene Y. U. und die 1904 geborene M. U. , geb. T. angegeben. Im Antrag aus dem Jahr 2015 ist die Großmutter mit dem Vornamen M1. und dem Geburtsdatum 00.00.1911 vermerkt. Die Großeltern verstarben 1979 bzw. 1998.
3Der Kläger beantragte mit Datum vom 06.10.2003 beim Bundesverwaltungsamt (BVA) erstmals die Erteilung eines Aufnahmebscheides nach dem Bundesvertriebenengesetz (BVFG). Er sei deutscher Volkszugehöriger. In seinem ersten Inlandspass sei die deutsche Nationalität eingetragen gewesen. Auch sein Vater und die Großmutter väterlicherseits seien deutsche Volkszugehörige. Er habe im Elterhaus von Kind an Deutsch wie Russisch gesprochen. Deutsch sei ihm vom Vater, Verwandten und in der Schule vermittelt worden. Heute spreche er selten Deutsch und häufig Russisch. Er verstehe jedoch auf Deutsch alles und seine Sprachfertigkeiten reichten für ein einfaches Gespräch aus. Als einzubeziehende Personen waren im Antrag die damalige Ehefrau P. U. , geb. 00.00.1975 sowie die Tochter O. U. , geb. 00.00.2000, angegeben.
4Der Kläger unterzog sich am 14.07.2004 im Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland in Nowosibirsk einem Sprachtest. Dort wurde eine Vermittlung der deutschen Sprache im Elternhaus verneint. Die Sprachtesterin kam zu dem Ergebnis, dass der Kläger lediglich über sehr geringe bzw. keine deutschen Sprachkenntnisse verfüge.
5Mit Bescheid vom 28.03.2007 lehnte das BVA den Aufnahmeantrag des Klägers ab. Der Kläger sei nicht deutscher Volkszugehöriger, weil er nicht von deutschen Staatsangehörigen oder deutschen Volkszugehörigen abstamme. Die deutsche Volkszugehörigkeit des Vaters habe nicht festgestellt werden können. Die Mutter sei russosche Volkszugehörige. Überdies habe man die familiäre Vermittlung der deutschen Sprache nicht feststellen können. Ausweislich des Auslandsrückscheins ging der Bescheid dem Kläger am 10.04.2007 zu. Widerspruch wurde nicht erhoben.
6Unter dem 18.09.2015 übersandte der Kläger durch einen im Bundesgebiet lebenden Cousin ein weiteres ausgefülltes Antragsformular.
7Mit Bescheid vom 11.04.2017 deutete das BVA dies als Antrag auf ein Wiederaufgreifen des abgeschlossenen Aufnahmeverfahrens und lehnte den so verstandenen Antrag ab. Eine Änderung der Rechtslage zugunsten des Klägers sei nicht erfolgt, weil die Änderungen das Merkmal „Abstammung“ von einem deutschen Volkszugehörigen unberührt gelassen hätten.
8Der Kläger erhob hiergegen Widerspruch und verwies auf die Änderung zu den Voraussetzungen des Merkmals „Sprache“. Hinsichtlich des Merkmals „Abstammung“ sei der Ablehnungsbescheid fehlerhaft und könne jedenfalls im Ermessenswege aufgehoben werden.
9Mit Widerspruchsbescheid vom 04.12.2017 wies das BVA den Widerspruch des Klägers als unbegründet zurück und bekräftigte die Begründung des Ablehnungsbescheides.
10Der Kläger hat am 05.01.2018 Klage erhoben.
11Mit Beschluss vom 06.08.2018 hat das Gericht auf übereinstimmenden Antrag der Beteiligten das Ruhen des Verfahrens mit Blick auf das anhägige Verfahren des Vaters des Klägers (7 K 4644/18) angeordnet. Nach Klageabweisung erster Instanz erteilte das BVA dem Vater des Klägers während des Verfahrens auf Zulassung der Berufung einen Aufnahmebescheid. Der Vater des Klägers nahm daraufhin die Klage am 13.08.2020 zurück. Der Einstellungsbeschluss des OVG NRW datiert vom 14.08.2020 (11 A 1532/19).
12Nach Aufhebung des Beschlusses über das Ruhen des Verfahrens begründet der Kläger die vorliegende Klage damit, dass mit der Erteilung des Aufnahmebescheides an den Vater auch seine Abstammung von einem deutschen Volkszugehörigen feststehe. Hierdurch sei auch eine Änderung der Sachlage eingetreten. Zumindest könne eine Abstammung von einem deutschen Volkszugehörigen im Sinne eines generationsübergreifenden Abstammungsbegriffs nunmehr von der Großmutter mütterlicherseits abgeleitet werden.
13Der Kläger beantragt,
14die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesverwaltungsamtes vom 11.04.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.12.2017 zu verpflichten, das Verwaltungsverfahrens wiederaufzugreifen und ihm einen Aufnahmebscheid nach dem BVFG zu erteilen.
15Die Beklagte beantragt,
16 die Klage abzuweisen.
17Durch die Erteilung eines Aufnahmebescheides an den Vater des Klägers sei keine Änderung der Sachlage zugunsten des Klägers eingetreten, weil sich die für die Bestimmung der Abstammung erforderlichen Umstände nach der Rechtslage im Zeitpunkt der Geburt des Aufnahmebewerbers bestimmten, die späteren Änderungen nicht mehr zugänglich seien.
18Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des BVA (3 Bände) Bezug genommen.
19E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
20Die Klage ist unbegründet. Der Bescheid des BVA vom 11.04.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.12.2017 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Wiederaufgreifen des bestandskräftig abgeschlossenen Aufnahmeverfahrens und Erteilung eines Aufnahmebescheides.
21Nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG hat die Behörde auf Antrag des Betroffenen über die Aufhebung und Änderung eines unanfechtbaren Verwaltungsaktes zu entscheiden, wenn sich die dem Verwaltungsakt zugrunde liegende Sach- und Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat.
22Dies ist nicht der Fall. Denn eine nachträgliche Änderung der Sach- oder Rechtslage zugunsten des Betroffenen liegt vor, wenn sich die für den ergangenen Verwaltungsakt entscheidungserheblichen Rechtsnormen oder tatsächlichen Grundlagen geändert haben, sodass die Änderung eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung erfordert oder doch ermöglicht. Die Sach- oder Rechtslage muss sich hinsichtlich solcher Umstände geändert haben, die für den bestandskräftigen Verwaltungsakt tatsächlich maßgeblich waren. Nicht ausreichend ist die Änderung tatsächlicher oder rechtlicher Voraussetzungen für den mit der Verpflichtungsklage erstrebten Verwaltungsakt, die für die bestandskräftige Ablehnung nicht (allein) ausschlaggebend waren. Ist ein Verwaltungsakt – wie hier der Ablehnungsbescheid vom 28.03.2007 – auf mehrere selbständig tragende Ablehnungsgründe gestützt, liegt eine entscheidungserhebliche Änderung der Sach- bzw. Rechtlage nur dann vor, wenn sie sich auf alle Ablehnungsgründe auswirkt. Denn hinsichtlich eines nicht von Wiederaufnahmegründen betroffenen Ablehnungsgrundes bleibt die Bestandskraft des ablehnenden Bescheides erhalten und steht einer neuen Sachentscheidung entgegen,
23vgl. vgl. BVerwG, Urteil vom 20. 11. 2018 - 1 C 23.17 -, juris, Rn. 13 und Urteil vom 20.11.2018 - 1 C 25/17 -, juris, Rn. 18.
24Der Ablehnungsbescheid vom 28.03.2007 war auch auf die nach seinerzeitiger Auffassung des BVA fehlende Abstammung von zumindest einem deutschen Volkszugehörigen gestützt. Angesprochen war damit der Vater, dessen deutsche Volkszugehörigkeit nicht festgestellt werden konnte, was zur Ablehnung des Aufnahmeantrages führte. Es unterliegt keinem durchgreifenden Zweifel, dass damit eine Entscheidung über das Tatbestandsmerkmal „Abstammung von einem deutschen Volkszugehörigen“ getroffen war.
25Eine Änderung der Rechtslage ist durch das am 14. September 2013 in Kraft getretene 10. BVFG-Änderungsgesetz (BGBl. I S. 3554) liegt im Hinblick auf das den Bescheid (auch) tragende Abstammungsmerkmal nicht eingetreten. Die mit dem Änderungsgesetz erfolgten Erleichterungen der Anforderungen an das Bekenntnis des Aufnahmebewerbers zum deutschen Volkstum und an die Vermittlung deutscher Sprachkenntnisse ließen das Merkmal der Abstammung von einem deutschen Volkszugehörigen oder deutschen Staatsangehörigen unberührt.
26Vgl. BVerwG, Urteil vom 29.10.2019 - 1 C 43/18 -, juris, Rn. 16 und Urteil vom 20.11.2018 - 1 C 24.17 - Rn. 16; OVG NRW, Beschluss vom 17.01.2019 - 11 A 1863/17 -; VG Köln, Urteil vom 10.07.2018 - 7 K 12955/17 -, juris, Rn. 43.
27Denn das 10. Änderungsgesetz hat im Hinblick auf diese Frage keine Neuregelung getroffen. Dies bedeutet, dass es hinsichtlich des Merkmals der Abstammung des Aufnahmebewerbers von einem deutschen Volkszugehörigen oder Staatsangehörigen keine Änderung der Rechtslage durch nachfolgende Gesetze geben kann, die die Anforderungen an die deutsche Volkszugehörigkeit des Aufnahmebewerbers für die Zukunft modifizieren. Deshalb kommt es vorliegend auch nicht darauf an, ob eine der Abstammungspersonen die Voraussetzungen der deutschen Volkszugehörigkeit nach § 6 Abs. 2 BVFG in der Fassung des 10. Änderungsgesetzes erfüllen würde. Eine zum Wiederaufgreifen des Verwaltungsverfahrens führende Änderung der Rechtslage kann dabei auch nicht aus dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 29.10.2019 abgeleitet werden. Die Erkenntnis, dass sich die Bewertung der Abstammung nach der Rechtslage im Zeitpunkt der Geburt des Aufnahmebewerbers richtet, bedeutet die erstmalige Klärung einer bis dahin zumeist nicht problematischen und deshalb ungeklärten Rechtsfrage. Die erstmalige Beantwortung einer ungeklärten Rechtsfrage durch die höchstrichterliche Rechtsprechung begründet ebenso wie die Änderung dieser Rechtsprechung regelmäßig keine Änderung der Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG. Ein Wiederaufgreifen eines bestandskräftigen Verwaltungsaktes ist nur im Fall eines Wandels der normativen Bestimmung, nicht aber im Fall einer Änderung der Norminterpretation vorgesehen,
28vgl. BVerwG, Urteil vom 20.11.2018 - 1 C 25/17 -, juris, Rn.17 und Urteil vom 13.12.2011 - 5 C 9.11 -, juris, Rn. 27.
29Andernfalls stünde jede bestandskräftige Verwaltungsentscheidung unter dem Vorbehalt späterer Änderung der Rechtsprechung.
30Das Bundesverwaltungsgericht knüpft für die Auslegung des Begriffs der „Abstammung“ in § 6 Abs. 2 BVFG und in § 4 Abs. 1 Nr. 3 BVFG zunächst an das Merkmal der „Geburt“ an. Daraus leitet es ab, dass es für die Frage, ob jemand von deutschen Volkszugehörigen oder deutschen Staatsangehörigen abstamme, auch auf den Zeitpunkt der Geburt ankommen müsse. Dieses Ergebnis wurde unter Hinweis auf den Zweck der Regelung des § 4 Abs. 1 Nr. 3 BVFG bestätigt. Die Vorschrift des § 4 Abs. 1 Nr. 3 BVFG, die die Voraussetzungen für die Anerkennung des Spätaussiedlerstatus formuliert, bezwecke sicherzustellen, dass der Aufnahmebewerber seine Abstammung auf einen bei Kriegsende im Aussiedlungsgebiet lebenden und damit von den Vertreibungsmaßnahmen potentiell betroffenen deutschen Volkszugehörigen zurückführen könne. Es sei daher nur sinnvoll, dass die Volkszugehörigkeit dieser Bezugsperson nach den Kriterien des alten Rechts, das maßgeblich auf Umstände bei Beginn der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen abstelle, geprüft werde. Wenn das Bundesverwaltungsgericht aber den Wortlaut des Begriffs der „Abstammung“ mit seinem Bezug zum Merkmal der „Geburt“ und den Schutzzweck des § 4 Abs. 1 Nr. 3 BVFG zur Begründung der gefundenen Auslegung heranzieht, dann stellt es auf Regelungen ab, die seit dem Inkrafttreten des Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes vom 02.06.1993 (BGBl. I S. 829) am 02.01.1993 und der erstmaligen Definition der Personengruppe der „Spätaussiedler“ im BVFG bis heute unverändert geblieben sind. Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht ausgeführt, die Anknüpfung des Abstammungsmerkmals an die Rechtslage im Zeitpunkt der Geburt des Antragstellers erweise sich „auch im Ergebnis als sachgerecht“, weil der geltende § 6 Abs. 2 BVFG auf die veränderte Situation der jetzigen Aufnahmebewerber zugeschnitten sei und nicht auf vorangegangene Generationen, die zumeist nicht selbst aussiedeln wollten und teilweise schon verstorben seien. Damit wird aber nicht zum Ausdruck gebracht, dass der Gesetzgeber mit der Neufassung des § 6 Abs. 2 BVFG das Abstammungsmerkmal verändert habe. Vielmehr wird im Gegenteil mit der Bezugnahme auf das 10. Änderungsgesetz nur die Auffassung bestätigt, dass gesetzliche Veränderungen der übrigen Anforderungen an Spätaussiedlerbewerber (Bekenntnis, Sprache) sich nicht auf das Abstammungsmerkmal auswirken können, weil Anpassungen an aktuelle Entwicklungen für längst in der Vergangenheit abgeschlossene Sachverhalte (Geburt des Aufnahmebewerbers) nicht sinnvoll sind. Tatsächlich hat das Bundesverwaltungsgericht in dieser Entscheidung nochmals betont, dass sich mit dem 10. Änderungsgesetz an dem Tatbestandsmerkmal der Abstammung nichts geändert habe,
31 vgl. BVerwG, Urteil vom 29.10.2019 - 1 C 43/18 -, juris, Rn. 16.
32Das Inkrafttreten des 10. Änderungsgesetzes hat somit zwar die Frage aufgeworfen, ob die erleichterten Voraussetzungen für Bekenntnis und Sprache auch für Abstammungspersonen gelten. Dies war aber letztlich nur der Anlass für die jetzt gefundene Rechtsauslegung des Abstammungsmerkmals, ohne dass der Gesetzgeber die Anforderungen an die Abstammungsperson ändern wollte oder geändert hat. Für die Annahme einer Änderung des Abstammungsmerkmals geben weder der Wortlaut, noch der Sinn und Zweck der Neuregelung noch die Gesetzgebungsgeschichte einen Anlass,
33vgl. VG Köln, Urteil vom 10.07.2018 - 7 K 12955/17 -, juris, Rn. 43 und Urteil vom 03.03.2020 - 7 K 5609 -.
34Eine Änderung der Rechtslage kann auch nicht im Hinblick darauf geltend gemacht werden, dass hinsichtlich der Abstammung nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. Januar 2008 - 5 C 8.07 - auch auf die Großelterngeneration zurückgegriffen werden kann und nunmehr auch ein generationsübergreifender Abstammungsbegriff zugrunde gelegt wird, der grundsätzlich auch eine Abstammung von einem deutschen Urgroßelternteil genügen lässt. Die erstmalige Klärung einer Rechtsfrage durch die höchstrichterliche Rechtsprechung bedeutet auch insoweit keine Änderung der Rechtslage i. S. v. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG,
35vgl. BVerwG, Urteil vom 20. November 2018 - 1 C 23.17 -, juris, Rn. 17; OVG NRW, Beschluss vom 17.01.2019 - 11 A 1863/17 -.
36Andere Wiederaufgreifensgründe nach § 51 Abs. 1 VwVfG kann der Kläger nicht geltend machen. Die nachträgliche Erteilung eines Aufnahmebescheides an den Vater führt nicht zu einer Änderung der Sachlage zugunsten des Klägers. Eine Änderung der Sachlage tritt nur ein, wenn Tatsachen, die im Zeitpunkt des Erlasses des früheren Verwaltungsakts vorlagen und für die behördliche Entscheidung objektivbedeutsam waren, nachträglich wegfallen oder wenn neue, für die Entscheidung erhebliche Tatsachen nachträglich eintreten.
37Vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG, 20. Auflage 2019, § 51 Rn. 29; Engels, in: Mann/Sennekamp/Uechtritz, VwVfG-Großkommentar, 2014, § 51 Rn. 30.
38Die nachträgliche Neubewertung der Volkszugehörigkeit des Vaters durch die Behörde beinhaltet aber keine Änderung von Tatsachen. Es handelte sich vielmehr um einen auf die Abstammung des Vaters bezogenen Subsumtionsvorgang, der bei diesem – anders als beim Kläger – durch den Umstand ermöglicht wurde, dass das Erstverfahren des Vaters nicht hatte bestandskräftig abgeschlossen werden können. Auf den beigezogenen Verwaltungsvorgang zum Vater wird insoweit Bezug genommen (Beiakte 2).
39Dem Kläger steht auch kein Anspruch auf ein Wiederaufgreifen nach § 51 Abs. 5 i. V. m. den §§ 48, 49 VwVfG zu. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann die Behörde – auch wenn, wie hier, die in § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG normierten Voraussetzungen nicht vorliegen – ein abgeschlossenes Verwaltungsverfahren wiederaufgreifen und eine neue, der gerichtlichen Überprüfung zugängliche Sachentscheidung treffen. Insoweit besteht für den Betroffenen allerdings nur ein Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung, gerichtet auf die nachträgliche Korrektur fehlerhafter Verwaltungsentscheidungen. Der Gesetzgeber räumt bei der Aufhebung bestandskräftiger belastender Verwaltungsakte in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise weder dem Vorrang des Gesetzes noch der Rechtssicherheit als Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips einen generellen Vorrang ein. Die Prinzipien der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der Bestandskraft von Verwaltungsakten stehen vielmehr gleichberechtigt nebeneinander. Mit Blick auf das Gebot der materiellen Gerechtigkeit besteht jedoch ausnahmsweise dann ein Anspruch auf Rücknahme eines bestandskräftigen Verwaltungsakts, wenn dessen Aufrechterhaltung „schlechthin unerträglich“ ist, was von den Umständen des Einzelfalls und einer Gewichtung der einschlägigen Gesichtspunkte abhängt. Das Festhalten an dem Verwaltungsakt ist insbesondere dann „schlechthin unerträglich“, wenn die Behörde durch unterschiedliche Ausübung der Rücknahmebefugnis in gleichen oder ähnlich gelagerten Fällen gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstößt oder wenn Umstände gegeben sind, die die Berufung der Behörde auf die Unanfechtbarkeit als einen Verstoß gegen die guten Sitten oder gegen Treu und Glauben erscheinen lassen. Die offensichtliche Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts, dessen Rücknahme begehrt wird, kann ebenfalls die Annahme rechtfertigen, seine Aufrechterhaltung sei „schlechthin unerträglich“.
40Vgl. BVerwG, Urteile vom 20.11.2018 - 1 C 23.17 - , juris, Rn. 25 ff. und vom 1 3.12. 2011 - 5 C 9.11 -, juris, Rn. 29.
41Daran gemessen ist es nicht zu beanstanden, dass die Beklagte auch ein Wiederaufgreifen im weiteren Sinn abgelehnt hat.
42Für einen Verstoß gegen Treu und Glauben ist nichts ersichtlich. Der bestandskräftige Ablehnungsbescheid war auch nicht offensichtlich rechtswidrig, sondern vielmehr nach Maßgabe der seinerzeitigen Rechtslage und Rechtsauslegung rechtmäßig, da die Abstammung von zumindest einem volksdeutschen Elternteil nicht festgestellt werden konnte. Dies beruhte auf dem Umstand, dass seitens des BVA der Vater nicht als deutscher Volkszugehöriger festgestellt werden konnte, nachdem dieser beim Sprachtest 2004 selbst angegeben hatte, in seinem ersten Inlandspass mit türkischer Nationalität eingetragen gewesen zu sein, was durch eine entsprechende Eintragung in den Militärpass aus dem Jahre 1965 bestätigt wurde. Damit lag bei der Beurteilung des Abstammungsmerkmals kein offensichtlicher Rechtsfehler vor. Soweit das BVA seinerzeit davon ausging, dass nur die Elterngeneration zur Herleitung der Abstammung in Frage kommt, entsprach diese Auslegung der seinerzeitigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, die sich auf die Gesetzesmaterialien zum Kriegsfolgenbereinigungsgesetz stützen konnte (BT-Drucks 12/3212 S. 23),
43vgl. hierzu auch BVerwG, Urteile vom 20.11. 2018 - 1 C 23.17 -, juris, Rn. 25 und vom 13.12.2011 - 5 C 9.11 -, juris, Rn. 30; OVG NRW, Beschluss vom 17.01.2019 - 11 A 1863/17- .
44Andere Gründe für eine Ermessensreduzierung auf eine Entscheidung für das Wiederaufgreifen des Verfahrens sind nicht ersichtlich. Insbesondere verstößt die Aufrechterhaltung des bestandskräftigen Ablehnungsbescheides nicht gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 GG. Es ist zwar zutreffend, dass Aussiedlungsbewerber, die heute erstmalig einen Aufnahmeantrag stellen, einen leichteren Zugang zu einem Aufnahmebescheid haben als Antragsteller, die den Aufnahmeantrag vor dem Inkrafttreten des 10. Änderungsgesetzes im September 2013 gestellt haben. Diese Ungleichbehandlung beruht jedoch auf einem sachlichen Grund und verstößt daher nicht gegen Art.3 GG. Denn der Gesetzgeber wollte durch das 10. Änderungsgesetz den Veränderungen in den Aussiedlungsgebieten Rechnung tragen, insbesondere den nach Auflösung der Sowjetunion schwindenden Möglichkeiten eines Volkstumsbekenntnisses durch Eintragung der Nationalität in Personenstandsurkunden und den weiter abnehmenden Möglichkeiten einer familiären Sprachvermittlung,
45vgl. VG Köln, Urteil vom 08.01.2018 - 7 K 9518/17 - unter Hinweis auf Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses zum Gesetzentwurf des Bundesrats, BT-Drs. 17/13937 vom 12.06.2013.
46Zwar profitieren von der Gesetzesänderung auch früher geborene Antragsteller, die sich noch in den Aussiedlungsgebieten befinden und von den oben genannten Veränderungen nicht in gleichem Ausmaß betroffen waren. Dies gilt jedoch nicht für Aufnahmebewerber, deren Aufnahmeantrag aus anderen Gründen bestandskräftig abgelehnt wurde und die wegen des Fehlens eines Wiederaufgreifensgrundes nicht in den Genuss der Erleichterungen des 10. Änderungsgesetzes kommen. Auch diese Ungleichbehandlung ist sachlich gerechtfertigt, weil der Aufnahmeantrag des Klägers nach den seinerzeitigen Vorgaben abgelehnt wurde und einer erneuten Entscheidung nunmehr die Bestandskraft des Ablehnungsbescheides und damit der Grundsatz der Rechtssicherheit entgegenstehen. Dies unterscheidet den Kläger von Antragstellern, die den Aufnahmeantrag nun erstmalig stellen oder die einen Anspruch auf ein Wiederaufgreifen ihres Aufnahmeverfahrens haben. Diese Ungleichbehandlung ist gerade eine Folge der Bestandskraft von Verwaltungsakten und nicht schlechthin unerträglich,
47vgl. BVerwG, Urteil vom 20.11.2018 - 1 C 25.17 -, juris, Rn. 29 und Urteil der Kammer vom 03.03.2020 - 7 K 5609/17 -.
48Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf eine erneute ermessensfehlerhafte Entscheidung über seinen Antrag. Die Beklagte hat ihr Ermessen fehlerfrei zulasten des Klägers ausgeübt, indem sie dem Aspekt der Rechtssicherheit den Vorzug gegeben hat.
49Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
50Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
51Rechtsmittelbelehrung
52Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu, wenn sie von diesem zugelassen wird. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn
53541. ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,
552. die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,
563. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
574. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
585. ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
59Die Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, schriftlich zu beantragen. Der Antrag auf Zulassung der Berufung muss das angefochtene Urteil bezeichnen.
60Statt in Schriftform kann die Einlegung des Antrags auf Zulassung der Berufung auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) erfolgen.
61Die Gründe, aus denen die Berufung zugelassen werden soll, sind innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils darzulegen. Die Begründung ist schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, einzureichen, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist.
62Vor dem Oberverwaltungsgericht und bei Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird, muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.
63Die Antragsschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.
64Beschluss
65Der Wert des Streitgegenstandes wird auf
665.000,00 Euro
67festgesetzt.
68Gründe
69Der festgesetzte Streitwert entspricht dem gesetzlichen Auffangstreitwert (§ 52 Abs. 2 GKG).
70Rechtsmittelbelehrung
71Gegen diesen Beschluss kann schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle, Beschwerde bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln eingelegt werden.
72Statt in Schriftform kann die Einlegung der Beschwerde auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) erfolgen.
73Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, einzulegen. Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
74Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.
75Die Beschwerdeschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.
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Tenor
Nr. 1, Nr. 2 Abs. 4 und 5, Nr. 3 Abs. 5 und 6 und Nr. 4 Abs. 4 und 6 der Verfügung Nr. 61/2016 vom 21. Dezember 2016 in Gestalt der Verfügungen 67/2017 und 126/2017 und in Gestalt des Widerspruchbescheides vom 16. Januar 2018 werden aufgehoben. Nr. 2 Abs. 1 Satz 1, Nr. 3 Abs. 1 Satz 1, Nr. 4 Abs. 1 Satz 1 werden insoweit aufgehoben als diese sich auch auf die Fertigung von Kopien und deren Übermittlung beziehen („(hinsichtlich) der Fertigung der Kopien u. ä. sowie deren Übermittlung an ihn“). Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens zu ¾ und die Klägerin zu ¼.
Das Urteil ist wegen der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
1Tatbestand
2Die Klägerin ist ein Telekommunikationsunternehmen und bietet u. a. mobilfunkbasierte Telekommunikationsdienste an. Zu dem mobilfunkbasierten Produktportfolio der Klägerin zählen auch im Voraus bezahlte Mobilfunkdienste im Sinne des § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG („Prepaid-Produkte“), wobei sie unterschiedliche Vertriebswege – auch unter Einbeziehung konzerninterner und konzernexterner Dritter – nutzt.
3Mit Inkrafttreten des Gesetzes zum besseren Informationsaustausch bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus am 30. Juni 2016 wurde auch die Regelung des § 111 TKG geändert. Die nunmehr geltende Fassung verpflichtet die Diensteanbieter, bei im Voraus bezahlten Mobilfunkdiensten eine Überprüfung der erhobenen Anschlussinhaberdaten anhand der Vorlage bestimmter, in § 111 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 bis 7 TKG enumerativ aufgeführter Identitätsnachweise vorzunehmen. Die Überprüfung kann grundsätzlich auch durch andere geeignete Verfahren erfolgen, die von der Bundesnetzagentur nach § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG durch Verfügung im Amtsblatt festzulegen sind. Geeignete Verfahren müssen zum Zweck der Identifikation vor Freischaltung der vertraglich vereinbarten Mobilfunkdienstleistungen einen der aufgeführten Identitätsnachweise nutzen.
4Nach Anhörung der betroffenen Kreise durch Veröffentlichung der beabsichtigten Verfügung im Amtsblatt der Bundesnetzagentur erließ die Beklagte die Verfügung 61/2016 vom 21. Dezember 2016 (veröffentlicht im Amtsblatt Nr. 24/2016, Seite 4407). Mit der Verfügung Nr. 67/2017 vom 26. Juli 2017 (Amtsblatt Nr. 14/2017, Seite 2805 ff.) ergänzte die Beklagte die Verfügung im Hinblick auf die Vorgaben für das Video-Identifikationsverfahren. Ein gegen die mit dieser Verfügung eingefügten Änderungen geführtes Widerspruchsverfahren der Klägerin (Az.: Z21f 6313-1 Gr. Änd 003) wurde bis zur Entscheidung im vorliegenden Klageverfahren ausgesetzt. Mit der Änderungsverfügung Nr. 126/2017 vom 22. November 2017 (abgedruckt im Amtsblatt Nr. 22/2017, S. 3414) änderte die Beklagte die Verfügung Nr. 61/2016 und hob u.a. einzelne Vorgaben zu den Verfahren Nr. 1, Nr. 2 und Verfahren Nr. 3 auf.
5Die konsolidierte Fassung der Verfügung 61/2016,
6abrufbar im Internet über die Homepage der Bundesnetzagentur: https://www.bundesnetzagentur.de/DE/Sachgebiete/Telekommunikation/Unternehmen_Institutionen/Anbieterpflichten/OeffentlicheSicherheit/Verfuegung111/Verfuegunggemaess111-node.html
7lautet auszugsweise:
8„In § 111 Absatz 1 Satz 4 TKG wird der Bundesnetzagentur die Aufgabe zugewiesen, eine Festlegung zu treffen, welche anderen Verfahren als die im Gesetz vorgesehene unmittelbare Vorlage der Identifikationsdokumente bei dem Diensteanbieter zur Überprüfung der Daten des Anschlussinhabers gleichermaßen geeignet sind. Hiermit werden folgende weitere Verfahren zur Überprüfung der Anschlussinhaberdaten im Sinne des § 111 Absatz 1 Satz 4 TKG als geeignet festgelegt:
91. Erhebung der Anschlussinhaberdaten durch einen von dem Diensteanbieter in seinen Vertrieb eingebundenen und unmittelbar anwesenden Dritten mit Prüfung der Echtheit des Identitätsdokuments sowie der Übereinstimmung des künftigen Anschlussinhabers mit der im Identitätsdokument ausgewiesenen Person
10Für Verfahren dieser Art gelten folgende Vorgaben:
11(1) Der Diensteanbieter hat den Dritten hinsichtlich der Prüfung der Echtheit der Identitätsdokumente sowie des Ablaufs der Datenerhebung in geeigneter Weise, zum Beispiel durch eine Schulung der prüfenden Personen oder schriftliche Instruktion, zu unterweisen.
12(2) Der Diensteanbieter hat sich vor der Beauftragung zu vergewissern, dass der ausgewählte Dritte die Gewähr dafür bietet, dass die Anweisungen hinsichtlich der Datenerhebung, Identitätsprüfung, Prüfung der Echtheit des Identitätsdokuments, der Fertigung der Kopien u.ä. sowie deren Übermittlung an ihn eingehalten werden. Dies hat er zu dokumentieren.
13(3) Die erhebende Person hat das vorgelegte Identitätsdokument anhand der wesentlichen Merkmale durch Inaugenscheinnahme und haptische Wahrnehmung zum Ausschluss offensichtlicher Fälschungen zu prüfen.
14(4) Der Dritte hat die Daten des Anschlussinhabers zu erheben. Zudem hat er sich zu vergewissern, dass die Person des künftigen Anschlussinhabers mit der im Identitätsdokument ausgewiesenen Person übereinstimmt.
15(5) Der Diensteanbieter hat dafür zu sorgen, dass der Dritte in jedem Einzelfall eine opto-elektronische Kopie, Scan oder entsprechende Abbildung anfertigt und zum Zwecke der Prüfung unter Beachtung datenschutzrechtlicher und personalausweisrechtlicher Vorgaben an ihn übermittelt. Opto-elektronische Kopien, Scans oder entsprechende Abbildungen sind als solche zu kennzeichnen und dürfen nicht beim Dritten verbleiben. Für die beim Diensteanbieter vorgelegten Kopien gilt § 95 Absatz 4 TKG.
16(6) Bei der Erhebung und Übermittlung der Daten an den Diensteanbieter zur Prüfung und Speicherung in der Kundendatei sind die datenschutzrechtlichen Vorgaben und Beschränkungen nach dem PAuswG zu beachten. Geeignete Maßnahmen zur Sicherstellung der Vertraulichkeit und Integrität der Daten sind hierbei einzusetzen.
17(7) Der Diensteanbieter hat dafür zu sorgen, dass die Person, die die Erhebung der Daten, die Echtheitsprüfung des Ausweises und den Identitätsabgleich durchführt, in geeigneter Weise dokumentiert wird. Dem Diensteanbieter ist eine eindeutige Kennung dieser Person mit zu übermitteln.
182. Erhebung der Daten durch einen vom Diensteanbieter mit Teilen der Identitätsprüfung beauftragten Dritten anhand eines der aufgeführten Identitätsdokumente mittels persönlicher und räumlich unmittelbarer Anwesenheit des künftigen Anschlussinhabers (z.B. Post-Ident- Verfahren, IdentService von Hermes).
19Für Verfahren dieser Art gelten folgende Vorgaben:
20(1) Der Diensteanbieter hat sich vor der Beauftragung zu vergewissern, dass der ausgewählte Dritte die Gewähr dafür bietet, dass die Anweisungen hinsichtlich der Datenerhebung, Identitätsprüfung, Prüfung der Echtheit des Identitätsdokuments, der Fertigung der Kopien u.ä. sowie deren Übermittlung an ihn eingehalten werden. Dies hat er zu dokumentieren.
21(2) Die erhebende Person hat das vorgelegte Identitätsdokument anhand der wesentlichen Merkmale durch Inaugenscheinnahme und haptische Wahrnehmung zum Ausschluss offensichtlicher Fälschungen zu prüfen.
22(3) Der Dritte hat die Daten des Anschlussinhabers zu erheben. Zudem hat er sich zu vergewissern, dass die Person des künftigen Anschlussinhabers mit der im Identitätsdokument ausgewiesenen Person übereinstimmt.
23(4) Der Diensteanbieter hat dafür zu sorgen, dass der Dritte in jedem Einzelfall eine opto-elektronische Kopie, Scan oder entsprechende Abbildung anfertigt und zum Zwecke der Prüfung unter Beachtung datenschutzrechtlicher und personalausweisrechtlicher Vorgaben an ihn übermittelt. Opto-elektronische Kopien, Scans oder entsprechende Abbildungen sind als solche zu kennzeichnen und dürfen nicht beim Dritten verbleiben. Für die beim Diensteanbieter vorgelegten Kopien gilt § 95 Absatz 4 TKG.
24(5) Bei der Erhebung und Übermittlung der Daten an den Diensteanbieter zur Prüfung und Speicherung in der Kundendatei sind die datenschutzrechtlichen Vorgaben und Beschränkungen nach dem PAuswG zu beachten. Geeignete Maßnahmen zur Sicherstellung der Vertraulichkeit und Integrität der Daten sind hierbei einzusetzen.
25(6) Der Diensteanbieter hat dafür zu sorgen, dass die Person, die die Erhebung der Daten, die Echtheitsprüfung des Ausweises und den Identitätsabgleich durchführt, in geeigneter Weise dokumentiert wird.
263. Überprüfung der Daten im Rahmen einer Videoübertragung mit sprachlicher oder unmittelbarer textlicher Kontaktaufnahme (z.B. Chat) durch Sichtung und Prüfung eines der aufgeführten Identitätsdokumente und gleichzeitigen Abgleich mit der vorzeigenden Person durch den Diensteanbieter oder einen von diesem beauftragten Dritten
27Für Verfahren dieser Art gelten folgende Vorgaben:
28(1) Der Diensteanbieter hat sich vor der Beauftragung zu vergewissern, dass ausgewählte Dritte die Gewähr dafür bieten, dass die Anforderungen hinsichtlich der Datenerhebung, Identitätsprüfung, Prüfung der Echtheit des Identitätsdokuments, der Fertigung der Kopien u.ä. sowie deren Übermittlung an ihn eingehalten werden. Dies hat er zu dokumentieren. Die Beauftragung darf nur erfolgen, wenn der Dritte verpflichtend eine jährliche Schulung auf Grundlage neuester Erkenntnisse einer mit Identitätsprüfungen oder der Prüfung von Ausweisdokumenten vertrauten öffentlichen oder allgemein anerkannten Stelle für seine Mitarbeiter durchführt oder durchführen lässt (z.B. durch das Bundeskriminalamt). Dies hat der Dritte zu dokumentieren. Erfolgt die Erhebung und Prüfung durch den Diensteanbieter selbst, gelten das Schulungserfordernis sowie die Dokumentationspflicht für ihn entsprechend.
29(2) Es ist eine regelmäßig aktualisierte Ausweisdatenbank zu nutzen, die Prüfmerkmale für ausländische Identitätsdokumente enthält und vom Dritten bei Vorlage eines ausländischen Identitätsdokuments für den Abgleich heranzuziehen ist.
30(3) Die erhebende Person hat das vorgelegte Identitätsdokument anhand der wesentlichen Merkmale durch Inaugenscheinnahme zum Ausschluss offensichtlicher Fälschungen auf äußerlich erkennbare Manipulationen zu überprüfen. Die Person des zukünftigen Anschlussinhabers ist zu diesem Zweck aufzufordern, das Identitätsdokument vor der Kamera entsprechend zu bewegen und zu positionieren (Kippen, Drehen etc.).
31(4) Der Dritte hat die Daten des Anschlussinhabers zu erheben. Zudem hat er sich zu vergewissern, dass die Person des künftigen Anschlussinhabers mit der im Identitätsdokument ausgewiesenen Person übereinstimmt.
32(5) Der Diensteanbieter hat dafür zu sorgen, dass der Dritte in jedem Einzelfall eine opto-elektronische Kopie, Scan oder entsprechende Abbildung anfertigt und zum Zwecke der Prüfung unter Beachtung datenschutzrechtlicher und personalausweisrechtlicher Vorgaben an ihn übermittelt. Opto-elektronische Kopien, Scans oder entsprechende Abbildungen sind als solche zu kennzeichnen und dürfen nicht beim Dritten verbleiben. Für die beim Diensteanbieter vorgelegten Kopien gilt § 95 Absatz 4 TKG.
33(6) Bei der Erhebung und Übermittlung der Daten an den Diensteanbieter zur Prüfung und Speicherung in der Kundendatei sind die datenschutzrechtlichen Vorgaben und Beschränkungen nach dem PAuswG zu beachten. Geeignete Maßnahmen zur Sicherstellung der Vertraulichkeit und Integrität der Daten sind hierbei einzusetzen.
34(7) Der Diensteanbieter hat dafür zu sorgen, dass die Person, die die Erhebung der Daten, die Echtheitsprüfung des Ausweises und den Identitätsabgleich durchführt, in geeigneter Weise dokumentiert wird.
35(8) Die für die Erhebung und Übermittlung der Daten erforderliche Telekommunikation kann auch mit der erworbenen Mobilfunkleistung selbst aufgebaut werden, wobei die erworbene Mobilfunkleistung vor Freischaltung ausschließlich für diesen Kommunikationsvorgang möglich sein darf. Der Diensteanbieter darf dabei nicht ausschließlich außereuropäische Anbieter für die Videoübertragung zur Verfügung stellen.
36(9) Bei Verwendung einer Anwendungssoftware für mobile Betriebssysteme für den Aufbau der Telekommunikationsverbindung zum Zwecke der Datenerhebung sind Jailbreak bzw. Rooting Detection Programme einzusetzen, die dem aktuellen Stand der Technik entsprechen.
37(…)
384. Prüfung der erhobenen Anschlussinhaberdaten durch den Diensteanbieter mittels Abgleichs mit Daten, die bei einem eigens mit einer Identitätsprüfung beauftragten Dritten zum Zwecke des Abrufes vorgehalten werden und die ihrerseits anhand der Vorlage eines Identitätsdokuments im Sinne des § 111 Absatz 1 Satz 3 TKG oder eines gleich geeigneten Prüfverfahrens geprüft wurden (Vorabverifikation).
39Für Verfahren dieser Art gelten folgende Vorgaben:
40(1) Der Diensteanbieter hat sich vor der Beauftragung zu vergewissern, dass der ausgewählte Dritte die Gewähr dafür bietet, dass die Anforderungen aus dem jeweils angewandten Verfahren aus dieser Verfügung, insbesondere hinsichtlich der Datenerhebung, Identitätsprüfung, Prüfung der Echtheit des Identitätsdokuments, hinsichtlich der Fertigung der Kopien u.ä. sowie deren Übermittlung an ihn eingehalten werden. Dies hat er zu dokumentieren.
41(2) Der Diensteanbieter hat sich zu vergewissern, dass der Abruf der vorgehaltenen Daten bei dem Dritten nur in dem Umfang erfolgt, wie er sich in Ansehung der zu erhebenden Anschlussinhaberdaten nach § 111 Absatz 1 TKG aus dem ursprünglich vorgelegten Identitätsdokument ergibt.
42(3) Der Diensteanbieter hat sich zu vergewissern, dass die Übermittlung der vorgehaltenen Daten durch den Dritten an ihn nur erfolgt, soweit der Inhaber der Daten nach einem vorgesehenen Verfahren verbunden mit einer Authentifizierung der Person des Dateninhabers (etwa durch Eingabe einer PIN) zugestimmt hat. Eine Initiierung der Übermittlung zwischen dem Dritten und dem Diensteanbieter durch den Inhaber der Daten unmittelbar kann ebenso möglich sein.
43(4) Der Diensteanbieter hat dafür zu sorgen, dass der Dritte jeweils eine optoelektronische Kopie, Scan oder entsprechende Abbildung zum Zwecke der Prüfung unter Beachtung datenschutzrechtlicher und personalausweisrechtlicher Vorgaben an ihn übermittelt. Für den Diensteanbieter angefertigte opto-elektronische Kopien, Scans oder entsprechende Abbildungen sind als solche zu kennzeichnen und dürfen nicht beim Dritten verbleiben. Für die beim Diensteanbieter vorgelegten Kopien gilt § 95 Absatz 4 TKG.
44(5) Im Falle der Übermittlung einer opto-elektronischen Kopie, Scan oder entsprechenden Abbildung durch den zukünftigen Anschlussinhaber selbst hat der Diensteanbieter diesen auf die datenschutzrechtlichen und personalausweisrechtlichen Beschränkungen für Kopien, Scans oder entsprechende Abbildungen hinzuweisen. Für die beim Diensteanbieter vorgelegten Kopien gilt § 95 Absatz 4 TKG.
45(6) Bei der Erhebung und Übermittlung der Daten an den Diensteanbieter zur Prüfung und Speicherung in der Kundendatei sind die datenschutzrechtlichen Vorgaben und Beschränkungen nach dem PAuswG zu beachten. Geeignete Maßnahmen zur Sicherstellung der Vertraulichkeit und Integrität der Daten sind hierbei einzusetzen.
465. Die Erhebung und Prüfung der Anschlussinhaberdaten kann auch im Wege des elektronischen Identitätsnachweises nach § 8 PAuswG und nach § 78 Aufenthaltsgesetz erfolgen. Auf § 111 Absatz 6 TKG wird hingewiesen.“
47Hinsichtlich des Verfahrens Nr. 3 (Video-Identifikationsverfahrens) ist derzeit und zeitlich begrenzt die Vorgabe in Absatz 11 (Identifizierungsverfahren in abgetrennten und mit einer Zugangskontrolle ausgestatteten Räumen) ausgesetzt, um ein Arbeiten im Home-Office während der aktuellen Pandemielage zu ermöglichen.
48Im Rahmen des Vertriebs ihrer Prepaid-Produkte setzt die Klägerin konzernintern und -extern nach ihren eigenen Angaben die Verfahren Nr. 1 bis 4 ein.
49Die Klägerin legte bereits unter dem 19. Januar 2017 Widerspruch gegen die Verfügung Nr. 61/2016 ein. Sie habe zunächst Zweifel hinsichtlich der Gesetzesinterpretation der Bundesnetzagentur, nach der bei der Einbindung eines Dritten in den Vertrieb stets eine Überprüfung der Richtigkeit der erhobenen Daten auch durch den Diensteanbieter selbst bzw. dessen Personal zu erfolgen habe. Der Begriff des Dritten sei insoweit nicht eindeutig. Bei den Datenerhebungen bei Verkauf der Prepaid-Karten agiere der Vertriebspartner als Auftrags(daten)verarbeiter. Nach den datenschutzrechtlichen Bestimmungen sei der Auftrags(daten)verarbeiter aber gerade nicht Dritter. Der Auftrags(daten)verarbeiter sei nicht verantwortliche Stelle im Sinne des Datenschutzrechts, dies bleibe der Auftraggeber. Der Diensteanbieter bleibe nach den datenschutzrechtlichen Bestimmungen daher für die Datenüberprüfung zuständig, wenn man diese als Annex zur Datenerhebung sehe. Die Beklagte überkonturiere insoweit die Trennung zwischen Datenerhebung und Identitätsprüfungspflicht. Nichts anderes folge aus der Systematik von § 111 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 4 Satz 1 TKG. Mit der nach dem Gesetz bei dem Diensteanbieter verbleibenden Prüfpflicht bei Einschaltung eines Dritten bleibe dieser in der Verantwortung und könne sich seiner Rechtspflicht als Diensteanbieter auch nicht entziehen. Ihn träfen dann auch etwaige behördliche Anordnungen und die Festsetzung von Bußgeldern. Es solle daher für das Verfahren Nr. 1 klargestellt werden, dass es keiner Doppelprüfung bedürfe, wenn der Dritte Vertriebspartner des Diensteanbieters sei und für diesen die Daten erhebe und diese Erhebung mit der Identitätsprüfung verbinde.
50Im Hinblick auf das Video-Ident-Verfahren seien die Prüfpflichten des Diensteanbieters noch weniger nachvollziehbar, weil für die videobasierten Überprüfungen auf bewährte und zertifizierte Anbieter zurückgegriffen werde, die geschult seien und bei denen ein erhebliches Know-How vorliege. Es sei realistischerweise daher davon auszugehen, dass diese die Daten exakt erheben und an die Datenbank der Klägerin übertragen würden. Fehleranfällig sei hingegen die nachfolgende Kontrolle durch den Diensteanbieter selbst, weil bei der Übertragung von opto-elektronischen Kopien, Scans und entsprechender Abbildungen erfahrungsgemäß Fehler auftreten könnten.
51Ferner stehe die Regelung, wonach der Diensteanbieter dafür zu sorgen habe, „dass die Person, die die Erhebung der Daten, die Echtheitsprüfung des Ausweises und den Identitätsabgleich durchführt, in geeigneter Weise dokumentiert wird“, nicht im Einklang mit den im Bundesdatenschutzgesetz verankerten Arbeitnehmerdatenschutzrechten.
52Mit Widerspruchsbescheid vom 16. Januar 2018 stellte die Beklagte den Widerspruch teilweise – hinsichtlich mit der Verfügung Nr. 126/2017 aufgehobenen Vorgaben – ein und wies ihn im Übrigen zurück.
53Der Widerspruch sei zulässig, in der Sache aber teilweise erledigt und im Übrigen unbegründet. Die Einbindung Dritter stelle ein selbstständiges Verfahren zur Prüfung der Richtigkeit der erhobenen Anschlussinhaberdaten dar, was sich aus dem Wortlaut des § 111 TKG und der Gesetzesbegründung ergebe. Daher sei die Beklagte berechtigt, die Datenprüfung durch einen erhebenden Dritten als ein anderes geeignetes Verfahren festzulegen. Insbesondere könne nach der Gesetzesbegründung die Richtigkeit des Datenbestandes effektiv und nachhaltig nur mittels eines zentralen Systems zur Verifikation durch den Diensteanbieter sichergestellt werden. Daraus folge, dass die Einbindung eines Dritten bei der Datenprüfung nicht vom gesetzlichen Grundfall des § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG gedeckt sei, sondern ein anderes Verfahren im Sinne des § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG darstelle. Damit die Einbindung eines die Daten auch erhebenden Dritten mit diesem Verständnis vereinbar sei, bedürfe es stets und unabhängig von der Art der Prüfung durch den Erhebenden einer Prüfung auf Seiten des Diensteanbieters, was zur Überprüfung auch die Übersendung einer Kopie zwingend erfordere.
54Um das mit der Gesetzesänderung verfolgte Ziel zu erreichen, eine zuverlässige Prüfung der erhobenen Anschlussinhaberdaten zu gewährleisten, sei es auch nicht unverhältnismäßig, dass die Prüfung entweder durch den Diensteanbieter selbst oder einen von diesem beauftragten Dritten erfolge. Die Formulierung des § 111 TKG in Zusammenschau mit der amtlichen Begründung lege nahe, dass bei der Prüfung der erhobenen Daten ein Vier-Augen-Prinzip angewendet werden solle, bei dem die Daten, die der Dritte erhoben habe, durch ein zentralisiertes System auf Seiten des Diensteanbieters geprüft werden sollten. Ausgehend von der Amtlichen Begründung komme es darauf an, die Datenprüfung im Rahmen eines zentralisierten Systems an einer Stelle zusammenzuführen. Für die Einbindung eines Dritten in die Datenerhebung, wie sie bei Vertriebspartnern mit lokalen Verkaufsstellen der Fall sei, habe die Beklagte berücksichtigt, dass beim Erwerb der Prepaid-SIM-Karte in einer lokalen Verkaufsstelle tatsächlich nur der Dritte die Person des Anschlussinhabers und dessen Identitätsdokument vor Auge habe. Diese unmittelbare Prüfmöglichkeit sei sinnvoll nutzbar, sofern damit nicht die gesamte Prüfleistung durch den Dritten erbracht werde. Es erscheine daher angemessen, die notwendigen Schritte einer Identitätsprüfung, d. h. Prüfung der Echtheit und Unversehrtheit eines Dokuments und den Personenabgleich, durch den erhebenden Dritten durchführen zu lassen. Die Prüfung durch den Diensteanbieter bzw. eines von diesem eigens zu diesem Zweck beauftragten Dritten sei in diesem Fall auf den finalen Schritt beschränkt, in welchem die erhobenen Daten mit dem ihm vorgelegten Dokument (Kopie, Scan, Screenshot oder Ähnliches) abgeglichen würden. Diese Prüfung durch den Diensteanbieter werde nur möglich durch Zusendung einer Kopie, eines Scans oder einer sonstigen Abbildung. Eine Potenzierung der Fehlerraten sei durch eine entsprechende Arbeitsorganisation und den Einsatz hinreichender Technik zur opto-elektronischen Übertragung zu vermeiden. Die getroffene Regelung sei auch nicht unverhältnismäßig. Insbesondere sei sie nicht ungeeignet, den Zweck zu fördern, valide Kundendaten für die Abfragen der Strafverfolgungs- und Sicherheitsbehörden bereit zu halten, und auch erforderlich, weil kein milderes Mittel ersichtlich sei.
55Auch die Pflicht zur Dokumentation der konkret die Daten erhebenden Person sei nicht rechtswidrig. Sie sei erforderlich, weil externe Dritte in den Prozess der Datenerhebung und -überprüfung eingebunden werden könnten. Insofern müsse sichergestellt werden, dass die Vorgaben für das jeweilige Datenerhebungs- und -überprüfungsverfahren eingehalten würden. Eine Flucht in die Anonymität solle ausgeschlossen werden. Sie sei verhältnismäßig und verstoße auch nicht gegen Datenschutzrecht. Im Hinblick auf die verschärfte Pflicht im Verfahren Nr. 1 sei nur die Kennung des Mitarbeiters zu übermitteln, bei der es sich nicht um ein personenbezogenes Datum handele.
56Die Klägerin hat am 19. Februar 2018 Klage erhoben. Die Klage sei zulässig. Sie sei als Anbieterin von Prepaid-Mobilfunkdiensten i. S. d. § 111 Abs. 1 Sätze 3 und 4 TKG Adressatin der angegriffenen Verfügung und sehe sich durch die Regelungen der Verfügung – insbesondere von Datenerhebungs- und Prüfpflichten beim Verkauf von Prepaid-Mobilfunkdiensten – in ihren Rechten aus Art. 12 Abs. 1 i. V. m. Art. 19 Abs. 3 GG verletzt. Es lasse sich aufgrund der verfassungsrechtlichen Rechtfertigungsbedürftigkeit des Eingriffs eine Verletzung in eigenen Rechten der Klägerin nicht offensichtlich und eindeutig verneinen. Aufgrund der in der angegriffenen Verfügung auferlegten Pflichten liege auch eine belastende Anordnung vor. Ausgangspunkt einer Beeinträchtigung sei insoweit ihr vom Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG umfasstes, uneingeschränktes wirtschaftliches Tätigkeitsspektrum. Schließlich sei sie auch in ihren subjektiven Rechten aus § 111 Abs. 1 Satz 4 verletzt, weil hierdurch die Möglichkeit der Überprüfung durch „andere geeignete Verfahren“ eröffnet werde. Es stehe nicht im Entschließungsermessen der Beklagten, „andere geeignete Verfahren“ durch Verfügung im Amtsblatt zu regeln. Sie sei vielmehr in Ermangelung eines Entschließungsermessens verpflichtet, die Ausgestaltung anderer geeigneter Verfahren rechtskonform und ermessensfehlerfrei vorzunehmen. Eine Klagebefugnis sei zudem unter Rechtsschutzgesichtspunkten herzuleiten, weil ansonsten durch die einfachgesetzliche Delegation der Rechtsschutz der Betroffenen eingeschränkt werde.
57Die Klage sei auch begründet. Insoweit wiederholt und vertieft sie ihren Vortrag aus dem Widerspruchsverfahren. Die angegriffenen Regelungen seien rechtswidrig und teilweise nichtig. Die Einbindung unmittelbar anwesender Dritter sei kein „anderes Verfahren“ i. S. d. § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG, so dass die Regelungen des Verfahrens Nr. 1 nicht von der Ermächtigungsgrundlage des § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG gedeckt und in der Folge rechtswidrig seien. Die Überprüfung durch einen anwesenden Dritten sei bereits nach dem gesetzlich in § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG geregelten Verfahren zulässig und könne demnach kein „anderes Verfahren“ i.S.d. § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG darstellen. Dem Erhebungsbegriff in § 111 Abs. 1 Satz 1 und § 111 Abs. 4 Satz 1 TKG sei ein weites Begriffsverständnis zugrunde zu legen, von dem nicht nur die Verpflichtung zur Erhebung umfasst werde, sondern auch die korrekte, vollständige und rechtzeitige Erhebung der aufgeführten Daten. Dementsprechend stelle sich die im Prepaid-Bereich vorgesehene Überprüfung nach § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG als zusätzlicher, innerhalb der Erhebung nach § 111 Abs. 1 Satz 1 TKG klar abgegrenzter Teilschritt der korrekten Erhebung dar. Hierfür streite der Wortlaut des § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG. Dieser regele das Verfahren der Überprüfung durch „Vorlage“ eines Identitätsdokuments (unter Anwesenden). Einschränkende Vorgaben dahingehend, dass die prüfende Person ein Mitarbeiter oder Arbeitnehmer des Diensteanbieters sein müsse, enthalte die Regelung hingegen nicht. Angesichts dessen sei davon auszugehen, dass der Gesetzgeber die Wahl der zu prüfenden Entität in die unternehmerische Eigenverantwortung des Diensteanbieters habe stellen wollen.
58Dieses Ergebnis werde dadurch gestützt, dass § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG als gesetzliche Schranke der durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten unternehmerischen Berufsausübungsfreiheit zu qualifizieren sei und eine Beschränkung des Kreises der einsetzbaren Personen auf interne Mitarbeiter zu einer weitergehenden Einschränkung der Berufsausübungsfreiheit führe. Die gesetzliche Nicht-Regelung spreche im Lichte der daraus folgenden verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsanforderungen dafür, dass die Auswahl der einzusetzenden Personen (intern oder extern) der unternehmerischen Freiheit des Dienstanbieters unterliege. Diese Auslegung werde durch einen Vergleich der Regelungen des § 111 Abs. 1 Satz 1 TKG zur Datenerhebung mit der Regelung des § 111 Abs. 1 Satz 3 zur Datenprüfung bestätigt. Während Satz 1 ausdrücklich die geschäftsmäßigen Diensteanbieter in die Pflicht nehme, löse sich der Gesetzgeber in Satz 3 von dieser Formulierung und lasse eine rein erfolgsorientierte Aufgabenerfüllung ausreichen. Selbst wenn man von einem Gleichlauf der Normadressaten in § 111 Abs. 1 Satz 1 und Satz 3 TKG ausginge, seien externe Subunternehmer auch von dem Begriff des „Mitwirkenden“ im Sinne von § 111 Abs. 1 Satz 1 TKG erfasst. Im Übrigen gehe die Beklagte selbst in ihren FAQ’s davon aus, dass die Überprüfung auch durch einen externen Dritten durchgeführt werden könne.
59Schließlich sprächen auch allgemeine verwaltungsrechtliche Grundsätze für die Zulässigkeit der Einbeziehung Dritter in das gesetzlich in § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG vorgesehene Verfahren. Die Übertragbarkeit öffentlich-rechtlicher Pflichten sei am Maßstab des materiellen Rechts zu bestimmen, und zwar danach, ob dieses sachlich oder personell bestimmt werde. Vorliegend sei von einer überwiegenden Sachbezogenheit und mithin von einer „Delegationsfähigkeit“ im Rahmen des § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG auszugehen. Dies zeige sich – neben der fehlenden Normierung eines Adressaten – auch an der sachbezogenen Zielsetzung der Vorgaben zur Überprüfung der zu erhebenden Daten, nämlich der Sicherstellung einer für Auskunftsersuchen von Ermittlungsbehörden verlässlichen und korrekten Datengrundlage. Es sei nicht ersichtlich, warum dieses ausschließlich sachbezogene Ziel in qualitativer Hinsicht besser von Diensteanbietern sichergestellt werden könne, als von hierauf spezialisierten externen Dienstleistern. Es handele sich bei der Überprüfung von Identifikationsdokumenten gerade um keine telekommunikationsspezifische Leistung, für die auf Seiten eines Dienstanbieters weder eine besondere Sachkunde, noch eine besondere persönliche Eignung vorhanden sei.
60Auf § 115 Abs. 1 Satz 1 TKG könne die Allgemeinverfügung auch nicht hilfsweise gestützt werden, weil dieser nur als Eingriffsnorm bei Verstößen gegen Vorschriften des 7. Teils des Telekommunikationsgesetzes diene. Im Übrigen werde dieser auch durch § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG verdrängt, der insoweit „lex specialis“ sei.
61Ferner seien die Regelungen zur Datenerhebung nicht von § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG gedeckt. Sie enthielten auch spezifische Regelungen, die auf die Datenerhebung im engeren Sinne abzielten, wie z.B. Schulungserfordernisse und die Pflicht zur Vergewisserung, dass der Dritte hinreichend Gewähr dafür biete, dass die Anweisungen und Anforderungen hinsichtlich der Datenerhebung eingehalten würden. Die Ermächtigung in § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG beschränke sich jedoch explizit auf den Vorgang und die Organisation der Überprüfung der gemäß § 111 Abs. 1 Satz 1 TKG zu erhebenden und zu speichernden Bestandsdaten. Davon nicht erfasst sei dagegen die Erhebung selbst. Der Gesetzgeber ziehe in § 111 Abs. 1 TKG insoweit eine eindeutige Trennlinie zwischen der Verpflichtung zur Erhebung und Speicherung von Bestandsdaten einerseits und der Verpflichtung zur Überprüfung der Bestandsdaten andererseits. Die Verpflichtung zur Erhebung und Speicherung sei in § 111 Abs. 1 Satz 1 TKG geregelt und treffe alle geschäftsmäßigen Erbringer von Telekommunikationsdiensten. Die Verpflichtung zur Überprüfung der zu erhebenden und zu speichernden Bestandsdaten finde ausschließlich auf im Voraus bezahlte Mobilfunkdienste Anwendung und sei in den Sätzen 3 bis 7 des § 111 Abs. 1 TKG normiert. Die Ermächtigung zur Festlegung „gleich geeigneter“ Verfahren sei Bestandteil dieses zweiten, ausschließlich auf die Überprüfung bezogenen Regelungsblockes. Diese Trennung spiegele den gesetzgeberischen Willen wider, wonach die Organisation der Erhebung von Bestandsdaten weitgehend der unternehmerischen Eigenverantwortung der Diensteanbieter unterliege und nur die Überprüfung einem engeren Regelungskonstrukt folgen solle. Dies entspreche auch dem Telos der Gesetzesnovellierung, eine verlässliche Datengrundlage für Auskunftsersuchen nach §§ 112, 113 TKG zu schaffen. Um dieses Ziel zu erreichen, müssten die erhobenen Daten zusätzlich verifiziert werden. Ausschließlich bezogen auf diese Verifizierung nehme der Gesetzgeber die Anbieter von im Voraus bezahlten Mobilfunkdiensten nunmehr verstärkt in die Pflicht. Die Erhebung solle dagegen weiterhin der organisatorischen und verfahrenstechnischen Eigenverantwortung der Diensteanbieter vorbehalten sein.
62Ferner sei die in den einzelnen Verfahren vorgesehene Pflicht zur Übermittlung opto-elektronischer Kopien nichtig, weil sie gegen bußgeldbewehrte Bestimmungen des Personalausweisgesetzes bzw. Passgesetzes verstieße und zur Begehung einer rechtswidrigen Tat verpflichte. Die entsprechenden Teilregelungen seien daher gem. § 44 Abs. 2 Nr. 5 VwVfG nichtig. Auch § 95 Abs. 4 TKG könne als spezialgesetzliche Ermächtigungsgrundlage die Übermittlung der opto-elektronischen Kopie von dem beauftragten Dritten an den Diensteanbieter nicht legitimieren, weil dieser lediglich die zeitlich befristete Erstellung einer Kopie durch einen Diensteanbieter erlaube. Schließlich sei die Verpflichtung zur Erstellung und Übermittlung einer opto-elektronischen Kopie und der Durchführung eines nochmaligen Abgleichs der erhobenen und bereits verifizierten Daten mit den Daten in der übermittelten Kopie des Identifikationsdokumentes durch den Diensteanbieter auch unverhältnismäßig. Das gesetzlich vorgesehene Verfahren sehe in § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG nur eine einfache Überprüfung durch Vorlage eines Identitätsdokuments vor. Eine Doppelprüfung sei vom Gesetzgeber nicht gewollt. Eine solche vermöge zudem höchstens einen marginalen Effekt auf das vom Gesetzgeber verfolgte Ziel der Generierung eines möglichst fehlerfreien Bestands an Anschlussinhaberdaten zu bewirken, der in deutlichem Missverhältnis zu dem Aufwand und den Nachteilen stehe, die mit der Implementierung und laufenden Durchführung dieses Verfahrens verbunden seien. Die mit der Identifikationsprüfung befassten Dienstleister verfügten aufgrund ihrer Spezialisierung über ein erhebliches Know-How im Bereich der Überprüfung von Identitätsdokumenten und könnten eine weit niedrigere Fehlerquote garantieren, als dies im Rahmen des nachfolgenden Daten-Abgleichs auf Seiten der Diensteanbieter gewährleistet werden könne. Die Überprüfung durch den externen Dienstleister sei daher hinreichend, um das gesetzgeberische Ziel der Gewährleistung einer zutreffenden Datengrundlage zu verwirklichen. Es sei zudem davon auszugehen, dass die nochmalige Überprüfung durch den Diensteanbieter zu einer Erhöhung der Fehlerquote führe und damit das hochwertige Ergebnis der externen Dienstleister zu konterkarieren drohe. Darüber hinaus sei der nachlaufende Datenabgleich durch den Diensteanbieter nicht geeignet, Identitätstäuschungen aufzudecken, weil diese Täuschung nicht durch einen Abgleich von Daten auf einem gescannten Identitätsdokument mit Daten in einer Eingabemaske aufgedeckt werden könne. Hierdurch könnten lediglich Flüchtigkeitsfehler bei der Eingabe der Daten durch den eingeschalteten Dienstleister beseitigt werden. Zudem könne selbst im Falle von einzelnen Tippfehlern aufgrund der umfangreichen zu erhebenden Daten üblicherweise die jeweilige Person ermittelt werden. Aufwand und Nutzen, den dieser Verfahrensschritt mit sich bringe, stünden außer Verhältnis.
63Des Weiteren berge das Verfahren der Doppelprüfung substantielle Risiken für das gesamte Geschäftsmodell mit Prepaid-SIM-Karten, weil danach eine Aktivierung einer SIM-Karte nunmehr erst nach Abschluss des Datenabgleichs durch den Diensteanbieter erfolgen könne. Die sofortige Nutzbarkeit der SIM-Karte stelle jedoch ein wesentliches Kaufargument für Prepaid-SIM-Karten dar.
64Schließlich verstoße das von der Beklagten vorgesehene Verfahren der Erstellung opto-elektronischer Kopien von Identitätsdokumenten und deren Übermittlung an den Diensteanbieter auch gegen den datenschutzrechtlichen Grundsatz der Datenminimierung. Danach sei die Menge der erhobenen und verarbeiteten Daten in einer Weise zu begrenzen, dass zusätzliche Daten nicht verarbeitet werden dürften, wenn der Verarbeitungszweck auch ohne sie erreicht werden könne. Dies sei vorliegend der Fall, weil der Zweck der Gewährleistung einer zutreffenden Datengrundlage in der Kundendatei bereits ohne die Zweitprüfung durch den Diensteanbieter bzw. ohne eine derartige Zweitprüfung sogar noch besser erreicht werden könne.
65Soweit die Regelungen der Verfahren Nr. 1 bis 4 der angegriffenen Verfügung rechtswidrig seien, verletzten diese sie in ihren Rechten aus Art. 12 Abs. 1 i. V. m. Art. 19 Abs. 3 GG. Sie werde durch die Regelungen der Verfahren Nr. 1 bis 4 eingeschränkt, ihre gewerbliche Tätigkeit in der gewünschten Weise auszuüben.
66Es sei eine Teilbarkeit hinsichtlich der einzelnen Verfahren gegeben, weil diese – als alternativ anwendbare, voneinander unabhängige Verfahren – nicht in einem inneren Zusammenhang zueinander stünden und in der Folge auch selbständig bestehen könnten. Auch seien die Regelungen zur Datenerhebung, die Regelungen zur Übermittlung opto-elektronischer Kopien und zur Zweitprüfung und die Regelungen zur Übermittlung der Kennung der prüfenden Person abgrenzbare Schritte innerhalb der einzelnen Verfahren, die von den übrigen Regelungen der angegriffenen Verfügung abtrennbar seien und isoliert angefochten werden könnten.
67Die Klägerin hat zunächst schriftsätzlich beantragt,
68die Verfügung Nr. 61/2016 der Beklagten in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. Januar 2018 hinsichtlich der Verfahren Nr. 1 bis 4 aufzuheben;
69hilfsweise die Verfügung Nr. 61/2016 der Beklagten in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. Januar 2018 (Az. Z21f6313-1 Gr. 007 Fie) aufzuheben.
70Nach gerichtlichem Hinweis auf ein möglicherweise fehlendes Rechtsschutzbedürfnis hinsichtlich des isolierten Aufhebungsantrags bezüglich der Verfahren Nr. 2 bis 4 beantragt die Klägerin nunmehr,
711. die Regelungen des Verfahrens Nr. 1 der Verfügung Nr. 61/2016 der Beklagten aufzuheben;
72hilfsweise für den Fall der Abweisung nur des Klageantrags zu 1.: die Absätze 1, 2, 4, 6 und 7 des Verfahrens Nr. 1 der Verfügung Nr. 61/2016 der Beklagten aufzuheben, soweit diese Regelungen zur Erhebung von Daten enthalten;
73die Absätze 2, 5 und 6 des Verfahrens Nr. 1 der Verfügung Nr. 61/2016 der Beklagten aufzuheben, soweit diese Regelungen zur Übermittlung von Identitätsdokumenten und Prüfung erhobener Daten durch den Diensteanbieter enthalten;
74Absatz 7 Satz 2 des Verfahrens Nr. 1 der Verfügung 61/2016 der Beklagten aufzuheben;
752. die Absätze 1, 3, 5 und 6 des Verfahrens Nr. 2, die Absätze 1, 4, 6, 7, 8 und 9 des Verfahrens Nr. 3 und die Absätze 1 und 6 des Verfahrens Nr. 4 der Verfügung Nr. 61/2016 der Beklagten aufzuheben, soweit diese Regelungen zur Erhebung von Daten enthalten;
763. die Absätze 1, 4 und 5 des Verfahrens Nr. 2, die Absätze 1, 5 und 6 des Verfahrens Nr. 3 und die Absätze 1, 4 und 6 des Verfahrens Nr. 4 der Verfügung Nr. 61/2016 der Beklagten aufzuheben, soweit diese Regelungen zur Übermittlung von Identitätsdokumenten und Prüfung erhobener Daten durch den Diensteanbieter enthalten;
77hilfsweise für den Fall der Abweisung der Klageanträge zu 1. bis 3. die Beklagte unter Aufhebung der Verfügung Nr. 61/2016 zu verpflichten, eine neue Allgemeinverfügung auf der Grundlage von § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts zu erlassen.
78Die Beklagte beantragt,
79die Klage abzuweisen.
80Die Beklagte ist der Ansicht, die Klage sei bereits wegen fehlender Klagebefugnis gemäß § 42 Abs. 2 VwGO unzulässig. Zwar sei die Klägerin Adressatin der Verfügung. Die Verfügung belaste diese jedoch nicht, weil der Rechtsbestand der Klägerin durch diese nicht gemindert, sondern erweitert werde. Der Rechtsbestand der Klägerin werde hinsichtlich der Erhebung, Speicherung und Überprüfung der Daten zukünftiger Prepaid-Kunden durch § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG festgelegt. Dieser verpflichte die Erbringer von Telekommunikationsdienstleistungen im Prepaid-Kundengeschäft, bestimmte Verfahren einzuhalten. Durch die angegriffene Verfügung werde dieser gesetzlich definierte Rechtsbestand der Klägerin dadurch erweitert, dass ihr die Option eröffnet werde, andere Verfahren zusätzlich zu dem Verfahren nach § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG zu nutzen. Eine Verpflichtung zur Nutzung dieser Alternativverfahren bestehe jedoch nicht. Es stehe der Klägerin insoweit frei, sich dieser nicht zu bedienen und ihr Prepaid-Kundengeschäft nach Maßgabe der unmittelbaren gesetzlichen Regelungen des § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG abzuwickeln.
81Die Überprüfung der Daten durch Dritte sei nicht bereits gemäß § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG zulässig. Normadressat des § 111 TKG sei, wer „geschäftsmäßig Telekommunikationsdienste erbringt oder daran mitwirkt". Dies seien in erster Linie die Diensteanbieter, wohingegen dem Begriff der „Mitwirkenden" im Rahmen des § 111 TKG keine eigenständige Bedeutung zukomme, weil es diesen typischerweise tatsächlich und rechtlich im Verhältnis zum Diensteanbieter unmöglich sei, diese Pflicht eigenständig zu erfüllen. Der Wortlaut des § 111 Abs. 1 Satz 1 TKG und des § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG, der auf § 111 Abs. 1 Satz 1 TKG Bezug nehme, stritten dafür, dass die Diensteanbieter ihre Prüfpflichten höchstpersönlich erfüllen müssten. Auch handele es sich bei den getroffenen Regelungen zur Einbindung Dritter um Regelungen zum Verfahren i. S. d. § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG. Im juristischen Sprachgebrauch würden Regelungen dazu, welche Personen bestimmte Handlungen vornehmen dürften bzw. vornehmen müssten, häufig als Verfahrensregelungen bezeichnet. Auch die Normsystematik spreche für diese Auslegung. Dass § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG im Prepaid-Kundengeschäft keine Einbindung Dritter hinsichtlich der Überprüfung von Daten erlaube, ergebe sich zudem aus der Regelung des § 111 Abs. 4 TKG. Dort werde die Einbindung Dritter hinsichtlich der Datenerhebung gemäß § 111 Abs. 1 Satz 1 (Festnetzanschlüsse und Mobilanschlüsse mit Laufzeitverträgen) und Abs. 2 TKG (elektronische Post) geregelt, nicht jedoch hinsichtlich der Überprüfung von Daten gemäß § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG. § 111 Abs. 4 TKG setze voraus, dass sich die Diensteanbieter zur Erfüllung ihrer Pflichten zur Datenerhebung gemäß § 111 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 TKG eines Dritten bedienen dürften, und stelle klar, dass sie auch dann hierfür selbst verantwortlich blieben. Dies lege nahe, dass der Gesetzgeber bewusst nur die Übertragung des Erhebungsvorgangs auf Dritte habe ermöglichen wollen. Zudem lege er den Dritten die eigenständige Pflicht auf, ihnen bekannt gewordene Änderungen der Daten unverzüglich den Diensteanbietern zu übermitteln.
82Auch Normzweck und Entstehungsgeschichte sprächen für diese Auslegung. Bei den Diensteanbietern habe eine verlässliche Datenlage hinsichtlich der Prepaid-Kunden geschaffen werden sollen, damit auf diese von den Sicherheitsbehörden bei Bedarf zur Terrorismus- und Kriminalitätsbekämpfung zurückgegriffen werden könne. Die nach der bisherigen Gesetzeslage zulässige Einbindung Dritter bei der Datenerhebung habe sich in dieser Hinsicht nach der Erkenntnis des Gesetzgebers als unzweckmäßig erwiesen. Um Abhilfe zu schaffen, sei es der gesetzgeberische Wille gewesen, durch § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG eine Überprüfungspflicht hinsichtlich der Daten zukünftiger Prepaid-Kunden zu etablieren und zugleich diese Überprüfungspflicht ausschließlich in die Hand der Dienstanbieter selbst zu legen und diese Pflicht als höchstpersönliche Pflicht auszugestalten. Demgemäß habe der Gesetzgeber auch den bisherigen § 111 Abs. 2 TKG gestrichen, der eine Einbindung Dritter bei der Datenerhebung als zulässig vorausgesetzt, deren Pflichten näher geregelt und eine Verletzung dieser Pflichten als Ordnungswidrigkeit unter Strafe gestellt habe.
83Die Klage sei auch unbegründet. § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG ermächtige sie zusätzlich zu den in § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG genannten Verfahren zur Überprüfung der nach § 111 Abs. 1 Satz 1 TKG erhobenen Daten weitere zur Überprüfung geeignete Verfahren durch Verfügung im Amtsblatt festzulegen. Ob und welche anderen Verfahren sie festlege, stehe gemäß § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG i. V. m. § 40 VwVfG in ihrem Ermessen. Ihr Ermessen habe sie ordnungsgemäß ausgeübt. Sie sei sich bewusst gewesen, dass ihr hinsichtlich der in der Verfügung getroffenen Regelungen Ermessen zustehe, was nicht zuletzt der Widerspruchsbescheid belege, in dem sie sich mit dem Vorbringen der Klägerin im Widerspruchsverfahren auseinandersetze. Bereits im Vorfeld des Erlasses der Verfügung habe sie Ermessenerwägungen angestellt. In der Auswertung der Stellungnahmen zur Verfügung gehe sie im Detail auf die Stellungnahmen der betroffenen Kreise ein. Auch habe sie die sich gegenüberstehenden Interessen im Einzelnen zutreffend erkannt und gewertet, wie sich aus ihren internen Entscheidungsvorlagen bzw. Vermerken und Schreiben an beteiligte Kreise ergebe. Es liege auch kein Ermessensfehlgebrauch vor, denn sie habe sich bei Erlass der Verfügung ausschließlich vom Zweck des § 111 TKG, die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Ermittlungstätigkeit bei der Bekämpfung von Terrorismus und Kriminalität zu schaffen, leiten lassen, wie insbesondere der Widerspruchsbescheid und der Inhalt des Verwaltungsvorgangs belegten. Schließlich liege auch keine Ermessensüberschreitung vor. Sofern die Klägerin rüge, dass § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG nicht dazu berechtige, die Überprüfung der erhobenen Anschlussinhaberdaten unter Anwesenden zu regeln, weil dies bereits in § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG geregelt sei, sei dies zunächst aus den dargelegten Gründen unzutreffend.
84§ 111 Abs. 1 Satz 4 TKG ermächtige auch dazu, nicht nur Regelungen zur Datenüberprüfung im engeren Sinne zu treffen, sondern auch Regelungen zur Erhebung der Daten i. S. d. § 111 Abs. 1 Satz 1 TKG. Es sei insoweit von einem erweiterten Erhebungsbegriff auszugehen, zudem könnten Datenerhebung und -überprüfung nicht sinnvoll voneinander getrennt werden. Datenerhebung und Datenüberprüfung fielen in den typischen Situationen des Prepaid-Kundengeschäfts notwendigerweise zusammen, eine strikte Trennung sei nicht möglich. Der Mitarbeiter erhebe und prüfe zeitgleich, so dass beide Vorgänge im Regelfall einen Arbeitsschritt bildeten. Die Klägerin träfen daher keine Regelungen, die auf die Datenerhebung im engeren Sinne zielten. Sie sei lediglich von Regelungen betroffen, die auf die Datenüberprüfung zielen, die jedoch aufgrund des untrennbaren Zusammenhangs zwischen Erhebung und Überprüfung an die Erhebung anknüpfen und diese daher nicht unerwähnt lassen können.
85Auch die Regelungen zur Übermittlung opto-elektronischer Kopien seien verhältnismäßig. Die Erstellung und Übermittlung der Fotokopien sei im Verwaltungsverfahren insbesondere auch vom Bundesinnenministerium aus Sicherheitsgründen gefordert worden, um eine Kontrolle der erfolgten Überprüfung zu ermöglichen. Zwar werde die Berufsausübungsfreiheit der Diensteanbieter beeinträchtigt, diese werde jedoch nur geringfügig betroffen. Mit den Regelungen zu den Prepaid-Karten werde auch nur ein Teilbereich des Geschäfts der Klägerin betroffen. Die Gesetzesänderung habe auch nicht dazu geführt, dass ein Marktteilnehmer die Geschäftstätigkeiten im Prepaid-Bereich eingestellt habe. Diensteanbieter könnten durch Organisation ihrer Geschäftsprozesse eine Doppelprüfung vermeiden. Sofern diese unvermeidlich sei, sei sie erforderlich, um sicherzustellen, dass bestmögliche Daten bei den Diensteanbietern vorlägen und die Letztverantwortlichkeit für die Richtigkeit der Daten in einer Hand bleibe. Die Beklagte überschreite insoweit auch nicht die ihrem Ermessen durch § 20 Abs. 2 PAuswG gesetzten Grenzen. Abweichend von § 20 Abs. 2 PAuswG sei es dem Diensteanbieter aufgrund der insofern spezielleren Vorschrift des § 95 Abs. 4 Satz 3 TKG gestattet, eine Kopie des amtlichen Ausweises zu fertigen. Nach Sinn und Zweck der Vorschrift sei ihr Anwendungsbereich auch nicht auf die Erstellung von Fotokopien in Papierform beschränkt. Ferner handele es sich bei dem Einsatz eines Dienstleisters um Auftragsverarbeitung im Sinne des Datenschutzrechts. Dieser sei im datenschutzrechtlichen Sinne auch nicht als Dritter zu werten. Die Regelungen des Personalausweisgesetzes und des Passgesetzes seien auch keine im Verhältnis zum Datenschutzrecht spezifischeren und abschließenden Regelungen. Vielmehr gelte das Datenschutzrecht fort und werde durch diese gerade nicht verdrängt. Im Übrigen könne ansonsten vom Diensteanbieter die Zustimmung des Kunden zur Weitergabe der Kopie eingeholt werden. Auch hinsichtlich der Regelungen zur Übermittlung der Kennungen der prüfenden Person liege keine Ermessensüberschreitung vor. Diese sei erforderlich und angemessen, um sicherzustellen, dass die Vorgaben für das jeweilige Erhebungs- und Prüfungsverfahren auf Seiten des Dritten auch tatsächlich beachtet und umgesetzt werden.
86Hilfsweise werde die Verfügung zudem auf § 115 Abs. 1 Satz 1 TKG als Ermächtigungsgrundlage gestützt. § 115 Abs. 1 Satz 1 TKG ermächtige die Bundesnetzagentur allgemein Maßnahmen zu treffen, um die Einhaltung der Vorschriften des Teils 7 des Telekommunikationsgesetzes sicherzustellen. Dass die Beklagte die Verfügung nicht (auch) auf § 115 Abs. 1 Satz 1 TKG gestützt habe, stehe einer hilfsweisen Heranziehung auf diesen nicht entgegen. Das Austauschen von Ermächtigungsgrundlagen und somit auch das hilfsweise Stützen auf eine andere Ermächtigungsgrundlage sei grundsätzlich zulässig, wenn die anderweitige rechtliche Begründung nicht zu einer Wesensveränderung des angefochtenen Bescheids führe. Dies sei jedoch hier nicht der Fall. Beide Ermächtigungsgrundlagen dienten demselben Zweck, nämlich die Einhaltung der Vorschriften des Teils 7 des Telekommunikationsgesetzes sicherzustellen bzw. umzusetzen. Auch die anzustellenden Ermessenserwägungen seien, jedenfalls in Bezug auf den in Rede stehenden Fall, gleich. Es gehe, gleichgültig ob § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG oder § 115 Abs. 1 Satz 1 TKG als Ermächtigungsgrundlage herangezogen werde, darum, geeignete Maßnahmen zu treffen, um zu gewährleisten, dass es bei der Einbindung Dritter nicht mehr, wie in der Vergangenheit, zur Generierung eines mangelhaften Datenbestands hinsichtlich von Prepaid-Kunden komme. Auch die Verhältnismäßigkeitsprüfung im engeren Sinne sei gleich, weil es um die Abwägung zwischen den Grundrechten der Klägerin, insbesondere deren Berufsfreiheit, und dem Allgemeininteresse an einer effektiven Bekämpfung von Terrorismus und schwerer Kriminalität gehe. Die angegriffene Verfügung sei auch von der Ermächtigungsgrundlage § 115 TKG gedeckt, weil sie die Einhaltung der Vorschrift zur Überprüfungspflicht im Sinne von § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG sicherstelle, indem sie spezielle Anforderungen für die unterschiedlichen Prüfungsverfahren formuliere. Dies sei von der Generalklausel des § 115 TKG umfasst, der Gesetzgeber habe bewusst auf einen abschließenden Katalog von Aufsichtsmaßnahmen verzichtet. Sie sei insoweit nur gebunden, ihre Wahl im Rahmen ihres pflichtgemäßen Ermessens zu treffen.
87Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte des vorliegenden Verfahrens sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
88Entscheidungsgründe
89I. Die Klage ist zulässig.
901. Auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 91 VwGO kommt es für die Zulässigkeit des nunmehr gestellten Antrags nicht an. Denn die Umstellung des Klageantrags ist keine Klageänderung in diesem Sinne, sondern eine Beschränkung des Klageantrags gemäß § 173 Abs. 1 VwGO, § 264 Nr. 2 ZPO.
912. Die Klägerin ist insbesondere gemäß § 42 Abs. 2 VwGO klagebefugt. Nach dieser Vorschrift ist die Klage nur zulässig, wenn der Kläger geltend macht, durch den Verwaltungsakt oder seine Ablehnung oder Unterlassung in seinen Rechten verletzt zu sein. Das ist dann der Fall, wenn nach dem tatsächlichen Klagevorbringen eine Verletzung eigener subjektiver Rechte des Klägers möglich erscheint. Dies ist bereits dann anzunehmen, wenn eine Verletzung eigener subjektiver Rechte des Klägers nicht offensichtlich und eindeutig nach jeder Betrachtungsweise ausgeschlossen ist.
92Vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Juli 2001 – 1 C 35.00 –, BVerwGE 114, 356 = juris Rn. 15; OVG NRW, Urteil vom 19. März 2019 – 4 A 1361/15 –, ZLW 2019, 309 = juris Rn. 91 f., m. w. N.
93Subjektive Rechte vermitteln solche Normen, die nicht ausschließlich der Durchsetzung von Interessen der Allgemeinheit dienen, sondern zumindest auch dem Schutz individueller Rechte. In diesem Sinn drittschützend ist eine Norm, die das geschützte Recht sowie einen bestimmten und abgrenzbaren Kreis der hierdurch Berechtigten erkennen lässt.
94Vgl. BVerwG, Urteile vom 11.10.2016 – 2 C 11.15 –, juris Rn. 27, und vom 10.4.2008 – 7 C 39.07 –, BVerwGE 131, 129 = juris Rn. 19.
95a) Eine mögliche Verletzung in subjektiven Rechten der Klägerin ist zunächst hinsichtlich Nr. 1 der angefochtenen Verfügung nach dem Klagevorbringen möglich. Die Klägerin ist als Anbieterin von Telekommunikationsdiensten Adressatin der Verfügung. Sie beruft sich darauf, dass die Überprüfung Vor-Ort durch Dritte mittels der in § 111 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 bis 7 TKG aufgeführten Dokumente bereits von Gesetzes wegen erlaubt sei. Soweit Nr. 1 der angegriffenen Verfügung Nr. 61/2016 vom 21. Dezember 2016 in der Fassung der Verfügungen Nr. 67/2017 und Nr. 126/2017 und in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. Dezember 2017 – nach dem Gesetzesverständnis der Klägerin – über die gesetzlichen Verpflichtungen hinausgehende Verpflichtungen enthält, ist eine mögliche Verletzung in eigenen Rechten daher jedenfalls nicht offensichtlich und eindeutig nach jeder Betrachtungsweise ausgeschlossen.
96b) Im Hinblick auf den von der Klägerin weiter geltend gemachten Anspruch auf Aufhebung einzelner Regelungen in den Verfahren Nr. 2 bis 4 der Verfügung Nr. 61/2016 in Gestalt der Verfügungen Nr. 67/2017 und Nr. 126/2017 und in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. Dezember 2017, soweit diese Regelungen zur Übermittlung von Identitätsdokumenten und Prüfung erhobener Daten und zur Datenerhebung enthalten, ist eine Verletzung in eigenen Rechten nach den oben genannten Maßgaben ebenfalls möglich. Zwar handelt es sich bei der hier angegriffenen Allgemeinverfügung nicht um einen die Klägerin (nur) belastenden Verwaltungsakt. Denn die Klägerin ist nicht verpflichtet, neben der in § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG eröffneten Möglichkeit durch Vorlage eines Identitätsdokuments die bei Verkauf einer Prepaid-Karte vorgesehene Überprüfung der Identität vorzunehmen, auch die in der angegriffenen Verfügung geregelten weiteren Verfahren zu nutzen. Vielmehr wird ihr dies erst durch die angegriffene Verfügung ermöglicht. Ob dies zur Folge hat, dass die Klägerin sich nur gegen einzelne anfechtbare Nebenbestimmungen der Allgemeinverfügung wenden kann, wenn ihr ein subjektives Recht auf Erlass einer ermessensfehlerfreien Allgemeinverfügung zusteht oder ob eine Verletzung bereits deshalb möglich erscheint, weil diese für sich genommen für die Klägerin auch belastend sind, kann im Ergebnis offen bleiben.
97Es erscheint jedenfalls nicht offensichtlich und eindeutig nach jeder Betrachtungsweise ausgeschlossen, dass der Klägerin über § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG ein geschütztes (subjektives) Recht auf den ermessensfehlerfreien Erlass einer Festlegung der anderen geeigneten Verfahren im Sinne von § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG zusteht.
98Vgl. grundsätzlich zur Möglichkeit und zu den Voraussetzungen einen Anspruch auf Erlass einer Allgemeinverfügung geltend machen zu können: VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16. Mai 1997 – 5 S 1842/95 –, juris Rn. 26; Stelkens in: Stelkens/Bonk/Sachs (Hrsg.), VwVfG, 9. Aufl. (2018), § 35 Rn. 274.
99Es erscheint ebenfalls nicht ausgeschlossen, dass dieser Anspruch durch die von der Klägerin mit ihrer Klage in Frage gestellten Regelungen verletzt worden sein könnte und sie einen Anspruch auf den Erlass einer Allgemeinverfügung ohne die angegriffenen Regelungen hat.
100Denn nach dem oben dargestellten Maßstab vermittelt die Regelung in § 111 Abs. 1 Satz 4, 2. Halbsatz TKG für den insoweit bestimmbaren und abgrenzbaren Kreis der Diensteanbieter subjektive Rechte, weil hierdurch auch Interessen der Diensteanbieter, nämlich ihre in den Schutzbereich von Art. 12 GG fallende Tätigkeit als Anbieter von Prepaid-Produkten, geschützt werden soll.
101Der Gesetzesentwurf der Regierungsfraktionen, der u. a. die Neufassung des § 111 TKG in seinem Artikel 9 vorsieht und auf dem die hier in Rede stehende Fassung maßgeblich beruht, hat den Erfüllungsaufwand für die Wirtschaft in den Blick genommen und festgestellt, dass durch die in Artikel 9 vorgenommene Änderung des Telekommunikationsgesetzes, eine dauerhafte, zusätzliche Belastung der Telekommunikationsdiensteanbieter zu erwarten sei. Die im Gesetzesentwurf vorgesehene Nacherfassung des Erfüllungsaufwandes für die Wirtschaft durch die Angaben des Bundeswirtschaftsministeriums (BMWi) vom 20. Juni 2016 berücksichtigt dabei gerade auch, dass der bisherige Vertrieb der Prepaid-Produkte auf verschiedenen Vertriebswegen erfolgte, die von den Anbietern nach der Neuregelung überprüft werden müssen und dass für die Erfüllung der Überprüfungspflicht je nach Vertriebsweg unterschiedliche Kosten zu erwarten seien, während der Gesetzesentwurf selbst insoweit nur den Vertriebsweg des Erwerbs von Prepaid-Produkten unter Anwesenden regele.
102Vgl. Gesetzesentwurf der Fraktionen CDU/CSU und SPD, Entwurf eines Gesetzes zum besseren Informationsaustausch bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus, BT-Drs. 18/8702, Seite 2; Nacherfassung des Erfüllungsaufwands für die Wirtschaft, Angaben des BMWi vom 20. Juni 2016, Anhang zum Protokoll-Nr. 18/84 des Deutschen Bundestages – Innenausschuss -, Seite 107.
103Der Gesetzgeber hatte daher bei der vorgesehenen Festlegung der „anderen Verfahren“ die Interessen der Diensteanbieter im Blick, durch die Schaffung technikoffener Verfahren ein für Diensteanbieter und die Kunden praktikables Verfahren für diese Identitätsfeststellung zu entwickeln und damit das Interesse der Kunden und Unternehmen an einer einfachen Anschaffung eines Mobiltelefons zu wahren.
104Vgl. die Ausführungen des damaligen Bundesinnenministers Dr. de Maizière bei der Beratung des Gesetzes im Deutschen Bundestag, Plenarprotokoll 18/176, Seite 17303.
105Dementsprechend ist auch hinsichtlich der Festlegung der „anderen Verfahren“ im Sinne von § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG ein Anhörungsrecht für „die betroffenen Kreise“, zu denen insbesondere auch die Anbieter von Telekommunikationsdiensten zählen,
106vgl. BT-Drs. 18/8702, Seite 23,
107vorgesehen worden.
1083. Der Klägerin mangelt es auch nicht an dem allgemeinen Rechtschutzbedürfnis für die Aufhebung der angefochtenen Bestimmungen.
109Der Zulässigkeit des Antrags steht unter diesem Gesichtspunkt nicht entgegen, dass die angegriffenen Teile der Verfügung möglicherweise untrennbar mit den übrigen Bestandteilen der Verfügung verknüpft sind. Ob ein Verwaltungsakt oder eine Nebenbestimmung isoliert aufgehoben werden kann, ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eine Frage der Begründetheit und nicht der Zulässigkeit eines Aufhebungsbegehrens, sofern nicht eine isolierte Aufhebbarkeit offenkundig von vornherein ausscheidet.
110Vgl. BVerwG, vom 17. Oktober 2012 – 4 C 5.11 –, juris Rn. 5 und vom 21. Juni 2007 – 3 C 39.06 –, juris Rn. 20; ausdrücklich zur streitgegenständlichen Verfügung: VG Köln, Beschluss vom 23. Mai 2018 – 21 L 4882/17 –, juris Rn. 16 f., m. w. N.
111Letzteres ist hier – bezogen auf den Aufhebungsantrag hinsichtlich Nr. 1 der Verfügung und die Aufhebungsanträge hinsichtlich der angegriffenen Regelungen zur Übermittlung von Identitätsdokumenten und Prüfung erhobener Daten – nicht der Fall. Auch im Hinblick auf die von der Klägerin angegriffenen Regelungen über die Datenerhebung scheidet eine isolierte Aufhebbarkeit nicht offenkundig aus, weil das Verhältnis der Verpflichtung zur Datenerhebung und der Verpflichtung zur Datenüberprüfung und in der Folge der Zusammenhang bzw. die Trennbarkeit dieser beiden Verpflichtungen erst im Rahmen der Begründetheit zu klären sein wird.
112II. Die Klage ist im tenorierten Umfang begründet. Die angegriffene Allgemeinverfügung der Beklagten Nr. 61/2016 vom 21. Dezember 2016 in der Fassung der Verfügungen Nr. 67/2017 und Nr. 126/2017 und in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. Dezember 2017 ist rechtswidrig, soweit sich die Klägerin gegen die Regelungen in Nr. 1 der angegriffenen Verfügung insgesamt (dazu unter 1.) und gegen die Regelungen in Nr. 2 Abs. 1, 4 und 5, Nr. 3 Abs. 1, 5 und 6 und Nr. 4 Abs. 1, 4 und 6 der angegriffenen Verfügung insofern wendet, als diese Regelungen zur Übermittlung von Identitätsdokumenten und Prüfung erhobener Daten enthalten (dazu unter 2.), und verletzt die Klägerin insoweit in ihren Rechten (siehe unter 3.). Die rechtswidrigen Regelungen sind insoweit auch materiell teilbar (dazu unter 4.), so dass die angegriffene Verfügung in diesem Umfang aufzuheben war (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Soweit die Klägerin sich hingegen ebenfalls gegen die Bestimmungen in Nr. 2 Abs. 1, 3, 5 und 6, Nr. 3 Abs. 1, 4, 6, 7, 8 und 9, Nr. 4 Abs. 1 und 6 wendet, insofern diese einzelne Regelungen betreffend die Datenerhebung enthalten, ist die Klage unbegründet, weil diese sich als rechtmäßig erweisen (unter 5.)
1131. Nr. 1 der Verfügung der Beklagten Nr. 61/2016 vom 21. Dezember 2016 in der Fassung der Verfügungen Nr. 67/2017 und Nr. 126/2017 und in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. Dezember 2017 (nachfolgend auch nur Verfügung Nr. 61/2016) erweist sich als rechtswidrig, weil es an einer Ermächtigungsgrundlage für den Erlass der streitgegenständlichen Regelung fehlt. Nr. 1 der Verfügung 61/2016 regelt Verfahrensanforderungen für die Erhebung der Anschlussinhaberdaten durch einen von dem Diensteanbieter in seinen Vertrieb eingebundenen und unmittelbar anwesenden Dritten mit der Prüfung der Echtheit des Identitätsdokuments sowie der Übereinstimmung des künftigen Anschlussinhabers mit der in dem Identitätsdokument ausgewiesenen Person. Zur Festlegung dieser Verfahrensbestimmungen ist die Beklagte jedoch weder über § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG, vgl. dazu unter a), noch über § 115 TKG, vgl. dazu unter b), ermächtigt.
114a) Die Festlegung in Nr. 1 der angegriffenen Verfügung ist zunächst nicht von der Ermächtigungsgrundlage des § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG gedeckt.
115Nach § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG legt die Bundesnetzagentur nach Anhörung der betroffenen Kreise durch Verfügung im Amtsblatt fest, welche anderen Verfahren zur Überprüfung geeignet sind, wobei jeweils zum Zwecke der Identifikation vor Freischaltung der vertraglich vereinbarten Mobilfunkdienstleistung ein Dokument im Sinne des Satzes 3 genutzt werden muss. Die Andersartigkeit der Verfahren bestimmt sich dabei in Bezug auf den vorhergehenden Satz 3, der als gesetzlich vorgesehenes Verfahren der Überprüfung vorsieht, dass bei im Voraus bezahlten Mobilfunkdiensten die Richtigkeit der nach Satz 1 erhobenen Daten vor der Freischaltung durch Vorlage eines der in § 111 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 bis 7 TKG vorgesehenen Dokumente zu überprüfen ist. Es sollte nämlich gesetzlich nur der Vertriebsweg des Erwerbs von Prepaid-Karten unter Anwesenden gesetzlich erfasst sein, für den die Vorlage bestimmter zugelassener Identitätsnachweise vorgesehen wurde.
116Vgl. Gesetzesentwurf zum besseren Informationsaustausch bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus, Nacherfassung des Erfüllungsaufwands für die Wirtschaft, Angaben des BMWi vom 20. Juni 2016, Anhang zum Protokoll-Nr. 18/84 des Deutschen Bundestages – Innenausschuss –, Seite 107.
117Die Ermächtigung der Bundesnetzagentur in § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG, weitere, zur Erreichung des Zieles einer Identifikation des Anschlussinhabers gleichermaßen geeignete Verfahren zur Überprüfung der Angaben nach § 111 Absatz 1 Satz 1 zuzulassen, sollte hingegen für die Fälle Lösungen schaffen, in denen bei Erwerb des im Voraus bezahlten Mobilfunkdienstes aufgrund des gewählten Vertriebsweges eine Überprüfung anhand eines vorgelegten gültigen amtlichen Ausweises ausscheidet, beispielsweise durch die Möglichkeit der Überprüfung des Identitätsnachweises durch Web-Ident- oder Post-Ident-Verfahren.
118Vgl. BT Drs. 18/8702, Seite 23.
119Die Andersartigkeit der Verfahren nach § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG in Bezug auf § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG folgt nach dem Verständnis des Gesetzgebers daraus, dass in diesen Fällen nicht die (physische) „Vorlage“ des Dokuments zur Feststellung der Richtigkeit der erhobenen Daten beim Erwerb der Prepaid-Karte erfolgt, sondern die Identifikation mittels des genutzten Dokuments auf anderem Wege als durch Vorlage des Identitätsdokuments erfolgen soll. Bei diesen anderen geeigneten Verfahren im Sinne von § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG muss nach dem Gesetzeswortlaut ebenfalls ein Dokument im Sinne des Satzes 3 zur Identifikation genutzt werden, im Unterschied zum gesetzlich geregelten Fall kann dieses jedoch nicht beim Erwerb und der Erhebung der Daten beim Erwerbsvorgang – aufgrund des gewählten Vertriebsweges – vorgelegt werden.
120Dieses Verständnis zugrunde gelegt steht der Bundesnetzagentur eine Ermächtigung zur Festlegung von Verfahren zur Überprüfung der Angaben nach § 111 Abs. 1 Satz 1 TKG nur zu, soweit diese nicht bereits von der gesetzlichen Regelung des § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG erfasst werden. Denn hierdurch sollten nur zusätzliche Möglichkeiten zur Durchführung der neu eingeführten Überprüfungspflicht aus § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG geschaffen werden. Die mit dem Verfahren Nr. 1 geregelte Überprüfung der Identität „Vor-Ort durch Dritte“ ist jedoch bereits von § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG umfasst, weil hierbei eine Überprüfung der Identität durch Vorlage des Dokuments erfolgt. Aus Wortlaut (dazu unter aa), Sinn und Zweck (bb) und Systematik der Vorschrift des § 111 (dazu unter cc) unter Berücksichtigung der Gesetzgebungsgeschichte lässt sich nicht herleiten, dass von der gesetzlichen Regelung nur die Überprüfung durch Vorlage bei dem Diensteanbieter erfasst sein sollte. Die Auslegung auch unter Berücksichtigung der Gesetzesbegründung (dd) ergibt vielmehr, dass auch die Überprüfung durch Dritte von der gesetzlichen Regelung des § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG erfasst werden sollte.
121aa) § 111 Absatz 1 Satz 3 TKG verpflichtet die geschäftsmäßigen Erbringer von Telekommunikationsdiensten sowie daran Mitwirkende bei im Voraus bezahlten Mobilfunkdiensten dazu, die nach § 111 Absatz 1 Satz 1 erhobenen Bestandsdaten der Anschlussinhaber vor der Freischaltung auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen. Dem Wortlaut der Neuregelung lässt sich kein Hinweis entnehmen, dass diese Verpflichtung durch den Diensteanbieter höchstpersönlich wahrgenommen werden muss. Bei der in § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG geregelten Überprüfungspflicht handelt es sich um eine Verpflichtung, die in engem Zusammenhang zu dem in § 111 Abs. 1 Satz 1 TKG geregelten Erhebungsvorgang steht. Auch aus der Tatsache, dass § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG davon spricht, dass die (bereits) „erhobenen“ Daten vor der Freischaltung zu überprüfen seien, was für eine Differenzierung und gesetzlich vorgesehene zeitliche Reihenfolge zwischen der Verpflichtung zur vorhergehenden (reinen) Erhebung der Daten und der nachfolgenden Verpflichtung zur Überprüfung der Daten spricht, lässt sich nach dem Wortlaut keine höchstpersönliche Verpflichtung der Diensteanbieter zur Überprüfung begründen. Denn allein die Erhebungspflicht wird in § 111 Abs. 1 Satz 1 TKG dem Diensteanbieter bzw. an der Erbringung Mitwirkenden ausdrücklich zugewiesen. Die Überprüfungspflicht ist hingegen gerade passivisch ausgestaltet („ist die Richtigkeit zu überprüfen“) und nennt keine Verpflichteten. Auch aus dem Begriff „Verfahren“ in § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG kann – wie auch die diesbezüglichen gegenläufigen Argumentationen der Beteiligten zeigen – in dieser Hinsicht nichts hergeleitet werden.
122bb) Aus der Gesetzgebungsgeschichte lässt sich herleiten, dass mit der Einführung der Überprüfungspflicht in § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG eine Erweiterung der nach § 111 Absatz 1 Satz 1 TKG bereits bestehenden Pflicht zur Erhebung und Speicherung der Daten gewollt war.
123Vgl. BT Drs. 18/8702, Seite 22.
124Die im Gesetz vorgesehene ausdrückliche Differenzierung zwischen Erhebung und Überprüfung erklärt sich aus der Gesetzeshistorie. Die Neuregelung beruht darauf, dass die in § 111 Absatz 1 Satz 1 TKG a. F. geregelte (reine) Datenerhebungspflicht dazu führte, dass Daten von den Anbietern zwar gespeichert, aber häufig nicht verifiziert wurden.
125Vgl. BT Drs. 18/8702, Seite 22; dazu auch Ufer, Die Verifikation von Kundendaten über den neuen § 111 TKG, MMR 2017, 83 (84 ff.)
126Umstritten war insoweit, ob nach der damals geltenden Rechtslage eine gesetzliche Verpflichtung des jeweiligen Diensteanbieters zur Verifikation der erhobenen Bestandsdaten bestehe.
127Vgl. BT Drs. 18/8702, Seite 22; Löwenau/Ipsen, in: Scheurle/Mayen (Hrsg.), TKG, 3. Aufl. (2018), § 111, Rn. 15; die Sachverständigen in der Anhörung des Innenausschusses gingen davon aus, dass nach der damals geltenden Rechtslage keine solche Verpflichtung bestehe: Mündliche Stellungnahme des Präsidenten des Bundeskriminalamtes Münch, Wortprotokoll der Anhörung am 20. Juni 2016, Protokoll-Nr. 18/84 des Deutschen Bundestages – Innenausschuss -, Seite 21; schriftliche Stellungnahme des damaligen Präsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz Dr. Maaßen, Protokoll-Nr. 18/84 des Deutschen Bundestages – Innenausschuss –, Seite 79.
128Dies führte dazu, dass Prepaid-Karten für Anschlussinhaber mit nicht-existenten Personalien oder aber für Personen, die es tatsächlich gibt, aber die nicht tatsächlicher Vertragspartner sind, registriert wurden und diese u.a. durch Terroristen oder im Bereich der organisierten Kriminalität genutzt wurden, ohne dass den Sicherheits- und Verfolgungsbehörden wegen der falschen Angaben eine Nachverfolgbarkeit über die erworbenen Prepaid-Karten möglich war.
129Vgl. dazu Mündliche Stellungnahme des Präsidenten des Bundeskriminalamtes Münch, Wortprotokoll der Anhörung am 20. Juni 2016, Protokoll-Nr. 18/84 des Deutschen Bundestages – Innenausschuss -, Seite 21, 29.
130Gefordert wurde daher von Seiten der Sicherheitsbehörden, dass Anbieter verpflichtet werden sollten, die Daten zu überprüfen. Neu an der Regelung sollte sein, dass die Anbieter verpflichtet werden, ein gültiges Identitätsdokument vor Freischaltung der Prepaid-Karte zur Verifikation zu verlangen. Durch die neue Identifikationspflicht von Prepaid-Kunden sollten die Angaben in geeigneter Weise verifiziert und die Datenqualität verbessert werden.
131Vgl. Stellungnahme im Innenausschuss des Bundestages: Mündliche Stellungnahme des Präsidenten des Bundeskriminalamtes Münch, Wortprotokoll der Anhörung am 20. Juni 2016, Protokoll-Nr. 18/84 des Deutschen Bundestages – Innenausschuss -, Seite 21; schriftliche Stellungnahme des damaligen Präsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz Dr. Maaßen, Protokoll-Nr. 18/84 des Deutschen Bundestages – Innenausschuss -, Seite 79
132Dass die Verpflichtung zur Verifikation der Daten bei den Diensteanbietern höchstpersönlich verankert werden sollte, wurde ausweislich der Gesetzgebungsgeschichte hingegen nicht erörtert.
133cc) Eine höchstpersönliche Verpflichtung lässt sich auch nicht unter Heranziehung von § 111 Abs. 4 TKG, der die Verantwortlichkeit des Diensteanbieters bei Einschaltung von Dritten regelt, entnehmen. Hiernach bleibt der Diensteanbieter für die Erfüllung der Pflichten nach Absatz 1 Satz 1 und Absatz 2 verantwortlich, wenn er sich zur Erhebung der Daten nach Absatz 1 Satz 1 und Absatz 2 eines Dritten bedient. Nach ihrem Wortlaut weist die Vorschrift daher die Verantwortung ausdrücklich den Diensteanbietern zu, um insoweit von der Vorgängervorschrift des § 111 Abs. 2 TKG a. F. abzuweichen, die ermöglichte, die Datenerhebungspflicht eigenverantwortlich von Dritten wahrnehmen zu lassen. Eine Ermächtigung, die Erhebung auf Dritte zu übertragen, ist dem Wortlaut von § 111 Abs. 4 TKG nicht zu entnehmen. Vielmehr setzt dieser voraus, dass der Diensteanbieter sich für die Erhebung der Daten nach § 111 Abs. 1 TKG eines Dritten bedienen darf und stellt für diesen Fall klar, dass der Diensteanbieter für die Erfüllung der Erhebungspflicht verantwortlich bleibt. Aus § 111 Abs. 4 TKG kann daher auch nicht geschlossen werden, dass die Überprüfungspflicht nach § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG nicht auf Dritte übertragen werden könne, weil sie nicht ausdrücklich in § 111 Abs. 4 TKG erwähnt werde. Vielmehr stellt sich insoweit die Frage, ob der Diensteanbieter für die Erfüllung dieser Pflicht ebenfalls verantwortlich bleibt, wenn er sich hierfür eines Dritten bedient. Unter Berücksichtigung des oben dargelegten Verständnisses der Überprüfungspflicht als Teil der Erhebungspflicht nach § 111 Abs. 1 Satz 1 TKG regelt dieser aber auch die Letztverantwortlichkeit des Diensteanbieters für die Erfüllung der Überprüfungspflicht bei Erhebung der Daten im Prepaid-Bereich nach § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG. Denn mit der Regelung soll klargestellt werden, dass es dem Diensteanbieter weiterhin frei steht, seine Pflicht zur Datenerhebung im Rahmen der Vorgaben für die Auftragsverarbeitung auf vertraglichem Wege insgesamt oder in Teilen auf Dritte zu delegieren. Er soll als Auftraggeber aber Hauptverantwortlicher mit allen Kontroll- und Überwachungspflichten bleiben.
134Vgl. BT Drs. 18/8702, S 23.
135Dieses Verständnis des § 111 Abs. 4 TKG zugrunde gelegt lässt sich auch nicht aus der Regelung des § 112 Abs. 1 Satz 2 TKG herleiten, dass es für eine Durchführung der Überprüfungspflicht nach § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG durch Dritte einer ausdrücklichen Ermächtigung bedürfte. Zum einen betrifft die ausdrückliche Ermächtigung in § 112 TKG nur die nach der Gesetzessystematik eigene, von der Erhebungs- und Überprüfungspflicht unabhängige Frage der Speicherung der Daten in einer Kundendatei, die keinen Rückschluss auf die Auslegung der Vorschrift des § 111 Abs. 1 TKG erlaubt. Denn insoweit ist § 111 Abs. 4 die speziellere Vorschrift für die Frage der Einbindung von Dritten bei der Erfüllung der Pflichten nach § 111 Abs. 1 TKG. Zum anderen lässt sich aus dieser Vorschrift auch nicht herleiten, dass es in diesem Bereich einer ausdrücklichen Ermächtigung bedürfe, um Dritte zu beauftragen. Mit der Einführung der ausdrücklichen Ermächtigung in § 112 Abs. 1 Satz 2 TKG, dass der Verpflichtung zur Führung einer Kundendatei auch dadurch nachgekommen werden kann, dass das Telekommunikationsunternehmen einen Dritten beauftragt, diese Kundendatei zu führen, sollte nach der Gesetzesbegründung nämlich nur die zuvor bereits geübte Praxis rechtlich verankert und den betroffenen Unternehmen die gebotene Rechtssicherheit gegeben werden.
136Vgl. die Gesetzesbegründung des Gesetzes zur Neuregelung des Post- und Telekommunikationssicherstellungsrechts und zur Änderung telekommunikationsrechtlicher Vorschriften, mit dem § 112 Abs. 1 Satz 2 TKG zum 1. April 2011 eingeführt wurde: BR-Drs. 490/19, Seite 26; BT-Drs. 17/3306, Seite 20.
137dd) Eine höchstpersönliche Verpflichtung des Diensteanbieters kann auch nicht unter Hinweis auf die Gesetzesbegründung hergeleitet werden, die darauf verweist, dass die bisherigen vertraglichen Verpflichtungen der Vertriebspartner gegenüber den Diensteanbietern nicht ausreichten, um die Erhebung korrekter Kundendaten zu gewährleisten und der weit überwiegende Anteil an Falschangaben auf dem Vertriebsweg des stationären Fachhandels durch Vertriebspartner zu verzeichnen sei. Die Richtigkeit des Datenbestands könne daher effektiv und nachhaltig nur mittels eines zentralen Systems zur Verifikation durch den Diensteanbieter sichergestellt werden.
138Vgl. BT Drs. 18/8702, Seite 23.
139Zum einen kann eine höchstpersönliche Verpflichtung von Diensteanbietern nicht allein aus der Gesetzesbegründung entnommen werden, wenn sich dem Gesetz selbst – wie oben dargelegt – eine solche nach Auslegung nicht entnehmen lässt. Zum anderen steht die Gesetzesbegründung nicht im Widerspruch zu der aufgezeigten Auslegung des § 111 TKG. Durch die Regelung in § 111 Abs. 4 TKG, die die Verantwortung auch für die Überprüfung der Daten im Prepaid-Bereich – als Teil der Erhebungspflicht nach § 111 Abs. 1 Satz 1 TKG – beim Diensteanbieter verankert, hat dieser die Richtigkeit seines Datenbestandes durch die Verantwortung für die Einhaltung der Überprüfungspflicht sicherzustellen. Dies wird der Diensteanbieter üblicherweise mittels eines zentralen Systems zur Verifikation, das er seinen Vertriebspartnern durch vertragliche Verpflichtungen auferlegen wird, erreichen.
140b) Nr. 1 der angegriffenen Verfügung lässt sich auch nicht auf die Ermächtigungsgrundlage des § 115 TKG stützen. Nach § 115 Abs. 1 Satz 1 TKG kann die Bundesnetzagentur Anordnungen und andere Maßnahmen treffen, um die Einhaltung der Vorschriften des Teils 7 und der auf Grund dieses Teils ergangenen Rechtsverordnungen sowie der jeweils anzuwendenden Technischen Richtlinien sicherzustellen. Die Befugnis zum „Sicherstellen“ setzt voraus, dass ein Verstoß gegen Vorschriften des Teils 7 und der auf Grund dieses Teils ergangenen Rechtsvorschriften sowie der jeweils anzuwendenden Technischen Richtlinien vorliegt.
141Vgl. OVG NRW, Urteil vom 10. November 2014 – 13 A 1973/13 –, juris Rn. 31; Graulich, in: Arndt/Fetzer/Scherer/Graulich (Hrsg.), TKG, 2. Aufl. (2015), § 115 Rn. 4; Büttgen, in: Scheurle/Mayen (Hrsg.), TKG, 3. Aufl. (2018), § 115 Rn. 6.
142Die Vorschrift soll nämlich nach der Gesetzesbegründung zur Vorgängervorschrift des § 91 TKG, der die Vorschrift des aktuellen § 115 TKG im Grundsatz entspricht,
143vgl. BT-Drs. 15/2316, Seite 97 f.,
144der Regulierungsbehörde die Möglichkeit geben, auf rechtswidriges Verhalten Beteiligter zu (...) reagieren.
145Vgl. BR-Drs. 80/96, Seite 56.
146Für einen Rückgriff auf die Regelung des § 115 TKG bedarf es daher zunächst eines rechtswidrigen Verhaltens eines Beteiligten. Die Bestimmung kann jedoch nicht für den Erlass präventiver Allgemeinverfügungen herangezogen werden.
147Letztlich ist auch zweifelhaft, ob – außerhalb der Ermächtigung von § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG – die hier streitgegenständlichen Regelungen in der Handlungsform der Allgemeinverfügung erlassen werden könnte. Anders als § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG, der für die Festlegung der „anderen Verfahren“ die Rechtsform der Allgemeinverfügung ausdrücklich vorsieht,
148vgl. zur Möglichkeit, normkonkretisierende Allgemeinverfügungen „sui generis“ in Fachgesetzen festzulegen: Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Hrsg.), VwVfG, 9. Aufl. (2018), VwVfG § 35 Rn. 306,
149kann eine Allgemeinverfügung auf der Grundlage von § 115 TKG nur bei Vorliegen der Voraussetzungen für den Erlass eines Verwaltungsaktes nach § 35 VwVfG erlassen werden. Insoweit erscheint zweifelhaft, ob angesichts der Tatsache, dass die Regelung in Nr. 1 der angegriffenen Allgemeinverfügung weder an ein konkretes Ereignis anknüpft, noch zeitlich befristet ist, ein hinreichend konkreter Sachverhalt vorliegt, der den Erlass einer solchen Verfügung in der Form der Allgemeinverfügung – ohne ausdrückliche Ermächtigung – rechtfertigen kann.
1502. Die in Nr. 2 Abs. 1, 4 und 5, Nr. 3 Abs. 1, 5 und 6 und Nr. 4 Abs. 1, 4 und 6 der angegriffenen Verfügung geregelten Verpflichtungen für Diensteanbieter erweisen sich ebenfalls als rechtswidrig, soweit diese Regelungen zur Übermittlung von Identitätsdokumenten und Prüfung erhobener Daten enthalten. Zwar konnte die Beklagte die Regelungen unter Nr. 2 bis 4 der Verfügung auf die Ermächtigungsgrundlage des § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG stützen, weil es sich bei dem Post-Ident-Verfahren (Nr. 2 der Verfügung), dem Video-Ident-Verfahren (Nr. 3 der Verfügung) und dem Verfahren der Vorabverifikation (Nr. 4 der Verfügung) nach den oben dargelegten Maßgaben um „andere Verfahren“ im Sinne von § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG handelt. Nach § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG steht der Beklagten bei der Festlegung der anderen geeigneten Verfahren ausweislich des Wortlauts der Vorschrift („kann“) Ermessen zu. Nach § 40 VwVfG muss die Behörde, wenn sie ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln, zunächst erkennen, dass sie Ermessen hat. Weiter hat sie dem Zweck der Ermächtigung entsprechend zu handeln und alle für die Ermessensausübung maßgeblichen Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Schließlich hat sie die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten.
151Vgl. ausdrücklich zur Ermächtigung des § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG: VG Köln, Beschluss vom 23. Mai 2018 – 21 L 4882/17 –, juris Rn. 36 f.
152Dieses Ermessen hat die Beklagte bezogen auf die angegriffenen Regelungen fehlerhaft ausgeübt.
153a) Sie hat zunächst die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten, indem sie dem Diensteanbieter in Nr. 2 Abs. 4, Nr. 3 Abs. 5 und Nr. 4 Abs. 4 der angegriffenen Verfügung aufgegeben hat, dafür zu sorgen, dass der Dritte in jedem Einzelfall eine opto-elektronische Kopie, Scan oder entsprechende Abbildung des Identitätsdokuments anfertigt und zum Zwecke der Prüfung unter Beachtung datenschutzrechtlicher und personalausweisrechtlicher Vorgaben an ihn übermittelt. Eine solche Verpflichtung durfte die Beklagte nicht vorsehen, weil sie gegen die gesetzliche Bestimmung des § 20 Abs. 2 PAuswG bzw. des § 18 Abs. 3 PassG verstößt.
154Nach dem zum 15. Juli 2017 in Kraft getretenen § 20 Abs. 2 Satz 1 PAuswG bzw. § 18 Abs. 3 Satz 1 PassG ist das Anfertigen einer Kopie des Personalausweises bzw. des Passes auch im privaten Rechtsverkehr nunmehr zulässig. Nach § 20 Abs. 2 Satz 2 PAuswG dürfen andere Personen als der Ausweisinhaber die Kopie jedoch nicht an Dritte weitergeben, sofern dies nicht spezialgesetzlich zugelassen ist. Nach § 18 Abs. 3 Satz 2 PassG dürfen andere Personen als der Passinhaber die Kopie nicht an Dritte weitergeben, es sei denn, die Weitergabe erfolgt zur Beantragung eines Visums für den Passinhaber und der Passinhaber hat der Weitergabe zugestimmt.
155aa) Zunächst fehlt es an einer spezialgesetzlichen Ermächtigung – wie sie zum Beispiel § 8 Abs. 2 Geldwäschegesetz enthält –, die in Bezug auf die in § 111 Abs. 1 TKG festgelegten Pflichten die Ablichtung des Personalausweises oder Passes und die Übersendung dieser Ablichtung spezialgesetzlich zulassen würde. Die Anfertigung und Übersendung der opto-elektronischen Kopie, des Scans oder der entsprechenden Abbildung des Identitätsdokuments ist insoweit auch nicht auf der Rechtsgrundlage des § 95 Abs. 4 TKG erlaubt. Nach dieser Vorschrift kann der Diensteanbieter im Zusammenhang mit dem Begründen und dem Ändern des Vertragsverhältnisses sowie dem Erbringen von Telekommunikationsdiensten die Vorlage eines amtlichen Ausweises verlangen, wenn dies zur Überprüfung der Angaben des Teilnehmers erforderlich ist (§ 95 Abs. 4 Satz 1 TKG), und von dem Ausweis eine Kopie erstellen (§ 95 Abs. 4 Satz 3 TKG).
156Das Recht zur Vorlage des amtlichen Ausweises und zur Fertigung einer Kopie bezieht sich nach dem klaren Wortlaut allein auf die nach § 95 TKG zu betrieblichen Zwecken zu erhebenden und zu speichernden Daten. Hierbei handelt es sich um solche Bestandsdaten, die die Diensteanbieter zur Begründung, inhaltlichen Ausgestaltung, Änderung oder Beendigung ihrer Vertragsverhältnisse erheben und verwenden. Diese sind von den gemäß § 111 TKG verpflichtend zu speichernden Bestandsdaten zu unterscheiden.
157Vgl. BT Drs. 18/8702, S 22; BVerfG, Beschluss vom 27. Mai 2020 – 1 BvR 1873/13, 1 BvR 2618/13 –, juris Rn. 8a, 10b.
158Die Unterscheidung zwischen den nach § 95 TKG und den nach § 111 TKG zu erhebenden Daten und deren Überprüfung folgt ebenfalls aus der Klarstellung des Verhältnisses zu § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG in § 95 Abs. 4 Satz 2 TKG, wonach die Pflicht nach § 111 Absatz 1 Satz 3 unberührt bleibt.
159Vgl. in diesem Sinne Kannenberg/Müller, in: Scheurle/Mayen (Hrsg.), TKG, 3. Aufl. (2018), § 95 Rn. 67, 69.
160Im Übrigen ließe sich aus der Vorschrift des § 95 TKG nicht die Zulässigkeit des Übersendens einer Fotokopie zur Verifikation der nach § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG erhobenen Daten ableiten, weil die nach § 95 Abs. 4 TKG gefertigte Kopie allein zur Feststellung der für den Vertragsabschluss erforderlichen Angaben des Teilnehmers genutzt werden darf. Dies folgt aus den in § 95 Abs. 4 Sätze 2 und 3 TKG getroffenen Regelungen, wonach der Diensteanbieter von dem Ausweis zwar eine Kopie erstellen kann, diese jedoch unverzüglich nach Feststellung der für den Vertragsabschluss erforderlichen Angaben des Teilnehmers zu vernichten hat.
161bb) Der Diensteanbieter ist auch Dritter im Sinne von § 20 Abs. 2 Satz 2 PAuswG bzw. von § 18 Abs. 3 Satz 2 PassG. Nach der Gesetzesbegründung zur Einführung von § 20 PAuswG (bzw. § 18 Abs. 3 PassG) sind Dritte im Sinne dieser Vorschrift nur nicht die Personen, die derselben Organisation (z. B. juristischen Person) angehören wie diejenige, gegenüber der der Ausweisinhaber seine Zustimmung erklärt hat. Innerhalb ein- und derselben Organisation darf die Ausweiskopie also mit Zustimmung des Ausweisinhabers weitergegeben werden, darüber hinaus aber nicht.
162Vgl. BT-Drs. 18/11729, Seite 28, 33; Beimowski/Gawron, PassG/PersonalausweisG, 2018, § 18 PassG Rn. 10.
163Ein solches Verhältnis liegt bezogen auf den erhebenden „Dritten“ nicht vor, weil „Dritter“ im Sinne der Verfügung Nr. 61/2016 nur derjenige ist, der gerade nicht der Organisation des Diensteanbieters angehört.
164Für die Frage, wer „Dritter“ im Sinne des Personalausweis- bzw. Passgesetzes ist, kommt es hingegen nicht darauf an, ob nach den Definitionen der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) die erhebende Person als Dritter anzusehen ist. Nach der Begriffsbestimmung des Art. 4 Nr. 10 DSGVO ist „Dritter“ eine natürliche oder juristische Person, Behörde, Einrichtung oder andere Stelle, außer der betroffenen Person, dem Verantwortlichen, dem Auftragsverarbeiter und den Personen, die unter der unmittelbaren Verantwortung des Verantwortlichen oder des Auftragsverarbeiters befugt sind, die personenbezogenen Daten zu verarbeiten. Die Begriffsbestimmungen der Datenschutzgrundverordnung beziehen sich – wie sich aus Art. 4 DSGVO ausdrücklich entnehmen lässt („Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet...“ ) – nur auf diese und den von ihr umfassten sachlichen Anwendungsbereich (Art. 2 DSGVO). Dass die Begriffsbestimmungen der DSGVO nach dem Willen des deutschen Gesetzgebers auf die Auslegung des Personalausweis- bzw. Passgesetzes zu übertragen wären, ist hingegen nicht erkennbar. Wie sich der Gesetzesbegründung zur Einführung der Vorschrift des § 20 Abs. 2 PAuswG (bzw. § 18 Abs. 3 PassG) entnehmen lässt, war sich der Gesetzgeber dessen bewusst, dass die Ablichtung des Personalausweises oder Passes häufig mit der Erhebung personenbezogener Daten einhergeht,
165vgl. BT-Drs. 18/11729, Seite 28, 33,
166er hat im Hinblick auf die Frage, wer als Dritter zu werten ist, jedoch keinen Bezug zu den Begriffsbestimmungen des Datenschutzrechts hergestellt. Nichts anderes lässt sich aus § 20 Abs. 2 Satz 4 PAuswG bzw. § 18 Abs. 3 Satz 4 PassG entnehmen, wonach die Vorschriften des allgemeinen Datenschutzrechts über die Erhebung und Verwendung personenbezogener Daten unberührt bleiben. Hiermit sind weitere Vorgaben des allgemeinen Datenschutzrechts gemeint, wie beispielsweise datenschutzrechtliche Löschungspflichten, die dementsprechend ebenfalls einzuhalten sind,
167Vgl. BT-Drs. 18/11279, Seite 28, 33; Beimowski/Gawron, PassG/PersonalausweisG, 2018, § 18 PassG Rn. 12,
168soweit keine speziellere Datenschutzvorschrift vorgeht (vgl. auch die Regelung des § 1 Abs. 2 Satz 1 BDSG).
169Lediglich ergänzend wird angemerkt, dass die Weitergabe der Kopie nach den Regelungen der angegriffenen Verfügung unabhängig davon zu erfolgen hat, ob zwischen Diensteanbieter und Drittem insoweit ein Auftragsverarbeitungsverhältnis im Sinne von Art. 4 Nr. 8 DSGVO vorliegt. Die Übersendung der Kopie soll vielmehr der eigenständigen Kontrolle der erhobenen Daten durch den Diensteanbieter und nicht der Erfüllung des Auftragsverarbeitungsverhältnisses zwischen dem Dritten und dem Diensteanbieter dienen.
170Nach alledem erweist sich die Verpflichtung zur Übersendung einer opto-elektronischen Kopie in den angegriffenen Regelungen daher als rechtswidrig, weil sie gegen die Vorschrift des § 20 Abs. 2 PAuswG bzw. des § 18 PassG verstößt. Diese ist jedoch nicht nach § 44 Abs. 2 Nr. 5 VwVfG (teil-)nichtig, auch wenn ein Verstoß gegen § 20 Abs. 2 PAuswG bzw. § 18 Abs. 3 PassG bußgeldbewehrt ist, vgl. § 32 Abs. 1 Nr. 6 PAuswG bzw. § 25 Abs. 2 Nr. 5 PassG. Denn die Verfügung Nr. 61/2016 „verlangt“ nicht die Begehung einer rechtswidrigen Tat, die einen Straf- oder Bußgeldtatbestand verwirklicht, indem sie wirksam ein solches Tun gebietet.
171Vgl. zum Begriff des Verlangens im Sinne eines „Gebots“: OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 20. Januar 2016 – OVG 10 S 29.15 –, juris Rn. 10; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Hrsg.), VwVfG, 9. Aufl. (2018), § 44 Rn. 150, jeweils m. w. N.
172Denn die Klägerin ist nicht verpflichtet, neben der in § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG eröffneten Möglichkeit durch Vorlage eines Identitätsdokuments, die bei Verkauf einer Prepaid-Karte vorgesehene Überprüfung der Identität vorzunehmen, auch die in der angegriffenen Verfügung geregelten weiteren Verfahren zu nutzen, bei deren Nutzung ihr die Übersendung einer Kopie des Identitätsdokuments aufgegeben werden.
173b) Zudem erweist sich die Verpflichtung zur Übersendung einer opto-elektronischen Kopie, eines Scans, o. Ä. auch deshalb als ermessensfehlerhaft, weil sie von sachfremden Erwägungen getragen worden ist. Die Beklagte hat ein falsches Gesetzesverständnis des § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG zugrunde gelegt, weil sie davon ausging, dass bei einer Überprüfung der erhobenen Daten durch einen Dritten anhand eines Identitätsdokuments, eine erneute Verifikation der Daten durch den Diensteanbieter selbst zu erfolgen hat und auf der Grundlage dieses Verständnisses die Pflicht zur Übersendung einer opto-elektronischen Kopie, eines Scans, o. Ä. in die streitgegenständliche Verfügung aufgenommen.
174Vgl. BNetzA, Verfügung gemäß § 111 Abs. 1 Satz 4 Telekommunikationsgesetz – Auswertung der Stellungnahmen –, Seite 2, 7, 11, 28, 38 („Prüfpflicht“), abrufbar im Internet über die Homepage der Bundesnetzagentur:
175https://www.bundesnetzagentur.de/DE/Sachgebiete/Telekommunikation/Unternehmen_Institutionen/Anbieterpflichten/OeffentlicheSicherheit/Verfuegung111/Verfuegunggemaess111-node.html
176Dieses Verständnis ist jedoch aus den unter 1. dargelegten Gründen fehlerhaft, so dass die hiervon geleiteten Ermessenserwägungen, die Einführung der Übermittlung einer opto-elektronischen Kopie, eines Scans, o. Ä., nicht tragen können.
177c) Da sich Nr. 2 Abs. 4, Nr. 3 Abs. 5 und Nr. 4 Abs. 4 der angefochtenen Verfügung aus den dargelegten Gründen als rechtswidrig erweisen, waren auch Nr. 2 Abs. 5, Nr. 3 Abs. 6 und Nr. 4 Abs. 6 der Verfügung aufzuheben. Danach sind bei der Erhebung und Übermittlung der Daten an den Diensteanbieter zur Prüfung und Speicherung in der Kundendatei die datenschutzrechtlichen Vorgaben und Beschränkungen nach dem PAuswG zu beachten. Geeignete Maßnahmen zur Sicherstellung der Vertraulichkeit und Integrität der Daten sind hierbei einzusetzen. Durch diese (entsprechend geänderte) Vorgaben sollte den geäußerten Bedenken hinsichtlich der sich aus dem Personalausweisgesetz ergebenden Beschränkungen der zu erhebenden und damit der zulässigerweise zu kopierenden Angaben im deutschen Personalausweis Rechnung getragen werden.
178Vgl. BNetzA, Verfügung gemäß § 111 Abs. 1 Satz 4 Telekommunikationsgesetz – Auswertung der Stellungnahmen –, Seite 14, a. a. O.
179Nach Aufhebung von Nr. 2 Abs. 4, Nr. 3 Abs. 5 und Nr. 4 Abs. 4 der Verfügung werden diese Vorgaben daher auch hinfällig. Gleiches gilt für Nr. 2 Abs. 1 Satz 1, Nr. 3 Abs. 1 Satz 1, Nr. 4 Abs. 1 Satz 1, soweit sich diese auch auf die Fertigung von Kopien und deren Übermittlung beziehen („(hinsichtlich) der Fertigung der Kopien u. ä. sowie deren Übermittlung an ihn“), die daher ebenfalls insoweit aufzuheben waren.
1803. Eine Rechtsverletzung der Klägerin im Sinne von § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO liegt vor, soweit die angegriffenen Regelungen im tenorierten und oben dargestellten Umfang rechtswidrig sind. § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG begründet – wie bereits in der Zulässigkeitsprüfung festgestellt – ein subjektives Recht der Diensteanbieter auf Erlass einer ermessensfehlerfreien Verfügung anderer zur Überprüfung gleich geeigneter Verfahren. Dieses Recht wird durch die angefochtenen Regelungen der angegriffenen Verfügung, soweit sie nach Vorstehendem rechtswidrig sind, verletzt.
1814. Die rechtswidrigen Bestimmungen der angegriffenen Verfügung sind in Bezug auf die verbleibende Regelung der angegriffenen Verfügung auch materiell teilbar.
182Eine materielle Teilbarkeit ist gegeben, wenn die rechtlich unbedenklichen Teile nicht in einem untrennbaren inneren Zusammenhang mit dem rechtswidrigen Teil stehen, sondern als selbständige Regelung weiter existieren können, ohne ihren Bedeutungsinhalt zu verändern. Daraus folgt unmittelbar, dass allein der Umstand, dass eine selbständig wirkende Anordnung bestehen bleiben würde, noch nicht die Annahme der Teilbarkeit eines Verwaltungsaktes rechtfertigt. In den Blick zu nehmen ist darüber hinaus der Bedeutungsinhalt, der der Gesamtregelung zukommen soll. Steht – wie hier – der Erlass des Verwaltungsaktes im Ermessen der Behörde, ist auch von Bedeutung, ob die Behörde den Verwaltungsakt auch ohne die angegriffene Teilregelung erlassen hätte; durch eine bloße Teilaufhebung darf ihr nicht eine Restregelung aufgezwungen werden, die sie so nicht erlassen hätte.
183Vgl. BVerwG, Beschluss vom 1. Juli 2020 – 3 B 1.20 –, juris Rn. 14, m. w. N.
184Die angegriffene Verfügung kann auch ohne die rechtswidrigen Regelungen in Nr. 1 und Nr. 2 Abs. 4, Nr. 3 Abs. 5 und Nr. 4 Abs. 4, Nr. 2 Abs. 5, Nr. 3 Abs. 6, Nr. 4 Abs. 6 sowie Nr. 2 Abs. 1 Satz 1, Nr. 3 Abs. 1 Satz 1, Nr. 4 Abs. 1 Satz 1, soweit sich letztere auch auf die Fertigung von Kopien und deren Übermittlung beziehen, bestehen. Nach Aufhebung von Nr. 1 der Verfügung Nr. 61/2016 bleiben die in den weiteren Nummern der Verfügung geregelten Verfahren zur Überprüfung selbständig bestehen. Auch mit Aufhebung der Regelungen die Fertigung von Kopien und deren Übermittlung in Nr. 2 bis 4 der angegriffenen Verfügung bleiben selbstständige Regelungen zum Video-Ident-Verfahren übrig. Lediglich die – vom Gesetzgeber nicht vorgesehene – „Doppelverifikation“ der erhobenen Daten (nicht der Identität) anhand der übersandten Kopie fällt weg.
185Das Gericht geht auch davon aus, dass die Bundesnetzagentur die Verfügung Nr. 61/2016 bei zutreffendem Gesetzesverständnis auch ohne die gerichtlich aufgehobenen Regelungen erlassen hätte. Denn ihr Ermessen zum Erlass der Verfügung war nach § 150 Abs. 15 Satz 1 TKG dahingehend eingeschränkt, dass sie zur Festlegung der „anderen geeigneten Verfahren“ spätestens am 1. Januar 2017 verpflichtet war.
186Vgl. auch VG Köln, Beschluss vom 23. Mai 2018 – 21 L 4882/17 –, juris Rn. 36.
187Dabei waren das Post-Ident- und Video-Identifikationsverfahren ausdrücklich als „andere Verfahren“ im Sinne von § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG vom Gesetzgeber in seiner Gesetzesbegründung erwähnt worden.
188Vgl. BT Drs. 18/8702, Seite 23, dort „web-ident“.
189Des gesetzlichen Auftrags zur Festlegung gleich geeigneter Verfahren sowie der gesetzlichen Wertung, dass Post-Ident- und Web-Ident-Verfahren gleichermaßen geeignete Verfahren wie die Vorlage von Dokumenten unter Anwesenden sind, war sich die Bundesnetzagentur auch bei der Festlegung in der Verfügung Nr. 61/2016 erkennbar bewusst.
190Vgl. BNetzA, Verfügung gemäß § 111 Abs. 1 Satz 4 Telekommunikationsgesetz – Auswertung der Stellungnahmen –, Seite 1 f., a. a. O.
191Zwar hat sie in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, sie hätte die Verfügung nur in dieser Form und nicht anders erlassen. Dieser – wohl verfahrensgeleitete – Vortrag steht jedoch den oben dargelegten, im Verwaltungsverfahren zum Ausdruck gekommenen und für einen objektiven Betrachter deutlich gewordenen Absichten der Behörde, auf die es insoweit maßgeblich ankommt, entgegen.
1925. Die von der Klägerin weiter beanstandeten, die reine Datenerhebung betreffenden Regelungen in den Verfahren Nr. 2 bis 4 erweisen sich als rechtmäßig.
193Diese fallen zunächst in den Anwendungsbereich der Ermächtigungsgrundlage des § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG, weil es sich unstreitig um „andere Verfahren“ im Sinne von § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG handelt. Hierbei werden Verfahren erfasst, bei denen die Datenverifikation nicht durch die Vorlage der in § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG genannten Identitätsdokumente erfolgen kann.
194Die Beklagte hat das ihr im oben dargelegten Sinne zustehende Ermessen nicht deshalb fehlerhaft ausgeübt, weil sie in den angegriffenen Regelungen in Nr. 2 Abs. 1, 3, 5 und 6, Nr. 3 Abs. 1, 4, 6, 7, 8 und 9, Nr. 4 Abs. 1 und 6 ebenfalls Bestimmungen hinsichtlich der Datenerhebung getroffenen hat. Bei den angegriffenen Regelungen handelt es sich im Einzelnen um:
195- Die Pflicht zur Vergewisserung (Nr. 2 Abs. 1, Nr. 3 Abs. 1 Satz 1, Nr. 4 Abs. 1) dass der ausgewählte Dritte die Gewähr dafür bietet, dass die Anweisungen hinsichtlich der Datenerhebung, Identitätsprüfung, Prüfung der Echtheit des Identitätsdokuments, der Fertigung der Kopien u.ä. sowie deren Übermittlung an ihn eingehalten werden und die Pflicht zur Dokumentation;
196- Schulungserfordernis bezogen auf Identitätsprüfung (Nr. 3 Abs. 1 Sätze 3 ff.)
197- Konkretisierung der Anforderungen bei der Überprüfung des Identitätsdokuments (Nr. 2 Abs. 2 und 3, Nr. 3 Abs. 2, 3 und 4) und ausdrückliches Einräumen der Möglichkeit, im Rahmen des Video-Ident-Verfahrens hierfür die erworbene Mobilfunkleistung zu nutzen (Nr. 3 Abs. 8);
198- Sicherstellung der Anforderungen der gesetzlichen Vorschriften, Schutz der Daten (Nr. 2 Abs. 5 und Nr. 4 Abs. 2, 3, 6);
199- Nutzung sicherer Datenerhebungsprogramme (Nr. 3 Abs. 9)
200- Dokumentation der erhebenden Person (Nr. 2 Abs. 6, Nr. 3 Abs. 7 ).
201Die Beklagte hat mit der Festlegung dieser Verfahrensbestimmungen entsprechend den Zwecken der Ermächtigung in § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG gehandelt. Die Ermächtigung der Bundesnetzagentur in § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG soll zum einen dazu dienen, weitere zur Erreichung des Zieles einer Identifikation des Anschlussinhabers gleichermaßen geeignete Verfahren zur Überprüfung der Angaben nach § 111 Absatz 1 Satz 1 TKG zuzulassen.
202Vgl. BT Drs. 18/8702, Seite 23.
203Zum anderen soll das übergeordnete, sich aus § 111 Abs. 1 Satz 1 TKG ergebende Ziel, für die Zwecke nach §§ 112 und 113 TKG zutreffende Daten zu erheben und zu speichern,
204vgl. VG Köln, Beschluss vom 23. Mai 2018 – 21 L 4882/17 –, juris Rn. 40,
205auch im Prepaid-Bereich sichergestellt werden.
206Diesen Zwecken entspricht es zunächst, wenn die Beklagte in ihrer Verfügung den Erhebungs- und Überprüfungsvorgang als einen im Sinne der Lebenswirklichkeit einheitlichen Vorgang versteht und die Festlegung der Verfahren hieran ausrichtet, auch wenn die (reine) Erhebung und Überprüfung nach dem Gesetzeswortlaut zwei gesonderte Verpflichtungen des Diensteanbieters darstellen und § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG nur zur Festlegung gleich geeigneter Verfahren zur Überprüfung ermächtigt. Wie bereits dargelegt handelt es sich bei der in § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG geregelten Überprüfungspflicht um eine Verpflichtung, die in engem Zusammenhang zu dem in § 111 Abs. 1 Satz 1 TKG geregelten Erhebungsvorgang steht und eine Erweiterung der nach § 111 Absatz 1 Satz 1 TKG bereits bestehenden Pflicht zur Erhebung und Speicherung der Daten darstellt. Dementsprechend ist es nicht zu beanstanden, dass die Beklagte die Begriffe der „Datenerhebung“ und der „erhebenden Person“ verwendet und die Tätigkeit der Datenerhebung als den der Datenüberprüfung vorausgehenden Teil mitregelt. Denn der Überprüfung von Daten geht immer denknotwendig eine Erhebung derjenigen Daten voraus, die zu überprüfen sind. Spezifische Verpflichtungen, die den reinen Erhebungsvorgang betreffen, sind nicht vorgesehen worden. Die vorgesehenen Schulungserfordernisse für die erhebenden Mitarbeiter betreffen Kenntnisse hinsichtlich der Vornahme von Identitätsprüfungen und damit gerade den Überprüfungs- und nicht den Erhebungsvorgang.
207Die Verfügung der Antragsgegnerin hält auch die gesetzlichen Grenzen des Ermessens insofern ein, als der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt wird. Zwar greift die Regelung des § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG in die Freiheit wirtschaftlicher Betätigung gemäß Art. 2 Abs. 1 und Art. 12 Abs. 1 GG, die auch die unternehmerische Freiheit schützt,
208vgl. BVerwG, Urteil vom 13. April 2016 – 8 C 2/15 –, juris Rn. 26,
209ein, was die Beklagte auch bei der Ausgestaltung der nach § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG festzulegenden „anderen“ Verfahren im Rahmen der Ausübung ihres Ermessens zu berücksichtigen hat. Eine weniger einschneidende Maßnahme, die die Erreichung des Gesetzeszwecks gleichermaßen sichergestellt hätte, ist jedoch nicht ersichtlich. Insoweit kommt es nicht darauf an, dass die Klägerin meint, durch ihr Vertriebssystem hinreichend sicherstellen zu können, dass keine fehlerhaften Daten erhoben werden. Denn es oblag der Beklagten nach § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG, eine für sämtliche Diensteanbieter gleichermaßen geeignete und ein hohes Sicherheitsniveau sicherstellende Allgemeinverfügung zu treffen. Mit den getroffenen – und nach Aufhebung im tenorierten Umfang weiterhin verbliebenen – Festlegungen geht die Beklagte nicht über das hinaus, was zur Erhebung zutreffender Daten für das dargestellte Ziel, ein hohes Niveau der Überprüfung der erhobenen Daten zu erreichen, erforderlich ist. Die (verbliebenen) Regelungen stellen sicher, dass ein hohes Niveau der Verifikation der Daten auch bei den in der angegriffenen Verfügung festgelegten Verfahren erreicht wird und der Diensteanbieter seinen Pflichten als nach § 111 Abs. 4 TKG Verantwortlicher nachkommt. Dies betrifft insbesondere die Pflicht zur Vergewisserung, das Schulungserfordernis und die Konkretisierung der Anforderungen bei der Überprüfung. Soweit durch die Festlegungen klargestellt wird, dass die gesetzlichen Bestimmungen einzuhalten sind, haben diese Absätze keinen regelnden Charakter, weil diese von Gesetzes wegen einzuhalten sind. Die getroffenen Regelungen beim Verfahren der Vorabverifikation stellen die gesetzlichen Vorschriften zum Datenschutz sicher. Letztlich bestehen auch keine Bedenken gegen die Verhältnismäßigkeit der in Nr. 2 Abs. 6, Nr. 3 Abs. 7 der Verfügung vorgesehenen Verpflichtung der Klägerin dafür zu sorgen, dass die Person, die die Erhebung der Daten, die Echtheitsprüfung des Ausweises und den Identitätsabgleich durchführt, in geeigneter Weise dokumentiert wird. Diese Verpflichtung verstößt auch nicht gegen die Regelung des § 26 BDSG. Danach dürfen personenbezogene Daten von Beschäftigten für Zwecke des Beschäftigungsverhältnisses verarbeitet werden, wenn dies für die Entscheidung über die Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses oder nach Begründung des Beschäftigungsverhältnisses für dessen Durchführung oder Beendigung oder zur Ausübung oder Erfüllung der sich aus einem Gesetz oder einem Tarifvertrag, einer Betriebs- oder Dienstvereinbarung (Kollektivvereinbarung) ergebenden Rechte und Pflichten der Interessenvertretung der Beschäftigten erforderlich ist. Die Verpflichtung, zu dokumentieren, wer die Überprüfung wahrgenommen hat, dient der Durchführung des Beschäftigungsverhältnisses. Die Dokumentation von Arbeitsprozessen und der ausführenden Person ist ein im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses allgemein üblicher Vorgang. Außerdem ist diese Regelung auch aus sachgerechten Erwägungen eingeführt worden. Denn sie dient der Sicherstellung und Nachvollziehbarkeit auch zugunsten der Diensteanbieter, dass die Überprüfungspflicht aus § 111 Abs. 1 Satz 3 eingehalten wird. Die aufgeworfene Frage, ob die Übermittlung der Kennung der Person an den Diensteanbieter einen Verstoß gegen § 26 BDSG darstellt, stellt sich nicht, weil bei den Verfahren Nr. 2 bis 4 eine Übermittlung der Kennung an den Diensteanbieter nicht vorgesehen ist und das Verfahren nach Nr. 1 der Verfügung Nr. 61/2016 aus den oben dargelegten Gründen aufzuheben ist.
210Über die gestellten Hilfsanträge war nicht mehr zu entscheiden. Den Hilfsantrag unter Nr. 1 ihres Antrags hat die Klägerin ausdrücklich nur für den Fall der Abweisung des Hauptantrags unter Nr. 1 gestellt. Auch dem unter Nr. 3 gestellten Hilfsantrag, die angegriffene Verfügung insgesamt aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die angegriffene Verfügung neu zu erlassen, war ebenfalls nicht nachzugehen, obwohl die Klage teilweise abzuweisen war. Ob das Gericht sich mit dem Hilfsantrag erst bei (vollständiger) Abweisung des Hauptantrags zu befassen hat oder die Rechtshängigkeit des Hilfsantrags nur bei (vollständiger) Zuerkennung des Hauptanspruchs rückwirkend entfällt, obliegt der Bestimmung des Klägers im Rahmen der Dispositionsmaxime.
211Vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Oktober 2007 – 1 C 10.07 –, juris Rn. 38; Sodan, in Sodan/Ziekow (Hrsg.), VwGO, 5. Aufl. (2018), § 44, Rn. 5.
212Die Klägerin hat deutlich zum Ausdruck gebracht, dass es für sie nach ihrem Rechtsschutzbegehren wesentlich darauf ankommt, dass die für sie belastenden Regelungen (teilweise) aufgehoben werden. Eine vollständige Aufhebung (und Neubescheidung) will sie hingegen nur für den Fall erreichen, wenn es wegen der fehlenden Teilbarkeit der Regelung nicht zu einer teilweisen Aufhebung der Regelungen kommen kann und nicht für den Fall, dass sie aus anderen Gründen teilweise unterliegt.
213Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
214Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 und 2 VwGO i. V. m. § 709 Satz 2 ZPO.
215Die Berufung war nicht zulassen, weil die Voraussetzungen für eine Zulassung der Berufung durch das Verwaltungsgericht gemäß § 124a Abs. 1 in Verbindung mit § 124 Abs. 2 Nr. 3 und 4 VwGO nicht vorlagen. Die Sache hat insbesondere keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, weil es an einer in ihrer Bedeutung über den zugrundeliegenden Einzelfall hinausgehenden klärungsbedürftigen und entscheidungserheblichen Rechtsfrage bzw. einer allgemeinen, über den Einzelfall hinausgehenden Bedeutung fehlt.
216Vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 7. Oktober 2020 – 2 BvR 2426/17 –, juris Rn. 37; BVerwG, Beschluss vom 9. Oktober 2020 – 7 B 5.20 –, Rn. 4 - 5, OVG NRW, Beschluss vom 2. März 2017 – 4 A 1808/16 –, juris Rn. 20
217Denn die in diesem Verfahren aufgeworfenen Rechtsfragen stellen sich allein im Zusammenhang mit dem Erlass einer Allgemeinverfügung auf der Grundlage von § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG.
218Rechtsmittelbelehrung
219Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu, wenn sie von diesem zugelassen wird. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn
2202211. ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,
2222. die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,
2233. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
2244. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
2255. ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
226Die Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, schriftlich zu beantragen. Der Antrag auf Zulassung der Berufung muss das angefochtene Urteil bezeichnen.
227Statt in Schriftform kann die Einlegung des Antrags auf Zulassung der Berufung auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) erfolgen.
228Die Gründe, aus denen die Berufung zugelassen werden soll, sind innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils darzulegen. Die Begründung ist schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, einzureichen, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist.
229Vor dem Oberverwaltungsgericht und bei Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird, muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.
230Die Antragsschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.
231Ferner ergeht – ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter – der folgende
232Beschluss
233Der Wert des Streitgegenstandes wird auf
234500.000,00 €
235festgesetzt.
236Gründe
237Mit Rücksicht auf die Bedeutung der Sache für die Klägerin ist es angemessen, den Streitwert auf den festgesetzten Betrag zu bestimmen (§ 52 Abs. 1 GKG).
238Rechtsmittelbelehrung
239Gegen diesen Beschluss kann schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle, Beschwerde bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln eingelegt werden.
240Statt in Schriftform kann die Einlegung der Beschwerde auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) erfolgen.
241Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, einzulegen. Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
242Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.
243Die Beschwerdeschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.
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Tenor
Nr. 1, Nr. 3 Abs. 5 und 6 der Verfügung Nr. 61/2016 vom 21. Dezember 2016 in Gestalt der Verfügungen Nr. 67/2017 und Nr. 126/2017 und in Gestalt des Widerspruchbescheides vom 20. Dezember 2017 werden aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens zu ¾ und die Klägerin zu ¼.
Das Urteil ist wegen der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
1Tatbestand
2Die Klägerin ist Teil des Konzernverbundes der Deutschen U. . Sie bietet u. a. im Voraus bezahlte Mobilfunkdienste („Prepaid-Produkte“) im Sinne des § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG an, wobei sie unterschiedliche Vertriebsstrukturen – unter Einbeziehung konzerninterner und -externer Dritter – nutzt.
3Mit Inkrafttreten des Gesetzes zum besseren Informationsaustausch bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus am 30. Juni 2016 wurde auch die Regelung des § 111 TKG geändert. Die nunmehr geltende Fassung verpflichtet die Diensteanbieter, bei im Voraus bezahlten Mobilfunkdiensten eine Überprüfung der erhobenen Anschlussinhaberdaten anhand der Vorlage bestimmter, in § 111 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 bis 7 TKG enumerativ aufgeführter Identitätsnachweise vorzunehmen. Die Überprüfung kann grundsätzlich auch durch andere geeignete Verfahren erfolgen, die von der Bundesnetzagentur (BNetzA) nach § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG durch Verfügung im Amtsblatt festzulegen sind. Geeignete Verfahren müssen zum Zweck der Identifikation vor Freischaltung der vertraglich vereinbarten Mobilfunkdienstleistungen einen der aufgeführten Identitätsnachweise nutzen.
4Nach Anhörung der betroffenen Kreise durch Veröffentlichung der beabsichtigten Verfügung im Amtsblatt der Bundesnetzagentur erließ die Beklagte die Verfügung Nr. 61/2016 vom 21. Dezember 2016 (Amtsblatt BNetzA Nr. 24/2016, Seite 4407). Mit der Verfügung Nr. 67/2017 vom 26. Juli 2017 (Amtsblatt BNetzA Nr. 14/2017, Seite 2805 ff.) ergänzte die Beklagte die Verfügung im Hinblick auf die Vorgaben für das Video-Identifikationsverfahren. Ein gegen die mit dieser Verfügung eingefügten Änderungen geführtes Widerspruchsverfahren wurde ausgesetzt. Mit der Änderungsverfügung Nr. 126/2017 vom 22. November 2017 (Amtsblatt BNetzA Nr. 22/2017, Seite 3414) änderte die Beklagte die Verfügung Nr. 61/2016 und hob u.a. einzelne Vorgaben zu den Verfahren Nr. 1, Nr. 2 und Nr. 3 auf.
5Die konsolidierte Fassung der Verfügung Nr. 61/2016,
6abrufbar im Internet über die Homepage der Bundesnetzagentur: https://www.bundesnetzagentur.de/DE/Sachgebiete/Telekommunikation/Unternehmen_Institutionen/Anbieterpflichten/OeffentlicheSicherheit/Verfuegung111/Verfuegunggemaess111-node.html
7lautet auszugsweise:
8„In § 111 Absatz 1 Satz 4 TKG wird der Bundesnetzagentur die Aufgabe zugewiesen, eine Festlegung zu treffen, welche anderen Verfahren als die im Gesetz vorgesehene unmittelbare Vorlage der Identifikationsdokumente bei dem Diensteanbieter zur Überprüfung der Daten des Anschlussinhabers gleichermaßen geeignet sind. Hiermit werden folgende weitere Verfahren zur Überprüfung der Anschlussinhaberdaten im Sinne des § 111 Absatz 1 Satz 4 TKG als geeignet festgelegt:
91. Erhebung der Anschlussinhaberdaten durch einen von dem Diensteanbieter in seinen Vertrieb eingebundenen und unmittelbar anwesenden Dritten mit Prüfung der Echtheit des Identitätsdokuments sowie der Übereinstimmung des künftigen Anschlussinhabers mit der im Identitätsdokument ausgewiesenen Person
10Für Verfahren dieser Art gelten folgende Vorgaben:
11(1) Der Diensteanbieter hat den Dritten hinsichtlich der Prüfung der Echtheit der Identitätsdokumente sowie des Ablaufs der Datenerhebung in geeigneter Weise, zum Beispiel durch eine Schulung der prüfenden Personen oder schriftliche Instruktion, zu unterweisen.
12(2) Der Diensteanbieter hat sich vor der Beauftragung zu vergewissern, dass der ausgewählte Dritte die Gewähr dafür bietet, dass die Anweisungen hinsichtlich der Datenerhebung, Identitätsprüfung, Prüfung der Echtheit des Identitätsdokuments, der Fertigung der Kopien u.ä. sowie deren Übermittlung an ihn eingehalten werden. Dies hat er zu dokumentieren.
13(3) Die erhebende Person hat das vorgelegte Identitätsdokument anhand der wesentlichen Merkmale durch Inaugenscheinnahme und haptische Wahrnehmung zum Ausschluss offensichtlicher Fälschungen zu prüfen.
14(4) Der Dritte hat die Daten des Anschlussinhabers zu erheben. Zudem hat er sich zu vergewissern, dass die Person des künftigen Anschlussinhabers mit der im Identitätsdokument ausgewiesenen Person übereinstimmt.
15(5) Der Diensteanbieter hat dafür zu sorgen, dass der Dritte in jedem Einzelfall eine opto-elektronische Kopie, Scan oder entsprechende Abbildung anfertigt und zum Zwecke der Prüfung unter Beachtung datenschutzrechtlicher und personalausweisrechtlicher Vorgaben an ihn übermittelt. Opto-elektronische Kopien, Scans oder entsprechende Abbildungen sind als solche zu kennzeichnen und dürfen nicht beim Dritten verbleiben. Für die beim Diensteanbieter vorgelegten Kopien gilt § 95 Absatz 4 TKG.
16(6) Bei der Erhebung und Übermittlung der Daten an den Diensteanbieter zur Prüfung und Speicherung in der Kundendatei sind die datenschutzrechtlichen Vorgaben und Beschränkungen nach dem PAuswG zu beachten. Geeignete Maßnahmen zur Sicherstellung der Vertraulichkeit und Integrität der Daten sind hierbei einzusetzen.
17(7) Der Diensteanbieter hat dafür zu sorgen, dass die Person, die die Erhebung der Daten, die Echtheitsprüfung des Ausweises und den Identitätsabgleich durchführt, in geeigneter Weise dokumentiert wird. Dem Diensteanbieter ist eine eindeutige Kennung dieser Person mit zu übermitteln.
182. Erhebung der Daten durch einen vom Diensteanbieter mit Teilen der Identitätsprüfung beauftragten Dritten anhand eines der aufgeführten Identitätsdokumente mittels persönlicher und räumlich unmittelbarer Anwesenheit des künftigen Anschlussinhabers (z.B. Post-Ident- Verfahren, IdentService von Hermes).
19Für Verfahren dieser Art gelten folgende Vorgaben:
20(1) Der Diensteanbieter hat sich vor der Beauftragung zu vergewissern, dass der ausgewählte Dritte die Gewähr dafür bietet, dass die Anweisungen hinsichtlich der Datenerhebung, Identitätsprüfung, Prüfung der Echtheit des Identitätsdokuments, der Fertigung der Kopien u.ä. sowie deren Übermittlung an ihn eingehalten werden. Dies hat er zu dokumentieren.
21(2) Die erhebende Person hat das vorgelegte Identitätsdokument anhand der wesentlichen Merkmale durch Inaugenscheinnahme und haptische Wahrnehmung zum Ausschluss offensichtlicher Fälschungen zu prüfen.
22(3) Der Dritte hat die Daten des Anschlussinhabers zu erheben. Zudem hat er sich zu vergewissern, dass die Person des künftigen Anschlussinhabers mit der im Identitätsdokument ausgewiesenen Person übereinstimmt.
23(4) Der Diensteanbieter hat dafür zu sorgen, dass der Dritte in jedem Einzelfall eine opto-elektronische Kopie, Scan oder entsprechende Abbildung anfertigt und zum Zwecke der Prüfung unter Beachtung datenschutzrechtlicher und personalausweisrechtlicher Vorgaben an ihn übermittelt. Opto-elektronische Kopien, Scans oder entsprechende Abbildungen sind als solche zu kennzeichnen und dürfen nicht beim Dritten verbleiben. Für die beim Diensteanbieter vorgelegten Kopien gilt § 95 Absatz 4 TKG.
24(5) Bei der Erhebung und Übermittlung der Daten an den Diensteanbieter zur Prüfung und Speicherung in der Kundendatei sind die datenschutzrechtlichen Vorgaben und Beschränkungen nach dem PAuswG zu beachten. Geeignete Maßnahmen zur Sicherstellung der Vertraulichkeit und Integrität der Daten sind hierbei einzusetzen.
25(6) Der Diensteanbieter hat dafür zu sorgen, dass die Person, die die Erhebung der Daten, die Echtheitsprüfung des Ausweises und den Identitätsabgleich durchführt, in geeigneter Weise dokumentiert wird.
263. Überprüfung der Daten im Rahmen einer Videoübertragung mit sprachlicher oder unmittelbarer textlicher Kontaktaufnahme (z.B. Chat) durch Sichtung und Prüfung eines der aufgeführten Identitätsdokumente und gleichzeitigen Abgleich mit der vorzeigenden Person durch den Diensteanbieter oder einen von diesem beauftragten Dritten
27Für Verfahren dieser Art gelten folgende Vorgaben:
28(1) Der Diensteanbieter hat sich vor der Beauftragung zu vergewissern, dass ausgewählte Dritte die Gewähr dafür bieten, dass die Anforderungen hinsichtlich der Datenerhebung, Identitätsprüfung, Prüfung der Echtheit des Identitätsdokuments, der Fertigung der Kopien u.ä. sowie deren Übermittlung an ihn eingehalten werden. Dies hat er zu dokumentieren. Die Beauftragung darf nur erfolgen, wenn der Dritte verpflichtend eine jährliche Schulung auf Grundlage neuester Erkenntnisse einer mit Identitätsprüfungen oder der Prüfung von Ausweisdokumenten vertrauten öffentlichen oder allgemein anerkannten Stelle für seine Mitarbeiter durchführt oder durchführen lässt (z.B. durch das Bundeskriminalamt). Dies hat der Dritte zu dokumentieren. Erfolgt die Erhebung und Prüfung durch den Diensteanbieter selbst, gelten das Schulungserfordernis sowie die Dokumentationspflicht für ihn entsprechend.
29(2) Es ist eine regelmäßig aktualisierte Ausweisdatenbank zu nutzen, die Prüfmerkmale für ausländische Identitätsdokumente enthält und vom Dritten bei Vorlage eines ausländischen Identitätsdokuments für den Abgleich heranzuziehen ist.
30(3) Die erhebende Person hat das vorgelegte Identitätsdokument anhand der wesentlichen Merkmale durch Inaugenscheinnahme zum Ausschluss offensichtlicher Fälschungen auf äußerlich erkennbare Manipulationen zu überprüfen. Die Person des zukünftigen Anschlussinhabers ist zu diesem Zweck aufzufordern, das Identitätsdokument vor der Kamera entsprechend zu bewegen und zu positionieren (Kippen, Drehen etc.).
31(4) Der Dritte hat die Daten des Anschlussinhabers zu erheben. Zudem hat er sich zu vergewissern, dass die Person des künftigen Anschlussinhabers mit der im Identitätsdokument ausgewiesenen Person übereinstimmt.
32(5) Der Diensteanbieter hat dafür zu sorgen, dass der Dritte in jedem Einzelfall eine opto-elektronische Kopie, Scan oder entsprechende Abbildung anfertigt und zum Zwecke der Prüfung unter Beachtung datenschutzrechtlicher und personalausweisrechtlicher Vorgaben an ihn übermittelt. Opto-elektronische Kopien, Scans oder entsprechende Abbildungen sind als solche zu kennzeichnen und dürfen nicht beim Dritten verbleiben. Für die beim Diensteanbieter vorgelegten Kopien gilt § 95 Absatz 4 TKG.
33(6) Bei der Erhebung und Übermittlung der Daten an den Diensteanbieter zur Prüfung und Speicherung in der Kundendatei sind die datenschutzrechtlichen Vorgaben und Beschränkungen nach dem PAuswG zu beachten. Geeignete Maßnahmen zur Sicherstellung der Vertraulichkeit und Integrität der Daten sind hierbei einzusetzen.
34(7) Der Diensteanbieter hat dafür zu sorgen, dass die Person, die die Erhebung der Daten, die Echtheitsprüfung des Ausweises und den Identitätsabgleich durchführt, in geeigneter Weise dokumentiert wird.
35(8) Die für die Erhebung und Übermittlung der Daten erforderliche Telekommunikation kann auch mit der erworbenen Mobilfunkleistung selbst aufgebaut werden, wobei die erworbene Mobilfunkleistung vor Freischaltung ausschließlich für diesen Kommunikationsvorgang möglich sein darf. Der Diensteanbieter darf dabei nicht ausschließlich außereuropäische Anbieter für die Videoübertragung zur Verfügung stellen.
36(9) Bei Verwendung einer Anwendungssoftware für mobile Betriebssysteme für den Aufbau der Telekommunikationsverbindung zum Zwecke der Datenerhebung sind Jailbreak bzw. Rooting Detection Programme einzusetzen, die dem aktuellen Stand der Technik entsprechen.
37(…)
384. Prüfung der erhobenen Anschlussinhaberdaten durch den Diensteanbieter mittels Abgleichs mit Daten, die bei einem eigens mit einer Identitätsprüfung beauftragten Dritten zum Zwecke des Abrufes vorgehalten werden und die ihrerseits anhand der Vorlage eines Identitätsdokuments im Sinne des § 111 Absatz 1 Satz 3 TKG oder eines gleich geeigneten Prüfverfahrens geprüft wurden (Vorabverifikation).
39Für Verfahren dieser Art gelten folgende Vorgaben:
40(1) Der Diensteanbieter hat sich vor der Beauftragung zu vergewissern, dass der ausgewählte Dritte die Gewähr dafür bietet, dass die Anforderungen aus dem jeweils angewandten Verfahren aus dieser Verfügung, insbesondere hinsichtlich der Datenerhebung, Identitätsprüfung, Prüfung der Echtheit des Identitätsdokuments, hinsichtlich der Fertigung der Kopien u.ä. sowie deren Übermittlung an ihn eingehalten werden. Dies hat er zu dokumentieren.
41(2) Der Diensteanbieter hat sich zu vergewissern, dass der Abruf der vorgehaltenen Daten bei dem Dritten nur in dem Umfang erfolgt, wie er sich in Ansehung der zu erhebenden Anschlussinhaberdaten nach § 111 Absatz 1 TKG aus dem ursprünglich vorgelegten Identitätsdokument ergibt.
42(3) Der Diensteanbieter hat sich zu vergewissern, dass die Übermittlung der vorgehaltenen Daten durch den Dritten an ihn nur erfolgt, soweit der Inhaber der Daten nach einem vorgesehenen Verfahren verbunden mit einer Authentifizierung der Person des Dateninhabers (etwa durch Eingabe einer PIN) zugestimmt hat. Eine Initiierung der Übermittlung zwischen dem Dritten und dem Diensteanbieter durch den Inhaber der Daten unmittelbar kann ebenso möglich sein.
43(4) Der Diensteanbieter hat dafür zu sorgen, dass der Dritte jeweils eine optoelektronische Kopie, Scan oder entsprechende Abbildung zum Zwecke der Prüfung unter Beachtung datenschutzrechtlicher und personalausweisrechtlicher Vorgaben an ihn übermittelt. Für den Diensteanbieter angefertigte opto-elektronische Kopien, Scans oder entsprechende Abbildungen sind als solche zu kennzeichnen und dürfen nicht beim Dritten verbleiben. Für die beim Diensteanbieter vorgelegten Kopien gilt § 95 Absatz 4 TKG.
44(5) Im Falle der Übermittlung einer opto-elektronischen Kopie, Scan oder entsprechenden Abbildung durch den zukünftigen Anschlussinhaber selbst hat der Diensteanbieter diesen auf die datenschutzrechtlichen und personalausweisrechtlichen Beschränkungen für Kopien, Scans oder entsprechende Abbildungen hinzuweisen. Für die beim Diensteanbieter vorgelegten Kopien gilt § 95 Absatz 4 TKG.
45(6) Bei der Erhebung und Übermittlung der Daten an den Diensteanbieter zur Prüfung und Speicherung in der Kundendatei sind die datenschutzrechtlichen Vorgaben und Beschränkungen nach dem PAuswG zu beachten. Geeignete Maßnahmen zur Sicherstellung der Vertraulichkeit und Integrität der Daten sind hierbei einzusetzen.
465. Die Erhebung und Prüfung der Anschlussinhaberdaten kann auch im Wege des elektronischen Identitätsnachweises nach § 8 PAuswG und nach § 78 Aufenthaltsgesetz erfolgen. Auf § 111 Absatz 6 TKG wird hingewiesen.“
47Hinsichtlich des Verfahrens Nr. 3 (Video-Identifikationsverfahrens) ist derzeit und zeitlich begrenzt die Vorgabe in Absatz 11 (Identifizierungsverfahren in abgetrennten und mit einer Zugangskontrolle ausgestatteten Räumen) ausgesetzt, um ein Arbeiten im Home-Office während der aktuellen Pandemielage zu ermöglichen.
48Im Rahmen des Vertriebs ihrer Prepaid-Produkte setzt die Klägerin nach ihren eigenen Angaben konzernintern und -extern die Verfahren Nr. 1 bis 3 ein.
49Die Klägerin legte bereits am 18. Januar 2017 Widerspruch gegen die Verfügung Nr. 61/2016 ein. Die Umsetzung der in der streitgegenständlichen Verfügung angeordneten Verfahren sei für die Klägerin nur mit einem erheblichen Aufwand möglich und mit der Kundenerwartung einer sofortigen Nutzung von Prepaid-Verfahren nicht zu vereinbaren. Besonderen Umsetzungsaufwand erfordere die Erstellung opto-elektronischer Kopien, Scans oder vergleichbarer Abbildungen. Die dafür notwendigen Geräte seien weder in den Geschäften des stationären Handels noch bei den für Post- und Video-Identifikation zuständigen Dritten vorhanden. Die in den festgelegten Verfahren vorgesehene Überprüfung sämtlicher übersandter Dokumente und der Abgleich dieser Dokumente mit den erhobenen Daten („Vier-Augen-Prinzip“) bedeute, dass sie einen eigenen, von ihr personell zu besetzenden Bereich in Ergänzung zu dem bei ihren Vertriebspartnern bereits vorhandenen Bereich einrichten müsse. Dies bedeute einen ganz erheblichen zusätzlichen Personalaufwand. Schließlich führten insbesondere die Vorgaben der Verfügung zum ersten Verfahren dazu, dass dieses Verfahren – anders als zuvor – zweistufig ausgestaltet werden müsse und die Identität zum einen vor Ort durch den Dritten und zum anderen erneut von dem Diensteanbieter nach dem „Vier-Augen-Prinzip“ überprüft werden müsste. Eine unmittelbare Freischaltung der SIM-Karten im Shop sei daher nicht mehr möglich, weil der zweite Prüfschritt nicht mehr im Shop durchgeführt werden könne.
50Die Verfügung sei rechtswidrig. Für weite Teile der Verfügung fehle es zunächst an einer Ermächtigungsgrundlage. § 111 Abs. 1 Satz 4, 2. Halbsatz TKG ermächtige allein dazu festzulegen, welche anderen Verfahren als die in Satz 3 genannten zur Überprüfung erhobener Anschlussinhaberdaten geeignet seien. Regelungen zur Datenerhebung seien hingegen nicht von der Vorschrift gedeckt. Dies ergebe sich zunächst aus dem Wortlaut der Vorschrift, weil diese ausschließlich zur Festlegung von anderen „Verfahren zur Überprüfung der Richtigkeit“ der Anschlussinhaberdaten ermächtige und die Erhebung der Anschlussinhaberdaten nicht von der Vorschrift erfasst sei. Das Gesetz unterscheide in § 111 Absatz 1 Satz 1 und Satz 3 TKG ausdrücklich zwischen der Erhebung von Anschlussinhaberdaten einerseits und der Überprüfung der Richtigkeit der erhobenen Daten andererseits. Dies entspreche den Vorgaben des Gesetzgebers, der ebenfalls eine klare Trennung zwischen Überprüfung und Erhebung der Anschlussinhaberdaten vorgesehen habe und die Kompetenz der Bundesnetzagentur nach § 111 Abs. 1 Satz 4, 2. Halbsatz TKG allein auf die Regelung von weiteren, gleichermaßen geeigneten Verfahren zur Überprüfung beschränkt habe. Für die entsprechende Beschränkung der Regelungsbefugnis der Beklagten auf Verfahren zur Überprüfung spreche auch die Gesetzessystematik. Der Begriff der Erhebung umfasse sowohl die eigentliche Aufnahme der Anschlussinhaberdaten als auch die Überprüfung der Richtigkeit der Daten, was auch Wille des Gesetzgebers gewesen sei. Auch nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift sei zwischen der Erhebung der Anschlussinhaberdaten einerseits, die bei sämtlichen geschäftsmäßigen Telekommunikationsdiensten, bei denen Rufnummern vergeben werden, erforderlich sei, und dem Sonderfall der Überprüfung der Richtigkeit dieser Daten andererseits, der lediglich bei Prepaid-Mobilfunkangeboten gesetzlich vorgeschrieben sei, zu unterscheiden. Nur bei Prepaid-Mobilfunkangeboten seien die gesammelten Datensätze bei Stichproben nämlich derart fehlerhaft, dass eine zusätzliche Überprüfung der Richtigkeit der Daten durch geeignete Identifikationsverfahren vom Gesetzgeber als notwendig angesehen worden sei. Dementsprechend beschränke das Gesetz in § 111 Absatz 1 Satz 4 TKG die Festlegung der Bundesnetzagentur zur Prüfung der Anschlussinhaberdaten auf diesen speziellen Teilbereich des Erhebungsvorgangs. Allgemeine Vorgaben zur Organisation der Erhebung, die sich nicht auf die Überprüfung im Sinne des § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG beschränkten, seien nicht von der Befugnis der Bundesnetzagentur umfasst. Die Festlegung regele hingegen in Nr. 1 vornehmlich die Erhebung von Anschlussinhaberdaten.
51Die Beklagte habe Inhalt und Reichweite der materiellen Tatbestandsvoraussetzungen des § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG verkannt. Bei der Einbindung von Dritten in das in § 111 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1-7 TKG geregelte Verifikationsverfahren handele es sich nicht um ein „anderes Verfahren“ im Sinne von § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG. § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG enthalte keine Aussage darüber, ob bei den dort geregelten Verifikationsverfahren Dritte eingesetzt werden dürften oder nicht. § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG beziehe sich sowohl vom Wortlaut als auch der Systematik der Norm auf die Festlegung anderer – technischer – Methoden anstelle der Vorlage von Dokumenten, nicht darauf, von wem die Prüfung durchzuführen sei. Hiergegen spreche auch nicht die Regelung in § 111 Abs. 4 Satz 1 TKG, nach der der Diensteanbieter letztverantwortlich für die Erhebung und Speicherung der Anschlussinhaberdaten sei, auch wenn er sich eines Dritten bediene. Dass dieser nicht auch die Überprüfung als eine von dem Dritten wahrzunehmende Aufgabe ausdrücklich benenne, liege daran, dass die Überprüfung als Teil der Erhebung zu verstehen sei. Auch handele es sich bei § 111 Abs. 4 Satz 1 TKG nicht um einen Erlaubnistatbestand für den Diensteanbieter, Dritte einzubinden. Die Vorschrift diene der Klarstellung, dass der Diensteanbieter auch im Fall der Einbindung des Dritten verantwortlich bleibe. Auch sachlich sei eine einheitliche Datenerhebung und -überprüfung sinnvoll, weil wesentliche Bestandteile der Überprüfung – insbesondere die Identitäts- und Echtheitsprüfung – nur sinnvoll parallel bzw. zeitgleich mit der Datenerhebung und von der Person des die Daten Erhebenden durchgeführt werden könnten. Auch seien öffentlich-rechtliche Verpflichtungen nur dann zwingend in Person zu erbringen, wenn dies gesetzlich ausdrücklich angeordnet werde – was bei § 111 TKG nicht der Fall sei – oder sich dies aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift ergebe. Auch letzteres sei nicht der Fall, weil auf die Verifikation von Identitätsdokumenten spezialisierte Dritte die Aufgaben besser wahrnehmen könnten, als der Diensteanbieter selbst. Zudem seien die vor Ort befindlichen Personen zum Teil besser in der Lage, eine umfassende und effektive Überprüfung vornehmen zu können. Auch werde der Wesensgehalt der in § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG ausgestalteten Verpflichtung durch die Übertragung auf einen Dritten nicht geändert. Auch bei einer Überprüfung durch einen Dritten müsse der Anschlussinhaber unmittelbar anwesend sein und dem verantwortlichen Vertriebsmitarbeiter sein Identitätsdokument zur Überprüfung vorlegen. Dieses Verfahren sei in § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG abschließend geregelt worden. § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG ermächtige die Bundesnetzagentur dementsprechend nicht, dieses weiter auszugestalten. Wie der Diensteanbieter die Einhaltung der gesetzlichen Anforderungen sicherstelle und seinen Vertrieb hierzu organisiere, sei allein seine Angelegenheit. Das von der Bundesnetzagentur vorgesehene Verfahren, wonach die Identitäts- und Echtheitsprüfung des Ausweisdokuments von einem Dritten vorgenommen werden dürften, der letzte Schritt – der Abgleich der erhobenen Daten mit den Daten im Ausweisdokument – hingegen zwingend beim Diensteanbieter zu verbleiben habe, sei wirklichkeitsfremd und unpraktikabel und bringe kein „Mehr“ an Sicherheit. Auch gehe die Bundesnetzagentur in ihrem FAQ-Dokument davon aus, dass die Überprüfung auf einen Dritten übertragen werden dürfe, wenn es sich um einen von dem erhebenden Dritten zu unterscheidenden Dritten handele. Das Gesetz gebe eine Aufteilung auf zwei unterschiedliche Dritte nicht vor. Für die Qualität der Überprüfung, die der Gesetzgeber bei der Neuregelung des § 111 TKG im Blick hatte, komme es entscheidend auf die Echtheits- und die Identitätsprüfung an, die durch die Person des die Daten Erhebenden erfolge. Eine Aufdeckung potentieller Täuschungsversuche durch den potentiellen Anschlussinhaber lasse sich durch das „Vier-Augen-Prinzip“ hingegen nicht erreichen. Allenfalls könnten durch den Datenabgleich Flüchtigkeitsfehler des Vertriebsmitarbeiters bei der Übertragung der Daten ausgemerzt werden. Zumindest dürfe die Verpflichtung nur auf konzernexterne Dritte Anwendung finden. Für eine Ausdehnung auf konzerninterne Dritte bestehe kein Anhalt, weil für diese dieselben qualitativen Vorgaben für die Datenverarbeitung gelten würden.
52Ferner sei die Pflicht zur Anfertigung von opto-elektronischen Kopien in Nr. 1 Abs. 5 der angegriffenen Verfügung nichtig, weil sie datenschutz- und ausweisrechtlich unzulässig und zudem unverhältnismäßig sei. Diese verpflichte sie zu einem bußgeldbewehrten Verhalten, weil das Telekommunikationsgesetz hierfür keine Ermächtigungsgrundlage biete. Als bereichsspezifische Datenschutzvorschriften ließen die Vorschriften des Personalausweisgesetzes daneben keinen Raum für die Heranziehung der allgemeinen Datenschutzregelungen. Aus dem systematischen Zusammenhang zu § 95 Abs. 4 Satz 1 TKG könne sich nur dann eine gesetzliche Rechtfertigung ergeben, wenn dies zur Überprüfung der Angaben des Teilnehmers zwingend erforderlich sei. Wegen der unmittelbaren Anwesenheit des Gegenübers bestehe jedoch kein zwingender Bedarf für das Anfertigen von Fotokopien. Bei dem Anfertigen von Ausweiskopien gehe es somit nicht um eine Verifikation der Daten, sondern um eine Qualitätskontrolle der Vertriebsmitarbeiter. Schließlich bedeuteten diese Verpflichtungen einen völlig unverhältnismäßigen Aufwand für die Diensteanbieter bzw. deren Vertriebspartner.
53Die in den weiteren Nummern 2. bis 5. der Verfügung enthaltenen Regelungen seien ebenfalls rechtswidrig bzw. nichtig, soweit sie die Erhebung von Anschlussinhaberdaten, spezifische Vorgaben für die Einbindung von Dritten, die Anfertigung und Übermittlung von elektronischen Scans und Papierkopien von Personalausweisen und die Fortsetzung des Erhebungs- und Prüfverfahrens bei Täuschungsverdacht beträfen.
54Die streitgegenständliche Verfügung verletze sie auch in ihren Rechten, weil sie in ihrer unternehmerischen Freiheit aus Art. 12 GG betroffen sei.
55Mit Widerspruchsbescheid vom 20. Dezember 2017 stellte die Beklagte den Widerspruch teilweise – hinsichtlich der mit der Verfügung 126/2017 aufgehobenen Vorgaben – ein und wies ihn im Übrigen zurück.
56Der Widerspruch sei zulässig, aber unbegründet. Die Einbindung Dritter stelle ein selbstständiges Verfahren zur Prüfung der Richtigkeit der erhobenen Anschlussinhaberdaten dar, was sich zunächst aus dem Wortlaut des § 111 TKG ergebe. § 111 Absatz 1 Satz 1 TKG verpflichte ausschließlich die Diensteanbieter und Mitwirkende. Die Vorgaben zur Überprüfung der Richtigkeit in § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG seien an dieselben Verpflichteten gerichtet, was sich auch aus der amtlichen Begründung zur Neufassung des § 111 TKG ergebe, die feststelle, dass die Regelung die geschäftsmäßigen Erbringer von Telekommunikationsdienstleistungen verpflichte, die nach § 111 Abs. 1 Satz 1 TKG zu erhebenden Bestandsdaten der Anschlussinhaber auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen. Demnach seien Dritte, auch wenn sie in den Betrieb eingebunden seien, nicht der Normadressat. Ihre Einbindung stelle somit ein gesondertes Verfahren dar, das überhaupt erst durch die Einhaltung besonderer Vorkehrungen gleichermaßen als geeignet angesehen werden könne. Auch ein Grundsatz, öffentlich-rechtliche Pflichten delegieren zu dürfen, bestehe im Rahmen des § 111 TKG nicht. Eine ungeschriebene Berechtigung zur Delegation komme nicht in Betracht. Dies sehe offensichtlich auch der Gesetzgeber so, wenn er in der amtlichen Begründung ausführe, dass „von der Möglichkeit der Delegation“ häufig Gebrauch gemacht werde. Dabei habe er sich auf § 111 Abs. 3 TKG a. F., der eine eigene öffentlich-rechtliche Pflicht des Dritten konstituierte, bezogen. Dies werde auch aus der Zusammenschau mit § 112 TKG deutlich. Dort werde in Absatz 1 erst ausdrücklich die Möglichkeit eröffnet, eine andere Stelle mit der Führung der Kundendatei zu beauftragen. Beide Normen gehörten zu einem sachlich und technisch einheitlichen Vorgang, denn die Daten, die nach § 111 TKG zu erheben seien, müssten vor der Freischaltung in einer Kundendatei nach § 112 TKG gespeichert werden. Wenn für das Führen der Kundendatei eine ausdrückliche Erlaubnis zur Delegation erforderlich sei, könne im erweiterten Bereich der Datenerhebung nichts anderes gelten. Beide Normen basierten auf dem Erfordernis, eine sichere Datenlage bezüglich der nach § 111 TKG erhobenen Daten zu gewährleisten. Selbst wenn die Delegation der Erhebungspflicht vom Gesetzgeber als gegeben akzeptiert worden sei, gelte dies jedoch nicht für die mit der Neufassung des § 111 TKG eingeführte spezielle Prüfpflicht für im Voraus bezahlte Mobilfunkleistungen. Dies sei nach Sinn und Zweck der Vorschrift ausgeschlossen und folge auch aus der Gesetzesbegründung, wonach die Richtigkeit des Datenbestandes effektiv und nachhaltig nur mittels eines zentralen Systems zur Verifikation durch den Diensteanbieter sichergestellt werden könne. Daraus folge, dass die Einbindung eines Dritten bei der Datenprüfung nicht vom gesetzlichen Grundfall des § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG gedeckt sei, sondern ein anderes Verfahren im Sinne des § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG darstelle. Damit die Einbindung eines die Daten auch erhebenden Dritten mit diesem Verständnis vereinbar sei, bedürfe es stets und unabhängig von der Art der Prüfung durch den Erhebenden einer Prüfung auf Seiten des Diensteanbieters, was zur Überprüfung auch die Übersendung einer Kopie zwingend erfordere. Gleichwohl habe die Beklagte das Bedürfnis erkannt, aus wirtschaftlichen Gründen Aufgaben auf externe Dienstleister oder Tochterunternehmen zu verlagern. Um der Prüfpflicht des Diensteanbieters nachkommen zu können, wie sie in der amtlichen Gesetzesbegründung beschrieben worden sei, sei als absolutes Mindestmaß sicherzustellen, dass der in den Vertrieb eingebundene (und am Verkauf interessierte) Dritte die Prüfung nicht allein durchführe. Die Formulierung des § 111 TKG in Zusammenschau mit der amtlichen Begründung lege nahe, dass bei der Prüfung der erhobenen Daten ein „Vier-Augen-Prinzip“ angewendet werden solle, bei dem die Daten, die der Dritte erhoben habe, durch ein zentralisiertes System auf Seiten des Diensteanbieters geprüft werden sollten. Für die Einbindung eines Dritten in die Datenerhebung, wie sie bei Vertriebspartnern mit lokalen Verkaufsstellen der Fall sei, habe die Beklagte berücksichtigt, dass beim Erwerb der Prepaid-SIM-Karte in einer lokalen Verkaufsstelle tatsächlich nur der Dritte die Person des Anschlussinhabers und dessen Identitätsdokument vor Augen habe. Diese unmittelbare Prüfmöglichkeit sei nach Ansicht des Beklagten sinnvoll nutzbar, sofern damit nicht die gesamte Prüfleistung durch den Dritten erbracht werde. Es erscheine daher angemessen, die notwendigen Schritte einer Identitätsprüfung, d. h. Prüfung der Echtheit und Unversehrtheit eines Dokuments und den Personenabgleich, durch den erhebenden Dritten prüfen zu lassen. Die Prüfung durch den Diensteanbieter bzw. eines von diesem eigens zu diesem Zweck beauftragten Dritten sei in diesem Fall auf den finalen Schritt beschränkt, in welchem die erhobenen Daten mit dem ihm vorgelegten Dokument (Kopie, Scan, Screenshot oder Ähnliches) abgeglichen würden. Erst mit Abschluss der Prüfung durch den Diensteanbieter sei der Prüfvorgang insgesamt abgeschlossen und eine Freischaltung des Telekommunikationsanschlusses zulässig. Mit der Lesart der Klägerin würde hingegen der mit der Gesetzesänderung verfolgte Zweck nicht erreicht und der unzureichende status quo fortgeführt, bei dem der Diensteanbieter sich mit der vertraglichen Verpflichtung des Vertriebspartners zur Ausweisprüfung entlasten würde, ohne selbst einer Prüfpflicht nachzukommen oder eine zuverlässige Prüfung tatsächlich nachweisen zu können. Diese Vorgaben müssten aufgrund des Gleichbehandlungsgrundsatzes gleichermaßen konzerninterne Dritte treffen.
57Die Rechtsgrundlage in § 111 Absatz 1 Satz 4 TKG umfasse alle Regelungen, die in der Verfügung getroffen worden seien, einschließlich solcher, die Auswirkungen auf den Erhebungsvorgang hätten. Die Erhebung der Daten sei Grundvoraussetzung der Datenprüfung. Dies zeige sich bereits an der Formulierung des § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG, der davon spreche, dass bei im Voraus bezahlten Mobilfunkdiensten die Richtigkeit der nach Satz 1 erhobenen Daten vor der Freischaltung zu überprüfen sei. Ein Verfahren zur Prüfung der Richtigkeit müsse daher auf einem zuverlässigen Erhebungsvorgang basieren. Sofern die Prüfung zum Teil auf einen Dritten ausgelagert werde, der in einem Vorgang die Erhebung durchführe, könne der Prüfvorgang nur dann sinnvoll geregelt werden, wenn die Erhebung als Grundvoraussetzung mindestens ein entsprechendes Niveau an Verlässlichkeit gewährleiste. Im Übrigen beinhalteten die angegriffenen Vorgaben der Verfügung keine Vorgaben hinsichtlich der Erhebung selbst, sondern beträfen allenfalls Voraussetzungen, die auch für den Erhebungsvorgang oder den Erhebenden gelten würden, um eine Prüfung durch diesen als geeignet einstufen zu können. Dies gelte für die weiteren Verfahren der Verfügung entsprechend. Bei den gemachten Vorgaben handele es sich um solche, die redaktionell oder in einem Sinnzusammenhang mit der Erhebung stünden. Vorgaben im Hinblick auf die Datenerhebung bzw. das „Wie“ der Erhebung würden jedoch nicht gemacht. Die Überprüfung der Daten sei nach dem Gesetzeswortlaut eine eigenständige Pflicht und ein zusätzlicher Verfahrensschritt, der selbstständig neben der gesetzlichen Pflicht zur Erhebung und Speicherung stehe. Diese Aufteilung mache es notwendig, den Diensteanbieter zur Durchführung der Prüfpflicht zu befähigen, was nur durch Vorliegen des Identitätsdokuments in geeigneter Form möglich sei. Für die Anfertigung von Kopien durch den Diensteanbieter stelle § 95 Abs. 4 TKG insoweit eine hinreichende Bereichsausnahme zur Verfügung, die den Vorschriften des Personalausweisgesetzes vorgehe. Im Rahmen von § 111 TKG sei das Anfertigen von Kopien erforderlich, damit der Diensteanbieter Kundendaten prüfen könne. Das Erstellen der Kopien könne auch durch den Dritten erfolgen, weil dieser im Rahmen einer Auftrags(daten)verarbeitung tätig werde und somit als „verlängerter Arm“ des Diensteanbieters zu betrachten sei. Die Weiterleitung der Kopien an diesen stelle insoweit keine Übermittlung der Daten an eine andere Stelle im datenschutzrechtlichen Sinne dar. Die Regelungen zur Auftrags(daten)verarbeitung würden durch das Ausweisgesetz nicht verdrängt, so dass sie auch im Falle des § 95 Abs. 4 TKG Anwendung fänden. Die Regelung des § 95 Abs. 4 TKG finde auch auf Scans und ähnliche Abbildungen Anwendung, sofern es sich um eine rein optische Wiedergabe des Dokuments handele. Dies gelte umso mehr, als Kopien ausschließlich die nach § 111 TKG erforderlichen Angaben enthalten dürften und vor allem der maschinenlesbare Bereich unkenntlich zu machen sei. § 95 Abs. 4 TKG stelle eine bereichsspezifische Ausnahme dar. Daher dürfe das Verständnis des Begriffs „Kopie“ nicht am bloßen Wortlaut verhaftet bleiben und darunter nur die bloße Kopie in Papierform verstanden werden. Verhindert werden solle auch eine automatisierte Erfassung der im Personalausweis enthaltenen Daten auf opto-elektronischem Weg. Auch eine opto-elektronische Erfassung (Scan), die nicht auf die Erfassung der gespeicherten maschinenlesbaren Daten abziele, sondern eine digitale Faksimilierung des Dokuments bedeute, sei nach teleologischer Auslegung des Regelungsgehalts von § 95 Abs. 4 TKG zulässig. Ein Scan bedeute keinen gegenüber einer Kopie verstärkten Eingriff, wenn statt der optischen Abbildung ein auf die nach § 111 TKG erforderlichen Daten beschränkter (Rest)Scan angefertigt werde. Ebenso verhalte es sich mit Screenshots, Fotos oder entsprechenden Abbildungen, weil diese – gleich einer Kopie in Papierform – lediglich eine technisch hergestellte optische Wiedergabe des Dokuments darstellten, die zum Zwecke der digitalen und damit unmittelbaren Übermittlung an den Diensteanbieter als Alternative zur Kopie in Papierform angefertigt würden. Ein Speichern der Daten auf der Kopie, dem Scan oder der sonstigen Abbildung finde nicht statt. Der Dritte werde verpflichtet, Dokumente und Abbildungen nach erfolgter Weiterleitung an den Diensteanbieter unverzüglich zu löschen. Der Diensteanbieter erhalte die Kopie, den Scan o. ä. lediglich zum Zwecke der Prüfung in Form eines Vergleiches der Kopie mit den erhobenen Daten. Gespeichert werden dürften auf Seiten des Diensteanbieters nur die erhobenen Daten, die mithilfe der Kopie, Scan o. ä. lediglich abgeglichen würden. Auch hier seien diese nach Abschluss der Prüfung unverzüglich zu löschen.
58Die Klägerin hat am 19. Januar 2018 Klage erhoben. Die Klage sei zulässig. Es handele sich bei der Verfügung um einen belastenden Verwaltungsakt, der Gegenstand einer Anfechtungsklage sein könne. Bezogen auf die Regelungen in Nr. 1 der Verfügung sei dieser bereits deshalb belastend, weil die Klägerin hierdurch gezwungen werde, die einschränkenden Gebote der Verfügung zu beachten, obwohl ihr das Gesetz mehr Möglichkeiten einräume. Auch die Erhebung der Anschlussinhaberdaten sei abschließend im Gesetz geregelt, so dass alle über das gesetzliche Pflichtprogramm hinausgehenden Regelungen für die Klägerin belastend seien. Im Übrigen bedürfe es für die Bejahung der Zulässigkeit lediglich der Möglichkeit einer Rechtsverletzung. Eine Klagebefugnis sei lediglich dann nicht gegeben, wenn offensichtlich und eindeutig nach keiner Betrachtungsweise die von der Klägerin behaupteten Rechte bestehen könnten. Bezogen auf das Video-Identifikationsverfahren beantrage die Klägerin lediglich die Aufhebung der sie belastenden Anordnung eines „Vier-Augen-Prinzips“ für das Video-Identifikationsverfahren, bei dem es sich um eine selbstständige Regelung handele, die von der Hauptregelung teilbar sei und daher isoliert angefochten werden könne.
59Die Klage sei auch begründet. Insoweit wiederholt und vertieft die Klägerin ihren Vortrag aus dem Verwaltungsverfahren und ergänzt ihn wie folgt: Die von der Beklagten eingeführten Regelungen führten zu besonderen Umsetzungsschwierigkeiten. Das von der Beklagten eingeführte „Vier-Augen-Prinzip“ führe zu einem erheblichen Personal- und Kostenaufwand. Für die von der Beklagten geforderte Erstellung, Übermittlung und Löschung der Ablichtungen seien zusätzliche Geräte und IT-Systeme erforderlich, die derzeit weder in den Geschäften des stationären Handels noch bei den für das Post- und Video-Identifikationsverfahren zuständigen Dritten vorhanden seien. Die eingeführten Verfahren erforderten zudem die Ablichtung und Versendung von Kopien sensitiver Identifikationsdokumente, wodurch das Risiko des Missbrauchs oder eines Verlusts oder der ungewollten Offenlegung von Daten steige. Schließlich führten die Vorgaben der Verfügung zu einer Beeinträchtigung für die Prepaid-Kunden, weil sich die Freischaltung der Prepaid-Karten durch die festgelegten Verfahren verzögere.
60Für das in Nr. 1 geregelte Vor-Ort-Identifikationsverfahren enthalte § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG keine Ermächtigungsgrundlage. Unter „andere geeignete Verfahren“ im Sinne von § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG seien nach dem Verständnis des Worts „Verfahren“ nur die Festlegung anderer – technischer – Methoden anstelle der Vorlage von Dokumenten zu verstehen, nicht hingegen der von der Beklagten in Nr. 1 beschriebene Fall der Einbeziehung von Dritten. Dieser sei bereits in § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG enthalten. Der Wortlaut von § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG schließe die Einschaltung Dritter gerade nicht aus. Während § 111 Abs. 1 Satz 1 TKG die Pflicht zur Erhebung und Speicherung der Daten ausdrücklich an die Person des Diensteanbieters anknüpfe, löse sich Satz 3 von dieser Formulierung und lasse eine rein erfolgsorientierte Aufgabenerfüllung ausreichen. Außerdem würden in § 111 Abs. 1 Satz 1 TKG nicht nur die geschäftsmäßigen Erbringer von Telekommunikationsdiensten genannt, sondern auch Dritte als Mitwirkende. Die Einschaltung Dritter als Erfüllungsgehilfen sei – sofern diese nicht ausdrücklich gesetzlich ausgeschlossen oder geregelt werde – grundsätzlich unproblematisch zulässig, weil die Verantwortlichkeit in diesem Fall beim Verpflichteten bleibe. Davon zu differenzieren sei hingegen die Frage einer möglichen Übertragung öffentlich-rechtlicher Pflichten auf einen Dritten, die im Gesetz angelegt sein müsse. Bei der Pflicht zur Identitätsprüfung handele es sich auch nicht um eine höchstpersönliche Pflicht der Diensteanbieter. Höchstpersönlich seien Rechtspositionen nur dann, wenn sie sich nicht von der Person ihres Trägers lösen ließen und sich gerade in diesem personalen Bezug erschöpften. § 111 TKG enthalte insoweit keine spezifischen Vorgaben, die für eine höchstpersönliche Pflicht der Diensteanbieter sprächen. Im Übrigen sei selbst bei einer höchstpersönlichen Pflicht die Heranziehung eines Dritten als Erfüllungsgehilfe möglich. Die Beklagte gehe im Übrigen selbst davon aus, dass die Pflicht zur Identitätsüberprüfung auf einen Dritten übertragbar sei. Die Heranziehung Dritter zur Identitätsüberprüfung könne daher auf der Grundlage von § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG erfolgen und stelle dementsprechend auch „kein anderes Verfahren“ im Sinne von § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG dar. Nichts anderes folge aus § 111 Abs. 4 TKG, der lediglich die Verantwortlichkeit im Falle der Einbindung eines Dritten in die Datenerhebung regele. Die Formulierung der Norm sei aus historischen Gründen als Abgrenzung zur vorherigen, anderweitigen Rechtslage gewählt worden und diene bloß der „Klarstellung“, dass der Diensteanbieter auch im Fall der Einbindung Dritter in die Datenerhebung letztverantwortlich bleibe und seine Verantwortlichkeit nicht auf einen Dritten delegieren könne. Auch die Vorschrift des § 112 TKG spreche nicht für die Auslegung der Beklagten. Hierbei handele es sich zunächst um eine reine Klarstellung, dass die Kundendatei nicht durch den Verpflichteten selbst geführt werden müsse, sondern auch auf einen externen Dienstleister übertragen werden könne. Außerdem enthalte diese eine Einschränkung der Delegationsmöglichkeit der dort auferlegten Pflichten. Aus der Gesetzesbegründung werde deutlich, dass der Gesetzgeber die Überprüfung anhand der Vorlage von Ausweispapieren umfassend in § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG geregelt habe und unter „andere Verfahren“ lediglich solche Verfahren gefasst worden seien, bei denen die Identitätsprüfung nicht unter Anwesenden erfolgen könne. Sinn und Zweck der Gesetzesänderung sei die substantielle Verschärfung der Pflichten der Diensteanbieter dahingehend, dass eine Pflicht zur Identitätsprüfung eingeführt worden sei und der Diensteanbieter nunmehr auch beim Einsatz Dritter für die ordnungsgemäße Datenerhebung verantwortlich bleibe. Zwar sei daher im Fall der Einschaltung eines Dritten im Rahmen der Datenerhebung ein Mechanismus einzuführen, mit dem sichergestellt werde, dass es zu einer ordnungsgemäßen Datenerhebung komme. Die Beklagte habe jedoch nach den gesetzlichen Vorgaben nicht das Recht im Detail vorzugeben, wie dieser Mechanismus ausgestaltet sein müsse. Insoweit stünden der Beklagten auch auf der Grundlage von § 115 TKG ausreichende Maßnahmen zur Verfügung, um die Einhaltung der §§ 111 und 112 TKG zu überwachen. Auch sei die Einhaltung von § 111 Abs. 1 TKG gemäß § 149 Abs. 1 Nr. 29 TKG bußgeldbewehrt. Im Übrigen bestünden bereits gesetzliche Vorgaben im Hinblick auf die Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Diensteanbieter und Drittem aus dem Datenschutzrecht. Auch sei das von der Beklagten eingeführte „Vier-Augen-Prinzip“ inhaltlich nicht notwendig und stelle zudem einen unzureichenden Überprüfungsmechanismus dar. Der hauptverantwortliche Diensteanbieter habe im Fall der Erfüllung durch einen Dritten auch ohne „Vier-Augen-Prinzip“ ein Eigeninteresse, durch vertragliche Regelungen dafür Sorge zu tragen, dass die ihm obliegenden Aufgaben durch diesen erfüllt werden.
61Auch die Anordnung einer Trennung zwischen Datenerhebung und -überprüfung im Rahmen des Video-Identifikationsverfahrens in Nr. 3 der Verfügung sei aus den bereits genannten Gründen nicht von der Ermächtigungsgrundlage des § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG gedeckt, deren Regelungsauftrag darauf beschränkt sei, festzulegen welche technischen Verfahren geeignet seien, die Identitätsüberprüfung zu gewährleisten. Auch bei diesen weiteren Verfahren dürfe die Beklagte keine Maßstäbe anlegen, die – wie das „Vier-Augen-Prinzip“ – nicht in § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG enthalten seien.
62Ferner seien die in der Verfügung enthaltenen Regelungen zur Datenerhebung von der Ermächtigungsgrundlage des § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG nicht umfasst, weil diese die Beklagte ausschließlich dazu ermächtige, festzulegen, welche anderen „Verfahren zur Überprüfung der Richtigkeit“ der Anschlussinhaberdaten geeignet seien. Die Erhebung der Anschlussinhaberdaten sei hingegen nicht umfasst, wie die ausdrückliche Unterscheidung zwischen Erhebung und Überprüfung in § 111 Abs. 1 Satz 1 und Satz 4 TKG zeige.
63Die angegriffene Verfügung könne auch nicht auf § 115 TKG gestützt werden. Dieser ermächtige allein dazu, die Einhaltung der gesetzlich festgelegten Verpflichtungen des Teils 7 des TKG zu überwachen und Verstöße ggf. zu sanktionieren. Eine Regelungs- und Festlegungskompetenz enthalte die Vorschrift nicht. Im Übrigen sei § 111 TKG insoweit „lex specialis“.
64Rein hilfsweise werde vorgetragen, dass die Verfügung auch ermessensfehlerhaft sei. Der Beklagten fehle es zunächst an einem Entschließungsermessen, weil sie nach § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG verpflichtet sei, alternative Verfahren festzulegen. Im Übrigen seien die angegriffenen Anordnungen auch (aus den bereits genannten Gründen) unverhältnismäßig.
65Die Verfügung verletze die Klägerin auch in eigenen Rechten. Neben einer Verletzung in der Berufsfreiheit der Klägerin, sei sie auch in Art. 3 GG verletzt, weil die Anbieter von Prepaid-Produkten unterschiedlich behandelt würden, abhängig davon ob die Datenprüfung von Dritten durchgeführt werde. Hierfür gebe es jedoch keine sachliche Rechtfertigung.
66Sie begehre im Übrigen keine Gesamtaufhebung der Nummern 2 bis 4 der Verfügung, weil sie die alternativen Überprüfungsverfahren der Verordnung fortlaufend benötige. Die Verfügung sei hinsichtlich der gestellten Teilaufhebungsanträge materiell teilbar, weil auch ohne das „Vier-Augen-Prinzip“ für Video-Identifikationsverfahren und ohne die Regelungen zur Datenerhebung ein sinnhaftes Ganzes verbleibe. Auch bei Wegfall der angefochtenen Regelungen bleibe der Kern der Verfahrensregelungen bestehen und lediglich überschießende Regelungen fielen weg. Die Regelungen des Video-Identifikationsverfahrens würden durch die (rechtswidrige) Anordnung eines „Vier-Augen-Prinzips“ lediglich ergänzt und die rechtswidrige Anordnung einer zusätzlichen Prüfung der Daten durch den Diensteanbieter selbst stehe neben den Regelungen zur Überprüfung durch einen Dritten im Rahmen eines Video-Chats. Es bestehe kein zwingender innerer Zusammenhang mit den Schritten und Anforderungen an das Video-Identifikationsverfahren im Übrigen. Dasselbe gelte für die Streichung der durch die Beklagte angeordneten Pflichten zur Datenerhebung. Die Regelungen zur Ausgestaltung eines alternativen Überprüfungsverfahrens blieben auch dann weiter nachvollziehbar und rechtmäßig. Lediglich die ergänzenden, in der Sache jedoch nicht erforderlichen und von der Ermächtigungsgrundlage nicht gedeckten Pflichten bzw. Verfahrensschritte zur Datenerhebung fielen hierdurch weg. Es lägen Anhaltspunkte vor, dass die Beklagte die verbleibenden Bestandteile der Verfügung auch ohne die angegriffenen Bestandteile erlassen hätte. Hierfür spreche, dass § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG einen gesetzlichen Regelungsauftrag enthalte, d. h. eine Pflicht zum Erlass alternativer Überprüfungsverfahren bestehe, für die in § 150 Abs. 15 TKG eine Frist gesetzt werde. Es könne daher davon ausgegangen werden, dass die Beklagte die Verfügung auch ohne die angefochtenen Bestandteile erlassen hätte, wenn sie von dem Rechtmangel Kenntnis gehabt hätte. Auch aus dem Verfahren lasse sich der Wille der Beklagten erkennen, dass die Verfügung auf ihren rechtmäßigen Kern zurückfalle und nicht durch den Wegfall zusätzlicher, überschießender Teilregelungen insgesamt entfalle.
67Die Klägerin beantragt,
68Nr. 1 der Verfügung Nr. 61/2016 der Beklagten gemäß § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG vom 21. Dezember 2016 in Gestalt des Widerspruchbescheides vom 20. Dezember 2017 aufzuheben.
69die folgenden Teile der Verfügung der aufzuheben:
70Nr. 3 Abs. 5
71Nr. 3 Abs. 6
72sowie die folgenden Teile der Verfügung aufzuheben:
73in Nr. 2 Abs. 1 Satz 1, Nr. 3 Abs. 1 Satz 1 und Nr. 4 Abs. 1 Satz 1 jeweils die Wörter „Datenerhebung“
74in Nr. 2 Abs. 2 und Nr. 3 Abs. 3 jeweils das Wort „erhebende“;
75in Nr. 2 Abs. 3 und Nr. 3 Abs. 4 jeweils die Wörter „die Daten des Anschlussinhabers zu erheben. Zudem hat er“;
76in Nr. 2 Abs. 5 Satz 1 und Nr. 4 Abs. 6 jeweils die Wörter „Erhebung und“
77in Nr. 2 Abs. 6 und Nr. 3 Abs. 7 jeweils die Wörter „die Erhebung der Daten“
78in Nr. 3 Abs. 1 Satz 5 und Abs. 8 Satz 1 jeweils die Wörter „Erhebung und“
79in Nr. 3 Abs. 9 die Wörter „zum Zwecke der Datenerhebung“;
80in Nr. 4 Abs. 2 die Wörter „zu erhebenden“.
81Die Beklagte beantragt,
82die Klage abzuweisen.
83Die Beklagte ist der Ansicht, die Klage sei bereits wegen fehlender Klagebefugnis gemäß § 42 Abs. 2 VwGO unzulässig. Zwar sei die Klägerin Adressatin der Verfügung. Die Verfügung belaste diese jedoch nicht, weil durch die angegriffene Verfügung der Rechtsbestand der Klägerin nicht gemindert, sondern erweitert werde. Der Rechtsbestand der Klägerin werde hinsichtlich der Erhebung, Speicherung und Überprüfung der Daten zukünftiger Prepaid-Kunden durch § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG festgelegt. Dieser verpflichte die Erbringer von Telekommunikationsdienstleistungen im Prepaid-Kundengeschäft, bestimmte Verfahren einzuhalten. Durch die angegriffene Verfügung werde dieser gesetzlich definierte Rechtsbestand der Klägerin dadurch erweitert, dass ihr die Option eröffnet werde, andere Verfahren zusätzlich zu dem Verfahren nach § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG zu nutzen. Eine Verpflichtung zur Nutzung dieser Alternativverfahren bestehe jedoch nicht. Der Klägerin stehe es frei, sich dieser nicht zu bedienen und ihr Prepaid-Kundengeschäft nach Maßgabe der unmittelbaren gesetzlichen Regelungen des § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG abzuwickeln. In Bezug auf Nr. 4 der Verfügung sei die Anfechtungsklage auch deshalb unzulässig, weil dieses Verfahren nach den Angaben der Klägerin bei ihr keine Anwendung finde.
84Die Überprüfung der Daten durch Dritte sei nicht bereits gemäß § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG zulässig. Normadressat des § 111 TKG sei, wer „geschäftsmäßig Telekommunikationsdienste erbringt oder daran mitwirkt". In erster Linie seien dies die Diensteanbieter, wohingegen dem Begriff der „Mitwirkenden" im Rahmen des § 111 TKG keine eigenständige Bedeutung zukomme, weil es diesen typischerweise tatsächlich und rechtlich im Verhältnis zum Diensteanbieter unmöglich sei, diese Pflicht eigenständig zu erfüllen. Der Wortlaut des § 111 Abs. 1 Satz 1 TKG und des § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG, der auf § 111 Abs. 1 Satz 1 TKG Bezug nehme, streite dafür, dass die Diensteanbieter ihre Prüfpflichten höchstpersönlich erfüllen müssten. Auch handele es sich bei den getroffenen Regelungen zur Einbindung Dritter um Regelungen zum Verfahren i. S. d. § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG. Im juristischen Sprachgebrauch würden Regelungen dazu, welche Personen bestimmte Handlungen vornehmen dürfen bzw. vornehmen müssen, häufig als Verfahrensregelungen bezeichnet. Auch die Normsystematik spreche für diese Auslegung. Dass § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG im Prepaid-Kundengeschäft keine Einbindung Dritter hinsichtlich der Überprüfung von Daten erlaube, ergebe sich bereits im Umkehrschluss aus § 111 Abs. 4 TKG, wenn dort die Einbindung Dritter hinsichtlich der Datenerhebung gemäß § 111 Abs. 1 Satz 1 (Festnetzanschlüsse und Mobilanschlüsse mit Laufzeitverträgen) und Abs. 2 TKG (elektronische Post) geregelt werde, nicht jedoch die Überprüfung von Daten gemäß § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG, die hier in Rede stehe. § 111 Abs. 4 TKG setze voraus, dass sich die Diensteanbieter hinsichtlich ihrer Pflichten zur Datenerhebung gemäß § 111 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 TKG eines Dritten bedienen dürfen, und stelle klar, dass sie auch dann für die Erfüllung dieser Pflichten selbst verantwortlich blieben. Dies lege nahe, dass der Gesetzgeber bewusst nur die Übertragung des Erhebungsvorgangs auf Dritte habe ermöglichen wollen. Zudem lege er den Dritten die eigenständige Pflicht auf, ihnen bekannt gewordene Änderungen der Daten unverzüglich den Diensteanbietern zu übermitteln.
85Auch die Regelung des § 112 Abs. 1 Satz 2 TKG liefere einen weiteren Hinweis darauf, dass die Möglichkeit zur Übertragung der den Diensteanbietern gemäß § 111 Abs. 1 TKG auferlegten Pflichten auf einen Dritten nicht bereits durch § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG selbst umfasst sein solle. Der Gesetzgeber habe es, wie § 112 Abs. 1 Satz 2 TKG zeige, offensichtlich für notwendig erachtet, für die Diensteanbieter eigens eine rechtliche Grundlage zu schaffen, die es diesen erlaube, einen Dritten mit der Führung von Kundendateien zu beauftragen, wohingegen das Gesetz in § 111 Abs. 4 TKG ausdrücklich nur von der „Erhebung der Daten“ spreche.
86Auch Normzweck und Entstehungsgeschichte sprächen für diese Auslegung. Zweck der Neuregelung des § 111 TKG sei es gewesen, die Pflichten der Diensteanbieter zu verschärfen. Dies spreche gegen eine stärkere Einbindung Dritter in die Erfüllung der den Diensteanbietern gemäß § 111 Abs. 1 TKG obliegenden Pflichten. Bei den Diensteanbietern habe eine verlässliche Datenlage hinsichtlich der Prepaid-Kunden geschaffen werden sollen, damit auf diese von den Sicherheitsbehörden bei Bedarf zur Terrorismus- und Kriminalitätsbekämpfung zurückgegriffen werden könne. Die nach der bisherigen Gesetzeslage zulässige Einbindung Dritter bei der Datenerhebung habe sich in dieser Hinsicht nach der Erkenntnis des Gesetzgebers als unzweckmäßig erwiesen. Um Abhilfe zu schaffen, sei es der gesetzgeberische Wille gewesen, durch § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG eine Überprüfungspflicht hinsichtlich der Daten zukünftiger Prepaid-Kunden zu etablieren und zugleich diese Überprüfungspflicht ausschließlich in die Hand der Dienstanbieter selbst zu legen und diese Pflicht als höchstpersönlich auszugestalten. Demgemäß habe der Gesetzgeber auch den bisherigen § 111 Abs. 2 TKG gestrichen, der eine Einbindung Dritter bei der Datenerhebung als zulässig voraussetzte, deren Pflichten näher regelte und eine Verletzung dieser Pflichten als Ordnungswidrigkeit unter Strafe stellte.
87Die Klage sei auch unbegründet. § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG ermächtige die Beklagte zusätzlich zu den in § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG genannten Verfahren zur Überprüfung der nach § 111 Abs. 1 Satz 1 TKG erhobenen Daten, weitere zur Überprüfung geeignete Verfahren durch Verfügung im Amtsblatt festzulegen. Ob und welche anderen Verfahren die Beklagte festlege, stehe gemäß § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG i. V. m. § 40 VwVfG in ihrem Ermessen. § 111 Abs. 1 TKG müsse daher kein Vier-Augen-Verfahren vorsehen, damit die Beklagte ein solches in ihrer Verfügung festlegen dürfe. Ihr Ermessen habe die Beklagte ordnungsgemäß genutzt. Die Beklagte sei sich bewusst gewesen, dass ihr hinsichtlich der in der Verfügung getroffenen Regelungen Ermessen zustehe, was nicht zuletzt der Widerspruchsbescheid belege, in dem die Beklage sich mit dem Vorbringen der Klägerin im Widerspruchsverfahren auseinandersetze. Bereits im Vorfeld des Erlasses der Verfügung habe sich gezeigt, dass die Beklagte Erwägungen zum Ermessen angestellt habe. In der Auswertung der Stellungnahmen zur Verfügung gehe sie im Detail auf die Stellungnahmen der betroffenen Kreise ein. Auch habe die Beklagte die sich gegenüberstehenden Interessen im Einzelnen zutreffend erkannt und gewertet, wie sich aus ihren internen Entscheidungsvorlagen bzw. Vermerken und Schreiben an beteiligte Kreise ergebe.
88Es liege auch kein Ermessensfehlgebrauch vor, da die Beklage sich bei Erlass der Verfügung ausschließlich vom Zweck des § 111 TKG, die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Ermittlungstätigkeit bei der Bekämpfung von Terrorismus und Kriminalität zu schaffen, habe leiten lassen, wie insbesondere der Widerspruchsbescheid und der Inhalt der Verwaltungsakte belegten.
89Schließlich liege auch keine Ermessensüberschreitung vor. Sofern die Klägerin rüge, dass § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG die Beklagte nicht berechtige, die Überprüfung der erhobenen Anschlussinhaberdaten unter Anwesenden zu regeln, weil dies bereits in § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG geregelt sei, sei dies zunächst aus den dargelegten Gründen unzutreffend.
90Die Regelungen zur Einbindung unmittelbar anwesender Dritter seien auch verhältnismäßig. Insbesondere entsprächen sie dem legitimen Zweck, ein möglichst hohes Niveau der Richtigkeit der Daten zu erreichen und den Sicherheitsbehörden dadurch eine effektive Abwehr oder Verfolgung terroristischer und krimineller Taten zu ermöglichen. Zur Erreichung dieses Zwecks sei es erforderlich, dass die Letztverantwortung für die Richtigkeit der Daten beim Diensteanbieter bleibe. Dem Diensteanbieter stehe es gleichwohl frei, die erforderlichen Vorschritte einer ldentitätsprüfung (wie die Prüfung der Echtheit und Unversehrtheit des Identitätsdokuments und den Personenabgleich) durch einen Dritten durchführen zu lassen. Die Prüfung durch den Diensteanbieter bzw. durch einen mit der Prüfung beauftragten Dritten könne sich dann auf den finalen Schritt beschränken, in welchem die erhobenen Daten mit denen im vorgelegten Dokument (in Form von Kopie, Scan, Screenshot o.Ä.) abgeglichen werden. Durch die Einbindung eines Dritten komme es somit zu einer Zweiteilung des Verfahrens, jedoch nicht notwendigerweise zu einer Doppelprüfung.
91Durch Ablichtung und Versendung von Kopien sensitiver Identitätsdokumente steige auch nicht das Risiko eines Missbrauchs, eines Verlusts oder einer ungewollten Offenlegung der Ablichtungen, weil dies durch den Einsatz sorgfältig ausgewählter und zuverlässiger Prüfpersonen sowie einer ausreichend geschützten EDV durch die Klägerin selbst verhindert werden könne. Die Verfügung stelle auch das mildeste Mittel zur Erreichung des Zwecks dar. Nach § 115 TKG mögliche Sanktionen seien genauso wie die Möglichkeit, ein Bußgeld nach § 149 Abs. 1 Nr. 29 TKG zu verhängen, nicht gleich geeignet, weil diese Maßnahmen nur ex-post – nach bereits erfolgten Verstößen – getroffen werden könnten. Der Zweck, die Sicherheitsbehörden durch die Vorhaltung korrekter Anschlussinhaberdaten jederzeit zu einer schnellen und effektiven Terrorismus- und Kriminalitätsabwehr- und -verfolgung zu befähigen, werde durch diese nicht erreicht.
92Das Verfahren zur Einbindung unmittelbar anwesender Dritter sei zudem angemessen. Das Interesse der Beklagten an der Vorhaltung richtiger Anschlussinhaberdaten zur Terrorismus- und Kriminalitätsabwehr überwiege das Interesse der Klägerin an der uneingeschränkten Erbringung von Telekommunikationsdienstleistungen, auch soweit diese grundrechtlich geschützt seien. Die Berufsausübungsfreiheit der Diensteanbieter sei durch die Verfügung lediglich geringfügig betroffen. Als reine Berufsausübungsregelung sei diese bereits dann zulässig, wenn sie aufgrund vernünftiger Allgemeinwohlerwägungen zweckmäßig erscheine. Mit den Regelungen zu Prepaid-Karten betreffe die Verfügung lediglich einen Teilbereich des Geschäfts der Klägerin. In diesem Teilbereich führe die Verfahrensregelung möglicherweise zu einem organisatorischen und finanziellen Mehraufwand für die Klägerin. Eine das Geschäftsmodell gefährdende bzw. erdrosselnde Wirkung sei aufgrund des klägerischen Vortrags jedoch nicht erkennbar, zumal die Gesetzesänderung nach Kenntnis der Beklagten jedenfalls in den vergangenen 18 Monaten nicht dazu geführt habe, dass ein Marktteilnehmer die Geschäftstätigkeiten im Vertrieb von Prepaid-Karten eingestellt hätte. Zusammengefasst könne daher lediglich eine geringfügige Beeinträchtigung der Berufsausübungsfreiheit angenommen werden, der auf der anderen Seite der Schutz vor Terrorismus und schwerer Kriminalität – überragend wichtige Gemeininteressen – gegenüber stehe. Insbesondere das zweischrittige Überprüfungsverfahren sei notwendig, um sicherzustellen, dass bestmögliche Daten bei den Diensteanbietern vorliegen, die Letztverantwortung für die Richtigkeit der Daten in einer Hand bleibe, nämlich beim Diensteanbieter, und so ein hinreichend hohes Niveau zum Schutz vor Terrorismus und schwerer Kriminalität gewährleistet werde.
93Auch eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG liege nicht vor. Sowohl bei der Einbindung Dritter in Erhebung und Prüfung von Daten als auch bei entsprechender Vornahme durch den Diensteanbieter sei die gleiche Anzahl an Prüfschritten notwendig. Der Dritte könne die Vorschritte einer ldentitätsprüfung durchführen, während der Diensteanbieter den finalen Prüfungsschritt ausführe. Es obliege dabei dem Diensteanbieter, in seinem Interesse und im Rahmen seiner Organisationshoheit dafür zu sorgen, dass es nicht zu einer Doppelung des finalen Prüfungsschritts (des Abgleichs der erhobenen Daten mit dem vorgelegten Dokument) komme. Die gleichwohl von der Beklagten geforderte Zweiteilung der Prüfung sei zur Erreichung eines hohen Sicherheitsniveaus erforderlich. Dabei seien als Dritte im Sinne des Verfahrens sowohl solche, die konzernextern, als auch solche, die konzernintern organisiert seien, anzusehen. Die Prüfung auf Seiten des Diensteanbieters diene nämlich nicht nur Kontrollzwecken, sondern entspreche der gesetzgeberischen Vorstellung, eine zentralisierte Verifikation durch den Diensteanbieter zu gewährleisten. Selbst wenn man aber in der Organisationsform (intern oder extern) ein sachliches Unterscheidungskriterium sähe und in der Folge eine Ungleichbehandlung annähme, wäre diese notwendig, damit die Diensteanbieter ihrer Letztverantwortlichkeit hinsichtlich der Überprüfung der Richtigkeit der Daten nachkommen könnten. Nach dem Zweck der Gesetzesnovelle des § 111 TKG solle die Letztverantwortlichkeit eindeutig und klar bei den Diensteanbietern verortet sein. Eine Zersplitterung der Verantwortlichkeiten zwischen Diensteanbietern und Dritten, unabhängig davon, ob es sich um konzerninterne oder konzernexterne Dritte handele, solle zum Zweck effektiver Terror- und Kriminalitätsbekämpfung vermieden werden. Bei Diensteanbietern, die den Vertrieb durch eigene Angestellte durchführen ließen, sei gesichert, dass die Letztverantwortlichkeit entsprechend dem gesetzgeberischen Leitbild einer einzigen Stelle zugeordnet sei.
94§ 111 Abs. 1 Satz 4 TKG ermächtige die Beklagte im Übrigen auch dazu, nicht nur Regelungen zur Datenüberprüfung im engeren Sinne zu treffen, sondern auch Regelungen zur Erhebung der Daten i. S. d. § 111 Abs. 1 Satz 1 TKG. Datenerhebung und -überprüfung fielen nämlich in den typischen Situationen des Prepaid-Kundengeschäfts notwendigerweise zusammen, eine strikte Trennung sei nicht möglich. Der Mitarbeiter erhebe und prüfe zeitgleich, so dass beide Vorgänge im Regelfall einen Arbeitsschritt bildeten. Die Klägerin träfen daher keine Regelungen, die auf die Datenerhebung im engeren Sinne zielten. Sie sei lediglich von Regelungen betroffen, die auf die Datenüberprüfung zielen, die jedoch aufgrund des untrennbaren Zusammenhangs zwischen Erhebung und Überprüfung an die Erhebung anknüpfen und diese daher nicht unerwähnt lassen könnten.
95Hilfsweise stütze die Beklagte die Verfügung zudem auf § 115 Abs. 1 Satz 1 TKG als Ermächtigungsgrundlage. § 115 Abs. 1 Satz 1 TKG ermächtige die Bundesnetzagentur allgemein Maßnahmen zu treffen, um die Einhaltung der Vorschriften des Teils 7 des Telekommunikationsgesetzes sicherzustellen. Dass die Beklagte die Verfügung nicht (auch) auf § 115 Abs. 1 Satz 1 TKG gestützt habe, stehe einer hilfsweisen Heranziehung dieser Bestimmung nicht entgegen. Das Austauschen von Ermächtigungsgrundlagen und somit auch das hilfsweise Stützen auf eine andere Ermächtigungsgrundlage sei grundsätzlich zulässig, wenn die anderweitige rechtliche Begründung nicht zu einer Wesensveränderung des angefochtenen Bescheids führe. Dies sei jedoch hier nicht der Fall. Beide Ermächtigungsgrundlagen dienten demselben Zweck, nämlich die Einhaltung der Vorschriften des Teils 7 des Telekommunikationsgesetzes sicherzustellen bzw. umzusetzen. Auch die anzustellenden Ermessenserwägungen seien, jedenfalls in Bezug auf den in Rede stehenden Fall, gleich. Es gehe – unabhängig von der Ermächtigungsgrundlage – darum, geeignete Maßnahmen zu treffen, um zu gewährleisten, dass es bei der Einbindung Dritter nicht mehr, wie in der Vergangenheit, zur Generierung eines mangelhaften Datenbestands hinsichtlich von Prepaid-Kunden komme. Auch die Verhältnismäßigkeitsprüfung im engeren Sinne sei gleich, weil es um die Abwägung zwischen den Grundrechten der Klägerin, insbesondere deren Berufsfreiheit, und dem Allgemeininteresse an einer effektiven Bekämpfung von Terrorismus und schwerer Kriminalität gehe. Die angegriffene Verfügung sei auch von der Ermächtigungsgrundlage des § 115 TKG gedeckt, weil sie die Einhaltung der Vorschrift zur Überprüfungspflicht im Sinne von § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG sicherstelle, indem sie spezielle Anforderungen für die unterschiedlichen Prüfungsverfahren formuliere. Dies sei von der Generalklausel des § 115 TKG gedeckt, der Gesetzgeber habe bewusst auf einen abschließenden Katalog von Aufsichtsmaßnahmen verzichtet. Die Beklagte sei insoweit nur gebunden, ihre Wahl im Rahmen ihres pflichtgemäßen Ermessens zu treffen.
96Eine Teilaufhebung der Verfügung komme vorliegend nicht in Betracht. Die Verfügung stelle sich als einheitliche Ermessensentscheidung dar. Die Beklagte erachte die Datenerhebung für eine ordnungsgemäße Datenüberprüfung als unverzichtbar. Ebenso sei die Letztprüfungspflicht der Diensteanbieter für die Beklagte nicht wegzudenken, weil nur durch diese eine ordnungsgemäße Erhebung im Sinne von § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG garantiert werden könne. Die Beklagte hätte die Verfügung nur in dieser Form und nicht anders erlassen. Sofern die Beklagte eine Rechtswidrigkeit der Verfahren Nr. 1 bis 4 erkannt hätte, hätte sie nur das Verfahren Nr. 5 als gleich geeignetes Verfahren erlassen und so ihren gesetzlichen Regelungsauftrag gleichwohl erfüllt.
97Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte des vorliegenden Verfahrens sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
98Entscheidungsgründe
99I. Die Klage ist zulässig.
1001. Die Klägerin ist insbesondere gemäß § 42 Abs. 2 VwGO klagebefugt. Nach dieser Vorschrift ist die Klage nur zulässig, wenn der Kläger geltend macht, durch den Verwaltungsakt oder seine Ablehnung oder Unterlassung in seinen Rechten verletzt zu sein. Das ist dann der Fall, wenn nach dem tatsächlichen Klagevorbringen eine Verletzung eigener subjektiver Rechte des Klägers möglich erscheint. Dies ist bereits dann anzunehmen, wenn eine Verletzung eigener subjektiver Rechte des Klägers nicht offensichtlich und eindeutig nach jeder Betrachtungsweise ausgeschlossen ist.
101Vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Juli 2001 – 1 C 35.00 –, BVerwGE 114, 356 = juris Rn. 15; OVG NRW, Urteil vom 19. März 2019 – 4 A 1361/15 –, ZLW 2019, 309 = juris Rn. 91 f., m. w. N.
102Subjektive Rechte vermitteln solche Normen, die nicht ausschließlich der Durchsetzung von Interessen der Allgemeinheit dienen, sondern zumindest auch dem Schutz individueller Rechte. In diesem Sinn drittschützend ist eine Norm, die das geschützte Recht sowie einen bestimmten und abgrenzbaren Kreis der hierdurch Berechtigten erkennen lässt.
103Vgl. BVerwG, Urteile vom 11.10.2016 – 2 C 11.15 –, juris Rn. 27, und vom 10.4.2008 – 7 C 39.07 –, BVerwGE 131, 129 = juris Rn. 19.
104a) Eine mögliche Verletzung in subjektiven Rechten der Klägerin ist zunächst hinsichtlich Nr. 1. der angefochtenen Verfügung nach dem Klagevorbringen möglich. Die Klägerin ist als Anbieterin von Telekommunikationsdiensten Adressatin der Verfügung. Sie beruft sich darauf, dass die Überprüfung Vor-Ort durch Dritte mittels der in § 111 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 bis 7 TKG aufgeführten Dokumente bereits von Gesetzes wegen erlaubt sei. Soweit Nr. 1 der angegriffenen Verfügung Nr. 61/2016 vom 21. Dezember 2016 in der Fassung der Verfügungen Nr. 67/2017 und Nr. 126/2017 und in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. Dezember 2017 – nach dem Gesetzesverständnis der Klägerin – über die gesetzlichen Verpflichtungen hinausgehende Verpflichtungen enthält, ist eine mögliche Verletzung in eigenen Rechten daher jedenfalls nicht offensichtlich und eindeutig nach jeder Betrachtungsweise ausgeschlossen.
105b) Im Hinblick auf den von der Klägerin geltend gemachten Anspruch auf Aufhebung der Regelungen in Nr. 3 Abs. 5 und 6 der Verfügung Nr. 61/2016 in Gestalt der Verfügungen Nr. 67/2017 und Nr. 126/2017 und in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. Dezember 2017 ist eine Verletzung in eigenen Rechten nach den oben genannten Maßgaben ebenfalls möglich. Zwar handelt es sich bei der hier angegriffenen Allgemeinverfügung nicht um einen die Klägerin (nur) belastenden Verwaltungsakt. Denn die Klägerin ist nicht verpflichtet, neben der in § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG eröffneten Möglichkeit durch Vorlage eines Identitätsdokuments die bei Verkauf einer Prepaid-Karte vorgesehene Überprüfung der Identität vorzunehmen, auch die in der angegriffenen Verfügung geregelten weiteren Verfahren zu nutzen. Vielmehr wird ihr dies erst durch die angegriffene Verfügung ermöglicht. Ob dies zur Folge hat, dass die Klägerin sich nur gegen einzelne anfechtbare Nebenbestimmungen der Allgemeinverfügung wenden kann, wenn ihr ein subjektives Recht auf Erlass einer ermessensfehlerfreien Allgemeinverfügung zusteht oder ob eine Verletzung bereits deshalb möglich erscheint, weil diese für sich genommen für die Klägerin auch belastend sind, kann im Ergebnis offen bleiben.
106Es erscheint jedenfalls nicht offensichtlich und eindeutig nach jeder Betrachtungsweise ausgeschlossen, dass der Klägerin über § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG ein geschütztes (subjektives) Recht auf den ermessensfehlerfreien Erlass einer Festlegung der anderen geeigneten Verfahren im Sinne von § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG zusteht.
107Vgl. grundsätzlich zur Möglichkeit und zu den Voraussetzungen einen Anspruch auf Erlass einer Allgemeinverfügung geltend machen zu können: VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16. Mai 1997 – 5 S 1842/95 –, juris Rn. 26; Stelkens in: Stelkens/Bonk/Sachs (Hrsg.), VwVfG, 9. Aufl. (2018), § 35 Rn. 274.
108Es erscheint ebenfalls nicht ausgeschlossen, dass dieser Anspruch durch die von der Klägerin mit ihrer Klage in Frage gestellten Regelungen verletzt worden sein könnte und sie einen Anspruch auf den Erlass einer Allgemeinverfügung ohne die angegriffenen Regelungen hat.
109Denn nach dem oben dargestellten Maßstab vermittelt die Regelung in § 111 Abs. 1 Satz 4, 2. Halbsatz TKG für den insoweit bestimmbaren und abgrenzbaren Kreis der Diensteanbieter subjektive Rechte, weil hierdurch auch Interessen der Diensteanbieter, nämlich ihre in den Schutzbereich von Art. 12 GG fallende Tätigkeit als Anbieter von Prepaid-Produkten, geschützt werden soll.
110Der Gesetzesentwurf der Regierungsfraktionen, der u. a. die Neufassung des § 111 TKG in seinem Artikel 9 vorsieht und auf dem die hier in Rede stehende Fassung maßgeblich beruht, hat den Erfüllungsaufwand für die Wirtschaft in den Blick genommen und festgestellt, dass durch die in Artikel 9 vorgenommene Änderung des Telekommunikationsgesetzes, eine dauerhafte, zusätzliche Belastung der Telekommunikationsdiensteanbieter zu erwarten sei. Die im Gesetzesentwurf vorgesehene Nacherfassung des Erfüllungsaufwandes für die Wirtschaft durch die Angaben des Bundeswirtschaftsministeriums (BMWi) vom 20. Juni 2016 berücksichtigt dabei gerade auch, dass der bisherige Vertrieb der Prepaid-Produkte auf verschiedenen Vertriebswegen erfolgte, die von den Anbietern nach der Neuregelung überprüft werden müssen und dass für die Erfüllung der Überprüfungspflicht je nach Vertriebsweg unterschiedliche Kosten zu erwarten seien, während der Gesetzesentwurf selbst insoweit nur den Vertriebsweg des Erwerbs von Prepaid-Produkten unter Anwesenden regele.
111Vgl. Gesetzesentwurf der Fraktionen CDU/CSU und SPD, Entwurf eines Gesetzes zum besseren Informationsaustausch bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus, BT-Drs. 18/8702, Seite 2; Nacherfassung des Erfüllungsaufwands für die Wirtschaft, Angaben des BMWi vom 20. Juni 2016, Anhang zum Protokoll-Nr. 18/84 des Deutschen Bundestages – Innenausschuss -, Seite 107.
112Der Gesetzgeber hatte daher bei der vorgesehenen Festlegung der „anderen Verfahren“ die Interessen der Diensteanbieter im Blick, durch die Schaffung technikoffener Verfahren ein für Diensteanbieter und die Kunden praktikables Verfahren für diese Identitätsfeststellung zu entwickeln und damit das Interesse der Kunden und Unternehmen an einer einfachen Anschaffung eines Mobiltelefons zu wahren.
113Vgl. die Ausführungen des damaligen Bundesinnenministers Dr. de Maizière bei der Beratung des Gesetzes im Deutschen Bundestag, Plenarprotokoll 18/176, Seite 17303.
114Dementsprechend ist auch hinsichtlich der Festlegung der „anderen Verfahren“ im Sinne von § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG ein Anhörungsrecht für „die betroffenen Kreise“, zu denen insbesondere auch die Anbieter von Telekommunikationsdiensten zählen,
115vgl. BT-Drs. 18/8702, Seite 23,
116vorgesehen worden.
1172. Der Klägerin mangelt es auch nicht an dem allgemeinen Rechtschutzbedürfnis für die Aufhebung der angefochtenen Bestimmungen.
118Der Zulässigkeit des Antrags steht unter diesem Gesichtspunkt nicht entgegen, dass die angegriffenen Teile der Verfügung möglicherweise untrennbar mit den übrigen Bestandteilen der Verfügung verknüpft sind. Ob ein Verwaltungsakt oder eine Nebenbestimmung isoliert aufgehoben werden kann, ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eine Frage der Begründetheit und nicht der Zulässigkeit eines Aufhebungsbegehrens, sofern nicht eine isolierte Aufhebbarkeit offenkundig von vornherein ausscheidet.
119Vgl. BVerwG, vom 17. Oktober 2012 – 4 C 5.11 –, juris Rn. 5 und vom 21. Juni 2007 – 3 C 39.06 –, juris Rn. 20; ausdrücklich zur streitgegenständlichen Verfügung: VG Köln, Beschluss vom 23. Mai 2018 – 21 L 4882/17 –, juris Rn. 16 f., m. w. N.
120Letzteres ist hier – bezogen auf den Aufhebungsantrag hinsichtlich Nr. 1 der Verfügung und die Aufhebungsanträge hinsichtlich der angegriffenen Regelungen zum Videoidentifikationsverfahren in Nr. 3 Abs. 5 und 6 der Verfügung – nicht der Fall. Auch im Hinblick auf die von der Klägerin angegriffenen Regelungen über die Datenerhebung scheidet eine offenkundige isolierte Aufhebbarkeit nicht aus, weil das Verhältnis der Verpflichtung zur Datenerhebung und der Verpflichtung zur Datenüberprüfung und in der Folge der Zusammenhang bzw. die Trennbarkeit dieser beiden Verpflichtungen erst im Rahmen der Begründetheit zu klären sein wird.
121II. Die Klage ist im tenorierten Umfang begründet. Die angegriffene Allgemeinverfügung der Beklagten Nr. 61/2016 vom 21. Dezember 2016 in der Fassung der Verfügungen Nr. 67/2017 und Nr. 126/2017 und in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. Dezember 2017 ist rechtswidrig, soweit sich die Klägerin gegen die Regelungen in Nr. 1 der angegriffenen Verfügung (dazu unter 1.) und gegen die Regelungen in Nr. 3 Abs. 5 und 6 der angegriffenen Verfügung (dazu unter 2.) wendet und verletzt die Klägerin insoweit in ihren Rechten (siehe unter 3.). Die rechtswidrigen Regelungen sind insoweit auch materiell teilbar (dazu unter 4.), so dass die angegriffene Verfügung in diesem Umfang aufzuheben war (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Soweit die Klägerin sich hingegen ebenfalls gegen die Bestimmungen in Nr. 2 Abs. 1 Satz 1, Nr. 3 Abs. 1 Satz 1, Nr. 4 Abs. 1 Satz 1, Nr. 2 Abs. 2, Nr. 3 Abs. 3, Nr. 2 Abs. 3, Nr. 3 Abs. 4, Nr. 2 Abs. 5 Satz 1, Nr. 4 Abs. 6, Nr. 2 Abs. 6, Nr. 3 Abs. 7, Nr. 3 Abs. 1 Satz 5 und Abs. 8 Satz 1, Nr. 3 Abs. 9, Nr. 4 Abs. 2 wendet, insofern diese einzelne Regelungen betreffend die Datenerhebung enthalten, ist die Klage unbegründet, weil diese sich als rechtmäßig erweisen (unter 5.)
1221. Nr. 1 der Verfügung der Beklagten Nr. 61/2016 vom 21. Dezember 2016 in der Fassung der Verfügungen Nr. 67/2017 und Nr. 126/2017 und in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. Dezember 2017 (nachfolgend auch nur Verfügung Nr. 61/2016) erweist sich als rechtswidrig, weil es an einer Ermächtigungsgrundlage für den Erlass der streitgegenständlichen Regelung fehlt. Nr. 1 der Verfügung 61/2016 regelt Verfahrensanforderungen für die Erhebung der Anschlussinhaberdaten durch einen von dem Diensteanbieter in seinen Vertrieb eingebundenen und unmittelbar anwesenden Dritten mit der Prüfung der Echtheit des Identitätsdokuments sowie der Übereinstimmung des künftigen Anschlussinhabers mit der in dem Identitätsdokument ausgewiesenen Person. Zur Festlegung dieser Verfahrensbestimmungen ist die Beklagte jedoch weder über § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG, vgl. dazu unter a), noch über § 115 TKG, vgl. dazu unter b), ermächtigt.
123a) Die Festlegung in Nr. 1 der angegriffenen Verfügung ist zunächst nicht von der Ermächtigungsgrundlage des § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG gedeckt.
124Nach § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG legt die Bundesnetzagentur nach Anhörung der betroffenen Kreise durch Verfügung im Amtsblatt fest, welche anderen Verfahren zur Überprüfung geeignet sind, wobei jeweils zum Zwecke der Identifikation vor Freischaltung der vertraglich vereinbarten Mobilfunkdienstleistung ein Dokument im Sinne des Satzes 3 genutzt werden muss. Die Andersartigkeit der Verfahren bestimmt sich dabei in Bezug auf den vorhergehenden Satz 3, der als gesetzlich vorgesehenes Verfahren der Überprüfung vorsieht, dass bei im Voraus bezahlten Mobilfunkdiensten die Richtigkeit der nach Satz 1 erhobenen Daten vor der Freischaltung durch Vorlage eines der in § 111 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 bis 7 TKG vorgesehenen Dokumente zu überprüfen ist. Es sollte nämlich gesetzlich nur der Vertriebsweg des Erwerbs von Prepaid-Karten unter Anwesenden gesetzlich erfasst sein, für den die Vorlage bestimmter zugelassener Identitätsnachweise vorgesehen wurde.
125Vgl. Gesetzesentwurf zum besseren Informationsaustausch bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus, Nacherfassung des Erfüllungsaufwands für die Wirtschaft, Angaben des BMWi vom 20. Juni 2016, Anhang zum Protokoll-Nr. 18/84 des Deutschen Bundestages – Innenausschuss –, Seite 107.
126Die Ermächtigung der Bundesnetzagentur in § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG, weitere, zur Erreichung des Zieles einer Identifikation des Anschlussinhabers gleichermaßen geeignete Verfahren zur Überprüfung der Angaben nach § 111 Absatz 1 Satz 1 zuzulassen, sollte hingegen für die Fälle Lösungen schaffen, in denen bei Erwerb des im Voraus bezahlten Mobilfunkdienstes aufgrund des gewählten Vertriebsweges eine Überprüfung anhand eines vorgelegten gültigen amtlichen Ausweises ausscheidet, beispielsweise durch die Möglichkeit der Überprüfung des Identitätsnachweises durch Web-Ident- oder Post-Ident-Verfahren.
127Vgl. BT Drs. 18/8702, Seite 23.
128Die Andersartigkeit der Verfahren nach § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG in Bezug auf § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG folgt nach dem Verständnis des Gesetzgebers daraus, dass in diesen Fällen nicht die (physische) „Vorlage“ des Dokuments zur Feststellung der Richtigkeit der erhobenen Daten beim Erwerb der Prepaid-Karte erfolgt, sondern die Identifikation mittels des genutzten Dokuments auf anderem Wege als durch Vorlage des Identitätsdokuments erfolgen soll. Bei diesen anderen geeigneten Verfahren im Sinne von § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG muss nach dem Gesetzeswortlaut ebenfalls ein Dokument im Sinne des Satzes 3 zur Identifikation genutzt werden, im Unterschied zum gesetzlich geregelten Fall kann dieses jedoch nicht beim Erwerb und der Erhebung der Daten beim Erwerbsvorgang – aufgrund des gewählten Vertriebsweges – vorgelegt werden.
129Dieses Verständnis zugrunde gelegt steht der Bundesnetzagentur eine Ermächtigung zur Festlegung von Verfahren zur Überprüfung der Angaben nach § 111 Abs. 1 Satz 1 TKG nur zu, soweit diese nicht bereits von der gesetzlichen Regelung des § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG erfasst werden. Denn hierdurch sollten nur zusätzliche Möglichkeiten zur Durchführung der neu eingeführten Überprüfungspflicht aus § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG geschaffen werden. Die mit dem Verfahren Nr. 1 geregelte Überprüfung der Identität „Vor-Ort durch Dritte“ ist jedoch bereits von § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG umfasst, weil hierbei eine Überprüfung der Identität durch Vorlage des Dokuments erfolgt. Aus Wortlaut (dazu unter aa.), Sinn und Zweck (bb.) und Systematik der Vorschrift des § 111 (dazu unter cc) unter Berücksichtigung der Gesetzgebungsgeschichte lässt sich nicht herleiten, dass von der gesetzlichen Regelung nur die Überprüfung durch Vorlage bei dem Diensteanbieter erfasst sein sollte. Die Auslegung auch unter Berücksichtigung der Gesetzesbegründung (dd.) ergibt vielmehr, dass auch die Überprüfung durch Dritte von der gesetzlichen Regelung des § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG erfasst werden sollte.
130aa) § 111 Absatz 1 Satz 3 TKG verpflichtet die geschäftsmäßigen Erbringer von Telekommunikationsdiensten sowie daran Mitwirkende bei im Voraus bezahlten Mobilfunkdiensten dazu, die nach § 111 Absatz 1 Satz 1 erhobenen Bestandsdaten der Anschlussinhaber vor der Freischaltung auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen. Dem Wortlaut der Neuregelung lässt sich kein Hinweis entnehmen, dass diese Verpflichtung durch den Diensteanbieter höchstpersönlich wahrgenommen werden muss. Bei der in § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG geregelten Überprüfungspflicht handelt es sich um eine Verpflichtung, die in engem Zusammenhang zu dem in § 111 Abs. 1 Satz 1 TKG geregelten Erhebungsvorgang steht. Auch aus der Tatsache, dass § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG davon spricht, dass die (bereits) „erhobenen“ Daten vor der Freischaltung zu überprüfen seien, was für eine Differenzierung und gesetzlich vorgesehene zeitliche Reihenfolge zwischen der Verpflichtung zur vorhergehenden (reinen) Erhebung der Daten und der nachfolgenden Verpflichtung zur Überprüfung der Daten spricht, lässt sich nach dem Wortlaut keine höchstpersönliche Verpflichtung der Diensteanbieter zur Überprüfung begründen. Denn allein die Erhebungspflicht wird in § 111 Abs. 1 Satz 1 TKG dem Diensteanbieter bzw. an der Erbringung Mitwirkenden ausdrücklich zugewiesen. Die Überprüfungspflicht ist hingegen gerade passivisch ausgestaltet („ist die Richtigkeit zu überprüfen“) und nennt keine Verpflichteten. Auch aus dem Begriff „Verfahren“ in § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG kann – wie auch die diesbezüglichen gegenläufigen Argumentationen der Beteiligten zeigen – in dieser Hinsicht nichts hergeleitet werden.
131bb) Aus der Gesetzgebungsgeschichte lässt sich herleiten, dass mit der Einführung der Überprüfungspflicht in § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG eine Erweiterung der nach § 111 Absatz 1 Satz 1 TKG bereits bestehenden Pflicht zur Erhebung und Speicherung der Daten gewollt war.
132Vgl. BT Drs. 18/8702, Seite 22.
133Die im Gesetz vorgesehene ausdrückliche Differenzierung zwischen Erhebung und Überprüfung erklärt sich aus der Gesetzeshistorie. Die Neuregelung beruht darauf, dass die in § 111 Absatz 1 Satz 1 TKG a. F. geregelte (reine) Datenerhebungspflicht dazu führte, dass Daten von den Anbietern zwar gespeichert, aber häufig nicht verifiziert wurden.
134Vgl. BT Drs. 18/8702, Seite 22; dazu auch Ufer, Die Verifikation von Kundendaten über den neuen § 111 TKG, MMR 2017, 83 (84 ff.)
135Umstritten war insoweit, ob nach der damals geltenden Rechtslage eine gesetzliche Verpflichtung des jeweiligen Diensteanbieters zur Verifikation der erhobenen Bestandsdaten bestehe.
136Vgl. BT Drs. 18/8702, Seite 22; Löwenau/Ipsen, in: Scheurle/Mayen (Hrsg.), TKG, 3. Aufl. (2018), § 111, Rn. 15; die Sachverständigen in der Anhörung des Innenausschusses gingen davon aus, dass nach der damals geltenden Rechtslage keine solche Verpflichtung bestehe: Mündliche Stellungnahme des Präsidenten des Bundeskriminalamtes Münch, Wortprotokoll der Anhörung am 20. Juni 2016, Protokoll-Nr. 18/84 des Deutschen Bundestages – Innenausschuss -, Seite 21; schriftliche Stellungnahme des damaligen Präsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz Dr. Maaßen, Protokoll-Nr. 18/84 des Deutschen Bundestages – Innenausschuss –, Seite 79.
137Dies führte dazu, dass Prepaid-Karten für Anschlussinhaber mit nicht-existenten Personalien oder aber für Personen, die es tatsächlich gibt, aber die nicht tatsächlicher Vertragspartner sind, registriert wurden und diese u.a. durch Terroristen oder im Bereich der organisierten Kriminalität genutzt wurden, ohne dass den Sicherheits- und Verfolgungsbehörden wegen der falschen Angaben eine Nachverfolgbarkeit über die erworbenen Prepaid-Karten möglich war.
138Vgl. dazu Mündliche Stellungnahme des Präsidenten des Bundeskriminalamtes Münch, Wortprotokoll der Anhörung am 20. Juni 2016, Protokoll-Nr. 18/84 des Deutschen Bundestages – Innenausschuss -, Seite 21, 29.
139Gefordert wurde daher von Seiten der Sicherheitsbehörden, dass Anbieter verpflichtet werden sollten, die Daten zu überprüfen. Neu an der Regelung sollte sein, dass die Anbieter verpflichtet werden, ein gültiges Identitätsdokument vor Freischaltung der Prepaid-Karte zur Verifikation zu verlangen. Durch die neue Identifikationspflicht von Prepaid-Kunden sollten die Angaben in geeigneter Weise verifiziert und die Datenqualität verbessert werden.
140Vgl. Stellungnahme im Innenausschuss des Bundestages: Mündliche Stellungnahme des Präsidenten des Bundeskriminalamtes Münch, Wortprotokoll der Anhörung am 20. Juni 2016, Protokoll-Nr. 18/84 des Deutschen Bundestages – Innenausschuss -, Seite 21; schriftliche Stellungnahme des damaligen Präsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz Dr. Maaßen, Protokoll-Nr. 18/84 des Deutschen Bundestages – Innenausschuss -, Seite 79
141Dass die Verpflichtung zur Verifikation der Daten bei den Diensteanbietern höchstpersönlich verankert werden sollte, wurde ausweislich der Gesetzgebungsgeschichte hingegen nicht erörtert.
142cc) Eine höchstpersönliche Verpflichtung lässt sich auch nicht unter Heranziehung von § 111 Abs. 4 TKG, der die Verantwortlichkeit des Diensteanbieters bei Einschaltung von Dritten regelt, entnehmen. Hiernach bleibt der Diensteanbieter für die Erfüllung der Pflichten nach Absatz 1 Satz 1 und Absatz 2 verantwortlich, wenn er sich zur Erhebung der Daten nach Absatz 1 Satz 1 und Absatz 2 eines Dritten bedient. Nach ihrem Wortlaut weist die Vorschrift daher die Verantwortung ausdrücklich den Diensteanbietern zu, um insoweit von der Vorgängervorschrift des § 111 Abs. 2 TKG a. F. abzuweichen, die ermöglichte, die Datenerhebungspflicht eigenverantwortlich von Dritten wahrnehmen zu lassen. Eine Ermächtigung, die Erhebung auf Dritte zu übertragen, ist dem Wortlaut von § 111 Abs. 4 TKG nicht zu entnehmen. Vielmehr setzt dieser voraus, dass der Diensteanbieter sich für die Erhebung der Daten nach § 111 Abs. 1 TKG eines Dritten bedienen darf und stellt für diesen Fall klar, dass der Diensteanbieter für die Erfüllung der Erhebungspflicht verantwortlich bleibt. Aus § 111 Abs. 4 TKG kann daher auch nicht geschlossen werden, dass die Überprüfungspflicht nach § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG nicht auf Dritte übertragen werden könne, weil sie nicht ausdrücklich in § 111 Abs. 4 TKG erwähnt werde. Vielmehr stellt sich insoweit die Frage, ob der Diensteanbieter für die Erfüllung dieser Pflicht ebenfalls verantwortlich bleibt, wenn er sich hierfür eines Dritten bedient. Unter Berücksichtigung des oben dargelegten Verständnisses der Überprüfungspflicht als Teil der Erhebungspflicht nach § 111 Abs. 1 Satz 1 TKG regelt dieser aber auch die Letztverantwortlichkeit des Diensteanbieters für die Erfüllung der Überprüfungspflicht bei Erhebung der Daten im Prepaid-Bereich nach § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG. Denn mit der Regelung soll klargestellt werden, dass es dem Diensteanbieter weiterhin frei steht, seine Pflicht zur Datenerhebung im Rahmen der Vorgaben für die Auftragsverarbeitung auf vertraglichem Wege insgesamt oder in Teilen auf Dritte zu delegieren. Er soll als Auftraggeber aber Hauptverantwortlicher mit allen Kontroll- und Überwachungspflichten bleiben.
143Vgl. BT Drs. 18/8702, S 23.
144Dieses Verständnis des § 111 Abs. 4 TKG zugrunde gelegt lässt sich auch nicht aus der Regelung des § 112 Abs. 1 Satz 2 TKG herleiten, dass es für eine Durchführung der Überprüfungspflicht nach § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG durch Dritte einer ausdrücklichen Ermächtigung bedürfte. Zum einen betrifft die ausdrückliche Ermächtigung in § 112 TKG nur die nach der Gesetzessystematik eigene, von der Erhebungs- und Überprüfungspflicht unabhängige Frage der Speicherung der Daten in einer Kundendatei, die keinen Rückschluss auf die Auslegung der Vorschrift des § 111 Abs. 1 TKG erlaubt. Denn insoweit ist § 111 Abs. 4 die speziellere Vorschrift für die Frage der Einbindung von Dritten bei der Erfüllung der Pflichten nach § 111 Abs. 1 TKG. Zum anderen lässt sich aus dieser Vorschrift auch nicht herleiten, dass es in diesem Bereich einer ausdrücklichen Ermächtigung bedürfe, um Dritte zu beauftragen. Mit der Einführung der ausdrücklichen Ermächtigung in § 112 Abs. 1 Satz 2 TKG, dass der Verpflichtung zur Führung einer Kundendatei auch dadurch nachgekommen werden kann, dass das Telekommunikationsunternehmen einen Dritten beauftragt, diese Kundendatei zu führen, sollte nach der Gesetzesbegründung nämlich nur die zuvor bereits geübte Praxis rechtlich verankert und den betroffenen Unternehmen die gebotene Rechtssicherheit gegeben werden.
145Vgl. die Gesetzesbegründung des Gesetzes zur Neuregelung des Post- und Telekommunikationssicherstellungsrechts und zur Änderung telekommunikationsrechtlicher Vorschriften, mit dem § 112 Abs. 1 Satz 2 TKG zum 1. April 2011 eingeführt wurde: BR-Drs. 490/19, Seite 26; BT-Drs. 17/3306, Seite 20.
146dd) Eine höchstpersönliche Verpflichtung des Diensteanbieters kann auch nicht unter Hinweis auf die Gesetzesbegründung hergeleitet werden, die darauf verweist, dass die bisherigen vertraglichen Verpflichtungen der Vertriebspartner gegenüber den Diensteanbietern nicht ausreichten, um die Erhebung korrekter Kundendaten zu gewährleisten und der weit überwiegende Anteil an Falschangaben auf dem Vertriebsweg des stationären Fachhandels durch Vertriebspartner zu verzeichnen sei. Die Richtigkeit des Datenbestands könne daher effektiv und nachhaltig nur mittels eines zentralen Systems zur Verifikation durch den Diensteanbieter sichergestellt werden.
147Vgl. BT Drs. 18/8702, Seite 23.
148Zum einen kann eine höchstpersönliche Verpflichtung von Diensteanbietern nicht allein aus der Gesetzesbegründung entnommen werden, wenn sich dem Gesetz selbst – wie oben dargelegt – eine solche nach Auslegung nicht entnehmen lässt. Zum anderen steht die Gesetzesbegründung nicht im Widerspruch zu der aufgezeigten Auslegung des § 111 TKG. Durch die Regelung in § 111 Abs. 4 TKG, die die Verantwortung auch für die Überprüfung der Daten im Prepaid-Bereich – als Teil der Erhebungspflicht nach § 111 Abs. 1 Satz 1 TKG – beim Diensteanbieter verankert, hat dieser die Richtigkeit seines Datenbestandes durch die Verantwortung für die Einhaltung der Überprüfungspflicht sicherzustellen. Dies wird der Diensteanbieter üblicherweise mittels eines zentralen Systems zur Verifikation, das er seinen Vertriebspartnern durch vertragliche Verpflichtungen auferlegen wird, erreichen.
149b) Nr. 1 der angegriffenen Verfügung lässt sich auch nicht auf die Ermächtigungsgrundlage des § 115 TKG stützen. Nach § 115 Abs. 1 Satz 1 TKG kann die Bundesnetzagentur Anordnungen und andere Maßnahmen treffen, um die Einhaltung der Vorschriften des Teils 7 und der auf Grund dieses Teils ergangenen Rechtsverordnungen sowie der jeweils anzuwendenden Technischen Richtlinien sicherzustellen. Die Befugnis zum „Sicherstellen“ setzt voraus, dass ein Verstoß gegen Vorschriften des Teils 7 und der auf Grund dieses Teils ergangenen Rechtsvorschriften sowie der jeweils anzuwendenden Technischen Richtlinien vorliegt.
150Vgl. OVG NRW, Urteil vom 10. November 2014 – 13 A 1973/13 –, juris Rn. 31; Graulich, in: Arndt/Fetzer/Scherer/Graulich (Hrsg.), TKG, 2. Aufl. (2015), § 115 Rn. 4; Büttgen, in: Scheurle/Mayen (Hrsg.), TKG, 3. Aufl. (2018), § 115 Rn. 6.
151Die Vorschrift soll nämlich nach der Gesetzesbegründung zur Vorgängervorschrift des § 91 TKG, der die Vorschrift des aktuellen § 115 TKG im Grundsatz entspricht,
152vgl. BT-Drs. 15/2316, Seite 97 f.,
153der Regulierungsbehörde die Möglichkeit geben, auf rechtswidriges Verhalten Beteiligter zu (...) reagieren.
154Vgl. BR-Drs. 80/96, Seite 56.
155Für einen Rückgriff auf die Regelung des § 115 TKG bedarf es daher zunächst eines rechtswidrigen Verhaltens eines Beteiligten. Die Bestimmung kann jedoch nicht für den Erlass präventiver Allgemeinverfügungen herangezogen werden.
156Letztlich ist auch zweifelhaft, ob – außerhalb der Ermächtigung von § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG – die hier streitgegenständlichen Regelungen in der Handlungsform der Allgemeinverfügung erlassen werden könnte. Anders als § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG, der für die Festlegung der „anderen Verfahren“ die Rechtsform der Allgemeinverfügung ausdrücklich vorsieht,
157vgl. zur Möglichkeit, normkonkretisierende Allgemeinverfügungen „sui generis“ in Fachgesetzen festzulegen: Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Hrsg.), VwVfG, 9. Aufl. (2018), VwVfG § 35 Rn. 306,
158kann eine Allgemeinverfügung auf der Grundlage von § 115 TKG nur bei Vorliegen der Voraussetzungen für den Erlass eines Verwaltungsaktes nach § 35 VwVfG erlassen werden. Insoweit erscheint zweifelhaft, ob angesichts der Tatsache, dass die Regelung in Nr. 1 der angegriffenen Allgemeinverfügung weder an ein konkretes Ereignis anknüpft, noch zeitlich befristet ist, ein hinreichend konkreter Sachverhalt vorliegt, der den Erlass einer solchen Verfügung in der Form der Allgemeinverfügung – ohne ausdrückliche Ermächtigung – rechtfertigen kann.
1592. Die in Nr. 3 Abs. 5 und 6 der angegriffenen Verfügung geregelten Verpflichtungen für Diensteanbieter erweisen sich ebenfalls als rechtswidrig. Zwar konnte die Beklagte die Regelungen unter Nr. 3 der Verfügung für das so genannte Video-Ident-Verfahren auf die Ermächtigungsgrundlage des § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG stützen, weil es sich hierbei nach den oben dargelegten Maßgaben um ein „anderes Verfahren“ im Sinne von § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG handelt. Nach § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG steht der Beklagten bei der Festlegung der anderen geeigneten Verfahren ausweislich des Wortlauts der Vorschrift („kann“) Ermessen zu. Nach § 40 VwVfG muss die Behörde, wenn sie ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln, zunächst erkennen, dass sie Ermessen hat. Weiter hat sie dem Zweck der Ermächtigung entsprechend zu handeln und alle für die Ermessensausübung maßgeblichen Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Schließlich hat sie die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten.
160Vgl. ausdrücklich zur Ermächtigung des § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG: VG Köln, Beschluss vom 23. Mai 2018 – 21 L 4882/17 –, juris Rn. 36 f.
161Dieses Ermessen hat die Beklagte bezogen auf die angegriffenen Regelungen fehlerhaft ausgeübt.
162a) Sie hat zunächst die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten, indem sie dem Diensteanbieter in Nr. 3 Abs. 5 der angegriffenen Verfügung aufgegeben hat, dafür zu sorgen, dass der Dritte in jedem Einzelfall eine opto-elektronische Kopie, Scan oder entsprechende Abbildung des Identitätsdokuments anfertigt und zum Zwecke der Prüfung unter Beachtung datenschutzrechtlicher und personalausweisrechtlicher Vorgaben an ihn übermittelt. Eine solche Verpflichtung durfte der Beklagte nicht vorsehen, weil sie gegen die gesetzliche Bestimmung des § 20 Abs. 2 PAuswG bzw. des § 18 Abs. 3 PassG verstößt.
163Nach dem zum 15. Juli 2017 in Kraft getretenen § 20 Abs. 2 Satz 1 PAuswG bzw. § 18 Abs. 3 Satz 1 PassG ist das Anfertigen einer Kopie des Personalausweises bzw. des Passes auch im privaten Rechtsverkehr nunmehr zulässig. Nach § 20 Abs. 2 Satz 2 PAuswG dürfen andere Personen als der Ausweisinhaber die Kopie jedoch nicht an Dritte weitergeben, sofern dies nicht spezialgesetzlich zugelassen ist. Nach § 18 Abs. 3 Satz 2 PassG dürfen andere Personen als der Passinhaber die Kopie nicht an Dritte weitergeben, es sei denn, die Weitergabe erfolgt zur Beantragung eines Visums für den Passinhaber und der Passinhaber hat der Weitergabe zugestimmt.
164aa) Zunächst fehlt es an einer spezialgesetzlichen Ermächtigung – wie sie zum Beispiel § 8 Abs. 2 Geldwäschegesetz enthält –, die in Bezug auf die in § 111 Abs. 1 TKG festgelegten Pflichten die Ablichtung des Personalausweises oder Passes und die Übersendung dieser Ablichtung spezialgesetzlich zulassen würde. Die Anfertigung und Übersendung der opto-elektronischen Kopie, des Scans oder der entsprechenden Abbildung des Identitätsdokuments ist insoweit auch nicht auf der Rechtsgrundlage des § 95 Abs. 4 TKG erlaubt. Nach dieser Vorschrift kann der Diensteanbieter im Zusammenhang mit dem Begründen und dem Ändern des Vertragsverhältnisses sowie dem Erbringen von Telekommunikationsdiensten die Vorlage eines amtlichen Ausweises verlangen, wenn dies zur Überprüfung der Angaben des Teilnehmers erforderlich ist (§ 95 Abs. 4 Satz 1 TKG), und von dem Ausweis eine Kopie erstellen (§ 95 Abs. 4 Satz 3 TKG).
165Das Recht zur Vorlage des amtlichen Ausweises und zur Fertigung einer Kopie bezieht sich nach dem klaren Wortlaut allein auf die nach § 95 TKG zu betrieblichen Zwecken zu erhebenden und zu speichernden Daten. Hierbei handelt es sich um solche Bestandsdaten, die die Diensteanbieter zur Begründung, inhaltlichen Ausgestaltung, Änderung oder Beendigung ihrer Vertragsverhältnisse erheben und verwenden. Diese sind von den gemäß § 111 TKG verpflichtend zu speichernden Bestandsdaten zu unterscheiden.
166Vgl. BT Drs. 18/8702, S 22; BVerfG, Beschluss vom 27. Mai 2020 – 1 BvR 1873/13, 1 BvR 2618/13 –, juris Rn. 8a, 10b.
167Die Unterscheidung zwischen den nach § 95 TKG und den nach § 111 TKG zu erhebenden Daten und deren Überprüfung folgt ebenfalls aus der Klarstellung des Verhältnisses zu § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG in § 95 Abs. 4 Satz 2 TKG, wonach die Pflicht nach § 111 Absatz 1 Satz 3 unberührt bleibt.
168Vgl. in diesem Sinne Kannenberg/Müller, in: Scheurle/Mayen (Hrsg.), TKG, 3. Aufl. (2018), § 95 Rn. 67, 69.
169Im Übrigen ließe sich aus der Vorschrift des § 95 TKG nicht die Zulässigkeit des Übersendens einer Fotokopie zur Verifikation der nach § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG erhobenen Daten ableiten, weil die nach § 95 Abs. 4 TKG gefertigte Kopie allein zur Feststellung der für den Vertragsabschluss erforderlichen Angaben des Teilnehmers genutzt werden darf. Dies folgt aus den in § 95 Abs. 4 Sätze 2 und 3 TKG getroffenen Regelungen, wonach der Diensteanbieter von dem Ausweis zwar eine Kopie erstellen kann, diese jedoch unverzüglich nach Feststellung der für den Vertragsabschluss erforderlichen Angaben des Teilnehmers zu vernichten hat.
170bb) Der Diensteanbieter ist auch Dritter im Sinne von § 20 Abs. 2 Satz 2 PAuswG bzw. von § 18 Abs. 3 Satz 2 PassG. Nach der Gesetzesbegründung zur Einführung von § 20 PAuswG (bzw. § 18 Abs. 3 PassG) sind Dritte im Sinne dieser Vorschrift nur nicht die Personen, die derselben Organisation (z. B. juristischen Person) angehören wie diejenige, gegenüber der der Ausweisinhaber seine Zustimmung erklärt hat. Innerhalb ein- und derselben Organisation darf die Ausweiskopie also mit Zustimmung des Ausweisinhabers weitergegeben werden, darüber hinaus aber nicht.
171Vgl. BT-Drs. 18/11729, Seite 28, 33; Beimowski/Gawron, PassG/PersonalausweisG, 2018, § 18 PassG Rn. 10.
172Ein solches Verhältnis liegt bezogen auf den erhebenden „Dritten“ nicht vor, weil „Dritter“ im Sinne der Verfügung Nr. 61/2016 nur derjenige ist, der gerade nicht der Organisation des Diensteanbieters angehört.
173Für die Frage, wer „Dritter“ im Sinne des Personalausweis- bzw. Passgesetzes ist, kommt es hingegen nicht darauf an, ob nach den Definitionen der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) die erhebende Person als Dritter anzusehen ist. Nach der Begriffsbestimmung des Art. 4 Nr. 10 DSGVO ist „Dritter“ eine natürliche oder juristische Person, Behörde, Einrichtung oder andere Stelle, außer der betroffenen Person, dem Verantwortlichen, dem Auftragsverarbeiter und den Personen, die unter der unmittelbaren Verantwortung des Verantwortlichen oder des Auftragsverarbeiters befugt sind, die personenbezogenen Daten zu verarbeiten. Die Begriffsbestimmungen der Datenschutzgrundverordnung beziehen sich – wie sich aus Art. 4 DSGVO ausdrücklich entnehmen lässt („Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet...“ ) – nur auf diese und den von ihr umfassten sachlichen Anwendungsbereich (Art. 2 DSGVO). Dass die Begriffsbestimmungen der DSGVO nach dem Willen des deutschen Gesetzgebers auf die Auslegung des PAuswG zu übertragen wären, ist hingegen nicht erkennbar. Wie sich der Gesetzesbegründung zur Einführung der Vorschrift des § 20 Abs. 2 PAuswG (bzw. § 18 Abs. 3 PassG) entnehmen lässt, war sich der Gesetzgeber dessen bewusst, dass die Ablichtung des Personalausweises oder Passes häufig mit der Erhebung personenbezogener Daten einhergeht,
174vgl. BT-Drs. 18/11729, Seite 28, 33,
175er hat im Hinblick auf die Frage, wer als Dritter zu werten ist, jedoch keinen Bezug zu den Begriffsbestimmungen des Datenschutzrechts hergestellt. Nichts anderes lässt sich aus § 20 Abs. 2 Satz 4 PAuswG bzw. § 18 Abs. 3 Satz 4 PassG entnehmen, wonach die Vorschriften des allgemeinen Datenschutzrechts über die Erhebung und Verwendung personenbezogener Daten unberührt bleiben. Hiermit sind weitere Vorgaben des allgemeinen Datenschutzrechts gemeint, wie beispielsweise datenschutzrechtliche Löschungspflichten, die dementsprechend ebenfalls einzuhalten sind,
176Vgl. BT-Drs. 18/11279, Seite 28, 33; Beimowski/Gawron, PassG/PersonalausweisG, 2018, § 18 PassG Rn. 12,
177soweit keine speziellere Datenschutzvorschrift vorgeht (vgl. auch die Regelung des § 1 Abs. 2 Satz 1 BDSG).
178Lediglich ergänzend wird angemerkt, dass die Weitergabe der Kopie nach den Regelungen der angegriffenen Verfügung unabhängig davon zu erfolgen hat, ob zwischen Diensteanbieter und Drittem insoweit ein Auftragsverarbeitungsverhältnis im Sinne von Art. 4 Nr. 8 DSGVO vorliegt. Die Übersendung der Kopie soll vielmehr der eigenständigen Kontrolle der erhobenen Daten durch den Diensteanbieter und nicht der Erfüllung des Auftragsverarbeitungsverhältnisses zwischen dem Dritten und dem Diensteanbieter dienen.
179Nach alledem erweist sich die Verpflichtung zur Übersendung einer opto-elektronischen Kopie daher als rechtswidrig, weil sie gegen die Vorschrift des § 20 Abs. 2 PAuswG bzw. des § 18 PassG verstößt. Diese Regelung ist jedoch nicht nach § 44 Abs. 2 Nr. 5 VwVfG (teil-)nichtig, auch wenn ein Verstoß gegen § 20 Abs. 2 PAuswG bzw. § 18 Abs. 3 PassG bußgeldbewehrt ist, vgl. § 32 Abs. 1 Nr. 6 PAuswG bzw. § 25 Abs. 2 Nr. 5 TKG. Denn die Verfügung Nr. 61/2016 „verlangt“ nicht die Begehung einer rechtswidrigen Tat, die einen Straf- oder Bußgeldtatbestand verwirklicht, indem sie wirksam ein solches Tun gebietet.
180Vgl. zum Begriff des Verlangens im Sinne eines „Gebots“: OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 20. Januar 2016 – OVG 10 S 29.15 –, juris Rn. 10; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Hrsg.), VwVfG, 9. Aufl. (2018), § 44 Rn. 150, jeweils m. w. N.
181Denn die Klägerin ist nicht verpflichtet, neben der in § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG eröffneten Möglichkeit durch Vorlage eines Identitätsdokuments, die bei Verkauf einer Prepaid-Karte vorgesehene Überprüfung der Identität vorzunehmen, auch die in der angegriffenen Verfügung geregelten weiteren Verfahren zu nutzen, bei deren Nutzung ihr die Übersendung einer Kopie des Identitätsdokuments aufgegeben werden.
182b) Zudem erweist sich die Verpflichtung zur Übersendung einer opto-elektronischen Kopie, eines Scans, o. Ä. auch deshalb als ermessensfehlerhaft, weil sie von sachfremden Erwägungen getragen worden ist. Die Beklagte hat ein falsches Gesetzesverständnis des § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG zugrunde gelegt, weil sie davon ausging, dass bei einer Überprüfung der erhobenen Daten durch einen Dritten anhand eines Identitätsdokuments, eine erneute Verifikation der Daten durch den Diensteanbieter selbst zu erfolgen hat und auf der Grundlage dieses Verständnisses die Pflicht zur Übersendung einer opto-elektronischen Kopie, eines Scans, o. Ä., in die streitgegenständliche Verfügung aufgenommen.
183Vgl. BNetzA, Verfügung gemäß § 111 Abs. 1 Satz 4 Telekommunikationsgesetz – Auswertung der Stellungnahmen –, Seite 2, 7, 11, 28, 38 („Prüfpflicht“), abrufbar im Internet über die Homepage der Bundesnetzagentur:
184https://www.bundesnetzagentur.de/DE/Sachgebiete/Telekommunikation/Unternehmen_Institutionen/Anbieterpflichten/OeffentlicheSicherheit/Verfuegung111/Verfuegunggemaess111-node.html
185Dieses Verständnis ist jedoch aus den unter 1. dargelegten Gründen fehlerhaft, so dass die hiervon geleiteten Ermessenserwägungen, die Einführung der Übermittlung einer opto-elektronischen Kopie, eines Scans, o. Ä., nicht tragen können.
186c) Da sich Nr. 3 Abs. 5 der angefochtenen Verfügung aus den dargelegten Gründen als rechtswidrig erweist, war auch Nr. 3 Abs. 6 der Verfügung aufzuheben. Danach sind bei der Erhebung und Übermittlung der Daten an den Diensteanbieter zur Prüfung und Speicherung in der Kundendatei die datenschutzrechtlichen Vorgaben und Beschränkungen nach dem PAuswG zu beachten. Geeignete Maßnahmen zur Sicherstellung der Vertraulichkeit und Integrität der Daten sind hierbei einzusetzen. Durch diese (entsprechend geänderte) Vorgabe sollte den geäußerten Bedenken hinsichtlich der sich aus dem Personalausweisgesetz ergebenden Beschränkungen der zu erhebenden und damit der zulässigerweise zu kopierenden Angaben im deutschen Personalausweis Rechnung getragen werden.
187Vgl. BNetzA, Verfügung gemäß § 111 Abs. 1 Satz 4 Telekommunikationsgesetz – Auswertung der Stellungnahmen –, Seite 14, a. a. O.
188Nach Aufhebung von Nr. 3 Abs. 5 der Verfügung wird diese Vorgabe daher auch hinfällig.
1893. Eine Rechtsverletzung der Klägerin im Sinne von § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO liegt vor, soweit die angegriffenen Regelungen im tenorierten und oben dargestellten Umfang rechtswidrig sind. § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG begründet – wie bereits in der Zulässigkeitsprüfung festgestellt – ein subjektives Recht der Diensteanbieter auf Erlass einer ermessensfehlerfreien Verfügung anderer zur Überprüfung gleich geeigneter Verfahren. Dieses Recht wird durch die angefochtenen Regelungen der angegriffenen Verfügung, soweit sie nach Vorstehendem rechtswidrig sind, verletzt.
1904. Die rechtswidrigen Bestimmungen der angegriffenen Verfügung sind in Bezug auf die verbleibende Regelung der angegriffenen Verfügung auch materiell teilbar.
191Eine materielle Teilbarkeit ist gegeben, wenn die rechtlich unbedenklichen Teile nicht in einem untrennbaren inneren Zusammenhang mit dem rechtswidrigen Teil stehen, sondern als selbständige Regelung weiter existieren können, ohne ihren Bedeutungsinhalt zu verändern. Daraus folgt unmittelbar, dass allein der Umstand, dass eine selbständig wirkende Anordnung bestehen bleiben würde, noch nicht die Annahme der Teilbarkeit eines Verwaltungsaktes rechtfertigt. In den Blick zu nehmen ist darüber hinaus der Bedeutungsinhalt, der der Gesamtregelung zukommen soll. Steht – wie hier – der Erlass des Verwaltungsaktes im Ermessen der Behörde, ist auch von Bedeutung, ob die Behörde den Verwaltungsakt auch ohne die angegriffene Teilregelung erlassen hätte; durch eine bloße Teilaufhebung darf ihr nicht eine Restregelung aufgezwungen werden, die sie so nicht erlassen hätte.
192Vgl. BVerwG, Beschluss vom 1. Juli 2020 – 3 B 1.20 –, juris Rn. 14, m. w. N.
193Die angegriffene Verfügung kann auch ohne die rechtswidrigen Regelungen in Nr. 1 und Nr. 3 Abs. 5 und 6 bestehen. Nach Aufhebung von Nr. 1 der Verfügung Nr. 61/2016 bleiben die in den weiteren Nummern der Verfügung geregelten Verfahren zur Überprüfung selbständig bestehen. Auch mit Aufhebung der Regelungen in Nr. 3 Abs. 5 und 6 der angegriffenen Verfügung bleiben selbstständige Regelungen zum Video-Ident-Verfahren übrig. Lediglich die – vom Gesetzgeber nicht vorgesehene – „Doppelverifikation“ der erhobenen Daten (nicht der Identität) anhand der übersandten Kopie fällt weg.
194Das Gericht geht auch davon aus, dass die Bundesnetzagentur die Verfügung Nr. 61/2016 bei zutreffendem Gesetzesverständnis auch ohne die Regelung in Nr. 1 und die Regelungen in Nr. 3 Abs. 5 und 6 erlassen hätte. Denn ihr Ermessen zum Erlass der Verfügung war nach § 150 Abs. 15 Satz 1 TKG dahingehend eingeschränkt, dass sie zur Festlegung der „anderen geeigneten Verfahren“ spätestens am 1. Januar 2017 verpflichtet war.
195Vgl. auch VG Köln, Beschluss vom 23. Mai 2018 – 21 L 4882/17 –, juris Rn. 36.
196Dabei war das Video-Identifikationsverfahren ausdrücklich als „anderes Verfahren“ im Sinne von § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG vom Gesetzgeber in seiner Gesetzesbegründung erwähnt worden.
197Vgl. BT Drs. 18/8702, Seite 23, dort „web-ident“.
198Des gesetzlichen Auftrags zur Festlegung gleich geeigneter Verfahren sowie der gesetzlichen Wertung, dass Post-Ident- und Web-Ident-Verfahren gleichermaßen geeignete Verfahren wie die Vorlage von Dokumenten unter Anwesenden sind, war sich die Bundesnetzagentur auch bei der Festlegung in der Verfügung Nr. 61/2016 erkennbar bewusst.
199Vgl. BNetzA, Verfügung gemäß § 111 Abs. 1 Satz 4 Telekommunikationsgesetz – Auswertung der Stellungnahmen –, Seite 1 f., a. a. O.
200Zwar hat sie im gerichtlichen Verfahren vorgetragen, sie hätte die Verfügung nur in dieser Form und nicht anders erlassen. Falls sie eine Rechtswidrigkeit der Verfahren Nr. 1 bis 4 erkannt hätte, hätte sie nur das Verfahren Nr. 5 als gleich geeignetes Verfahren erlassen. Dieser – wohl verfahrensgeleitete – Vortrag steht jedoch den oben dargelegten, im Verwaltungsverfahren zum Ausdruck gekommenen und für einen objektiven Betrachter deutlich gewordenen Absichten der Behörde, auf die es insoweit maßgeblich ankommt, entgegen.
2015. Die von der Klägerin weiter beanstandeten, die reine Datenerhebung betreffenden Regelungen in den Verfahren Nr. 2 bis 4 erweisen sich als rechtmäßig.
202Diese fallen zunächst in den Anwendungsbereich der Ermächtigungsgrundlage des § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG, weil es sich unstreitig um „andere Verfahren“ im Sinne von § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG handelt. Hierbei werden Verfahren erfasst, bei denen die Datenverifikation nicht durch die Vorlage der in § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG genannten Identitätsdokumente erfolgen kann.
203Die Beklagte hat das ihr im oben dargelegten Sinne zustehende Ermessen nicht deshalb fehlerhaft ausgeübt, weil sie in den angegriffenen Regelungen in Nr. 2 Abs. 1 Satz 1, Nr. 3 Abs. 1 Satz 1, Nr. 4 Abs. 1 Satz 1, Nr. 2 Abs. 2, Nr. 3 Abs. 3, Nr. 2 Abs. 3, Nr. 3 Abs. 4, Nr. 2 Abs. 5 Satz 1, Nr. 4 Abs. 6, Nr. 2 Abs. 6, Nr. 3 Abs. 7, Nr. 3 Abs. 1 Satz 5 und Abs. 8 Satz 1, Nr. 3 Abs. 9, Nr. 4 Abs. 2 ebenfalls Bestimmungen hinsichtlich der Datenerhebung getroffenen hat. Bei den angegriffenen Regelungen handelt es sich im Einzelnen um:
204- Die Pflicht zur Vergewisserung (Nr. 2 Abs. 1, Nr. 3 Abs. 1 Satz 1, Nr. 4 Abs. 1) dass der ausgewählte Dritte die Gewähr dafür bietet, dass die Anweisungen hinsichtlich der Datenerhebung, Identitätsprüfung, Prüfung der Echtheit des Identitätsdokuments, der Fertigung der Kopien u.ä. sowie deren Übermittlung an ihn eingehalten werden und die Pflicht zur Dokumentation;
205- Schulungserfordernis bezogen auf Identitätsprüfung (Nr. 3 Abs. 1 Sätze 3 ff.)
206- Konkretisierung der Anforderungen bei der Überprüfung des Identitätsdokuments (Nr. 2 Abs. 2 und 3 , Nr. 3 Abs. 2, 3 und 4) und ausdrückliches Einräumen der Möglichkeit, im Rahmen des Video-Ident-Verfahrens hierfür die erworbene Mobilfunkleistung zu nutzen (Nr. 3 Abs. 8);
207- Sicherstellung der Anforderungen der gesetzlichen Vorschriften, Schutz der Daten (Nr. 2 Abs. 5 und Nr. 4 Abs. 2, 3, 6);
208- Nutzung sicherer Datenerhebungsprogramme (Nr. 2 Abs. 9)
209- Dokumentation der erhebenden Person (Nr. 2 Abs. 6, Nr. 3 Abs. 7 ).
210Die Beklagte hat mit der Festlegung dieser Verfahrensbestimmungen entsprechend den Zwecken der Ermächtigung in § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG gehandelt. Die Ermächtigung der Bundesnetzagentur in § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG soll zum einen dazu dienen, weitere zur Erreichung des Zieles einer Identifikation des Anschlussinhabers gleichermaßen geeignete Verfahren zur Überprüfung der Angaben nach § 111 Absatz 1 Satz 1 TKG zuzulassen.
211Vgl. BT Drs. 18/8702, Seite 23.
212Zum anderen soll das übergeordnete, sich aus § 111 Abs. 1 Satz 1 TKG ergebende Ziel, für die Zwecke nach §§ 112 und 113 TKG zutreffende Daten zu erheben und zu speichern,
213vgl. VG Köln, Beschluss vom 23. Mai 2018 – 21 L 4882/17 –, juris Rn. 40,
214auch im Prepaid-Bereich sichergestellt werden.
215Diesen Zwecken entspricht es zunächst, wenn die Beklagte in ihrer Verfügung den Erhebungs- und Überprüfungsvorgang als einen im Sinne der Lebenswirklichkeit einheitlichen Vorgang versteht und die Festlegung der Verfahren hieran ausrichtet, auch wenn die (reine) Erhebung und Überprüfung nach dem Gesetzeswortlaut zwei gesonderte Verpflichtungen des Diensteanbieters darstellen und § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG nur zur Festlegung gleich geeigneter Verfahren zur Überprüfung ermächtigt. Wie bereits dargelegt handelt es sich bei der in § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG geregelten Überprüfungspflicht um eine Verpflichtung, die in engem Zusammenhang zu dem in § 111 Abs. 1 Satz 1 TKG geregelten Erhebungsvorgang steht und eine Erweiterung der nach § 111 Absatz 1 Satz 1 TKG bereits bestehenden Pflicht zur Erhebung und Speicherung der Daten darstellt. Dementsprechend ist es nicht zu beanstanden, dass die Beklagte die Begriffe der „Datenerhebung“ und der „erhebenden Person“ verwendet und die Tätigkeit der Datenerhebung als den der Datenüberprüfung vorausgehenden Teil mitregelt. Denn der Überprüfung von Daten geht immer denknotwendig eine Erhebung derjenigen Daten voraus, die zu überprüfen sind. Spezifische Verpflichtungen, die den reinen Erhebungsvorgang betreffen, sind nicht vorgesehen worden. Die vorgesehenen Schulungserfordernisse für die erhebenden Mitarbeiter betreffen Kenntnisse hinsichtlich der Vornahme von Identitätsprüfungen und damit gerade den Überprüfungs- und nicht den Erhebungsvorgang.
216Die Verfügung der Antragsgegnerin hält auch die gesetzlichen Grenzen des Ermessens insofern ein, als der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt wird. Zwar greift die Regelung des § 111 Abs. 1 Satz 3 TKG in die Freiheit wirtschaftlicher Betätigung gemäß Art. 2 Abs. 1 und Art. 12 Abs. 1 GG, die auch die unternehmerische Freiheit schützt,
217vgl. BVerwG, Urteil vom 13. April 2016 – 8 C 2/15 –, juris Rn. 26,
218ein, was die Beklagte auch bei der Ausgestaltung der nach § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG festzulegenden „anderen“ Verfahren im Rahmen der Ausübung ihres Ermessens zu berücksichtigen hat. Eine weniger einschneidende Maßnahme, die die Erreichung des Gesetzeszwecks gleichermaßen sichergestellt hätte, ist jedoch nicht ersichtlich. Insoweit kommt es nicht darauf an, dass die Klägerin meint, durch ihr Vertriebssystem hinreichend sicherstellen zu können, dass keine fehlerhaften Daten erhoben werden. Denn es oblag der Beklagten nach § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG, eine für sämtliche Diensteanbieter gleichermaßen geeignete und ein hohes Sicherheitsniveau sicherstellende Allgemeinverfügung zu treffen. Mit den getroffenen – nach Aufhebung der Nummern 1 und 3 Abs. 5 und 6 verbliebenen – Festlegungen geht die Beklagte nicht über das hinaus, was zur Erhebung zutreffender Daten für das dargestellte Ziel, ein hohes Niveau der Überprüfung der erhobenen Daten zu erreichen, erforderlich ist. Die (verbliebenen) Regelungen stellen sicher, dass ein hohes Niveau der Verifikation der Daten auch bei den in der angegriffenen Verfügung festgelegten Verfahren erreicht wird und der Diensteanbieter seinen Pflichten als nach § 111 Abs. 4 TKG Verantwortlicher nachkommt. Dies betrifft insbesondere die Pflicht zur Vergewisserung, das Schulungserfordernis und die Konkretisierung der Anforderungen bei der Überprüfung. Soweit durch die Festlegungen klargestellt wird, dass die gesetzlichen Bestimmungen einzuhalten sind, haben diese Absätze keinen regelnden Charakter, weil diese von Gesetzes wegen einzuhalten sind. Die getroffenen Regelungen beim Verfahren der Vorabverifikation stellen die gesetzlichen Vorschriften zum Datenschutz sicher. Letztlich bestehen auch keine Bedenken gegen die Verhältnismäßigkeit der in Nr. 2 Abs. 6, Nr. 3 Abs. 7 der Verfügung vorgesehene Verpflichtung der Klägerin dafür zu sorgen, dass die Person, die die Erhebung der Daten, die Echtheitsprüfung des Ausweises und den Identitätsabgleich durchführt, in geeigneter Weise dokumentiert wird. Diese Verpflichtung verstößt auch nicht gegen die Regelung des § 26 BDSG. Danach dürfen personenbezogene Daten von Beschäftigten für Zwecke des Beschäftigungsverhältnisses verarbeitet werden, wenn dies für die Entscheidung über die Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses oder nach Begründung des Beschäftigungsverhältnisses für dessen Durchführung oder Beendigung oder zur Ausübung oder Erfüllung der sich aus einem Gesetz oder einem Tarifvertrag, einer Betriebs- oder Dienstvereinbarung (Kollektivvereinbarung) ergebenden Rechte und Pflichten der Interessenvertretung der Beschäftigten erforderlich ist. Die Verpflichtung, zu dokumentieren, wer die Überprüfung wahrgenommen hat, dient der Durchführung des Beschäftigungsverhältnisses. Die Dokumentation von Arbeitsprozessen und der ausführenden Person ist ein im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses allgemein üblicher Vorgang. Außerdem ist diese Regelung auch aus sachgerechten Erwägungen eingeführt worden. Denn sie dient der Sicherstellung und Nachvollziehbarkeit auch zugunsten der Diensteanbieter, dass die Überprüfungspflicht aus § 111 Abs. 1 Satz 3 eingehalten wird. Die aufgeworfene Frage, ob die Übermittlung der Kennung der Person an den Diensteanbieter einen Verstoß gegen § 26 BDSG darstellt, stellt sich nicht, weil bei den Verfahren Nr. 2 bis 4 eine Übermittlung der Kennung an den Diensteanbieter nicht vorgesehen ist und das Verfahren nach Nr. 1 der Verfügung Nr. 61/2016 aus den oben dargelegten Gründen aufzuheben ist.
219Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
220Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 und 2 VwGO i. V. m. § 709 Satz 2 ZPO.
221Die Berufung war nicht zulassen, weil die Voraussetzungen für eine Zulassung der Berufung durch das Verwaltungsgericht gemäß § 124a Abs. 1 in Verbindung mit § 124 Abs. 2 Nr. 3 und 4 VwGO nicht vorlagen. Die Sache hat insbesondere keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, weil es an einer in ihrer Bedeutung über den zugrundeliegenden Einzelfall hinausgehenden klärungsbedürftigen und entscheidungserheblichen Rechtsfrage bzw. einer allgemeinen, über den Einzelfall hinausgehenden Bedeutung fehlt.
222Vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 7. Oktober 2020 – 2 BvR 2426/17 –, juris Rn. 37; BVerwG, Beschluss vom 9. Oktober 2020 – 7 B 5.20 –, Rn. 4 - 5, OVG NRW, Beschluss vom 2. März 2017 – 4 A 1808/16 –, juris Rn. 20
223Denn die in diesem Verfahren aufgeworfenen Rechtsfragen stellen sich allein im Zusammenhang mit dem Erlass einer Allgemeinverfügung auf der Grundlage von § 111 Abs. 1 Satz 4 TKG.
224Rechtsmittelbelehrung
225Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu, wenn sie von diesem zugelassen wird. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn
2262271. ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,
2282. die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,
2293. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
2304. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
2315. ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
232Die Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, schriftlich zu beantragen. Der Antrag auf Zulassung der Berufung muss das angefochtene Urteil bezeichnen.
233Statt in Schriftform kann die Einlegung des Antrags auf Zulassung der Berufung auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) erfolgen.
234Die Gründe, aus denen die Berufung zugelassen werden soll, sind innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils darzulegen. Die Begründung ist schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, einzureichen, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist.
235Vor dem Oberverwaltungsgericht und bei Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird, muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.
236Die Antragsschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.
237Ferner ergeht – ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter – der folgende
238Beschluss
239Der Wert des Streitgegenstandes wird auf
240500.000,00 €
241festgesetzt.
242Gründe
243Mit Rücksicht auf die Bedeutung der Sache für die Klägerin ist es angemessen, den Streitwert auf den festgesetzten Betrag zu bestimmen (§ 52 Abs. 1 GKG).
244Rechtsmittelbelehrung
245Gegen diesen Beschluss kann schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle, Beschwerde bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln eingelegt werden.
246Statt in Schriftform kann die Einlegung der Beschwerde auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) erfolgen.
247Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, einzulegen. Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
248Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.
249Die Beschwerdeschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.
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Tenor
1.Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
2.Der Streitwert wird auf 2.500,- Euro festgesetzt.
1G r ü n d e:
2Der ausdrücklich gestellte Antrag,
3der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu untersagen, gegen den Antragsteller oder gegen von ihm beauftragte Dienstleister Verwaltungsverfahren oder Bußgeldverfahren einzuleiten sowie tatsächliche Maßnahmen zu ergreifen, wenn oder weil der Antragsteller einen Saal im Stadtgebiet N anmietet, um dort am 21.11.2020 Angehörige nach der Bestattung seiner Ehefrau J verpflegen zu lassen,
4ist jedenfalls unbegründet.
5Bei der im vorliegenden Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nur möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage geht das Gericht davon aus, dass der von dem Antragsteller geplante „Beerdigungskaffee“ nach der nordrhein-westfälischen Verordnung zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 (Coronaschutzverordnung - CoronaSchVO) vom 30. Oktober 2020 in der ab dem 10. November 2020 geltend Fassung, die mit Ablauf des 30. November 2020 außer Kraft tritt (vgl. § 19 Abs. 2 S. 2 CoronaSchVO), keine ausnahmsweise zulässige Veranstaltung ist. Daher würde die Durchführung des geplanten „Beerdigungskaffees“ am 21. November 2020 den Ordnungswidrigkeitentatbestand des § 18 Abs. 2 Nr. 24 CoronaSchVO erfüllen und könnte von der Antragsgegnerin als zuständiger Behörde i.S.v. § 17 Abs. 1 Satz 1 CoronaSchVO entsprechend geahndet werden.
6Nach § 13 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 CoronaSchVO sind „Beerdigungen“ unter Beachtung der Regelungen der §§ 2 bis 4a CoronaSchVO derzeit zwar ausnahmsweise zulässig. Der Begriff der „Beerdigung“ i.S.v. § 13 CoronaSchVO erfasst aber wohl keine Zusammenkünfte nach Beerdigungen, also etwa den im Rheinland im Anschluss an den auf einem Friedhof stattfindenden Akt der Beisetzung des/der Verstorbenen außerhalb des Friedhofsgeländes, häufig in einem Restaurant oder einer ähnlichen Einrichtung folgenden „Beerdigungskaffee“. Zwar umfasst im Hinblick auf diese Tradition der Begriff der Beerdigung nach dem Verständnis der Allgemeinheit wohl auch eine solche Zusammenkunft der Trauernden im unmittelbaren Anschluss an den förmlichen Akt der Beisetzung auf dem Friedhof. Allerdings ist der Verordnungsgeber erkennbar von einem engeren Begriff der Beerdigung ausgegangen. Die vor der aktuellen CoronaSchVO geltende CoronaSchVO vom 30. September 2020, in der ab dem 17. Oktober 2020 geltenden Fassung (CoronaSchVO a.F.) hatte nämlich unter § 13 Abs. 6 Satz 1 eine Privilegierung von Beerdigungen hinsichtlich des Abstandsgebots geregelt. Dabei sah sich der Verordnungsgeber veranlasst, in § 13 Abs. 6 Satz 2 CoronaSchVO a.F. klarzustellen, dass dies entsprechend für „Zusammenkünfte nach Beerdigungen“ gilt. Da mit solchen Zusammenkünften aber nur der - in § 14 Abs. 1 Satz 3 CoronaSchVO sogar ausdrücklich benannte - „Beerdigungskaffee“ gemeint sein kann, legt der Verordnungsgeber offensichtlich einen Begriff der Beerdigung zugrunde, der nur den eigentlichen Akt der Beisetzung auf dem Friedhof erfasst. Die fehlende Erwähnung von „Zusammenkünften nach Beerdigungen“ in der aktuellen CoronaSchVO lässt daher nur den Schluss zu, dass solche Veranstaltungen derzeit gerade nicht mehr zulässig sein sollen.
7Diese Auslegung entspricht im Übrigen auch dem Sinn und Zweck der aktuellen CoronaSchVO. Ziel der mit dieser Verordnung in Kraft tretenden zusätzlichen Einschränkungen ist es nämlich, die derzeitige Infektionsdynamik schnellstmöglich zu unterbrechen und so weit zu reduzieren, dass es in der Weihnachtszeit keiner weitreichenden Beschränkungen der persönlichen Kontakte und wirtschaftlichen Tätigkeiten bedarf (so ausdrücklich in § 19 Abs. 2 Satz 1 CoronaSchVO). Diese Zielsetzung spricht ebenfalls für eine restriktive Auslegung, da ein Zusammentreffen von Personen aus verschiedenen Haushalten - wie hier bei dem geplanten „Beerdigungskaffee“ mit 30 Teilnehmern - in diesem Monat gerade nicht mehr stattfinden soll.
8Etwas anderes ergibt sich nicht aus § 14 Abs. 3 CoronaSchVO, da danach Räume und Verpflegung nur für solche Veranstaltungen zur Verfügung gestellt werden dürfen, die nach § 13 Abs. 2 CoronaSchVO zulässig sind, was - wie ausgeführt - für den „Beerdigungskaffee“ gerade nicht gilt. Insoweit kann auch nicht eingewendet werden, dass die Regelung des § 14 Abs. 3 CoronaSchVO leerlaufen würde. Insbesondere Veranstaltungen i.S.v. § 13 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 CoronaSchVO finden nämlich regelmäßig auch in Gaststätten, Restaurants etc. statt und dies soll grds. weiterhin möglich sein.
9Eine weitergehende Interessenabwägung führt nicht zu einem anderen Ergebnis. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Antragsteller die Beisetzung der Urne seiner verstorbenen Ehefrau und damit auch den anschließenden „Beerdigungskaffee“ zulässigerweise (zumindest) in den Dezember verschieben könnte. Nach § 13 Abs. 3 Satz 2 und 3 BestG NRW ist die Totenasche nämlich innerhalb von sechs Wochen beizusetzen und kann diese Frist auf Antrag verlängert werden. Derzeit ist zwar offen, ob im Dezember 2020 nach der dann geltenden CoronaSchVO ein „Beerdigungskaffee“ stattfinden könnte. Allerdings würde sich der Antragsteller durch eine Verschiebung der Beisetzung in den Dezember die Möglichkeit einer anschließenden Zusammenkunft zumindest offen halten.
10Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
11Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. 52 Abs. 2 GKG.
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Tenor
1. Auf die Rechtsbeschwerde des Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Amtsgerichts Landstuhl vom 20. August 2020 im Rechtsfolgeausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an dieselbe Abteilung des Amtsgerichts zurückverwiesen.
Gründe
1
Das Amtsgericht hat den Betroffenen auf dessen rechtzeitig erhobenen Einspruch gegen den Bußgeldbescheid des Polizeipräsidiums Rheinpfalz vom 19. Juni 2019 (Az.: 19.1000547.9) mit Urteil vom 20. August 2020 wegen vorsätzlichen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 98 km/h am 10. Februar 2019 zu einer Geldbuße von 1.200,-- EUR verurteilt und ein Fahrverbot von 3 Monaten angeordnet. Es hat sodann festgestellt, dass die Dauer der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis im Verfahren vor dem Amtsgericht Kaiserslautern (Az.: 6070 Js 12532/19) für die Dauer vom 25. Juli 2019 bis zum 9. Juni 2020 auf das im hiesigen Verfahren angeordnete Fahrverbot von 3 Monaten gemäß § 25 Absatz 6 Satz 1 StVG anzurechnen ist, sodass das angeordnete Fahrverbot als vollstreckt gilt. Die Staatsanwaltschaft wendet sich mit ihrer wirksam eingelegten und rechtzeitig begründeten Rechtsbeschwerde gegen die in Ziffer 2 des Tenors getroffene Feststellung über die Anrechnung der Dauer der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis auf das angeordnete Fahrverbot.
2
Das nach § 79 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 OWiG statthafte, lediglich den Rechtsfolgeausspruch des angefochtenen Urteils betreffende Rechtsmittel, ist begründet und führt zum Erfolg. Die Ausführungen des Amtsgerichts rechtfertigen vorliegend die Anrechnung der Dauer der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis im Verfahren des Amtsgericht Kaiserslautern, Az. 6070 Js 12532/19, auf das in diesem Urteil angeordnete Fahrverbot von 3 Monaten nicht. Dies entzieht dem Rechtsfolgenausspruch insgesamt die Grundlage, mit der Folge, dass die von der Staatsanwaltschaft vorgenommene Rechtsmittelbeschränkung auf einen Teil des Rechtsfolgeausspruchs unwirksam ist.
I.
3
Das Amtsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung folgendes ausgeführt:
4
„Das Fahrverbot gilt jedoch als vollstreckt, § 25 Abs. 6 S. 1 StVG.“
5
Zusätzlich finden sich unter III. bezüglich des Vortrags des Verteidigers noch folgende Ausführungen:
6
„Der Verteidiger des Betroffenen hat wie folgt vorgetragen: das anzuordnende Fahrverbot muss als vollstreckt gelten, weil der Betroffene in anderer Sache (Dokument wurde als Anlage zum Protokoll vorgelegt) eine vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis über fast 11 Monate hinnehmen musste.“
II.
7
1) Die Voraussetzungen des § 25 Absatz 6 Satz 1 StVG liegen nicht vor.
8
Aus dem Tenor und dem dargestellten Vortrag des Verteidigers ist zu entnehmen, dass die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis in einem anderen Verfahren angeordnet wurde. Regelmäßig kann die Anrechnung der Dauer einer vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis auf ein später angeordnetes Fahrverbot gemäß § 25 Absatz 6 Satz 1 StVG jedoch nur dann erfolgen, wenn beide Anordnungen im gleichen Verfahren – wenn auch nicht zwingend wegen derselben Tat - erfolgt sind (vgl. Haus/Krumm/Quarch, 2. Auflage, 2017, § 25 StVG Rn 62). Dies ergibt sich bereits daraus, dass der Tatbestand des § 25 StVG in seiner Grundkonzeption dem Fahrverbot gemäß § 44 StGB nachgebildet ist (vgl. Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, 26. Aufl. 2020, § 25 StVG Rn 1). Der Gesetzgeber hat schon bei der Einführung der Anrechnungsmöglichkeit einer vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis auf ein Fahrverbot im § 25 StVG ausdrücklich eine Anpassung an die diesbezüglichen Vorschriften des Strafgesetzbuches beabsichtigt (vgl. BT Drucksache V/4094, Seite 60, zu Artikel 83, zu Nummer 1). Nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut besteht eine Anrechnungsmöglichkeit auf ein Fahrverbot im Sinne des § 44 StGB gemäß § 51 Absatz 5 iVm Absatz 1 StGB jedoch nur in den Fällen, in denen der Verhängung des Fahrverbots im gleichen Verfahren eine vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis voranging (vgl. MüKo StGB, 2020, § 51 StGB Rn 65f.). Es ist auch nicht ersichtlich, warum sich die Regelung zur Anrechenbarkeit bei einem Fahrverbot gemäß § 25 StVG von derjenigen bezüglich eines Fahrverbots gemäß § 44 StGB unterscheiden sollte. Sinn und Zweck sind identisch. Die Möglichkeit der Anrechnung trägt dem Gedanken Rechnung, dass eine im selben Verfahren erlittene Entziehung der Fahrerlaubnis durch seine Verbotswirkung den Zweck eines später angeordneten Fahrverbots im Sinne einer Denkzettel- und Besinnungsmaßnahme (vgl. BT-Drucksache V/1319, 90) bereits erfüllt hat und dieses daher entbehrlich macht. Eine über den gesetzlichen Wortlaut des § 51 Absatz 1 StGB hinausgehende Anwendung der Vorschrift auf verfahrensfremde Fahrverbote, nur weil sie gemäß § 25 StVG und nicht gemäß § 44 StGB angeordnet wurden, wäre vor diesem Hintergrund nicht nachvollziehbar. Die Beschränkung der Anrechenbarkeit von Nebenfolgen auf Anordnungen im selben Verfahren entspricht der Regel. Auch der Bundesgerichtshof hat seine Rechtsprechung zum einheitlichen Fahrverbot in Bußgeldverfahren auf die Fälle beschränkt, in denen mehrere, tatmehrheitlich entstandene Fahrverbote im selben Verfahren verhängt werden müssten (vgl. BGH, Beschluss vom 16. Dezember 2015, Az. 4 StR 227/15 in BGHSt 61, 100). Eine Verrechnung mit Fahrverboten aus anderen Verfahren ist auch hier nicht möglich.
9
Eine verfahrensübergreifende Anrechnung einer zuvor zu Unrecht erlittenen Nebenfolge auf eine nunmehr angeordnete Nebenfolge als Kompensation wäre überdies gesetzesfremd. Eine Entschädigung für zu Unrecht angeordnete Sanktionen erfolgt ausschließlich im Rahmen der Regelungen des Strafrechtsentschädigungsgesetzes. Auch bei anderen Entziehungsmaßnahmen kennt das Gesetz eine solche verfahrensübergreifende Kompensation nicht. Dies gilt umso mehr, weil § 25 Absatz 6 StVG keine Unterscheidung zwischen rechtmäßig und unrechtmäßig erlittener Entziehung der Fahrerlaubnis trifft, eine solche Kompensation jedoch nur in solchen Fällen angebracht wäre, in denen die entziehende Maßnahme zu Unrecht erfolgte oder über die später verhängten Maßnahmen (Fahrverbot oder endgültige Entziehung der Fahrerlaubnis mit kürzer Sperrfrist) hinausging.
10
2) Vorliegend kam auch keine analoge Anwendung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Anrechenbarkeit verfahrensfremder Untersuchungshaft bei potentieller Gesamtstrafenfähigkeit auf die Regelung des § 25 Absatz 6 StVG in Betracht. Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach klargestellt, dass mit Blick auf die Bedeutung des Freiheitsrechts aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 GG verfahrensfremde Untersuchungshaft über den eigentlichen Anwendungsbereich des § 51 Absatz 1 StGB hinaus jedenfalls dann auf eine Freiheitsstrafe anzurechnen ist, wenn zumindest eine potentielle Gesamtstrafenfähigkeit der Strafe, auf die die Untersuchungshaft angerechnet werden soll, besteht (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 28. September 1998, Az. 2 BvR 2232/94 in NStZ 1999, 24; Kammerbeschluss vom 15. Dezember 1999, Az. 2 BvR 1447/99 in NStZ 2000, 277; Einstweilige Anordnung vom 25. April 2001, Az. 2 BvQ 15/01 in NStZ 2001, 501). Hiernach ist eine Anrechnung von Untersuchungshaft immer dann geboten, wenn zwischen der die Untersuchungshaft auslösende Tat und der Tat, die der Verurteilung zugrunde liegt, ein funktionaler Zusammenhang oder sachlicher Bezug besteht (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 15. Dezember 1999, aaO; Kammerbeschluss vom 15. Mai 1999, Az. 2 BvR 116/99 in NStZ 1999, 477; BGH, Beschluss vom 16.06.1997, Az. StB 30/96 in BGHSt 43, 112). Dies gilt auch bei einer Gesamtstrafenbildung bzw. einer potentiellen Gesamtstrafenfähigkeit in den Fällen, in denen eine Gesamtstrafenfähigkeit der getrennt geführten Verfahren grundsätzlich bestand, der Verurteilte in dem Verfahren, in dem er Untersuchungshaft erlitt, jedoch später freigesprochen wurde (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 15. Dezember 1999, aaO; Einstweilige Anordnung vom 25. April 2001, Az. 2 BvQ 15/01 in NStZ 2001, 501; OLG des Landes Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 11. Oktober 2012, Az. 2 Ws 198/12 nach juris; OLG Frankfurt, Beschluss vom 26. Juni 2013, Az. 3 Ws 478/13, nach juris; KG Berlin, Beschluss vom 21. Juni 2018, Az. 4 Ws 75 - 76/18, nach juris). Diese Grundsätze rechtfertigen jedoch nicht die Anrechenbarkeit einer vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis auf ein später angeordnetes Fahrverbot. Nach den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts berührt die Entscheidung über die Anrechnung erlittener Untersuchungshaft auf die zeitige Freiheitsstrafe die durch Artikel 2 Absatz 2 GG verfassungsrechtlich gewährleistete Freiheit der Person. Dieses Freiheitsrecht beeinflusst als objektive, für alle Bereiche des Rechts geltende Wertentscheidung auch die Auslegung und Anwendung des § 51 Absatz 1 StGB, so dass ein sich lediglich auf den Wortlaut der Vorschrift berufendes, formalistisches Verständnis dieser Norm der Bedeutung und Tragweite des Freiheitsgrundrechts nicht genügt. Es ist vielmehr erforderlich, die der Rechtsvorschrift zugrundeliegenden Wertung aus der gesetzgeberischen Vorgeschichte - Untersuchungshaft, soweit sie überhaupt in einem Zusammenhang mit einer verhängten Strafe steht, möglichst umfassend anzurechnen - bei ihrer Auslegung zugrunde zu legen (vgl. Begründung des BVerfG im Beschluss vom 15. Dezember1999, Az. 2 BvR 1447/99 a.o.O). Diese Ausgangslage ist mit der Anrechnung einer vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis auf ein Fahrverbot nicht zu vergleichen. Zum einen berührt das vorübergehende Verbot ein Kraftfahrzeug auf öffentlichen Straßen zu führen – sei es in Form eines Fahrverbots oder einer vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis – kein verfassungsrechtlich geschütztes Freiheitsrecht, das die Auslegung und Anwendung der gesetzlichen Normen über ihren Wortlaut hinaus rechtfertigen würde, sondern lediglich die allgemeine Handlungsfreiheit (Artikel 2 Absatz 1 GG). Zum anderen liegt der Vorschrift über die Anrechenbarkeit einer vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis auf ein Fahrverbot auch keine mit der Untersuchungshaft vergleichbares Gebot einer möglichst umfassenden Anrechnung zugrunde. Eine verfahrensübergreifende Anrechnung ist daher beim Fahrverbot nicht verfassungsrechtlich geboten.
11
3) Vorliegend war somit die Anrechnung der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis im Verfahren des Amtsgerichts Kaiserslautern auf das im gegenständlichen Verfahren angeordnete Fahrverbot von 3 Monaten gemäß § 25 Absatz 6 StVG rechtsfehlerhaft.
12
Jedoch könnte die nach der verfahrensgegenständlichen Tat eingetretene, fast elf Monate andauernde und zum Zeitpunkt des Urteils bereits beendete vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis Auswirkungen auf die Entscheidung über die Erforderlichkeit des Fahrverbots im Sinne des § 25 StVG haben. Im Hinblick auf die konkreten Umstände könnte es an der präventiven Notwendigkeit des Fahrverbots als Denkzettel- und Besinnungsmaßnahme fehlen. Das Urteil lässt nicht erkennen, dass das Amtsgericht sich an dieser Stelle mit den besonderen Umständen dieses Einzelfalls und der konkreten Frage, warum zusätzlich zur Dauer der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis das Fahrverbot als Erziehungsmaßnahme geboten ist, auseinandergesetzt hat.
13
Darüber hinaus muss dann, wenn das Amtsgericht die Notwendigkeit der Maßnahme im konkreten Fall weiterhin bejaht, deren Angemessenheit eingehender als im angefochtenen Urteil geschehen erörtert werden. Gerade vor dem Hintergrund, dass dem Betroffenen zeitnah über fast ein Jahr die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen war, ist ein Absehen vom Fahrverbot bei gleichzeitiger Erhöhung der Geldbuße gemäß § 4 Absatz 4 BKatV – trotz des erheblichen Verkehrsverstoßes – nicht per se auszuschließen.
III.
14
Die danach erforderliche Urteilsaufhebung war deshalb auf den gesamten Rechtsfolgenausspruch zu erstrecken. Dem steht auch nicht entgegen, dass sich die Rechtsbeschwerde in ihrer Begründung allein gegen Ziffer 2 des Tenors wendet und ersichtlich war, dass das Urteil nur insoweit als angefochten gelten sollte. Eine solche Beschränkung war vorliegend unwirksam. Die schriftlichen Urteilsgründe lassen eine ausreichende Auseinandersetzung mit den Auswirkungen der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis im Verfahren vor dem Amtsgericht Kaiserslautern auf die Anordnung und Bemessung des hiesigen Fahrverbots vermissen. Aufgrund der Wechselwirkung zwischen Bußgeld und Fahrverbot (vgl. OLG Bamberg, Beschluss vom 28.12.2011, Az. 3 Ss OWi 1616/11, juris Rn. 14) erfasst dieser Begründungsmangel den Rechtsfolgenausspruch mit dem ihm zugrundeliegenden Feststellungen insgesamt.
15
Für eine eigene Entscheidung durch den Senat gemäß § 79 Absatz 6 OWiG war vorliegend kein Raum, da dem Urteil keine ausreichenden Feststellungen zum Verfahren vor dem Amtsgericht Kaiserslautern, insbesondere zeitlicher Zusammenhang, Gegenstand des Bußgeldverfahrens und Sachverhalt, zeitlicher Verlauf und Ergebnis des Verfahrens, zu entnehmen waren. Da insoweit eigene Tatsachenfeststellungen des Senats erforderlich wären, kommt eine Entscheidung gemäß § 79 Abs. 6 OWiG nicht in Betracht. Der Senat hatte keinen Anlass, von der Möglichkeit Gebrauch zu machen, die Sache an eine andere Abteilung oder ein anderes Amtsgericht zu verweisen.
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Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragstellerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Die Antragstellerin begehrt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen eine Anordnung zur Duldung der Veräußerung der schon fortgenommenen Pferde N., P. und G.
1. Der Antragsgegner, vertreten durch das Landratsamt Ha., Veterinäramt, führte am 30. Juli 2020 eine Kontrolle der Pferdehaltung der Antragstellerin durch, nachdem bei ihm eine Beschwerde eingegangen war. In der Folgezeit kam es zu weiteren Beschwerden und Beanstandungen, die in einem 15-seitigen amtstierärztlichen Gutachten vom 31. August 2020 im Einzelnen aufgelistet sind. Am 24. August 2020 erfolgte eine weitere Kontrolle. Am 26. August 2020 wurden die drei Pferde fortgenommen und anderweitig untergebracht, nachdem sich die Zustände nicht gebessert hatten.
Mit Bescheid vom 7. September 2020 verpflichtete das Landratsamt Ha., Veterinäramt, die Antragstellerin, die Fortnahme und anderweitige pflegliche Unterbringung der drei Pferde N., P. und G. zu dulden.
Mit Bescheid vom 27. Oktober 2020 ordnete das Landratsamt Ha., Veterinäramt, gegenüber der Antragstellerin die Duldung der Veräußerung der am 26. August 2020 durch das Landratsamt Ha. fortgenommenen Pferde (Stute N., Stute P. und Fohlen G.) an (Nr. 1). Weiter bestimmte es, dass die entstandenen Kosten der anderweitigen Unterbringung der Pferde mit dem Erlös der Veräußerung aufgerechnet würden. Hierüber ergehe ein gesonderter Bescheid (Nr. 2). Die sofortige Vollziehung der Nr. 1 des Bescheides wurde angeordnet (Nr. 3). Die Antragstellerin wurde zur Kostentragung in Höhe von 66,48 EUR verpflichtet (Nr. 4). In den Gründen ist im Wesentlichen ausgeführt: Gemäß § 16a Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 TierSchG könne das Landratsamt die am 26. August 2020 fortgenommenen Tiere veräußern, sofern nach Fristsetzung eine den Anforderungen des § 2 TierSchG entsprechende Haltung nicht sichergestellt werden könne. Eine Rückgabe fortgenommener und anderweitig pfleglich untergebrachter Tiere habe erst zu erfolgen, wenn der Halter die Sicherstellung einer mangelfreien (d.h. in allen Punkten den Anforderungen des § 2 TierSchG entsprechenden) Tierhaltung nachgewiesen habe und nicht etwa schon dann, wenn bei einer Rückkehr der Tiere keine unmittelbare Gefahr einer erneuten Vernachlässigung mehr drohe. Nach Nr. 2.2 des Bescheides vom 7. März 2020 sei der Antragstellerin die Möglichkeit eingeräumt worden, bis zwei Wochen nach Bekanntgabe eine adäquate Unterbringung der Pferde in einem Pensionsstall nachzuweisen. § 2 Nr. 3 TierSchG verlange unter anderem vom Tierhalter die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten. Der Nachweis über Kenntnisse und Fähigkeiten nach § 2 TierSchG sei im Falle eines Pensionsstalles nach § 11 TierSchG durch eine entsprechende Sachkunde zu belegen. Der vorgelegte Vertrag in abgeänderter Form genüge nicht. Das Landratsamt habe im Rahmen des ihm eingeräumten Ermessens entschieden, der Antragstellerin die Pferde zu entziehen und die Tiere zu veräußern. Ein weniger einschneidendes Mittel, welches genauso zielführend sei, stehe nicht zur Verfügung. Dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sei Rechnung getragen. Die Maßnahme sei geeignet und erforderlich, um den Tieren die Verbesserung ihrer Situation hin zur artgerechten Haltung und Versorgung zu ermöglichen. Nach Art. 16a Abs. 1 Nr. 2 TierSchG könne die zuständige Behörde dem Halter fortgenommene Tiere so lange auf dessen Kosten anderweitig pfleglich unterbringen, bis eine den Anforderungen des § 2 TierSchG entsprechende Haltung der Tiere durch den Halter sichergestellt sei. Der Erlös sei nach Abzug aller Kosten an den Halter herauszugeben. Über die Rechnung erfolge ein gesonderter Bescheid. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung liege im öffentlichen Interesse. Im besonderen Interesse der Allgemeinheit könne durch die Einlegung eines Rechtsbehelfs nicht verantwortet werden, mit der Vollziehung dieser Anordnung bis zum Abschluss eines möglicherweise Jahre dauernden Verwaltungsprozesses hinzuwarten. Die Unterbringungs- und Pflegekosten der fortgenommenen Pferde würden den Erlös deutlich übersteigen. Die Individualinteressen der Antragstellerin an einem Zuwarten bis zur Unanfechtbar der getroffenen Entscheidung müssten hinter den besonderen Interessen der Allgemeinheit an einer Begrenzung der durch die anderweitige pflegliche Unterbringung der Pferde entstehenden Kosten und dem damit verbundenen öffentlichen Interesse an einer sofortigen Veräußerung der Tiere zurückstehen.
2. Am 29. Oktober 2020 ließ die Antragstellerin im Verfahren W 8 K 20.1642 Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid erheben und gleichzeitig im vorliegenden Verfahren b e a n t r a g e n:
1. Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin vom 29. Oktober 2020 gegen den Bescheid des Landratsamtes Ha. vom 27. Oktober 2020, Aktenzeichen: FA I 568/1-1/5-20, wird wiederhergestellt.
2. Die Vollziehung des Bescheides des Landratsamtes Ha. vom 27. Oktober 2020, Aktenzeichen: FA I 568/1-1/5-20, wird ausgesetzt, und, soweit er bereits vollzogen wurde, aufgehoben.
Zur Antragsbegründung ist im Wesentlichen ausgeführt: Die Vorwürfe seien unbegründet. Mit Schreiben vom 17. September 2020 sei dem Landratsamt der verlangte schriftliche Vertrag mit einem Pensionsstall übersandt worden. Mit E-Mail vom 29. September 2020 und mit Schreiben vom 7. Oktober 2020 sei ein nachgebesserter Vertrag übersandt worden. Durch den Vertrag sei sichergestellt, dass der Stallbetreiber die Pflege und Betreuung der Pferde vollständig übernehme. Die erforderlichen Genehmigungen für den Betrieb des Pensionsstalles lägen vor, was von den Betreibern auch versichert worden sei. Selbst wenn eine Erlaubnis nach § 11 Abs. 1 Nr. 8a TierSchG nicht vorliegen sollte, wären mit dem vorgelegten Vertrag die Anforderungen des Bescheides erfüllt, da weder dort noch in den einschlägigen Bestimmungen des Tierschutzgesetzes eine solche Erlaubnis als Voraussetzung genannt worden sei. Die Antragstellerin habe einen Pferdeeinstellungsvertrag mit einem Pferdehof in Schleswig-Holstein geschlossen, mit dem sichergestellt sei, dass die Pflege und Betreuung der Pferde vollständig gewährleistet sei. Es genüge, wenn der Betrieb von einer Pferdewirtschaftsmeisterin mit Sachkundenachweis und jahrelanger Berufserfahrung geleitet werde. Es stehe dem Antragsgegner jederzeit frei, die Einhaltung sämtlicher tierschutzrechtlicher Bestimmungen in Abstimmung mit dem zuständigen Veterinäramt sicherzustellen. Ein Gutachten der Tierärztlichen Klinik R. habe ergeben, dass sich „keinerlei Anzeichen eines tierschutzrelevanten Haltungsproblems“ ergeben hätten. Der gesundheitlich problematische Zustand der Pferde sei ausschließlich auf eine verfehlte Haltung der Vorbesitzerin zurückzuführen. Durch eine kurzfristige Veräußerung der Tiere würden irreparable Nachteile entstehen. Die Beweisaufnahme im Klageverfahren werde ergeben, dass die Antragstellerin, die auch eine hohe emotionale Bindung an die streitgegenständlichen Pferde habe, dauerhaft eine artgerechte Haltung sicherstellen könne. Der nunmehr angeordnete Verkauf sei rechtswidrig und unverhältnismäßig. Er könne nicht mehr rückgängig gemacht werden, wodurch der Antragstellerin ein immenser wirtschaftlicher und emotionaler Schaden entstehen würde. Die aufschiebende Wirkung der Klage sei wiederherzustellen, um irreparable Schäden für die Antragstellerin durch die kurz bevorstehende Veräußerung abzuwenden.
3. Der Antragsgegner b e a n t r a g t e mit Schriftsatz vom 4. November 2020:
Der Antrag wird abgelehnt.
Zur Begründung der Antragserwiderung ist im Wesentlichen ausgeführt: Der Sofortvollzug sei hier im öffentlichen Interesse aus monetären und Tierschutzgründen angeordnet. Der Wert der Pferde werde als gering geschätzt. Demzufolge würden bei einem Zuwarten bis zur Bestandskraft die Unterbringungs- und Pflegekosten den zu erwartenden Erlös deutlich übersteigen. Es liege im öffentlichen Interesse, hier unnötig hohe Kosten zu vermeiden. Gleichzeitig liege es im öffentlichen Interesse, das Tierwohl in tierschutzrechtlicher Hinsicht sicherzustellen, da ein längeres Verbleiben der drei Pferde in den jeweiligen Pflegeställen nicht zuträglich wäre. Insbesondere das Fohlen G. sollte, um eine artgerechte Entwicklung (Pferdekontakte aller Altersstufen, Training, ausreichende Bewegung) zu gewährleisten, dringend auf einen Endplatz (keine Weitervermittlung) in sachkundige Hände vermittelt werden. Hinter diesem öffentlichen Interesse müsse deshalb das Interesse der Antragstellerin an einer Beibehaltung des Status quo zurückstehen. Ohne sofortige und wirksame Maßnahmenergreifung wären diese Ziele gefährdet, weil ohne Sofortvollzug durch die Einlegung eines Rechtsbehelfs erhebliche Kosten der anderweitigen pfleglichen Unterbringung entstehen würden und die Unterbringung der Tiere auf einem Endplatz auf längere Zeit verhindert würde. Das öffentliche Interesse überwiege hier.
4. Das Gericht lehnte im Verfahren W 8 S 20.1503 den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage W 8 K 20.1502 gegen den Bescheid vom 7. September 2020 betreffend die Duldung der Fortnahme und anderweitigen pfleglichen Unterbringung der Pferde mit Beschluss vom 4. November 2020 ab.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte (einschließlich der Akte des Hauptsacheverfahrens W 8 K 20.1642 sowie der Verfahren W 8 K 20.1502 und W 8 S 20.1503) sowie die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der Antrag ist zulässig, aber unbegründet.
Der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen Nr. 1 des Bescheides vom 27. Oktober 2020 ist zulässig. Des Weiteren kann das Gericht gemäß § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO die Aufhebung der Vollziehung anordnen, wenn der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen ist.
Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin gegen die Nr. 1 des streitgegenständlichen Bescheides entfällt im vorliegenden Fall, weil die Behörde gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO die sofortige Vollziehung angeordnet hat.
Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs im Falle des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO ganz oder teilweise wiederherstellen. Das Gericht prüft, ob die formellen Voraussetzungen für die Anordnung der sofortigen Vollziehung gegeben sind und trifft im Übrigen eine eigene Abwägungsentscheidung. Hierbei ist das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung gegen das Interesse der Antragstellerin an der aufschiebenden Wirkung ihres Rechtsbehelfs abzuwägen. Bei dieser Abwägung sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache dann von maßgeblicher Bedeutung, wenn nach summarischer Prüfung von der offensichtlichen Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des streitgegenständlichen Verwaltungsakts und der Rechtsverletzung der Antragstellerin auszugehen ist. Jedenfalls hat das Gericht auch die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache bei seiner Entscheidung zu berücksichtigen, soweit diese sich bereits übersehen lassen. Sind diese im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung offen, ist eine reine Interessenabwägung vorzunehmen.
Die Anordnung der sofortigen Vollziehung gemäß § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO ist im vorliegenden Fall im ausreichenden Maße schriftlich begründet. Maßgebend ist, dass der Antragsgegner mit seiner Begründung in hinreichender Weise zum Ausdruck gebracht hat, dass er die Anordnung des Sofortvollzugs wegen der besonderen Situation im Einzelfall für unverzichtbar hält. Im Tierschutzrecht ist in Bezug auf eine Veräußerungsanordnung als Begründung des Sofortvollzugs in der Regel ausreichend, wenn bei einem Zuwarten bis zur Bestandskraft die Unterbringungs- und Pflegekosten den zu erwartenden Erlös deutlich übersteigen würden (vgl. Hirth/Maisack/Moritz, TierSchG, 3. Aufl. 2016, § 16a Rn. 30, 35; Lorz/Metzger, TierSchG, 7. Aufl. 2019, § 16a Rn. 23 m.w.N.). Der Antragsgegner hat im Bescheid konkret ausgeführt, dass die Kosten der gegenwärtigen pfleglichen Unterbringung der Pferde den Erlös für die fortgenommenen Tiere deutlich übersteigen würden und das Interesse an einer Begrenzung der durch die anderweitige pflegliche Unterbringung der Pferde entstehenden Kosten und das damit verbundene öffentliche Interesse an der sofortigen Veräußerung der Tiere Vorrang vor den Individualinteressen der Antragstellerin habe. Im streitgegenständlichen Bescheid ist weiter darauf hingewiesen, dass die Maßnahme erforderlich sei, um den Tieren eine Verbesserung ihrer Situation hin zur artgerechten Haltung und Versorgung zu ermöglichen. Dabei hat der Antragsgegner auch die individuellen Interessen der Antragstellerin hinreichend in seine Abwägung mit einbezogen. Infolgedessen ist der Forderung, die besonderen, auf den konkreten Fall bezogenen Gründe für die Anordnung des Sofortvollzugs anzugeben, auch mit Blick darauf, dass die hier zur Begründung des Verwaltungsakts angestellten Erwägungen zugleich für die Dringlichkeit der Vollziehung sprechen, Rechnung getragen. Die weitere Frage, ob die vom Antragsgegner angeführte Begründung die Anordnung des Sofortvollzugs in der Sache trägt, ist eine Frage der inhaltlichen Richtigkeit und damit des materiellen Rechts (BayVGH, Be.v. 25.9.2020 - 23 CS 20.1928, 23 CS 20.1931, 23 CS 20.1935 - jeweils juris; OVG NRW, B.v. 30.3.2020 - 20 B 879/19 - juris; OVG SH, B.v. 5.6.2019 - 4 MB 42/19 - juris; NdsOVG, B.v. 29.11.2017 - 11 ME 268/17 - RdL 2018, 80; OVG LSA, B.v. 27.10.2017 - 3 M 240/17 - LKV 2018, 80).
Eine summarische Prüfung, wie sie im Sofortverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO geboten, aber auch ausreichend ist, ergibt, dass der Rechtsbehelf der Antragstellerin - auch unter Berücksichtigung der Vorwegnahme der Hauptsache - voraussichtlich keinen Erfolg haben wird. Die getroffene Regelung ist rechtmäßig und verletzt die Antragstellerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO analog). Unabhängig davon ist ein überwiegendes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung zu erkennen.
Dass die Voraussetzungen der auf die Veräußerung der streitgegenständlichen Pferde N., P. und G. bezogenen Duldungsanordnung im vorliegenden Fall gegeben sind, hat der Antragsgegner im Bescheid vom 27. Oktober 2020, auf dessen Gründe zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen wird (§ 117 Abs. 5 VwGO analog), zutreffend begründet. Die Duldungsanordnung für die Fortnahme und anderweitige pflegliche Unterbringung der drei Pferde war schon Gegenstand des Bescheides des Antragsgegners vom 7. September 2020 und des darauf bezogenen Beschlusses des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 4. November 2020 (W 8 S 20.1503). Auf diesen Beschluss kann ergänzend verwiesen werden.
Rechtsgrundlage für die Duldungsverfügung ist § 16a TierSchG. Gemäß § 16a Satz 1 TierSchG trifft die zuständige Behörde die zur Beseitigung festgestellter Verstöße und die zur Verhütung künftiger Verstöße notwendigen Anordnungen. Nach § 16a Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 TierSchG kann die zuständige Behörde ein Tier, das nach dem Gutachten des beamteten Tierarztes mangels Erfüllung der Anforderungen des § 2 TierSchG erheblich vernachlässigt ist oder schwerwiegende Verhaltensstörungen aufzeigt, dem Halter fortnehmen und auf dessen Kosten anderweitig pfleglich unterbringen. Ist eine anderweitige Unterbringung des Tieres nicht möglich oder ist nach Fristsetzung durch die zuständige Behörde eine den Anforderungen des § 2 TierSchG entsprechende Haltung durch den Halter nicht sicherzustellen, kann die Behörde das Tier veräußern.
Der Antragsgegner hat die Voraussetzungen der der streitgegenständlichen Veräußerung vorausgehenden Fortnahme und anderweitigen pfleglichen Unterbringung der drei Pferde auf Kosten der Antragstellerin im Bescheid vom 7. September 2020 zutreffend begründet und durch aktenkundige Feststellungen und ein umfangreiches Gutachten der beamteten Tierärztin sowie durch zahlreiche Fotografien die tierschutzwidrigen Zustände dokumentiert. Danach war zusammengefasst die Fütterung zu wenig und nicht auf den Tag verteilt. Ein Selenmangel hatte sich eingestellt. Die zugekaufte Stute P. und das Fohlen G. haben sich in einem schlechten Zustand befunden. Insbesondere das Fohlen hat sich zu wenig bewegt. Beide Tiere sind hochgradig apathisch gewesen. Weder das Sommerekzem noch die schlechten Hufe noch der eitrige Augenausfluss sowie die eingefallenen Flanken sind der Antragstellerin aufgefallen und haben sie veranlasst, einen Tierarzt hinzuzuziehen. Die fehlende Sachkunde durch die Antragstellerin belegt auch, dass sie vier völlig fremde Pferde zusammen auf einem Paddock gestellt hat. In der Folge haben die Stuten die Rangordnung auskämpfen müssen. Weiter ist die Pflege zu bemängeln. Die Pflege bei einer Pferdehaltung ist ein sehr aufwendiger Prozess, der sich nicht mit Füttern und Misten erschöpft. Die Hufe sind in einem sehr schlechten Zustand gewesen. Weitere Symptome sind Haarausfall und nässende Stellen gewesen. Die Parasiten-Prophylaxe hat nicht stattgefunden. Weiter sind die Sauberhaltung der Gebrauchsgegenstände und das Misten der Koppel und Paddock zu bemängeln. Aufgrund der obengenannten Faktoren wie der Mangel an Versorgung mit Futter, den nötigen Nährstoffen, der tierärztlichen Versorgung und dem schlechten Zustand der Haltung an sich sowie der körperlichen Verfassung der Tiere sind diese erheblich vernachlässigt worden. Das Fehlen bzw. der eklatante Mangel im Schutzverhalten des Muttertieres ist als schwerwiegende Verhaltensstörung zu bewerten. Die Antragstellerin zeigt nicht die nötigen Kenntnisse und Fähigkeiten. Sie hat wiederholt gegenüber dem Veterinäramt kundgetan, wie viele anderen Projekte und Arbeiten sie verfolge. Schon der eng getaktete Tagesablauf der Antragstellerin spricht gegen eine sinnvolle Haltung von Pferden in der Selbstversorgung auf einer eigenen Koppel. Im Einzelnen wird auf das ausführliche und plausible 15-seitige Gutachten der Amtstierärztin vom 31. August 2020 (Bl. 157 bis 164 der Behördenakte) verwiesen. Ergänzend kann auf den Beschluss des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 4. November 2020 (W 8 S 20.1503) Bezug genommen werden.
Im Rahmen der streitgegenständlichen Duldungsanordnung ist zu prüfen, ob die Halterin bzw. Eigentümerin nachweisen kann, dass sie sowohl willens als auch in der Lage ist, eine den Anforderungen des § 2 TierSchG entsprechende Ernährung, Pflege und Unterbringung der Tiere sicherzustellen (Hirt/Maisack/Moritz, TierSchG, 3. Aufl. 2016, § 16a Rn. 34; vgl. auch schon VG Würzburg, B.v. 4.11.2020 - W 8 S 20.1503; B.v. 1.10.2020 - W 8 S 20.1350 - juris; B.v. 21.7.2020 - W 8 S 20.877 - juris). Nach dem aktuellen Sachstand ist die Antragstellerin dazu nicht in der Lage. Dabei muss die Tierschutzbehörde nicht sehenden Auges warten, bis den Tieren weitere erhebliche Schmerzen oder Leiden zugefügt werden. Auch eine Veräußerung ist hinzunehmen, wenn dies im Interesse des betreffenden Tieres geboten ist (vgl. Metzger in Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, 232. EL August 2020, § 16a TierSchG Rn. 18 ff.; SächsOVG, B.v. 14.11.2017 - 3 B 290/17 - juris; vgl. auch schon VG Würzburg, B.v. 1.10.2020 - W 8 S 20.1350 - juris; B.v. 21.7.2020 - W 8 S 20.877 - juris).
Der Antragsgegner hat im streitgegenständlichen Bescheid vom 27. Oktober 2020 - ebenso wie im vorhergehenden Bescheid vom 7. September 2020 -im Ergebnis überzeugend dargelegt, dass die Antragstellerin nach dem aktuellen Sachstand nicht in der Lage ist, eine den Anforderungen des § 2 TierSchG entsprechende Ernährung, Pflege und Unterbringung des Pferdes sicherzustellen. Unter Berücksichtigung der Gesamtumstände, insbesondere der auf amtstierärztlichen Annahmen beruhenden Stellungnahme der Antragsgegnerseite sowohl im streitgegenständlichen Bescheid als auch in den weiteren aktenkundigen Feststellungen ist das Gericht nicht davon überzeugt, dass die Unterbringung der Pferde in den von der Antragstellerin vorgeschlagenen Pferdehöfen eine geeignete Alternative wäre (vgl. dazu auch schon ausführlich VG Würzburg, B.v. 4.11.2020 - W 8 S 20.1503). Dem Gericht ist gerade angesichts der Gesamtumstände der bisherigen Pferdehaltung nicht plausibel, wie die Antragstellerin nach ihrer Vorstellung eine dauerhafte artgerechte Unterbringung und Versorgung der Pferde bewerkstelligen und finanzieren könnte, da eine Rückgabe von der Sicherstellung der mangelfreien Tierhaltung abhängig ist (vgl. auch BayVGH, B.v. 21.4.2016 - 9 CS 16.539 - juris). Nach dem von der Antragstellerin vorgelegten Pferdeeinstellungsvertrag mit dem Hof in Schleswig-Holstein beträgt der Pensionspreis für alle drei Pferde monatlich 1.080,00 EUR (360,00 EUR pro Pferd). Die Antragstellerin hat nicht plausibilisiert, dass und wie sie diesen Betrag über längere Zeit monatlich aufbringen können will. Eine hinreichend verfestigte Stabilisierung tierschutzgerechter Haltungsbedingungen müsste dauerhaft gewährleistet sein (vgl. OVG NRW, B.v. 19.1.2009 - 20 B 1748/08 - juris). Wäre aber bei einer Herausgabe zu befürchten, dass die Pferde erneut unter tierschutzwidrigen Bedingungen gehalten würden, scheidet eine Herausgabe der Pferde an die antragstellende Eigentümerin aus (vgl. VG Bayreuth, B.v. 11.12.2013 - B 1 E 13.384 - juris; vgl. auch VG Aachen, B.v. 9.3.2009 - 6 L 14/09 - juris sowie VG Würzburg, U. v. 11.2.2019 - W 8 K 18.1040 - juris; B.v. 12.11.2018 - W 8 K 18.1040 - juris; B.v. 26.7.2018 - W 8 E 18.927 - juris). Unter diesen Vorzeichen scheidet auch eine probeweise Herausgabe an die Antragstellerin bzw. an die von ihr benannten Pferdehöfe, insbesondere auch an den letztgenannten Pferdehof in Schleswig-Holstein, aus. Hinzu kommt, dass nach Mitteilung des Antragsgegners das - für den Wohnort der Antragstellerin - zuständige Landratsamt, Veterinäramt, mittlerweile ein Verfahren zur Untersagung der Haltung und Betreuung von Pferden gegenüber der Antragstellerin eingeleitet hat.
Ergänzend ist noch anzumerken, dass der Umstand, dass sich die Klägerin für einen Tierhaltungskurs Pferd vom 16. bis 20. November 2020 in der Landwirtschaftsschule in An. angemeldet hat, keine andere Beurteilung rechtfertigt, weil auf den maßgeblichen Zeitpunkt des Bescheidserlasses abzustellen ist und die Tatsache, dass sich die Antragstellerin erst künftig die - bislang offenbar noch nicht vorhandenen - notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten der Pferdehaltung (vgl. § 2 Nr. 3 TierSchG) aneignen will, insoweit ohne Belang ist, zumal sich zum einen der Erfolg dieses Kurses nicht sicher einschätzen lässt und zum anderen nicht belegt ist, dass dieser fünftägige Kurs auch schon ausreicht, alle notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten für eine Pferdehaltung zu erlangen. Im Hinblick auf das - vorstehend erwähnte - laufende Untersagungsverfahren ist weiter darauf hinzuweisen, dass künftige Ereignisse nach Bescheiderlass allenfalls für eine Wiedergestattung relevant wären (vgl. § 16a Abs. 1 Nr. 3 letzter Halbsatz TierSchG).
Dass eine Unterbringung in der von der Antragstellerin vorgeschlagenen Art und Weise, insbesondere aufgrund des Fehlens einer Erlaubnis nach § 11 Abs. 1 Nr. 8a TierSchG, nicht ausreicht, haben der Antragsgegner und gerade seine beamteten Tierärzte plausibel dargelegt. Denn nach dem Gutachten der Amtstierärztin verfügt die Antragstellerin nicht über die erforderlichen Sachkenntnisse und Fähigkeiten für eine Pferdehaltung. Deshalb wurde in dem vorauslaufenden Bescheid vom 7. September 2020 ausdrücklich eine anderweitige Unterbringung in einem Pensionsstall unter konkreten Voraussetzungen gefordert, um eine Wiederholung tierschutzwidriger Taten auszuschließen. Denn Pensionsställe benötigen laut der Amtstierärztin grundsätzlich eine Erlaubnis nach § 11 TierSchG. Um diese zu erlangen, müssen dem Veterinäramt für die jeweilige Tierart (Pferde) die Sachkunde sowie entsprechende Kenntnisse und Fähigkeiten ebenso wie die Zuverlässigkeit und entsprechende Räumlichkeiten nachgewiesen werden. Pensionsställe unterliegen danach weiter der regelmäßigen Kontrolle durch die zuständige Behörde. Die vorgenannten Punkte könnten bei Privatpersonen, die dem Veterinäramt nicht bekannt sind, ohne die genannte Erlaubnis nicht vorausgesetzt werden. Aufgrund der vorrangigen Beurteilungskompetenz der beamteten Tierärzte ist zu beachten, dass deren fachliche Beurteilung von hohem Gewicht ist und jedenfalls nicht durch schlichtes Bestreiten und auch nicht durch pauschale und unsubstantiierte gegenteilige Behauptungen entkräftet werden kann (Hirth/Maisack/Moritz, TierSchG 3. Aufl. 2016, § 16a Rn. 24 und 26).
Die Einschätzung der beamteten Tierärzte, denen vom Gesetzgeber ausdrücklich eine vorrangige Beurteilungskompetenz eingeräumt ist, ist im Regelfall als maßgeblich anzusehen. Denn Amtstierärzte sollen als Sachverständige bei der Durchführung des Tierschutzgesetzes beteiligt werden (§ 15 Abs. 2 TierSchG). In dem einem exakten Nachweis nur begrenzt zugängigen Bereich einzelfallbezogener Wertungen kommt ihrer fachlichen Beurteilung besonderes Gewicht zu. Angesichts der hier von amtstierärztlicher Seite konkret dargelegten Hinderungsgründe genügen die schlichten gegenteiligen Einlassungen der Antragstellerseite nicht zur Rechtfertigung einer anderen Beurteilung. An die Äußerungen der Amtstierärzte sind dabei keine allzu hohen Anforderungen zu stellen. Sie müssen Tatsachen angeben und bewerten, die einzelfallbezogen den Schluss auf tierschutzwidrige Gegebenheiten tragen. Es geht um die verlässliche Absicherung der tierschutzrelevanten Beurteilung des Sachverhalts durch die Beteiligung eines beamteten Tierarztes bzw. einer beamteten Tierärztin, weil diese(r) hierzu besonders fachlich befähigt ist. Auch die Form eines Aktenvermerks sowie Lichtbilder können genügen. Von den amtstierärztlichen Feststellungen wäre - anders als hier - nur dann nicht auszugehen, wenn die Gutachten bzw. Feststellungen Mängel aufwiesen, die diese zur Sachverhaltsfeststellung ungeeignet, zumindest aber als nicht ausreichend erscheinen lassen. Dies wäre etwa der Fall, wenn ein Gutachten unvollständig, widersprüchlich wäre oder von unzutreffenden sachlichen Voraussetzungen ausginge oder sich erhebliche Zweifel an der Sachkunde des Gutachters ergäben (vgl. BayVGH, Be.v. 25.9.2020 - 23 CS 20.1928, 23 CS 20.1931, 23 CS 20.1935 - jeweils juris; B.v. 31.7.2020 - 23 ZB 20.1254 - juris; B.v. 14.7.2020 - 23 CS 20.1087 - juris; B.v. 6.7.2020 - 23 CS 20.383 - juris; B.v. 12.3.2020 - 23 CS 19.2486 - juris; SächsOVG, B.v. 11.6.2020 - 3 B 124/20 - AUR 2020, 350 sowie VG Würzburg, B.v. 29.1.2020 - W 8 S 20.160 - juris, jeweils m.w.N.).
Die vorliegend dargestellte vorrangige Beurteilungskompetenz bezieht sich auch auf die Beurteilung einer möglichen Alternative, wie sie von der Antragstellerseite für die Unterbringung der Pferde genannt ist.
Das Vorbringen der Antragstellerin führt zu keiner anderen Beurteilung.
Die Antragstellerin hat durch ihren Bevollmächtigten nur pauschal vortragen lassen, dass die Vorwürfe nicht begründet seien und dass die Antragstellerin entsprechende Zeugen und weitere Beweismittel benennen könne, ohne dies aber in irgendeiner Weise zu substantiieren. Die kurze vorgelegte tierärztliche Bescheinigung der Tierärztlichen Klinik Reichenberg - laut Antragstellerbevollmächtigten nur ein Auszug aus einem Gutachten -, wonach sich keinerlei Anzeichen eines tierschutzrelevanten Haltungsproblems ergeben hätten, bezieht sich zum einen nur auf das eine Pferd P. und spricht zum anderen selbst von einer parasitären (z.B. Wurmbefall) oder allergischen Erkrankung sowie einer extremen Unterversorgung mit Selen, sodass möglicherweise das auffällig ruhige Verhalten des Fohlens auch seine Ursache in einer Selenunterversorgung habe. Zu diesem Vorbringen stellt sich dem Gericht schon die Frage, warum das Gutachten nicht vollständig vorgelegt worden ist. Weiter ist die pauschale Behauptung der Antragstellerseite, dass der gesundheitlich problematische Zustand der Pferde ausschließlich auf eine verfehlte Haltung der Vorbesitzerin zurückzuführen ist, angesichts der aktenkundigen tierärztlichen Feststellungen, die schon im Verfahren W 8 S 20.1503 thematisiert worden sind, nicht nachvollziehbar und verstärken den Eindruck der Verharmlosung und Uneinsichtigkeit. Angesichts der von der amtlichen Tierärztin umfassend und konkret dargestellten Mängel und unter Berücksichtigung der Vorgeschichte genügt - wie schon ausgeführt - die pauschale gegenteilige Einlassung der Antragstellerin nicht, um die tierärztlich festgestellten tierschutzwidrigen Zustände zu erschüttern oder sonst in Zweifel zu ziehen. Gerade die in der beigezogenen Behördenakte enthaltenen Berichte der Amtstierärztin einschließlich der zahlreichen gefertigten aussagekräftigen Fotos sowie die aktenkundigen Beschwerden sprechen für sich. Sie offenbaren eine Vielzahl von gravierenden Verstößen über einen längeren Zeitraum. Auch die Maßnahmen und Ansprachen des Veterinäramts haben nicht zu einer nachhaltigen Besserung geführt. Vielmehr war die sofortige Fortnahme und die anderweitige pflegliche Unterbringung der Pferde infolge der eindeutigen amtstierärztlichen Feststellungen und Schlussfolgerungen unvermeidlich (vgl. VG Würzburg, B.v. 4.11.2020 - W 8 S 20.1503; B.v. 6.2.2020 - W 8 S 19.1689 und B.v. 7.3.2018 - W 8 S 18.206 jeweils juris und mit m.w.N.).
Wie schon ausgeführt, ist des Weiteren das Verlangen einer alternativen Unterbringung in einem Pensionsstall, der über eine Erlaubnis nach § 11 Abs. 1 Nr. 8a TierSchG verfügt, nicht zu beanstanden, weil nur so dauerhaft die Gewährleistung einer tierschutzgemäßen Unterbringung gesichert ist und weil nur dadurch, gerade auch für Pferde, die Sachkunde, entsprechende Kenntnisse und Fähigkeiten sowie Zuverlässigkeit und geeignete Räumlichkeiten nachgewiesen sind und überprüft werden können, zumal durch das zuständige Veterinäramt mittlerweile die Untersagung der Haltung und Betreuung von Pferden gegenüber der Antragstellerin betrieben wird.
Der weitere Einwand der Antragstellerseite, dass auch eine Unterbringung in den von der Antragstellerin ausgesuchten Pferdehöfen möglich wäre, weil auch dort das jeweilige Landratsamt bzw. das Veterinäramt die Haltung überprüfen könnte, verfängt nicht. Denn zum einen genügt schon nicht ein Wohlverhalten unter dem Druck eines laufenden Verfahrens. Zum anderen ist die Behörde nicht verpflichtet, den Tierhalter ständig zu überwachen. Dieser ist vielmehr selbst gehalten, von sich aus die gesetzlichen Vorschriften zu beachten. Vorliegend ist zudem ein ordnungsgemäßes und tierschutzgerechtes Verhalten der Antragstellerin als Tierhalterin nicht zu erwarten. Das Veterinäramt hat die Antragstellerin schon in der Vergangenheit auf Missstände hingewiesen, ohne dass sich eine nachhaltige Besserung eingestellt hat. Abgesehen davon ist eine ständige Überwachung und Anleitung durch die zuständige Behörde rechtlich weder vorgesehen noch in der Praxis tatsächlich umsetzbar (vgl. BayVGH, Be.v. 25.9.2020 - 23 CS 20.1928, 23 CS 20.1931, 23 CS 20.1935 - jeweils juris; B.v. 14.7.2020 - 23 CS 20.1087 - juris; OVG Bln-Bbg, B.v. 20.7.2020 - OVG 5 S 31.19 - juris). Hinzu kommt, dass die Pferde in einem anderen Landkreis - nach dem letzten Vorschlag sogar in einem anderen Bundesland, weit weg in Schleswig-Holstein - untergebracht werden sollen, für den das hiesige Veterinäramt nicht zuständig ist und keine direkten Zugriffsmöglichkeiten hat.
Ein milderes Mittel ist nicht ersichtlich, weil wie auch schon erwähnt eine probeweise Überlassung der Pferde an die Antragstellerin bzw. an die zur Unterbringung von ihr benannten Pferdehöfe nach den plausiblen Ausführungen des Antragsgegners unter Bezugnahme auf die Aussagen der Amtstierärzte nicht dem Tierwohl gerecht wird, zumal die Antragstellerin auch insofern fälschlich behauptet hat, dass eine Erlaubnis nach § 11 TierSchG vorliegt. Der Behauptung hat schon das zuständige Veterinäramt des Landratsamtes Er.-Hö. ausdrücklich widersprochen und vielmehr ausgeführt, dass der dortige Pferdehof keine Erlaubnis hat und auch keine bekommen wird (vgl. Aktenvermerk vom 13.10.2020, Bl. 314 der Behördenakte). Das Gleiche gilt hinsichtlich des nachträglich noch benannten Pferdehofes in Schleswig-Holstein, zu dem das dafür zuständige Veterinäramt Dithmarschen ausdrücklich mitgeteilt hat, dass die Inhaberin keine Erlaubnis nach § 11 Abs. 1 Nr. 8a TierSchG zur gewerbsmäßigen Haltung von Pferden besitzt (siehe E-Mail v. 2.11.2020, Bl. 365 der Behördenakte). Gegen die Unterbringung der Pferde in einem der Pferdehöfe spricht nach dem Dafürhalten des Gerichts schließlich, dass dadurch - gerade aufgrund der Vorgeschichte und Gesamtumstände des vorliegenden Einzelfalles - auch nicht sichergestellt wäre, dass die Vertragsbeziehung zu einen der benannten Pferdehöfe auf Dauer Bestand hätte und die Antragstellerin die Tiere nicht doch wieder abholen und anderweitig in tierschutzwidriger Weise unterbringen würde.
Der Antragsgegner hat das grundsätzlich bestehende Auswahlermessen nicht fehlerhaft ausgeübt. Dies könnte vielmehr aufgrund der festgestellten Verstöße auf Null reduziert sein, um die Fortsetzung der Leidensgeschichte der Tiere zu verhindern, wenn mildere Maßnahmen keinen Erfolg versprechen (Hirt/Maisack/Moritz, TierSchG, 3. Aufl. 2016, § 16a Rn. 48; Metzer in Erz/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, 232. EL August 2020, § 16a Rn. 7 f.).
Der Antragsgegner hat sich mit weniger belastenden Handlungsalternativen auseinandergesetzt und diese wie schon ausgeführt mit zutreffender Begründung abgelehnt (vgl. Hirt/Maisack/Moritz, TierSchG, 3. Aufl. 2016, § 16a Rn. 6; Lorz/Metzger, TierSchG, 7. Aufl. 2019, § 16a Rn. 23 ff.; Metzer in Erz/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, 217. EL Oktober 2017, § 16a Rn. 3). Der Antragsgegner hat sich vorliegend ernsthaft mit milderen und weniger schwer in das Eigentum eingreifenden Alternativen befasst und diese ermessensfehlerfrei ausgeschlossen. So bleibt es bei der Feststellung, dass es an überzeugenden konkreten Angaben über eine geeignete und realistischer Weise auch kurzfristig umzusetzende anderweitige Unterbringungsmöglichkeit fehlt, um auf Dauer eine artgerechte Unterbringung und Versorgung der Pferde gewährleisten zu können, nachdem die Antragstellerin die ihr eröffnete Möglichkeit der Unterbringung in einen erlaubten Pensionsstall nicht wahrgenommen hatte und hat. Auch unter Berücksichtigung der Grundrechte der Antragstellerin, insbesondere aus Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 14 GG, sind keine geeigneteren milderen Mittel ersichtlich. Damit ist dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung tierschutzgerechter Zustände (§ 1 TierSchG, Art. 20a GG) der Vorrang vor dem privaten auch grundrechtlich geschützten Interesse der Antragstellerin einzuräumen.
Der vom Antragsgegner gewährte Vorrang des in Art. 20a GG verfassungsrechtlich verbürgten und in § 1 TierSchG sowie den übrigen Regelungen des TierSchG einfachgesetzlich niedergelegten öffentlichen Interesses des Tierschutzes ist gegenüber den privaten, sich insbesondere aus Art. 14 GG ergebenden grundrechtlich geschützten Interessen der Antragstellerin nicht als unverhältnismäßig gewichtet anzusehen. Dabei konnten neben dem Erfordernis einer endgültigen artgerechten Unterbringung und Entwicklung, gerade mit Blick auf das Fohlen G., auch die derzeitigen Kosten der Unterbringung sowie die bei einer Fortdauer der Unterbringung bis zum Ende des Hauptsacheverfahrens noch anfallenden Kosten berücksichtigt werden.
Gesamtbetrachtet erscheint die streitgegenständliche Duldungsanordnung das einzige zweckdienliche und verhältnismäßige Mittel, um dauerhaft und rechtlich einwandfrei eine tierschutzgerechte Haltung und Betreuung der Pferde sicherzustellen.
Abgesehen von der Rechtmäßigkeit der Duldungsanordnung spricht auch eine reine Interessenabwägung für die Aufrechterhaltung des Sofortvollzugs. Denn die sofortige Vollziehung der im streitgegenständlichen Bescheid angeordneten Duldung ist im überwiegenden öffentlichen Interesse zur Ermöglichung der Veräußerung der streitgegenständlichen Pferde geboten. Im Rahmen der zu treffenden Güterabwägung ist der nicht zu verkennende Nachteil, den die getroffene Anordnung der Antragstellerin als Eigentümerin - auch unter Vorwegnahme der Hauptsache - auferlegt, nicht schwerer zu gewichten als das entgegenstehende öffentliche Interesse. Die Antragstellerin hat schon nicht substantiiert dargetan, ob und welches Interesse sie an den Pferden hat, welches über die formelle Eigentümerstellung hinausgehen würde. Der materielle wirtschaftliche Wert der Pferde wird vom Veterinäramt eher als gering eingeschätzt. Ideelle Interessen oder auch Emotionen sind zwar behauptet, aber gleichwohl fraglich, nachdem die Antragstellerin die Pferde in der Vergangenheit zu deren Leidwesen über längere Zeit erheblich vernachlässigt hatte. Insoweit ist anzumerken, dass sich die Antragstellerin trotz entsprechender Ansprachen und Hinweise des Veterinäramts nicht Willens und/oder in der Lage gezeigt hatte, eine tierschutzgerechte Haltung der Pferde gewährleisten zu können und die ihr aufgezeigten Missstände abzustellen. Jedenfalls konnte keine nachhaltige Besserung erreicht werden, obwohl dies in ihrem ureigenen Interesse hätte liegen müssen. Die Antragstellerin hat so kein triftiges vorrangiges Eigeninteresse erkennen lassen, wobei selbst emotionale Bindungen keinen Verstoß gegen tierschutzrechtliche Vorschriften rechtfertigen könnten. Unter diesen Vorzeichen überwiegt das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung das Interesse der Antragstellerin an der aufschiebenden Wirkung der Klage. Die Sicherstellung einer den Anforderungen des § 2 TierSchG entsprechenden Tierhaltung durch die Antragstellerin ist wie ausgeführt - nach ihrem bisherigen Vorbringen - nicht auf Dauer zu erwarten. Durch die anderweitige pflegliche Unterbringung der Pferde durch das Veterinäramt sind Unterbringungskosten entstanden, die einen zu erwartenden Verkaufserlös zu Lasten der Allgemeinheit übersteigen, erst recht, wenn die Unterbringung noch deutlich länger fortdauert. Nicht zuletzt liegt es im Interesse des Tierwohls der Pferde, möglichst dauerhaft an eine geeignete Unterbringungsmöglichkeit abgegeben zu werden. Der Antragsgegner hat in seiner Antragserwiderung vom 4. November 2020 dazu nachvollziehbar ausgeführt, dass es im öffentlichen Interesse liegt, das Tierwohl in tierschutzrechtlicher Hinsicht sicherzustellen, da ein längeres Verbleiben der drei Pferde in den jeweiligen Pferdeställen nicht zuträglich wäre. Insbesondere das Fohlen G. sollte, um eine artgerechte Entwicklung (Pferdekontakte aller Altersstufen, Training, ausreichende Bewegung) zu gewährleisten, dringend auf einen Endplatz (keine Weitervermittlung) in sachkundige Hände vermittelt werden. Für die vom Antragsgegner vorgeschlagene Lösungen sprechen die eindeutigen amtstierärztlichen Feststellungen, nachdem in der Vergangenheit verschiedene mildere Maßnahmen und Ansprachen gegenüber der Antragstellerin nicht gefruchtet haben und denkbare weiter alternative Möglichkeiten - außer der ihr ausdrücklich eröffneten, aber nicht wahrgenommenen Möglichkeit der Unterbringung der Pferde in einem geeigneten Pensionsstall - nicht gegeben sind. Gerade angesichts des mit Verfassungsrang ausgestatteten Tierwohls gemäß Art. 20a GG überwiegt das Interesse an einer dauerhaften tierschutzgerechten Unterbringung ohne weitere deutliche Verzögerungen. Der durch Art. 20a GG im Verfassungsrang stehende Tierschutz ist ein gewichtiges Gemeinschaftsgut im öffentlichen Interesse. Den Grundrechten der Antragstellerin aus Art. 2 Abs. 1 und 14 GG steht das Tierwohl, das ebenfalls durch das Grundgesetz geschützt ist, entgegen.
Nach alledem war auch keine weitere gerichtliche Anordnung nach § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO zu treffen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung richtet sich nach § 52 Abs. 1 und Abs. 2, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 63 Abs. 2 GKG i.V.m. Nr. 35.2 des Streitwertkatalogs. Das Gericht hält einen Streitwert in Höhe des Auffangwerts von 5.000,00 EUR für sachgerecht. Zwar ist aktenkundig, dass die Antragstellerin die Pferde G. und P. für 2.600,00 EUR gekauft hat. Jedoch fehlen zum dritten Pferd N. konkrete Anhaltspunkte. Des Weiteren hat die Antragstellerin im vorliegenden Verfahren keine weiteren Angaben zu der für sie ergebenden Bedeutung der Sache gemacht, so dass es beim Auffangwert verbleibt (vgl. auch BayVGH, B.v. 14.7.2020 - 23 CS 20.1087 - juris m.w.N.). Das Gericht legt den Auffangwert von 5.000,00 EUR in voller Höhe zugrunde, weil die Entscheidung in der Sache die Hauptsache vorwegnimmt (Nr. 1.5 Satz 2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit).
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Tenor
Das Ablehnungsgesuch wird abgelehnt.
1G r ü n d e :
2Das Ablehnungsgesuch des Klägers gegen Vorsitzenden Richter am Oberverwaltungsgericht T. , Richterin am Oberverwaltungsgericht T1. und Richter am Verwaltungsgericht M. wegen der Besorgnis der Befangenheit ist unbegründet. Tatsachen, die eine Ablehnung dieser Richter rechtfertigen, liegen hier nicht vor.
3Nach § 42 Abs. 2 ZPO, der gemäß § 54 Abs. 1 VwGO im verwaltungsgerichtlichen Verfahren entsprechend anzuwenden ist, kann ein Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit zu rechtfertigen. Diese Voraussetzungen liegen vor, wenn ein Beteiligter die auf objektiv feststellbaren Tatsachen beruhende, subjektiv vernünftigerweise mögliche Besorgnis hat, der Richter werde in der Sache nicht unparteiisch, unvoreingenommen oder unbefangen entscheiden oder habe sich in der Sache bereits festgelegt. Die rein subjektive Besorgnis, die nicht auf konkreten Tatsachen beruht oder für die vernünftigerweise bei Würdigung der Tatsachen kein Grund ersichtlich ist, reicht dagegen zur Ablehnung nicht aus.
4Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 15.9.1998 – 2 BvE 2/93 u. a. ‑, BVerfGE 99, 51 = juris, Rn. 20, und vom 13.2.2018 – 2 BvR 651/16 –, BVerfGE 148, 1 = juris Rn. 17; Kluckert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, Kommentar, 5. Aufl. 2018, § 54 Rn. 44 f. m. w. N.; Hoppe, in: Eyermann, VwGO, Kommentar, 15. Aufl. 2019, VwGO § 54 Rn. 14 m. w. N.
5Gemessen an diesen Grundsätzen liegen derartige objektive Gründe, die eine Besorgnis der Befangenheit der abgelehnten Richter begründen, nicht vor.
6Das gilt zunächst insoweit, als der Kläger sein Ablehnungsgesuch damit begründet, die Richter seien nicht bereit die Menschenwürde zu achten, und seien daher keine gesetzlichen Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 GG, weil die Richter erklärt hätten, die Vertretungspflicht nach § 67 Abs. 4 VwGO stehe mit höherrangigem Recht in Einklang. Art. 19. Abs. 4 GG sei ebenso verletzt wie der Anspruch auf rechtliches Gehör.
7Damit hat der Kläger sein Ablehnungsgesuch ausschließlich mit Einwänden gegen den – aus seiner Sicht rechtswidrigen – Beschluss im Verfahren 4 E 637/20, an dem die abgelehnten Richter mitgewirkt haben, begründet. Er legt weder individuelle, auf die Person des einzelnen abgelehnten Richters bezogene Gründe für die Besorgnis einer Befangenheit dar, noch ist der Begründung seines Ablehnungsgesuchs zu entnehmen, dass sich aus der Kollegialentscheidung selbst Anhaltspunkte für eine Befangenheit in diesem Sinne ergäben.
8Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 9.2.2017 – 4 A 427/16 –, juris, Rn. 3.
9Die Feststellung des Senats, wonach der Vertretungszwang mit höherrangigem Recht in Einklang steht,
10vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 4.7.2006 – 10 B 39.06 –, juris, Rn. 1, und vom 25.7.1996 – 5 B 201.95 –, juris, Rn. 2; OVG NRW, Beschluss vom 19.5.2020 – 4 E 403/20 –, juris, Rn. 1; Czybulka/Siegel, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 67 Rn. 45 f., jew. m. w. N.,
11wird durch das weitere Vorbringen des Klägers nicht in Zweifel gezogen. Seinem Vorbringen liegt die Annahme zugrunde, aus der Anerkennung „als selbstverantwortliche Persönlichkeit“ und aus der unmittelbaren Bindung der Grundrechte, folge zwingend, dass ihm die Wahrnehmung seiner Rechte vor Gericht ohne Bevollmächtigten und damit unmittelbar möglich sei. Dem ist nicht zu folgen.
12Die Unmittelbarkeit der Geltung der Grundrechte gibt für die Annahme des Klägers nichts her. Die in Art. 1 Abs. 3 GG bestimmte Bindung der Rechtsprechung an die Grundrechte hat seinen Grund darin, dass im gerichtlichen Verfahren der Richter den Verfahrensbeteiligten formell und in unmittelbarer Ausübung staatlicher Hoheitsgewalt gegenüber tritt. In der Folge ist er daher nach Art. 1 Abs. 3 GG bei der Entscheidungsfindung an die insoweit maßgeblichen Grundrechte gebunden.
13Vgl. BVerfG, Beschluss vom 3.10.1979 – 1 BvR 726/78 –, BVerfGE 52, 203 = juris, Rn. 11.
14Unmittelbarkeit bedeutet dabei gesetzesunabhängige Grundrechtsgeltung für die Rechtsprechung ohne notwendige Vermittlung durch einen Gesetzgebungsakt,
15vgl. Herdegen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar, 91. EL April 2020, GG Art. 1 Abs. 3, Rn. 1,
16Die weiter erhobenen verfassungsrechtlichen Einwände des Klägers gegen den in § 67 Abs. 4 VwGO vorgeschriebenen Vertretungszwang greifen nicht durch. Dass sich ein Beteiligter vor bestimmten Gerichten durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen muss, verletzt nicht die durch Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Menschenwürde. Der grundsätzliche Vertretungszwang vor dem Oberverwaltungsgericht dient dem Schutz des Vertretenen sowie dem Interesse an einer geordneten Rechtspflege, insbesondere einem geordneten Gang des Verfahrens, dessen Vereinfachung, Beschleunigung und Sachdienlichkeit. Er verstößt auch nicht gegen das Recht auf effektiven Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 GG oder den Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG. Zwar darf danach der Zugang zu den Gerichten und zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer, aus sachlichen Gründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden. Der Gesetzgeber kann aber – wie geschehen – im Interesse einer geordneten und konzentrierten Verfahrensführung die Vertretung eines Beteiligten durch einen rechtskundigen Bevollmächtigten vorschreiben.
17Vgl. BVerfG, Beschluss vom 18.12.1991 - 1 BvR 1411/91 -, juris, Rn. 5, m. w. N.; Bay. VerfGH, Entscheidung vom 17.7.2014 - Vf. 65-VI-13 -, juris, Rn. 17; in einem Verfahren des Antragstellers so schon: OVG NRW, Beschluss vom 13.1.2020 – 13 A 138/20 –, Beschlussabdruck Seite 2 f.
18Auch die vom Kläger beanstandete Tätigkeit des Richters am Verwaltungsgericht M. , der nicht Richter am Oberverwaltungsgericht und folglich nicht gesetzlicher Richter sei, begründet nicht die Besorgnis der Befangenheit.
19Die Abordnung an das Oberverwaltungsgericht zur Erprobung eines Richters auf Lebenszeit für das Beförderungsamt eines Richters am Oberverwaltungsgericht verstößt nicht gegen Art. 97 Abs. 1 und 2 GG in Verbindung mit Art. 33 Abs. 5 GG. Zwar verbietet nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Verfassungsgarantie der richterlichen Unabhängigkeit jede vermeidbare auch mittelbare, subtile und psychologische Einflussnahme der Exekutive auf die Rechtsstellung des Richters. Die Durchführung einer Erprobung eines Lebenszeitrichters ist jedoch mit der richterlichen Unabhängigkeit vereinbar. Auch wenn sich der Richter in einer Erprobung besonderen Herausforderungen stellt, um das angestrebte Beförderungsamt zu erreichen, so liegt doch in der Erprobung als solcher noch keine Verletzung seiner Unabhängigkeit. In seinen Entscheidungsentwürfen und seiner richterlichen Tätigkeit innerhalb des Kollegialorgans ist er weisungsfrei. Von ihm ist gerade beim Erstreben eines Beförderungsamtes zu erwarten, dass er sich sachwidrigen Beeinflussungsversuchen widersetzt und seine richterlichen Entscheidungen nicht vom angestrebten Ziel - der Beförderung - abhängig macht. Eine sachgerechte Beurteilung des zur Erprobung an das Oberverwaltungsgericht abgeordneten Richters wird gerade auch diesen Aspekt, dass der Richter selbst seine persönliche und sachliche Unabhängigkeit wahrt, positiv hervorheben. Die Notwendigkeit, Nachwuchs heranzubilden oder Beurteilungsgrundlagen für ein richterliches Beförderungsamt zu schaffen, erlaubt deshalb die Heranziehung auch solcher Richter an ein Gericht, die nicht planmäßige Richter dieses Gerichts sind.
20Vgl. BVerfG, Beschluss vom 22.6.2006 – 2 BvR 957/05 –, juris, Rn. 7.
21Der Kläger dringt auch nicht mit seiner Auffassung durch, die Richter hätten einen Moment ausgenutzt, in dem der reguläre Berichterstatter gerade im Urlaub gewesen sei. Die Vertretung von Richter am Oberverwaltungsgericht X. durch Richter am Verwaltungsgericht M. ist nicht zu beanstanden.
22Unter Verhinderung als Voraussetzung für den Vertretungsfall ist jede tatsächliche oder rechtliche Unmöglichkeit zu verstehen, an einer richterlichen Aufgabe mitzuwirken. Nach ständiger Rechtsprechung bedarf die vorübergehende Verhinderung, die die Heranziehung eines Vertreters erforderlich macht, der Feststellung durch den Gerichtspräsidenten, es sei denn, der Hinderungsgrund ist offensichtlich und unzweifelhaft. Dabei stellt Urlaub einen offenkundigen Verhinderungsgrund dar.
23Vgl. BGH, Beschluss vom 5.4.1989 – 2 StR 39/89 –, juris, Rn. 4 f..
24Der nach dem Geschäftsverteilungsplan des Senats im Zeitpunkt der Beschlussfassung am 5.8.2020 zuständige Berichterstatter, Richter am Oberverwaltungsgericht X. , befand sich vom 27.7.2020 bis zum 9.8.2020 im Urlaub und nahm seinen Dienst am 10.8.2020 wieder auf. In der Folge ist das Verfahren vom Zeitpunkt der Verfügung der Zustellung der Beschwerdeschrift am 27.7.2020 an bis zu der vom Kläger beanstandeten Beschlussfassung von dem nach dem Geschäftsverteilungsplan des Senats zuständigen Vertreter, Richter am Verwaltungsgericht M. , bearbeitet worden. Es fehlt demnach an jedwedem Anhalt dafür, dass – wie der Kläger meint – der Verhinderungsfall von den Richtern „ausgenutzt“ wurde.
25Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 146 Abs. 2, 152 Abs. 1 VwGO).
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Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Kosten des Verfahrens hat der Antragsteller zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 5.000,-- EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Der Antragsteller begehrt im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes die Aufhebung einer ihm gegenüber als Kontaktperson der Kategorie I angeordneten häuslichen Quarantäne nach der Allgemeinverfügung „Quarantäne von Kontaktpersonen der Kategorie I und von Verdachtspersonen, Isolation von positiv auf das Corona Virus getesteten Personen“ (AV Isolation) des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege (im Folgenden: StMGP) vom 6.11.2020 (Az. GZ6a-G80000-2020/122-684, BayMBl. 2020 Nr. 631 vom 6.11.2020).
Der Antragsteller, der unstreitig eine Kontaktperson der Kategorie I im Sinne der Nr. 1.1 AV Isolation ist, erhielt am 5.11.2020 vom Gesundheitsamt A. die telefonische Mitteilung, dass er sich bis zum 13.11.2020 in Isolation zu begeben habe, da er am 30.11.2020 letztmals Kontakt zu einer positiv auf SARS-CoV-2 getesteten Person gehabt habe.
Am 10.11.2020 stellte der Antragsteller einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes. Bereits beim Telefongespräch mit dem Gesundheitsamt habe der Antragsteller darauf hingewiesen, dass er bereits mit dem Virus infiziert gewesen sei, was er durch einen positiven Antikörper-Test nachweisen könne. Trotzdem sei die Pflicht zur häuslichen Quarantäne ausgesprochen worden. Einen schriftlichen Bescheid darüber habe er nicht erhalten. Nach dem Robert Koch-Institut (RKI) sei eine Quarantäne nicht erforderlich, falls die Kontaktperson früher bereits selbst ein laborbestätigter Fall gewesen sei. Das RKI impliziere damit eine Immunität nach einer Infektion. Aufgrund der angespannten Test-Situation im März habe der Antragsteller trotz der bei ihm aufgetretenen Symptome (Gliederschmerzen, Fieber, Geruchsverlust) keinen Coronatest machen können. Die Eltern des Antragstellers seien jedoch eine Woche nach Auftreten der Symptome beim Antragsteller positiv getestet worden. Der Antragsteller habe sich am 25.8.2020 seine durchgestandene Infektion mit einem Antikörper-Test bestätigen lassen.
Der Antragsteller beantragt sinngemäß,
den Antragsgegner zu verpflichten, die ihm gegenüber angeordnete Quarantäne unverzüglich aufzuheben.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Mit Schreiben vom 11.11.2020 hat das Landratsamt A. auf den Antrag erwidert. Es bezieht sich vollumfänglich auf die Ausführungen des StMGP, das sich für den Antragsgegner zum Antrag geäußert hat. Der Antrag sei schon unzulässig. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung sei nur möglich, wenn sowohl ein Anordnungsgrund (Eilbedürftigkeit) als auch ein Anordnungsanspruch geltend gemacht seien. Dies setze voraus, dass der Antragsteller plausibel und schlüssig darlege, dass ihm der geltend gemachte Anordnungsgrund und -anspruch zustehen könne. Daran fehle es im Hinblick auf den Anordnungsanspruch. Die AV Isolation sehe für die vom Kläger geltend gemachte Fallkonstellation kein Quarantäneende vor, weshalb ein Anordnungsanspruch von vorneherein ausscheide. Ferner sei zu betonen, dass derzeit noch keine sicheren Aussagen zu einer etwaigen Immunität nach einer COVID-19-Erkrankung getroffen werden könnten. Es bestehe allenfalls eine gewisse Chance, dass genesene Corona-Patienten eine zumindest vorübergehende Immunität entwickeln würden. Wie lange diese anhalte und wie ausgeprägt sie sei, könne zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sicher vorhergesagt werden. Hier seien noch Langzeitstudien erforderlich. Das StMGP verweist insoweit auf den Steckbrief zum Corona Virus, der vom Robert Koch-Institut (RKI) im Internet veröffentlicht ist. Ferner stehe noch nicht fest, ob Personen, die sich erneut infiziert haben, das Virus gegebenenfalls (unabhängig von einer eigenen Immunität) auf andere Personen übertragen können.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und auf die gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag ist nicht begründet.
Vorab ist festzustellen, dass das Gericht auf die zum Zeitpunkt seiner Entscheidung maßgebliche Sach- und Rechtslage abstellt, weshalb der Sachverhalt anhand der AV Isolation vom 6.11.2020 zu beurteilen ist, die nach deren Nr. 8 am 7.11.2020 in Kraft getreten ist. Zwar galt zum Zeitpunkt, zu dem das Gesundheitsamt A. dem Antragsteller mitgeteilt hat, dass für ihn eine Quarantäneverpflichtung bestehe, weil er Kontaktperson der Kategorie I sei, noch die Allgemeinverfügung des StMGP „Isolation von Kontaktpersonen der Kategorie I, von Verdachtspersonen und von positiv auf das Coronavirus getesteten Personen“ vom 18.8.2020 (Az. GZ6a-G80000-2020/272, BayMBl. 2020 Nr. 631, verlängert durch Allgemeinverfügung vom 29.9.2020, Az. G5ASz-G8000-2020/122-622, BayMBl. 2020 Nr. 555), die im Übrigen bei den für den Antragsteller maßgeblichen Anordnungen keinen von der jetzt geltenden AV Isolation abweichenden Regelungsinhalt aufwies. Da das vorläufige Rechtsschutzverfahren jedoch der Sicherung des Rechtsschutzes in der Hauptsache dient, muss sich der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nach dem Hauptsacheverfahren richten (so auch Puttler, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 80 Rn. 162; Schoch, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, 37. EL Juli 2019, § 80 Rn. 419). Der maßgebliche Zeitpunkt der Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines angefochtenen Verwaltungsakts richtet sich nach dem jeweiligen materiellen Recht. Bei der Allgemeinverfügung vom 18.8.2020 handelt es sich um einen Verwaltungsakt (vgl. Art. 35 Satz 2 BayVwVfG), der für einen bestimmten Zeitraum, und zwar bis zum Ablauf des 14. Tags nach dem vom Gesundheitsamt mitgeteilten letzten Kontakt mit einem bestätigten COVID-19-Fall (vgl. Nr. 2.1.1 der Allgemeinverfügung vom 18.8.2020), Geltung beansprucht. Somit liegt ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung vor, weshalb zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Anordnung die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. Entscheidung des Tatsachengerichts maßgeblich ist (OVG SH, B.v. 2.4.2020 - 3 MB 8/20 - juris, Rn. 28; BVerwG, U.v. 27.01.1993 -11 C 35.92 - juris, Rn, 16 = NJW 1993, 1729, 1730; BayVGH, B.v. 30.03.2020 - 20 CS 20.611 - juris, Schoch, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, 37. EL Juli 2019, § 80 Rn. 414).
1. Der Antrag ist zulässig.
a) Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist statthaft, und zwar in Form eines Antrags auf Erlass einer Regelungsanordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO. Danach sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint.
Unzulässig ist eine einstweilige Anordnung allerdings nach § 123 Abs. 5 VwGO, wenn in der Hauptsache eine Anfechtungsklage statthaft ist. In derartigen Fällen ist vorläufiger Rechtsschutz ausschließlich nach den §§ 80 Abs. 5, 80a VwGO zu beantragen.
Im vorliegenden Fall ergibt sich die Verpflichtung des Antragstellers zur Isolation unmittelbar aus Nummer 2.1.1 der AV Isolation, ohne dass es eines weiteren Verwaltungsakts durch die Kreisverwaltungsbehörde bedurfte (VG Regensburg, B. v. 3.9.2020 - RN 14 S 20.1917 - juris; VG Würzburg, B. v. 18.9.2020 - W 8 S 20.1326 - juris). Insbesondere ist die telefonische Mitteilung vom 5.11.2020 durch das Gesundheitsamt A., wonach sich der Antragsteller in Quarantäne zu begeben habe, kein gesondert anfechtbarer Verwaltungsakt im Sinne des Art. 35 Satz 1 BayVwVfG, da es an einer Regelungswirkung fehlt.
Nach Nr. 2.1.1 der AV Isolation müssen sich Kontaktpersonen der Kategorie I unverzüglich nach der Mitteilung des Gesundheitsamtes bis zum Ablauf des 14. Tags nach dem vom Gesundheitsamt mitgeteilten letzten Kontakt mit einem bestätigten COVID-19-Fall in Quarantäne begeben, sofern keine anderweitige Anordnung des Gesundheitsamtes erfolgt. Dementsprechend kann gegen diese Anordnung, die kraft Gesetzes sofort vollziehbar ist (vgl. §§ 28 Abs. 3, 16 Abs. 8I IfSG), Rechtsschutz grundsätzlich nur nach § 80 Abs. 5 VwGO erlangt werden.
Dadurch kann der Antragsteller jedoch sein Rechtschutzziel nicht erreichen. Wie sich seiner Antragsschrift entnehmen lässt, wendet sich der Antragsteller nämlich nicht gegen die grundsätzlich bestehende Pflicht zur Isolation von Kontaktpersonen der Kategorie I, sondern er ist der Auffassung, dass in seiner Person besondere Umstände gegeben sind, die ein Abweichen von der Regelung in Nr. 2.1.1 AV Isolation rechtfertigen. Da die Allgemeinverfügung selbst keine Ausnahmetatbestände enthält, die zur Aufhebung der Isolation führen, kann dieses Ziel nur dadurch erreicht werden, dass das nach Nr. 2.1.1 AV Isolation zuständige Gesundheitsamt eine „anderweitige Anordnung“ trifft, was nach Nr. 2.1.1 Satz 1 AV Isolation grundsätzlich möglich ist. Diese Ausnahmeregelung müsste der Antragsteller in der Hauptsache mithilfe einer Verpflichtungsklage erstreiten, weshalb im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO statthaft ist.
b) Der Antragsteller ist darüber hinaus antragsbefugt. Diesbezüglich ist erforderlich, dass der Antragsteller sowohl einen Anordnungsgrund als auch einen Anordnungsanspruch geltend macht. Nach dem Vorbringen des Antragstellers muss demzufolge zumindest die Möglichkeit bestehen, dass ein Anordnungsgrund sowie ein Anordnungsanspruch vorhanden sind.
Im Hinblick auf den Anordnungsgrund (Eilbedürftigkeit) ist dies unproblematisch. Aufgrund der mit der Isolation verbundenen Grundrechtseingriffe versteht es sich von selbst, dass der Antragsteller ein berechtigtes Interesse daran hat, dass die Isolation schnellstmöglich beendet wird.
Aber auch im Hinblick auf den Anordnungsanspruch ist die Antragsbefugnis nicht von der Hand zu weisen. Wie der Antragsteller in seiner Antragsschrift zutreffend darlegt, weist das Vorhandensein von Antikörpern nämlich grundsätzlich darauf hin, dass die betreffende Person bereits einmal mit SARS-CoV-2 infiziert war. Eine durchgemachte Infektion lässt wiederum grundsätzlich vermuten, dass eine Immunität besteht, weshalb eine erneute Ansteckung und damit eine Weiterverbreitung des Virus durch die betreffende Person nicht mehr möglich sein könnte. Dies zugrunde gelegt könnte dann die Anordnung der Quarantäne nicht mehr erforderlich sein, sodass die Voraussetzungen für eine „anderweitige Anordnung des Gesundheitsamtes“ vorliegen könnten. Diese Möglichkeit genügt für die Geltendmachung eines Anordnungsanspruchs.
2. Der Antrag ist jedoch nicht begründet.
a) Der Antragsteller hat jedenfalls einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Nach der im Eilrechtsschutzverfahren gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Überprüfung der Sach- und Rechtslage sind die Voraussetzungen für die Erteilung einer Ausnahme durch das Gesundheitsamt nicht gegeben. Insoweit ist vorauszuschicken, dass eine Aufhebung der Quarantäne nur dann möglich wäre, wenn gesichert feststeht, dass die unter Isolation stehende Person andere nicht mit dem Coronavirus anstecken kann. Nur dann ist die durch die Isolation bezweckte Schutzmaßnahme nach § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG nicht mehr erforderlich.
Das Gericht hat zwar gewisse Bedenken im Hinblick auf die Vereinbarkeit der Zuständigkeitsregelung in Nr. 2.1.1 AV Isolation mit höherrangigem Recht. Nach der genannten Regelung besteht nämlich die Quarantäneverpflichtung, sofern keine anderweitige Anordnung des Gesundheitsamtes erfolgt. Im vorliegenden Fall besteht jedoch die Besonderheit, dass der Antragsteller in der Stadt A. lebt, die vom Gesundheitsamt des Landratsamts nur fachlich unterstützt wird. Anordnungsbefugnisse hat das staatliche Gesundheitsamt im Zuständigkeitsbereich der Stadt A. grundsätzlich nicht. Dies kommt in § 65 Satz 1 ZustV zum Ausdruck, wonach die Kreisverwaltungsbehörden für den Vollzug des Infektionsschutzgesetzes zuständig sind, im vorliegenden Fall also die Stadt A. und nicht das Landratsamt. Deshalb stellt sich die Frage, ob die an sich eindeutige Zuständigkeitsregelung in Nr. 2.2.1 AV Isolation nicht dahingehend gesetzeskonform auszulegen ist, dass der Antrag auf Aufhebung der Quarantäne und somit auch der Eilrechtsschutzantrag nicht gegen den Freistaat Bayern als Rechtsträger des Gesundheitsamts zu richten gewesen wäre, sondern gegen die Stadt A., die sich dann aber jedenfalls in fachlicher Hinsicht auf die Einschätzung des Gesundheitsamtes stützen müsste. Im vorliegenden Eilrechtsschutzverfahren kann und muss diese Frage jedoch im Interesse der Gewährung effektiven Rechtsschutzes (vgl. Art. 19 Abs. 4 GG) dahinstehen; denn eine Einbeziehung der Stadt A. in das Verfahren würde dieses zum jetzigen Zeitpunkt verzögern, was im Hinblick darauf, dass die Quarantäneverpflichtung des Klägers bereits mit Ablauf des 13.11.2020 endet, nicht vertretbar erscheint. Dies gilt zumal deshalb, weil nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Überprüfung der Sach- und Rechtslage jedenfalls kein Anspruch auf Aufhebung der Quarantäne besteht, und zwar unabhängig davon, von welchem Rechtsträger diese anzuordnen wäre. Für den auf Antragsgegnerseite möglicherweise beteiligten falschen Rechtsträger entstehen deshalb jedenfalls keine negativen kostenrechtlichen Auswirkungen.
Der Antragsteller ist unstreitig Kontaktperson der Kategorie I, da ihm vom Gesundheitsamt mitgeteilt wurde, dass er aufgrund eines engen Kontakts zu einem bestätigten Fall von COVID-19 nach den jeweils geltenden Kriterien des Robert Koch-Instituts (vgl. Nr. 1.1 AV Isolation) zu der genannten Kategorie gehört. Deshalb musste er sich nach Nr. 2.1.1 unverzüglich nach der Mitteilung des Gesundheitsamtes in Quarantäne begeben. Diese dauert grundsätzlich bis zum Ablauf des 14. Tags nach dem vom Gesundheitsamt mitgeteilten letzten Kontakt, vorliegend also bis zum 13.11.2020. Die AV Isolation selbst sieht für Kontaktpersonen der Kategorie I keine Möglichkeit einer vorzeitigen Beendigung der Quarantäne - etwa wegen eines negativen Ergebnisses eines Coronatests - vor, weshalb der Antragsteller grundsätzlich bis zum Ende der Isolation in Quarantäne bleiben muss.
Von der Quarantäneverpflichtung kann auch im Einzelfall für den Antragsteller nicht deshalb abgewichen werden, weil ein Antikörpertest positiv war.
Nach derzeitigem Kenntnisstand lässt ein serologischer Nachweis SARS-CoV-2-spezifischer Antikörper keine eindeutige Aussage zur Infektiosität oder zum Immunstatus zu. Bisher gibt es keine belastbaren Daten, ob ein Antikörper-Nachweis mit sicherer Immunität gleichzusetzen ist und wie lange eine Immunität bestehen würde. Anhand eines positiven SARS-CoV-2-IgG-Befundes mag zwar eine stattgefundene Infektion anzunehmen sein, dies bedeutet allerdings nicht zwangsweise, dass damit auch ein Infektionsschutz (Immunität) verbunden ist. Die für diese Aussage notwendigen Langzeitstudien sind aufgrund der Kürze der Existenz des Virus schlicht nicht vorhanden. Das Robert Koch-Institut, dem der Gesetzgeber im Bereich des Infektionsschutzes mit § 4 IfSG besonderes Gewicht eingeräumt hat (vgl. BVerfG, B.v. 10.4.2020 - 1 BvQ 28/20 - juris, Rn. 13; BayVerfGH, E.v. 26.3.2020 - Vf. 6-VII-20 - juris, Rn. 1; BayVGH, B.v. 13.8.2020 - 20 CS 20.1821 - juris, Rn. 24) führt dazu in seinem „SARS-CoV-2 Steckbrief zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19), Stand: 30.10.2020 (https://www.rki.de/DE/ Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html; jsessionid=C10D6933B61EE45 FCF93D06BE879CD31.internet061#doc13776792bod-Text17) unter Nr. 17 „Immunität“ Folgendes aus:
„Eine Infektion mit SARS-CoV-2 induziert die Bildung unterschiedlicher Antikörperklassen, die im Median in der zweiten Woche nach Symptombeginn nachweisbar sind (217). Auch neutralisierende Antikörper sind in der Regel am Ende der zweiten Woche nach Symptombeginn nachweisbar (138, 218-225), jedoch konnten in zwei Studien bei 6% (224) bzw. 41% der Probanden (226) keine neutralisierenden Antikörper nachgewiesen werden. Zum jetzigen Zeitpunkt ist ungewiß, wie regelhaft, robust und dauerhaft eine Immunität aufgebaut wird. Erfahrungen mit anderen Coronavirus-Infektionen (SARS und MERS) deuten darauf hin, dass eine Immunität bis zu drei Jahre anhalten kann (227-230). Um genauere Aussagen zur SARS-CoV-2-Immunität treffen zu können, sind Langzeitstudien erforderlich (231).
In einigen Studien ist eine T-Zell-Kreuzreaktivität endemischer Coronaviren und SARS-CoV-2 berichtet worden. Diese Kreuzreaktivität lässt eine Hintergrundimmunität vermuten, die möglicherweise Schutz vor einer schweren COVID-19-Erkrankung bietet. Bei Untersuchungen zur zellulären SARS-CoV-1-Immunität wurden Virusspezifische T-Zellen 6 bzw. 11 Jahre nach Infektion bei Genesenen nachgewiesen, jedoch nicht bei Nichtinfizierten (232, 233). Bei SARS-CoV-2 hingegen waren auch bei ca. einem Drittel der Probanden, die bisher keine Infektion mit SARS-CoV-2 hatten, reaktive CD4 T-Zellen gegen SARS-CoV-2 vorhanden (234). Bei Erkrankten wurde eine T-Zell-Reaktivität gegen das Spike-Protein (235, 236) sowie gegen weitere SARS-CoV-2-Proteine festgestellt (237, 238), die mit dem Nachweis neutralisierender Antikörper korrelierten (239).
T-Zellen konnten auch bei Infizierten nachgewiesen werden, die keine Antikörpertiter aufwiesen und asymptomatisch waren (240). Somit könnten T-Zellen auch bei fehlendem Antikörpernachweis Schutz bieten. Offen ist, ob diese Zellen auch vor einer Reinfektion schützen. Nach derzeitigem Wissenstand scheint es sich bei Reinfektionen um seltene Ereignisse zu handeln. Beim Menschen sind bisher nur sehr wenige Fälle von Reinfektionen bekannt, bei denen Veränderungen im viralen Genom festgestellt wurden (241-247). Dies spricht - in Abgrenzung zu einer längeren PCR-Positivität nach Infektionfür eine Reinfektion. Allerdings existiert bislang keine Reinfektions-Definition, in der Mindestunterschiede einer phylogenetischen Analyse sowie das Intervall zwischen den Erkrankungsepisoden festgelegt sind und der sowohl klinische als auch epidemiologische Daten zugrunde liegen. Es ist unklar, ob eine Reinfektion mit einer Transmission einhergehen kann. In den bisher beschriebenen Fällen konnte keine Transmission beobachtet weren. Weiterhin wurde bei schweren COVID-19-Verläufen mit Todesfolge eine Störung des B-Zell-Reifungsprozesses beschrieben (248). Es ist nicht bekannt, ob diese Störung der B-Zell-Reifung auch bei milderen Verläufen auftritt. Sowohl beim Menschen als auch im Tiermodell gibt es Hinweise, dass eine geschlechtsspezifische Immunantwort die Schwere der Erkrankung beeinflusst (249, 250).“
Außerdem können nach einer vom Gericht im Internet durchgeführten Recherche bei Antikörpertests sogenannte falsch-positive Resultate vorkommen. Bei der momentanen Verbreitung der Erkrankung in der Bevölkerung ist von einer nicht unerheblichen Fehlerquote auszugehen, die ungefähr bei 2 von 10 Testergebnissen zu einem falsch positiven Testergebnis führt (Der Laborverbund Dr. K. und Kollegen, Antikörpertest zum Nachweis des Kontakts mit Coronavirus SARS-CoV-2, https://ladr.de/sars-cov-2-antikoerper-test sowie Nadine Eckert, COVID-19: Was Antikörper aussagen können, https://www.aerzteblatt.de/archiv/214379/COVID-19-Was-Antikoerper-aussagen-koennen).
Aufgrund dieser unsicheren wissenschaftlichen Erkenntnisse kann jedenfalls nicht mit der hinreichenden Sicherheit davon ausgegangen werden, dass der Antragsteller allein aufgrund eines positiven Antikörpertests das Virus nicht mehr verbreiten kann. Dementsprechend brauchte das Gericht auch der Frage nicht näher zu treten, ob der Antragsteller einen entsprechenden aussagekräftigen Antikörpertest überhaupt beim Gesundheitsamt vorgelegt und eine Aufhebung der Quarantäne dort beantragt hat; denn es besteht jedenfalls kein Anspruch auf Aufhebung der Isolation vor deren regulärem Ablauf.
b) Die streitgegenständliche Allgemeinverfügung beruht auch auf einer ausreichenden Rechtsgrundlage, weshalb sie nicht gegen höherrangiges Recht verstößt. Sie findet bei summarischer Prüfung in § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG eine ausreichende Rechtsgrundlage.
Es bestehen keine Zweifel daran, dass es sich bei der Infektion mit SARS-CoV-2, die zur Lungenkrankheit COVID-19 führen kann, um eine übertragbare Krankheit im Sinne des § 2 Nr. 3 IfSG handelt, sodass der Anwendungsbereich des 5. Abschnitts des Infektionsschutzgesetzes, der sich mit der Bekämpfung übertragbarer Krankheiten befasst, eröffnet ist.
Der Antragsteller ist als Kontaktperson der Kategorie I Ansteckungsverdächtiger im Sinne des § 2 Nr. 7 IfSG und gehört damit zum Kreis der von § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG erfassten Personen. Danach trifft die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in den §§ 29 bis 31 IfSG genannten, wenn Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt werden, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist; sie kann insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten.
Es handelt sich bei der Bestimmung des § 28 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 IfSG um eine Generalklausel, die die zuständigen Behörden zum Handeln verpflichtet. Nur hinsichtlich Art und Umfang der Bekämpfungsmaßnahmen - also dem „wie“ des Eingreifens - ist der Behörde ein Ermessen eingeräumt. Die Behörde muss ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Generalklausel im Interesse des effektiven Schutzes des Lebens und der Gesundheit der Bevölkerung unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ausüben. Daran bestehen vorliegend keine Zweifel.
Bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der verfügten Maßnahmen ist der im allgemeinen Polizei- und Sicherheitsrecht geltende Grundsatz heranzuziehen, dass an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist.
Da nach wie vor weder ein Impfstoff noch eine wirksame Therapie gegen eine COVID-19-Erkrankung vorhanden sind, besteht insbesondere bei älteren Menschen und bei Menschen mit Vorerkrankungen ein erhöhtes Risiko eines schweren Verlaufs der Erkrankung mit erheblichen Folgen für Leben und Gesundheit der Bevölkerung und einer Überforderung des Gesundheitssystems. Nach der Risikobewertung des Robert Koch-Instituts handelt es sich weltweit und in Deutschland nach wie vor um eine sehr dynamische und ernst zu nehmende Situation, die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland ist nach wie vor insgesamt als hoch, für Risikogruppen als sehr hoch einzuschätzen. Angesichts teilweise schwerer und lebensbedrohlicher Krankheitsverläufe muss es Ziel sein, durch geeignete Maßnahmen eine Ausbreitung der Infektion mit SARS-CoV-2 einzudämmen und so weit wie möglich zeitlich zu verlangsamen. Nur so können die vorgenannten Risikogruppen ausreichend geschützt werden. Die häusliche Isolation von Kontaktpersonen ist dabei aus infektionsmedizinischer Sicht eine entscheidende Maßnahme zur Unterbrechung möglicher Infektionsketten. Diese Maßnahme ist daher nicht zu beanstanden.
Es ist voraussichtlich auch nicht zu beanstanden, dass die AV Isolation für Kontaktpersonen der Kategorie I keine Möglichkeit einer vorzeitigen Beendigung der Quarantäne wegen eines negativen Testergebnisses vorsieht. Nach dem derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnisstand kann die Inkubationszeit bis zu 14 Tage betragen. Es ist davon auszugehen, dass bis zum 14. Tag nach dem letzten direkten Kontakt noch eine (geringe) Wahrscheinlichkeit für eine Infektion besteht. Auch eine Person, die in den Tagen davor noch negativ auf das Virus getestet wurde, kann also bis zum 14. Tag noch eine Infektion entwickeln, so dass ein Test erst zu einem späteren Zeitpunkt positiv anschlägt. Daher müssen alle Personen, die in den letzten 14 Tagen einen engen Kontakt im Sinne der Empfehlungen des Robert Koch-Instituts mit einem COVID-19-Fall hatten, abgesondert werden. Erst nach dem Ablauf von 14 Tagen ist sichergestellt, dass sich diese Person nicht bei der ursprünglich positiv getesteten Person angesteckt hat. Bis zu diesem Zeitpunkt ist die Quarantäne daher zwingend. Ein zu einem früheren Zeitpunkt gewonnenes negatives Testergebnis ist lediglich eine Momentaufnahme, schließt aber noch nicht mit der erforderlichen Gewissheit aus, dass sich die Kontaktperson der Kategorie I nicht doch angesteckt hat. Es ist daher nicht zu beanstanden, dass auch eine Kontaktperson der Kategorie I mit einem negativen Testergebnis die vollen 14 Tage in Quarantäne verbleiben muss. Nur dann ist eine Verbreitung des Virus gesichert ausgeschlossen.
(vgl. zu den dargestellten wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Coronavirus: RKI„SARS-CoV-2 Steckbrief zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19), Stand: 30.10.2020, https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html; jsessionid=C10D6933B61EE45FCF93D06BE879CD31.internet061#doc13776792bod-Text17).
Die durch die Quarantäneverpflichtung zwangsweise eintretenden Einschränkungen der Grundrechte des Antragstellers sind voraussichtlich auch in Abwägung mit den Grundrechten der Allgemeinheit angemessen. Das Corona-Virus stellt eine ernste Bedrohung für Leben und Gesundheit einzelner, insbesondere älterer und kranker Menschen, sowie auch für das Gesundheitssystem und die medizinische Versorgung als Ganzes dar. In der Abwägung der privaten Interessen des Antragstellers mit den Interessen der Allgemeinheit an einer effektiven Eindämmung des Virus ist den Interessen der Allgemeinheit im konkreten Fall der Vorrang einzuräumen.
Der Antrag war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (abrufbar auf der Homepage des BVerwG). Das Gericht hat vorliegend von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, wegen der Vorwegnahme der Hauptsache den Streitwert bis zur Höhe des für das Hauptsacheverfahren anzunehmenden Streitwerts anzuheben.
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Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 2.500,-- Euro festgesetzt.
Gründe
I.
Frau … …l zeigte am 31.10.2020 bei der Stadt P. für den 11.11.2020 in der Zeit von 16.30 Uhr bis circa 21.00 Uhr einen „Friedensumzug zugunsten St. M. - gegen Kinderarmut und für die freie Selbstbestimmung“ - an. Als Aufzugsstrecke nannte sie: „K. über ZOB, über H1. straße, B. straße, L2.platz, L3. straße, R-markt, T-, S.weg, Zufahrt D.platz, D.platz“ und als Versammlungsort einer Abschlusskundgebung den D.platz in P. Als Kundgebungsmittel wurden Laternen, Megaphone, Musikanlage, Pferd, Trommeln, Trillerpfeifen und zweimal Transparente angegeben.
Am 10.11.2020 erließ die Antragsgegnerin folgenden an Herrn … …s gerichteten Bescheid:
1. Der Eingang der Anzeige vom 2.11.2020 der Versammlung von Frau … …ll in P. (K-garten) am 11.11.2020 zum Thema „Friedensumzug zugunsten Sankt M. - gegen Kinderarmut und für die freie Selbstbestimmung“ wird bestätigt.
2. Veranstalter ist Herr … …s, H2. Straße …, … …, Tel. …, E-Mail: … Versammlungsleiter ist Herr … …r, H2.straße …, … …n.
3. Es wurden 50 Teilnehmer angemeldet. Die maximale Teilnehmerzahl ist auf höchstens 75 Teilnehmer beschränkt.
4. Der Versammlungsort ist auf den gelb markierten Bereich im K-garten, exklusiv der ...-Promenade, in der Anlage zur Allgemeinverfügung der Stadt P. beschränkt.
5. Hinweis
Es wird darauf hingewiesen, dass gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 der 8. BayIfSMV zwischen allen Teilnehmern ein Mindestabstand von 1,5 m gewahrt und jeder Körperkontakt mit anderen Versammlungsteilnehmern oder Dritten vermieden werden muss. Wird dagegen vorsätzlich oder fahrlässig verstoßen, stellt dies eine Ordnungswidrigkeit dar, § 27 Nr. 4 der 8. BayIfSMV, § 73 Abs. 1a Nr. 24 IfSG. Dies gilt nicht für enge Familienangehörige und Angehörige eines gemeinsamen Hausstandes (vgl. Vollzugshinweise zum Versammlungsrecht in Zeiten der Corona-Pandemie des Bayerischen Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration vom 5.11.2020, Az. E4-1204-1-58).
…
10. Mund-Nasen-Bedeckung und Ausnahmen
10.1. Das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung für alle Teilnehmer, Versammlungsleitung und Ordner wird angeordnet.
10.2. Ausgenommen sind die Versammlungsleitung während der Durchsagen, Redner während der Redebeiträge und Kinder bis zum sechsten Geburtstag.
10.3. Ausgenommen sind auch Personen denen das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung aus gesundheitlichen Gründen nicht zumutbar ist, wenn diese hierüber ein ärztliches Attest mit der konkreten Diagnose des Krankheitsbildes vorweisen können und ihre Identität mit einem Personalausweis oder einem anderen amtlichen Lichtbildausweis belegen können.
10.4. Die unter 10.3. genannten Personen haben sich vor Beginn der Versammlung bei der Polizei zu melden und ihre Befreiung glaubhaft zu machen.
10.5. Entfällt die Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung auf Grundlage von Ziffer 10.3., wird für die jeweils Betroffenen das Tragen eines Visiers angeordnet. Die Verpflichtung zum Tragen eines Visiers entfällt nur dann, wenn das gemäß Ziff. 10.3. vorgelegte ärztliche Attest konkrete Angaben darüber enthält, weshalb das Tragen eines Visiers aus gesundheitlichen Gründen für den jeweils Betroffenen nicht zumutbar ist.
10.6. Die Versammlungsleitung hat die Teilnehmer und Ordner zu Beginn der Versammlung auf die Verpflichtung hinzuweisen.
11. …
Zur Begründung führte die Antragsgegnerin aus, dass gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Achte Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (8. BayIfSMV) die zuständigen Behörden, soweit dies im Einzelfall erforderlich sei, durch entsprechende Beschränkungen nach Art. 15 Bayerisches Versammlungsgesetz (BayVersG) sicherzustellen hätten, dass die Bestimmungen nach § 7 Abs. 1 Satz 1 8. BayIfSMV eingehalten werden und die von der Versammlung ausgehenden Infektionsgefahren auch im Übrigen auf ein infektionsschutzrechtlich vertretbares Maß beschränkt blieben. Die weiteren Regelungen im Auflagenbescheid seien angemessen. Die Auflagen, die dem Schutz von Leben und Gesundheit von Versammlungsteilnehmern und Dritten dienten sowie eine damit verbundene Überlastung der medizinischen Behandlungskapazitäten verhindern sollten, seien mit der Beschränkung der Versammlungsfreiheit abzuwägen. Hierbei sei die aktuelle Situation der steigenden Infektionszahlen sowohl in ganz Deutschland als auch in P. besonders berücksichtigt worden. Die Infektionszahlen seien in den letzten Wochen in P. rasant gestiegen. Der 7-Tage-Inzidenzwert habe am 9.11.2020 244,3 und am 10.11.2020 232,9 betragen. Die verfügten Auflagen seien geeignet, erforderlich und verhältnismäßig, um der konkreten Gefahr einer weiteren und nicht nachvollziehbaren Ausbreitung des Virus zu begegnen.
Zu Nr. 3 führte die Antragsgegnerin aus, dass unter Berücksichtigung der Infektionsgefahren bei Einhaltung der vorgeschriebenen Schutzmaßnahmen und Auflagen nach diesem Bescheid eine Überschreitung bis zum 1,5-fachen der angemeldeten Teilnehmerzahl vertretbar sei. Soweit diese Anzahl jedoch überschritten werde, habe die Versammlungsleitung die Versammlung jedoch in Absprache mit der Polizei zu unterbrechen, bis die Höchstteilnehmerzahl wieder hergestellt sei. Falls dies nicht gelinge, habe die Versammlungsleitung die Versammlung in Absprache mit der Polizei zu schließen.
Zu Nr. 4 wurde ausgeführt, dass die Versammlung als ortsfeste Versammlung festgelegt werde. Bei einer solchen ortsfesten Versammlung könnten sowohl der Versammlungsleiter als auch die eingesetzten Ordner sowie Polizeikräfte die maximale Personenanzahl und insbesondere die Einhaltung des Mindestabstands kontrollieren und auch durchsetzen, was bei einer dynamischen Versammlung nur äußerst schwer möglich wäre. Der Versammlungsbehörde lägen auch Erkenntnisse vor, das seitens von Sympathisanten der Veranstalter dazu aufgerufen worden sei, bei der sich fortbewegenden Versammlung die Versammlungsauflagen zu unterlaufen, indem sich Teilnehmer unkontrolliert in den Aufzug einfügten. Ein vergleichbares Verhalten sei bereits am 19.9.2020 beobachtet worden, als die Versammlungsleiterin, Frau … …l, die angemeldete Versammlung in P. K-garten 22 Minuten vor deren Beginn abgesagt und stattdessen eine nichtöffentliche Versammlung auf einem Campingplatz in E. am See durchgeführt habe. Auch wenn der Veranstalter nicht ausdrücklich dazu aufgerufen habe, die Versammlungsauflagen zu unterlaufen, sei er aufgrund der Durchführung der Versammlung Zweckveranlasser. Die Gefahr der Unterlaufung der festgelegten Beschränkungen könne am effektivsten durch die Untersagung des Aufzugs verhindert werden. Mildere Mittel seien nicht ersichtlich. Sollte der geplante Aufzug durch die stark frequentierten Fußgängerbereiche durchgeführt werden, könne der angekündigte unkontrollierte Anschluss einer Vielzahl von Einzelpersonen nicht verhindert werden.
Zu Nr. 10 wurde ausgeführt, dass die Auflage bezüglich der Verpflichtung zum Gebrauch einer Mund-Nasen-Bedeckung zum Schutz von Leib und Leben einer Vielzahl von Menschen (Versammlungsteilnehmer, Dritte und die die Versammlung betreuenden Polizeibeamten) notwendig sei. Hierbei sei sowohl das derzeit auch in P. allgemein erhöhte Infektionsrisiko als auch das von den Versammlungsteilnehmern ausgehende spezielle Infektionsrisiko zu berücksichtigen. Die Erfahrungen aus früheren Versammlungen belegten, dass die Versammlungsteilnehmer regelmäßig die Mindestabstände unterschritten hätten. Von der Maskenpflicht befreit seien auch Personen, die belegen könnten, dass ihnen das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung aufgrund gesundheitlicher Gründe nicht möglich oder unzumutbar sei. Zum Beleg dessen sei jedoch ein ärztliches Attest vorzuweisen, das eine konkrete Diagnose des Krankheitsbildes enthalte. Eine nur pauschale Bescheinigung über die Befreiung von der Maskenpflicht sei nicht ausreichend. Der Einwand, dass die genaue Diagnose nicht verlangt werden dürfe, da diese unter die ärztliche Schweigepflicht falle, könne nicht berücksichtigt werden, da sich Ärzte nur strafbar machten, wenn sie unbefugt Patientendaten veröffentlichten. Hier erfolge dies jedoch aufgrund einer gesetzlichen Verpflichtung. Mit der Anforderung eines Attestes durch den Patienten werde der ausstellende Arzt von seiner Schweigepflicht entbunden. Der Patient bleibe Herr über seine personenbezogenen Daten. Zum effektiven Gesundheitsschutz der Bevölkerung, zur Eindämmung des Infektionsgeschehens sowie zum Schutz der Funktionsfähigkeit des Gesundheitswesens werde jedoch für solche Personen, die mittels eines ausreichenden Attests belegen könnten, aus gesundheitlichen Gründen von der Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung befreit zu sein, das Tragen eines Visiers angeordnet. Die vorgenannten öffentlichen Interessen überwögen das Einzelinteresse des Betroffenen, zumal ein Visier ausreichend Frischluftzufuhr ermögliche. Diese Verpflichtung gelte nur dann nicht, wenn das vorgelegte Attest konkrete Angaben darüber enthalte, weshalb das Tragen eines Visiers aus gesundheitlichen Gründen für den jeweils Betroffenen nicht zumutbar sei. Die Verpflichtung zur Vorlage eines Lichtbildausweises diene der Sicherstellung der Zuordnung des vorgelegten Attests zur bestimmten Person. Die Verpflichtung zur Glaubhaftmachung der Befreiung von der Maskenpflicht vor Beginn der Versammlung diene der Sicherstellung des Infektionsschutzes. Nur so könne sichergestellt werden, dass sich nicht Personen ohne ausreichenden Befreiungsgrund unter die Teilnehmer mischten und damit das Infektionsrisiko erhöhten. Gleichzeitig werde auch die Durchführung der Versammlung erleichtert, da eine Kontrolle während der Versammlung und dem damit einhergehenden Störungen vermieden werde.
Gegen diesen Bescheid hat der Antragsteller am 11.11.2020 beim Verwaltungsgericht um vorläufigen Rechtschutz nachgesucht. Am gleichen Tag hat er Klage gegen den Bescheid erhoben.
Er trägt vor, dass als Versammlungsleiter der Antragsteller angemeldet worden sei. Als stellvertretender Versammlungsleiter sei Herr … …r telefonisch durch den Antragsteller gegenüber Herrn …1 von der Stadt P. angemeldet worden. Das Telefonat sei am 10.10.2020 um circa 14:00 Uhr erfolgt.
Hinsichtlich der Teilnehmerbegrenzung trägt der Antragsteller vor, dass gemäß § 6 8. BayIfSMV vom 30. Oktober 2020 Zusammenkünfte von Glaubensgemeinschaften unter den Voraussetzungen der Nr. 1 bis 3 erlaubt seien. Vorliegend handle es sich um eine Zusammenkunft einer Glaubensgemeinschaft im Sinne des § 6 der 8. BayIfSMV. Insbesondere sei Sinn und Zweck der Veranstaltung der heutige St. M.tag. Eine Teilnehmerbeschränkung sei somit rechtswidrig. Im Übrigen ergebe sich auch nicht aus einem exponentiellen Infektionsgeschehen mit SARS-COV-2 oder einer sogenannten Inzidenzzahl eine Infektionsgefahr. Eine Gefahr leite sich insbesondere nicht aus der Statistik über positive PCR-Testergebnisse ab. Diese sei nicht mit Infektionen gleichzusetzen. Nach § 2 Nr. 2 IfSG sei die Infektion die Aufnahme eines Krankheitserregers und seine nachfolgende Entwicklung oder Vermehrung im menschlichen Organismus. Der letzte Teil der Definition werde durch PCR-Tests nicht belegt. Hierzu nimmt der Antragsteller Bezug auf das ...-Institut. Hinsichtlich Aufzugsverbot und Veranstaltungsort sei nicht ersichtlich, inwiefern sich aus der besonderen Versammlungsform eines Aufzugs eine gesteigerte Gefahr für irgendetwas ergeben solle. Solle man das dennoch annehmen, sei nicht ersichtlich, dass die bereits in der Coronaschutzverordnung vorgesehenen Maßnahmen eine solche Gefahr nicht hinreichend eindämmen würden. Der K-garten P. sei in keinster Weise beleuchtet. Laut Herrn …1 hätten sich zahlreiche Gegendemonstranten angemeldet. Im Sinne des Schutzes der Kinder, die sich überwiegend auf dieser Versammlung befinden würden, wurde als Veranstaltungsplatz der D.platz P. beantragt, welcher ausreichend beleuchtet sei. Zusätzlich werde beantragt einen St. M-umzug durch die Stadt P. durchführen zu können.
Zur Maskenpflicht führt der Antragsteller aus, dass § 2 Nr. 2 8. BayIfSMV keinerlei Anforderung an eine ärztliche Bescheinigung stelle. Insbesondere im Hinblick darauf, dass die Verordnung am 30.10.2020 geändert worden sei und auch dort keine Anforderungen an eine ärztliche Bescheinigung gestellt würden, sei dieser Punkt des Bescheides rechtswidrig und folglich aufzuheben. Des Weiteren sei die Bestimmung in Nr. 10.4. des Bescheides rechtswidrig, da es bei einer überschaubaren Teilnehmerzahl, wie vorliegend, der Polizei jederzeit möglich sei, Atteste auf deren Echtheit zu kontrollieren. Auch Nr. 10.5. des streitgegenständlichen Bescheids sei nicht rechtens. Personen, welche eine Befreiung von einer Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung glaubhaft machen könnten, seien von jeglicher Art einer Mund-Nasen-Bedeckung, deshalb auch von einem Visier befreit.
Der Antragsteller beantragt,
I. Nr. 2 des Bescheids teilweise insofern abzuändern, dass Versammlungsleiter der Antragsteller und nicht Herr … …r ist. Herr …r solle als vertretender Versammlungsleiter agieren.
II.
Nr. 3 des Bescheids vollumfänglich aufzuheben. Es handle sich hierbei um eine Zusammenkunft einer Glaubensgemeinschaft im Sinne des § 6 der 8. BayIfSG. Insbesondere sei Sinn und Zweck der Veranstaltung der heutige St. Martinstag.
III.
Nr. 4 des Bescheids vollumfänglich aufzuheben.
IV.
Zusätzlich einen St. M-umzug durch die Stadt P. (K-garten, ZOB P., H1. straße, L2.platz, L3. straße, D.platz) wie ursprünglich beantragt zu genehmigen. Es werde beantragt, als Kundgebungsort den D.platz zu genehmigen.
V.
Nr. 10 des Bescheids insoweit aufzuheben, als eine konkrete Diagnose des Krankheitsbildes aus dem Attest ersichtlich sein müsse.
VI.
Nr. 10.4. gänzlich aufzuheben.
VII.
Nr. 10.5. des Bescheids vollumfänglich aufzuheben,
VIII. die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 und Satz 2 VwGO anzuordnen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzuweisen.
Zur Begründung verweist sie auf den streitgegenständlichen Bescheid. Ergänzend trägt sie vor, dass der K-garten entgegen des Vortrags des Antragstellers beleuchtet sei. Dies erfolge zum einen über die Straßenbeleuchtung der um den K-garten laufenden Dr.-H. Straße und der Straße Kleiner E-platz sowie der ...-Promenade. Zudem seien teilweise in den Boden eingelassene Slots vorhanden. Zur Glaubhaftmachung wird ein Plan, dem die vorhandenen Beleuchtungskörper zu entnehmen seien, beigefügt.
Die privilegierten Bestimmungen für „Öffentlich zugängliche Gottesdienste in Kirchen, Synagogen und Moscheen sowie die Zusammenkünfte anderer Glaubensgemeinschaften“ in § 6 der 8. BayIfSMV setzten voraus, dass eine Glaubensgemeinschaft vorliege. Der Antragsteller habe mit keinem Wort dargelegt, um was für eine Glaubensgemeinschaft es sich vorliegend handeln könne. Insbesondere habe die vormalige Versammlungsleiterin die Veranstaltung mit dem Formular für Versammlungen angemeldet. Wäre es in Wahrheit um einen Gottesdienst oder eine vergleichbare Zusammenkunft gegangen, hätte die vormalige Veranstalterin dies entsprechend angegeben.
Für den Sachverhalt und das Vorbringen der Beteiligten im Übrigen wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte mit den eingereichten Schriftsätzen.
II.
Der auf bestimmte Anordnungen im Bescheid vom 11.11.2020 beschränkte Antrag (dazu 1.) ist teils unzulässig (dazu 2.), teils zulässig, aber unbegründet (dazu 3.).
1. Die Anträge des Antragstellers in Ziffern II bis IX seines Schriftsatzes vom 11.11.2020 legt das Gericht im Rahmen des § 88 VwGO dahingehend aus, dass der Antragsteller begehrt, die aufschiebende Wirkung hinsichtlich Nr. 3, 4, 10.3, 10.4 und 10.5 des streitgegenständlichen Bescheids anzuordnen, § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO. Soweit der Antragsteller in Ziffern IV und V seines Schriftsatzes vom 11.11.2020 wörtlich die Anträge, „einen Sankt M. Umzug durch die Stadt P. (K-garten, ZOB P., H1. straße, L2.platz, D.platz), wie ursprünglich beantragt, zu genehmigen“ (Ziffer IV) und „als Kundgebungsort den D.platz zu genehmigen“ (Ziffer V) stellt, legt das Gericht diese einheitlich im Zusammenhang mit dem in Ziffer III gestellten Antrag aus. Das Begehren des Antragstellers ist danach darauf gerichtet, die Veranstaltung an dem in der Anzeige vom 31.10.2020 angegebenen Versammlungsort bzw. an der darin angegebenen Aufzugsstrecke durchzuführen und insoweit nicht den örtlichen Beschränkungen in Ziffer 4 des Bescheids zu unterliegen. Dafür reicht es aus, die aufschiebende Wirkung hinsichtlich Ziffer 4 des Bescheids anzuordnen. Einer gesonderten Genehmigung bedarf es nicht.
2. Soweit der Antragsteller mit Ziffer I seines Antrags begehrt, anstelle des in der behördlichen Bestätigung der Versammlungsanzeige benannten Versammlungsleiters ihn selbst aufzuführen, ist der Antrag unzulässig. Als solcher nach § 80 Abs. 5 VwGO verstanden, ist er unstatthaft. Denn mit der Wiedergabe des aus ihrer Sicht benannten Versammlungsleiters hat die Antragsgegnerin keine Regelung im Sinne des Art. 35 Satz 1 BayVwVfG getroffen. Insbesondere hat sie nicht einen eigentlich vorgesehenen Versammlungsleiter im Wege des Verwaltungsakts nach Art. 13 Abs. 5 BayVersG abgelehnt. Vielmehr hat sie insoweit lediglich die ihr übermittelten Daten bestätigt. Dies ergibt sich unter anderem auch daraus, dass die Bestimmung des Versammlungsleiters dem Veranstalter und nicht der Behörde obliegt (Art. 3 Abs. 2, Art. 13 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 BayVersG). Die angegriffene Bestätigung stellt vor diesem Hintergrund keinen Verwaltungsakt dar (vgl. Dürig/Friedl in Dürig-Friedl/Enders, VersG, 1. Aufl. 2016, § 14 Rn. 23; Groscurth in Peter/Janz, Handbuch Versammlungsrecht, 2015, Kap. G Rn. 191). Entsprechend kommt ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO nicht in Betracht.
Der danach allein mögliche Rechtsschutz nach § 123 VwGO ist ebenfalls nicht eröffnet. Insoweit fehlt das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis. Mit diesem Zulässigkeitskriterium soll dem prozessökonomischen Gedanken Rechnung getragen werden, dass nur derjenige Anspruch auf eine gerichtliche Sachentscheidung hat, der ein rechtsschutzwürdiges Interesse verfolgt (Sodan in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 42 Rn. 335). Im Bereich von Verpflichtungsbegehren wird vor dem Hintergrund dieses Erfordernisses regelmäßig verlangt, dass sich der Betreffende zuerst an die zuständige Behörde wenden muss (Pietzcker in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand Juli 2019, § 42 Abs. 1 Rn. 96). Denn wenn diese bereit ist, dem Antrag stattzugeben, dann erübrigt sich gerichtlicher Rechtsschutz. Eine Inanspruchnahme der rechtsprechenden Gewalt ist daher nur erforderlich, wenn die Behörde auf den Antrag des Rechtsschutzsuchenden hin untätig geblieben ist oder nicht bereit war, ihm das Begehrte zu gewähren. Entsprechendes gilt auch im Bereich des einstweiligen Rechtsschutzes (OVG NW, B.v. 30.4.2001 - 13 B 566/01 - NVwZ 2001, 1427; VGH BW, B.v. 22.7.2004 - 6 S 19/04 - NVwZ-RR 2005, 714/715). Der Antragsteller hat nach wie vor die Möglichkeit, sich an die Antragsgegnerin zu wenden, um eine Änderung des Versammlungsleiters zu erreichen. Dass die Behörde dieses Ansinnen ablehnen würde, ist nicht erkennbar. Der Antragsteller muss deshalb vor der Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes diesen weniger aufwändigen Weg beschreiten.
3. Soweit der Antrag des Antragstellers zulässig ist, ist er unbegründet.
Gemäß § 80 Abs. 1 VwGO haben Widerspruch und Klage grundsätzlich aufschiebende Wirkung. Diese entfällt allerdings nach § 80 Abs. 2 VwGO dann, wenn dies gesetzlich vorgeschrieben ist. In diesen Fällen kann das Gericht nach § 80 Abs. 5 VwGO auf Antrag die aufschiebende Wirkung von Klage und Widerspruch anordnen. Das Gericht trifft insoweit eine eigene Ermessensentscheidung. Es hat dabei zwischen dem von der Behörde geltend gemachten Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit ihres Bescheids und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs abzuwägen. Bei dieser Abwägung sind vorrangig die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die gebotene summarische Prüfung, dass Rechtsbehelfe gegen den angefochtenen Bescheid keinen Erfolg versprechen, tritt das Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung regelmäßig hinter das Vollziehungsinteresse zurück und der Antrag ist unbegründet. Erweist sich die erhobene Klage hingegen bei summarischer Prüfung als zulässig und begründet, dann besteht kein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit des Bescheids und dem Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist stattzugeben. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens nicht ausreichend absehbar, muss das Gericht die widerstreitenden Interessen im Einzelnen abwägen.
Gemessen an diesen Maßstäben ist der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung abzulehnen, da sich die angegriffenen Auflagen bei der gebotenen summarischen Prüfung voraussichtlich als rechtmäßig erweisen wird bzw. eine Interessenabwägung zu Lasten des Antragstellers ausgeht.
Rechtsgrundlage der streitgegenständlichen Anordnung ist Art. 15 Abs. 1 BayVersG. Danach kann die zuständige Behörde eine Versammlung beschränken oder verbieten, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung unmittelbar gefährdet ist. Gefährdungen der Gesundheit und des Lebens, wie sie die Antragsgegnerin hier anführt, können daher prinzipiell Beschränkungen von Versammlungen rechtfertigen, zumal Leben und körperliche Unversehrtheit ihrerseits verfassungsrechtlich geschützt sind (BayVGH, B.v. 30.4.2020 - 10 CS 20.999 - juris Rn. 23). Allerdings ist mit dem Merkmal der unmittelbaren Gefährdung ein hoher Gefahrenmaßstab angesprochen, den nicht schlechterdings jede zu erwartende Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit erreicht. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 8. BayIfSMV führt vor diesem Hintergrund aus, dass die Versammlungsbehörden, soweit im Einzelfall erforderlich, durch Beschränkungen sicherzustellen haben, dass die von der Versammlung ausgehenden Infektionsgefahren auf ein infektionsschutzrechtlich vertretbares Maß beschränkt bleiben; davon sei in der Regel auszugehen, wenn die Versammlung nicht mehr als 200 Teilnehmer habe und ortsfest stattfinde.
Dabei darf die Behörde keine völlige Risikofreiheit im Sinne einer absoluten infektionsschutz-rechtlichen „Unbedenklichkeit“ fordern (vgl. BayVGH, B.v. 30.4.2020 - 10 CS 20.999 - juris Rn. 24 zur Vorgängervorschrift aus der 2. BayIfSMV). Sie hat vielmehr eigene Überlegungen zur Minimierung von Infektionsrisiken anzustellen (BVerfG, B.v. 17.4.2020 - 1 BvQ 37/20 - juris Rn. 25) und ist daher verpflichtet, sich um eine kooperative, einvernehmliche Lösung mit dem Versammlungsveranstalter zu bemühen (BayVGH, B.v. 30.4.2020 - 10 CS 20.999 - juris Rn. 24). Bei ihrer Entscheidung hat die Behörde auch zu würdigen, dass Art. 8 Abs. 1 GG nicht nur das Recht zur Teilnahme an öffentlichen Versammlungen gewährleistet, sondern dem Veranstalter zugleich ein Selbstbestimmungsrecht hinsichtlich der Modalitäten der Versammlung gewährt, also namentlich zu der Frage, ob sie als Aufzug durchgeführt wird und an welchen Orten sie stattfinden soll (BVerfG, B.v. 20.12.2012 - 1 BvR 2794/10 - juris Rn. 16).
Nach dem täglichen Lagebericht des Robert-Koch-Instituts zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) vom 10.11.2020 ist aktuell eine zunehmende Beschleunigung der Übertragungen in der Bevölkerung in Deutschland zu beobachten. Die Inzidenz der letzten sieben Tage ist deutschlandweit auf 139,1 Fälle pro 100.000 Einwohner angestiegen, wobei seit Anfang September der Anteil älterer Personen unter den COVID-19 Fällen wieder zunimmt. In der Risikogruppe der Personen über 60 Jahre ist der Inzidenzwert auf 94,2 Fälle pro 100.000 Einwohner angestiegen. Als Ursache hierfür nennt das Robert-Koch-Institut diffuse Geschehen mit zahlreichen Häufungen unter anderem im Zusammenhang mit Gruppenveranstaltungen. Die Zahl der intensivmedizinisch behandelten COVID-19-Fälle hat sich in den vergangenen zwei Wochen von 1.470 Patienten am 27.10.2020 auf 3.059 Patienten am 10.11.2020 mehr als verdoppelt.
Die entscheidende Kammer hat vor diesem Hintergrund keinen Zweifel daran, dass Veranstaltungen der streitgegenständlichen Art Auswirkungen auf das Infektionsgeschehen haben können und mit entsprechenden Infektionsgefahren einhergehen. Die hierzu getroffenen, angegriffenen Beschränkungen stellen sich angesichts dessen teils als voraussichtlich rechtmäßig dar, teils ergibt die Interessenabwägung ein überwiegendes, öffentliches Vollzugsinteresse.
a) Nach Ansicht der Kammer ist die aufschiebende Wirkung der Klage gegen Nr. 3 des Bescheides nicht anzuordnen. Jedenfalls kann sich der Antragsteller nicht auf die für Zusammenkünfte von Glaubensgemeinschaften geltenden Regelungen berufen, sodass sich nicht bereits daraus die Rechtswidrigkeit der Nr. 3 ergibt (dazu aa)). Vielmehr zeigt die hier gebotene, aber auch ausreichende summarische Überprüfung der Sach- und Rechtslage, dass die Erfolgsaussichten der Hauptsacheklage hinsichtlich der Nr. 3 des Bescheides offen sind (dazu bb)), die vorzunehmende Interessenabwägung jedoch zu Lasten des Antragstellers ausgeht (dazu cc)).
aa) Der Antragsteller kann sich nicht auf die nach § 6 8. BayIfSMV für Zusammenkünfte von Glaubensgemeinschaften geltenden Regelungen berufen (dazu (1)). Im Übrigen würde er die von § 6 8. BayIfSMV formulierten Anforderungen nicht einhalten (dazu (2)).
(1) Der Antragsteller und die übrigen Versammlungsteilnehmer bilden keine Glaubensgemeinschaft im Sinne des § 6 8. BayIfSMV. Das Gericht kann an dieser Stelle offenlassen, ob der Verordnungsgeber mit der verwendeten Begrifflichkeit ausschließlich anerkannte Religionsgemeinschaften im Sinne des Staatskirchenrechts ansprechen wollte. Denn jedenfalls ergibt sich aus dem Sinn des Wortes „Gemeinschaft“ unzweifelhaft, dass eine zumindest in gewissem Maße verfestigte organisationelle Verbindung unter den Teilnehmern der Zusammenkunft bestehen muss. In systematischer Hinsicht ergibt sich dies auch aus der von § 6 Satz 1 8. BayIfSMV vorgenommenen Gleichordnung mit Gottesdiensten in Kirchen, Synagogen und Moscheen. Die genannten Räume werden von Mitgliedern der (teils öffentlich-rechtlich organisierten) Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften genutzt. Die dort anwesenden Gläubigen werden durch gemeinsame religiöse Überzeugungen, eine gewisse Struktur und verschiedene gemeindliche Aktivitäten verbunden und bilden eine auf längere Dauer angelegte Gemeinschaft. Aus der vom Verordnungsgeber ausgesprochenen Gleichordnung folgt, dass diese Anforderungen allgemein an die von § 6 8. BayIfSMV beschriebenen Glaubensgemeinschaften zu stellen sind. Schließlich ist die dargestellte Auslegung auch vor dem Hintergrund von Sinn und Zweck des § 6 8. BayIfSMV konsequent. Denn damit verfolgt der Verordnungsgeber das Ziel, den nach Art. 4 GG gewährleisteten Schutz der Religionsfreiheit auch unter den Bedingungen der Pandemie zu gewährleisten. Von diesem verfassungsrechtlichen Schutz werden Vereinigungen nicht erfasst, deren Zwecke keinen religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen dienen (Germann in Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Stand 15.8.2020, Art. 4 Rn. 30).
Die damit umrissenen Voraussetzungen erfüllt der Antragsteller nicht. Bei der jetzigen Veranstaltung ist nicht erkennbar, dass es sich um einen Personenkreis handelt, der regelmäßig zusammenkommt, um einen gemeinsam definierten Glaubensinhalt zu praktizieren. Auch eine gewisse organisationelle Verfestigung ist nicht erkennbar. Vielmehr stellt sich die Zusammensetzung der Versammlungsteilnehmer als beliebig dar. Ziel der Veranstaltung ist auch nicht das Bekenntnis zu einem bestimmten Glaubensinhalt, sondern die Kundgabe einer allgemeinpolitischen Ansicht. Die Einbeziehung der Martinsgeschichte wirkt in diesem Zusammenhang nur als vorgeschoben und scheint nicht der Kernpunkt der Veranstaltung zu sein. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass es an einer erkennbaren Struktur für eine Glaubensgemeinschaft fehlt, und weder die grundsätzliche Gemeinsamkeit dieser Glaubensgemeinschaft - unabhängig von der heutigen Versammlung - noch der gemeinsam regelmäßig verfolgte Glaubensinhalt erkennbar ist.
(2) Im Übrigen könnte sich der Antragsteller selbst dann, wenn er gemeinsam mit den übrigen Versammlungsteilnehmern tatsächlich eine Glaubensgemeinschaft bilden würde, nicht auf die Regelungen des § 6 8. BayIfSMV berufen. Denn nach § 6 Satz 1 Nr. 3 8. BayIfSMV ist für Zusammenkünfte ein Infektionsschutzkonzept erforderlich, das die „je nach Glaubensgemeinschaft und Ritus möglichen Infektionsgefahren minimiert“. Ein solches Konzept hat der Antragsteller nicht vorgelegt. Er hat sich vielmehr auf Lagepläne beschränkt, die die Positionen von Ordnern und Versammlungsteilnehmern angeben und teils Mindestabstände eingezeichnet. Dies bleibt erheblich hinter dem von § 6 8. BayIfSMV vorausgesetzten Konzept zurück und enthält beispielsweise keine Angaben zum Tragen der Maske bei Bewegung, zu Platzvergabe oder zu Wegen auf der Versammlungsfläche. Im Übrigen ergibt sich aus den vorgelegten Lageplänen nicht, dass der von § 6 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b 8. BayIfSMV geforderte Mindestabstand von 1,5 m nicht allseitig, sondern jeweils nur nach rechts und links vorgesehen wird.
bb) Die Erfolgsaussichten der Klage gegen Nr. 3 des Bescheides sind vielmehr offen. Rechtsgrundlage für die Beschränkung der maximalen Teilnehmerzahl auf höchstens 75 Teilnehmer ist § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 der 8. BayIfSMV. Demnach haben die nach Art. 24 Abs. 2 BayVersG zuständigen Behörden, soweit dies im Einzelfall erforderlich ist, durch entsprechende Beschränkungen nach Art. 15 BayVersG sicherzustellen, dass die von der Versammlung ausgehenden Infektionsgefahren auch im Übrigen auf ein infektionsschutzrechtlich vertretbares Maß beschränkt bleiben. Der Verordnungsgeber geht im 2. Halbsatz der Nr. 2 davon in der Regel aus, wenn die Versammlung nicht mehr als 200 Teilnehmer hat und ortsfest stattfindet. Nach I. 1. a) bb) (2) der Allgemeinverfügung der Stadt P. für öffentliche Versammlungen vom 17.07.2020, in der Fassung der Änderungsverfügung vom 03.11.2020 wird die zulässige Höchstteilnehmerzahl bei öffentlichen Versammlungen unter freiem Himmel im Sinne des Bayerischen Versammlungsgesetzes (BayVersG) auf dem Gebiet der Stadt P. auf 902 Personen im Bereich „K-garten“ beschränkt. Ob demgegenüber eine Beschränkung der Höchstteilnehmerzahl auf 75 Teilnehmer rechtmäßig ist, ist nach derzeitigem Stand und der gebotenen summarischen Prüfung offen. Grundsätzlich geht die Kammer davon aus, dass die Behörde anhand der angemeldeten 50 Teilnehmer die infektionsschutzrechtlichen Voraussetzungen geprüft hat und diese noch bei einer Überschreitung bis zum 1,5-fachen der angemeldeten Teilnehmerzahl gewährleisten kann. Nach Ansicht der Kammer bestand für die Behörde nach den gegebenen Umständen auch kein Anlass, eine darüber hinausgehende Teilnehmerzahl zu prüfen. Mit der zugelassenen Höchstteilnehmerzahl von 75 hat die Behörde dem Antragsteller ohnehin 50 Prozent mehr Teilnehmer zugestanden als er angezeigt hat. Ob und inwieweit sich jedoch die Teilnehmerzahl an die für den K-garten in der Allgemeinverfügung geregelte Höchstteilnehmerzahl annähern kann, ist auch angesichts der in dem Hygienekonzept des Antragstellers enthaltenen Lageplänen nicht absehbar. Dort wird nämlich ein nicht unerheblicher Freiraum für das Pferd mitsamt Betreuer, Bettler und St. Martin eingeräumt, sodass die in der Allgemeinverfügung der Stadt P. prognostizierte Zahl von 902 Teilnehmern jedenfalls nicht mehr gewährleistet werden können wird.
cc) Die bei dieser Sachlage vorzunehmende Abwägung der für und wider eine aufschiebende Wirkung streitenden Interessen ergibt ein Überwiegen des öffentlichen Vollzugsinteresses. Zwar werden der Antragsteller und die Versammlungsteilnehmer durch die Beschränkung auf 75 Personen betroffen; die nach Art. 8 Abs. 1 GG besonders geschützte Versammlungsfreiheit wird durch die Höchstteilnehmerzahl berührt. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass der Versammlungsfreiheit als für den demokratischen Willensbildungsprozess konstitutives Element nach der Werteordnung des Grundgesetzes ein besonderer Stellenwert zukommt. Allerdings stellt sich die Beschränkung inhaltlich als wenig schwerwiegend dar. Insbesondere hat die Antragsgegnerin die Anzahl der Veranstaltungsteilnehmer nicht unterhalb des vom Antragsteller angezeigten Wertes festgesetzt. Die Veranstaltung bleibt dem Antragsteller also in einem Umfang möglich, der noch über das hinausgeht, was er beabsichtigt hat. Auf Seiten des öffentlichen Vollzugsinteresses ist demgegenüber die gegenwärtige pandemische Lage zu berücksichtigen. Große Menschenansammlungen tragen wesentlich zur Verbreitung des Coronavirus bei und bringen ein erhebliches Risiko von Ansteckungen mit sich. Die Stadt P. weist gegenwärtig eine 7-Tages-Inzidenz von 202,64 je 100.000 Einwohner auf und ist von der momentanen „zweiten Welle“ der Virusausbreitung daher im bayernweiten Durchschnitt besonders betroffen. Auch die Zahl der auf Intensivstationen behandelten Erkrankten ist gegenwärtig hoch. Bei dieser Sachlage gehen mit der Versammlung erhebliche Risiken für die Rechtsgüter Leben und Gesundheit Einzelner einher. Die daraus erwachsenden Gefahren werden auf gesamtgesellschaftlicher Ebene durch die zunehmend ausgereizte Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems und der intensivmedizinischen Versorgung noch verschärft. Angesichts dieser Risiken überwiegt das öffentliche Vollzugsinteresse das private Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs.
b) Nr. 4 des streitgegenständlichen Bescheids erweist sich bei summarischer Prüfung als voraussichtlich rechtmäßig. Dies gilt sowohl hinsichtlich der Auflage, dass die Versammlung ortsfest stattzufinden hat (dazu aa)) als auch hinsichtlich der Auflage zum konkreten Versammlungsort (dazu bb)).
aa) Bei einem Aufzug ist entgegen der Darstellung des Antragstellers davon auszugehen, dass in Anlegung der obenstehenden Maßstäbe über ein vertretbares Maß hinaus Infektionsgefahren entstünden. Die Ansicht des Antragstellers, dass bei einem Umzug infektionsschutzrechtliche Gebote besser eingehalten werden könnten als an einem festgelegten Standpunkt, teilt die entscheidende Kammer nicht. Eine sich bewegende Versammlung hat ein erheblich höheres Risikopotenzial als eine stationäre, denn es handelt sich um ein dynamisches Geschehen, in dem die verschiedenen Bewegungen der Passanten und der Versammlungsteilnehmer aufeinandertreffen. Eine konsequente Einhaltung der Mindestabstände erfordert unter diesen Umständen ein Maß an gegenseitiger Vorsicht, Rücksichtnahme und Voraussicht bei allen Beteiligten, das bei realitätsnaher Betrachtung nicht erreichbar ist. Dementsprechend stuft auch der Verordnungsgeber in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Alt. 2 8. BayIfSMV ortsfeste Versammlungen explizit als infektionsschutzrechtlich weniger bedenklich ein als dynamische.
Die Antragsgegnerin hat in diesem Zusammenhang auch zutreffend darauf hingewiesen, dass die Kontrolle insbesondere der Einhaltung des Mindestabstands bei einer dynamischen Versammlung nur äußerst schwer möglich wäre.
Bei den nach dieser Sachlage bestehenden, unmittelbaren Gefahren für die Rechtsgüter körperliche Unversehrtheit und Leben hat die Antragsgegnerin in ihrem Bescheid eine verhältnismäßige Regelung getroffen, indem sie eine ortsfeste Veranstaltung festgesetzt hat.
bb) Im Hinblick auf den Vortrag der Antragsgegnerin im Schriftsatz vom 11.11.2020, dass auf dringenden Wunsch der Polizei als Versammlungsort der K-garten statt des Domplatzes gewählt worden sei, wobei auf die dortigen Ausführungen verwiesen wird, begegnet Nr. 4 des streitgegenständlichen Bescheids bei summarischer Prüfung auch insoweit keinen Bedenken.
Die Kammer verkennt dabei nicht, dass Art. 8 GG dem Veranstalter auch ein Selbstbestimmungsrecht hinsichtlich der Modalitäten der Versammlung gewährt, also namentlich auch zu der Frage, an welchen Orten sie stattfinden soll (BVerfG, B.v. 20.12.2012 - 1 BvR 2794/10 - juris Rn. 16). Vor dem Hintergrund der streitgegenständlichen Gegebenheiten erscheint die Festlegung des Veranstaltungsortes durch die Antragsgegnerin jedoch bei summarischer Prüfung als gerechtfertigt. Auch eine unangemessene Beeinträchtigung vermag die Kammer bei summarischer Prüfung nicht zu erkennen, zumal der K-garten von der Antragstellerseite zumindest im Rahmen des geplanten Aufzugs selbst festgelegt wurde. Gründe, wieso es für die streitgegenständliche Versammlung gerade auf den D.platz als Versammlungsort ankommen sollte, sind für die Kammer nicht ersichtlich und wurden von dem Antragsteller auch nicht dargelegt.
Der Annahme des Antragstellers, dass der K-garten nicht beleuchtet sei, ist die Antragsgegnerin glaubhaft durch den Vortrag entgegengetreten, dass die Beleuchtung schon über die um den K-garten laufenden Straßenbeleuchtungen sichergestellt sei und zudem teilweise in den Boden eingelassene Slots vorhanden seien.
c) Die Forderung der Antragsgegnerin nach einem qualifizierten Attest zur Glaubhaftmachung einer Befreiung von der Maskenpflicht in Nr. 10.3 des streitgegenständlichen Bescheids ist nicht zu beanstanden. Gleiches gilt für die Auflage in Nr. 10.4 des streitgegenständlichen Bescheids, dass alle Teilnehmer, die von der Maskenpflicht befreit sind, sich vor Beginn der Versammlung bei der Polizei zu melden und ihre Befreiung glaubhaft zu machen haben. Es entspricht der obergerichtlichen Rechtsprechung, der sich die entscheidende Kammer anschließt, dass für eine Befreiung vom Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung die Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung erforderlich ist, welche nachvollziehbare Befundtatsachen sowie eine Diagnose enthält (BayVGH, B. v. 26.10.2020 - 20 CE 20.2185, juris Rn.18; VG Regensburg, B. v. 02.11.2020 - RN 4 S 20.2660, juris). Da das Wesen der Glaubhaftmachung darin liegt, eine überwiegende Wahrscheinlichkeit zu belegen, dass Personen aus gesundheitlichen Gründen von der öffentlich-rechtlichen Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung befreit sind, muss die Verwaltung bzw. das Gericht aufgrund von konkreten und nachvollziehbaren Angaben in den ärztlichen Bescheinigungen in die Lage versetzt werden, das Vorliegen der jeweiligen Tatbestandsvoraussetzungen selbständig zu prüfen (OVG NRW, B. v. 24.9.2020 - 13 B 1368/20, juris Rn. 12). Dass dies bei einem ärztlichen Attest, das alleine das Ergebnis bescheinigt, nicht der Fall ist, liegt für das Gericht auf der Hand.
d) Bei dieser Sachlage ist auch nicht zu erkennen, aus welchen Gründen sich Nr. 10.4 und 10.5 als rechtswidrig darstellen können. Insbesondere vermag die Kammer der Schlussfolgerung nicht beizutreten, dass attestierte Maskenunverträglichkeit zugleich zu einer Befreiung vom Tragen eines Visiers führen müsste.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
5. Rechtsgrundlage der Streitwertfestsetzung sind § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG, § 52 Abs. 1 und 2 GKG. Die Kammer hat Nr. 45.4 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit bei ihrer Entscheidung berücksichtigt, aber den vorgesehenen Streitwert nicht auf die Hälfte vermindert (Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs), weil die Vorwegnahme der Hauptsache begehrt wird.
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Tenor
Der angegriffene Beschluss wird geändert.
Der Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung aufgegeben, dem Antragsteller eine Bescheinigung über die Einreichung seines Antrags vom 18. Mai 2018 auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte auszustellen.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 2.500 Euro festgesetzt.
1G r ü n d e
2Die zulässige Beschwerde ist begründet. Die Darlegungen in der Beschwerdebegründung, auf deren Prüfung der Senat sich nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO zu beschränken hat, geben Veranlassung zur Änderung des angegriffenen Beschlusses.
3Das Verwaltungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, der Antragsteller habe einen Anordnungsanspruch auf Ausstellung einer Bescheinigung über die Einreichung seines Antrags vom 18. Mai 2018 auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte nach § 5 Abs. 1 FreizügG/EU nicht glaubhaft gemacht. Dieser Anspruch folge nicht aus § 5 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU, der den Anspruch lediglich Familienangehörigen des Unionsbürgers einräume. Der Antragsteller habe nämlich nicht glaubhaft gemacht, Familienangehöriger seiner Tochter i.S. des maßgeblichen § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU zu sein. Es fehlten Nachweise darüber, dass dem Antragsteller durch seine Tochter Unterhalt gewährt werde. Demgegenüber weisen die Prozessbevollmächtigten des Antragstellers zu Recht auf Art. 10 Abs. 1 Satz 2 RL 2004/38 EG hin, der dem Antragsteller einen Anordnungsanspruch i.S. von § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO vermittelt.
4Nach dieser Bestimmung wird unverzüglich eine Bescheinigung über die Einreichung eines Antrags auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte ausgestellt. Einen dementsprechenden Antrag hat der Antragsteller am 18. Mai 2018 gestellt. Er erfüllt auch die persönlichen und sachlichen Voraussetzungen für den Anspruch auf Ausstellung der begehrten Bescheinigung. Art. 10 Abs. 1 Satz 2 RL 2004/38 EG setzt insoweit – wie der Zusammenhang mit Art. 10 Abs. 1 Satz 1 RL 2004/38 EG belegt, lediglich voraus, dass – wie hier am 18. Mai 2018 – ein Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers gestellt worden ist. Demgegenüber ist es – für die Bescheinigung nach Art. 10 Abs. 1 Satz 2 RL 2004/38 EG – nicht erforderlich, dass der Antragsteller auch Familienangehöriger gemäß Art. 2 Abs. 2 d) RL 2004/38 EG bzw. § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU ist. Diese Frage ist vielmehr erst im Verfahren auf Ausstellung der Aufenthaltskarte zu klären und ihre Verneinung führt zu deren Versagung. Dies ergibt sich aus Art. 10 Abs. 2 d) RL 2004/38 EG, wonach die Mitgliedstaaten für die Ausstellung der Aufenthaltskarte in den Fällen u.a. des Art. 2 Abs. 2 d) RL 2004/38 EG den urkundlichen Nachweis verlangen, dass die dort genannten Voraussetzungen vorliegen. Die Erteilung der Bescheinigung über die Einreichung des Antrags auf Ausstellung der Aufenthaltskarte ist dagegen nicht davon abhängig, dass der Antragsteller die für deren Ausstellung erforderlichen Dokumente bereits vorgelegt hat.
5Hess.VGH, Beschluss vom 7. August 2014 – 7 B 1216/14 –, juris Rn. 13; VG Augsburg, Beschluss vom 18. Mai 2018 – Au 6 E 18.394 –, juris Rn. 31 m.w.N.
6Dieses Verständnis wird durch die Entstehungsgeschichte des Art. 10 Abs. 1 RL 2004/38/EG bestätigt. Der erste Richtlinienentwurf der Europäischen Kommission sah in Art. 10 Abs. 1 Satz 3 der Entwurfsfassung noch vor, dass aus der auszustellenden Bescheinigung über die Beantragung der Aufenthaltskarte auch hervorging, dass der Antragsteller Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist.
7Vgl. KOM (2001) 257 endg.
8Demgegenüber wurde diese Passage in dem später geänderten Entwurf mit der Begründung gestrichen, dass ohne vorherige Prüfung der Dokumente nicht festzustellen sei, ob es sich tatsächlich um einen Familienangehörigen handle.
9Vgl. KOM (2003) 0199 endg.
10Die Ausstellung der Bescheinigung über die Beantragung der Aufenthaltskarte sollte also ersichtlich nicht davon abhängig sein, dass der Antragsteller tatsächlich im Sinne der Richtlinie Familienangehöriger des Unionsbürgers ist.
11Die nach Art. 40 Abs. 1 RL 2004/38/EG bis zum 30. April 2006 vorzunehmende Umsetzung der vorgenannten Vorgaben der Richtlinie durch den bundesdeutschen Gesetzgeber ist nach dem Wortlaut des einschlägigen § 5 Abs. 1 FreizügG/EU nicht vollständig erfolgt. Unbedenklich ist zwar, dass die Aufenthaltskarte gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU und wohl auch die in § 5 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU vorgesehene Bescheinigung von Amts wegen und nicht nur auf Antrag (vgl. Art. 10 Abs. 1 Sätze 1 und 2 RL 2004/38/EG) ausgestellt werden. Nach Art. 37 RL 2004/38/EG bleiben nämlich Regelungen unberührt, die für die in den Anwendungsbereich der Richtlinie fallenden Personen günstiger sind. Defizitär ist die Umsetzung allerdings insoweit, als § 5 Abs. 1 FreizügG/EU die in Art. 10 Abs. 1 Satz 2 RL 2004/38 EG geregelte Bescheinigung nicht übernommen hat. Insoweit kann, weil nicht entscheidungserheblich, offenbleiben, ob § 5 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU im Wege einer richtlinienkonformen Auslegung der nationalen Regelung erweiternd dahin ausgelegt werden kann, dass er auch die unionsrechtlich erforderliche Bescheinigung umfasst oder ob sich der Anspruch auf Ausstellung dieser Bescheinigung aus einer unmittelbaren Geltung der Regelung der Richtlinie ergibt.
12Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsgrund (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO glaubhaft gemacht). Er kann für die Erlangung der hier in Rede stehenden Bescheinigung nicht auf den Klageweg verwiesen werden. Die Bescheinigung ist nach Art. 10 Abs. 1 Satz 2 RL 2004/38 EG unverzüglich auszustellen. Dadurch soll – mit Blick auf die lediglich in den ersten drei Monaten abgesenkten Freizügigkeitsvoraussetzungen (Art. 6 RL 2004/38 EG und § 2 Abs. 5 FreizügG/EU) – der sofortige Nachweis der rechtzeitigen Beantragung der Aufenthaltskarte ermöglicht werden. Die mit einem Klageverfahren verbundene Verfahrensdauer liefe deshalb dem Zweck der Bescheinigung zuwider. Sie dient grundsätzlich dem Nachweis eines rechtmäßigen Aufenthalts im Zeitraum zwischen der Antragstellung bzw. Anmeldung (§ 5 Abs. 2 Sätze 2 und 3 FreizügG/EU) und der Entscheidung über die Ausstellung einer Aufenthaltskarte.
13Vgl. Hess.VGH, Beschluss vom 7. August 2014 – 7 B 1216/14 –, juris Rn. 13; VG Augsburg, Beschluss vom 18. Mai 2018 – Au 6 E 18.394 –, juris Rn. 31 m.w.N.
14Insoweit kann offenbleiben, ob der Aufenthalt bis zur Entscheidung über die Ausstellung der Aufenthaltskarte in jedem Fall – also insbesondere auch dann, wenn der Betreffende innerhalb der ersten drei Monate nach Einreise gar nicht freizügigkeitsberechtigt war – rechtmäßig ist,
15vgl. dazu einerseits Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 5 FreizügG/EU Rn. 21, andererseits BVerwG, Urteil vom 25. Oktober 2017 – 1 C 34.16 –, juris Rn. 19 ff.
16Das Vorliegen des Anordnungsgrundes wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass dem Antragsteller seit dem 30. Januar 2019 Fiktionsbescheinigungen nach § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ausgestellt worden sind. Derartige Fiktionsbescheinigungen haben lediglich deklaratorische Wirkung. Die ausgestellten Fiktionsbescheinigungen gehen deshalb ins Leere, weil – wie die Antragsgegnerin zutreffend ausgeführt hat - § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG hier nicht anwendbar ist.
17Nach alledem ist unter den Umständen des vorliegenden Falles der Erlass der einstweiligen Anordnung auch unter teilweiser Vorwegnahme der Hauptsache zulässig.
18Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO; die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 1 und 2, 53 Abs. 2 GKG.
19Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 46.961,25 Euro und – unter entsprechender Änderung der erstinstanzlichen Festsetzung von Amts wegen – für das erstinstanzliche Verfahren auf 47.410,73 Euro festgesetzt.
1G r ü n d e
2Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
3I. Das Verwaltungsgericht hat die Klage des Klägers als unbegründet abgewiesen. Die Versetzung in den Ruhestand wegen Dienstunfähigkeit finde ihre Rechtsgrundlage in § 44 Abs. 3 Satz 1 SG. Danach sei ein Berufssoldat in den Ruhestand zu versetzen, wenn er wegen seines körperlichen Zustandes oder aus gesundheitlichen Gründen zur Erfüllung seiner Dienstpflichten dauernd unfähig (dienstunfähig) sei. Die Dienstfähigkeit beziehe sich auf die dem Soldaten insgesamt obliegenden Dienstpflichten, d.h. die allgemeinen Soldatenpflichten (§§ 7 bis 21 SG), sowie auf die besonderen, sich aus der Waffengattung und der durch den Dienstgrad gekennzeichneten Dienststellung ergebenden Pflichten. Sie sei danach zu beurteilen, ob die Soldaten in Friedenszeiten verwendbar und ferner in der Lage seien, ihre Aufgaben auch im Verteidigungsfall zu erfüllen. Die Versetzung des Klägers in den Ruhestand sei formell rechtmäßig. Insbesondere sei die Schwerbehindertenvertretung ordnungsgemäß nach § 128 Abs. 4, § 95 Abs. 2 Satz 1 SGB IX angehört worden. Sie sei auch materiell rechtmäßig. Der Kläger sei im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung vom 6. Juni 2013 dienstunfähig gewesen. Dies folge zum einen aus dem truppenärztlichen Gutachten des Dr. I. vom 26. April 2012 sowie dessen ergänzender Stellungnahme vom 27. Mai 2016, die klar strukturiert, vollständig und widerspruchsfrei sei, und der der Krankheitsverlauf, die Symptome des Klägers und die bei dem Kläger durchgeführten Therapien zu entnehmen seien. Zum anderen ergebe sich dies auch aus den anderen fachärztlichen Befunden. Seitens der Bundeswehr sei der Kläger von den Truppenärzten X. , Dr. I1. und Dr. I. , ansonsten von Prof. Dr. Q. (Universität H. ), Prof. Dr. H1. (Universität C. ) und Prof. Dr. U. (Universitätsklinikum X1. ) behandelt worden. Zudem habe der Kläger sich bei dem Bundeswehrkrankenhaus I2. und der D. C1. vorgestellt. Der Kläger habe nach alledem im Wesentlichen an Muskelkrämpfen und damit einhergehenden Schmerzen gelitten. Er sei über 100 Mal im Krankenhaus gewesen. Seit 2008 sei der Kläger dauerhaft krank gewesen. Die Erkrankung des Klägers habe trotz der umfassenden Behandlung nicht vor Ablauf von sechs Jahren behoben werden können. Ob die zwischenzeitlich gestellte Diagnose „Morvan-Syndrom“ zutreffe und welche Ursache die Muskelkrämpfe gehabt hätten, habe bislang nicht abschließend geklärt werden können. Einer weiteren Aufklärung des Sachverhaltes bedürfe es bei dieser Sachlage nicht. Dr. I. , der den Kläger seit Februar 2009 betreut habe, sei unter dem 26. April 2012 zu dem Ergebnis gelangt, dass der Kläger wegen einer peripheren Erkrankung des Nervensystems dauernd dienstunfähig und mit der Wiedererlangung der Dienstfähigkeit nicht vor Ablauf von fünf Jahren zu rechnen sei.
4Der Kläger bestreite diese Symptome nicht. Dass sich sein Gesundheitszustand im Jahr 2012/2013 verbessert habe, könne aber weder den Ausführungen von Dr. I. noch den Befunden der Fachärzte entnommen werden. Aufgrund der beschriebenen Symptome sei der Kläger im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung am 6. Juni 2013 weder in Friedenszeiten noch im Verteidigungsfall dienstfähig gewesen. So führe Dr. I. aus, dass aufgrund der notwendigen Schmerzmittel, der trotzdem bestehenden Schlaflosigkeit und Schmerzen jederzeit die Gefahr bestanden habe, dass der Kläger Aufträge nicht oder nicht fristgerecht erfüllen könne. Daher sei dem Kläger auch die seitens des Bundeswehrkrankenhauses I2. unter dem 13. Oktober 2011 in Betracht gezogene stundenweise Tätigkeit an einem Tele-Arbeitsplatz nicht möglich gewesen. Zudem habe eine psychische Instabilität des Klägers bestanden, so dass er aus seiner Sicht nicht mit sicherheitsrelevanten Informationen hätte betraut werden dürfen. Hinzu komme, dass der Kläger 2010 wegen Steuerhinterziehung und Urkundenfälschung verurteilt worden sei und auch aus diesem Grund nicht mehr mit sicherheitsrelevanten Aufgaben betraut werden könne. Trotz dieser Umstände habe die Beklagte eine Verwendbarkeit des Klägers an einem Heimarbeitsplatz geprüft. Eine entsprechende Stelle, auf der der Kläger zumutbar hätte verwendet werden können, sei nicht gefunden worden.
5Die truppenärztliche Einschätzung werde weder durch die Angabe von Prof. Dr. U. vom 1. April 2010, der Kläger sei zumindest während der zweieinhalb Wochen nach den Plasmapheresen im IT-Bereich arbeitsfähig, noch durch die Aussage von Dr. Z. (Oberarzt Neurologie C. ) vom 20. Juni 2011 widerlegt, er wolle sich zur Dienst- und Verwendungsfähigkeit des Klägers nicht festlegen, sehe aber keine allgemeine Erwerbsunfähigkeit. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgericht bestünden für Gutachten, in denen Fragen des Dienstrechts aus medizinischer Sicht zu beurteilen seien, die folgenden Vorgaben: Sie erforderten einen speziellen zusätzlichen Sachverstand, der einerseits auf der Kenntnis der Belange der öffentlichen Verwaltung, andererseits auf der Erfahrung aus einer Vielzahl von gleich oder ähnlich liegenden Fällen beruhe. Zwar könne unter Umständen ein privater Arzt, zumal ein Facharzt, besser beurteilen, ob und wann einer Gesundheitsstörung Krankheitswert zukomme. Ob und wann aber eine Störung mit Krankheitswert die Dienstfähigkeit beeinträchtige, sei eine Frage, deren Entscheidung vorrangig dem Amts- bzw. dem Truppenarzt zustehe. Dieser könne aus der Kenntnis der Belange der Verwaltung, der von dem Untersuchten zu verrichtenden Tätigkeit und dessen bisherigen dienstlichen Verhaltens besser als ein Privatarzt den erhobenen medizinischen Befund zu der von ihm zu beantwortenden Frage der Dienstunfähigkeit in Beziehung setzen. Hier habe Dr. I. den Kläger nicht nur jahrelang als Truppenarzt behandelt, sondern auch die Fremdbefunde externer Fachärzte in seine Einschätzung einbezogen. Als früherer Truppenarzt der Bundeswehr habe er entgegen den zivilen Fachärzten die notwendige Kenntnis der Belange der Bundeswehr und der dort zu verrichtenden Tätigkeiten. Dementsprechend führe er im Hinblick auf die anderweitigen Einschätzungen aus, dass entweder die Maßstäbe der zivilen Kollegen andere seien als die der Militärärzte oder der Kläger sich unterschiedlich gegeben habe. Im Übrigen stelle sich die Frage, ob ein Soldat, der nur jeweils zweieinhalb Wochen nach einer Behandlung in der Lage sein solle, einer Tätigkeit im IT-Bereich auf einem Heimarbeitsplatz nachzugehen, tatsächlich noch in Friedenszeiten dienstfähig sei. Eine Dienstfähigkeit im Verteidigungsfall könne jedenfalls nicht angekommen werden.
6Ob die Diagnose „Morvan-Syndrom“ zutreffe, welche tatsächliche Ursache die Muskelkrämpfe hätten und ob der Kläger aufgrund der falschen Diagnose nicht richtig behandelt worden sei, müsse nicht weiter aufgeklärt werden. Vorliegend sei maßgeblich, ob der Kläger aufgrund der vorhandenen Muskelkrämpfe im Juni 2013 dienstunfähig gewesen sei. Es sei auch nicht zu erkennen, dass die Muskelkrämpfe durch die Behandlung verursacht worden seien. Nach den Angaben von Dr. I. vom 27. Mai 2016 sei der Kläger erst ab dem Jahr 2007 behandelt worden. Die Muskelkrämpfe seien jedoch bereits im Jahr 2006 – nach den Angaben des Klägers sogar noch früher – aufgetreten. Dass sich die Behandlung aufgrund ihrer Nebenwirkungen erheblich auf die Gesundheit des Klägers ausgewirkt habe, sei unbestritten.
7Die Frage, ob im Juni 2013 noch weitere erfolgversprechende Therapiemöglichkeiten bestanden hätten, sei nur im Rahmen des § 44 Abs. 3 Satz 2 SG von Bedeutung. Nach § 44 Abs. 3 Satz 2 SG könne ein Soldat auch als dienstunfähig angesehen werden, wenn auf Grund seines körperlichen Zustandes oder aus gesundheitlichen Gründen die Wiederherstellung seiner Fähigkeit zur Erfüllung seiner Dienstpflichten nicht innerhalb eines Jahres zu erwarten sei. Nach § 44 Abs. 4 Satz 5 SG solle erst nach sechsmonatiger Heilbehandlung festgestellt werden, ob die Wiederherstellung der Dienstfähigkeit innerhalb eines Jahres nicht zu erwarten sei. Diese Vorschriften stünden der Versetzung des Klägers in den Ruhestand nicht entgegen. Im Juni 2013 sei der Kläger bereits seit ca. sechs Jahren behandelt worden. Mit einer Wiederherstellung der Dienstfähigkeit innerhalb eines Jahres sei zu diesem Zeitpunkt unter Berücksichtigung aller Umstände nicht mehr zu rechnen gewesen. Der Kläger sei jahrelang auch durch Fachärzte behandelt worden, die sich umfangreich mit seinem Krankheitsbild beschäftigt hätten. Bei dem zunächst diagnostizierten „Morvan-Syndrom“ handele es sich zudem um eine höchst seltene, kaum erforschte Krankheit. Ausgehend von dem Arztbrief des Bundeswehrkrankenhauses I2. vom 21. Februar 2013 sei die Diagnose auch nach Jahren noch unklar. So halte Prof. Dr. Q. nicht mehr an der Diagnose „Morvan-Syndrom“ fest, sondern glaube eher an ein psychiatrisches Leiden. Nach Einschätzung des Herrn Dr. E. sei die abschließende Diagnose unklar. Der Krankheitsverlauf sowie die Vielzahl durchgeführter Therapieversuche zeigten die Bemühungen der Truppen- und Fachärzte, die erheblichen gesundheitlichen Einschränkungen des Klägers durch die Muskelkrämpfe und die Schwierigkeiten der Behandlung auf. Eine Verbesserung der Erkrankung durch eine psychische Therapie sei im Juni 2013 nicht zu erwarten gewesen. Der Kläger sei bereits im Mai und Juni 2008 in stationärer Diagnostik des Bundeswehrkrankenhauses I2. gewesen und dort testpsychologisch untersucht worden. Anschließend habe er sich seit 2008 in ambulanter Psychotherapie befunden. Es sei auch nicht ersichtlich, welche Schlüsse der Kläger aus den negativen Ergebnissen in P. und der N. -Klinik bezüglich Autoantikörper gegen Kaliumkanäle (Schreiben des Universitätsklinikums X1. vom 12. März 2009) ziehe sowie daraus, dass bei einer neurophysiologischen Untersuchung Anfang Juni 2007 keine pathologischen Werte gemessen worden seien (Schreiben der Universität H. vom 12. Juli 2007). Selbst wenn dies gegen die Diagnose eines „Morvan-Syndroms“ spreche, ergebe sich hieraus nicht, welche Ursache den damals vorhandenen Symptomen zugrunde gelegen hätte und welche Therapiemöglichkeiten hätten ergriffen werden können. Der Vorschlag von Prof. Dr. C2. (D. C1. ) unter dem 9. Mai 2011 (Einnahme der Medikamente Valpoat, Propafenon und Fecainid) sei nicht als abschließender Therapievorschlag zu verstehen gewesen. Abgesehen davon, dass bereits diverse Medikamente erfolglos eingesetzt worden seien, habe Prof. Dr. C2. nämlich ausgeführt, der Kläger solle sich in Kürze bei Herrn Prof. H1. wiedervorstellen und mit diesem das weitere therapeutische Procedere besprechen.
8Die erfreuliche Verbesserung des Gesundheitszustandes des Klägers nach seiner Versetzung in den Ruhestand belege nicht, dass im Juni 2013 zu Unrecht von seiner Dienstunfähigkeit ausgegangen worden sei. Wesentliche Änderungen der Verhältnisse nach dem Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung seien nicht zu berücksichtigen. Daher sei auch unerheblich, ob der Kläger im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung wieder dienstfähig sei. Die Möglichkeit, dass ein Soldat zu einem späteren Zeitpunkt wieder dienstfähig werde, berücksichtige § 51 Abs. 4 SG, wonach ein wegen Dienstunfähigkeit in den Ruhestand versetzter Soldat, der wieder dienstfähig geworden sei, erneut in das Dienstverhältnis eines Berufssoldaten berufen werden könne, wenn seit der Versetzung in den Ruhestand noch keine fünf Jahre vergangen seien und die allgemeine Altersgrenze noch nicht überschritten sei. Einen entsprechenden Antrag habe der Kläger nicht gestellt. Es bedürfe auch keiner abschließenden Klärung, warum sich der Gesundheitszustand des Klägers nach seiner Entlassung aus der Bundeswehr verbessert habe.
9II. Das hiergegen gerichtete Zulassungsvorbringen dringt nicht durch.
10Die Berufung ist gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 und Abs. 5 Satz 2 VwGO nur zuzulassen, wenn einer der Gründe des § 124 Abs. 2 VwGO innerhalb der Begründungsfrist dargelegt ist und vorliegt. „Darlegen“ i. S. v. § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO bedeutet, unter konkreter Auseinandersetzung mit dem angefochtenen Urteil fallbezogen zu erläutern, weshalb die Voraussetzungen des jeweils geltend gemachten Zulassungsgrundes im Streitfall vorliegen sollen. Der Senat soll allein aufgrund der Zulassungsbegründung die Zulassungsfrage beurteilen können, also keine weiteren aufwändigen Ermittlungen anstellen müssen.
11Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 18. Oktober 2013– 1 A 106/12 –, juris, Rn. 2 f., m. w. N.; ferner etwa Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124a Rn. 186, 194, m. w. N.
12Dies vorausgesetzt rechtfertigt das – fristgerechte – Zulassungsvorbringen in der Antragsbegründungsschrift vom 22. Februar 2017 die begehrte Zulassung der Berufung aus keinem der geltend gemachten Zulassungsgründe. Soweit der Kläger vorsorglich beantragt, einen Hinweis – ggf. in Form eines „Auflagenbeschlusses“ – zu erteilen, sofern der Senat weiteren Vortrag für notwendig erachte, verkennt der Kläger das Wesen der Darlegungspflicht, die ausschließlich ihn trifft.
131. Die Berufung ist nicht wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen.
14Ernstliche Zweifel in diesem Sinne sind begründet, wenn zumindest ein einzelner tragender Rechtssatz der angefochtenen Entscheidung oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird und sich die Frage, ob die Entscheidung etwa aus anderen Gründen im Ergebnis richtig ist, nicht ohne weitergehende Prüfung der Sach- und Rechtslage beantworten lässt. Der Rechtsmittelführer muss darlegen, warum die angegriffene Entscheidung aus seiner Sicht unrichtig ist. Dazu muss er sich mit den entscheidungstragenden Annahmen des Verwaltungsgerichts auseinandersetzen und konkret aufzeigen, in welcher Hinsicht und aus welchen Gründen sie ernstlichen Zweifeln begegnen. Er muss insbesondere die konkreten Feststellungen tatsächlicher oder rechtlicher Art benennen, die er mit seiner Rüge angreifen will. Diesen Darlegungsanforderungen wird (beispielsweise) nicht genügt, wenn und soweit sich das Vorbringen in einer Wiederholung des erstinstanzlichen Vortrags erschöpft, ohne im Einzelnen auf die Gründe der angefochtenen Entscheidung einzugehen.
15Vgl. etwa OVG NRW, Beschluss vom 28. August 2018 – 1 A 249/16 –, juris, Rn. 2 bis 5, m. w. N.
16Das Zulassungsvorbringen zeigt gemessen hieran keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung auf.
17a) Das gilt zunächst für den Vortrag des Klägers, das Verwaltungsgericht habe bei der Auslegung und Bewertung – wohl – der Tatbestandsmerkmale des § 44 Abs. 3 Satz 1 „körperlicher Zustand“ und „gesundheitliche Gründe“ nicht hinreichend berücksichtigt, dass der Kläger aufgrund des sog. „Morvan-Syndroms“ schwerbehindert sei. Dieser geht – ungeachtet dessen, dass der Kläger nicht aufzeigt, welche rechtlichen Folgerungen er hieraus zieht – ins Leere. Der Kläger ist nach den nicht angegriffenen Ausführungen des Verwaltungsgerichts nämlich nicht wegen des „Morvan-Syndroms“ als Schwerbehinderter anerkannt, sondern wegen der Folgen einer im Jahre 1994 erlittenen, unfallbedingten Lendenwirbel-Fraktur. Dafür spricht auch die Begründung des in Beiakte Heft 7 enthaltenen Abhilfebescheides des Versorgungsamts P1. vom 22. Februar 1999, nach dem der Grad der Behinderung für die Zeit ab dem 1. Januar 1997 60 betrug und das Merkzeichen „G" festgestellt wurde. Danach stützte sich die Entscheidung auf die folgenden Funktionsbeeinträchtigungen: "Bewegungseinschränkung, Minderbelastbarkeit der Lendenwirbelsäule bei chronischem Schmerzsyndrom, Muskelschwäche und Empfindungsstörungen linkes Bein".
18b) Der Kläger rügt ferner ohne Erfolg, das Verwaltungsgericht habe insbesondere die ergänzende Stellungnahme des Dr. I. vom 27. Mai 2016 nicht seiner Überzeugungsbildung zugrunde legen dürfen.
19aa) Soweit der Kläger die Frage nach dem Charakter der ergänzenden Stellungnahme des aktuell nicht mehr im Dienst der Beklagten stehenden, früheren Truppenarztes Dr. I. aufwirft, und insoweit vermutet, es könne sich nur um eine „Parteivernehmung“ handeln, fehlt es an einer Darlegung, inwieweit sich diese Einschätzung auf die Verwertbarkeit dieses Erkenntnismittels und in der Folge auf die Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts auswirkt. Einer solchen Darlegung hätte es schon deshalb bedurft, weil auch das Verwaltungsgericht ausweislich des Inhalts der Anschreiben des Vorsitzenden Richters vom 12. Mai 2016 und 27. Juni 2016 in der Sache davon ausgegangen ist, dass die ergänzenden Erläuterungen im Ergebnis als „Parteivortrag der Beklagten“ zu werten seien.
20bb) Anders als der Kläger meint, ist weder die mit Auflagenbeschluss vom 21. März 2016 erfolgte Aufforderung des Verwaltungsgerichts an die Beklagte, das truppenärztliche Gutachten vom 26. April 2012 unter Einbeziehung des früheren Truppenarztes Dr. I. ergänzend zu erläutern, noch dessen daraufhin vorgelegte Stellungnahme vom 27. Mai 2016 „verspätet“. Der Kläger weist zwar zutreffend darauf hin, dass sich nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung die Rechtmäßigkeit der Zurruhesetzungsverfügung danach beurteilt, ob die zuständige Behörde im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung nach den ihr zur Verfügung stehenden Erkenntnissen annehmen durfte, dass der Betroffene dauernd dienstunfähig ist. Der Auflagenbeschluss und die ergänzenden Erläuterungen des früheren Truppenarztes vom 27. Mai 2016 dienten indes gerade dazu, die Sachlage – hier den körperlichen und gesundheitlichen Zustand des Klägers – bezogen auf den maßgeblichen Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung aufzuklären. An einer solchen Aufklärung ist das Verwaltungsgericht nicht nur nicht gehindert, es ist unter Amtsermittlungsgesichtspunkten hierzu sogar verpflichtet, wenn es die vorhandene Gutachtenlage bezogen auf den maßgeblichen Zeitpunkt für unzureichend oder – wie der Kläger meint – für „unvollständig“ hält.
21cc) Für die weitere Behauptung des Klägers, die Beklagte habe sich die ergänzenden Erläuterungen des ehemaligen Truppenarztes inhaltlich nicht zu eigen gemacht, bestehen nicht die geringsten Anhaltspunkte. Die Beklagte hat in ihrem Schriftsatz vom 1. Juli 2016 im Gegenteil ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der Inhalt der ergänzenden Stellungnahme des Dr. I. ihre Auffassung bestätige, der Kläger sei im maßgeblichen Zeitpunkt im Sinne des § 44 Abs. 3 Satz 1 SG dienstunfähig gewesen.
22dd) Soweit der Kläger Zweifel an der hinreichenden Qualität der ärztlichen Feststellungen geltend macht, erschöpft sich sein Vortrag zunächst in der Wiedergabe der höchstrichterlichen Grundsätze, wonach das amts- bzw. hier truppenärztliche Gutachten nicht nur das Untersuchungsergebnis und die Diagnose, sondern auch die das Ergebnis tragenden und für die Meinungsbildung des Arztes wesentlichen Feststellungen und Gründe enthalten muss, sowie der anschließenden bloßen Behauptung, weder das truppenärztliche Gutachten vom 26. April 2012 noch die ergänzende Stellungnahme vom 27. Mai 2016 erfülle diese Voraussetzungen. Das genügt schon nicht den Darlegungsanforderungen.
23Die in diesem Zusammenhang noch geäußerte Vermutung des Klägers, die in den Gutachten angeführten Gründe seien schon wegen der Art der Erkrankung und fehlender Therapieansätze unzureichend, ist unerheblich. Nach dem der Würdigung des Verwaltungsgerichts zugrundeliegenden Ansatz kommt es für die Frage der Dienstunfähigkeit nicht auf die – hier schwierige und umstrittene – fachmedizinische Diagnose der Erkrankung und deren Therapiemöglichkeiten an, sondern auf den tatsächlichen körperlichen oder gesundheitlichen Zustand des Soldaten und damit letztlich auf die Symptomatik der Erkrankung. Diesen Ansatz stellt der Kläger aber nicht ansatzweise substantiiert in Frage. Er dürfte auch in Einklang mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung stehen, wonach das Gutachten sich gerade nicht auf die Wiedergabe einer Diagnose oder des Untersuchungsergebnisses beschränken darf, sondern vor allem die Feststellungen zum tatsächlichen Sachverhalt; d. h. zu den erhobenen Befunden, und die daraus (Unterstreichung nur hier) abzuleitenden Schlussfolgerungen in Bezug auf die Dienstfähigkeit enthalten muss.
24Vgl. BVerwG, Urteil vom 31. August 2017– 2 A 6.15 –, juris, Rn. 63 und Beschluss vom 13. März 2014 – 2 B 49.12 –, juris, Rn. 8.
25Für die weitere Behauptung des Klägers, der „beratende Arzt“ habe in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 27. Mai 2016 erklärt, die für die Meinungsbildung des Amtsarztes wesentlichen Entscheidungsgrundlagen müssten im amtsärztlichen Gutachten nicht mitgeteilt werden, findet sich in deren Text kein Anhalt.
26Mit dem Vortrag, auch die medizinische Fachkunde des Dr. I. sei wegen der von einer Gemengelage von Diagnosen geprägten Besonderheiten der möglicherweise vorliegenden Erkrankungen des Klägers nicht ausreichend, vermag der Kläger die nach dem o. a. Ansatz des Verwaltungsgerichts allein maßgebliche Fachkunde des ehemaligen Truppenarztes, die tatsächlichen Befunde zu erheben und die aus diesen Tatsachen folgenden Schlüsse in Bezug auf die Dienst(un)fähigkeit des Klägers zu ziehen, ebenfalls nicht substantiiert in Zweifel zu ziehen. Soweit der Kläger anmerkt, das Verwaltungsgericht habe selbst auf fachmedizinische Bedenken hingewiesen, nämlich auf die Angabe von Dr. Z. , er sehe keine allgemeine Dienstunfähigkeit, führt dies schon deshalb nicht weiter, weil Dr. Z. sich ausdrücklich nicht zur Frage der Dienstunfähigkeit verhalten wollte, sondern nur erklärt hat, er sehe keine allgemeine Erwerbsunfähigkeit. Anders als der Kläger behauptet, haben sich Dr. I. und das Verwaltungsgericht auch mit den übrigen zur Frage der Dienstfähigkeit des Klägers vorgelegten Unterlagen, insbesondere mit dem vom Kläger in der Zulassungsbegründungschrift auszugsweise zitierten Ambulanzbericht des Bundeswehrkrankenhauses vom 13. Oktober 2011 (Dr. C3. ), auseinandergesetzt. An einer Auseinandersetzung des Klägers mit den entsprechenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts auf S. 8 (zweiter Absatz) des Urteilsabdrucks fehlt es in der Zulassungsbegründung dagegen völlig. Unabhängig davon hatte Dr. C3. seinen Vorschlag, den Kläger stundenweise im Sinne eines Arbeitsversuchs wieder in den Dienst zu integrieren, ausdrücklich unter den Vorbehalt gestellt, dass dessen Realitätsnähe noch durch den Truppenarzt und Dr. E. abzuklären sei.
27Nach alledem bedurfte es ersichtlich keines Obergutachtens, um die schon nicht entscheidungserhebliche fachmedizinische Diagnose der Erkrankung des Klägers bzw. die Therapiemöglichkeiten abzuklären. Bereits aus diesem Grunde liegt auch der hier geltend gemachte Aufklärungsmangel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO nicht vor. Im Übrigen verletzt ein Gericht nach der zutreffenden ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts seine Pflicht zur erschöpfenden Aufklärung des Sachverhalts gemäß § 86 Abs. 1 VwGO dann nicht, wenn es bei einer Fallgestaltung wie hier, in der sich eine (weitere) Beweiserhebung nicht aufdrängt, von einer Beweiserhebung absieht, die eine durch einen Rechtsanwalt vertretene Partei nicht förmlich beantragt.
28Vgl. BVerwG, Beschluss vom 20. Januar 2009 – 2 B 4.08 –, juris, Rn. 33, und Urteil vom 25. Februar 1993 – 2 C 14.91 –, juris, Rn. 30; Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124 Rn. 191.
29An einem förmlichen Beweisantrag im Sinne von § 86 Abs. 2 VwGO zur Einholung eines sog. Obergutachtens fehlt es hier. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat in der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht ausweislich des Protokolls keinen Beweisantrag (mehr) gestellt.
30c) Ferner greift auch der Vortrag nicht durch, die Beklagte und in der Folge das Verwaltungsgericht hätten sich nicht hinreichend mit der Frage nach einer anderweiten Verwendung des Klägers befasst. Das Zulassungsvorbringen genügt auch hier ganz offensichtlich nicht den Darlegungsanforderungen. Es erschöpft sich zum wiederholten Male in einer Wiedergabe der abstrakten Vorgaben der höchstrichterlichen Rechtsprechung und der Behauptung, diese seien nicht erfüllt. Zu den entsprechenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts auf S. 8 und 9 des Urteilsabdrucks verhält der Kläger sich nicht im Ansatz.
312. Die Berufung ist auch nicht gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO wegen besonderer rechtlicher oder tatsächlicher Schwierigkeiten zuzulassen.
32Schwierigkeiten solcher Art liegen vor, wenn der Ausgang des Rechtsstreits aufgrund des Zulassungsvorbringens bei summarischer Prüfung als offen erscheint. Dies ist der Fall, wenn das Zulassungsvorbringen – etwa wegen der Komplexität der betroffenen Tatsachen- bzw. Rechtsfragen – Anlass zu solchen Zweifeln gibt, welche sich nicht schon ohne Weiteres im Zulassungsverfahren, sondern erst in einem Berufungsverfahren mit der erforderlichen Sicherheit klären und entscheiden lassen.
33Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 27. Februar 2018– 1 A 2072/15 –, juris, Rn. 40, und vom 13. Februar 2018 – 1 A 2517/16 –, juris, Rn. 28 f., m. w. N.
34Dem Vorbringen des Klägers sind derartige besondere rechtliche oder tatsächliche Schwierigkeiten nicht zu entnehmen. Dies gilt auch mit Blick auf den Vortrag des Klägers, er leide möglicherweise an einer sehr seltenen Erkrankung, für die es bisher keine Therapiekonzepte gebe. Nach dem vom Kläger – wie dargelegt – nicht substantiiert in Frage gestellten, nachvollziehbaren Ansatz des Verwaltungsgerichts kommt es für die Feststellung der Dienstunfähigkeit nach § 44 Abs. 3 Satz 1 SG weder darauf an, ob eine Diagnose gestellt werden kann, noch darauf, ob es bei der zwischenzeitlich angenommenen, später aber wieder verworfenen Diagnose gültige Therapiekonzepte gibt.
353. Die Berufung ist auch nicht wegen der geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen.
36Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung im Sinne dieser Vorschrift, wenn sie eine konkrete noch nicht geklärte Rechts- oder Tatsachenfrage aufwirft, deren Beantwortung sowohl für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war als auch für die Entscheidung im Berufungsverfahren erheblich sein wird, und die über den konkreten Fall hinaus wesentliche Bedeutung für die einheitliche Anwendung oder Weiterentwicklung des Rechts hat. Zur Darlegung des Zulassungsgrundes ist die Frage auszuformulieren und substantiiert auszuführen, warum sie für klärungsbedürftig und entscheidungserheblich gehalten und aus welchen Gründen ihr Bedeutung über den Einzelfall hinaus zugemessen wird.
37Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 28. August 2018– 1 A 2092/16 –, juris, Rn. 34, und vom 13. Februar 2018 – 1 A 2517/16 –, juris, Rn. 32.
38Hier sind bereits die Darlegungsanforderungen nicht erfüllt. Der Kläger hat schon keine Fragen ausformuliert.
394. Die Berufung ist auch nicht wegen eines Verfahrensfehlers nach § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO zuzulassen.
40a) Es liegt keine Überraschungsentscheidung vor, die den Kläger in seinem rechtlichen Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG verletzen würde. Eine Entscheidung stellt sich als „Überraschungsurteil“ dar, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der die Beteiligten nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen brauchten. Eine Überraschungsentscheidung liegt dagegen nicht vor, wenn das Gericht einen Rechtsstandpunkt eingenommen hat, der aufgrund der vorhandenen Rechtsprechung bekannt sein konnte.
41Vgl. Neumann/Korbmacher, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 138 Rn. 107 und 146 f., m. w. N.; ferner etwa OVG NRW, Beschlüsse vom 8. Mai 2012 – 1 A 749/10 –, n. v., BA S. 2, und vom 23. August 2010 – 1 A 3124/08 –, juris, Rn. 34 bis 37, jeweils m. w. N.
42Gemessen hieran musste das Verwaltungsgericht den Kläger nicht ausdrücklich darauf hinweisen, dass es seine Kritik an der ergänzenden Stellungnahme des Dr. I. nicht teilt. Dass dies der Fall ist, musste sich dem Kläger ohne Weiteres aufdrängen, nachdem das Verwaltungsgericht weder seine schriftliche noch seine– ins Protokoll aufgenommene – Kritik in der mündlichen Verhandlung vom 7. Dezember 2016 zum Anlass einer weiteren Aufklärung genommen hat. Mit Blick auf den beanstandungsfrei vom Verwaltungsgericht eingenommenen Standpunkt, es komme für die Beurteilung der Dienstunfähigkeit des Klägers nicht auf die konkrete Diagnose seiner Erkrankung an, musste es auch hinsichtlich der fachmedizinisch unklaren Erkenntnislage keinen Hinweis erteilen. Diese Frage war auch nach diesem – aufgrund der auch dem Kläger bekannten höchstrichterlichen Rechtsprechung naheliegenden – Rechtstandpunkt unerheblich.
43b) Ein Verstoß gegen § 116 Abs. 2 VwGO liegt erkennbar nicht vor. Nach dieser Vorschrift ist statt der Verkündung die Zustellung des Urteils zulässig; das Urteil ist in diesem Fall binnen zwei Wochen nach der mündlichen Verhandlung der Geschäftsstelle zu übermitteln. Dies ist hier geschehen, was sich – anders als der Kläger meint – eindeutig aus der Gerichtsakte ergibt. Das auf die letzte mündliche Verhandlung vom 7. Dezember 2016 ergangene Urteil ist ausweislich des auf dem Original des Urteils angebrachten Eingangsvermerks der Geschäftsstelle am 21. Dezember 2016 dort eingegangen und noch am selben Tag elektronisch archiviert worden. Ausweislich des Faxberichts ist es dem Prozessbevollmächtigten des Klägers bereits am frühen Morgen des 22. Dezember 2016 (7:10 Uhr) übermittelt worden.
44c) Für den ferner geltend gemachten Verstoß gegen §§ 112 (Besetzung des Gerichts), 117 (Form und Inhalt des Urteils), und 108 (Urteilsgrundlage) VwGO ist schon im Ansatz nichts ersichtlich. Der Kläger meint insoweit, es sei nicht erkennbar, dass die in der Originalurkunde angebrachten handschriftlichen Änderungen und Streichungen von allen Richtern befürwortet worden seien, jedenfalls ergebe sich bei einem Vergleich des Originals mit der beglaubigten Abschrift nicht, wann etwa die Streichungen vorgenommen worden seien. Allein der Umstand, dass alle an der mündlichen Verhandlung beteiligten Richter den mit den handschriftlichen Änderungen und Streichungen versehenen Urteilsentwurf unterschrieben und dieses unterschriebene Originalurteil so der Geschäftsstelle übermittelt haben, belegt, dass bei der Unterschriftsleistung alle Richter mit den angebrachten Änderungen einverstanden waren. Der im Vorbringen des Klägers enthaltene Verdacht, das Urteil sei im Wege einer Urkundenfälschung nachträglich geändert worden, ist haltlos.
45d) Die von dem Kläger geltend gemachte Verletzung der §§ 86 Abs. 2, 98 VwGO ist nicht mehr rügefähig. Es trifft zwar zu, dass das Verwaltungsgericht die Ablehnung des klägerischen Beweisantrags zu 5. in der mündlichen Verhandlung vom 16. März 2016 ausweislich des Protokolls der öffentlichen Sitzung nicht ihrem wesentlichen Inhalt nach begründet hat. Im Unterlassen der Begründung eines in der mündlichen Verhandlung gestellten, vor Erlass des Urteils abgelehnten Beweisantrags liegt ein Verstoß gegen § 86 Abs. 2 VwGO. Nach § 295 Abs. 1 ZPO i. V. m. § 173 VwGO kann das Fehlen der Begründung für den abgelehnten Beweisantrag im Rechtsmittelverfahren jedoch nicht mehr gerügt werden, wenn der (anwaltlich vertretene) Beteiligte den Mangel bei der nächsten mündlichen Verhandlung, die aufgrund des betreffenden Verfahrens stattgefunden hat, nicht gerügt hat, obwohl er erschienen ist und ihm der Mangel bekannt war oder bekannt sein musste.
46Vgl BVerwG, Beschlüsse vom 13. Dezember 2002– 1 B 95.02 –, juris, Rn. 4, und vom 8. Dezember 1988 – 9 B 388.88 –, juris, Rn. 5; ferner Vierhaus, Beweisrecht im Verwaltungsprozess, 2011, Rn. 131.
47So liegt der Fall hier.
48e) Der Kläger geht schließlich auch fehl in der Annahme, das Urteil sei deshalb verfahrensfehlerhaft, weil es im Rubrum die erste mündliche Verhandlung vom 14. März 2016 nicht erwähnt hat. Insoweit wird auf den Inhalt des Beschlusses des Senats vom 3. August 2017 in der Sache 1 E 119/17 verwiesen, mit dem der Senat die Beschwerde des Klägers gegen die in Anwendung des § 118 VwGO erfolgte entsprechende Ergänzung des Urteils durch das Verwaltungsgericht zurückgewiesen hat. Der Senat hat darin im Übrigen ergänzend darauf hingewiesen, dass die Berichtigung des Urteils nach § 118 Abs. 1 VwGO nicht zwingend geboten gewesen wäre, weil schon die Angabe des Tages, an dem die mündliche Verhandlung geschlossen wurde, für den Urteilsinhalt nach § 117 Abs. 2 VwGO nicht wesentlich sei. Gleiches müsse erst recht hinsichtlich der Angabe anderer, voraufgegangener Verhandlungstermine gelten. Hieran hält der Senat fest.
49Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
50Die Festsetzung des Streitwerts für das erstinstanzliche Verfahren, die der Senat in Anwendung der Regelung des § 63 Abs. 3 GKG unter Änderung der auf 56.397,77 Euro lautenden erstinstanzlichen Festsetzung vornimmt, beruht auf den §§ 40, 52 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 und 3 GKG. Der danach anzusetzende Jahresbetrag der Bezüge, die dem jeweiligen Kläger nach Maßgabe des im Zeitpunkt der Klageerhebung (hier: 10. Juli 2013, VG P1. ) bekanntgemachten einschlägigen Besoldungsrechts unter Zugrundelegung der jeweiligen Erfahrungsstufe fiktiv für das innegehabte Amt im Kalenderjahr der Klageerhebung zu zahlen sind, beläuft sich hier auf 47.410,73 Euro. Seiner Berechnung ist zugrunde zu legen, dass der Kläger zuletzt, d. h. bei der Beendigung seines Dienstverhältnisses mit Ablauf des 31. März 2013, nach A 11 BBesO besoldet wurde (vgl. das einschlägige Versorgungsblatt vom 13. Dezember 2012, hinten in Beiakte Heft 8) und dass sich das im Zeitpunkt der Klageerhebung bekanntgemachte monatliche Grundgehalt nach A 11 BBesO bei Zugrundelegung der Erfahrungsstufe 8 für Januar bis Juli 2013 auf 3.931,24 Euro und für August bis Dezember 2013 auf 3.978,41 Euro belief, was auf den genannten Gesamtjahresbetrag führt. Ein dreizehntes Monatsgehalt, wie es das Verwaltungsgericht seiner Berechnung zugrunde gelegt hat, gab es seinerzeit nach bereits erfolgter Integration der Sonderzahlung in 12 Monategehälter nicht mehr. Nicht zu berücksichtigen sind bei der Ermittlung der maßgeblichen Bezüge die nach § 52 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 und Satz 3 GKG ausgenommenen Besoldungsbestandteile. Die frühere (ruhegehaltfähige) allgemeine Stellenzulage, die das Verwaltungsgericht berücksichtigt hat, existierte 2013 ebenfalls nicht mehr.
51Die Festsetzung des Streitwerts für das am 3. Januar 2017 eingeleitete zweitinstanzliche Verfahren beruht auf den vorzitierten, die erstinstanzliche Festsetzung betreffenden Vorschriften sowie zusätzlich auf § 47 Abs. 1 und 3 GKG und folgt denselben Grundsätzen wie die korrigierte erstinstanzliche Festsetzung. Zu berücksichtigen ist hier aber, dass der Kläger zuvor, nämlich mit dem seit dem 30. Juli 2015 rechtskräftigen Urteil des Truppendienstgerichts Süd vom 11. Juni 2015 wegen eines Dienstvergehens in den Dienstgrad eines Oberleutnants a. D. herabgesetzt worden war (vgl. die Rechtskraftmitteilung vom 7. August 2015, hinten in Beiakte Heft 8), weshalb insoweit die Besoldung nach A 10 BBesO maßgeblich ist. Danach ist hier ein Betrag von insgesamt 46.961,25 Euro (Januar 2017: 3.830,91 Euro; übrige Monate jeweils 3.920,94 Euro) anzusetzen.
52Dieser Beschluss ist hinsichtlich der Streitwertfestsetzung nach §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG und im Übrigen gemäß § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar. Das angefochtene Urteil ist nunmehr rechtskräftig, § 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO.
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 5.000 Euro festgesetzt.
Gründe
1I.
2Die Antragstellerin betreibt in der Rechtsform der GmbH an 48 Standorten in Nordrhein-Westfalen Spielhallen. Sie begehrt die vorläufige Außervollzugsetzung von § 10 Abs. 1 Nr. 3 der Verordnung zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 (Coronaschutzverordnung - CoronaSchVO) vom 30. Oktober 2020 (GV. NRW. S. 1044b), zuletzt geändert durch Verordnung vom 9. November 2020 (GV. NRW. S. 1046a).
3§ 10 Abs. 1 CoronaSchVO lautet wie folgt:
4§ 10
5Freizeit- und Vergnügungsstätten
6(1) Der Betrieb von
71. Schwimm- und Spaßbädern, Saunen und Thermen und ähnlichen
8 Einrichtungen,
9 2. Freizeitparks, Indoor-Spielplätzen und ähnlichen Einrichtungen für
10 Freizeitaktivitäten (drinnen und draußen),
113. Spielhallen, Spielbanken, Wettannahmestellen und ähnlichen Einrichtungen,
124. Clubs, Diskotheken und ähnlichen Einrichtungen
13ist bis zum 30. November 2020 untersagt. Ausgenommen ist der Betrieb von Einrichtungen für die in § 9 Absatz 4 genannten Ausbildungsangebote.
14Die Antragstellerin hat am 2. November 2020 den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt.
15Zur Begründung macht sie im Wesentlichen geltend: Es fehle an einer hinreichenden Ermächtigungsgrundlage für das angefochtene Verbot. Gemessen an dem Ziel, Kontakte zu reduzieren und so das Infektionsgeschehen einzudämmen, sei das Betriebsverbot für Spielhallen inkohärent. Es sei nicht nachvollziehbar, warum der Einzelhandel geöffnet bleibe, aber Freizeiteinrichtungen unabhängig von der von ihnen ausgehenden Infektionsgefahr schließen müssten. Da in Spielhallen maximal 12 Geldspielgeräte aufgestellt werden dürften und für jedes Geldspielgerät 12 qm Nutzfläche zur Verfügung stehen müsse, sei das Infektionsrisiko - auch mit Blick auf die sonstigen von der Antragstellerin getroffenen Infektionsschutzmaßnahmen - sehr gering. Als milderes Mittel hätte der Verordnungsgeber wie beim Einzelhandel Vorgaben zur zulässigen Besucherzahl in Spielhallen (z. B. je 10 qm Betriebsfläche) treffen können. Alternativ hätte er sämtliche nicht systemrelevanten Wirtschaftszweige für zwei Wochen schließen können, um die Infektionszahlen schneller zu senken.
16Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,
17im Wege der einstweiligen Anordnung den Vollzug von § 10 Abs. 1 Nr. 3 CoronaSchVO vorläufig auszusetzen, soweit hierin ein Betriebsverbot für Spielhallen angeordnet wird.
18Der Antragsgegner verteidigt die angegriffene Regelung und beantragt,
19den Antrag abzulehnen.
20II.
21Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat keinen Erfolg. Der gemäß § 47 Abs. 6, Abs. 1 Nr. 2 VwGO i. V. m. § 109a JustG NRW statthafte und auch im Übrigen zulässige Antrag ist unbegründet. Die von der Antragstellerin begehrte einstweilige Anordnung ist nicht zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten (§ 47 Abs. 6 VwGO).
22Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind zunächst die Erfolgsaussichten des Normenkontrollantrags in der Hauptsache, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen. Ist danach der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Ergibt diese Prüfung, dass ein Normenkontrollantrag in der Hauptsache voraussichtlich begründet wäre, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug der streitgegenständlichen Norm zu suspendieren ist. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug der Rechtsvorschrift vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist. Lassen sich die Erfolgsaussichten des Normenkontrollverfahrens nicht abschätzen, ist über den Erlass einer beantragten einstweiligen Anordnung im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden: Gegenüberzustellen sind die Folgen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Normenkontrollantrag aber Erfolg hätte, und die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Antrag nach § 47 Abs. 1 VwGO aber erfolglos bliebe. Die für den Erlass der einstweiligen Anordnung sprechenden Erwägungen müssen die gegenläufigen Interessen dabei deutlich überwiegen, also so schwer wiegen, dass der Erlass der einstweiligen Anordnung - trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache - dringend geboten ist.
23Vgl. BVerwG, Beschluss vom 16. September 2015 ‑ 4 VR 2.15 -, juris, Rn. 4.
24Gemessen an diesen Grundsätzen ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht dringend geboten, weil der Senat bei der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur möglichen summarischen Prüfung von offenen Erfolgsaussichten eines noch zu stellenden Normenkontrollantrags ausgeht (I.), die deswegen anzustellende Folgenabwägung aber zu Lasten der Antragstellerin ausfällt (II.).
25I. 1. Bei summarischer Prüfung erweist sich noch nicht als offensichtlich, dass § 32 Satz 1 i. V. m. § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG als hinreichende, dem Parlamentsvorbehalt genügende Ermächtigungsgrundlage für die derzeit erneut (in § 9 Abs. 1 Satz 1 CoronaSchVO) geregelten Betriebsverbote aufgrund der sich mit zunehmender Häufung intensivierenden Eingriffe in die Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG von vornherein nicht mehr in Betracht kommt. Zwar gewinnen die in der Rechtsprechung des erkennenden Senats bereits angesprochenen, zu Beginn der Pandemielage jedoch verworfenen verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Generalklausel des § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 IfSG als Grundlage für allgemeine flächendeckende Betriebsverbote,
26siehe insoweit grundlegend Beschluss vom 6. April 2020 - 13 B 398/20.NE -, juris, Rn. 37 ff.; vgl. ferner etwa Beschluss vom 23. Juni 2020 ‑ 13 B 695/20.NE ‑, juris, Rn. 43 ff., m. w. N.,
27mit Fortdauer der Pandemielage und Wiederholung der verordneten Betriebsschließungen zunehmend Gewicht. Insoweit spricht einiges dafür, dass der Gesetzgeber auf Dauer besonders grundrechtsintensive flächendeckende Maßnahmen, wie etwa Untersagungen unternehmerischer Tätigkeiten, selbst tatbestandlich und auf Rechtsfolgenseite konkretisieren und möglicherweise auch eine Entscheidung über etwaige Entschädigungsleistungen (wie sie bereits im 12. Abschnitt des Infektionsschutzgesetzes für andere Sachverhalte normiert wurden) treffen muss.
28Vgl. dazu nunmehr den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, Entwurf eines Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 3. November 2020, BT-Drs. 19/23944, der in einem neuen § 28a IfSG für die Dauer der Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite insbesondere Betriebsschließungen ausdrücklich vorsieht.
29Allerdings ist in der Rechtsprechung auch anerkannt, dass es im Rahmen unvorhergesehener Entwicklungen aus übergeordneten Gründen des Gemeinwohls geboten sein kann, nicht hinnehmbare gravierende Regelungslücken für einen Übergangszeitraum insbesondere auf der Grundlage von Generalklauseln zu schließen, um so auf schwerwiegende Gefahrensituationen auch mit im Grunde genommen näher regelungsbedürftigen Maßnahmen vorläufig reagieren zu können.
30Siehe dazu nochmals OVG NRW, Beschluss vom 6. April 2020 - 13 B 398/20.NE -, juris, Rn. 59 ff., m. w. N.
31Dass ein solcher Übergangszeitraum ‑ die grundsätzliche Notwendigkeit einer näheren (anvisierten) Regelung durch den parlamentarischen Gesetzgeber unterstellt ‑ bereits abgelaufen ist, kann im Verfahren der einstweiligen Anordnung nicht als offensichtlich angenommen werden, sondern bedarf eingehender Prüfung in einem Hauptsacheverfahren.
32Vgl. zuletzt zu § 32 Satz 1 und 2 i. V .m. § 28 Abs. 1 Satz 1, 2 IfSG als hinreichende Ermächtigungsgrundlage für Betriebsverbote: VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 6. Oktober 2020 - 1 S 2871/20 -, juris, Rn. 30 (offen gelassen); zu Eingriffen in die Berufsfreiheit durch das Verbot von Zuschauern bei Sportveranstaltungen: Bay. VGH, Beschluss vom 16. September 2020 ‑ 20 NE 20.1994 ‑, juris, Rn. 17; siehe auch Bay. VerfGH, Entscheidung vom 21. Oktober 2020 ‑ Vf. 26-VII-20 ‑, juris, Rn. 17 f.
332. Die angegriffene Regelung in § 10 Abs. 1 Nr. 3 CoronaSchVO erweist sich im Übrigen nicht als offensichtlich rechtswidrig. Der mit der streitigen Maßnahme in erster Linie verbundene Eingriff in die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsfreiheit und gegebenenfalls die von Art. 14 GG geschützte Eigentumsgarantie der Betreiber von gastronomischen Einrichtungen genügt bei summarischer Bewertung dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (a) und begründet danach wohl keinen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG (b).
34a) Das Betriebsverbot für Spielhallen dient dem legitimen Zweck, die Weiterverbreitung des SARS-CoV-2-Virus einzudämmen. Der Verordnungsgeber darf davon ausgehen, dass die Corona-Pandemie angesichts der in jüngster Zeit erfolgten rapiden und flächendeckenden Zunahme der Zahl der nachweislich infizierten Personen eine ernstzunehmende Gefahrensituation begründet, die staatliches Einschreiten nicht nur rechtfertigt, sondern mit Blick auf die Schutzpflicht des Staates für Leib und Gesundheit der Bevölkerung auch gebietet.
35Vgl. zu dieser Schutzpflicht BVerfG, Urteil vom 28. Januar 1992 - 1 BvR 1025/82 u.a. -, juris, Rn. 69, m. w. N.
36Die gegenwärtige Situation ist durch ein exponentielles Ansteigen der Infektionszahlen gekennzeichnet. Die 7-Tage-Inzidenz liegt mit Stand vom 9. November 2020 für ganz Deutschland bei einem Wert von 139,1 und für Nordrhein-Westfalen nochmals deutlich darüber bei einem Wert von 168,5. Die berichteten R-Werte liegen derzeit bei 0,88 (4 Tage-R-Wert) und 0,92 (7-Tage-R-Wert). Gleichzeitig steigt mit der Zahl der Neuinfizierungen die Zahl der Corona-Patienten auch in den nordrhein-westfälischen Krankenhäusern stark an. Die Zahl der intensivmedizinisch behandelten COVID-19-Fälle hat sich bundesweit in den vergangenen drei Wochen von 618 Patienten am 13. Oktober 2020 auf 3.059 Patienten am 10. November 2020 fast verfünffacht. Dies lässt sich auch nicht mehr durch wenige einzelne Ursachen erklären. Vielmehr stellt sich das aktuelle Infektionsgeschehen sehr diffus dar.
37Vgl. Robert Koch-Institut, Täglicher Lagebericht zur Coronavirus-Krankheit-2019 (Covid-19), Stand: 10. November 2020, abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Nov_2020/2020-11-10-de.pdf?__blob= publicationFile.
38Die Krankenhäuser rechnen vor dem Hintergrund dieser Entwicklung schon bald mit einer Rekordzahl an Intensiv-Patienten. Nicht nur die Anzahl der zur Verfügung stehenden Intensivbetten (auch für nicht COVID-19-Patienten), sondern vor allem auch der Personal- bzw. Fachkräftemangel bereitet erhebliche Sorgen.
39Vgl. https://www.ruhr24.de/nrw/corona-nrw-intensivstationen-krankenhaus-covid-19-patienten-intensivbetten-alarm-aerzte-90080033.html, Stand: 29. Oktober 2020; vgl. zur Entwicklung der Fallzahlen Tagesreport DIVI Intensivregister https://www.divi.de/joomlatools-files/docman-files/divi-intensivregister-tagesreports/DIVI-Intensivregister_Tagesreport_2020_11_05.pdf.
40Angesichts dessen sieht der Verordnungsgeber zu Recht einen dringenden Handlungsbedarf. Ziel seiner Maßnahmen ist es, in dieser Situation durch eine allgemeine Reduzierung von Kontakten vor allem im Privaten und im Freizeit- und Unterhaltungsbereich bei gleichzeitiger Offenhaltung von Schulen und Kitas und weitgehender Schonung der Wirtschaft im Übrigen den exponentiellen Anstieg des Infektionsgeschehens bis auf eine wieder nachverfolgbare Größe von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner pro Woche zu senken, um eine Überforderung des Gesundheitssystems zu vermeiden.
41Vgl. dazu den Beschluss der Videokonferenz der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder am 28. Oktober 2020; abrufbar unter:https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/videokonferenz-der-bundeskanzlerin-mit-den-regierungschefinnen-und-regierungschefs-der-laender-am-28-oktober-2020-1805248, den der Antragsgegner seinem Verordnungserlass zugrunde gelegt hat.
42Zur Erreichung dieses Ziels dürfte die angefochtene Maßnahme geeignet (aa), erforderlich (bb) und angemessen sein (cc). Ebenso wie für die Eignung einer Maßnahme kommt dem Gesetz- bzw. im Rahmen der Ermächtigung dem Verordnungsgeber für ihre Erforderlichkeit ein Beurteilungs- und Prognosespielraum zu.
43Vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 29. September 2010 - 1 BvR 1789/10 -, juris, Rn. 21; BVerwG, Urteil vom 16. Dezember 2016 - 8 C 6.15 -, juris, Rn. 49.
44Diesen hat der Verordnungsgeber nicht erkennbar überschritten.
45aa) Dass Maßnahmen zur Reduzierung von Kontakten im Privaten und im Freizeitbereich grundsätzlich geeignet sind, Infektionsrisiken zu reduzieren, ist angesichts des Hauptübertragungswegs, der respiratorischen Aufnahme virushaltiger Partikel, die beim Atmen, Husten, Sprechen, Singen oder Niesen entstehen, nicht zweifelhaft. Das Betriebsverbot für Spielhallen trägt zur Kontaktreduzierung bei. In Spielhallen findet sich eine größere Zahl wechselnder Personen (maximal 12 Nutzer von Geldspielgeräten) typischerweise für einen längeren Zeitraum ein. Auch wenn die Antragstellerin Unterhaltungsgeräte wie Billard, Kicker und Dart derzeit aus dem Angebot genommen hat und die Gäste jeweils allein an einem Spielgerät sitzen, lässt sich mit Blick auf den typischerweise längeren Aufenthalt der Gäste, der häufig mit dem Konsum von Getränken und auch Speisen einhergeht, eine Weiterverbreitung des Coronavirus in solchen Einrichtungen nicht völlig ausschließen. Das Betriebsverbot für Spielhallen verhindert eine Übertragung des Coronavirus in diesen Lokalitäten. Auf diese Weise beugt es auch einem Eintrag der Infektion in das weitere berufliche und private Umfeld der Gäste vor.
46Unabhängig von der konkreten Ausgestaltung des Betriebs ist zudem zu berücksichtigen, dass bereits die Öffnung von Spielhallen für den Publikumsverkehr zwangsläufig zu weiteren Sozialkontakten führt, indem Menschen sich, um zu den entsprechenden Einrichtungen zu gelangen, in der Öffentlichkeit bewegen und dort etwa in öffentlichen Verkehrsmitteln aufeinandertreffen. Nicht zuletzt auch dieser Effekt soll nach dem Willen des Verordnungsgebers mit den insgesamt ergriffenen Maßnahmen zur Kontaktbeschränkung aus den oben beschriebenen Gründen deutlich reduziert werden.
47bb) Das Verbot dürfte auch erforderlich sein. Dem Verordnungsgeber wird voraussichtlich nicht vorgehalten werden können, sich nicht für ein anderes, die Berufsfreiheit der Antragstellerin weniger beeinträchtigendes Regelungsmodell entschieden zu haben. Angesichts der Diffusität des Infektionsgeschehens und des Umstands, dass sich Infektionsketten größtenteils nicht mehr zurückverfolgen lassen,
48vgl. Robert Koch-Institut, Täglicher Lagebericht zur Coronavirus-Krankheit-2019 (Covid-19), S. 2, Stand: 5. November 2020, abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Nov_2020/2020-11-05-de.pdf?__blob= publicationFile.
49kann die Antragstellerin nicht mit Erfolg geltend machen, ein Betriebsverbot sei nicht erforderlich, weil sich Spielhallen nicht als Infektionstreiber erwiesen hätten.
50Vgl. dazu ausführlich auch Nds. OVG, Beschuss vom 9. November 2020 - 13 MN 472/20 -, juris, Rn. 49.
51Der Vorschlag der Antragstellerin, wie beim Einzelhandel hätte eine Begrenzung der zulässigen Gästezahl in Spielhallen angeordnet werden können, stellt zwar ein milderes Mittel dar, das aber nicht ebenso geeignet wie ein Betriebsverbot ist. Das weiter vorgeschlagene zweiwöchige Betriebsverbot für alle nicht systemrelevanten Wirtschaftszweige würde zwar die Berufsfreiheit der Antragstellerin weniger beeinträchtigen, dafür aber in die Berufsfreiheit anderer Grundrechtsträger eingreifen und das Konzept des Verordnungsgebers verändern. Da dem Verordnungsgeber insoweit ein Gestaltungsspielraum zusteht, kann eine solche Gestaltung nicht als ein im Verhältnis zur Antragstellerin milderes Mittel qualifiziert werden.
52cc) Das Verbot dürfte sich auch als angemessen erweisen. Angemessen, d. h. verhältnismäßig im engeren Sinne, ist eine freiheitseinschränkende Regelung, wenn das Maß der Belastung des Einzelnen noch in einem vernünftigen Verhältnis zu den der Allgemeinheit erwachsenden Vorteilen steht. Hierbei ist eine Abwägung zwischen den Gemeinwohlbelangen, deren Wahrnehmung der Eingriff in Grundrechte dient, und den Auswirkungen auf die Rechtsgüter der davon Betroffenen notwendig. Die Interessen des Gemeinwohls müssen umso gewichtiger sein, je empfindlicher der Einzelne in seiner Freiheit beeinträchtigt wird. Zugleich wird der Gemeinschaftsschutz umso dringlicher, je größer die Nachteile und Gefahren sind, die aus gänzlich freier Grundrechtsausübung erwachsen können.
53St. Rspr., vgl. etwa BVerfG, Urteil vom 26. Februar 2020 ‑ 2 BvR 2347/15 ‑, juris, Rn. 265, m. w. N.
54Davon ausgehend ist die fragliche Regelung bei vorläufiger Bewertung nicht zu beanstanden, weil die Schwere der damit erneut verbundenen Grundrechtseingriffe voraussichtlich noch nicht außer Verhältnis zu dem beabsichtigten Verordnungszweck steht. Das Betriebsverbot für Spielhallen greift in ganz erheblicher Weise in das Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) und gegebenenfalls auch das von der Eigentumsgarantie erfasste Recht des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs (Art. 14 Abs. 1 GG) der davon betroffenen Betreiber ein. Infolge der im Frühjahr verordneten Schließung dürften ‑ trotz der staatlichen Unterstützungsmaßnahmen ‑ viele Betriebe mit ganz erheblichen wirtschaftlichen Einbußen konfrontiert sein. Die Umsatzausfälle des Monats November 2020 sollen jedoch durch staatliche Unterstützungsmaßnahmen abgefedert werden. Das außerordentliche Wirtschaftshilfeprogramm des Bundes stellt hierfür insgesamt bis zu 10 Milliarden Euro bereit. Unternehmen mit bis zu 50 Beschäftigten erhalten eine einmalige Kostenpauschale in Höhe von bis zu 75 Prozent ihres Umsatzes von November 2019. Die Höhe errechnet sich aus dem durchschnittlichen wöchentlichen Umsatz des Vorjahresmonats, gezahlt wird sie für jede angeordnete Lockdown- Woche. Bei jungen Unternehmen, die nach November 2019 gegründet wurden, gelten die Umsätze von Oktober 2020 als Maßstab. Solo-Selbständige haben das Wahlrecht, als Bezugsrahmen für den Umsatz auch den durchschnittlichen Vorjahresumsatz 2019 zugrunde zu legen. Für größere Unternehmen gelten abweichende Prozentanteile vom Vorjahresumsatz. Die Höhe der Zuschüsse wird hier im Einzelnen anhand beihilferechtlicher Vorgaben ermittelt. Anderweitige Hilfen für den Zeitraum wie beispielsweise Kurzarbeitergeld oder Überbrückungshilfe werden vom Erstattungsbetrag abgezogen.
55Vgl. Übersicht über die Corona-Hilfen des Bundes, https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/Themen/Schlaglichter/Corona-Schutzschild/2020-10-29-neue-corona-hilfen.html, Stand: 5. November 2020.
56Hinzu tritt die Überbrückungshilfe des Bundes (2. Phase). Die 2. Phase der Überbrückungshilfe ist ein branchenübergreifendes Zuschussprogramm mit einer Laufzeit von vier Monaten (September bis Dezember 2020), welches zum Ziel hat, Umsatzrückgänge während der Corona-Krise abzumildern. Die Förderung schließt nahtlos an die 1. Phase der Überbrückungshilfe mit dem Förderzeitraum Juni bis August 2020 an. Dabei werden die Zugangsbedingungen abgesenkt und die Förderung ausgeweitet. Das Hilfsprogramm unterstützt kleine und mittelständische Unternehmen sowie Solo-Selbstständige und Freiberufler, die von den Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung besonders stark betroffen sind, mit nicht-rückzahlbaren Zuschüssen zu den betrieblichen Fixkosten. Je nach Höhe der betrieblichen Fixkosten können Unternehmen für die vier Monate bis zu 200.000 Euro an Förderung erhalten.
57Vgl. https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Pressemitteilungen/Finanzpolitik/2020/09/2020-09-18-PM-Corona-Ueberbrueckungshilfe-verlaengert.html, abgerufen am 5. November 2020.
58Von Seiten des Landes Nordrhein-Westfalen wurde das Bundesprogramm durch die NRW Überbrückungshilfe Plus ergänzt (1. Phase in den Fördermonaten Juni bis August 2020). Diese stellt zusätzliche Hilfen für Solo-Selbstständige, Freiberufler und im Unternehmen tätige Inhaber von Einzelunternehmen und Personengesellschaften mit höchstens 50 Mitarbeitern in Nordrhein-Westfalen bereit. Berechtigte erhielten danach eine einmalige Zahlung in Höhe von 1.000 Euro pro Monat für maximal drei Monate. Das Programm wird für eine Laufzeit von weiteren vier Monaten (September bis Dezember 2020) fortgesetzt.
59Vgl. Übersicht des Wirtschaftsministeriums über Überbrückungshilfe (2. Phase),
60https://www.wirtschaft.nrw/ueberbrueckungshilfe2, abgerufen am 5. November 2020.
61Auch wenn diese staatlichen Unterstützungsleistungen bislang lediglich angekündigt sind und die Antragstellerin trotz Erhalt solcher Leistungen im Monat November 2020 erneut einen Verlust erleiden sollte, dürften die mit der angefochtenen Regelung verbundenen Grundrechtseingriffe noch in einem vernünftigen Verhältnis zu dem mit der Regelung verfolgten Zweck stehen, ganz erhebliche Gefahren für Leib und Leben einer Vielzahl von Menschen im Falle einer unkontrollierten Infektionsausbreitung zu verhindern.
62b) Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG dürfte bei der derzeit allein möglichen summarischen Bewertung ebenfalls nicht vorliegen. Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebietet dem Normgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln.
63Vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. Februar 2012 - 1 BvL 14/07 -, juris, Rn. 40.
64Er verwehrt dem Normgeber nicht jede Differenzierung. Diese bedürfen jedoch stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Differenzierungsziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind. Je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen reichen die Grenzen für die Normsetzung vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse. Insoweit gilt ein stufenloser, am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab, dessen Inhalt und Grenzen sich nicht abstrakt, sondern nur nach den jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereichen bestimmen lassen.
65Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 21. Juni 2011 - 1 BvR 2035/07 -, juris, Rn. 64 f., und vom 18. Juli 2012 ‑ 1 BvL 16/11 ‑, juris, Rn. 31 f.
66Hiernach dürften sind die sich aus dem Gleichheitssatz ergebenden Grenzen für die Infektionsschutzbehörde in der gegenwärtigen Pandemielage weniger streng sein.
67Vgl. OVG Bln.-Bbg., Beschluss vom 17. April 2020 ‑ OVG 11 S 22/20 -, juris, Rn. 25.
68Sachgründe können sich im vorliegenden Regelungszusammenhang aus dem infektionsrechtlichen Gefahrengrad der Tätigkeit, aber voraussichtlich auch aus ihrer Relevanz für das öffentliche Leben (etwa Schulen, Kitas, Bildungseinrichtungen, ÖPNV sowie die Versorgung der Bevölkerung mit Gütern und Dienstleistungen) ergeben.
69Vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 14. Mai 2020 ‑ 13 MN 156/20 -, juris, Rn. 36.
70In Anwendung dieses Maßstabs drängt sich ein Gleichheitsverstoß des Verordnungsgebers nicht auf. Dieser durfte im Rahmen des von ihm verfolgten Regelungskonzepts voraussichtlich das gesellschaftliche Bedürfnis nach bestimmten, weiter zulässigen (Dienst-)Leistungen ebenso wie die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen der in Betracht kommenden Maßnahmen in seine Entscheidung einfließen lassen, weite Teile des öffentlichen Lebens, in denen ebenfalls Menschen in geschlossenen Räumlichkeiten zusammentreffen, nicht zu schließen.
71Vgl. in diesem Zusammenhang auch Nds. OVG, Beschuss vom 9. November 2020 - 13 MN 472/20 -, juris, Rn. 61 f., wonach jedenfalls keine willkürliche Ungleichbehandlung vorliegt.
72II. Die angesichts der offenen Erfolgsaussichten anzustellende Folgenabwägung ergibt, dass die von der Antragstellerin dargelegten wirtschaftlichen Einbußen unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit des angefochtenen Verbots hinter den Schutz von Leben und Gesundheit einer Vielzahl von Menschen zurücktreten müssen. Angesichts des eingangs beschriebenen rasanten Anstiegs der Zahl von Neuinfektionen und der vor diesem Hintergrund konkret zu befürchtenden Überlastung der (intensiv)medizinischen Behandlungskapazitäten fallen die zu erwartenden Folgen einer Außervollzugsetzung der angegriffenen Norm schwerer ins Gewicht als die durch die vorbeschriebenen Hilfsprogramme abgemilderten wirtschaftlichen Folgen ihres einstweilig weiteren Vollzugs.
73So mit eingehender Begründung auch Nds. OVG, Beschluss vom 9. November 2020 ‑ 13 MN 472/20 ‑, juris, Rn. 64 ff.
74Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 2 GKG. Da die angegriffene Regelung mit Ablauf des 30. November 2020 außer Kraft tritt, zielt der Antrag inhaltlich auf eine Vorwegnahme der Hauptsache, sodass eine Reduzierung des Auffangstreitwerts für das Eilverfahren nicht veranlasst ist.
75Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Tenor
Ziffer 1. des angefochtenen Beschlusses wird geändert. Die Anträge werden abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens beider Instanzen.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 2.500,00 Euro festgesetzt.
1G r ü n d e
2Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts, mit dem dieses den Anträgen zu 1. und 2. stattgegeben hat, hat Erfolg. Die fristgerecht vorgebrachten Beschwerdegründe, auf deren Prüfung der Senat bei der hier veranlassten Überprüfung beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 i. V. m. Satz 1 und 3 VwGO), erschüttern die tragenden Gründe der angefochtenen Entscheidung (dazu nachfolgend I.). Da sich die stattgebende Entscheidung auch nicht aus anderen Gründen als richtig erweist (dazu nachfolgend II.), ist ihr Ergebnis zu korrigieren und sind die Anträge zu 1. und 2. abzulehnen.
3I. Das Beschwerdevorbringen zieht die tragenden Gründe des angefochtenen Beschlusses durchgreifend in Zweifel.
41. Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Verwaltungsgericht festgestellt, "dass der Widerspruch des Antragstellers gegen die mit Bescheid vom 29. Mai 2018 erfolgte Feststellung seiner Polizeidienstunfähigkeit" aufschiebende Wirkung hat, und zur Aufhebung der "Vollziehung" dieser Feststellung die Aufhebung der mit Schreiben vom 11. November 2019 erfolgten Zulassung zum Laufbahnwechsel sowie der mit Schreiben vom 4. Juni 2020 rückwirkend zum 4. Mai 2020 verfügten befristeten Personalmaßnahme angeordnet.
5Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Der (von ihm angeregte) Feststellungsantrag entsprechend § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO sei begründet. Der gegen das Schreiben der Bundespolizeidirektion X. vom 29. Mai 2018 fristgerecht eingelegte Widerspruch habe aufschiebende Wirkung i. S. v § 80 Abs. 1 Satz 1 und 2 VwGO, die auch nicht entfallen sei. Das Schreiben erweise sich bei der gebotenen Beurteilung nach dem objektiven Empfängerhorizont als ein feststellender Verwaltungsakt nach § 35 Satz 1 VwVfG. Unter Berücksichtigung seines Wortlauts "stelle ich gemäß § 4 Abs. 2 BPolBG Ihre Polizeidienstunfähigkeit förmlich fest" enthalte es eine Verbindlichkeit beanspruchende Regelung in Form einer Feststellung. Deutlich werde dies bei einem Vergleich der zitierten Norm, die eine Feststellung durch den Dienstvorgesetzten vorsehe, mit § 47 Abs. 1 (Satz 1) BBG, der die von ihm vorgesehene Mitteilung (u. a.) daran knüpfe, dass die bzw. der Dienstvorgesetzte den Beamten für dienstunfähig "hält". Die Feststellung nach § 4 Abs. 2 BPolBG sei nicht eine bloße unselbständige Vorbereitungshandlung. Einer solchen Annahme stehe nicht nur der Wortlaut der Norm entgegen, sondern auch die vom "normalen" Zurruhesetzungsverfahren häufig abweichende Gestaltung des weiteren Verfahrens. Der Feststellung der Polizeidienstunfähigkeit folgten nämlich häufig langwierige, die Statusrechte und auch die persönliche Lebensführung berührende Maßnahmen zur Vorbereitung des Laufbahnwechsels. Unerheblich für die vorgenommene Einordnung des Schreibens sei, dass die Antragsgegnerin dieses nicht mit dem äußeren Gepräge eines Verwaltungsakts versehen habe.
6Das weitere Begehren des Antragstellers, bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung (über die Fragen der Polizeidienstfähigkeit und des Laufbahnwechsels) von den "bereits eingeleiteten Maßnahmen zum Laufbahnwechsel" einschließlich des vorläufigen Einsatzes auf dem Zieldienstposten verschont zu bleiben und vorläufig wieder im Polizeivollzugsdienst eingesetzt zu werden, sei als Antrag auf Anordnung der Aufhebung der Vollziehung der streitigen Feststellung entsprechend § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO zu verstehen. Sowohl die mit Schreiben des Bundespolizeipräsidiums vom 11. November 2019 erfolgte Zulassung zum Laufbahnwechsel als auch die unter dem 4. Juni 2020 durch die Bundespolizeidirektion X. verfügte Personalmaßnahme seien als Folgerungen aus der Feststellung der Polizeidienstunfähigkeit des Antragstellers (faktische) Vollziehungsmaßnahmen im Sinne dieser Vorschrift. Offen bleiben könne insofern, ob die als befristete "Umsetzung" bezeichnete Personalmaßnahme richtigerweise als Abordnung und damit als Verwaltungsakt zu bewerten sei, wofür angesichts des Wechsels von einer Bundespolizeiinspektion zu einer anderen Überwiegendes spreche. § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO sei nämlich jedenfalls analog auch auf Vollstreckungsakte anzuwenden, die selbst Verwaltungsakte seien. Dem Begehren des Antragstellers, vorläufig wieder im Polizeivollzugsdienst eingesetzt zu werden, werde bereits durch die Anordnung Rechnung getragen, die vorstehenden Vollzugsmaßnahmen aufzuheben.
72. Hiergegen macht die Antragsgegnerin im Kern geltend: Der Feststellungsantrag sei bereits unzulässig, weil die erfolgte Feststellung der Polizeidienstunfähigkeit durch den unmittelbaren Dienstvorgesetzten kein Verwaltungsakt sei. Ihr fehle es an einer der Bestandskraft fähigen Regelung mit unmittelbar nach außen gerichteter Rechtswirkung. Sie sei in dem gestuften Verfahren, das (erst) mit der Entscheidung des Dienstherrn über die weitere Verwendung des Beamten (Versetzung in den Ruhestand oder anderweitige Verwendung) ende, nur ein unselbständiger, diese Entscheidung vorbereitender Schritt. Die Feststellung solle den Beamten dazu veranlassen, bereits in diesem Stadium des Verfahrens Einwendungen gegen die bisherige Beurteilung seiner Polizeidienstfähigkeit zu erheben. Der Umstand, dass nach neuem Recht der Versetzung in den Ruhestand eine anderweitige Verwendung vorgehe, ändere die Rechtsnatur der Mitteilung der Dienstunfähigkeit nicht. Er bewirke nur, dass die Mitteilung zunächst die Entscheidung vorbereite, ob der Beamte anderweitig verwendet werden könne. Gegen diese Bewertung der Mitteilung spreche auch nicht der Wortlaut des § 4 Abs. 2 BPolBG. Dieser dürfe nämlich nicht, wie es das Verwaltungsgericht getan habe, isoliert betrachtet werden, sondern müsse im Gesamtkontext der Norm gesehen werden. Die streitige Feststellung sei auch nicht in der äußeren Form eines Verwaltungsakts erfolgt; namentlich sei ihr keine Rechtsbehelfsbelehrung beigefügt. Ihr bloß vorbereitender Charakter werde auch durch die in dem Schreiben weiter enthaltene Mitteilung der Absicht deutlich, eine sozialmedizinische Nachuntersuchung zur Beurteilung der gesundheitlichen Eignung für den allgemeinen Verwaltungsdienst und eine Umschulungsmaßnahme durchführen zu lassen. Die in Rede stehende Feststellung werde auch nicht wegen etwaiger vorbereitender Maßnahmen zum Laufbahnwechsel nach § 8 Abs. 2 BPolBG wie etwa der Zulassung zu Lehrgängen zu einem Verwaltungsakt. Sie berühre insbesondere noch keine Statusrechte des Beamten. Vor einer Versetzung nach § 8 Abs. 2 BPolBG sei der Beamte nämlich noch zu hören (§ 8 Abs. 3 BPolBG). Der Antragsteller habe auch nicht dargetan, dass ihm durch die vorläufige Verwendung außerhalb des Polizeivollzugsdienstes im öffentlichen Dienst des Bundes bis zur Entscheidung der Hauptsache und der dort gebotenen (abschließenden) Klärung seiner Polizeidienstfähigkeit eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung seiner Grundrechte oder seines Rechts aus Art. 33 Abs. 5 GG entstehen würde, die im Hauptsacheverfahren nicht mehr beseitigt werden könnte. Abweichendes ergebe sich nicht daraus, dass der Antragsteller während der Unterweisungs- bzw. Praktikumszeit von der Wahrnehmung seiner bisherigen dienstlichen Aufgaben ausgeschlossen sei, weil ein Beamter keinen Anspruch auf Beibehaltung der bisherigen dienstlichen Verwendung habe, sondern verpflichtet sei, ihm zugewiesene (amtsangemessene) neue Aufgaben wahrzunehmen. Auch der Bezug der "Polizeizulage" und von freier Heilfürsorge hänge nicht von der streitigen Feststellung ab. Eine vorläufige Annahme der (nicht glaubhaft gemachten) Polizeidienstfähigkeit des Antragstellers sei auch nicht aus Gründen effektiven Rechtsschutzes geboten. Dieser sei nämlich dadurch gewahrt, dass der Antragsteller gegen eine etwaige, auf die Annahme seiner Polizeidienstunfähigkeit gestützte statusberührende Versetzung in ein Amt außerhalb des Polizeivollzugsdienstes vorgehen könne. Die streitige Feststellung sei nach alledem eine den Laufbahnwechsel vorbereitende behördliche Verfahrenshandlung i. S. v. § 44a Satz 1 VwGO. Dies wäre sogar dann der Fall, wenn die Feststellung als Verwaltungsakt qualifiziert werden könnte, da die Norm grundsätzlich auch Verfahrenshandlungen erfasse, die Verwaltungsakte seien.
8Der als Antrag auf Aufhebung der (faktischen) Vollziehung umgedeutete Antrag sei ebenfalls abzulehnen, weil es – wie dargelegt – bereits an einem Verwaltungsakt fehle. Auch ein Antrag nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO könne keinen Erfolg haben, weil die – rein innerdienstlichen – Maßnahmen (Zulassung zum Laufbahnwechsel, Umsetzung) offensichtlich rechtmäßig seien. Ein erneuter Einsatz im Polizeivollzugsdienst könne mangels Polizeidienstfähigkeit selbst dann nicht erfolgen, wenn die innerdienstlichen Maßnahmen rechtswidrig wären.
93. Dieses Beschwerdevorbringen zeigt auf, dass der gestellte Feststellungsantrag (§ 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO analog) und der vom Verwaltungsgericht angenommene Antrag auf Anordnung der Aufhebung der Vollziehung (§ 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO analog) entgegen der Einschätzung des Verwaltungsgerichts unzulässig sind. Die Äußerung der Antragsgegnerin
10"Auf der Grundlage des sozialmedizinischen Gutachtens vom 14. Mai 2018 stelle ich gemäß § 4 Abs. 2 Bundespolizeibeamtengesetz (BPolBG) Ihre Polizeidienstunfähigkeit förmlich fest",
11in dem Text des an den Antragsteller gerichteten, nicht als Verwaltungsakt bezeichneten und weder mit einem Tenor noch mit einer Rechtsmittelbelehrung versehenen Schreibens der Bundespolizeidirektion X. vom 29. Mai 2018, ist nämlich schon kein Verwaltungsakt i. S. v. § 35 Satz 1 VwVfG.
12a) Ein Verwaltungsakt in diesem Sinne ist jede Verfügung, Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme, die eine Behörde zur Regelung eines Einzelfalls auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist. Ein – hier allein in Betracht kommender – sog. feststellender Verwaltungsakt will zwar – anders als die sog. befehlenden und gestaltenden Verwaltungsakte – die materielle Rechtslage nicht ändern, zielt aber darauf ab, diese für einen konkreten Einzelfall verbindlich festzustellen. Sein Verfügungssatz beschränkt sich somit darauf, das Ergebnis eines behördlichen Subsumtionsvorgangs insbesondere in Bezug auf Ansprüche oder Eigenschaften für einen Einzelfall gegenüber seinem Adressaten festzuschreiben, ohne selbst hieran Rechtsfolgen zu knüpfen.
13Zum Ganzen vgl. BVerwG, Urteil vom 5. November 2009 – 4 C 3.09 –, juris, Rn. 15, m. w. N., Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 35 Rn. 219, und Henneke, in: Knack/Henneke, VwVfG, 11. Aufl. 2020, § 35 Rn. 136.
14Den erforderlichen Regelungsgehalt i. S. v. § 35 Satz 1 VwVfG weist, wie sich schon aus dem Vorstehenden ergibt, eine feststellende Äußerung einer Behörde dann auf, wenn sie ihrem Erklärungsgehalt nach darauf gerichtet ist, die Sach- und Rechtslage im gegebenen Einzelfall durch eine rechtlich bindende, der Bestandskraft fähige Feststellung festzuschreiben.
15Vgl. BVerwG, Urteil vom 5. November 2009– 4 C 3.09 –, juris, Rn. 15, m. w. N., und VGH Bad.-Württ., Urteil vom 23. April 1982 – 5 S 2334/81 –, NVwZ 1983, 100 f. (100) = juris (dort nur LS); ferner Henneke, in: Knack/Henneke, VwVfG, 11. Aufl. 2020, § 35 Rn. 137.
16b) Die hier in Rede stehende Äußerung bedarf der Auslegung, weil ihr Erklärungsgehalt nicht eindeutig ist. Zwar mag ihr Wortlaut bei isolierter Betrachtung auf eine als verbindlich gewollte Feststellung im vorgenannten Sinne hindeuten; er schließt aber schon für sich genommen eine hiervon abweichende Bewertung nicht von vornherein aus.
17Nicht eindeutige Willenserklärungen der Verwaltung sind gemäß der im öffentlichen Recht entsprechend anwendbaren Auslegungsregel der §§ 133, 157 BGB auszulegen. Nach diesen Vorschriften ist bei der Auslegung einer Willenserklärung der "wirkliche Wille" zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinn des Ausdrucks zu haften. Maßgeblich ist danach nicht der innere, bloß subjektive Wille des Bearbeiters, sondern der objektive Gehalt der Erklärung, d. h. der in der Willenserklärung zum Ausdruck kommende erklärte Wille, wie ihn der Empfänger bei objektiver Würdigung verstehen konnte bzw. nach Treu und Glauben verstehen durfte und musste ("Empfängerhorizont"). Um den Regelungsgehalt und -umfang einer Willensäußerung der Verwaltung durch Auslegung zu ermitteln, ist zunächst vom Wortlaut der Erklärung auszugehen. Jedoch kann es hierauf nicht allein ankommen. Zu berücksichtigen sind vielmehr alle von dem Adressaten erkannten oder ihm erkennbaren Umstände vor und bei dem Ergehen der behördlichen Maßnahme. Hierzu zählt auch, welche Interessen die Behörde erkennbar mit ihrer Maßnahme verfolgt hat, d. h. vor allem, welchen Sinn und Zweck die Maßnahme aus der Sicht des Adressaten hat.
18Vgl. OVG NRW, Urteil vom 25. August 2020– 1 A 899/17 –, juris, Rn. 80 f., m. w. N., Beschluss vom 19. März 2019 – 1 A 534/19 –, n. v., BA S. 4, und Urteil vom 10. Dezember 2009 – 1 A 904/08 –, juris, Rn. 40 bis 42, m. w. N.
19c) In Anwendung dieser Grundsätze weist die fragliche Äußerung keinen Regelungscharakter i. S. v. § 35 Satz 1 VwVfG auf.
20aa) Für ihr Verständnis kommt es angesichts des grundsätzlich offenen Wortlauts (s. o.) zunächst darauf an, dass sich die mit ihr erfolgte "förmliche" Feststellung ausdrücklich auf § 4 Abs. 2 BPolBG stützt. Nach dieser Vorschrift wird die (in § 4 Abs. 1 BPolBG definierte) Polizeidienstunfähigkeit durch den Dienstvorgesetzten auf Grund des Gutachtens eines Amtsarztes oder eines beamteten Arztes, im Bundesgrenzschutz eines beamteten Grenzschutzarztes, festgestellt. Diese Feststellung ergeht, wie für einen objektiven Empfänger ohne weiteres erkennbar ist, in einem Verwaltungsverfahren, das seinen Abschluss erst mit der Entscheidung des Dienstherrn über die Zurruhesetzung oder weitere Verwendung des Beamten findet, die wiederum der gerichtlichen Überprüfung (gerade) auch insoweit unterliegt, als es um die Annahme der Polizeidienstunfähigkeit geht. Damit erweist sich die Feststellung als ein unselbständiger, die Entscheidung des Dienstherrn vorbereitender Schritt ohne regelnden Charakter, der dem Beamten lediglich frühzeitig die Möglichkeit eröffnen soll, Einwendungen gegen die (mitgeteilte) Feststellung bzw. Einschätzung seines Dienstvorgesetzten zu erheben.
21So schon OVG Berlin-Bbg., Beschluss vom 12. November 2014 – OVG 7 S 58.14 –, juris, Rn. 3 bis 5, und Schl.-H. VG, Urteil vom 20. März 2015– 12 A 261/13 –, juris, Rn. 19; a. A. (ohne nähere Begründung) VG Köln, Urteil vom 1. März 2002– 19 K 2102/99 –, juris, Rn. 4 und 15 (zu einer Mitteilung des Landrats als Kreispolizeibehörde an die Klägerin, sie sei polizeidienstunfähig und er beabsichtige, sie für einen Laufbahnwechsel vorzuschlagen), und wohl auch OVG NRW, Urteil vom 29. Juni 2017 – 6 A 1617/15 –, juris, Rn. 4 und 37 (zu einer entsprechenden Mitteilung gemäß § 116 Abs. 2 LBG NRW i. d. F. vom 21. April 2009), und Beschluss vom 2. Mai 2018 – 6 A 2256/16 –, juris, Rn. 9.
22Diese Bewertung ergibt sich, wie bereits das OVG Berlin-Brandenburg und das Schleswig-Holsteinische VG näher ausgeführt haben, schon aus der – auch hier heranzuziehenden – Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 47 Abs. 1 Satz 1 LBG NRW 1981. Danach ist die Mitteilung des Dienstvorgesetzten an den Beamten, er halte diesen für dienstunfähig und es sei deshalb seine Versetzung in den Ruhestand beabsichtigt, ein unselbständiger, die beabsichtigte abschließende Entscheidung nur vorbereitender Teil des Zwangspensionierungsverfahrens, der mangels Regelungscharakters und Außenwirkung kein Verwaltungsakt ist.
23Vgl. BVerwG, Urteile vom 31. Mai 1990– 2 C 55.88 –, juris, Rn. 22, und vom 27. Juni 1991– 2 C 26.89 –, juris, Rn. 27 (Außenwirkung) und 28 (Regelungscharakter).
24Diese Rechtsprechung ist auf die Mitteilung nach § 4 Abs. 2 BPolBG, § 2 BPolBG i. V. m. §§ 44, 47 BBG, wie sie hier vorliegt, übertragbar, und zwar ungeachtet des Umstands, dass die Polizeidienstunfähigkeit nach § 4 Abs. 2 BPolBG "festgestellt" wird
25– diese Formulierung findet sich schon in § 6 Abs. 2 des Gesetzes zur vorläufigen Regelung der Rechtsverhältnisse der Polizeivollzugsbeamten des Bundes (vorl. BPolBG) vom 6. August 1953, BGBl. I S. 899; Entwurf: BT-Drs. 1/4307 –,
26während § 47 Abs. 1 Satz 1 LBG NRW 1981 davon spricht, dass der Dienstvorgesetzte den Beamten für dienstunfähig "hält" (entsprechend nunmehr § 34 Abs. 1 Satz 1 LBG NRW 2016; ebenso § 47 Abs. 1 Satz 1 BBG). Beide Regelungen stellen nämlich unabhängig von der gewählten Formulierung lediglich klar, dass über die Dienstunfähigkeit nicht ärztlicherseits, sondern durch den Dienstherrn entschieden wird, für den dabei der zuständige Dienstvorgesetzte zu handeln hat.
27Dazu, dass § 4 Abs. 2 BPolBG das Verfahren bzw. die Zuständigkeit regelt, vgl. Wehr, BPolBG, 3. Online-Auflage 2018, BPolBG § 4 Rn. 9, Möllers, Wörterbuch der Polizei, 3. Aufl. 2018, Eintrag "Polizeidienstunfähigkeit", und die den Senatsbeschluss vom 13. September 2012 – 1 A 644/12 –, juris, betreffende Anmerkung von von Roetteken vom 9. Januar 2013, jurisPR-ArbR 1/2013 Anm. 5, nachgewiesen in juris, Gliederungspunkt C.
28Zudem besteht die Funktion der Mitteilung der Feststellung bzw. Einschätzung in beiden Fällen darin, dem Beamten im Rahmen des laufenden, auf Zurruhesetzung (oder anderweitige Verwendung) gerichteten Verwaltungsverfahrens schon frühzeitig Gelegenheit zu geben, Einwendungen gegen die bisherige Beurteilung seiner (Polizei-)Dienstfähigkeit zu erheben.
29Zu dieser Schutzfunktion sowie auch dazu, dass die Mitteilung nach § 47 Abs. 1 Satz 1 BBG kein Verwaltungsakt ist, vgl. etwa Koch, in: Plog/Wiedow, BBG, Stand: Oktober 2020, § 47 Rn. 29, Hebeler, in: Battis, BBG, 5. Aufl. 2017, § 47 Rn. 4, und Tegethoff, in: Kugele, BBG, 1. Aufl. 2011, § 47 Rn. 7 und 9.
30Bestätigt wird diese Einschätzung auch durch eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, die zu der bis zum 31. März 2009 geltenden Regelung des § 208 Abs. 2 Satz 1 LBG SH ergangen ist, nach der die Polizeidienstunfähigkeit ebenfalls durch die/den Dienstvorgesetzte/n "festgestellt" wird.
31Vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2012– 2 C 7.11 –, juris, Rn. 12, 21 f.
32Das Bundesverwaltungsgericht hat die Feststellung der Polizeidienstunfähigkeit durch den unmittelbaren Dienstvorgesetzten des Beamten hier nämlich ausdrücklich als "besonderen Verfahrensschritt" (im Zurruhesetzungsverfahren) bezeichnet, ihre Schutzfunktion hervorgehoben und die im entschiedenen Fall nachfolgend ergangene Zurruhesetzung unter dem Aspekt, dass ihr keine Feststellung nach § 208 Abs. 2 Satz 1 LBG SH vorausgegangen war, (lediglich) als verfahrensfehlerhaft angesehen.
33Die Verpflichtung der zuständigen Behörde, vor einer Zurruhesetzung des Beamten wegen Polizeidienstunfähigkeit dessen Weiterverwendung (vgl. § 8 Abs. 2 BPolBG, §§ 2, 4 Abs. 3 BPolBG i. V. m. § 44 Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 bis 5 BBG) zu prüfen, ändert die Rechtsnatur der Mitteilung als unselbständiger Verfahrensschritt ohne Regelungscharakter nicht. Sie führt lediglich dazu, dass die Mitteilung der Polizeidienstunfähigkeit zunächst die Entscheidung über eine Weiterverwendung des Beamten vorbereitet.
34Vgl. OVG Berlin-Bbg., Beschluss vom 12. November 2014 – OVG 7 S 58.14 –, juris, Rn. 5, und Schl.-H. VG, Urteil vom 20. März 2015 – 12 A 261/13 –, juris, Rn. 19.
35Der im angefochtenen Beschluss angeführte Umstand, dass dieser Entscheidung (anders als bei einer beabsichtigten Zurruhesetzung wegen "allgemeiner" Dienstunfähigkeit, vgl. § 47 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 BBG) zunächst ggf. langwierige Maßnahmen zur Vorbereitung des Laufbahnwechsels folgen, wirkt sich als bloß tatsächliche und wohl auch nicht in jedem Fall vorliegende Gegebenheit ebenfalls nicht auf die rechtliche Qualifikation der Mitteilung aus. Eine abweichende Bewertung ergibt sich ferner nicht aus der Erwägung des Verwaltungsgerichts, diese langwierigen Maßnahmen berührten die Statusrechte und auch die persönliche Lebensführung des betroffenen Beamten. Es ist zunächst nicht erkennbar, weshalb sich Qualifizierungsmaßnahmen i. S. d. § 8 Abs. 2 Satz 2 BPolBG oder nach § 2 BPolBG i. V. m. § 44 Abs. 5 BBG auf die Statusrechte des hiervon betroffenen Beamten bzw. auf dessen Recht auf amtsangemessene Beschäftigung auswirken sollen, obwohl auch sie eine den Status betreffende oder berührende Personalmaßnahme lediglich vorbereiten (vgl. insoweit auch § 8 Abs. 3 BPolBG). § 8 Abs. 2 Satz 2 BPolBG bestimmt dabei sogar ausdrücklich, dass der ggf. zu versetzende Beamte die ihm gebotene Gelegenheit wahrzunehmen hat, "während seiner" – also noch fortbestehenden – "Zugehörigkeit zur Bundespolizei" die ergänzenden Kenntnisse und Fähigkeiten zu erwerben und die Befähigung durch erfolgreiche Unterweisung in den Aufgaben der neuen Laufbahn nachzuweisen. Die Qualifizierungsmaßnahmen mögen zwar, wie das Verwaltungsgericht formuliert hat, tendenziell geeignet sein, auch die persönliche Lebensführung des Beamten zu tangieren. Aus welchen Gründen diese (wenig konkrete) Erwägung aber geeignet sein sollte, den ihnen vorausgehenden Verfahrensschritt der Mitteilung über die Polizeidienstunfähigkeit trotz aller vorstehenden Ausführungen als Verwaltungsakt einzustufen, ist unerfindlich. Durch diese Bewertung wird der Beamte auch nicht etwa rechtsschutzlos gestellt, da es ihm unbenommen bleibt, gegen für rechtswidrig gehaltene Qualifizierungsmaßnahmen gerichtlich vorzugehen, etwa im Wege eines Antrags nach § 123 Abs. 1 VwGO.
36Eine von dem Vorstehenden abweichende Einschätzung ergibt sich entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts auch nicht aus der Rechtsprechung des beschließenden Senats. Dem im angefochtenen Beschluss (BA S. 3 unten) angeführten Senatsbeschluss
37– OVG NRW, Beschluss vom 13. September 2012– 1 A 644/12 –, juris –
38lag zwar ein erstinstanzliches Urteil (VG Münster, Urteil vom 13. Februar 2012– 4 K 2034/10 –) zugrunde, das eine (als "jedenfalls unbegründet" abgewiesene) Anfechtungsklage gegen eine Feststellung der Polizeidienstunfähigkeit betraf. Die Entscheidung des Senats, mit der dieser den Zulassungsantrag des Klägers abgelehnt hat, hat sich aber darauf beschränkt, dessen Zulassungsvorbringen zu würdigen (vgl. § 124a Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO). Dieses umfasste neben einer Verfahrensrüge allein die Rügen, das Integrationsamt sei zu beteiligen gewesen, die Annahme der Polizeidienstunfähigkeit sei fehlerhaft und das Verwaltungsgericht habe § 4 Abs. 1 Halbsatz 2 BPolBG unzutreffend ausgelegt. Der Senatsbeschluss enthält infolgedessen keine Stellungnahme zu der Frage, ob die Feststellung nach § 4 Abs. 2 BPolBG ein Verwaltungsakt ist.
39Vgl. insoweit auch die zu dem Senatsbeschluss erfolgte Anmerkung von von Roetteken vom 9. Januar 2013, jurisPR-ArbR 1/2013 Anm. 5, nachgewiesen in juris, Gliederungspunkt C., der ausführt, dass die Entscheidung nicht zu der Frage Stellung nehme, weshalb der Dienstherr berechtigt sein solle, die Polizeidienstunfähigkeit "selbständig festzustellen", und nachfolgend den Regelungscharakter der nach § 4 Abs. 2 BPolBG vorgesehenen Feststellung der Polizeidienstunfähigkeit verneint.
40bb) Der Annahme, die im Schreiben vom 29. Mai 2018 erfolgte Feststellung stelle eine verbindliche, der Bestandskraft fähige Regelung dar, stehen weitere Gesichtspunkte entgegen, die für einen objektiven Empfänger der Erklärung ohne weiteres ersichtlich sind. Zunächst wird in dem Schreiben das Ergebnis der sozialmedizinischen Untersuchung des Antragstellers vom 25. April 2018 dargestellt und dabei auch die Schlussfolgerung zu dessen Polizeidienstunfähigkeit gezogen. Sodann wird dem Antragsteller anknüpfend an die gutachterliche Erklärung vom 14. Mai 2018, er könne erst nach einer adäquaten Therapie an einer Umschulungsmaßnahme teilnehmen, aufgegeben, "eine entsprechende Therapie durchzuführen" und "dies anhand geeigneter Unterlagen nachzuweisen". Mit Blick darauf, dass nur dieser im Fließtext enthaltene Passus – einem Tenor ähnlich – durch Fettdruck hervorgehoben ist und nachfolgend lediglich noch die Absicht geäußert wird, zu einem späteren Zeitpunkt eine sozialmedizinische Nachuntersuchung zu veranlassen, ist ohne weiteres erkennbar, dass nur insoweit eine für den Antragsteller verbindliche Regelung getroffen werden soll. Hinzu tritt der bereits oben erwähnte Umstand, dass das Schreiben insgesamt nicht als Verwaltungsakt gestaltet ist. Es ist nicht entsprechend überschrieben, und ihm sind weder ein Verfügungssatz vorangestellt noch eine Rechtsmittelbelehrung beigegeben.
41II. Die stattgebende Entscheidung ist auch nicht aus anderen Gründen richtig. Den Anträgen des Antragstellers könnte auch dann nicht entsprochen werden, wenn sie entsprechend dem ursprünglich mit Schriftsatz vom 25. März 2020 gestellten Antrag zu 2. und unter Berücksichtigung der Antragsergänzung vom 17. Juli 2020– zutreffend – als Antrag verstanden werden,
42der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig, nämlich bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über seine Polizeidienstfähigkeit und den Laufbahnwechsel, aufzugeben, die Maßnahmen zur Vorbereitung eines Laufbahnwechsels (Zulassung zum Laufbahnwechsel, Praktikum auf dem Zieldienstposten) auszusetzen bzw. rückgängig zu machen und ihn solange wieder im Polizeivollzugsdienst einzusetzen.
43Hinsichtlich der Zulassung zum Laufbahnwechsel hat der Antragsteller einen Anordnungsgrund (weiterhin) nicht glaubhaft gemacht, § 123 Abs. 1 und 3 VwGO, §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 ZPO. Es ist, wie die Antragsgegnerin mit Schriftsatz vom 5. Mai 2020 (S. 2, zweiter und dritter Absatz) zutreffend und unwidersprochen ausgeführt hat, schon nicht erkennbar, dass dem Antragsteller durch die Zulassung zur Unterweisung wesentliche Nachteile i. S. d. § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO erwachsen könnten.
44Soweit der Antragsteller die Aussetzung seines am 4. Mai 2020 begonnenen und wohl bis Januar 2021 andauernden praktischen Teils der Unterweisung auf dem Zieldienstposten im Sachgebiet Polizeitechnik/Materialmanagement bei der Bundespolizeiinspektion Flughafen E. anstrebt, wendet er sich der Sache nach gegen die Verlagerung seines Einsatzes von der Bundespolizeiinspektion E1. zur Bundespolizeiinspektion Flughafen E. . Diese Personalmaßnahme stellt entgegen der (vorläufigen) Einschätzung des Verwaltungsgerichts keine Abordnung dar, sondern ist, wovon auch das maßgebliche Schreiben der Bundespolizeidirektion X. vom 4. Juni 2020 ausgeht, eine Umsetzung (Wegsetzung und Hinsetzung). Eine solche liegt vor, wenn der Beamte, ohne dass sein Status berührt wäre, innerhalb seiner Beschäftigungsbehörde – auf Dauer oder vorübergehend – mit einem anderen Amt im konkret-funktionellen Sinne betraut wird, wobei der (dienstrechtliche) Begriff der Behörde jede organisatorisch verselbständigte Verwaltungseinheit einschließt, die – mit persönlichen und sachlichen Mitteln ausgestattet – einen örtlich und gegenständlich abgrenzbaren Aufgabenbereich hat.
45Vgl. Bodanowitz, in: Schnellenbach/Bodanowitz, Beamtenrecht in der Praxis, 10. Aufl. 2020, § 4 Rn. 2 und 3, m. w. N.; ferner OVG NRW, Beschluss vom 28. Juni 2013 – 1 B 1307/12 –, juris, Rn. 9.
46Danach liegt hier ein Dienstpostenwechsel innerhalb der Beschäftigungsbehörde des Antragstellers vor. Beschäftigungsbehörde des Antragstellers ist auch nach Durchführung der Personalmaßnahme die Bundespolizeidirektion X. , zu der u. a. die Bundespolizeiinspektionen E1. und Flughafen E. gehören. Der Regelung des § 57 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 BPolG ist nämlich zu entnehmen, dass neben dem Bundespolizeipräsidium und der Bundespolizeiakademie nur noch die Bundespolizeidirektionen zu den Bundespolizeibehörden zählen, und zwar als dem Bundespolizeipräsidium nachgeordnete Unterbehörden (vgl. auch § 1 Abs. 1 BPolZV). Bei den Bundespolizeiinspektionen handelt es sich demgegenüber um rechtlich unselbständige Untergliederungen der Bundespolizeidirektionen, die nicht kraft gesetzlicher Regelung gebildet werden müssen und denen als bloßen Arbeitseinheiten der Bundespolizeidirektionen kein Behördencharakter zukommt.
47Vgl. Ruthig, in: Schenke/Graulich/Ruthig, Sicherheitsrecht des Bundes, 2. Aufl. 2019, BPolG § 57 Rn. 12, Wagner, "Die Bundespolizei – wer ist das, was darf und was macht die?", in: Jura 2009, 96 ff. (97), Schmitz, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 1 Rn. 240, und BGH, Beschluss vom 30. März 2010 – V ZB 79/10 –, juris, Rn. 8 f.
48Auch hinsichtlich der mithin erfolgten Umsetzung hat der Antragsteller einen Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht. Er hat bereits nicht einmal im Ansatz dargelegt, dass und aus welchen Gründen die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hier zur Abwendung wesentlicher Nachteile i. S. v. § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO nötig ist.
49Kann der Antragsteller nach dem Vorstehenden nicht erreichen, dass seine Umsetzung vorläufig rückgängig gemacht wird, so versteht es sich schon aus diesem Grund von selbst, dass die Antragsgegnerin auch nicht im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet werden kann, ihn einstweilen wieder im Polizeivollzugsdienst (auf dem angestammten Dienstposten) einzusetzen.
50Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Einbezogen ist hierbei die– bereits rechtskräftige – Entscheidung des Verwaltungsgerichts, nach der der Antragsteller die Mehrkosten der Verweisung zu tragen hat.
51Die Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren beruht auf den §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG sowie auf § 52 Abs. 1 und 2 GKG. Dabei bewertet der Senat das mit den im Beschwerdeverfahren der Sache nach aufrechterhaltenen Anträgen verfolgte Begehren als einheitlich darauf gerichtet, vorläufig von den Maßnahmen zur Vorbereitung eines Laufbahnwechsels verschont zu bleiben und wieder im Polizeivollzugsdienst eingesetzt zu werden, und setzt hierfür mit Blick auf die Vorläufigkeit des Beanspruchten den hälftigen Auffangwert fest.
52Dieser Beschluss ist hinsichtlich der Streitwertfestsetzung gemäß § 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG und im Übrigen nach § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 5.000 Euro festgesetzt.
Gründe
1I.
2Die Antragstellerinnen und Antragsteller betreiben mit Ausnahme der Antragstellerin zu 28. unter den im Rubrum benannten Anschriften Tattoostudios. Die Antragsteller zu 1. - 4., 6., 10., 12., 15., 25. und 27. bieten darüber hinaus die Durchführung von Piercings an. Die Antragstellerin zu 28. betreibt ein Kosmetikstudio. Sie begehren die vorläufige Außervollzugsetzung von § 12 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 (Coronaschutzverordnung - CoronaSchVO) vom 30. Oktober 2020 (GV. NRW. S. 1044b), zuletzt geändert durch Verordnung vom 9. November 2020 (GV. NRW. S. 1046a).
3§ 12 Abs. 2 CoronaSchVO lautet wie folgt:
4(2) Dienstleistungen und Handwerksleistungen, bei denen ein Mindestabstand von 1,5 Metern zum Kunden nicht eingehalten werden kann (insbesondere Gesichtsbehandlung, Kosmetik, Nagelstudios, Maniküre, Massage, Tätowieren und Piercen), sind bis zum 30. November 2020 untersagt. Davon ausgenommen sind
51. Handwerker und – unabhängig vom Vorliegen einer eigenen Heilkundeerlaubnis – Dienstleister im Gesundheitswesen (einschließlich Physio-, Ergotherapeuten, Logopäden, Hebammen und so weiter, Hörgeräteakustikern, Optikern, orthopädischen Schuhmachern und so weiter),
62. Fußpflege- und Friseurleistungen,
73. medizinisch notwendige Handwerks- und Dienstleistungen sowie
84. die gewerbsmäßige Personenbeförderung in Personenkraftwagen.
9Bei den nach Satz 2 ausnahmsweise zulässigen Handwerks- und Dienstleistungen ist neben strikter Beachtung der allgemeinen Hygiene- und Infektionsschutzregeln nach § 4 auf eine möglichst kontaktarme Erbringung zu achten. Bei gesichtsnahen Dienstleistungen, bei denen die Kundin oder der Kunde keine Alltagsmaske tragen und der Mindestabstand nicht eingehalten werden kann, müssen Beschäftigte während der Behandlung mindestens eine FFP2-, eine KN95- oder eine N95-Maske tragen.
10Die Antragsteller haben am 2. November 2020 den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt.
11Zur Begründung machen sie im Wesentlichen geltend: Die mit der Untersagung körpernaher Dienstleistungen verbundenen erneuten Eingriffe in ihre Berufsausübungsfreiheit seien unter Berücksichtigung des aktuellen Infektionsgeschehens unverhältnismäßig und damit rechtswidrig. Die Gefahr von Infektionen lasse sich bereits durch die einschlägigen Hygienevorgaben (u. a. Tragen von FFP2-Masken) weitestgehend ausschließen. Die angekündigten finanziellen Kompensationsleistungen gingen bislang über Absichtserklärungen nicht hinaus und seien im Übrigen ungeeignet, die aktuell eintretenden Liquiditätsengpässe auszugleichen. Die Untersagung sei zudem nicht mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar, weil etwa Friseuren und Fußpflegern die Ausübung ihrer Tätigkeit gestattet sei. Die von ihnen angebotenen Dienstleistungen seien weniger infektionsgeneigt. Der Kundendurchlauf bei Friseuren sei wesentlich größer, dort hielten sich die Kunden auch länger auf. Der Verweis auf eine größere Systemrelevanz der Friseure trage nicht, weil deren Tätigkeit sich nicht auf das Waschen und Schneiden der Haare beschränke. Ihr Interesse an der Fortführung ihres Betriebs sei rechtlich nicht anders zu beurteilen als das eines Warengeschäfts, das geöffnet bleiben dürfe.
12Die Antragsteller beantragen,
13im Wege der einstweiligen Anordnung den Vollzug von § 12 Abs. 2 Satz 1 CoronaSchVO bis zu einer Entscheidung über ihren Normenkontrollantrag auszusetzen, soweit darin das Erbringen von Tattoo-, Piercing- und Kosmetikdienstleistungen untersagt wird.
14Der Antragsgegner verteidigt die angegriffene Regelung und beantragt,
15den Antrag abzulehnen.
16II.
17Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat keinen Erfolg. Der gemäß § 47 Abs. 6, Abs. 1 Nr. 2 VwGO i. V. m. § 109a JustG NRW statthafte und auch im Übrigen zulässige Antrag ist unbegründet. Die von der Antragstellern begehrte einstweilige Anordnung ist nicht zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten (§ 47 Abs. 6 VwGO).
18Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind zunächst die Erfolgsaussichten des Normenkontrollantrags in der Hauptsache, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen. Ist danach der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Ergibt diese Prüfung, dass ein Normenkontrollantrag in der Hauptsache voraussichtlich begründet wäre, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug der streitgegenständlichen Norm zu suspendieren ist. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug der Rechtsvorschrift vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist. Lassen sich die Erfolgsaussichten des Normenkontrollverfahrens nicht abschätzen, ist über den Erlass einer beantragten einstweiligen Anordnung im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden: Gegenüberzustellen sind die Folgen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Normenkontrollantrag aber Erfolg hätte, und die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Antrag nach § 47 Abs. 1 VwGO aber erfolglos bliebe. Die für den Erlass der einstweiligen Anordnung sprechenden Erwägungen müssen die gegenläufigen Interessen dabei deutlich überwiegen, also so schwer wiegen, dass der Erlass der einstweiligen Anordnung - trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache - dringend geboten ist.
19Vgl. BVerwG, Beschluss vom 16. September 2015 ‑ 4 VR 2.15 -, juris, Rn. 4.
20Gemessen an diesen Grundsätzen ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht dringend geboten, weil der Senat bei der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur möglichen summarischen Prüfung von offenen Erfolgsaussichten eines noch zu stellenden Normenkontrollantrags ausgeht (I.), die deswegen anzustellende Folgenabwägung aber zu Lasten der Antragstellerin ausfällt (II.).
21I. 1. Bei summarischer Prüfung erweist sich noch nicht als offensichtlich, dass § 32 Satz 1 i. V. m. § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG als hinreichende, dem Parlamentsvorbehalt genügende Ermächtigungsgrundlage für die derzeit erneut (in § 12 Abs. 1 Satz 1 CoronaSchVO) geregelten Dienstleistungsverbote aufgrund der sich mit zunehmender Häufung intensivierenden Eingriffe in die Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG von vornherein nicht mehr in Betracht kommt. Zwar gewinnen die in der Rechtsprechung des erkennenden Senats bereits angesprochenen, zu Beginn der Pandemielage jedoch verworfenen verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Generalklausel des § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 IfSG als Grundlage für allgemeine flächendeckende Betriebsverbote,
22siehe insoweit grundlegend Beschluss vom 6. April 2020 - 13 B 398/20.NE -, juris, Rn. 37 ff.; vgl. ferner etwa Beschluss vom 23. Juni 2020 ‑ 13 B 695/20.NE ‑, juris, Rn. 43 ff., m. w. N.,
23mit Fortdauer der Pandemielage und Wiederholung der verordneten Betriebsschließungen zunehmend Gewicht. Insoweit spricht einiges dafür, dass der Gesetzgeber auf Dauer besonders grundrechtsintensive flächendeckende Maßnahmen, wie etwa Untersagungen unternehmerischer Tätigkeiten, selbst tatbestandlich und auf Rechtsfolgenseite konkretisieren und möglicherweise auch eine Entscheidung über etwaige Entschädigungsleistungen (wie sie bereits im 12. Abschnitt des Infektionsschutzgesetzes für andere Sachverhalte normiert wurden) treffen muss.
24Vgl. dazu nunmehr den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, Entwurf eines Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 3. November 2020, BT-Drs. 19/23944, der in einem neuen § 28a IfSG für die Dauer der Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite insbesondere Betriebsschließungen ausdrücklich vorsieht.
25Allerdings ist in der Rechtsprechung auch anerkannt, dass es im Rahmen unvorhergesehener Entwicklungen aus übergeordneten Gründen des Gemeinwohls geboten sein kann, nicht hinnehmbare gravierende Regelungslücken für einen Übergangszeitraum insbesondere auf der Grundlage von Generalklauseln zu schließen, um so auf schwerwiegende Gefahrensituationen auch mit im Grunde genommen näher regelungsbedürftigen Maßnahmen vorläufig reagieren zu können.
26Siehe dazu nochmals OVG NRW, Beschluss vom 6. April 2020 - 13 B 398/20.NE -, juris, Rn. 59 ff., m. w. N.
27Dass ein solcher Übergangszeitraum ‑ die grundsätzliche Notwendigkeit einer näheren (anvisierten) Regelung durch den parlamentarischen Gesetzgeber unterstellt ‑ bereits abgelaufen ist, kann im Verfahren der einstweiligen Anordnung nicht als offensichtlich angenommen werden, sondern bedarf eingehender Prüfung in einem Hauptsacheverfahren.
28Vgl. zuletzt zu § 32 Satz 1 und 2 i. V .m. § 28 Abs. 1 Satz 1, 2 IfSG als hinreichende Ermächtigungsgrundlage für Betriebsverbote: VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 6. Oktober 2020 - 1 S 2871/20 -, juris, Rn. 30 (offen gelassen); zu Eingriffen in die Berufsfreiheit durch das Verbot von Zuschauern bei Sportveranstaltungen: Bay. VGH, Beschluss vom 16. September 2020 ‑ 20 NE 20.1994 ‑, juris, Rn. 17; siehe auch Bay. VerfGH, Entscheidung vom 21. Oktober 2020 ‑ Vf. 26-VII-20 ‑, juris, Rn. 17 f.
292. Die bis zum 30. November 2020 erfolgte Untersagung der hier in Rede stehenden körpernahen Dienstleistungen (Tattoo, Piercing und Kosmetik) durch § 12 Abs. 2 Satz 1 CoronaSchVO erweist sich im Übrigen nicht als offensichtlich rechtswidrig. Der mit der streitigen Maßnahme in erster Linie verbundene Eingriff in die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsfreiheit und gegebenenfalls die von Art. 14 GG geschützte Eigentumsgarantie der Betreiber von Tattoo-, Piercing- und Kosmetikstudios genügt bei summarischer Bewertung dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (a) und begründet danach wohl auch keinen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG (b).
30a) Die Untersagung dient dem legitimen Zweck, die Weiterverbreitung des SARS-CoV-2-Virus einzudämmen. Der Verordnungsgeber darf davon ausgehen, dass die Corona-Pandemie angesichts der in jüngster Zeit erfolgten rapiden und flächendeckenden Zunahme der Zahl der nachweislich infizierten Personen eine ernstzunehmende Gefahrensituation begründet, die staatliches Einschreiten nicht nur rechtfertigt, sondern mit Blick auf die Schutzpflicht des Staates für Leib und Gesundheit der Bevölkerung auch gebietet.
31Vgl. zu dieser Schutzpflicht BVerfG, Urteil vom 28. Januar 1992 - 1 BvR 1025/82 u.a. -, juris, Rn. 69, m. w. N.
32Die gegenwärtige Situation ist durch ein exponentielles Ansteigen der Infektionszahlen gekennzeichnet. Die 7-Tage-Inzidenz liegt mit Stand vom 10. November 2020 für ganz Deutschland bei einem Wert von 139,1 und für Nordrhein-Westfalen nochmals deutlich darüber bei einem Wert von 168,5. Die berichteten R-Werte liegen derzeit bei 0,88 (4-Tage-R-Wert) und 0,92 (7-Tage-R-Wert). Die Zahl der intensivmedizinisch behandelten COVID-19-Fälle ist in den vergangenen drei Wochen von 618 Patienten am 13. Oktober 2020 auf 3.059 Patienten am 10. November 2020 fast verfünffacht. Dies lässt sich auch nicht mehr durch wenige einzelne Ursachen erklären. Vielmehr stellt sich das aktuelle Infektionsgeschehen sehr diffus dar.
33Vgl. Robert Koch-Institut, Täglicher Lagebericht zur Coronavirus-Krankheit-2019 (Covid-19), Stand: 10. November 2020, abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Nov_2020/2020-11-05-de.pdf?__blob= publicationFile.
34Aktuell ist die Lage angespannt, aber noch beherrschbar. Allerdings erwarten die Intensivmediziner erst in den nächsten vier bis sechs Wochen den Höhepunkt der Patientenzahlen auf den Intensivstationen.
35Vgl. https://www.divi.de/aktuelle-meldungen-intensivmedizin; https://www.wa.de/nordrhein-westfalen/corona-nrw-intensivbetten-aktuell-intensivstation-belegung-auslastung-intensivregister-erkrankte-90087824.html;
36Nicht nur die schwindenden Intensivkapazitäten (auch für nicht COVID-19-Patienten), sondern auch der akut herrschende Personalnotstand macht die Situation schwierig.
37Vgl. https://www.ruhr24.de/nrw/corona-nrw-intensivstationen-krankenhaus-covid-19-patienten-intensivbetten-alarm-aerzte-90080033.html, Stand: 29. Oktober 2020; vgl. zur Entwicklung der Fallzahlen Tagesreport DIVI Intensivregister https://www.divi.de/joomlatools-files/docman-files/divi-intensivregister-tagesreports/DIVI-Intensivregister_Tagesreport_2020_11_05.pdf.
38Angesichts dessen sieht der Verordnungsgeber zu Recht einen dringenden Handlungsbedarf. Ziel seiner Maßnahmen ist es, in dieser Situation durch eine allgemeine Reduzierung von Kontakten vor allem im Privaten und im Freizeit- und Unterhaltungsbereich bei gleichzeitiger Offenhaltung von Schulen und Kitas und weitgehender Schonung der Wirtschaft im Übrigen den exponentiellen Anstieg des Infektionsgeschehens bis auf eine wieder nachverfolgbare Größe von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner pro Woche zu senken, um eine Überforderung des Gesundheitssystems zu vermeiden.
39Vgl. dazu den Beschluss der Videokonferenz der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder am 28. Oktober 2020; abrufbar unter:https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/videokonferenz-der-bundeskanzlerin-mit-den-regierungschefinnen-und-regierungschefs-der-laender-am-28-oktober-2020-1805248, den der Antragsgegner seinem Verordnungserlass zugrunde gelegt hat.
40Zur Erreichung dieses Ziels dürfte das angefochtene Dienstleistungsverbot geeignet (aa), erforderlich (bb) und angemessen sein (cc). Ebenso wie für die Eignung einer Maßnahme kommt dem Gesetz- bzw. im Rahmen der Ermächtigung dem Verordnungsgeber für ihre Erforderlichkeit ein Beurteilungs- und Prognosespielraum zu.
41Vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 29. September 2010 - 1 BvR 1789/10 -, juris, Rn. 21; BVerwG, Urteil vom 16. Dezember 2016 - 8 C 6.15 -, juris, Rn. 49.
42Diesen hat der Verordnungsgeber nicht erkennbar überschritten, zumal es die einzig richtige Maßnahme nicht gibt.
43aa) Dass Maßnahmen zur Reduzierung von Kontakten grundsätzlich geeignet sind, Infektionsrisiken zu reduzieren, ist angesichts des Hauptübertragungswegs, der respiratorischen Aufnahme virushaltiger Partikel, die beim Atmen, Husten, Sprechen, Singen oder Niesen entstehen, nicht zweifelhaft. Das Verbot, die streitgegenständlichen körpernahen Dienstleistungen zu erbringen, trägt hierzu bei. Eine Verbreitung von Tröpfchen und Aerosolen in der Luft lässt sich wegen des nicht einzuhaltenden Mindestabstands von 1,5 Metern zum Kunden trotz weiterer Hygienevorkehrungen (z. B. Gesichtsmasken, Desinfektion) nicht vollständig ausschließen. Die Dienstleistungen werden regelmäßig in geschlossenen Räumlichkeiten erbracht und nehmen - wie etwa das Tätowieren - einen nicht unerheblichen Zeitraum in Anspruch. All dies sind Umstände, die eine Infektion über Tröpfchen und Aerosole begünstigen können und eine erhöhte Infektionsgefahr begründen.
44Dass das Dienstleistungsverbot angesichts einer womöglich überschaubaren Anzahl von Dienstleistungen und Kunden möglicherweise für sich genommen nur in verhältnismäßig geringem Umfang zur Eindämmung des Infektionsgeschehens beiträgt, stellt seine Eignung, als Teil eines zahlreiche Maßnahmen umfassenden Gesamtpakets zur Eindämmung des Virus beizutragen, nicht in Frage. Die Eignung ist auch nicht deshalb zweifelhaft, weil der Verordnungsgeber nicht sämtliche körpernahen Dienstleistungen untersagt hat.
45bb) Das Verbot dürfte auch erforderlich sein. Dem Verordnungsgeber wird voraussichtlich nicht vorgehalten werden können, sich nicht für ein anderes, die Berufsfreiheit der Antragsteller weniger beeinträchtigendes Regelungsmodell entschieden zu haben. Infektionsrisiken durch das Aufeinandertreffen von Menschen beim Aufsuchen, Aufenthalt und Verlassen der Studios lassen sich durch Hygienemaßnahmen nicht vergleichbar effektiv verhindern.
46Dass sich körpernahe Dienstleistungen in Tattoo-, Piercing- und Kosmetikstudios bislang nicht als Infektionstreiber erwiesen haben, stellt die Erforderlichkeit nicht in Frage. Angesichts der Diffusität des Infektionsgeschehens und des Umstands, dass sich Infektionsketten größtenteils nicht mehr zurückverfolgen lassen,
47vgl. Robert Koch-Institut, Täglicher Lagebericht zur Coronavirus-Krankheit-2019 (Covid-19), S. 2, Stand: 5. November 2020, abrufbar unter: https://www. rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Nov_2020/2020-11-05-de.pdf?__blob= publicationFile.
48lassen sich die Ansteckungsquellen vielfach nicht mehr feststellen. Fehlende Berichte über Infektionen im Zusammenhang mit Tattoo-, Piercing- und Kosmetikdienstleistungen lassen deshalb nicht zwangsläufig den Rückschluss zu, Infektionsquellen existierten dort nicht und das Virus könne von dort aus nicht verbreitet werden. Mit dem Anstieg der Infektionszahlen dürfte sich vielmehr das Risiko, sich insbesondere bei symptomlos erkrankten Personen unbemerkt anzustecken und das Virus auf diese Weise bei oder anlässlich der Erbringung der Dienstleistung weiterzutragen, erhöhen.
49Siehe zur Erforderlichkeit der Schließung von Tattoostudios mit eingehender Begründung auch Nds. OVG, Beschluss vom 10. November 2020 ‑ 13 MN 479/20 ‑, juris, Rn. 45 ff.
50cc) Das Verbot dürfte sich auch als angemessen erweisen. Angemessen, d. h. verhältnismäßig im engeren Sinne, ist eine freiheitseinschränkende Regelung, wenn das Maß der Belastung des Einzelnen noch in einem vernünftigen Verhältnis zu den der Allgemeinheit erwachsenden Vorteilen steht. Hierbei ist eine Abwägung zwischen den Gemeinwohlbelangen, deren Wahrnehmung der Eingriff in Grundrechte dient, und den Auswirkungen auf die Rechtsgüter der davon Betroffenen notwendig. Die Interessen des Gemeinwohls müssen umso gewichtiger sein, je empfindlicher der Einzelne in seiner Freiheit beeinträchtigt wird. Zugleich wird der Gemeinschaftsschutz umso dringlicher, je größer die Nachteile und Gefahren sind, die aus gänzlich freier Grundrechtsausübung erwachsen können.
51St. Rspr., vgl. etwa BVerfG, Urteil vom 26. Februar 2020 ‑ 2 BvR 2347/15 ‑, juris, Rn. 265, m. w. N.
52Davon ausgehend ist die fragliche Regelung bei vorläufiger Bewertung nicht zu beanstanden, weil die Schwere der damit erneut verbundenen Grundrechtseingriffe voraussichtlich noch nicht außer Verhältnis zu dem beabsichtigten Verordnungszweck steht. Das Verbot die streitgegenständlichen Dienstleistungen zu erbringen, greift in ganz erheblicher Weise in das Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) und gegebenenfalls auch das von der Eigentumsgarantie erfasste Recht des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs (Art. 14 Abs. 1 GG) der davon betroffenen Betreiber ein. Infolge der im Frühjahr verordneten Schließung und der nachfolgend angeordneten Infektionsschutzmaßnahmen dürften ‑ trotz der staatlichen Unterstützungsmaßnahmen ‑ viele Betriebe mit ganz erheblichen wirtschaftlichen Einbußen konfrontiert sein. Die Umsatzausfälle des Monats November 2020 sollen jedoch durch staatliche Unterstützungsmaßnahmen abgefedert werden. Das außerordentliche Wirtschaftshilfeprogramm des Bundes stellt hierfür insgesamt bis zu 10 Milliarden Euro bereit. Unternehmen mit bis zu 50 Beschäftigten erhalten eine einmalige Kostenpauschale in Höhe von bis zu 75 Prozent ihres Umsatzes von November 2019. Die Höhe errechnet sich aus dem durchschnittlichen wöchentlichen Umsatz des Vorjahresmonats, gezahlt wird sie für jede angeordnete Lockdown-Woche. Bei jungen Unternehmen, die nach November 2019 gegründet wurden, gelten die Umsätze von Oktober 2020 als Maßstab. Solo-Selbständige haben das Wahlrecht, als Bezugsrahmen für den Umsatz auch den durchschnittlichen Vorjahresumsatz 2019 zugrunde zu legen. Für größere Unternehmen gelten abweichende Prozentanteile vom Vorjahresumsatz. Die Höhe der Zuschüsse wird hier im Einzelnen anhand beihilferechtlicher Vorgaben ermittelt. Anderweitige Hilfen für den Zeitraum wie beispielsweise Kurzarbeitergeld oder Überbrückungshilfe werden vom Erstattungsbetrag abgezogen.
53Vgl. Übersicht über die Corona-Hilfen des Bundes, https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/Themen/Schlaglichter/Corona-Schutzschild/2020-10-29-neue-corona-hilfen.html, Stand: 5. November 2020.
54Hinzu tritt die Überbrückungshilfe des Bundes (2. Phase). Die 2. Phase der Überbrückungshilfe ist ein branchenübergreifendes Zuschussprogramm mit einer Laufzeit von vier Monaten (September bis Dezember 2020), welches zum Ziel hat, Umsatzrückgänge während der Corona-Krise abzumildern. Die Förderung schließt nahtlos an die 1. Phase der Überbrückungshilfe mit dem Förderzeitraum Juni bis August 2020 an. Dabei werden die Zugangsbedingungen abgesenkt und die Förderung ausgeweitet. Das Hilfsprogramm unterstützt kleine und mittelständische Unternehmen sowie Solo-Selbstständige und Freiberufler, die von den Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung besonders stark betroffen sind, mit nicht-rückzahlbaren Zuschüssen zu den betrieblichen Fixkosten. Je nach Höhe der betrieblichen Fixkosten können Unternehmen für die vier Monate bis zu 200.000 Euro an Förderung erhalten.
55Vgl. https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Pressemitteilungen/Finanzpolitik/2020/09/2020-09-18-PM-Corona-Ueberbrueckungshilfe-verlaengert.html, abgerufen am 5. November 2020.
56Von Seiten des Landes Nordrhein-Westfalen wurde das Bundesprogramm durch die NRW Überbrückungshilfe Plus ergänzt (1. Phase in den Fördermonaten Juni bis August 2020). Diese stellt zusätzliche Hilfen für Solo-Selbstständige, Freiberufler und im Unternehmen tätige Inhaber von Einzelunternehmen und Personengesellschaften mit höchstens 50 Mitarbeitern in Nordrhein-Westfalen bereit. Berechtigte erhielten danach eine einmalige Zahlung in Höhe von 1.000 Euro pro Monat für maximal drei Monate. Das Programm wird für eine Laufzeit von weiteren vier Monaten (September bis Dezember 2020) fortgesetzt.
57Vgl. Übersicht des Wirtschaftsministeriums über Überbrückungshilfe (2. Phase),
58https://www.wirtschaft.nrw/ueberbrueckungshilfe2, abgerufen am 5. November 2020.
59Auch wenn diese staatlichen Unterstützungsleistungen bislang lediglich angekündigt sind und die Antragsteller trotz Erhalts solcher Leistungen im Monat November 2020 erneut einen (Liquiditäts-)Verlust erleiden sollten, dürften die mit der angefochtenen Regelung verbundenen Grundrechtseingriffe noch in einem vernünftigen Verhältnis zu dem mit der Regelung verfolgten Zweck stehen, ganz erhebliche Gefahren für Leib und Leben einer Vielzahl von Menschen im Falle einer unkontrollierten Infektionsausbreitung zu verhindern.
60b) Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG dürfte bei der derzeit allein möglichen summarischen Bewertung ebenfalls nicht vorliegen. Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebietet dem Normgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln.
61Vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. Februar 2012 - 1 BvL 14/07 -, juris, Rn. 40.
62Er verwehrt dem Normgeber nicht jede Differenzierung. Diese bedürfen jedoch stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Differenzierungsziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind. Je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen reichen die Grenzen für die Normsetzung vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse. Insoweit gilt ein stufenloser, am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab, dessen Inhalt und Grenzen sich nicht abstrakt, sondern nur nach den jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereichen bestimmen lassen.
63Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 21. Juni 2011 - 1 BvR 2035/07 -, juris, Rn. 64 f., und vom 18. Juli 2012 ‑ 1 BvL 16/11 ‑, juris, Rn. 31 f.
64Hiernach dürften die sich aus dem Gleichheitssatz ergebenden Grenzen für die Infektionsschutzbehörde in der gegenwärtigen Pandemielage weniger streng sein.
65Vgl. OVG Bln.-Bbg., Beschluss vom 17. April 2020 ‑ OVG 11 S 22/20 -, juris, Rn. 25.
66Sachgründe können sich im vorliegenden Regelungszusammenhang aus dem infektionsrechtlichen Gefahrengrad der Tätigkeit, aber voraussichtlich auch aus ihrer Relevanz für das öffentliche Leben (etwa Schulen, Kitas, Bildungseinrichtungen, ÖPNV sowie die Versorgung der Bevölkerung mit Gütern und bestimmten (u.a. medizinischen) Dienstleistungen) ergeben.
67Vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 14. Mai 2020 ‑ 13 MN 156/20 -, juris, Rn. 36.
68In Anwendung dieses Maßstabs drängt sich ein Gleichheitsverstoß des Verordnungsgebers jedenfalls nicht auf. Dieser durfte im Rahmen des von ihm verfolgten Regelungskonzepts voraussichtlich das gesellschaftliche Bedürfnis nach bestimmten, weiter zulässigen (Dienst-)Leistungen ebenso wie die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen der in Betracht kommenden Maßnahmen in seine Entscheidung einfließen lassen, weite Teile des öffentlichen Lebens, in denen ebenfalls Menschen in geschlossenen Räumlichkeiten zusammentreffen, nicht zu schließen.
69So im Ergebnis in Bezug auf Tattoostudios auch OVG Bln.-Bbg., Beschluss vom 4. November 2020 ‑ OVG 11 S 94/20 ‑, juris, Rn. 52; eine willkürliche Ungleichbehandlung verneinend und die Frage einer Rechtfertigung im Übrigen offen lassend: Nds. OVG, Beschluss vom 10. November 2020 ‑ 13 MN 479/20 ‑, juris, Rn. 60 ff.; offengelassen für ein Kosmetik- und Nagelstudio: VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 6. November 2020 ‑ 1 S 3430/20 ‑, bislang nur als Pressemitteilung; eine gleichheitswidrige Ungleichbehandlung von Tattoostudios gegenüber anderen körpernahen Dienstleistern bejahend hingegen: Saarl. OVG, Beschlüsse vom 9. November 2020 ‑ 2 B 323/20 ‑ und ‑ 2 B 306/20 ‑, bislang ebenfalls nur als Pressemitteilung.
70Eine verfassungswidrige Ungleichbehandlung der hier streitgegenständlichen Dienstleistungen liegt deshalb voraussichtlich nicht darin, dass der Verordnungsgeber Friseurdienstleistungen nicht untersagt hat (§ 12 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 CoronaSchVO). Anders als von den Antragstellern werden in einem Frisörsalon bei zulässiger pauschalierender Betrachtung typischerweise Dienstleistungen angeboten, die schwerpunktmäßig der Grundversorgung der Bevölkerung (Waschen und Schneiden der Haare) zuzuordnen sind. Derartige Dienstleistungen werden von einem Großteil der Bevölkerung mehr oder weniger regelmäßig in Anspruch genommen, weshalb der Verordnungsgeber sie unter den gegebenen Umständen als weniger verzichtbar ansehen durfte. Entsprechendes gilt für Fußpflegeleistungen (§ 12 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 CoronaSchVO), soweit es sich hierbei nicht schon um medizinisch notwendige Dienstleistungen im Sinne des § 12 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 CoronaSchVO handelt. Eine verfassungswidrige Ungleichbehandlung liegt auch nicht darin, dass die Coronaschutzverordnung Warengeschäfte ungeachtet ihres Angebots und ihrer Bedeutung für die Grundversorgung weiter erlaubt. Dies findet seine sachliche Rechtfertigung (schon) darin, dass es in den Ladenlokalen, anders als in den Betriebsstätten der Antragsteller, nicht zu (längeren) unvermeidbaren körpernahen Kontakten kommt.
71Soweit die Antragsteller meinen, die angegriffene Regelung sei mit Blick auf das angestrebte Ziel, generell verzichtbare Kontakte zu unterbinden, unter Berücksichtigung des Gleichheitsgebots nicht nachvollziehbar, weil es nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 CoronaSchVO insgesamt 10 Personen aus zwei verschiedenen Haushalten gestattet sei, sich auch bei Unterschreitung des generellen Sicherheitsabstands im öffentlichen (auch geschlossenen) Raum zusammenzufinden, fehlt es bereits an einem vergleichbaren Sachverhalt. Beim Zusammentreffen im öffentlichen Raum stehen keine köpernahen Dienstleistungen in Rede.
72Lediglich anzumerken ist, dass der Verordnungsgeber im Falle eines Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG nicht zwangsläufig gehalten wäre, die streitgegenständlichen Dienstleistungen zu erlauben. Er könnte zwecks Vermeidung eines Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG für bislang erlaubte Dienstleistungen vielmehr auch deren Untersagungen in Erwägung ziehen.
73II. Die angesichts der offenen Erfolgsaussichten anzustellende Folgenabwägung ergibt, dass die von den Antragstellern dargelegten wirtschaftlichen Einbußen unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit des angefochtenen Verbots hinter den Schutz von Leben und Gesundheit einer Vielzahl von Menschen zurücktreten müssen. Angesichts des eingangs beschriebenen rasanten Anstiegs der Zahl von Neuinfektionen und der vor diesem Hintergrund konkret zu befürchtenden Überlastung der (intensiv)medizinischen Behandlungskapazitäten fallen die zu erwartenden Folgen einer Außervollzugsetzung der angegriffenen Norm schwerer ins Gewicht als die durch die vorbeschriebenen Hilfsprogramme abgemilderten wirtschaftlichen Folgen ihres einstweilig weiteren Vollzugs.
74So mit eingehender Begründung auch Nds. OVG, Beschluss vom 10. November 2020 ‑ 13 MN 479/20 ‑, juris, Rn. 64 ff.
75Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 2 GKG. Da die angegriffene Regelung mit Ablauf des 30. November 2020 außer Kraft tritt, zielt der Antrag inhaltlich auf eine Vorwegnahme der Hauptsache, sodass eine Reduzierung des Auffangstreitwerts für das Eilverfahren nicht veranlasst ist.
76Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 5.000,00 € festgesetzt.
Gründe
I.
1
Der Antragsteller begehrt die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen eine Abschiebungsandrohung.
2
Er ist 1976 geboren und iranischer Staatsangehöriger. 1994 reiste er erstmals in die Bundesrepublik Deutschland ein und durchlief ein erfolgloses Asylverfahren. Während seines Aufenthaltes trat der Antragsteller wiederholt strafrechtlich in Erscheinung. So wurde er unter anderem durch Urteil des Amtsgerichts A-Stadt vom 19.10.1995 (- 31 LS 37/95 - 567 JS 30293/95 -) zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und zehn Monaten wegen gemeinschaftlichen schweren Raubes in Tateinheit mit gemeinschaftlicher Freiheitsberaubung sowie versuchtem gemeinschaftlichen Diebstahl in acht Fällen und mit weiterem Urteil des Amtsgerichts A-Stadt vom 20.08.1997 (- 30 LS 36/97 - 568 JS 8322/97 -, unter Einbeziehung des o.g. Urteils) zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und vier Monaten wegen gemeinschaftlicher räuberischer Erpressung und Betrug verurteilt. Außerdem verurteilte das Amtsgericht xxx ihn mit Urteil vom 06.06.2000 (- 593 JS 6552/00 27 LS 22/00 -) zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten wegen Nötigung in Tateinheit mit Freiheitsberaubung. Mit Bescheid vom 20.11.1998 wurde der Antragsteller unter Verweis auf die begangenen Straftaten mit unbefristeter Wirkung aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen. Am 04.10.2001 reiste der Antragsteller aus dem Bundesgebiet aus. Nachträglich wurde die Wirkung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes bis zum 16.06.2008 befristet.
3
Am 20.03.2009 reiste der Antragsteller erneut in die Bundesrepublik Deutschland ein. Ein Wiederaufgreifensantrag im Hinblick auf sein Asylverfahren blieb erfolglos. Ab dem 02.04.2009 erhielt er eine Duldung, welche regelmäßig verlängert wurde. In der Folgezeit trat der Antragsteller von 2009 bis 2019 immer wieder wegen verschiedener Delikte strafrechtlich in Erscheinung. So wurde er durch Urteil des Amtsgerichts A-Stadt vom 02.09.2010 zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen wegen unerlaubter Abgabe von Betäubungsmitteln verurteilt. 2012 absolvierte er Ausbildungen zum Pflegediensthelfer und zum Betreuungsassistenten und war seitdem in verschiedenen Pflegeeinrichtungen tätig. In Zusammenhang mit dieser beruflichen Tätigkeit wurde der Antragsteller wiederholt in Verbindung mit Diebstählen zulasten der Bewohner der Einrichtungen gebracht. Insoweit wurde in drei Fällen des (versuchten) besonders schweren Falles des Diebstahls ein polizeiliches Ermittlungsverfahren eingeleitet.
4
Ab dem 08.01.2013 erhielt der Antragsteller eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG, welche fortlaufend verlängert wurde, zuletzt mit Wirkung bis zum 09.12.2016.
5
Mit Urteil des Landgerichts A-Stadt vom 13.04.2015 (- 7 KLs 5/15 -) wurde der Antragsteller zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten wegen Wohnungseinbruchsdiebstahls in vier Fällen und versuchtem Wohnungseinbruchsdiebstahl verurteilt. Die Vollstreckung dieser Gesamtfreiheitsstrafe wurde mit Datum vom 26.10.2016 gemäß § 35 BtMG auf die Dauer von längstens zwei Jahren zur Durchführung einer Therapie zurückgestellt. Dieser Zurückstellung stimmte das Landgericht A-Stadt mit Beschluss vom 11.05.2017 zu. Der am 25.11.2016 beantragten Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis wurde zunächst nicht beschieden und der Antragsteller erhielt ab dem selben Tag eine Fiktionsbescheinigung, welche fortlaufend verlängert wurde.
6
Mit Schreiben vom 22.12.2017 wurde der Antragsteller zur beabsichtigen Ausweisung, Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung sowie zur Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG und der Befristung der Wirkung der Ausweisung auf zwei Jahre angehört. Die beabsichtigte Entscheidung wurde mit den strafrechtlichen Verurteilungen und Ermittlungsverfahren zulasten des Antragstellers begründet. Der Antragsteller trete seit 1995 durchgehend strafrechtlich in Erscheinung. Daher seien nicht nur vereinzelte Rechtsverstöße gegeben. Der Antragsteller sei im Zusammenhang mit unterschiedlichen Deliktsbereichen polizeilich festgestellt worden. Seine Ausweisung sei angezeigt, um die Begehung weiterer Straftaten im Bundesgebiet zu verhindern.
7
Am 10.08.2018 wurde dem Antragsteller ein iranischer Reisepass ausgestellt, welcher bis zum 10.08.2023 gültig ist.
8
Gegen den Antragsteller wurde am 10.10.2019 ein Strafverfahren wegen sexuellen Übergriffs bzw. sexueller Nötigung, Vergewaltigung eingeleitet (Vorgangsnummer: Vg / 642997 / 2019) und am 10.12.2019 eines wegen Urkundenfälschung (Vorgangsnummer: Vg / 779890 / 2019).
9
Mit Bescheid vom 22.05.2020 lehnte die Antragsgegnerin die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG ab. Zur Begründung führte die Antragsgegnerin aus, dass die Ausreise dem Antragsteller weder tatsächlich noch rechtlich unmöglich sei, der Antragsteller mehrmals in sein Heimatland eingereist sei und er zudem aufgrund mehrerer Straftaten und eingeleiteter Ermittlungsverfahren ein Ausweisungsinteresse erfülle. Es sei nicht ersichtlich, dass sich der Antragsteller in die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland einfüge. Sein weiterer Aufenthalt stelle eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar. Außerdem erging die Aufforderung an den Antragsteller, das Bundesgebiet umgehend, spätestens aber innerhalb eines Monats nach Zustellung des Bescheides zu verlassen. Zugleich wurde für den Fall des Nichtbefolgens die Abschiebung in den Iran oder in einen anderen Staat, der zur Aufnahme bereit oder verpflichtet ist, angedroht.
10
Hiergegen erhob der Antragsteller am 25.06.2020 Widerspruch, welchen die Antragsgegnerin mit Widerspruchsbescheid vom 27.07.2020 zurückwies.
11
Der Antragsteller hat am 07.09.2020 Klage auf Verpflichtung zur Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis erhoben und gleichzeitig um einstweiligen Rechtsschutz gegen die Abschiebungsandrohung nachgesucht. Begründend führt er aus, es sei zu berücksichtigen, dass der Strafrichter seine Bewährungstauglichkeit anerkannt habe. Daran sei die Antragsgegnerin zwar nicht ausdrücklich gebunden, sie dürfe es aber auch nicht unberücksichtigt lassen. Darüber hinaus sei eine Ablehnung unter Verweis auf die Verurteilung im Jahr 2015 präkludiert, da die Antragsgegnerin trotz Kenntnis der Umstände immer wieder verlängerte Fiktionsbescheinigungen ausgestellt habe. Aus dieser langjährigen Praxis bestehe ein Vertrauensgrundsatz dahingehend, dass ihm diese Verfehlung nicht mehr vorgehalten werde. Zudem habe es die Antragstellerin unterlassen, für ihn sprechende Umstände zu berücksichtigen, wie den bestandenen Hauptschulabschluss, die absolvierte Ausbildung zum Pflegehelfer und die anschließende Berufstätigkeit entsprechend dieser Qualifikation. Es könne der Entscheidung der Antragsgegnerin nicht entnommen werden, dass sie überhaupt Ermessen ausgeübt habe. Auch habe die Antragsgegnerin nicht geprüft, ob eine Aufenthaltserlaubnis auf Grundlage einer anderen Norm erteilt werden könne.
12
Der Antragsteller beantragt,
13
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung des Bescheides vom 22.05.2020 anzuordnen.
14
Die Antragsgegnerin beantragt,
15
den Antrag abzulehnen.
16
Zur Begründung verweist sie erneut darauf, dass die Ausreise für den Antragsteller nicht unmöglich sei. Somit sei bereits der Anwendungsbereich der Norm nicht erfüllt und ein Ermessensfehler scheide aus. Selbst wenn der Anwendungsbereich eröffnet sei, liege noch ein Ausweisungsinteresse vor. Die Wiederholungsgefahr sei im Hinblick auf die seit der Haft begangenen Straftaten gegeben. Von dieser Regelerteilungsvoraussetzung sei auch nicht abzusehen, da kein Ausnahmetatbestand vorliege. Im Übrigen verhalte sich die Antragsbegründung nicht zur Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung.
17
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge verwiesen.
II.
18
Der Antrag ist zulässig, aber unbegründet.
19
Zunächst ist der Antrag zulässig und insbesondere statthaft als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 1. Alt. VwGO. Denn die Abschiebungsandrohung nach § 59 AufenthG ist eine bundesrechtlich geregelte Vollzugsmaßnahme, deren Vollstreckung sich nach Landesrecht richtet, so dass Rechtsmittel hiergegen gemäß § 248 Abs. 1 Satz 2 LVwG SH keine aufschiebende Wirkung entfalten, § 80 Abs. 2 Satz 2 VwGO.
20
Allerdings ist der Antrag unbegründet, weil die Androhung der Abschiebung in den Iran unter Bestimmung einer Frist für die freiwillige Ausreise von einem Monat offensichtlich rechtmäßig ist.
21
Die gerichtliche Entscheidung ergeht in den Fällen des § 80 Abs. 5 Satz 1 1. Alt. VwGO auf der Grundlage einer umfassenden Interessenabwägung. Gegenstand der Abwägung sind das private Aufschubinteresse einerseits und das öffentliche Interesse an der Vollziehung des Verwaltungsaktes andererseits. Im Rahmen dieser Interessenabwägung können auch Erkenntnisse über die Rechtmäßigkeit und die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes, der vollzogen werden soll, Bedeutung erlangen, allerdings nicht als unmittelbare Entscheidungsgrundlage, sondern als in die Abwägung einzustellende Gesichtspunkte, wenn aufgrund der gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage Erfolg oder Misserfolg des Rechtsbehelfs offensichtlich erscheinen. Ist danach der Erfolg oder Misserfolg des Rechtsmittels offensichtlich, so ist hinsichtlich der Interessenabwägung auf die gesetzgeberische Wertung zurückzugreifen, die in der Entscheidung zum Ausdruck kommt, es beim Grundsatz der aufschiebenden Wirkung aus § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO zu belassen oder aber bereits von Gesetzes wegen zunächst den Sofortvollzug anzuordnen. Lässt sich allerdings weder die offensichtliche Rechtmäßigkeit noch die offensichtliche Rechtswidrigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes feststellen, bedarf es zur Entscheidung einer weiteren Interessenabwägung.
22
Gemessen daran ist die angegriffene Abschiebungsandrohung vom 22.05.2020 offensichtlich rechtmäßig. Die Abschiebungsandrohung findet ihre Rechtsgrundlage in § 59 Abs. 1 AufenthG, wonach die Abschiebung unter Bestimmung einer angemessenen Frist für die freiwillige Ausreise anzudrohen ist.
23
Der Erlass einer Abschiebungsandrohung setzt grundsätzlich das Bestehen einer Ausreisepflicht voraus. Der Antragsteller ist nach § 50 Abs. 1 AufenthG kraft Gesetzes ausreisepflichtig. Nach dieser Vorschrift ist ein Ausländer zur Ausreise verpflichtet, wenn er einen erforderlichen Aufenthaltstitel nicht oder nicht mehr besitzt und ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei nicht oder nicht mehr besteht. Demnach ist der Antragsteller ausreisepflichtig. Er ist nicht im Besitz einer gültigen Aufenthaltserlaubnis, da seine Aufenthaltserlaubnis lediglich bis zum 09.12.2016 gültig war.
24
Der am 25.11.2016 gestellte Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis entfaltet auch keine Fiktionswirkung im Sinne des § 81 Abs. 3 oder Abs. 4 AufenthG. Zunächst besteht keine Fiktionswirkung gemäß § 81 Abs. 3 AufenthG. Nach dieser Vorschrift gilt der Aufenthalt eines Ausländers als erlaubt, wenn er die Erteilung eines Aufenthaltstitels beantragt und sich rechtmäßig ohne einen Aufenthaltstitel zu besitzen im Bundesgebiet aufhält. Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Zum Zeitpunkt der Beantragung der Verlängerung seines Aufenthaltstitels war der Antragsteller im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis.
25
Auch eine Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG besteht nicht. Danach gilt der bisherige Aufenthaltstitel vom Zeitpunkt seines Ablaufs bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde als fortbestehend, wenn der Ausländer vor Ablauf seines Aufenthaltstitels dessen Verlängerung oder die Erteilung eines anderen Aufenthaltstitels beantragt. Zwar beantragte der Antragsteller noch vor Ablauf seiner Aufenthaltserlaubnis dessen Verlängerung und erhielt ab der Antragstellung auch Fiktionsbescheinigungen. Allerdings endet die Fortgeltungsfiktion mit der Entscheidung der Ausländerbehörde über den Antrag (vgl. Kluth in: BeckOK Ausländerrecht, Kluth/Heusch, 26. Edition, Stand: 01.07.2020, § 81 Rn. 38). Insoweit besteht keine Fiktionswirkung mehr, da die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 22.05.2020 die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis abgelehnt hat.
26
Darüber hinaus sind Duldungsgründe weder ersichtlich noch vorgetragen. Ein etwaiger Duldungsanspruch steht dem Erlass der Abschiebungsandrohung gemäß § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG außerdem nicht entgegen.
27
Auch die Ausreisefrist von einem Monat begegnet keinen Bedenken. Der Gesetzgeber sieht in § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG die Bestimmung einer Frist zwischen sieben und 30 Tagen vor. Insoweit bewegt sich die Ausreisefrist von einem Monat an der oberen Grenze des gesetzlichen Rahmens. Zudem wurde auch gemäß § 59 Abs. 2 Satz 1 AufenthG der Zielstaat der Abschiebung benannt.
28
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf §§ 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG.
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"jurisdiction": "Germany",
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Tenor
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 30.09.2020 wird bis zum Erlass des Widerspruchsbescheides angeordnet.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 5.000,- € festgesetzt.
Gründe
I.
1
Der am 30.07.1968 geborene Antragsteller ist neuseeländischer Staatsangehöriger. Er schloss am 02.07.2012 die Ehe mit der deutschen Staatsangehörigen xx A., geb. xxx. Nach der Eheschließung reiste er in das Bundesgebiet ein. Ihm wurde am 06.12.2012 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG erteilt, die bis zum 05.12.2014 gültig war. In der Folgezeit wurde die Aufenthaltserlaubnis verlängert. Am 01.12.2013 wurde die Tochter xxx xxx xxx geboren, am 23.03.2016 die Tochter xxx xxx. Mit Beschluss des Amtsgerichts xxx vom 07.08.2019 wurde die Ehe geschieden. Am 18.10.2019 wurde dem Antragsteller die Aufenthaltserlaubnis als eine bis zum 16.10.2020 gültige eheunabhängige Aufenthaltserlaubnis nach § 31 Abs. 1 AufenthG verlängert.
2
Gegen den Antragsteller wurden folgende Strafverfahren eingeleitet:
3
1. 26.02.2020 wegen der Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes. Der Antragsteller soll heimlich einen Mitschnitt eines Gesprächs zwischen ihm und zwei Mitarbeitern des Jugendamtes aufgenommen und diesen Mitschnitt anderen Menschen vorgespielt haben.
4
2. 05.06.2020 wegen Körperverletzung.
5
3. 13.07.2020 u.a. wegen Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen. Der Antragsteller soll eine umfangreiche Website (xxx.com) erstellt haben, die sensible Informationen und persönliche Bilder beinhalte. In den Berichten beklage sich der Antragsteller über falsche Verhaltensweisen von Behörden und verweise direkt und unzensiert auf die entsprechenden Mitarbeiter. Weiterhin könnten der Seite zahlreiche Bilder und Filme entnommen werden, die seine Kinder zeigten. Hierbei liege von Seiten der Mutter, welche über das alleinige Sorgerecht der Kinder verfüge, keine Einverständniserklärung vor.
6
4. 22.07.2020 wegen Bedrohung. Der Antragsteller soll eine Mitarbeiterin eines Kindergartens mit den Worten „I will destroy you“ bedroht haben. Weiterhin habe er die Mitarbeiterin bei jedem Treffen in der Öffentlichkeit singend als „piece of shit“ bezeichnet. Ebenfalls habe er in Richtung der Mitarbeiterin obszön gestikuliert. Auf der von ihm eingerichteten Website habe er mitgeteilt, dass sich die Mitarbeiterin des Kindergartens rassistisch äußern würde und seine ältere Tochter auf die Hand geschlagen habe. Er habe zudem die Geschädigte gefilmt bzw. ihre Äußerungen aufgezeichnet. Zudem sollen diese Aufzeichnungen auf seiner Website veröffentlich worden sein.
7
Der Antragsteller beantragte am 18.08.2020 die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis. Zur Sicherung seines Lebensunterhaltes bezieht er seit mehreren Jahren Leistungen nach dem SGB II.
8
Mit Bescheid vom 30.09.2020 wurde (1.) der Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis abgelehnt. Der Antragsteller wurde (2.) aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland bis zum 21.10.2020 zu verlassen. Für den Fall der nichtfreiwilligen Ausreise wurde ihm (3.) die Abschiebung nach Neuseeland angedroht. In der Begründung hieß es u.a., die Inanspruchnahme von Leistungen nach dem SGB II stehe der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis entgegen. Die Befreiung nach § 31 Abs. 4 Satz 1 AufenthG gelte nur für ein Jahr.
9
Der Antragsteller legte Widerspruch ein, zu dessen Begründung er vortrug, es stehe noch eine Entscheidung des Familiengerichts hinsichtlich des Umgangsrechts für seine Töchter aus. Er bitte darum, den endgültigen Beschluss des Familiengerichts abzuwarten und danach ggfs. neu zu entscheiden. Eine Arbeitsaufnahme sei nicht möglich gewesen, da bis Ende November 2019 die Kinder wechselseitig bei ihrer Mutter und bei ihm gelebt hätten. Im Januar 2020 habe er intensiv mit der Arbeitssuche begonnen, ab März sei diese wegen des Lockdowns erschwert gewesen.
10
Der Antragsteller hat am 12.10.2020 einen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gestellt, zu dessen Begründung er sich auf den Widerspruch bezieht und im Einzelnen zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen Stellung bezieht und diese zurückweist.
11
Der Antragsteller beantragt sinngemäß,
12
die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs gegen den Bescheid vom 30.09.2020 anzuordnen.
13
Der Antragsgegner beantragt,
14
den Antrag abzulehnen.
15
Zur Begründung trägt der Antragsgegner u.a. vor, der Antrag sei abgelehnt worden, da der Antragsteller aufgrund des Leistungsbezuges die Voraussetzungen nach § 31 Abs. 1 AufenthG nicht erfülle. Der Lebensunterhalt sei nicht gesichert. Es liege kein atypischer Ausnahmefall vor, der das Absehen von der Regelerteilungsvoraussetzung ermögliche. Es könne nicht nachvollzogen werden, aus welchen Gründen eine Arbeitsaufnahme aufgrund einer weniger als hälftigen Kinderbetreuung nicht möglich sein solle. Der Antragsteller verfüge weder über das Sorgerecht für die Kinder, noch habe er ein bestehendes Umgangsrecht. Vielmehr liege aufgrund der eingeleiteten Strafverfahren ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG vor. Die Voraussetzungen für eine Duldung aus familiären Gründen seien nicht erfüllt, da der Antragsteller keinen Umgang mit seinen Kindern pflege.
16
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Parteien wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
II.
17
Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist statthaft und auch im Übrigen zulässig.
18
Der Antragsteller hat seinen Verlängerungsantrag vor Ablauf der ihm erteilten Aufenthaltserlaubnis gestellt. Dieser Antrag wurde auch vor Ablauf der Aufenthaltserlaubnis beschieden. In dieser Konstellation tritt die Fortgeltungsfiktion des § 81 Abs. 4 AufenthG nicht ein (vgl. Funke-Kaiser in GK-AufenthG, Stand Januar 2019, § 81 Rn. 81; Hofmann in Hofmann (Hrsg.), Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 81 AufenthG Rn. 73). Gleichwohl wäre es nicht gerechtfertigt, den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO für nicht statthaft zu halten und den Antragsteller in das vorläufige Rechtsschutzsystem der einstweiligen Anordnung zu verweisen. Denn dies würde eine durch sachliche Gründe nicht gerechtfertigte differenzierende und von Zufällen abhängige Schlechterstellung der Betroffenen darstellen, die die Möglichkeit verlören, die auch hier infolge der Ablehnung jedenfalls nach Ablauf der Geltungsdauer eintretende Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht abzuwenden und nur eine Aussetzung der Abschiebung erreichen könnten (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 16.06.2011 – 11 S 1305/11 – juris Rn. 14; Funke-Kaiser, a.a.O., Rn. 128; Hofmann, ebenda).
19
Der Widerspruch gegen die Ablehnung eines Antrages auf Erteilung oder Verlängerung des Aufenthaltstitels hat nach § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG keine aufschiebende Wirkung.
20
Die in Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotene Interessenabwägung ist in erster Linie an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache auszurichten. Sie fällt regelmäßig zugunsten der Behörde aus, wenn der angefochtene Verwaltungsakt offensichtlich rechtmäßig ist und ein besonderes Interesse an seiner sofortigen Vollziehung besteht oder der Sofortvollzug gesetzlich angeordnet ist. Dagegen ist dem Aussetzungsantrag stattzugeben, wenn der Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist, da an der sofortigen Vollziehung eines solchen Verwaltungsakts kein öffentliches Interesse bestehen kann. Lässt die im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotene summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage eine abschließende Beurteilung der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts nicht zu, so hat das Gericht eine eigenständige, von den Erfolgsaussichten unabhängige Abwägung der widerstreitenden Interessen vorzunehmen (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 02.03.2016 - 1 B 1375/15 - juris Rn. 9; OVG Schleswig, Beschluss vom 06.08.1991 - 4 M 109/91 - SchlHA 1991, 220).
21
Nach diesen Maßstäben ist die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs anzuordnen, da der Bescheid vom 30.09.2020 offensichtlich rechtswidrig ist, da er keine Ermessenserwägungen enthält.
22
Der Antragsteller hat die Verlängerung einer ihm nach § 31 Abs. 1 AufenthG erteilten Aufenthaltserlaubnis beantragt, sodass sich die Rechtmäßigkeit der Ablehnung dieses Antrages nach § 31 Abs. 4 AufenthG beurteilt. Der Anspruch nach § 31 Abs. 1 AufenthG bezieht sich auf den Aufenthalt nur in dem Jahr unmittelbar nach Ablauf der Gültigkeit der ehegattenbezogenen Aufenthaltserlaubnis. Läuft die ehegattenbezogene Aufenthaltserlaubnis aus, so kann das Aufenthaltsrecht aus § 31 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nur in dem sich unmittelbar anschließenden Jahr erteilt werden. Ist das Jahr abgelaufen, so kann die Aufenthaltserlaubnis nur noch als Übergangstitel für den Verlängerungsanspruch nach § 31 Abs. 4 AufenthG erteilt werden. Denn die Aufenthaltserlaubnis nach § 31 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist Voraussetzung für eine darauf aufbauende Verlängerung im Ermessenswege nach § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG (vgl. Dienelt in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 31 AufenthG Rn. 9 m.w.N.). Bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen steht der Behörde ein Ermessen zu, welches hier nicht erkennbar ausgeübt wurde.
23
Nach § 8 Abs. 1 i. V. mit § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG kann eine Aufenthaltserlaubnis auch nach der erstmaligen auf ein Jahr befristeten Verlängerung (§ 31 Abs. 1 Satz 1 AufenthG) erneut verlängert werden, wenn die Verlängerung rechtzeitig vor Ablauf der Gültigkeitsdauer beantragt worden ist und die sich aus § 5 AufenthG ergebenden allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen vorliegen (vgl. Sächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 18.05.2017 – 3 B 297/16 – juris Rn. 6; Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 31.05.2018 – OVG 11 B 18.16 – juris Rn. 19).
24
Der Antragsteller hat seinen Verlängerungsantrag vor Ablauf der ihm erteilten Aufenthaltserlaubnis gestellt. Es fehlt vorliegend allerdings an der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG. Nach dieser Norm setzt die Erteilung eines Aufenthaltstitels in der Regel voraus, dass der Lebensunterhalt gesichert ist. Dies ist im Falle des Antragstellers nicht der Fall. Dass der Antragsteller während der Dauer seines bisherigen Aufenthaltes in der Bundesrepublik Deutschland erwerbstätig gewesen ist, ist nicht ersichtlich. Der Antragsteller ist vielmehr zur Sicherung seines Lebensunterhaltes seit mehreren Jahren auf Leistungen nach dem SGB II angewiesen. Dies folgt aus den in dem vorliegenden Verwaltungsvorgang befindlichen Leistungsbescheiden aus den Jahren 2014, 2016, 2019 und 2020.
25
Angesichts dessen fehlt es an der in § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG vorausgesetzten Sicherung des Lebensunterhalts. Dies steht in der Regel der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis entgegen. Etwas anderes folgt auch nicht aus § 31 Abs. 4 Satz 1 AufenthG, nach dem die Inanspruchnahme von Leistungen nach dem Zweiten oder Zwölften Buch Sozialgesetzbuch der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis unbeschadet des § 31 Abs. 2 Satz 4 AufenthG nicht entgegensteht. Diese Privilegierung gilt nur für die erstmalige Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nach § 31 Abs. 1 AufenthG. Bei allen weiteren Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis als eheunabhängiges Aufenthaltsrecht muss grundsätzlich die Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG vorliegen (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 02.02.2011 – 11 ME 441/10 – juris Rn. 13; Bayerischer VGH, Beschluss vom 17.06.2013 – 10 C 13.881 – juris Rn. 15; Dienelt, a.a.O. Rn. 97 jeweils m.w.N.).
26
Vorliegend liegt jedoch ein Ausnahmefall vor, der zu einem Abweichen von der Regel des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG führt. Ob ein Ausnahmefall von der Regel vorliegt, stellt eine gerichtlich voll überprüfbare gebundene Entscheidung dar. Ein Ausnahmefall ist dann anzunehmen, wenn aufgrund bedeutsamer Umstände ein atypischer Geschehensablauf vorliegt, der so gewichtig ist, dass er das sonst die Regel begründende Gewicht beseitigt. Erforderlich ist, dass eine vorliegende Abweichung die Anwendung des Regeltatbestandes nach seinem Sinn und Zweck unpassend oder grob unverhältnismäßig oder untunlich erscheinen lässt. Der Ausnahmefall wird daher wesentlich durch verfassungsrechtliche Wertentscheidungen geprägt, die der Anwendung der Regel entgegenstehen, wobei dabei insbesondere Art. 6 GG und Art. 8 EMRK in Betracht kommen (vgl. Bayerischer VGH, a.a.O. Rn. 17 m.w.N.).
27
Der Antragsteller ist Vater zweier Töchter mit deutscher Staatsangehörigkeit. Ein Sorgerecht besteht nicht. In der Vergangenheit hatte der Antragsteller Umgang mit seinen Kindern, gegenwärtig offenbar nicht. Es ist jedoch bei dem Amtsgericht xxx – Familiengericht – ein Verfahren anhängig, in dem ein Umgangsrecht des Antragstellers Gegenstand ist. Aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK ergibt sich eine rechtliche Schutzwirkung zugunsten eines Ausländers, der sich ernsthaft um die Erlangung eines Umgangsrechts bemüht, wenn die Ausreise des Ausländers oder eine Abschiebung den Ausgang des Verfahrens über das Umgangsrecht vorwegnimmt und / oder eine prozessual gebotene Verfahrensbeteiligung vereiteln würde (vgl. EGMR, Urteil vom 11.07.2020 – 29192/95 – juris; Haedicke, HTK-AuslR / § 60a AufenthG / zu Abs. 2 Satz 1 – familiäre Gründe, Rn. 68 m.w.N.). Eine Beendigung des Aufenthalts des Antragstellers vor einem Abschluss eines laufenden familiengerichtlichen Verfahrens würde – insbesondere angesichts der erheblichen Entfernung seines Heimatstaates – die Wahrnehmung seiner rechtlichen Interessen in diesem Verfahren nachhaltig beeinträchtigen und den Schutzbereich des Art. 6 GG und des Art. 8 EMRK verletzen. Dieser Umstand rechtfertigt, von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Satz 1 AufenthG abzusehen.
28
Ob aufgrund der strafrechtlichen Ermittlungen ein Ausweisungsinteresse besteht und es damit an der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG fehlt, kann offen bleiben, da auch bei Vorliegen eines Ausweisungsinteresses aus den oben genannten Gründen von dem Regelfall abzuweichen wäre. Soweit der Antragsgegner im gerichtlichen Verfahren auf gegen den Antragsteller eingeleitete Ermittlungsverfahren abgestellt hat, ist jedoch darauf hinzuweisen, dass es in Fällen, in denen eine Verurteilung (noch) nicht vorliegt, für die Annahme eines Ausweisungsinteresses nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG eigener Ermittlungen und Feststellungen bedarf, sofern die Ausländerbehörde aufgrund einer Auskunft oder Unterrichtung oder bei Gelegenheit ihrer eigenen Tätigkeit von einem Straftatbestand erfährt (vgl. Bauer in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 54 AufenthG Rn. 93). Den dem Gericht vorliegenden Verwaltungsakten des Antragsgegners ist nicht zu entnehmen, dass dies bereits vorgenommen wurde.
29
Sind die Regelerteilungsvoraussetzungen des § 5 AufenthG erfüllt oder ist von diesem Erfordernis – wie hier – ausnahmsweise abzusehen, steht die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nach § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG im Ermessen des Antragsgegners. Der Bescheid vom 30.09.2020 enthält keine Ermessenserwägungen, er lässt auch nicht erkennen, dass dem Antragsgegner bewusst war, dass er eine Ermessensentscheidung zu treffen hat. Der Bescheid genügt damit den Anforderungen des § 109 Abs. 1 LVwG nicht. Danach ist ein Verwaltungsakt mit einer Begründung zu versehen. Die Begründung von Ermessensentscheidungen soll auch die Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen die Behörde bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist.
30
Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung war bis zum Erlass des Widerspruchsbescheides zu befristen, da der Antragsgegner den aufgezeigten Mangel im Widerspruchsverfahren beheben kann.
31
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf §§ 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 GKG.
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Tenor
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens; Gerichtskosten werden nicht erhoben.
1G r ü n d e
2Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Die Berufung ist nicht wegen des allein geltend gemachten Zulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG zuzulassen.
3Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung im Sinne dieser Vorschrift, wenn sie eine konkrete noch nicht geklärte Rechts- oder Tatsachenfrage aufwirft, deren Beantwortung sowohl für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war als auch für die Entscheidung im Berufungsverfahren erheblich sein wird und die über den konkreten Fall hinaus wesentliche Bedeutung für die einheitliche Anwendung oder für die Weiterentwicklung des Rechts hat. Für die Darlegung dieser Voraussetzungen ist neben der Formulierung einer Rechts- oder Tatsachenfrage erforderlich, dass der Zulassungsantrag konkret auf die Klärungsbedürftigkeit und Klärungsfähigkeit der Rechts- bzw. Tatsachenfrage sowie ihre über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung eingeht.
4Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 6. Mai 2020– 1 A 1854/19.A –, juris, Rn. 3 f., m. w. N.
5Eine Grundsatzrüge, die sich auf tatsächliche Verhältnisse stützt, erfordert überdies die Angabe konkreter Anhaltspunkte dafür, dass die für die Entscheidung erheblichen Tatsachen etwa im Hinblick auf hierzu vorliegende gegensätzliche Auskünfte oder abweichende Rechtsprechung einer unterschiedlichen Würdigung zugänglich sind. Insoweit ist es Aufgabe des Rechtsmittelführers, durch die Benennung von bestimmten begründeten Informationen, Auskünften, Presseberichten oder sonstigen Erkenntnisquellen zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür darzulegen, dass nicht die Feststellungen, Erkenntnisse und Einschätzungen des Verwaltungsgerichts, sondern die gegenteiligen Bewertungen in der Zulassungsschrift zutreffend sind, so dass es zur Klärung der sich insoweit stellenden Fragen der Durchführung eines Berufungsverfahrens bedarf.
6Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 6. Mai 2020– 1 A 1854/19.A –, juris, Rn. 5.
7Gemessen hieran rechtfertigt die von dem Kläger für grundsätzlich bedeutsam erachtete Frage,
8ob zurückgeführte algerische Flüchtlinge, die sich in ihrer Heimat dem Wehrdienst entzogen haben, in Algerien asylrelevante Maßnahmen erwarten,
9die Zulassung der Berufung nicht. Der Kläger benennt schon keine geeigneten Erkenntnisquellen, auf die er seine in der aufgeworfenen Frage (sinngemäß) zum Ausdruck kommende und von der Beurteilung des Verwaltungsgerichts abweichende Auffassung stützt, ihm drohe aufgrund der behaupteten Wehrdienstentziehung im Falle einer Rückkehr – ohne einen fairen Prozess – die hohe Gefahr einer schweren Haftstrafe mit Folter oder sogar die Todesstrafe, da Deserteure und Kriegsdienstverweigerer leicht mit Anhängern islamistischer Bewegungen gleichgesetzt würden. Das einzig von dem Kläger benannte – aber nicht einmal vorgelegte und auch bei einer Recherche in den gängigen Datenbanken und im Internet nicht auffindbare – Erkenntnismittel „Amnesty International, Sektion Schweiz, herausgegeben von Connection e.V., Algerien – Desertion & Asyl“ ist mangels Aktualität schon nicht ansatzweise geeignet, den aufgezeigten Darlegungsanforderungen zu genügen. Dieses datiert – nach Angaben des Klägers – aus Juli 1998, betrifft also (angebliche) Tatsachen, die einen Stand vor mehr als zwanzig Jahren wiedergeben, während das Verwaltungsgericht seiner Bewertung aktuelle Erkenntnismittel aus den Jahren 2018 bzw. 2019 zugrunde gelegt hat (UA, S. 5 f.). Es ist nicht Aufgabe des Senats, (neue) Erkenntnisse einzuholen, um die für den Kläger günstigen Gesichtspunkte zusammenzutragen.
10Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 6. Mai 2020– 1 A 1854/19.A –, juris, Rn. 6 f. m. w. N.
11Darüber hinaus geht der Kläger auch in keiner Weise auf die über seinen Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm formulierten Frage ein.
12Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit des Verfahrens ergibt sich aus § 83b AsylG.
13Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG). Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 5.000 EUR festgesetzt.
Gründe
1
I. Der sinngemäß gestellte Antrag,
2
§ 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 10 der Niedersächsischen Verordnung über Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus SARS-CoV-2 (Niedersächsische Corona-Verordnung) vom 30. Oktober 2020 (Nds. GVBl. S. 368) insoweit vorläufig außer Vollzug zu setzen, als Prostitutionsstätten nach § 2 Abs. 3 Nr. 1 des Prostitutionsschutzgesetzes für den Publikumsverkehr und Besuche geschlossen sind,
3
bleibt ohne Erfolg. Der Antrag ist zulässig (1.), aber unbegründet (2.).
4
Diese Entscheidung, die nicht den prozessrechtlichen Vorgaben des § 47 Abs. 5 VwGO unterliegt (vgl. Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl. 2017, Rn. 607; Hoppe, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 47 Rn. 110 ff.), trifft der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 12.6.2009 - 1 MN 172/08 -, juris Rn. 4 m.w.N.) und gemäß § 76 Abs. 2 Satz 1 NJG ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richterinnen und Richter.
5
1. Der Antrag ist zulässig.
6
Der Normenkontrolleilantrag ist nach § 47 Abs. 6 in Verbindung mit Abs. 1 Nr. 2 VwGO und § 75 NJG statthaft. Die Niedersächsische Corona-Verordnung ist eine im Range unter dem Landesgesetz stehende Rechtsvorschrift im Sinne des § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO in Verbindung mit § 75 NJG (vgl. zu den insoweit bestehenden Anforderungen: Senatsbeschl. v. 31.1.2019 - 13 KN 510/18 -, NdsRpfl. 2019, 130 f. - juris Rn. 16 ff.).
7
Der Antragsteller ist antragsbefugt im Sinne des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO, da er geltend machen kann, in eigenen Rechten verletzt zu sein. Die in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 10 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Schließung von Prostitutionsstätten nach § 2 Abs. 3 Nr. 1 des Prostitutionsschutzgesetzes ist an deren Betreiberinnen und Betreiber adressiert und lässt es möglich erscheinen, dass der Antragsteller in seinem Grundrecht der Berufsausübungsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG verletzt ist (vgl. zu dieser Qualifizierung des Eingriffs: Senatsbeschl. v. 16.4.2020 - 13 MN 77/20 -, juris Rn. 29). Eine darüberhinausgehende Verletzung des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb als einer nach Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Rechtsposition dürfte hingegen nicht vorliegen. Denn dieser Schutz erfasst nur den konkreten Bestand an Rechten und Gütern; die hier durch die verordnete Beschränkung betroffenen bloßen Umsatz- und Gewinnchancen werden hingegen auch unter dem Gesichtspunkt des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs nicht von der Eigentumsgarantie erfasst (vgl. BVerfG, Urt. v. 6.12.2016 - 1 BvR 2821/11 -, BVerfGE 143, 246, 331 f. - juris Rn. 240; Beschl. v. 26.6.2002 - 1 BvR 558/91 -, BVerfGE 105, 252, 278 - juris Rn. 79 m.w.N.).
8
Der Antrag ist zutreffend gegen das Land Niedersachsen als normerlassende Körperschaft im Sinne des § 47 Abs. 2 Satz 2 VwGO gerichtet. Das Land Niedersachsen wird durch das Niedersächsische Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung vertreten (vgl. Nr. II. des Gemeinsamen Runderlasses der Staatskanzlei und sämtlicher Ministerien, Vertretung des Landes Niedersachsen, v. 12.7.2012 (Nds. MBl. S. 578), zuletzt geändert am 15.9.2017 (Nds. MBl. S. 1288), in Verbindung mit Nr. 4.22 des Beschlusses der Landesregierung, Geschäftsverteilung der Niedersächsischen Landesregierung, v. 17.7.2012 (Nds. MBl. S. 610), zuletzt geändert am 18.11.2019 (Nds. MBl. S. 1618)).
9
2. Der Antrag ist aber unbegründet.
10
Nach § 47 Abs. 6 VwGO kann das Gericht in Normenkontrollverfahren auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist. Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind zunächst die Erfolgsaussichten eines Normenkontrollantrages im Hauptsacheverfahren, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen. Ergibt diese Prüfung, dass der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet sein wird, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht im Sinne von § 47 Abs. 6 VwGO zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Erweist sich dagegen, dass der Antrag voraussichtlich Erfolg haben wird, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache suspendiert werden muss. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist. Lassen sich die Erfolgsaussichten des Normenkontrollverfahrens nicht abschätzen, ist über den Erlass einer beantragten einstweiligen Anordnung im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden. Gegenüberzustellen sind im Rahmen der sog. "Doppelhypothese" die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Normenkontrollantrag aber Erfolg hätte, und die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Normenkontrollantrag aber erfolglos bliebe. Die für den Erlass der einstweiligen Anordnung sprechenden Gründe müssen die gegenläufigen Interessen deutlich überwiegen, mithin so schwer wiegen, dass der Erlass der einstweiligen Anordnung - trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache - dringend geboten ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 30.4.2019 - BVerwG 4 VR 3.19 -, juris Rn. 4 (zur Normenkontrolle eines Bebauungsplans); OVG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 22.10.2019 - 6 B 11533/19 -, juris Rn. 5 (zur Normenkontrolle einer Rechtsverordnung über die Freigabe eines verkaufsoffenen Sonntags); Sächsisches OVG, Beschl. v. 10.7.2019 - 4 B 170/19 -, juris Rn. 20 (zur Normenkontrolle einer Rechtsverordnung zur Bildung und Arbeit des Integrationsbeirats); Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 11.5.2018 - 12 MN 40/18 -, juris Rn. 24 ff. (zur Normenkontrolle gegen die Ausschlusswirkung im Flächennutzungsplan) jeweils m.w.N.).
11
Unter Anwendung dieser Grundsätze bleibt der Antrag auf vorläufige Außervollzugsetzung der in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 10 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordneten Schließung von Prostitutionsstätten nach § 2 Abs. 3 Nr. 1 des Prostitutionsschutzgesetzes für den Publikumsverkehr und Besuche ohne Erfolg. Der Senat vermag den Erfolg des in der Hauptsache gestellten bzw. noch zu stellenden Normenkontrollantrags derzeit nicht verlässlich abzuschätzen (a.). Die danach gebotene Folgenabwägung führt nicht dazu, dass die vom Antragsteller geltend gemachten Gründe für die einstweilige Außervollzugsetzung die für den weiteren Vollzug der Verordnung sprechenden Gründe überwiegen (b.).
12
a. Derzeit ist offen, ob § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 10 der Niedersächsischen Corona-Verordnung in einem Hauptsacheverfahren für unwirksam zu erklären ist. Der Senat geht zwar davon aus, dass diese Verordnungsregelung auf einer tragfähigen Rechtsgrundlage beruht (1) und formell rechtmäßig ist (2). Gleiches gilt hinsichtlich der materiellen Rechtmäßigkeit (3) im Hinblick auf das "Ob" eines staatlichen Handelns (a) und die Notwendigkeit der infektionsschutzrechtlichen Maßnahme als solcher (b). Derzeit ist aber nicht verlässlich abzuschätzen, ob die Verordnungsregelung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG zu vereinbaren ist (c).
13
(1) Rechtsgrundlage für den Erlass der Verordnung ist § 32 Satz 1 und 2 in Verbindung mit § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz - IfSG -) vom 20. Juli 2000 (BGBl. I S. 1045), in der hier maßgeblichen zuletzt durch das Gesetz zur Umsetzung steuerlicher Hilfsmaßnahmen zur Bewältigung der Corona-Krise (Corona-Steuerhilfegesetz) vom 19. Juni 2020 (BGBl. I S. 1385) geänderten Fassung.
14
Eine Verfassungswidrigkeit dieser Rechtsgrundlagen, insbesondere mit Blick auf die Bestimmtheit der getroffenen Regelungen und deren Vereinbarkeit mit dem Vorbehalt des Gesetzes, ist für den Senat - ebenso wie offenbar für das Bundesverfassungsgericht in seiner bisherigen Spruchpraxis betreffend die Corona-Pandemie (vgl. bspw. BVerfG, Beschl. v. 15.7.2020 - 1 BvR 1630/20 -; v. 9.6.2020 - 1 BvR 1230/20 -; v. 28.4.2020 - 1 BvR 899/20 -, alle veröffentlicht in juris) - jedenfalls nicht offensichtlich (vgl. hierzu im Einzelnen: Bayerischer VerfGH, Entsch. v. 21.10.2020 - Vf. 26-VII-20 -, juris Rn. 17 ff.; OVG Bremen, Beschl. v. 9.4.2020 - 1 B 97/20 -, juris Rn. 24 ff.; Hessischer VGH, Beschl. v. 7.4.2020 - 8 B 892/20.N -, juris Rn. 34 ff.; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 26.10.2020 - 13 B 1581/20.NE -, juris Rn. 32 ff.; Beschl. v. 6.4. 2020 - 13 B 398/20.NE -, juris Rn. 36 ff.; Bayerischer VGH, Beschl. v. 30.3.2020 - 20 NE 20.632 -, juris Rn. 39 ff.; Beschl. v. 30.3.2020 - 20 CS 20.611 -, juris 17 f.; offengelassen: VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 9.4.2020 - 1 S 925/20 -, juris Rn. 37 ff.).
15
Der Vorbehalt des Gesetzes verlangt im Hinblick auf Rechtsstaatsprinzip und Demokratiegebot, dass der Gesetzgeber in grundlegenden normativen Bereichen alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen hat und nicht dem Handeln und der Entscheidungsmacht der Exekutive überlassen darf. Dabei betrifft die Normierungspflicht nicht nur die Frage, ob ein bestimmter Gegenstand überhaupt gesetzlich geregelt sein muss, sondern auch, wie weit diese Regelungen im Einzelnen zu gehen haben (sog. "Wesentlichkeitsdoktrin", BVerfG, Urt. v. 19.9.2018 - 2 BvF 1/15 u.a. -, juris Rn. 199). Inwieweit es einer Regelung durch den parlamentarischen Gesetzgeber bedarf, hängt vom jeweiligen Sachbereich und der Eigenart des betroffenen Regelungsgegenstands ab (vgl. BVerfG, Urt. v. 24.9.2003 - 2 BvR 1436/02 -, juris Rn. 67 f. m.w.N.). Auch Gesetze, die zu Rechtsverordnungen und Satzungen ermächtigen, können den Voraussetzungen des Gesetzesvorbehalts genügen, die wesentlichen Entscheidungen müssen aber durch den parlamentarischen Gesetzgeber selbst erfolgen. Das Erfordernis der hinreichenden Bestimmtheit der Ermächtigungsgrundlage bei Delegation einer Entscheidung auf den Verordnungsgeber aus Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG, wonach Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung im Gesetz bestimmt werden müssen, stellt insoweit eine notwendige Ergänzung und Konkretisierung des Gesetzesvorbehalts und des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung dar. Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG führt als eine Ausprägung des allgemeinen Gesetzesvorbehalts den staatlichen Eingriff durch die Exekutive nachvollziehbar auf eine parlamentarische Willensäußerung zurück. Eine Ermächtigung darf daher nicht so unbestimmt sein, dass nicht mehr vorausgesehen werden kann, in welchen Fällen und mit welcher Tendenz von ihr Gebrauch gemacht werden wird und welchen Inhalt die auf Grund der Ermächtigung erlassenen Verordnungen haben können (vgl. BVerfG, Urt. v. 19.9.2018 - 2 BvF 1/15 u.a. -, juris Rn. 198 ff. m.w.N.). Die Ermächtigungsnorm muss in ihrem Wortlaut nicht so genau wie irgend möglich gefasst sein; sie hat von Verfassungs wegen nur hinreichend bestimmt zu sein. Dazu genügt es, dass sich die gesetzlichen Vorgaben mit Hilfe allgemeiner Auslegungsregeln erschließen lassen, insbesondere aus dem Zweck, dem Sinnzusammenhang und der Entstehungsgeschichte der Norm. Welche Anforderungen an das Maß der erforderlichen Bestimmtheit im Einzelnen zu stellen sind, lässt sich daher nicht allgemein festlegen. Zum einen kommt es auf die Intensität der Auswirkungen der Regelung für die Betroffenen an. Je schwerwiegender die grundrechtsrelevanten Auswirkungen für die von einer Rechtsverordnung potentiell Betroffenen sind, desto strengere Anforderungen gelten für das Maß der Bestimmtheit sowie für Inhalt und Zweck der erteilten Ermächtigung. Zum anderen hängen die Anforderungen an Inhalt, Zweck und Ausmaß der gesetzlichen Determinierung von der Eigenart des zu regelnden Sachverhalts ab, insbesondere davon, in welchem Umfang der zu regelnde Sachbereich einer genaueren begrifflichen Umschreibung überhaupt zugänglich ist. Dies kann es auch rechtfertigen, die nähere Ausgestaltung des zu regelnden Sachbereichs dem Verordnungsgeber zu überlassen, der die Regelungen rascher und einfacher auf dem neuesten Stand zu halten vermag als der Gesetzgeber (vgl. BVerfG, Beschl. v. 21.9.2016 - 2 BvL 1/15 -, juris Rn. 54 ff. m.w.N.).
16
Nach der im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen und auch nur gebotenen summarischen Prüfung ist für den Senat nicht offensichtlich, dass einerseits § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG und andererseits § 32 Satz 1 und 2 IfSG diesen Anforderungen nicht genügen könnten.
17
Mit § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG hat der Bundesgesetzgeber bewusst eine offene Generalklausel geschaffen (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.3.2012 - BVerwG 3 C 16.11 -, BVerwGE 142, 205, 213 - juris Rn. 26 unter Hinweis auf den Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Seuchengesetzes, BT-Drs. 8/2468, S. 27 f.), ohne aber den zuständigen Infektionsschutzbehörden eine unzulässige Globalermächtigung zu erteilen. Der Bundesgesetzgeber hat für den fraglos eingriffsintensiven Bereich infektionsschutzrechtlichen staatlichen Handelns selbst bestimmt, dass die zuständigen Behörden nur dann, wenn Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt werden oder sich ergibt, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, "die notwendigen Schutzmaßnahmen" treffen dürfen, und zwar insbesondere die in den §§ 29 bis 31 IfSG genannten, dies aber auch nur "soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist". Der Begriff der "Schutzmaßnahmen" ist dabei umfassend angelegt, um den Infektionsschutzbehörden insbesondere bei einem dynamischen, zügiges Eingreifen erfordernden Infektionsgeschehen ein möglichst breites Spektrum geeigneter Maßnahmen an die Hand zu geben (vgl. Senatsbeschl. v. 29.5.2020 - 13 MN 185/20 -, juris Rn. 27; OVG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 2.4.2020 - 3 MB 8/20 -, juris Rn. 35). Zugleich ist der Begriff der "Schutzmaßnahmen" nach Inhalt und Zweck der Rechtsgrundlage mit Hilfe allgemeiner Auslegungsregeln hinreichend zu begrenzen. Danach umfasst er auch Untersagungen oder Beschränkungen von unternehmerischen Tätigkeiten in den Bereichen Industrie, Gewerbe, Handel und Dienstleistungen sein (vgl. Senatsbeschl. v. 14.5.2020 - 13 MN 165/20 -, juris Rn. 38 (Untersagung der Erbringung von Dienstleistungen in Tattoo-Studios); Senatsbeschl. v. 14.5.2020 - 13 MN 156/20 -, juris Rn. 28 (Schließung von Fitness-Studios); VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 13.5.2020 - 1 S 1281/20 -, juris Rn. 17; Senatsbeschl. v. 5.5.2020 - 13 MN 124/20 -, juris Rn. 31 (jeweils zum Verbot des Präsenzbetriebs von Nachhilfeeinrichtungen); VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 7.5.2020 - 1 S 1244/20 -, juris Rn. 16 (Untersagung des Betriebs von Spielhallen); OVG Bremen, Beschl. v. 7.5.2020 - 1 B 129/20 -, juris Rn. 20; Senatsbeschl. v. 29.4.2020 - 13 MN 120/20 -, juris Rn. 33 (jeweils zur Beschränkung der Verkaufsfläche von Einzelhandelsgeschäften); Senatsbeschl. v. 24.4.2020 - 13 MN 104/20 -, juris Rn. 30 (Schließung von Zoos und Tierparks); Senatsbeschl. v. 16.4.2020 - 13 MN 67/20 -, juris Rn. 43 (Verbot des Verkaufs von Blumen und anderen Pflanzen auf Wochenmärkten); Senatsbeschl. v. 14.4.2020 - 13 MN 63/20 -, juris Rn. 53 (Schließung von Autowaschanlagen); Bayerischer VGH, Beschl. v. 30.3.2020 - 20 CS 20.611 -, juris Rn. 11 ff. (Schließung von Einzelhandelsgeschäften)). Darüber hinaus sind dem behördlichen Einschreiten durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Grenzen gesetzt (vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 9.4.2020 - 1 B 97/20 -, juris Rn. 30). Dass diese durch Auslegung bestimmten Grenzen nicht vom Willen des Bundesgesetzgebers gedeckt wären, vermag der Senat nicht zu erkennen. Vielmehr hat der Bundesgesetzgeber mit dem Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 27. März 2020 (BGBl. I S. 587) den Satz 1 des § 28 Abs. 1 IfSG um den zweiten Halbsatz "sie kann insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten" ergänzt und gleichzeitig den bis dahin geltenden Satz 2 Halbsatz 2 gestrichen. Unabhängig von der Frage, ob es sich bei dieser Änderung um eine bloße Anpassung aus Gründen der Normenklarheit handelt, besteht für den Senat kein vernünftiger Zweifel, dass damit der Gesetzgeber selbst hinreichend bestimmt zum Ausdruck gebracht hat, dass über punktuell wirkende Maßnahmen hinaus allgemeine oder gleichsam flächendeckende Verbote erlassen werden können. Dafür spricht nicht nur der Wortlaut von § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 IfSG. Auch der Umstand, dass es sich bei der Gesetzesänderung um eine Reaktion auf das aktuelle Bedürfnis zum Erlass von landesweit geltenden Schutzmaßnahmen handelt, trägt dieses Auslegungsergebnis, zumal der Gesetzgeber in Kenntnis der bereits erlassenen Länderverordnungen bei gleichzeitig bestehender Kritik an der ursprünglichen Gesetzesfassung gehandelt hat (so ausdrücklich OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 6.4.2020 - 13 B 398/20.NE -, juris Rn. 52 m.w.N.). Eine weitergehende Konkretisierung der Eingriffsgrundlagen erscheint angesichts der Besonderheiten des Infektionsschutzrechts, die bei Eintritt eines Pandemiegeschehens kurzfristige Reaktionen des Verordnungsgebers auf sich ändernde Gefährdungslagen erforderlich machen können, verfassungsrechtlich nicht geboten.
18
Genügt danach § 28 Abs. 1 IfSG den an eine gesetzliche Rechtsgrundlage für staatliche Eingriffe zu stellenden verfassungsrechtlichen Anforderungen an Inhalt, Zweck und Ausmaß, gilt dies auch für die Verordnungsermächtigung in § 32 Satz 1 und 2 IfSG. Denn diese Verordnungsermächtigung knüpft hinsichtlich der materiellen Voraussetzungen auch an § 28 Abs. 1 IfSG an und ermächtigt die Landesregierungen bzw. von ihr befugte Stellen nur dazu, "unter den Voraussetzungen, die für Maßnahmen nach den §§ 28 bis 31 maßgebend sind, auch durch Rechtsverordnungen entsprechende Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zu erlassen". Der Gesetzgeber gibt also nicht verordnungstypisch einen Regelungsbereich in bestimmten Grenzen aus der Hand, um diesen der Exekutive zur eigenverantwortlichen abstrakten Ausfüllung zu übertragen. Die Verordnungsermächtigung nach § 32 Satz 1 und 2 IfSG stellt lediglich ein anderes technisches Instrument zur Verfügung, um konkret notwendige Schutzmaßnahmen im Sinne des § 28 Abs. 1 IfSG zu erlassen und insbesondere bei flächendeckenden Infektionsgeschehen nicht auf Einzel- oder Allgemeinverfügungen angewiesen zu sein, denen aber durchaus eine vergleichbare flächenhafte Wirkung zukommen kann.
19
(2) Anhaltspunkte für eine formelle Rechtswidrigkeit der Niedersächsischen Corona-Verordnung vom 30. Oktober 2020 bestehen derzeit nicht.
20
Anstelle der nach § 32 Satz 1 IfSG ermächtigten Landesregierung war aufgrund der nach § 32 Satz 2 IfSG gestatteten und durch § 3 Nr. 1 der Verordnung zur Übertragung von Ermächtigungen aufgrund bundesgesetzlicher Vorschriften (Subdelegationsverordnung) vom 9. Dezember 2011 (Nds. GVBl. S. 487), zuletzt geändert durch Verordnung vom 4. August 2020 (Nds. GVBl. S. 266), betätigten Subdelegation das Niedersächsische Ministerium für Gesundheit, Soziales und Gleichstellung zum Erlass der Verordnung zuständig.
21
Gemäß Art. 45 Abs. 1 Satz 2 NV ist die Verordnung von der das Ministerium vertretenden Ministerin ausgefertigt und im Niedersächsischen Gesetz- und Verordnungsblatt vom 30. Oktober 2020 (Nds. GVBl. S. 368) verkündet worden.
22
§ 20 Abs. 1 der Niedersächsischen Corona-Verordnung bestimmt, wie von Art. 45 Abs. 3 Satz 1 NV gefordert, den Tag des Inkrafttretens.
23
Auch dem Zitiergebot des Art. 43 Abs. 2 Satz 1 NV (vgl. zu den insoweit bestehenden Anforderungen: BVerfG, Urt. v. 6.7.1999 - 2 BvF 3/90 -, BVerfGE 101, 1 - juris Rn. 152 ff. (zu Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG); Steinbach, in: Epping/Butzer u.a., Hannoverscher Kommentar zur Niedersächsischen Verfassung, 2012, Art. 43 Rn. 20 m.w.N.) dürfte die Verordnung genügen.
24
Etwaige Verstöße des Antragsgegners gegen die Unterrichtungspflicht nach Art. 25 NV beeinflussen die Rechtmäßigkeit der Verordnung nicht (vgl. Niedersächsischer StGH, Beschl. v. 9.9.2020 - StGH 1/20 -, juris Rn. 9).
25
(3) Die in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 10 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Schließung von Prostitutionsstätten nach § 2 Abs. 3 Nr. 1 des Prostitutionsschutzgesetzes für den Publikumsverkehr und Besuche ist auch mit Blick auf das "Ob" eines staatlichen Handelns (a) und die Notwendigkeit der infektionsschutzrechtlichen Maßnahme als solcher (b) nicht zu beanstanden.
26
(a) Die Voraussetzungen des § 32 Satz 1 in Verbindung mit § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG sind mit Blick auf das "Ob" eines staatlichen Handelns gegeben.
27
Nach § 32 Satz 1 IfSG dürfen unter den Voraussetzungen, die für Maßnahmen nach den §§ 28 bis 31 IfSG maßgebend sind, auch durch Rechtsverordnung entsprechende Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten erlassen werden. Die tatbestandlichen Voraussetzungen der Rechtsgrundlage des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG sind erfüllt.
28
Werden Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt oder ergibt sich, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, so trifft die zuständige Behörde nach § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in den §§ 29 bis 31 IfSG genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist; sie kann insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten.
29
Es wurden zahlreiche Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider (vgl. die Begriffsbestimmungen in § 2 Nrn. 3 ff. IfSG) im Sinne des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG festgestellt. Die weltweite Ausbreitung von COVID-19, die offizielle Bezeichnung der durch den neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 (Severe acute respiratory syndrome coronavirus type 2) als Krankheitserreger ausgelösten Erkrankung, wurde am 11. März 2020 von der WHO zu einer Pandemie erklärt. Weltweit sind derzeit mehr 50.450.000 Menschen mit dem Krankheitserreger infiziert und mehr als 1.250.000 Menschen im Zusammenhang mit der Erkrankung verstorben (vgl. WHO, Coronavirus disease (COVID-19) Pandemic, veröffentlicht unter: www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019, Stand: 10.11.2020). Bisher haben sich im Bundesgebiet mehr als 687.000 Menschen infiziert und mehr als 11.500 Menschen sind im Zusammenhang mit der Erkrankung verstorben. In Niedersachsen haben sich bisher mehr als 47.300 Menschen infiziert und mehr als 800 Menschen sind infolge der Erkrankung verstorben (vgl. Robert Koch-Institut (RKI), COVID-19: Fallzahlen in Deutschland und weltweit, veröffentlicht unter: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Fallzahlen.html, Stand: 10.11.2020). Es handelt sich weltweit und in Deutschland um eine sehr dynamische und ernst zu nehmende Situation. Weltweit nimmt die Anzahl der Fälle rasant zu. Nach einer vorübergehenden Stabilisierung der Fallzahlen auf einem erhöhten Niveau ist aktuell ein starker Anstieg der Übertragungen auch in der Bevölkerung in Deutschland zu beobachten. Es kommt bundesweit zu Ausbruchsgeschehen. Der Anstieg wird durch Ausbrüche, insbesondere im Zusammenhang mit privaten Treffen und Feiern sowie bei Gruppenveranstaltungen, verursacht. Bei einem zunehmenden Anteil der Fälle ist die aber Infektionsquelle unbekannt. Es werden wieder vermehrt COVID-19-bedingte Ausbrüche in Alten- und Pflegeheimen gemeldet und die Zahl der Patienten, die auf einer Intensivstation behandelt werden müssen, hat sich in den letzten zwei Wochen mehr als verdoppelt (vgl. RKI, Risikobewertung zu COVID-19, veröffentlicht unter: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html, Stand: 26.10.2020). Diese Gefährdungseinschätzung des RKI als nationaler Behörde nach § 4 Abs. 1 IfSG wird nach dem Dafürhalten des Senats durch vereinzelt geäußerte Zweifel an der Zuverlässigkeit der zum Nachweis von SARS-CoV-2 verwendeten sog. PCR-Tests nicht erschüttert (vgl. hierzu Bayerischer VGH, Beschl. v. 8.9.2020 - 20 NE 20.2001 -, juris Rn. 28).
30
COVID-19 ist eine übertragbare Krankheit im Sinne des § 2 Nr. 3 IfSG. Die Erkrankung manifestiert sich als Infektion der Atemwege, aber auch anderer Organsysteme mit den Symptomen Husten, Fieber, Schnupfen sowie Geruchs- und Geschmacksverlust. Der Krankheitsverlauf variiert in Symptomatik und Schwere. Es wird angenommen, dass etwa 81% der diagnostizierten Personen einen milden, etwa 14% einen schwereren und etwa 5% einen kritischen Krankheitsverlauf zeigen. Obwohl schwere Verläufe auch bei Personen ohne Vorerkrankung auftreten und auch bei jüngeren Patienten beobachtet wurden, haben ältere Personen (mit stetig steigendem Risiko für einen schweren Verlauf ab etwa 50 bis 60 Jahren), Männer, Raucher (bei schwacher Evidenz), stark adipöse Menschen, Personen mit bestimmten Vorerkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems (z.B. koronare Herzerkrankung und Bluthochdruck) und der Lunge (z.B. COPD) sowie Patienten mit chronischen Nieren- und Lebererkrankungen, mit Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit), mit einer Krebserkrankung oder mit geschwächtem Immunsystem (z.B. aufgrund einer Erkrankung, die mit einer Immunschwäche einhergeht oder durch Einnahme von Medikamenten, die die Immunabwehr schwächen, wie z.B. Cortison) ein erhöhtes Risiko für schwere Verläufe. Die Erkrankung ist sehr infektiös, und zwar nach Schätzungen beginnend etwa ein bis zwei Tage vor Symptombeginn und endend - bei mild-moderaten Erkrankungen - jedenfalls zehn Tage nach Symptombeginn. Die Übertragung erfolgt hauptsächlich durch die respiratorische Aufnahme virushaltiger Partikel (größere Tröpfchen und kleinere Aerosole), die beim Atmen, Husten, Sprechen und Niesen entstehen. Auch eine Übertragung durch kontaminierte Oberflächen kann nicht ausgeschlossen werden. Es ist zwar offen, wie viele Menschen sich insgesamt in Deutschland mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 infizieren werden. Schätzungen gehen aber von bis zu 70% der Bevölkerung aus, es ist lediglich unklar, über welchen Zeitraum dies geschehen wird. Grundlage dieser Schätzungen ist die so genannte Basisreproduktionszahl von COVID-19. Sie beträgt ohne die Ergreifung von Maßnahmen 3,3 bis 3,8. Dieser Wert kann so interpretiert werden, dass bei einer Basisreproduktionszahl von etwa 3 ungefähr zwei Drittel aller Übertragungen verhindert werden müssen, um die Epidemie unter Kontrolle zu bringen. Die Inkubationszeit beträgt im Mittel fünf bis sechs Tage bei einer Spannweite von einem bis zu 14 Tagen. Der Anteil der Infizierten, der auch tatsächlich erkrankt (Manifestationsindex), beträgt bis zu 85%. Laut der Daten aus dem deutschen Meldesystem werden etwa 14% der in Deutschland dem RKI übermittelten Fälle hospitalisiert. Unter hospitalisierten COVID-19-Patienten mit einer schweren akuten Atemwegserkrankung mussten 37% intensivmedizinisch behandelt und 17% beatmet werden. Die mediane Hospitalisierungsdauer von COVID-19-Patienten mit einer akuten respiratorischen Erkrankung beträgt 10 Tage und von COVID-19-Patienten mit einer Intensivbehandlung 16 Tage. Zur Aufnahme auf die Intensivstation führt im Regelfall Dyspnoe mit erhöhter Atemfrequenz (> 30/min), dabei steht eine Hypoxämie im Vordergrund. Mögliche Verlaufsformen sind die Entwicklung eines akuten Lungenversagens (Acute Respiratory Distress Syndrome - ARDS) sowie, bisher eher seltener, eine bakterielle Koinfektion mit septischem Schock. Weitere beschriebene Komplikationen sind zudem Rhythmusstörungen, eine myokardiale Schädigung sowie das Auftreten eines akuten Nierenversagens (vgl. zum Krankheitsbild im Einzelnen mit weiteren Nachweisen: Kluge/Janssens/Welte/Weber-Carstens/Marx/Karagiannidis, Empfehlungen zur intensivmedizinischen Therapie von Patienten mit COVID-19, in: Medizinische Klinik - Intensivmedizin und Notfallmedizin v. 12.3.2020, veröffentlicht unter: https://link.springer.com/content/pdf/10.1007/s00063-020-00674-3.pdf, Stand: 30.3.2020). Eine Impfung ist in Deutschland nicht verfügbar. Verschiedene spezifische Therapieansätze (direkt antiviral wirksam, immunmodulatorisch wirksam) wurden und werden im Verlauf der Pandemie in Studien untersucht. Zwei Arzneimittel erwiesen sich jeweils in einer bestimmten Gruppe von Patienten mit COVID-19 als wirksam. Als direkt antiviral wirksames Arzneimittel erhielt Remdesivir am 3. Juli 2020 eine bedingte Zulassung zur Anwendung bei schwer erkrankten Patienten durch die Europäische Kommission. Als immunmodulatorisch wirksames Arzneimittel erhielt Dexamethason eine positive Bewertung durch die Europäische Kommission für die Anwendung bei bestimmten Patientengruppen mit einer Infektion durch SARS-CoV-2. Aufgrund der Neuartigkeit des Krankheitsbildes lassen sich keine zuverlässigen Aussagen zu Langzeitauswirkungen und (irreversiblen) Folgeschäden durch die Erkrankung bzw. ihre Behandlung (z.B. in Folge einer Langzeitbeatmung) treffen. Allerdings deuten Studiendaten darauf hin, dass an COVID-19 Erkrankte auch Wochen bzw. Monate nach der akuten Erkrankung noch Symptome aufweisen können.
31
Während der Fall-Verstorbenen-Anteil bei Erkrankten bis etwa 50 Jahren unter 0,1% liegt, steigt er ab 50 zunehmend an und liegt bei Personen über 80 Jahren häufig über 10% (vgl. zu Vorstehendem im Einzelnen und mit weiteren Nachweisen: RKI, SARS-CoV-2 Steckbrief zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19), veröffentlicht unter: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html?nn=13490888, Stand: 2.10.2020; Antworten auf häufig gestellte Fragen zum Coronavirus SARS-CoV-2, veröffentlicht unter: www.rki.de/SharedDocs/FAQ/NCOV2019/gesamt.html, Stand: 6.10.2020).
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Auch wenn nach diesen Erkenntnissen nur ein kleiner Teil der Erkrankungen schwer verläuft, kann das individuelle Risiko anhand der epidemiologischen und statistischen Daten nicht abgeleitet werden. So kann es auch ohne bekannte Vorerkrankungen und bei jungen Menschen zu schweren bis hin zu lebensbedrohlichen Krankheitsverläufen kommen. Langzeitfolgen, auch nach leichten Verläufen, sind derzeit noch nicht abschätzbar. Die Belastung des Gesundheitssystems hängt maßgeblich von der regionalen Verbreitung der Infektion, den hauptsächlich betroffenen Bevölkerungsgruppen, den vorhandenen Kapazitäten und den eingeleiteten Gegenmaßnahmen ab. Sie kann örtlich sehr schnell zunehmen und dann insbesondere das öffentliche Gesundheitswesen, aber auch die Einrichtungen für die ambulante und stationäre medizinische Versorgung stark belasten. Deshalb bleiben intensive gesamtgesellschaftliche Gegenmaßnahmen nötig, um die Folgen der COVID-19-Pandemie für Deutschland zu minimieren. Diese Maßnahmen verfolgen weiterhin das Ziel, die Infektionen in Deutschland so früh wie möglich zu erkennen und die weitere Ausbreitung des Virus einzudämmen. Hierdurch soll die Zeit für die Entwicklung von antiviralen Medikamenten und von Impfstoffen gewonnen werden. Auch sollen Belastungsspitzen im Gesundheitswesen vermieden werden (vgl. hierzu im Einzelnen und mit weiteren Nachweisen: RKI, Risikobewertung zu COVID-19, veröffentlicht unter: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html, Stand: 26.10.2020).
33
Die danach vorliegenden tatbestandlichen Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG verpflichten die zuständigen Behörden zum Handeln (gebundene Entscheidung, vgl. BVerwG, Urt. v. 22.3.2012 - BVerwG 3 C 16.11 -, BVerwGE 142, 205, 212 - juris Rn. 23).
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Zugleich steht damit fest, dass die Maßnahmen nicht auf die Rechtsgrundlage des § 16 Abs. 1 IfSG gestützt werden können. Denn die Rechtsgrundlagen einerseits des § 16 Abs. 1 IfSG im Vierten Abschnitt des Infektionsschutzgesetzes "Verhütung übertragbarer Krankheiten" und andererseits des § 28 Abs. 1 IfSG im Fünften Abschnitt des Infektionsschutzgesetzes "Bekämpfung übertragbarer Krankheiten" stehen in einem Exklusivitätsverhältnis zueinander; der Anwendungsbereich des § 16 Abs. 1 IfSG ist nur eröffnet, solange eine übertragbare Krankheit noch nicht aufgetreten ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.12.1971 - BVerwG I C 60.67 -, BVerwGE 39, 190, 192 f. - juris Rn. 28 (zu §§ 10 Abs. 1, 34 Abs. 1 BSeuchG a.F.); Senatsurt. v. 3.2.2011 - 13 LC 198/08 -, juris Rn. 40).
35
(b) Nach summarischer Prüfung ist die in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 10 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Schließung von Prostitutionsstätten nach § 2 Abs. 3 Nr. 1 des Prostitutionsschutzgesetzes für den Publikumsverkehr und Besuche auch eine notwendige Schutzmaßnahme im Sinne des § 28 Abs. 1 IfSG.
36
(aa) Dies gilt zunächst für den durch die Regelung betroffenen Adressatenkreis. Wird ein Kranker, Krankheitsverdächtiger, Ansteckungsverdächtiger oder Ausscheider festgestellt, begrenzt § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG den Handlungsrahmen der Behörde nicht dahin, dass allein Schutzmaßnahmen gegenüber der festgestellten Person in Betracht kommen. Die Vorschrift ermöglicht Regelungen gegenüber einzelnen wie mehreren Personen. Vorrangige Adressaten sind zwar die in § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG benannten Personengruppen. Bei ihnen steht fest oder besteht der Verdacht, dass sie Träger von Krankheitserregern sind, die bei Menschen eine Infektion oder eine übertragbare Krankheit im Sinne von § 2 Nr. 1 bis Nr. 3 IfSG verursachen können. Wegen der von ihnen ausgehenden Gefahr, eine übertragbare Krankheit weiterzuverbreiten, sind sie schon nach den allgemeinen Grundsätzen des Gefahrenabwehr- und Polizeirechts als "Störer" anzusehen. Nach § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG können aber auch (sonstige) Dritte ("Nichtstörer") Adressat von Maßnahmen sein, beispielsweise um sie vor Ansteckung zu schützen (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.3.2012 - BVerwG 3 C 16.11 -, BVerwGE 142, 205, 212 f. - juris Rn. 25 f.; OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 3.4.2020 - OVG 11 S 14/20 -, juris Rn. 8 f.).
37
Aus infektionsschutzrechtlicher Sicht maßgeblich ist insoweit allein der Bezug der durch die konkrete Maßnahme in Anspruch genommenen Person zur Infektionsgefahr. Dabei gilt für die Gefahrenwahrscheinlichkeit kein strikter, alle möglichen Fälle gleichermaßen erfassender Maßstab. Vielmehr ist der im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht geltende Grundsatz heranzuziehen, dass an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Dafür sprechen das Ziel des Infektionsschutzgesetzes, eine effektive Gefahrenabwehr zu ermöglichen (§§ 1 Abs. 1, 28 Abs. 1 IfSG), sowie der Umstand, dass die betroffenen Krankheiten nach ihrem Ansteckungsrisiko und ihren Auswirkungen auf die Gesundheit des Menschen unterschiedlich gefährlich sind. Im Falle eines hochansteckenden Krankheitserregers, der bei einer Infektion mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer tödlich verlaufenden Erkrankung führen würde, drängt sich angesichts der schwerwiegenden Folgen auf, dass die vergleichsweise geringe Wahrscheinlichkeit eines infektionsrelevanten Kontakts genügt (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.3.2012 - BVerwG 3 C 16.11 -, BVerwGE 142, 205, 216 - juris Rn. 32). Nach der Risikobewertung des gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Nr. 1 IfSG hierzu berufenen Robert Koch-Instituts im täglichen "Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19)" vom 9. November 2020 (veröffentlicht unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Gesamt.html?nn=13490888) besteht weltweit und in Deutschland um eine sehr dynamische und ernst zu nehmende Situation. Weltweit und in angrenzenden Ländern Europas nimmt die Anzahl der Fälle rasant zu. Aufgrund dieser Bewertung besteht für die hier zu beurteilenden Prostitutionsstätten nach § 2 Abs. 3 Nr. 1 des Prostitutionsschutzgesetzes, in denen sich regelmäßig Mitarbeiter und Kunden unmittelbar persönlich begegnen oder zumindest begegnen können und die auch deshalb eine das allgemeine Infektionsrisiko erhöhende Gefahrenlage herbeiführen, ein hinreichend konkreter Bezug zu einer Infektionsgefahr.
38
(bb) Auch Art und Umfang der vom Antragsgegner konkret gewählten Schutzmaßnahme sind nicht ersichtlich ermessensfehlerhaft.
39
"Schutzmaßnahmen" im Sinne des § 28 Abs. 1 IfSG können, wie dargestellt, auch Untersagungen oder Beschränkungen von unternehmerischen Tätigkeiten in den Bereichen Industrie, Gewerbe, Handel und Dienstleistungen sein (vgl. mit zahlreichen Beispielen und weiteren Nachweisen: Senatsbeschl. v. 29.5.2020 - 13 MN 185/20 -, juris Rn. 27), wie sie in § 10 Abs. 1 und 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung getroffen worden sind.
40
Dem steht nicht entgegen, dass § 31 IfSG eine Regelung für die Untersagung beruflicher Tätigkeiten gegenüber Kranken, Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen, Ausscheidern und sonstigen Personen trifft. Denn diese Regelung ist gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG ("insbesondere die in den §§ 29 bis 31 genannten") nicht abschließend. Auch die mangelnde Erwähnung der Grundrechte nach Art. 12 Abs. 1 und 14 Abs. 1 GG in § 28 Abs. 1 Satz 4 IfSG steht der dargestellten Auslegung nicht entgegen. Denn das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG, welches § 28 Abs. 1 Satz 4 IfSG zu erfüllen sucht, besteht nur, soweit im Sinne des Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG "ein Grundrecht durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann". Von derartigen Grundrechtseinschränkungen sind andersartige grundrechtsrelevante Regelungen zu unterscheiden, die der Gesetzgeber in Ausführung der ihm obliegenden, im Grundrecht vorgesehenen Regelungsaufträge, Inhaltsbestimmungen oder Schrankenziehungen vornimmt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 26.5.1970 - 1 BvR 657/68 -, BVerfGE 28, 282, 289 - juris Rn. 26 ff. (zu Art. 5 Abs. 2 GG); Beschl. v. 12.1.1967 - 1 BvR 168/64 -, BVerfGE 21, 92, 93 - juris Rn. 4 (zu Art. 14 GG); Urt. v. 29.7.1959 - 1 BvR 394/58 -, BVerfGE 10, 89, 99 - juris Rn. 41 (zu Art. 2 Abs. 1 GG)). Hierzu zählen auch die Grundrechte der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG, der Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG und des Eigentumsschutzes nach Art. 14 Abs. 1 GG.
41
Der weite Kreis möglicher Schutzmaßnahmen wird durch § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG aber dahin begrenzt, dass die Schutzmaßnahme im konkreten Einzelfall "notwendig" sein muss. Der Staat darf mithin nicht alle Maßnahmen und auch nicht solche Maßnahmen anordnen, die von Einzelnen in Wahrnehmung ihrer Verantwortung gegenüber sich selbst und Dritten bloß als nützlich angesehen werden. Vielmehr dürfen staatliche Behörden nur solche Maßnahmen verbindlich anordnen, die zur Erreichung infektionsschutzrechtlich legitimer Ziele objektiv notwendig sind (vgl. Senatsbeschl. v. 26.5.2020 - 13 MN 182/20 -, juris Rn. 38). Diese Notwendigkeit ist während der Dauer einer angeordneten Maßnahme von der zuständigen Behörde fortlaufend zu überprüfen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.4.2020 - 1 BvQ 31/20 -, juris Rn. 16).
42
Derzeit stellt sich die in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 10 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Schließung von Prostitutionsstätten nach § 2 Abs. 3 Nr. 1 des Prostitutionsschutzgesetzes für den Publikumsverkehr und Besuche in diesem Sinne als "notwendig" dar.
43
(α) Der Verordnungsgeber verfolgt mit der Verordnungsregelung das legitime Ziel, die Bevölkerung vor der Infektion mit dem SARS-CoV-2-Virus zu schützen, die Verbreitung der Krankheit COVID-19 zu verhindern und eine Überlastung des Gesundheitssystems infolge eines ungebremsten Anstiegs von Ansteckungen und Krankheitsfällen zu vermeiden. Zur Vorbeugung einer akuten nationalen Gesundheitsnotlage sollen die Kontakte in der Bevölkerung drastisch reduziert werden, um das Infektionsgeschehen insgesamt zu verlangsamen und die Zahl der Neuinfektionen wieder in durch den öffentlichen Gesundheitsdienst nachverfolgbare Größenordnungen zu senken.
44
(β) Zur Erreichung dieses legitimen Ziels ist die Verordnungsregelung auch geeignet, weil sie die Kontaktmöglichkeiten in den Prostitutionsstätten nach § 2 Abs. 3 Nr. 1 des Prostitutionsschutzgesetzes beschränkt und verhindert, dass sich wechselnde Kunden oder Kundengruppen zu dieser Zeit in den Einrichtungen einfinden. Zudem werden die Kontaktmöglichkeiten auf dem Weg von und zu derartigen Einrichtungen reduziert (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 26.10.2020 - 13 B 1581/20.NE -, juris Rn. 54 ff.; Bayerischer VGH, Beschl. v. 19.6.2020 - 20 NE 20.1127 -, juris Rn. 40).
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(γ) Der Verordnungsgeber darf die getroffene Regelung unter Berücksichtigung des im zukommenden Einschätzungsspielraums auch für erforderlich halten.
46
(αα) Mildere Mittel im Hinblick auf das tätigkeitsbezogene Infektionsgeschehen drängen sich dem Senat nicht auf.
47
Für den Senat steht nach seiner bisherigen Rechtsprechung außer Zweifel, dass Zusammenkünfte in geschlossenen Räumen, mit einer Vielzahl regelmäßig einander unbekannter Personen und längerer Verweildauer ein signifikant erhöhtes Infektionsrisiko mit sich bringen (vgl. nur Senatsbeschl. v. 24.8.2020 - 13 MN 297/20 -, juris Rn. 30 ff. (Kinos); v. 14.8.2020 - 13 MN 283/20 -, juris Rn. 52 ff. (Feiern mit mehr als 50 Personen); v. 29.6.2020 - 13 MN 244/20 -, juris Rn. 35 (Clubs, Diskotheken und ähnliche Einrichtungen) und v. 14.5.2020 - 13 MN 156/20 -, juris Rn. 31 (Fitnessstudios)). Dies gilt naturgemäß auch für den Aufenthalt häufig wechselnder Personen in einem Prostitutionsbetrieb, (vgl. Senatsbeschl. v. 9.6.2020 - 13 MN 211/20 -, juris Rn. 27 und 38 ff.).
48
Belastbare widerstreitende Erkenntnisse sind weder dem Bericht des RKI zum "Infektionsumfeld von COVID-19-Ausbrüchen in Deutschland" noch der Stellungnahme des RKI gegenüber dem Bundesverband für erotische und sexuelle Dienstleistungen vom 1. August 2020 zu entnehmen. Das RKI konnte in einer "Quellensuche" (Datenstand: 11. August 2020) von insgesamt 202.225 übermittelten Fällen nur 55.141 Fälle bestimmten Ausbruchsgeschehen zuordnen und feststellen, in welchen von 30 unterschiedlichen, verschiedenste Lebensbereiche erfassenden Infektionsumfeldern sich diese ereignet haben (vgl. RKI, Infektionsumfeld von COVID-19-Ausbrüchen in Deutschland, in: Epidemiologisches Bulletin v. 17.9.2020, S. 3 ff., veröffentlicht unter: https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2020/Ausgaben/38_20.pdf?__blob=publicationFile). Von diesen 55.141 Fällen sind bis zur 29. Meldewoche immerhin 1.699 Fälle dem Infektionsumfeld der "Freizeit, unspezifisch" zuzuordnen, d.h. 3,08%. Diese Zahlen finden als solche eine gewisse Bestätigung im Täglichen Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) vom 27. Oktober 2020 (dort S. 12 f.; veröffentlicht unter: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Okt_2020/2020-10-27-de.pdf?__blob=publicationFile), wonach dem Infektionsumfeld der "Freizeit" auch bis zur 43. Kalenderwoche zwar keine signifikante aber eine deutlich erkennbare Anzahl von COVID-19-Fällen zuzuordnen ist. Auch steigt der Anteil der Ausbrüche bei Freizeitaktivitäten seit dem Sommer an. Hieraus kann aber nicht verlässlich geschlossen werden, ob in Prostitutionsstätten nach § 2 Abs. 3 Nr. 1 des Prostitutionsschutzgesetzes ein signifikantes Infektionsrisiko besteht. Hiergegen spricht neben der fehlenden Differenzierung des Begriffs "Freizeit" schon die sehr hohe Zahl von Fällen, in denen ein Infektionsumfeld gerade nicht festgestellt werden konnte. Dies lässt zwar nicht den Schluss zu, dass - etwa wegen einer mangelhaften Erfüllung der Pflicht zur Kundenkontaktdatenerhebung (vgl. § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 der vorausgegangenen Niedersächsischen Corona-Verordnung v. 7.10.2020) - diese sehr hohe Zahl von Fällen dem Freizeitbereich überwiegend oder gar ganz zuzurechnen wäre. Es mindert aber den Erkenntniswert der zahlenmäßig festgestellten Infektionsumfelder ganz erheblich. Dahinstehen lassen kann der Senat, ob der Verordnungsgeber alles ihm Mögliche und Zumutbare unternommen hat, um bessere Erkenntnisse über die Verbreitungswege und Infektionsumfelder zu erlangen. Denn selbst verneinendenfalls führte dies nach dem Dafürhalten des Senats nicht dazu, dass infektionsschutzrechtliche Schutzmaßnahmen auf der seit Pandemiebeginn nahezu unverändert dürftigen Erkenntnislage gar nicht mehr getroffen werden dürften und die Infektionsschutzbehörden gehalten wären, dem Geschehen seinen Lauf zu lassen.
49
In Bezug auf das tätigkeitsbezogene Infektionsgeschehen mildere Mittel ergeben sich auch nicht aus bloßen Beschränkungen des Betriebs von Prostitutionsstätten nach § 2 Abs. 3 Nr. 1 des Prostitutionsschutzgesetzes, etwa auf der Grundlage von Hygienekonzepten und deren notfalls zwangsweiser behördlicher Durchsetzung. Der Senat verkennt nicht, dass die Betreiberinnen und Betreiber der genannten Einrichtungen in den vergangenen Monaten erhebliche Arbeitskraft und finanzielle Mittel in die Umsetzung dieser Konzepte investiert haben. Ein regelmäßiges Vollzugsdefizit, dem - in gewissen Grenzen - durch verstärkte behördliche Kontrollen entgegengewirkt werden könnte (vgl. hierzu Senatsbeschl. v. 28.8.2020 - 13 MN 307/20 -, juris Rn. 32), ist nicht zu erkennen. Eine gewisse Wirksamkeit der Konzepte ist nicht zu leugnen, auch wenn diese mangels belastbarer tatsächlicher Erkenntnisse zum konkreten Infektionsumfeld nicht konkretisiert werden kann. Es ist angesichts der derzeitigen Infektionsdynamik aber nicht festzustellen, dass diese Konzepte infektionsschutzrechtlich eine vergleichbare Effektivität aufweisen, wie die Betriebsschließungen
50
(ββ) Mildere Mittel sind auch im Hinblick auf das gebietsbezogene Infektionsgeschehen nicht ersichtlich.
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Der Verordnungsgeber hat die Erforderlichkeit der Betriebsschließung - anders als bei den zuvor angeordneten Beherbergungsverboten (vgl. Senatsbeschl. v. 15.10.2020 - 13 MN 371/20 -, juris Rn. 59) und Sperrzeiten im Gastronomiebereich (vgl. Senatsbeschl. v. 29.10.2020 - 13 MN 393/20 -, juris Rn. 57) - ersichtlich nicht nur anhand der 7-Tage-Inzidenz, also der Zahl der Neuinfizierten im Verhältnis zur Bevölkerung je 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner kumulativ in den letzten sieben Tagen, beurteilt, sondern, wie in dem von der Niedersächsischen Landesregierung erstellten "Handlungskonzept zur Bekämpfung des Infektionsgeschehens in der COVID 19 Pandemie" (veröffentlicht unter: www.stk.niedersachsen.de/startseite/presseinformationen/vorsorgliches-handlungskonzept-zur-bekampfung-eines-gegebenenfalls-weiter-ansteigenden-infektionsgeschehens-in-der-covid-19-pandemie-193263.html, Stand: 5.10.2020) vorgesehen, auch alle anderen für das Infektionsgeschehen relevanten Umstände in seine Bewertung einbezogen (vgl. zu dieser Verpflichtung zuletzt: Senatsbeschl. v. 29.10.2020 - 13 MN 393/20 -, juris Rn. 57).
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Diese Bewertung rechtfertigt es, landesweit einheitliche infektionsschützende Maßnahmen zu ergreifen. Landesweit beträgt die 7-Tage-Inzidenz mehr als 100. Der weit überwiegende Teil der Landkreise und kreisfreien Städte weist eine 7-Tage-Inzidenz von mehr als 50 auf, welche die Grenze markiert, bis zu der die öffentliche Gesundheitsverwaltung in Deutschland zu einer Rückverfolgung der Infektionsketten maximal in der Lage ist und so das wichtige und legitime Ziel der Verhinderung der weiteren Ausbreitung durch Fallfindung mit Absonderung von Erkrankten und engen Kontaktpersonen mit einem erhöhten Erkrankungsrisiko noch erreicht werden kann (vgl. Senatsbeschl. v 5.6.2020 - 13 MN 195/20 -, juris Rn. 33). Wird diese Grenze in einem bestimmten Gebiet überschritten, bestehen auch nach dem Dafürhalten des Senats durchaus tatsächliche Anhaltspunkte für ein dynamisches Infektionsgeschehen und eine erhöhte Infektionswahrscheinlichkeit. Hinzu kommt ein landesweit diffuses Infektionsgeschehen. Auch wenn es deutliche regionale Unterschiede in der Verteilung gibt, steigen die Zahlen von Neuinfektionen flächendeckend an und sind die Ausbruchsgeschehen weit überwiegend keinen bestimmten Ereignissen oder Örtlichkeiten mehr zuzuordnen. Die örtlichen Gesundheitsämter sind trotz personeller Verstärkung häufig nicht mehr in der Lage, Infektionsketten nachzuverfolgen. Die Verdoppelungsrate hat sich von weit über 30 Tagen im Sommer auf 7 Tage vor Erlass der angefochtenen Regelung reduziert. Die Zahl infizierter und erkrankter Menschen, die älter als 60 Jahre sind und die ein höheres Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf haben, ist drastisch angestiegen. Auch die Sterbefallzahlen und die Auslastung medizinischer und insbesondere intensivmedizinischer Kapazitäten steigen stetig an, wobei der Antragsgegner seine Maßnahmen nicht erst dann treffen darf, wenn diese (nahezu) erschöpft sind (vgl. hierzu im Einzelnen die Angaben des Niedersächsischen Landesgesundheitsamtes unter https://www.niedersachsen.de/Coronavirus/aktuelle_lage_in_niedersachsen/ und des RKI im täglichen Lagebericht unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Gesamt.html?nn=13490888). Im Hinblick auf die aktuelle Entwicklung durfte der Antragsgegner den vollzogenen Strategiewechsel weg von bisherigen bloßen Betriebsbeschränkungen hin zu weitreichenden flächendeckenden Betriebsschließungen und ergänzenden Betriebsbeschränkungen als derzeit einzig verlässliches effektives Mittel und damit für erforderlich erachten.
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In Bezug auf das gebietsbezogene Infektionsgeschehen mildere Mittel ergeben sich nicht daraus, dass neben den hier streitgegenständlichen Betriebsschließungen weitere, bisher nicht betroffene Bereiche von Industrie, Gewerbe, Handel und Dienstleistungen geschlossen oder weiter beschränkt werden könnten. Ungeachtet der Effektivität eines solchen Vorgehens handelt es sich gegenüber den von diesen Maßnahmen betroffenen Rechtsträgern jedenfalls nicht um mildere Mittel.
54
Auch eine Beschränkung der Schutzmaßnahmen auf besonders schutzbedürftige (Risiko-)Gruppen von Personen ist angesichts der Größe und nur begrenzt möglichen Konkretisierung dieser Gruppen und der jedenfalls nicht verlässlichen Effektivität einer solchen Beschränkung kein milderes Mittel.
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(δ) Die getroffene Regelung ist voraussichtlich auch angemessen.
56
Dabei verkennt der Senat nicht, dass die Betriebsschließungen tiefgreifend und wiederholt in die Berufsausübungsfreiheit der Betreiberinnen und Betreiber von Prostitutionsstätten nach § 2 Abs. 3 Nr. 1 des Prostitutionsschutzgesetzes eingreifen und ihnen die Berufsausübung für einen erheblichen Zeitraum nahezu unmöglich machen, und dies nach einer Phase, in der sie erhebliche Arbeitskraft und finanzielle Mittel in die Umsetzung von infektionsschutzrechtlichen Hygienekonzepten investiert haben. Das Gewicht dieses "Sonderopfers" wird aber dadurch gemildert, dass ihnen staatlicherseits Kompensationen für die zu erwartenden Umsatzausfälle in durchaus erheblichem Umfang in Aussicht gestellt worden sind (vgl. Beschluss der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder v. 28.10.2020: "Für die von den temporären Schließungen erfassten Unternehmen, Betriebe, Selbständige, Vereine und Einrichtungen wird der Bund eine außerordentliche Wirtschaftshilfe gewähren, um sie für finanzielle Ausfälle zu entschädigen. Der Erstattungsbetrag beträgt 75% des entsprechenden Umsatzes des Vorjahresmonats für Unternehmen bis 50 Mitarbeiter, womit die Fixkosten des Unternehmens pauschaliert werden. Die Prozentsätze für größere Unternehmen werden nach Maßgabe der Obergrenzen der einschlägigen beihilferechtlichen Vorgaben ermittelt. Die Finanzhilfe wird ein Finanzvolumen von bis zu 10 Milliarden haben."; veröffentlicht unter: https://www.bundesregierung.de/resource/blob/997532/1805024/5353edede6c0125ebe5b5166504dfd79/2020-10-28-mpk-beschluss-corona-data.pdf?download=1, Stand: 4.11.2020 und die darauf bezogene Einlassung des Antragsgegners im Schriftsatz vom 10.11.2020, dort S. 17 f.). Mit Blick auf die gravierenden, teils irreversiblen Folgen eines weiteren Anstiegs der Zahl von Ansteckungen und Erkrankungen für die hochwertigen Rechtsgüter Leib und Leben einer Vielzahl Betroffener sowie einer Überlastung des Gesundheitswesens ist dieser Eingriff indes von ihnen hinzunehmen.
57
(c) Derzeit ist aber nicht verlässlich zu klären, ob die in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 10 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Schließung von Prostitutionsstätten nach § 2 Abs. 3 Nr. 1 des Prostitutionsschutzgesetzes für den Publikumsverkehr und Besuche mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG zu vereinbaren ist.
58
Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebietet dem Normgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln (vgl. BVerfG, Beschl. v. 7.2.2012 - 1 BvL 14/07 -, BVerfGE 130, 240, 252 - juris Rn. 40; Beschl. v. 15.7.1998 - 1 BvR 1554/89 u.a. -, BVerfGE 98, 365, 385 - juris Rn. 63). Es sind nicht jegliche Differenzierungen verwehrt, allerdings bedürfen sie der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Differenzierungsziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind. Je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen reichen die Grenzen für die Normsetzung vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse. Insoweit gilt ein stufenloser, am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab, dessen Inhalt und Grenzen sich nicht abstrakt, sondern nur nach den jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereichen bestimmen lassen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 18.7.2012 - 1 BvL 16/11 -, BVerfGE 132, 179, 188 - juris Rn. 30; Beschl. v. 21.6.2011 - 1 BvR 2035/07, BVerfGE 129, 49, 69 - juris Rn. 65; Beschl. v. 21.7.2010 - 1 BvR 611/07 u.a. -, BVerfGE 126, 400, 416 - juris Rn. 79).
59
Hiernach sind die sich aus dem Gleichheitssatz ergebenden Grenzen für die Infektionsschutzbehörde weniger streng (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 17.4.2020 - OVG 11 S 22/20 -, juris Rn. 25). Auch kann die strikte Beachtung des Gebots innerer Folgerichtigkeit nicht eingefordert werden (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 26.3.2020 - 5 Bs 48/20 -, juris Rn. 13). Zudem ist die sachliche Rechtfertigung nicht allein anhand des infektionsschutzrechtlichen Gefahrengrades der betroffenen Tätigkeit zu beurteilen. Vielmehr sind auch alle sonstigen relevanten Belange zu berücksichtigen, etwa die Auswirkungen der Ge- und Verbote für die betroffenen Unternehmen und Dritte und auch öffentliche Interessen an der uneingeschränkten Aufrechterhaltung bestimmter unternehmerischer Tätigkeiten (vgl. Senatsbeschl. v. 14.4.2020 - 13 MN 63/20 -, juris Rn. 62). Auch die Überprüfbarkeit der Einhaltung von Ge- und Verboten kann berücksichtigt werden (vgl. Senatsbeschl. v. 9.6.2020 - 13 MN 211/20 -, juris Rn. 41).
60
Dies zugrunde gelegt vermag der Senat im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes nur einen Verstoß der Verordnungsregelung gegen das Willkürverbot zu verneinen. Die in § 10 Abs. 1 und 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordneten Betriebsverbote und -beschränkungen beruhen auf der jedenfalls nicht schlichtweg sachfremden Erwägung, dass ein ganz erheblicher Teil der für das Infektionsgeschehen relevanten sozialen Kontakte von vorneherein verhindert werden muss, und dass diese Verhinderung neben den ganz erheblichen Beschränkungen von Kontakten im privaten Bereich am gemeinwohlverträglichsten durch Verbote und Beschränkungen in den Bereichen Freizeit, Sport, Unterhaltung und körpernaher Dienstleistungen erreicht werden kann. Ausgenommen sind grundrechtlich besonders geschützte Bereiche wie die Religionsausübung und öffentliche Versammlungen. Auch der Verweis auf die körpernahen Dienstleistungen führt nicht weiter, da diese Einrichtungen mit Ausnahme der Friseurbetriebe nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 der Niedersächsischen Corona-Verordnung ebenfalls für den Publikumsverkehr und Besuche geschlossen sind, sofern es sich nicht um medizinisch notwendige Behandlungen handelt. Es ist in diesem Zusammenhang auch nicht zu beanstanden, wenn der Normgeber bei der Abfassung des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 10 der Niedersächsischen Corona-Verordnung auf Prostitutionsstätten nach § 2 Abs. 3 Nr. 1 des Prostitutionsschutzgesetzes in ihrer typischen Ausprägung abstellt und nicht darauf, ob einzelne Unternehmen eine atypische Gestaltung mit einem nach Auffassung des jeweiligen Betreibers geringeren Infektionsrisiko aufweisen.
61
Diese schlichte Beachtung des Willkürverbots ist angesichts des Umfangs der angeordneten Betriebsverbote und -beschränkungen und der damit verbundenen erheblichen Eingriffe in Grundrechte der Betriebsinhaber aber nicht ausreichend, um eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes verneinen zu können. Die vielmehr erforderliche Beurteilung, ob der Verordnungsgeber mit der getroffenen Auswahl von zu schließenden oder zu beschränkenden Betrieben unter Berücksichtigung des infektionsschutzrechtlichen Gefahrengrades der betroffenen Tätigkeiten und aller sonstigen relevanten Belange eine auf hinreichenden Sachgründen beruhende und angemessene Differenzierung tatsächlich erreicht hat, ist schon angesichts der Vielzahl und Vielgestaltigkeit von Fallkonstellationen aber in einem Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes nicht zu leisten. Sie muss vielmehr an dieser Stelle offenbleiben.
62
Klarstellend weist der Senat darauf hin, dass eine rechtfertigungsbedürftige Ungleichbehandlung sich nicht daraus ergeben kann, dass andere Länder von den niedersächsischen Anordnungen abweichende Schutzmaßnahmen getroffen haben. Voraussetzung für eine Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG ist, dass die Vergleichsfälle der gleichen Stelle zuzurechnen sind. Daran fehlt es, wenn die beiden Sachverhalte von zwei verschiedenen Trägern öffentlicher Gewalt gestaltet werden; der Gleichheitssatz bindet jeden Träger öffentlicher Gewalt allein in dessen Zuständigkeitsbereich (vgl. BVerfG, Beschl. v. 12.5.1987 - 2 BvR 1226/83 -, BVerfGE 76, 1, 73 - juris Rn. 151 m.w.N.). Ein Land verletzt daher den Gleichheitssatz nicht deshalb, weil ein anderes Land den gleichen Sachverhalt anders behandelt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 8.5.2008 - 1 BvR 645/08 -, juris Rn. 22 m.w.N.).
63
b. Die wegen der danach offenen Erfolgsaussichten gebotene Folgenabwägung führt dazu, dass die vom Antragsteller geltend gemachten Gründe für die vorläufige Außervollzugsetzung die für den weiteren Vollzug der Verordnung sprechenden Gründe nicht überwiegen.
64
Würde der Senat die in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 10 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Schließung von Prostitutionsstätten nach § 2 Abs. 3 Nr. 1 des Prostitutionsschutzgesetzes für den Publikumsverkehr und Besuche vollständig (vgl. zur Unzulässigkeit von Normergänzungen im Normenkontrollverfahren: Senatsbeschl. v. 14.5.2020 - 13 MN 156/20 -, juris Rn. 5 m.w.N.) außer Vollzug setzen, bliebe der Normenkontrollantrag in der Hauptsache aber ohne Erfolg, könnte der Antragsteller zwar vorübergehend die mit der Schutzmaßnahme verbundene Schließung vermeiden. Ein durchaus wesentlicher Baustein der komplexen Pandemiebekämpfungsstrategie des Antragsgegners würde aber in seiner Wirkung deutlich reduziert (vgl. zur Berücksichtigung dieses Aspekts in der Folgenabwägung: BVerfG, Beschl. v. 1.5.2020 - 1 BvQ 42/20 -, juris Rn. 10), und dies in einem Zeitpunkt eines äußerst dynamischen Infektionsgeschehens. Die Möglichkeit, eine geeignete und erforderliche Schutzmaßnahme zu ergreifen und so die Verbreitung der Infektionskrankheit zum Schutze der Gesundheit der Bevölkerung, einem auch mit Blick auf Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG überragend wichtigen Gemeinwohlbelang (vgl. BVerfG, Urt. v. 30.7.2008 - 1 BvR 3262/07 u.a. -, BVerfGE 121, 317, 350 - juris Rn. 119 m.w.N.), effektiver zu verhindern, bliebe hingegen zumindest zeitweise bis zu einer Reaktion des Verordnungsgebers (irreversibel) ungenutzt.
65
Würde hingegen die in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 10 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Schließung von Prostitutionsstätten nach § 2 Abs. 3 Nr. 1 des Prostitutionsschutzgesetzes für den Publikumsverkehr und Besuche nicht vorläufig außer Vollzug gesetzt, hätte der Normenkontrollantrag aber in der Hauptsache Erfolg, wäre der Antragsteller vorübergehend zu Unrecht zur Befolgung der - für den Fall der Nichtbefolgung bußgeldbewehrten - Schutzmaßnahme verpflichtet und müsste seine Einrichtung für den Publikumsverkehr und Besuche schließen. Der damit jedenfalls verbundene Eingriff in sein Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG würde für die Dauer der Verpflichtung, längstens für die Dauer eines Hauptsacheverfahrens, verfestigt. Dieser Eingriff ist nach Einschätzung des Senats fraglos von erheblichem Gewicht. Dieses Gewicht wird aber dadurch abgemildert, dass staatlicherseits Kompensationen für die zu erwartenden Umsatzausfälle in durchaus erheblichem Umfang in Aussicht gestellt worden sind. Der hiernach verbleibende Eingriff hat hinter dem mit der Maßnahme verfolgten legitimen Ziel eines effektiven Infektionsschutzes zurückzustehen und ist vom Antragsteller vorübergehend hinzunehmen. Denn ohne diesen würde sich die Gefahr der Ansteckung mit dem Virus, der erneuten Erkrankung vieler Personen, der Überlastung der gesundheitlichen Einrichtungen bei der Behandlung schwerwiegender Fälle und schlimmstenfalls des Todes von Menschen auch nach den derzeit nur vorliegenden Erkenntnissen erheblich erhöhen (vgl. zu dieser Gewichtung: BVerfG, Beschl. v 7.4.2020 - 1 BvR 755/20 -, juris Rn. 10; Beschl. v. 28.4.2020 - 1 BvR 899/20 -, juris Rn. 12 f.).
66
In diese Folgenabwägung wird insbesondere auch eingestellt, dass die Verordnung gemäß ihres § 20 Abs. 1 mit Ablauf des 30. November 2020 außer Kraft tritt. Damit ist sichergestellt, dass die Verordnung unter Berücksichtigung neuer Entwicklungen der Corona-Pandemie fortgeschrieben werden muss. Hierbei hat der Antragsgegner - wie auch bei jeder weiteren Fortschreibung der Verordnung - hinsichtlich der im vorliegenden Verfahren relevanten Schließung zu untersuchen, ob es angesichts neuer Erkenntnisse etwa zu den Verbreitungswegen des Virus oder zur Gefahr einer Überlastung des Gesundheitssystems verantwortet werden kann, die Schließung unter - gegebenenfalls strengen - Auflagen weiter zu lockern (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.4.2020 - 1 BvQ 28/20 -, juris Rn. 16).
67
II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
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Tenor
Die Klage wird abgewiesen Die Kosten des Verfahrens trägt die Klägerin. Der Streitwert wird auf 12.923,93 EUR festgesetzt.
1Tatbestand:
2Die Klage wird abgewiesen Die Beteiligten streiten über die Rest-Vergütung für Krankenbehandlung in Höhe von 12.923,93 EUR. Die Klägerin betreibt ein zugelassenes Krankenhaus im Sinne des § 108 Nr. 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). Dort behandelten ihre Ärzte vom 31.03. bis 12.04.2016 stationär den am xx.xx.xxxx geborenen und zuletzt bei der Beklagten versicherten F.-Z. Q. (im Folgenden: Versicherter); dieser verstarb am xx.xx.xxxx im Universitätsklinikum Aachen. Die Klägerin forderte für die Behandlung in ihrem Krankenhaus mit Rechnung vom 24.05.2016 unter Zugrundlegung der Fallpauschale (DRG) T63Z (Int. Komplexbeh. ) 588 / 552 / 552 Aufwandsp. bei infektiösen und parasitären Krankheiten od. OR-Proz. B. inf. u. paras Krankh. M. komplexer OT-Proz., kompliz. Konst. Oder bei Zust. N. Organtranspl. Mit int. Komplexbeh. ) 392 / 368 / - Aufwandsp.) eine Vergütung von 25.686,12 EUR. Die Beklagte leitete ein Prüfverfahren nach § 275 Abs. 1c SGB V ein; sie teilte dies der Klägerin mit Schreiben vom 30.05.2016 unter Benennung der beanstandeten OPS-Kodierungen mit. Im Rahmen der Überprüfung beanstandete der Sozialmedizinische Dienst (SMD) der Beklagten die Kodierung des OPS 8-890.20 (Intensivmedizinische Komplexbehandlung: 553 bis 828 Aufwandspunkte) und des OPS 6-002.p2 (Applikation von Medikamenten, Liste 2: Caspofungin, parenteral: 100 mg bis unter 150 mg). Er forderte die Klägerin mit Schreiben vom 30.05.2016 auf, den Aufnahmebefund, den Entlassungsbericht, die Fieberkurve bzw. den Kurvenplan, die Arztverlaufsdokumentation, den Pflegebericht, das Beatmungsprotokoll, die Blutgasanalyse, Laborbefunde und die TISS- und SAPS-Berechnung des Krankenhauses vorzulegen sowie die Gabe von Caspofungin nachzuweisen. Das Anforderungsschreiben vom 30.05.2016 ging bei der Klägerin per Fax am 31.05.2016 ein. Die angeforderten Unterlagen gingen mit Begleitschreiben der Klägerin vom 27.06.2016 am 29.06.2016 beim SMD ein. Die Beklagte wies die Klägerin mit Schreiben vom 01.07.2016 darauf hin, dass die Unterlagen nicht innerhalb der am 28.06.2016 abgelaufenen Frist gem. § 7 Abs. 2 der Prüfverfahrensvereinbarung (PrüfvV) eingegangen seien. Die Beklagte ermittelte unter Streichung der beanstandeten OPS-Ziffern, jedoch Zugrundlegung der ICD-Ziffer C34.9 als Hauptdiagnose und der OPS-Ziffer 8-890.11 als zu vergütende Fallpauschale die DRG A13G (Beatmung ) 95 Stunden, mit bestimmter OR-Prozedur oder kompliz. Konstellation, mit äußerst schweren CC, verstorben oder verlegt ( 9 Tage oder ohne best. OR-Proz., ohne kompliz. Konst., Alter ) 15 J., ohne kompliz. Diagnose od. Prozedur, mit äuß. schw. CC) und zahlte der Klägerin 12.762,19 EUR. Daraufhin hat die Klägerin am 16.07.2020 Klage auf Zahlung von 12.923,93 EUR erhoben. Sie räumt ein, die vom SMD angeforderten Unterlagen nicht innerhalb der 4-Wochen-Frist des § 7 Abs. 2 Satz 3 PrüvV vorgelegt zu haben. Ihre Abrechnung sei jedoch korrekt. Die Klägerin hält die Frist des § 7 Abs. 2 PrüvV nicht für eine Ausschlussfrist; soweit das Bundessozialgericht (BSG) in der Entscheidung vom 19.11.2019 (B 1 KR 33/18 R) etwas anderes angedeutet habe, überzeuge dies nicht. Es müsse unterschieden werde, ob die Prüfung wegen "sachlich-rechnerischen Richtigkeit" oder wegen "Auffälligkeiten" erfolge. Die Klägerin ist der Auffassung, dass die PrüvV allein verfahrensrechtliche Fragen regeln solle, mangels gesetzlicher Ermächtigung aber keine übergesetzlichen Leistungsausschlüsse normiere. Die Klägerin beantragt, die Beklagte zu verurteilen, ihr 12.923,03 EUR nebst Zinsen in Höhe von zwei Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 15.06.2016 zu zahlen. Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen. Sie meint, die eingeklagte weitere Vergütung stehe der Klägerin nicht zu. Die Beklagte verweist auf die Frist des § 7 Abs. 2 PrüvV, die sie für eine Ausschlussfrist hält. Die dort normierte Frist von 4 Wochen nach Zugang der Unterlagen am 31.05.2016 habe am 28.06.2016 geendet; die Klägerin habe die Frist falsch berechnet. Die verspätet eingegangen Unterlagen seien nicht mehr berücksichtigt worden. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.
3Entscheidungsgründe:
4Obwohl die Beklagte im Termin zur mündlichen Verhandlung nicht vertreten war, konnte die Kammer verhandeln und entscheiden, da sich die Beklagte ausdrücklich mit dieser Verfahrensweise einverstanden erklärt hat. Die Klage ist als (echte) Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig. Bei einer auf Zahlung der (Rest-)Behandlungskosten eines Versicherten gerichteten Klage eines Krankenhauses gegen eine Krankenkasse geht es um einen so ge-nannten Parteienstreit im Gleichordnungsverhältnis, in dem eine Regelung durch Verwaltungsakt nicht in Betracht kommt (vgl. BSG, Urteil vom 17.06.2000 – B 3 KR 33/99 R; Urteil vom 23.07.2002 – B 3 KR 64/01). Ein Vorverfahren war mithin nicht durchzuführen, die Einhaltung einer Klagefrist nicht geboten. Die Klage ist zulässig, jedoch nicht begründet. Rechtsgrundlage des geltend gemachten restlichen Vergütungsanspruchs der Klägerin ist § 109 Abs. 4 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) i.V.m. dem aus § 39 Abs. 1 Satz 2 SGB V folgenden Krankenhausbehandlungsanspruch des Versicherten. Die Zahlungsverpflichtung der Krankenkasse entsteht unmittelbar mit der Inanspruchnahme der Leistung durch den Versicherten (BSG, Urteil vom 13.12.2001 – B 3 KR 11/01 R; Urteil vom 23.07.2002 – B 3 KR 64/01 R). Die näheren Einzelheiten über Aufnahme und Entlassung der Versicherten, Kostenübernahme, Abrechnung der Entgelte sowie die Überprüfung der Notwendigkeit und Dauer der Krankenhausbehandlung ist in den zwischen der Krankenhausgesellschaft Nordrhein-Westfalen einerseits und verschiedenen Krankenkassen sowie Landesverbänden der Krankenkasse andererseits geschlossenen Verträge nach § 112 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGB V geregelt. Es sind dies der Vertrag über allgemeine Bedingungen der Krankenhausbehandlung (KBV) und der Vertrag zur Überprüfung der Notwendigkeit und Dauer der Krankenhausbehandlung (KÜV). Die Klägerin hat nur Anspruch auf den unstrittigen Rechnungsbetrag in Höhe von 12.762,19 EUR, den die Beklagte bezahlt hat. Mit der darüber hinausgehenden Vergütungsforderung, die sie mit der Klage geltend macht, ist sie ausgeschlossen, da sie die zur Prüfung der Abrechnung angeforderten Unterlagen nicht rechtzeitig vorgelegt hat. Gemäß § 17c Abs. 2 Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG) in der hier anzuwendenden ab 01.10.2016 geltenden Fassung regeln der Spitzenverband Bund der Krankenkassen (GKV-Spitzenverband) und die Deutsche Krankenhausgesellschaft das Nähere zum Prüfverfahren nach § 275 Abs. 1c SGB V; in der Vereinbarung sind abweichende Regelungen zu § 275 Abs. 1c Satz 2 SGB V möglich. Dabei haben sie insbesondere Regelungen über den Zeitpunkt der Übermittlung zahlungsbegründender Unterlagen an die Krankenkassen, über das Verfahren zwischen Krankenkassen und Krankenhäusern bei Zweifeln an der Rechtmäßigkeit der Abrechnung im Vorfeld einer Beauftragung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung, über den Zeitpunkt der Beauftragung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung, über die Prüfungsdauer, über den Prüfungsort und über die Abwicklung von Rückforderungen zu treffen; die §§ 275 bis 283 des SGB V bleiben im Übrigen unberührt. Aufgrund dieser gesetzlichen Ermächtigung haben der GKV-Spitzenverband und die Deutsche Krankenhausgesellschaft e.V. die Vereinbarung über das Nähere zum Prüf-verfahren nach § 275 Absatz 1c SGB V (Prüfverfahrensvereinbarung – PrüvV) erlassen. § 7 Abs. 2 Satz 2 bis 4 PrüfvV in der hier maßgeblichen Fassung lautet: "Bei einer Prüfung im schriftlichen Verfahren kann der MDK die Übersendung einer Kopie der Unterlagen verlangen, die er zur Beurteilung von Voraussetzungen, Art und Umfang der Leistung sowie zur Prüfung der ordnungsgemäßen Abrechnung benötigt. Das Krankenhaus hat die Unterlagen innerhalb von 4 Wochen nach Zugang der Unterlagenanforderung an den MDK zu übermitteln. Erfolgt dies nicht, hat das Krankenhaus einen Anspruch nur auf den unstrittigen Rechnungsbetrag." Hierauf kann sich die Beklagte berufen. Die Beklagte hat das Prüfverfahren nach § 4 PrüvV ordnungsgemäß eingeleitet. Sie hat den SMD, der gem. § 283 SGB V für die Beklagte die Aufgaben des Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) wahrnimmt, mit der Durchführung einer Prüfung nach § 275 Abs. 1c SGB V beauftragt, weil sie Zweifel an der Wirtschaftlichkeit der Krankenhausleistung bzw. der Korrektheit der Abrechnung hatte; dies hat sie der Klägerin mit Schreiben vom 30.05.2016 unter Angabe der Auffälligkeiten (OPS 8-980.20 und OPS 6-002.p2) mitgeteilt. Der SMD hat schriftlich bei der Klägerin diverse näher bezeichnete Unterlagen und Nachweise angefordert. Nach § 7 Abs. 2 S. 3 PrüvV hatte die Klägerin die Unterlagen innerhalb von 4 Wochen nach Zugang der Unterlagenanforderung an den SMD zu übermitteln. Das Anforderungsschreiben ging – unstreitig – am 31.05.2016 bei der Klägerin ein. Die 4-Wochen-Frist begann daher am folgenden Tag, also Mittwoch, 01.06.2016, 00:00 Uhr (vgl. § 187 Abs. 1 BGB), und endete am Dienstag, 28.06.2016, 24:00 Uhr (vgl. § 188 Abs. 2 BGB). Da die angeforderten Unterlagen erst am 29.06.2016 nach Ablauf der Frist des § 7 Abs. 2 S. 3 PrüfvV bei der Beklagten eingegangen sind, ist die Rechtsfolge des § 7 Abs. 2 S. 4 PrüvV eingetreten; die Beklagte hat einen Anspruch nur auf den unstrittigen Rechnungsbetrag. Es kann dahinstehen, ob sich die Prüfung nach § 275 Abs. 1c SGB V und das Prüfver-fahren nach der PrüvV nur auf "Auffälligkeiten", nicht aber auf die "sachlich-rechnerische Richtigkeit" bezieht; das Gesetz kennt dies Unterscheidung nicht. Aus der Prüfanzeige der Beklagten vom 30.05.2016 ergibt sich, dass die Beklagte den SMD mit einer Auffälligkeitsprüfung beauftragt hat; eine solche Prüfung ist nach allseitiger Auf-fassung Gegenstand der PrüvV. Die Regelungen in den § 7 Abs. 2 Satz 3 und Satz 4 PrüfvV sind von der Ermächti-gungsgrundlage des § 17c Abs. 2 KHG gedeckt (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 17.04.2018 – L 11 KR 936/18; ebenso: BSG, Urteil vom 19.11.2019 – B 1 KR 33/18 R – Rn. 16 ["aufgrund hinreichender Ermächtigung"]). Die dagegen geäußerten Zweifel der Klägerin und die von verschiedenen Instanzgerichten angestellten Überlegungen zum Fehlen einer ausreichenden Ermächtigungsgrundlage überzeugen die Kammer nicht. Bei der 4-Wochen-Frist des § 7 Abs. 2 Satz 3 PrüfvV 2014 handelt es sich um eine Frist, die einer materiell-rechtlichen Ausschlussfrist entspricht. In der Rechtsprechung ist um-stritten, ob die Frist eine Ausschlussfrist ist (dafür: SG Köln, Urteil vom 04.05.2016 – S 23 KN 108/15 KR; SG Reutlingen, Urteil vom 14.03.2018 – S 1 KR 2084/17; SG Marburg, Ur-teil vom 02.01.2019 – S 14 KR 1/18; dagegen: SG Gießen, Urteil vom 10.11.2017 – S 7 KR 70/16; SG Detmold, Urteile vom 31.03.2017 – S 24 KR 230/16 – und vom 16.05.2019 – S 24 KR 1181/18). Eine "klassische" Ausschlussfrist liegt nicht vor, weil das Krankenhaus im Fall einer Fristversäumung nur dann mit der kompletten Vergütungsforderung ausgeschlossen ist, wenn die Krankenkasse der Meinung ist, dass dem Krankenhaus gar kein Anspruch auf Vergütung zusteht. Die Wirkung einer Versäumung der Frist des § 7 Abs. 2 Satz 3 PrüfvV ist in § 7 Abs. 2 Satz 4 PrüfvV jedoch ausdrücklich bestimmt. Danach steht dem Krankenhaus bei einer nicht fristgerechten Vorlage der angeforderten Unterlagen nur ein Anspruch auf den unstrittigen Betrag zu. Diese Regelung ist ab-schließend; in ihrer Wirkung entspricht sie in Bezug auf den strittigen Betrag einer mate-riell-rechtlichen Ausschlussfrist (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 17.04.2018 – L 11 KR 936/17). Zuletzt hat auch das BSG hat im Urteil vom 19.11.2019 (B 1 KR 33/18) unter Verweis auf diese insoweit als "zutreffend" bezeichnete Entscheidung des LSG Baden-Württemberg festgestellt, dass "§ 7 Abs. 2 Satz 3 und 4 der zwischen dem GKV-Spitzenverband und der DKG geschlossenen, am 1.9.2014 in Kraft getretenen Vereinbarung über das Nähere zum Prüfverfahren nach § 275 Abs. 1c SGB V (Prüfverfahrensvereinbarung – PrüfvV 2014) aufgrund hinreichender Ermächtigung (vgl. § 17c Abs. 2 KHG; ) mit der Vergütungsbegrenzung auf das Unstreitige eine wirksame, verhältnismäßige und spezielle materiell-rechtliche Ausschlussregelung enthält". Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. §§ 154 Abs. 1, 161 Abs. 1, 162 Abs. 1 und 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 52 Abs. 1 und 3 Gerichtskostengesetz (GKG).
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Tenor
Das Ablehnungsgesuch wird abgelehnt.
1G r ü n d e :
2Das Ablehnungsgesuch des Antragstellers gegen Vorsitzenden Richter am Oberverwaltungsgericht T. , Richterin am Oberverwaltungsgericht T1. und Richter am Verwaltungsgericht M. wegen der Besorgnis der Befangenheit ist unbegründet. Tatsachen, die eine Ablehnung dieser Richter rechtfertigen, liegen hier nicht vor.
3Nach § 42 Abs. 2 ZPO, der gemäß § 54 Abs. 1 VwGO im verwaltungsgerichtlichen Verfahren entsprechend anzuwenden ist, kann ein Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit zu rechtfertigen. Diese Voraussetzungen liegen vor, wenn ein Beteiligter die auf objektiv feststellbaren Tatsachen beruhende, subjektiv vernünftigerweise mögliche Besorgnis hat, der Richter werde in der Sache nicht unparteiisch, unvoreingenommen oder unbefangen entscheiden oder habe sich in der Sache bereits festgelegt. Die rein subjektive Besorgnis, die nicht auf konkreten Tatsachen beruht oder für die vernünftigerweise bei Würdigung der Tatsachen kein Grund ersichtlich ist, reicht dagegen zur Ablehnung nicht aus.
4Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 15.9.1998 – 2 BvE 2/93 u. a. ‑, BVerfGE 99, 51 = juris, Rn. 20, und vom 13.2.2018 – 2 BvR 651/16 –, BVerfGE 148, 1 = juris Rn. 17; Kluckert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, Kommentar, 5. Aufl. 2018, § 54 Rn. 44 f. m. w. N.; Hoppe, in: Eyermann, VwGO, Kommentar, 15. Aufl. 2019, VwGO § 54 Rn. 14 m. w. N.
5Gemessen an diesen Grundsätzen liegen derartige objektive Gründe, die eine Besorgnis der Befangenheit der abgelehnten Richter begründen, nicht vor.
6Das gilt zunächst insoweit, als der Antragsteller sein Ablehnungsgesuch damit begründet, die Richter seien nicht bereit die Menschenwürde zu achten, und seien daher keine gesetzlichen Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 GG, weil die Richter erklärt hätten, die Vertretungspflicht nach § 67 Abs. 4 VwGO stehe mit höherrangigem Recht in Einklang. Art. 19. Abs. 4 GG sei ebenso verletzt wie der Anspruch auf rechtliches Gehör.
7Damit hat der Antragsteller sein Ablehnungsgesuch ausschließlich mit Einwänden gegen den – aus seiner Sicht rechtswidrigen – Beschluss im Verfahren 4 E 637/20, an dem die abgelehnten Richter mitgewirkt haben, begründet. Er legt weder individuelle, auf die Person des einzelnen abgelehnten Richters bezogene Gründe für die Besorgnis einer Befangenheit dar, noch ist der Begründung seines Ablehnungsgesuchs zu entnehmen, dass sich aus der Kollegialentscheidung selbst Anhaltspunkte für eine Befangenheit in diesem Sinne ergäben.
8Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 9.2.2017 – 4 A 427/16 –, juris, Rn. 3.
9Die Feststellung des Senats, wonach der Vertretungszwang mit höherrangigem Recht in Einklang steht,
10vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 4.7.2006 – 10 B 39.06 –, juris, Rn. 1, und vom 25.7.1996 – 5 B 201.95 –, juris, Rn. 2; OVG NRW, Beschluss vom 19.5.2020 – 4 E 403/20 –, juris, Rn. 1; Czybulka/Siegel, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 67 Rn. 45 f., jew. m. w. N.,
11wird durch das weitere Vorbringen des Antragstellers nicht in Zweifel gezogen. Seinem Vorbringen liegt die Annahme zugrunde, aus der Anerkennung „als selbstverantwortliche Persönlichkeit“ und aus der unmittelbaren Bindung der Grundrechte, folge zwingend, dass ihm die Wahrnehmung seiner Rechte vor Gericht ohne Bevollmächtigten und damit unmittelbar möglich sei. Dem ist nicht zu folgen.
12Die Unmittelbarkeit der Geltung der Grundrechte gibt für die Annahme des Antragstellers nichts her. Die in Art. 1 Abs. 3 GG bestimmte Bindung der Rechtsprechung an die Grundrechte hat seinen Grund darin, dass im gerichtlichen Verfahren der Richter den Verfahrensbeteiligten formell und in unmittelbarer Ausübung staatlicher Hoheitsgewalt gegenüber tritt. In der Folge ist er daher nach Art. 1 Abs. 3 GG bei der Entscheidungsfindung an die insoweit maßgeblichen Grundrechte gebunden.
13Vgl. BVerfG, Beschluss vom 3.10.1979 – 1 BvR 726/78 –, BVerfGE 52, 203 = juris, Rn. 11.
14Unmittelbarkeit bedeutet dabei gesetzesunabhängige Grundrechtsgeltung für die Rechtsprechung ohne notwendige Vermittlung durch einen Gesetzgebungsakt,
15vgl. Herdegen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar, 91. EL April 2020, GG Art. 1 Abs. 3, Rn. 1,
16Die weiter erhobenen verfassungsrechtlichen Einwände des Antragstellers gegen den in § 67 Abs. 4 VwGO vorgeschriebenen Vertretungszwang greifen nicht durch. Dass sich ein Beteiligter vor bestimmten Gerichten durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen muss, verletzt nicht die durch Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Menschenwürde. Der grundsätzliche Vertretungszwang vor dem Oberverwaltungsgericht dient dem Schutz des Vertretenen sowie dem Interesse an einer geordneten Rechtspflege, insbesondere einem geordneten Gang des Verfahrens, dessen Vereinfachung, Beschleunigung und Sachdienlichkeit. Er verstößt auch nicht gegen das Recht auf effektiven Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 GG oder den Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG. Zwar darf danach der Zugang zu den Gerichten und zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer, aus sachlichen Gründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden. Der Gesetzgeber kann aber – wie geschehen – im Interesse einer geordneten und konzentrierten Verfahrensführung die Vertretung eines Beteiligten durch einen rechtskundigen Bevollmächtigten vorschreiben.
17Vgl. BVerfG, Beschluss vom 18.12.1991 - 1 BvR 1411/91 -, juris, Rn. 5, m. w. N.; Bay. VerfGH, Entscheidung vom 17.7.2014 - Vf. 65-VI-13 -, juris, Rn. 17; in einem Verfahren des Antragstellers so schon: OVG NRW, Beschluss vom 13.1.2020 – 13 A 138/20 –, Beschlussabdruck Seite 2 f.
18Auch die vom Antragsteller beanstandete Tätigkeit des Richters am Verwaltungsgericht M. , der nicht Richter am Oberverwaltungsgericht und folglich nicht gesetzlicher Richter sei, begründet nicht die Besorgnis der Befangenheit.
19Die Abordnung an das Oberverwaltungsgericht zur Erprobung eines Richters auf Lebenszeit für das Beförderungsamt eines Richters am Oberverwaltungsgericht verstößt nicht gegen Art. 97 Abs. 1 und 2 GG in Verbindung mit Art. 33 Abs. 5 GG. Zwar verbietet nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Verfassungsgarantie der richterlichen Unabhängigkeit jede vermeidbare auch mittelbare, subtile und psychologische Einflussnahme der Exekutive auf die Rechtsstellung des Richters. Die Durchführung einer Erprobung eines Lebenszeitrichters ist jedoch mit der richterlichen Unabhängigkeit vereinbar. Auch wenn sich der Richter in einer Erprobung besonderen Herausforderungen stellt, um das angestrebte Beförderungsamt zu erreichen, so liegt doch in der Erprobung als solcher noch keine Verletzung seiner Unabhängigkeit. In seinen Entscheidungsentwürfen und seiner richterlichen Tätigkeit innerhalb des Kollegialorgans ist er weisungsfrei. Von ihm ist gerade beim Erstreben eines Beförderungsamtes zu erwarten, dass er sich sachwidrigen Beeinflussungsversuchen widersetzt und seine richterlichen Entscheidungen nicht vom angestrebten Ziel - der Beförderung - abhängig macht. Eine sachgerechte Beurteilung des zur Erprobung an das Oberverwaltungsgericht abgeordneten Richters wird gerade auch diesen Aspekt, dass der Richter selbst seine persönliche und sachliche Unabhängigkeit wahrt, positiv hervorheben. Die Notwendigkeit, Nachwuchs heranzubilden oder Beurteilungsgrundlagen für ein richterliches Beförderungsamt zu schaffen, erlaubt deshalb die Heranziehung auch solcher Richter an ein Gericht, die nicht planmäßige Richter dieses Gerichts sind.
20Vgl. BVerfG, Beschluss vom 22.6.2006 – 2 BvR 957/05 –, juris, Rn. 7.
21Der Antragsteller dringt auch nicht mit seiner Auffassung durch, die Richter hätten einen Moment ausgenutzt, in dem der reguläre Berichterstatter gerade im Urlaub gewesen sei. Die Vertretung von Richter am Oberverwaltungsgericht X. durch Richter am Verwaltungsgericht M. ist nicht zu beanstanden.
22Unter Verhinderung als Voraussetzung für den Vertretungsfall ist jede tatsächliche oder rechtliche Unmöglichkeit zu verstehen, an einer richterlichen Aufgabe mitzuwirken. Nach ständiger Rechtsprechung bedarf die vorübergehende Verhinderung, die die Heranziehung eines Vertreters erforderlich macht, der Feststellung durch den Gerichtspräsidenten, es sei denn, der Hinderungsgrund ist offensichtlich und unzweifelhaft. Dabei stellt Urlaub einen offenkundigen Verhinderungsgrund dar.
23Vgl. BGH, Beschluss vom 5.4.1989 – 2 StR 39/89 –, juris, Rn. 4 f..
24Der nach dem Geschäftsverteilungsplan des Senats im Zeitpunkt der Beschlussfassung am 5.8.2020 zuständige Berichterstatter, Richter am Oberverwaltungsgericht X. , befand sich vom 27.7.2020 bis zum 9.8.2020 im Urlaub und nahm seinen Dienst am 10.8.2020 wieder auf. In der Folge ist das Verfahren vom Zeitpunkt der Verfügung der Zustellung der Beschwerdeschrift am 27.7.2020 an bis zu der vom Antragsteller beanstandeten Beschlussfassung von dem nach dem Geschäftsverteilungsplan des Senats zuständigen Vertreter, Richter am Verwaltungsgericht M. , bearbeitet worden. Es fehlt demnach an jedwedem Anhalt dafür, dass – wie der Antragsteller meint – der Verhinderungsfall von den Richtern „ausgenutzt“ wurde.
25Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 146 Abs. 2, 152 Abs. 1 VwGO).
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Tenor
Die Beschwerde der Beschwerdeführerin gegen die Streitwertfestsetzung im Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 27. Februar 2020 wird zurückgewiesen.
Gründe
1 1. Der Senat entscheidet über die Streitwertbeschwerde der Prozessbevollmächtigten des Klägers nicht gemäß § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 6 Satz 1 Halbsatz 2 Gerichtskostengesetz (GKG) durch den Berichterstatter allein, da die angegriffene Streitwertfestsetzung tatsächlich durch die Kammer mit zwei ehrenamtlichen Richtern (§ 12 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 SGG; vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Aufl. 2020, § 12 Rn. 2a) im Urteil des Sozialgerichts Mannheim (SG) vom 27. Februar 2020 erfolgte und somit nicht durch einen Einzelrichter (ebenso Zimmermann, in: Binz/Dörndorfer/Zimmermann, GKG, FamGKG, JVEG, 4. Auflage 2019, 4. Aufl. 2019, § 66 GKG Rn. 56 und § 68 GKG Rn. 24; Laube, in: BeckOK, KostR, Stand 1. September 2020, § 66 GKG Rn. 259: a.A. Landessozialgericht [LSG] Sachsen-Anhalt, Beschlüsse vom 30. Mai 2016 – L 1 KA 3/15 B – juris, Rn. 15 sowie vom 26. April 2012 – L 4 P 1/10 B – juris, Rn. 15).2 2. Die Beschwerde der Prozessbevollmächtigten des Klägers gegen die Streitwertfestsetzung des SG, der dieses im Ergebnis nicht abgeholfen hat, ist statthaft und zulässig, da nach § 197a Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. § 68 Abs. 1 Satz 1 GKG gegen den Beschluss, durch den der Wert für die Gerichtsgebühren festgesetzt worden ist (§ 63 Abs. 2 GKG) die Beschwerde stattfindet, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes, wie hier, 200,00 EUR übersteigt. Die Beschwerdeführerin begehrt die Festsetzung des Streitwertes in Höhe von 93.600,00 EUR statt des vom SG festgesetzten Auffangstreitwertes in Höhe von 5.000,00 EUR. Bereits bei nur einer Gebühr ergibt sich somit nach § 34 Abs. 1 GKG i.V.m. Anlage 2 eine Differenz von 760,00 EUR. Die Bevollmächtigte des Klägers ist nach § 32 Abs. 1 und 2 Satz 1 Rechtsanwaltsvergütungsgesetz befugt, aus eigenem Recht Rechtsmittel gegen die Festsetzung einzulegen. Die Beschwerde ist das statthafte Rechtsmittel, auch wenn die Streitwertfestsetzung im Urteil des SG erfolgte. Denn diese hat gleichwohl den Charakter eines Beschlusses (B. Schmidt in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 197a Rn. 5 m.w.N.).3 3. Die Beschwerde ist aber nicht begründet, weil das SG den Streitwert zutreffend festgesetzt hat.4 In Verfahren vor Gerichten der Verwaltungs-, Finanz- und Sozialgerichtsbarkeit ist, soweit nichts anderes bestimmt ist, der Streitwert grundsätzlich nach der sich aus dem Antrag des Klägers für ihn ergebende Bedeutung der Sache nach Ermessen zu bestimmen (§ 52 Abs. 1 GKG). Bietet der Sach- und Streitstand für die Bestimmung des Streitwerts keine genügenden Anhaltspunkte, ist ein Streitwert von 5.000,00 EUR anzunehmen (§ 52 Abs. 2 GKG). Betrifft der Antrag des Klägers eine bezifferte Geldleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt ist deren Höhe maßgebend (§ 52 Abs. 3 GKG).5 Gegenstand der Klage in der Hauptsache (S 6 BA 3586/18) waren die im Statusfeststellungsverfahren nach § 7a Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV) ergangenen Bescheide der Beklagten vom 29. Dezember 2017 und 17. Juli 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Oktober 2018, mit denen die Beklagte die Versicherungspflicht der Beigeladenen zu 2 in ihrer Tätigkeit als Kinderradiologin für den Kläger in der gesetzlichen Rentenversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitslosenversicherung aufgrund einer abhängigen Beschäftigung ab dem 4. Januar 2018 feststellte.6 Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin ist nicht die zu erwartende Höhe der Gesamtsozialversicherungsbeiträge für drei Jahre – Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteile, berechnet nach den Einnahmen der Beigeladenen zu 2 im Jahr 2018, gedeckelt durch die jeweiligen Beitragsbemessungsgrenzen – als Grundlage für die Streitwertbemessung heranzuziehen. Anknüpfungspunkt i.S.d. § 52 Abs. 1 GKG ist der Antrag des Klägers. Eine bezifferte Geldleistung oder ein hierauf gerichteter Verwaltungsakt nach § 52 Abs. 3 GKG ist bei einem Statusfeststellungsbescheid nach § 7a SGB IV nicht Streitgegenstand (LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 28. Januar 2019 – L 10 R 2642/17 – juris, Rn. 2 m.w.N.; Bayerisches LSG, Beschluss vom 27. November 2015 – L 7 R 759/15 B – juris, Rn. 13). Der Auffassung der Beschwerdeführerin und der von ihr angeführten Entscheidung des Bayerisches LSG (Beschluss vom 4. März 2011 – L 5 R 647/10 B – juris, Rn. 14; ebenso Bayerisches LSG, Beschluss vom 11. März 2015 – L 16 R 1229/13 B – juris, Rn. 15) vermag sich der Senat nicht anzuschließen. Umstände, die über den konkreten Antrag hinausgehen, bleiben bei der Streitwertfestsetzung außer Betracht. Die mit der Statusentscheidung mittelbar verknüpften Beitragsbescheide der Krankenkasse als Einzugsstelle (§ 28h Abs. 1 SGB IV) sind jedoch Umstände, die über den Klageantrag bei der Statusfeststellung hinausgehen. Dies gilt selbst dann, wenn – wie hier nicht – ein begrenzter Zeitraum in der Vergangenheit streitig ist und die Beitragshöhe bereits abgeschätzt werden kann (vgl. Bundessozialgericht, Beschlüsse vom 8. Dezember 2008 – B 12 R 37/07 B – und 5. März 2010 – B 12 R 8/09 R –, juris Rn. 14 bzw. 1 sowie Urteil vom 31. März 2017 – B 12 R 7/15 R – juris, Rn. 52; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 17. Juli 2014 – L 11 R 2546/14 B –, juris Rn. 7; Bayerisches LSG, Beschluss vom 27. November 2015 – L 7 R 759/15 B –, juris Rn. 15 ff.). Ein Rückgriff auf den Dreijahresbetrag nach § 42 Abs. 1 GKG bei nicht abgeschlossenen Zeiträumen bietet sich nicht an, weil mit der Klage nicht Ansprüche auf wiederkehrende Leistungen dem Grunde oder der Höhe nach geltend gemacht oder abgewehrt werden; es wird über die Versicherungspflicht in Zweigen der Sozialversicherung als solche gestritten (Bayerisches LSG, Beschluss vom 27. November 2015, a.a.O., Rn. 20).7 4. Das Verfahren ist gerichtsgebührenfrei; Kosten werden nicht erstattet (§ 68 Abs. 3 GKG).8 5. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG; §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG). | {
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1Gründe:
2Der Berufungszulassungsantrag ist unbegründet. Nach § 78 Abs. 3, Abs. 4 Satz 4 AsylG ist die Berufung nur zuzulassen, wenn einer der in Abs. 3 Nrn. 1 bis 3 aufgezählten Zulassungsgründe dargelegt ist und vorliegt. Der Kläger stützt seinen Antrag auf die Zulassungsgründe nach § 78 Abs. 3 Nrn. 1 und 2 AsylG. Keiner dieser Gründe liegt vor. Die Berufung ist weder nach § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG wegen der gerügten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (I.) noch nach § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG wegen der geltend gemachten Abweichung von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (II.) zuzulassen.
3I. Der vorliegenden Rechtssache kommt nicht die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung nach § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG zu. Als grundsätzlich klärungsbedürftig bezeichnet der Kläger die Frage,
4„ob Flüchtlingen aus Eritrea, die sich durch ihre Flucht dem Militärdienst und dem nationalen Dienst entziehen, nur subsidiärer Schutz zu gewähren ist oder ob ihnen die Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 AsylG i. V. mit der Genfer Flüchtlingskonvention zuzuerkennen ist.“
5Diese Frage rechtfertigt im vorliegenden Fall keine Berufungszulassung. Sie ist nicht mehr klärungsbedürftig, weil sie in der Rechtsprechung des beschließenden Senats inzwischen geklärt ist. Danach ist die Grundsatzfrage dahin zu beantworten, dass den genannten eritreischen Staatsangehörigen regelmäßig nur subsidiärer Schutz zu gewähren ist. Nationaldienstpflichtigen eritreischen Staatsangehörigen drohen Verfolgungsmaßnahmen wegen einer Entziehung oder Desertion nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Anknüpfung an eine ihnen zugeschriebene politische Überzeugung. Das gilt auch für eine im Fall der Rückkehr drohende Bestrafung.
6OVG NRW, Beschluss vom 21. September 2020 ‑ 19 A 1857/19.A ‑, juris, Rn. 36 ff.
7In Bezug auf diese Grundsatzfrage ist die Berufung auch nicht wegen nachträglicher Abweichung von der zitierten Senatsrechtsprechung nach § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG zuzulassen. Wegen nachträglicher Abweichung ist die Berufung nach dieser Vorschrift unabhängig davon zuzulassen, ob der Rechtsmittelführer diesen Zulassungsgrund nach § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG dargelegt hat, wenn der zunächst dargelegte und vorliegende Zulassungsgrund grundsätzlicher Bedeutung nach § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG nachträglich dadurch entfällt, dass ein übergeordnetes Gericht die als grundsätzlich klärungsbedürftig dargelegte Grundsatzfrage in einem anderen Verfahren klärt, und die angefochtene Entscheidung von dieser höchstrichterlichen oder obergerichtlichen Rechtsprechung objektiv abweicht.
8OVG NRW, Beschluss vom 10. Juni 2020 ‑ 19 A 4332/19.A ‑, juris, Rn. 2 f. m. w. N.
9Hier liegt keine solche Abweichung vor. Denn auch das Verwaltungsgericht hat seiner Entscheidung durch Bezugnahme auf sein Urteil vom 23. März 2017 ‑ 6 K 7338/16.A ‑, juris, die Tatsachenfeststellung zugrunde gelegt, dass Sanktionierungen von Wehrdienstentziehung und illegaler Ausreise in Eritrea nicht generell an eine vermutete oder vorhandene politische Überzeugung anknüpfen (dort Rn. 32 ff., 65 ff., 138 ff.).
10II. Die Abweichungsrüge nach § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG genügt schon nicht dem Darlegungserfordernis des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG. Die Darlegung einer Divergenz setzt voraus, dass der Kläger einen inhaltlich bestimmten, die angefochtene Entscheidung tragenden abstrakten Rechts- oder verallgemeinerungsfähigen Tatsachensatz benennt, mit dem die Vorinstanz einem in der Rechtsprechung der übergeordneten Gerichte aufgestellten ebensolchen Rechts- oder Tatsachensatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift widersprochen hat. Behauptet der Kläger hingegen ausschließlich, das Verwaltungsgericht habe einen divergenzfähigen Rechts- oder Tatsachensatz fehlerhaft oder gar nicht angewendet, liegt darin, selbst wenn diese Behauptung zuträfe, lediglich ein Subsumtionsfehler des Verwaltungsgerichts, aber keine Abweichung im Sinn des § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG.
11OVG NRW, Beschlüsse vom 30. Juni 2020 ‑ 4 A 314/20.A ‑, juris, Rn. 2, und vom 30. April 2020 ‑ 19 A 215/19.A ‑, juris, Rn. 9, jeweils m. w. N.; vgl. auch BVerwG, Beschlüsse vom 16. September 2020 ‑ 8 B 22.20 ‑, juris, Rn. 4, vom 8. September 2020 ‑ 1 B 21.20 ‑, juris, Rn. 22, und vom 17. Dezember 2019 ‑ 9 B 52.18 ‑, NVwZ-RR 2020, 331, juris, Rn. 3 (zu § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO).
12Im vorliegenden Fall erschöpfen sich die Ausführungen des Klägers darin, sinngemäß einen Subsumtionsfehler des Verwaltungsgerichts unter die auf das Asylgrundrecht nach Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG a. F. bezogene Aussage des Bundesverfassungsgerichts im Kammerbeschluss vom 8. November 1990 ‑ 2 BvR 933/90 ‑, NVwZ 1991, 772, juris, Rn. 20, aufzuzeigen, dass bei einem vom Verfolger gehegten Verdacht der Trägerschaft von asylerheblichen Merkmalen die zur Aufklärung dieses Verdachts eingesetzten Mittel nicht als asylrechtlich unbeachtlich qualifiziert werden dürfen. Der Kläger zitiert die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zur tatrichterlichen Würdigung der Zielrichtung der dem eritreischen Staat zuzurechnenden Sanktionierungsmaßnahmen (S. 24 des angefochtenen Urteils, Rn. 172 seines darin in Bezug genommenen Urteils vom 23. März 2017 ‑ 6 K 7338/16.A ‑, juris) und macht geltend, es habe mit diesen Ausführungen zu Unrecht eine Anknüpfung an einen Verfolgungsgrund verneint. Diese Ausführungen lassen nicht erkennen, welchen abstrakten Rechtssatz das Verwaltungsgericht aufgestellt haben soll, der zu der zitierten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Widerspruch steht.
13Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.
14Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 40.000,00 Euro festgesetzt.
1Gründe:
2Der Berufungszulassungsantrag ist zulässig. Die Klägerin hat insbesondere ein Rechtsschutzbedürfnis für ihr zweitinstanzliches Begehren. Sie begehrt die Zulassung der Berufung gegen das Bescheidungsurteil, mit dem das Verwaltungsgericht ihrer Klage auf Neubescheidung über das Ergebnis ihrer Zweiten Staatsprüfung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts dem Tenor nach in vollem Umfang, d. h. ohne eine teilweise Klageabweisung, stattgegeben hat (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO), insoweit, als dieses in seinen entscheidungstragenden Gründen die Langzeitbeurteilung des stellvertretenden Schulleiters der Ausbildungsschule vom 1. Mai 2018 für insgesamt rechtmäßig angesehen hat. Lediglich hinsichtlich der Langzeitbeurteilung der Leiterin des Zentrums für schulpraktische Lehrerausbildung vom 6. September 2016 und der Beurteilungsbeiträge der Seminarausbilder hat das Verwaltungsgericht Bewertungsfehler festgestellt und das Prüfungsamt verpflichtet, über die Zweite Staatsprüfung der Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden. Demgegenüber hat die Klägerin mit dem Klageantrag Nr. 2 ihrer Bescheidungsklage gerade auch Fehler in der Langzeitbeurteilung durch den stellvertretenden Schulleiter geltend gemacht. In diesem Punkt bleibt das stattgebende Urteil hinter ihrem Begehren zurück und ist sie entsprechend beschwert. Ein einem Bescheidungsantrag stattgebendes Bescheidungsurteil beschwert den Kläger, wenn sich die vom Gericht für verbindlich erklärte Rechtsauffassung nicht mit seiner eigenen deckt und jene für ihn ungünstiger ist als diese, wenn also bei Anwendung der Rechtsauffassung des Gerichts durch die Behörde eher mit einem ihm ungünstigen Ergebnis zu rechnen ist als bei Anwendung seiner eigenen Rechtsauffassung.
3BVerwG, Urteil vom 3. Dezember 1981 - 7 C 30.80 ‑, NJW 1983, 407, juris, Rn. 14; vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 7. März 2017 ‑ 2 BvR 162/16 ‑, StV 2017, 731, juris, Rn. 31 (Verpflichtungsantrag).
4Der Berufungszulassungsantrag ist unbegründet.
5Die Berufung ist gemäß § 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO zuzulassen, wenn einer der in § 124 Abs. 2 VwGO genannten Zulassungsgründe den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechend dargelegt wird und vorliegt. Die Klägerin stützt ihren Antrag auf die Zulassungsgründe nach § 124 Abs. 2 Nrn. 1 und 3 VwGO. Keiner der beiden Gründe liegt vor.
6I. Aus der Zulassungsbegründung ergeben sich zunächst keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
7Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO liegen vor, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird.
8Vgl. statt vieler BVerfG, Kammerbeschluss vom 16. April 2020 - 1 BvR 2705/16 ‑, NVwZ-RR 2020, 905, juris, Rn. 21, und Beschluss vom 18. Juni 2019 ‑ 1 BvR 587/17 ‑, BVerfGE 151, 173, juris, Rn. 32 m. w. N.; VerfGH NRW, Beschluss vom 17. Dezember 2019 ‑ VerfGH 56/19.VB-3 ‑, NVwZ-RR 2020, 377, juris, Rn. 17 ff., jeweils m. w. N.
9Nach diesem Maßstab liegen ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils nicht vor.
101. Die Klägerin rügt, das Verwaltungsgericht habe nicht problematisiert, warum es gerade auf das korrigierte Schulleitergutachten vom 1. Mai 2018, nicht aber auf die bisher noch nicht aufgehobenen vorangegangenen Schulleitergutachten vom 2. September 2016 und vom 31. Juli 2017 abgestellt habe. Es bleibe unklar, welche Beurteilung der Prüfungsentscheidung zugrunde gelegt werden solle. Ein solcher Austausch von Langzeitbeurteilungen im Klageverfahren stelle eine Rechtswegverkürzung für die Klägerin dar, denn die „neue“, im Klageverfahren nachgereichte Langzeitbeurteilung habe das Prüfungsamt nicht nach den ihm im Widerspruchsverfahren eröffneten weiten Maßstäben auch auf Bewertungsfehler überprüfen können.
11Aus diesem Vorbringen ergeben sich keine ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils. Das Verwaltungsgericht hat angenommen, das Landesprüfungsamt habe im Laufe des Klageverfahrens auf die eingetretene Änderung der obergerichtlichen Rechtsprechung reagieren und durch die erneut überarbeitete Langzeitbeurteilung des stellvertretenden Schulleiters vom 1. Mai 2018 einer Verurteilung zuvorkommen dürfen, ohne dass hierin ein zu einem materiellen Bewertungsfehler führender Begründungsaustausch zu sehen sei (S. 23 f. des Urteils). Diese Auffassung ist zutreffend. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht unter konkreter Bezugnahme auf die vom beschließenden Senat geteilte Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts angenommen, dass ein Mangel des Prüfungsbescheids durch eine Neubewertung geheilt und einem Anspruch auf Neubescheidung die Grundlage entzogen werden kann.
12Vgl. hierzu und zum Nachfolgenden BVerwG, Urteil vom 9. Dezember 1992 - 6 C 3.92 ‑, BVerwGE 91, 262, juris, Rn. 34 ff. m. w. N.; OVG NRW, Beschluss vom 31. März 2020 - 19 A 3167/18 ‑, juris, Rn. 6 ff.
13Eine Verwaltungsbehörde ist schon nach § 45 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 VwVfG NRW nicht gehindert, den Mangel einer fehlenden oder unzureichenden Begründung einer Entscheidung dadurch zu „heilen“, dass sie die erforderliche Begründung eines Verwaltungsakts nachträglich, d. h. noch während des erstinstanzlichen Gerichtsverfahrens, „nachschiebt“. Schon gar nicht eingeschränkt ist die behördliche Befugnis, einen angefochtenen Verwaltungsakt – einschließlich seiner Begründung – noch während des Verwaltungsstreitverfahrens zu ändern. Ob die Behörde eine derartige Änderung mit im Prozess beachtlicher, mängelheilender Wirkung vornehmen kann, ergibt sich aus dem jeweiligen Fachrecht. Diese Grundsätze können auch in Prüfungsangelegenheiten zugrunde gelegt werden. Weder der aus Art. 12 Abs. 1 GG folgende Grundrechtsschutz durch eine entsprechende Gestaltung des Prüfungsverfahrens noch das Gebot des effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 GG verbieten es, eine Bewertung der Prüfungsleistung mit entsprechender (neuer) Begründung nachzuholen und auf diese Weise einen früheren Begründungsmangel zu korrigieren. Es ist dem beklagten Land unbenommen, insoweit einer rechtskräftigen Verurteilung zuvorzukommen und noch während des gerichtlichen Verfahrens die (erneute) Bewertung nachholen zu lassen. Wenn ein Beklagter ein Bescheidungsurteil hinsichtlich einzelner Punkte für zutreffend hält, hinsichtlich anderer Punkte aber nicht, muss er sich nicht erst insgesamt verurteilen lassen, bevor er den einen – von ihm anerkannten – Rechtsmangel durch nachträgliches Handeln beseitigt. Die Rechtmäßigkeit des Prüfungsergebnisses kann in diesem Punkte nicht nur durch die Erfüllung des (rechtskräftigen) Bescheidungsurteils, sondern ebenso durch ein Nachgeben vor Rechtskraft hergestellt werden. Erweist sich der Prüfungsbescheid auch im Übrigen als rechtmäßig, ist nunmehr die Klage abzuweisen, sofern der Kläger ihn weiter angreift und nicht etwa die Erledigung der Hauptsache erklärt. Wird der Beklagte – wie hier – wegen fortbestehender anderweitiger Bewertungsfehler zur Neubescheidung verpflichtet, hat das Verwaltungsgericht in den Entscheidungsgründen festzustellen, welche Begründungsmängel es als bereits behoben ansieht.
14Diesen Grundsätzen hält die Klägerin nichts Durchgreifendes entgegen. Insbesondere ergibt sich aus der Antragsbegründung keine den Anspruch auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) verletzende Rechtswegverkürzung für die Klägerin. Dem Landesprüfungsamt war nicht versagt, die im Klageverfahren erneut überarbeitete Langzeitbeurteilung des stellvertretenden Schulleiters einer umfassenden Überprüfung zu unterziehen. Von daher ist es spekulativ, ob das Landesprüfungsamt eine solche Überprüfung vorgenommen hat oder nicht. Maßgeblich ist, ob die Prüfungsbehörde sich die Wertungen des überarbeiteten Schulleitergutachtens unter Berücksichtigung der bisher vorgebrachten Rügen der Klägerin zu eigen macht. Dies ist hier der Fall. Dass es der Klägerin im Übrigen nicht möglich gewesen sein soll, auf die in das Verfahren eingeführte Langzeitbeurteilung angemessen zu reagieren und diese zum Gegenstand ihrer Rügen zu machen, ist nicht ersichtlich.
152. Die Klägerin rügt weiter, die vom Verwaltungsgericht getroffene Feststellung einer ordnungsgemäßen Beurteilung durch den stellvertretenden Schulleiter sei fehlerhaft. Die Langzeitbeurteilung vom 1. Mai 2018 habe unzulässigerweise den vorangegangenen Ausbildungsabschnitt – d. h. den regulären Vorbereitungsdienst an der Hauptschule D. – neu bewertet. Das Verwaltungsgericht verkenne, dass die fragliche Langzeitbeurteilung der früheren Ausbildungsschule vom 15. Februar 2016 die Endnote „ausreichend“ ausgewiesen habe; diese Leistungsbewertung berücksichtige der stellvertretende Schulleiter nicht, eine Gewichtung der divergierenden Bewertungen auch im Hinblick auf die zugrundeliegenden, unterschiedlich langen Bewertungszeiträume erfolge nicht.
16Das Verwaltungsgericht hat demgegenüber angenommen, der stellvertretende Schulleiter habe für seine Langzeitbeurteilung zum Teil entsprechende Passagen der Langzeitbewertung des Schulleitergutachtens der früheren Ausbildungsschule wörtlich übernommen. Sodann habe er – wofür das Verwaltungsgericht konkrete Beispiele anführt – jeweils die dort gemachten Beobachtungen mit den von ihm selbst und den Ausbildungslehrern dokumentierten Beobachtungen ins Verhältnis gesetzt, ohne jedoch dabei den vorangegangenen Ausbildungsabschnitt selbst neu zu bewerten (S. 21 f., 24 bis 27 des Urteils). Auch eine selbstständige, abschließende, gewichtende Gesamtbewertung habe der stellvertretende Schulleiter vorgenommen. Mit dieser Würdigung legt das Verwaltungsgericht zutreffend die in der Rechtsprechung des beschließenden Senats für das Verhältnis der zum Abschluss des regulären Vorbereitungsdienstes zu erstellenden Langzeitbeurteilung einerseits und der im verlängerten Vorbereitungsdienst zu erstellenden Langzeitbeurteilung andererseits gebildeten Maßstäbe zugrunde.
17OVG NRW, Urteil vom 20. Dezember 2017 - 19 A 811/16 ‑, juris, Rn. 74 ff., insbesondere 85 ff.
18Eine rechtsfehlerhafte Abweichung von diesen Grundsätzen zeigt das Zulassungsvorbringen nicht auf. Die für die Langzeitbeurteilung vom 1. Mai 2018 verlangte Bewertung des gesamten Verlaufs und Erfolgs des Vorbereitungsdienstes hat der stellvertretende Schulleiter zutreffend unter Anknüpfung an die in der ersten Langzeitbeurteilung getroffene Gesamtbewertung vorgenommen und anhand der jeweiligen Einzelfeststellungen und Noten erläutert. Dass die im bisherigen Ausbildungsabschnitt des 18-monatigen Vorbereitungsdienstes getroffene Endnote „ausreichend“ sich vor dem Hintergrund der im Verlängerungsabschnitt vergleichend hierzu gemachten Beobachtungen und Einzelbewertungen zu der Endnote „mangelhaft“ verschlechtert hat, hat der stellvertretende Schulleiter, wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausführt, nachvollziehbar und plausibel begründet. Hierauf, und nicht auf eine schematisch-mathematische Gewichtung, kommt es an. Auch dies entspricht den Anforderungen des beschließenden Senats. Insbesondere ist es nicht fehlerhaft, wenn der stellvertretende Schulleiter den im Verlängerungsabschnitt gezeigten Leistungen größeres Gewicht als den früheren Leistungen beigemessen hat.
19Vgl. OVG NRW, Urteil vom 20. Dezember 2017, a. a. O., Rn. 85 ff.
20Die in diesem Zusammenhang weiter erhobenen Rügen der Klägerin dringen ebenfalls nicht durch (S. 3 f. der Zulassungsbegründung, S. 2 des Schriftsatzes vom 26. Mai 2020). Die Gewichtung der Gesamtbewertung in der überarbeiteten Langzeitbeurteilung vom 1. Mai 2018 ist nachvollziehbar und plausibel begründet. Dass der stellvertretende Schulleiter sprachliche Spielräume oder „schwammige Formulierungen“ in der früheren Langzeitbeurteilung attestiert und zur Kenntnis nimmt, ist nicht zu beanstanden. Auch ist nicht ersichtlich, dass er eine in der früheren Langzeitbeurteilung angeblich angelegte positive Beurteilungsintention oder Weiterentwicklungstendenz ausgeblendet hätte. Die unter Einschluss der im verlängerten Vorbereitungsdienst gemachten Beobachtungen und Erfahrungen getroffene Bewertung der Leistung der Klägerin hat der stellvertretende Schulleiter nicht nur darauf gestützt, dass die Klägerin ihre Fähigkeiten nicht weiterentwickelt habe, sondern maßgeblich damit begründet, dass die Klägerin im Verlängerungsabschnitt keine ausreichenden, sondern mangelhafte Leistungen gezeigt habe.
213. Die Klägerin hält die Langzeitbeurteilung vom 1. Mai 2018 ferner deshalb für rechtswidrig, weil es keinerlei persönlichen Kontakt des stellvertretenden Schulleiters mit der Schulleiterin der früheren Ausbildungsschule gegeben habe. Eine zusammenfassende Gewichtung der Leistungen der Klägerin sei auf dieser Grundlage nicht möglich. Für den Endbeurteiler bleibe, insbesondere wenn dieser „schwammige Formulierungen“ in der früheren Langzeitbeurteilung attestiere, unklar, welche Aussagen die frühere Beurteilung konkret enthalte und wie diese im Rahmen der Gewichtung zu bewerten seien.
22Das Verwaltungsgericht hat festgestellt, der stellvertretende Schulleiter attestiere in der Bewertung der früheren Ausbildungsschule „viele offene (‚schwammige‘) Formulierungen“, die eine Weiterentwicklung der Leistungen der Klägerin von Bedingungen abhängig darstellten. Nach seinen Beobachtungen seien diese Bedingungen nicht eingetreten (S. 27 des Urteils). Damit hat das Verwaltungsgericht entgegen dem Zulassungsvorbringen nicht zum Ausdruck gebracht, für den Beurteiler des Verlängerungszeitraums seien die Einzelbewertungen und ‑feststellungen der Langzeitbeurteilung vom 15. Februar 2016 mit der Folge unklar gewesen, dass ihm eine bewertende Gewichtung des gesamten Vorbereitungsdiensts nicht möglich gewesen wäre. Eine solche Vermutung wird durch die Langzeitbeurteilung vom 1. Mai 2018 auch in der Sache nicht gestützt. Der stellvertretende Schulleiter hat vielmehr konkrete Feststellungen und Wertungen der früheren Beurteilerin aufgegriffen und diese hinsichtlich der einzelnen zu bewertenden Handlungsfelder bezogen auf die Kompetenzen und Standards der Anlage 1 zur OVP NRW vollinhaltlich zu seinen eigenen Beobachtungen und Erkenntnissen ins Verhältnis gesetzt. Dies findet in der „gewichtenden Zusammenfassung beider Langzeitbeurteilungen“ hinreichenden Niederschlag, wenn der Klägerin „im Gegensatz zur Hauptschule D. “ „keine ausreichende(n) Leistungen“ bescheinigt werden könnten. Der Hinweis auf dortige „schwammige Formulierungen“ steht selbstständig daneben („darüber hinaus“) und bezieht sich auf den begrenzten Aussagegehalt offener Formulierungen, stellt aber die Eindeutigkeit der Bewertungen der Langzeitbeurteilung vom 15. Februar 2016 und deren angemessene Berücksichtigung im Rahmen der gewichtenden Zusammenfassung in der Langzeitbeurteilung vom 1. Mai 2018 nicht in Frage. Auf einen persönlichen Kontakt oder das Fehlen eines solchen kam es daher für das Verwaltungsgericht hier richtigerweise nicht an.
234. Ohne Erfolg bleiben ferner die inhaltlichen, gegen die Langzeitbeurteilung des stellvertretenden Schulleiters erhobenen Rügen der Klägerin.
24a) Das Verwaltungsgericht hat angenommen, der unter Bezugnahme auf die Stunde des zweiten Unterrichtsbesuchs begründete Einwand der Klägerin, die Unterrichtsverläufe wiesen entgegen der Langzeitbeurteilung eine klare Struktur und Zielvorgaben auf, verfehle bereits die Prüferkritik. Denn die von der Klägerin behauptete Anwendung einer bestimmten Methodik besage noch nichts über die fehlerfreie Durchführung derselben. Diese Anwendungsfehler bewerte sie nun lediglich selbst anders als der Beurteiler (S. 28 des Urteils). Dem hält die Klägerin entgegen, sie habe substantiiert zu Struktur und Klarheit ihres Unterrichtsverlaufs vorgetragen, woraufhin der Beurteiler nichts von Gewicht erwidert habe. Dass sie tatsächlich eine Unterrichtsmethode falsch angewendet hätte, sei auch in der mündlichen Verhandlung nicht belegt worden.
25Mit diesem Zulassungsvorbringen sind keine durchgreifenden Richtigkeitszweifel dargelegt. Das Verwaltungsgericht hat eingehend und unter Bezugnahme auf die Erläuterungen des stellvertretenden Schulleiters in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, dass sich die Prüferkritik auf die erfolgreiche Durchführung des Unterrichts und damit die Zielerreichung beziehe. Das Verwaltungsgericht hat die Stellungnahme des Beurteilers hierzu als ausreichend angesehen, ohne dass der Zulassungsantrag aufzeigen würde, dass diese – auf konkreten Beobachtungen beruhenden, im Kern dem prüfungsspezifischen Bewertungsspielraum zuzurechnenden – Qualitätsbewertungen zu beanstanden wären. Ob das Unterrichtsziel erreicht wurde, ist der gerichtlichen Kontrolle weitestgehend entzogen und obliegt – wie etwa die Würdigung der Qualität des Unterrichts, der Stärken und Schwächen des Lehramtsanwärters oder deren Gewichtung und Bedeutung – der nur begrenzt überprüfbaren Einschätzung des Beurteilers.
26OVG NRW, Beschluss vom 15. April 2020 - 19 A 1929/18 ‑, juris, Rn. 21; Urteil vom 20. Dezember 2017, a. a. O., Rn. 63.
27Unabhängig davon ist die Klägerin der Stellungnahme des stellvertretenden Schulleiters zu diesem Punkt nicht substantiiert entgegengetreten. In der Klagebegründung und in der mündlichen Verhandlung hat sie sich ausdrücklich gegen die nach ihrem Dafürhalten durch die Langzeitbeurteilung formulierte Kritik, ihre Methodik sei fehlerhaft, gewandt und geltend gemacht, genau diese Frage der „fehlerhaften Methodik“ greife sie an. Die Kritik an der nach dem tatsächlichen Verlauf der Unterrichtsstunde fehlenden Zielerreichung ist damit jedoch nicht entkräftet.
28b) Der weitere Einwand der Klägerin, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht angenommen, ihre Rüge verfehle die Kritik der Langzeitbeurteilung, wonach in den vorgelegten, nicht ausreichenden Unterrichtsskizzen und Unterrichtsentwürfen keine ausreichende Einbeziehung der Lernvoraussetzungen für die Methoden- und Sozialformenwahl vorhanden und begründet gewesen sei (S. 28 f. des Urteils), greift nicht durch. Sie wiederholt mit ihrem Zulassungsvorbringen insoweit nur ihren Rechtsstandpunkt, nach den Vorgaben des Zentrums für schulpraktische Lehrerausbildung („Vereinbarungen zur Verschriftlichung“) sei unter Verweis auf § 11 Abs. 3 OVP NRW für die Unterrichtsbesuche nur eine „kurzgefasste Planung“ vorzulegen. Die durch den Beurteiler vermissten Ausführungen gingen darüber hinaus und seien nicht zu verlangen. Unabhängig davon, dass sich den mit der Klagebegründung vorgelegten „Vereinbarungen zur Verschriftlichung“ des Zentrums für schulpraktische Lehrerausbildung C. nichts dafür entnehmen lässt, dass Lernvoraussetzungen oder die Methoden- oder Sozialformenwahl für die Unterrichtsentwürfe keine Rolle spielen sollten, bezieht das Verwaltungsgericht die Prüferkritik zutreffend insbesondere auf die durch die nicht ausreichende Einbeziehung der Lernvoraussetzungen verursachte nicht sachgerechte Methoden- und Sozialformenwahl – mithin wiederum auf das Ergebnis des Unterrichtserfolgs. Die Langzeitbeurteilung verweist insoweit ausdrücklich auf die Beobachtungen in den Unterrichtsbesuchen, in denen die Unterrichtsgestaltung nicht strukturiert und zielorientiert gewesen sei, und stellt in diesem Zusammenhang fest, dass es an einer ausreichenden Unterrichtsplanung gefehlt habe. Das Verwaltungsgericht führt zu einer etwaigen „Billigung“ der Unterrichtsentwürfe durch den stellvertretenden Schulleiter aus, eine solche ergebe sich nicht aus der vorgelegten SMS-Kommunikation mit der Klägerin. Dem tritt das Zulassungsvorbringen nicht substantiiert entgegen.
29c) Die Klägerin wendet sich weiter gegen die Bewertung des Verwaltungsgerichts (S. 30 des Urteils), ihr Vortrag sei unsubstantiiert, soweit sie mit dem Hinweis auf das im Mathematikunterricht als Anwendungsbeispiel angeführte Werkstück für ein Longboard belegen wolle, dass ihre Unterrichtsthemen entgegen der Prüferkritik aus der Alltags- und Lebenswelt der Schüler stammten. Dem Verwaltungsgericht ist insoweit jedoch zuzustimmen, als die Klägerin damit weder die im Zusammenhang mit der Einzelkritik getroffene Bewertung des Beurteilers, die Themen der Stunden seien nicht ausreichend vorbereitet gewesen, entkräftet noch einen hinreichenden Zusammenhang zwischen dem Longboard und der Themenstellung des Unterrichts aufgezeigt hat. Wie sich der mit der Klagebegründung vorgelegten Unterrichtsplanung zum zweiten Unterrichtsbesuch im Fach Mathematik entnehmen lässt, war das Longboard vielmehr lediglich der Aufhänger für die Volumenberechnung eines Körpers, der dazu in keinem realen Zusammenhang steht. Einen echten Anwendungsfall aus der Alltags- und Lebenswelt der Schüler hat die Klägerin damit gerade nicht vorgestellt.
30d) Die Klägerin wirft dem Verwaltungsgericht vor, es habe bei der Würdigung der vorgeworfenen Unterrichtsstörungen verkannt, dass der Beurteiler ein kritisiertes tatsächliches Geschehen zunächst einmal zu spezifizieren habe, bevor der Beurteilte hierzu eine substantiierte Stellungnahme abgeben könne. Es habe hier schlicht kein durch etwaige Störung notwendig gewordenes Eingreifen des Fachlehrers gegeben. Nach den insoweit maßgeblichen konkreten Umständen des Einzelfalls,
31vgl. OVG NRW, Beschluss vom 15. April 2020, a. a. O., Rn. 19,
32ist die Würdigung des Verwaltungsgerichts, die sich in einer bloßen Behauptung des Gegenteils erschöpfende Rüge der Klägerin sei unsubstantiiert (S. 30 des Urteils), nicht zu beanstanden. Nicht zuletzt setzt sich die Klägerin nicht mit den Ursachenbeobachtungen des Beurteilers zu den Störungen und deren Folgen auseinander.
33e) Die Klägerin rügt weiter, die Kritik des Beurteilers, sie sei bei der Durchführung der Pausenaufsicht und mangels Teilnahme an außerschulischen Veranstaltungen nicht ausreichend mit Schülern ins Gespräch gekommen und habe diese nicht kennenlernen können, sei tatsächlich falsch. Diese Kritik sei im ersten Ausbildungsabschnitt nicht formuliert worden, was der stellvertretende Schulleiter nun nicht berücksichtigt habe. Außerdem habe die Klägerin an verschiedenen Veranstaltungen wie u. a. Konferenzen, einer Abschlussfeier oder Sportfesten teilgenommen.
34Insoweit hat das Verwaltungsgericht zutreffend angenommen, die Klägerin verfehle mit ihrem Einwand die Prüferkritik (S. 32 des Urteils). Nicht nur, dass sie nicht durchgreifend in Frage stellt, dass es sich bei den von ihr besuchten Veranstaltungen um verpflichtende – nicht freiwillige – Veranstaltungen gehandelt hat. Vorgehalten wird ihr in diesem Zusammenhang eine mangelhafte Lern- und Kommunikationsbereitschaft bezüglich der Lebenswelt der Schüler an der Ausbildungsschule, immerhin eine „Schule im sozialen Brennpunkt“ (S. 8 der Langzeitbeurteilung vom 1. Mai 2018), die sich auch im Unterricht konkret bemerkbar gemacht hat.
35f) Nicht zu beanstanden ist ferner die Zurückweisung der Rüge der Klägerin, der stellvertretende Schulleiter dürfe ihr keine unzureichende Information der Eltern über den Werdegang der Schüler in Elterngesprächen vorwerfen. Soweit die Klägerin meint, das Verwaltungsgericht gehe dabei von einem falschen Sachverhalt aus, denn es hätten zwischen den einzelnen Elterngesprächen jeweils Gespräche zwischen dem Fachlehrer und ihr stattgefunden, kommt es darauf nicht entscheidend an. Der Feststellung des Verwaltungsgerichts, welche anderen Gelegenheiten zur Elternarbeit oder u. a. auch zur Zusammenarbeit mit der Sozialarbeiterin sie habe verstreichen lassen (S. 33 des Urteils), tritt sie nicht entgegen. Dieser Vorwurf ist auch keineswegs „konstruiert“, sondern beschreibt nachvollziehbar eine mit der Langzeitbeurteilung zum Ausdruck gebrachte Schwäche der Klägerin.
36g) Mit ihrem Vorbringen, der Vorwurf des Beurteilers, sie sei „beratungsresistent“, sei ungerechtfertigt, sind keine Richtigkeitszweifel am angefochtenen Urteil dargetan. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend ausgeführt, dass dieser Vorwurf in Zusammenhang mit der insgesamt mangelhaften längerfristigen Unterrichtsplanung zu sehen sei (S. 34 des Urteils), also augenscheinlich bezogen auf die Fähigkeit der Klägerin, auf Kritik selbstständig zu reagieren und Fehler für die Zukunft abzustellen. Dies wird durch den Verweis auf die vom Verwaltungsgericht nicht in Abrede gestellte Bereitschaft der Klägerin, an ihren Unterrichtsentwürfen Änderungen vorzunehmen, nicht entkräftet.
37h) Die Klägerin dringt auch nicht mit ihrer Rüge durch, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht die Prüferkritik, sie habe Beurteilungskriterien mit den Schülern unzureichend besprochen und nicht nachvollziehbar dargestellt, unbeanstandet gelassen (S. 34 f. des Urteils). Sie wiederholt insoweit ihr bisheriges Argument, sie habe keinen bedarfsdeckenden Unterricht gehalten und daher keine Zeugnisnoten vergeben. Der Vorwurf in der Langzeitbeurteilung sei somit nicht nachvollziehbar. Dem hat schon das Verwaltungsgericht überzeugend entgegengehalten, dass es um die Vermittlung der Kriterien für die je eigene Leistungsbewertung gegenüber den Schülern gehe, nicht aber „um eine einzelne Stunde“. Es gehe um Fragen der Notenzusammensetzung allgemein und Anforderungen an die jeweilige Klausurvorbereitung. Mit der Vergabe konkreter Klausur- oder Zeugnisnoten durch die Klägerin hat das nichts zu tun.
38i) Erfolglos bleibt ferner der Einwand der Klägerin, das angefochtene Urteil sei insoweit rechtsfehlerhaft, als das Verwaltungsgericht ihre Rüge zurückgewiesen habe, der stellvertretende Schulleiter habe ihr zu Unrecht vorgeworfen, keine Differenzierungsmaßnahmen und Fördermaßnahmen eingesetzt zu haben. Das Verwaltungsgericht hat die Beurteilerkritik aus der Langzeitbeurteilung: „Angedachte Lernerfolge der Schülerinnen und Schüler fördert … (die Klägerin) nicht durch Differenzierungsmaßnahmen, Fördermaßnahmen und einen strukturierten Unterrichtsablauf“ (S. 10 der Langzeitbeurteilung vom 1. Mai 2018), dahingehend verstanden, dass der Klägerin nicht vorgeworfen werde, überhaupt Maßnahmen der genannten Art versucht zu haben, „sondern dass die Klägerin damit nicht gefördert hat“ (S. 35 des Urteils). Dieser schon nach dem Wortlaut der Beurteilungsformulierung jedenfalls vertretbaren Auslegung hält das Zulassungsvorbringen nur entgegen, dass diese den in der Beurteilung erhobenen Vorwurf des insgesamt fehlenden Einsatzes von Differenzierungs- und Fördermaßnahmen verkenne. Die Fehlerhaftigkeit der durch das Verwaltungsgericht vorgenommen Würdigung zeigt die Klägerin jedoch nicht auf. Das Verwaltungsgericht hat diese Würdigung nämlich unter erläuternder Bezugnahme auf die Beurteilungsbeiträge der Fachlehrer vorgenommen, aus denen sich – deutlicher als in der fraglichen Passage der Langzeitbeurteilung – ergebe, dass die Klägerin versucht habe, den individuellen Voraussetzungen der Schüler mit unterschiedlichen Differenzierungsmethoden zu begegnen. Jedoch sei ihr die Umsetzung während des Unterrichts nicht immer gelungen. Mit diesem Begründungsansatz setzt sich der Zulassungsantrag nicht auseinander.
39j) Ohne Erfolg macht die Klägerin schließlich geltend, der Ausbildungsbeauftragte habe es wohl selbst nicht als erforderlich angesehen, mit ihr nach dem Ende der Sommerferien Kontakt zum weiteren Verlauf der Ausbildung aufzunehmen. Sie habe sich selbst mit den jeweiligen Fachlehrern über die Stundenplanung abgesprochen. Von daher treffe die Kritik in der Langzeitbeurteilung, sie habe mit dem Ausbildungsbeauftragten und Teil der Schulleitung keinen Kontakt zum weiteren Verlauf der Ausbildungsphase (Stundenplanung, Unterrichtsvorhaben, Prüfungstermin, etc.) aufgenommen, nicht zu. Mit diesem Verweis auf die angeblich fehlende Notwendigkeit einer Abstimmung mit dem Ausbildungsbeauftragten verfehlt die Klägerin die vom Verwaltungsgericht hierzu getroffene Feststellung, sie habe bestätigt, keinen Kontakt zum Ausbildungsbeauftragten aufgenommen zu haben (S. 36 des Urteils). Auf etwaige Kontakte zu Fachlehrern hat die Beurteilung nicht abgestellt, sondern allein auf die unzureichende Kommunikation mit dem Ausbildungsbeauftragten. Dass dieser Umstand bei der Bewertung der Bewährung der Klägerin im „System Schule“ (S. 14 der Langzeitbeurteilung vom 1. Mai 2018) Berücksichtigung finden konnte, liegt auf der Hand.
40II. Die Rechtssache hat auch keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO.
41Die in der Zulassungsbegründung aufgeworfenen Fragen:
42„1.
43Muss für die Erstellung der Beurteilung und hier insbesondere der zusammenfassenden Gewichtung eines einmal verlängerten Vorbereitungsdienstes von dem Beurteiler des zweiten Ausbildungsabschnitts – also des Verlängerungszeitraums – eine persönliche Abstimmung mit dem Beurteiler des ersten Ausbildungsabschnitts über die Beurteilungsmaßstäbe und deren Anwendung für die Erstellung der für die Beurteilung des gesamten Ausbildungszeitraums notwendigen zusammenfassenden Gewichtung erfolgen? Ist dies zumindest dann notwendig, wenn der Beurteiler des zweiten Ausbildungsabschnitts Formulierungen in der ersten Langzeitbeurteilung als ‚schwammig‘, also nicht eindeutig, bewertet?
442.
45Genügt ein Lehramtsanwärter seiner Substantiierungspflicht, wenn er ein oder mehrere tatsächliche Geschehnisse, die sich nach den Angaben in der Langzeitbeurteilung – ohne einen konkreten Zusammenhang oder ein konkretes Geschehnis zu benennen – tatsächlich ereignet haben sollen, bestreitet?“,
46bedürfen, sofern sie nach den obigen Ausführungen (siehe I.3 und I.4.d) überhaupt erheblich sind, nicht der Durchführung eines Berufungsverfahrens.
47Grundsätzliche Bedeutung kommt einer Rechtssache nur zu, wenn sie eine bisher höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht beantwortete Rechtsfrage oder eine im Bereich der Tatsachenfeststellung bisher obergerichtlich nicht geklärte Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die sich in dem angestrebten Berufungsverfahren stellen würde und die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts berufungsgerichtlicher Klärung bedarf. Für die Darlegung dieser Voraussetzungen bedarf es neben der Formulierung einer Rechts- oder Tatsachenfrage, dass der Zulassungsantrag konkret auf die Klärungsbedürftigkeit und -fähigkeit der Rechts- oder Tatsachenfrage sowie ihre über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung eingeht.
48Vgl. BVerfG, Beschluss vom 18. Juni 2019 - 1 BvR 587/17 ‑, BVerfGE 151, 173, juris, Rn. 33 m. w. N.; BVerwG, Beschluss vom 2. Dezember 2019 - 2 B 21.19 ‑, juris, Rn. 4 m. w. N.; OVG NRW, Beschlüsse vom 14. Mai 2020 - 19 A 1650/19.A ‑, juris, Rn. 16, und vom 13. Februar 2018 - 1 A 2517/16 ‑, juris, Rn. 32.
49Eine Rechtsfrage ist nicht schon klärungsbedürftig, wenn sie noch nicht Gegenstand einer höchstrichterlichen oder obergerichtlichen Entscheidung war. Nur wenn ihre Klärung gerade eine solche Entscheidung verlangt, muss ein Rechtsmittelverfahren in der Hauptsache durchgeführt werden. Um dies darzulegen, muss der Kläger aufzeigen, dass die Frage nicht schon anhand der üblichen Auslegungsregeln unter Berücksichtigung der bisherigen Rechtsprechung aus dem Gesetz zu beantworten ist.
50Vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 6. Juni 2018 ‑ 2 BvR 350/18 ‑, juris, Rn. 17 m. w. N.; BVerwG, Beschlüsse vom 13. Mai 2020 - 8 B 69.19 ‑, juris, Rn. 5, und vom 18. Januar 2017 - 8 B 16.16 ‑, LKV 2017, 126, juris, Rn. 20.
51Nach diesen Maßstäben ist ein Berufungsverfahren hinsichtlich der von der Klägerin aufgeworfenen Fragen nicht erforderlich.
521. Mit der Frage nach dem Bedarf einer persönlichen Abstimmung zwischen dem Beurteiler des verlängerten Vorbereitungsdienstes und dem Beurteiler eines früheren Ausbildungsabschnitts über die Beurteilungsmaßstäbe und deren Anwendung ist keine grundsätzliche Klärungsbedürftigkeit aufgezeigt. In der Rechtsprechung des beschließenden Senats ist geklärt, dass die OVP NRW verlangt, dass bei Langzeitbeurteilungen der Schulen die erste (fremde) Langzeitbeurteilung mitberücksichtigt werden muss, sofern der Lehramtsanwärter den Verlängerungszeitraum an einer anderen Ausbildungsschule absolviert.
53OVG NRW, Urteil vom 20. Dezember 2017, a. a. O., Rn. 80.
54Dies findet in der aktuellen Fassung von § 16 Abs. 3 Sätze 1 und 2 OVP NRW ausdrücklichen Niederschlag. Danach werden Langzeitbeurteilungen der Schulen durch die Schulleiterinnen oder Schulleiter auf der Grundlage von eigenen Beobachtungen und der Beurteilungsbeiträge der Ausbildungslehrerinnen und Ausbildungslehrer der jeweiligen Schule erstellt. Gegebenenfalls bereits vorliegende Langzeitbeurteilungen sind ebenfalls als Beurteilungsgrundlage zu berücksichtigen. Das Verhältnis der Langzeitbeurteilungen ist ebenfalls geklärt. Stehen die Noten der ersten Langzeitbeurteilungen fest, scheidet eine nochmalige Bewertung derselben Ausbildungsleistungen in den Langzeitbeurteilungen für die Wiederholungsprüfung aus. Diese Langzeitbeurteilungen dienen nicht der Überprüfung der vorangegangenen Bewertungen, sondern bauen inhaltlich und zeitlich auf den vorangegangenen Langzeitbeurteilungen auf. Dies kann insbesondere dadurch geschehen, dass darin enthaltene Feststellungen und Wertungen zu Kompetenzen und Standards aufgegriffen und mit dem im Beurteilungszeitpunkt erreichten Leistungsstand verglichen und fortgeschrieben werden können. Der Ersteller der zweiten Langzeitbeurteilung beurteilt den gesamten Verlauf und Erfolg des Vorbereitungsdienstes anknüpfend an die in der ersten Langzeitbeurteilung getroffene Gesamtbewertung, erläutert durch die jeweiligen Einzelfeststellungen und Noten. Kernpunkt seiner Beurteilung sind jedoch die Beurteilungsbeiträge aus dem Verlängerungszeitraum und – für die Langzeitbeurteilung der Schule – die in diesen sechs Monaten gemachten eigenen Beobachtungen des Schulleiters, die er in Beziehung zu der Bewertung der ersten 18 Monate zu setzen hat.
55OVG NRW, Urteil vom 20. Dezember 2017, a. a. O., Rn. 80.
56Nach diesen Grundsätzen liegt ohne Weiteres auf der Hand, dass beim Beurteiler der abschließenden, gegen Ende des Verlängerungszeitraums zu erstellenden Langzeitbeurteilung etwaig auftretende Unklarheiten und Ungewissheiten über die Beurteilungsmaßstäbe und deren Anwendung in der früheren Langzeitbeurteilung nicht ohne Rücksprache hingenommen und ausgeblendet werden dürfen, sofern sich dies auf beurteilungswesentliche Gesichtspunkte bezieht. Dieses Erfordernis einer klärenden Rücksprache entspricht der obergerichtlichen Rechtsprechung zu dienstlichen Beurteilungen im Verhältnis zu Beurteilungsbeiträgen und ist, auch wenn Langzeitbeurteilungen keine dienstlichen Beurteilungen sind,
57vgl. OVG NRW, Urteil vom 20. Dezember 2017, a. a. O., Rn. 60,
58auf die hier aufgeworfene Konstellation zu übertragen.
59Vgl. OVG NRW, Urteil vom 7. Juni 2017 - 1 A 2303/16 ‑, DVBl 2017, 1185, juris, Rn. 43, 47.
60Dabei ist zu berücksichtigen, dass Bewertungsmaßstäbe der Langzeitbeurteilung die in Anlage 1 zur OVP NRW benannten Standards sind (vgl. § 16 Abs. 1 OVP NRW), insoweit mithin die Vergleichbarkeit von Beurteilungen eher gegeben ist als bei freitextlichen Beurteilungswerken ohne einen derartigen überindividuell vorgegebenen Bewertungsmaßstab. Entscheidend ist, dass der Schulleiter in materieller Hinsicht in der Lage ist, eine sachgerechte Leistungseinschätzung des Lehramtsanwärters über dessen gesamten Vorbereitungsdienst zu treffen. Die Kontaktaufnahme zu dem Ersteller einer früheren Langzeitbeurteilung kann hierfür geboten sein.
61Soweit die Klägerin mit ihrer Grundsatzfrage eine solche Abstimmungsnotwendigkeit zumindest für den Fall annimmt, dass der Beurteiler des zweiten Ausbildungsabschnitts beurteilungsrelevante Formulierungen in der ersten Langzeitbeurteilung als „schwammig“, also nicht eindeutig, bewertet, ist dies nach der Begründungsstruktur des angefochtenen Urteils nicht erheblich, denn das Verwaltungsgericht hat gerade nicht angenommen, dass die frühere Langzeitbeurteilung für den stellvertretenden Schulleiter in dieser Hinsicht mehrdeutig gewesen ist (siehe I.3).
622. Mit der Frage, ob ein Lehramtsanwärter seiner Substantiierungspflicht genügt, wenn er ein oder mehrere tatsächliche Geschehnisse bestreitet, die sich nach den Angaben in der Langzeitbeurteilung – ohne einen konkreten Zusammenhang oder ein konkretes Geschehnis zu benennen – tatsächlich ereignet haben sollen, ist keine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargetan. Die Frage geht an der Begründungsstruktur des angefochtenen Urteils vorbei und stellt sich daher in dieser Allgemeinheit nicht. Denn „ohne einen konkreten Zusammenhang oder ein konkretes Geschehnis zu benennen“ wurde die von der Klägerin bestrittene mangelnde Bewältigung von Unterrichtsstörungen gerade nicht thematisiert. Das Verwaltungsgericht hat vielmehr Beobachtungen des stellvertretenden Schulleiters zu den Ursachen der Störungen und deren Folgen berücksichtigt (siehe I.4.d). Diese nach den hier gegebenen und grundsätzlich maßgeblichen konkreten Umständen des Einzelfalls,
63vgl. OVG NRW, Beschluss vom 15. April 2020, a. a. O., Rn. 19,
64vorgenommene Würdigung des Verwaltungsgerichts, die sich in einer bloßen Behauptung des Gegenteils erschöpfende Rüge der Klägerin sei unsubstantiiert (S. 30 des Urteils), ist – wie ausgeführt – nicht zu beanstanden.
65Unabhängig davon ist in der Rechtsprechung des beschließenden Senats geklärt, welche Anforderungen – soweit dies überhaupt verallgemeinerungsfähig ist – an die Substantiierung von Rügen eines Lehramtsanwärters gegen Bewertungen in ihn betreffenden Langzeitbeurteilungen zu stellen sind.
66Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 15. April 2020, a. a. O., Rn. 17 ff. m. w. N.
67Darüber hinausgehenden Klärungsbedarf zeigt das Zulassungsvorbringen nicht auf.
68Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
69Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 40, § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG i. V. m. Nr. 36.2 des Streitwertkatalogs 2013 für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
70Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 66 Abs. 3 Satz 3, § 68 Abs. 1 Satz 5 GKG).
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert des Verfahrens wird auf 5.000 EUR festgesetzt.
Gründe
1
I. Der sinngemäß gestellte Antrag,
2
§ 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 der Niedersächsischen Verordnung über Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus SARS-CoV-2 (Niedersächsische Corona-Verordnung) vom 30. Oktober 2020 (Nds. GVBl. S. 368) vorläufig außer Vollzug zu setzen, soweit damit Kosmetikstudios und ähnliche Betriebe für den Publikumsverkehr und Besuche geschlossen sind,
3
bleibt ohne Erfolg. Der Antrag ist zulässig (1.), aber unbegründet (2.).
4
Diese Entscheidung, die nicht den prozessrechtlichen Vorgaben des § 47 Abs. 5 VwGO unterliegt (vgl. Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl. 2017, Rn. 607; Hoppe, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 47 Rn. 110 ff.), trifft der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 12.6.2009 - 1 MN 172/08 -, juris Rn. 4 m.w.N.) und gemäß § 76 Abs. 2 Satz 1 NJG ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richterinnen und Richter.
5
1. Der Antrag ist zulässig.
6
Der Normenkontrolleilantrag ist nach § 47 Abs. 6 in Verbindung mit Abs. 1 Nr. 2 VwGO und § 75 NJG statthaft. Die Niedersächsische Corona-Verordnung ist eine im Range unter dem Landesgesetz stehende Rechtsvorschrift im Sinne des § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO in Verbindung mit § 75 NJG (vgl. zu den insoweit bestehenden Anforderungen: Senatsbeschl. v. 31.1.2019 - 13 KN 510/18 -, NdsRpfl. 2019, 130 f. - juris Rn. 16 ff.).
7
Die Antragstellerin ist antragsbefugt im Sinne des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO, da sie geltend machen kann, in eigenen Rechten verletzt zu sein. Die in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Schließung von Kosmetikstudios und ähnlichen Betrieben für den Publikumsverkehr und Besuche ist an deren Betreiberinnen und Betreiber adressiert und lässt es möglich erscheinen, dass die Antragstellerin in ihrem Grundrecht der Berufsausübungsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG verletzt ist (vgl. zu dieser Qualifizierung des Eingriffs: Senatsbeschl. v. 16.4.2020 - 13 MN 77/20 -, juris Rn. 29). Eine darüberhinausgehende Verletzung des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb als einer nach Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Rechtsposition dürfte hingegen nicht vorliegen. Denn dieser Schutz erfasst nur den konkreten Bestand an Rechten und Gütern; die hier durch die verordnete Beschränkung betroffenen bloßen Umsatz- und Gewinnchancen werden hingegen auch unter dem Gesichtspunkt des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs nicht von der Eigentumsgarantie erfasst (vgl. BVerfG, Urt. v. 6.12.2016 - 1 BvR 2821/11 -, BVerfGE 143, 246, 331 f. - juris Rn. 240; Beschl. v. 26.6.2002 - 1 BvR 558/91 -, BVerfGE 105, 252, 278 - juris Rn. 79 m.w.N.).
8
Der Antrag ist zutreffend gegen das Land Niedersachsen als normerlassende Körperschaft im Sinne des § 47 Abs. 2 Satz 2 VwGO gerichtet. Das Land Niedersachsen wird durch das Niedersächsische Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung vertreten (vgl. Nr. II. des Gemeinsamen Runderlasses der Staatskanzlei und sämtlicher Ministerien, Vertretung des Landes Niedersachsen, v. 12.7.2012 (Nds. MBl. S. 578), zuletzt geändert am 15.9.2017 (Nds. MBl. S. 1288), in Verbindung mit Nr. 4.22 des Beschlusses der Landesregierung, Geschäftsverteilung der Niedersächsischen Landesregierung, v. 17.7.2012 (Nds. MBl. S. 610), zuletzt geändert am 18.11.2019 (Nds. MBl. S. 1618)).
9
2. Der Antrag ist aber unbegründet.
10
Nach § 47 Abs. 6 VwGO kann das Gericht in Normenkontrollverfahren auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist. Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind zunächst die Erfolgsaussichten eines Normenkontrollantrages im Hauptsacheverfahren, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen. Ergibt diese Prüfung, dass der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet sein wird, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht im Sinne von § 47 Abs. 6 VwGO zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Erweist sich dagegen, dass der Antrag voraussichtlich Erfolg haben wird, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache suspendiert werden muss. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist. Lassen sich die Erfolgsaussichten des Normenkontrollverfahrens nicht abschätzen, ist über den Erlass einer beantragten einstweiligen Anordnung im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden. Gegenüberzustellen sind im Rahmen der sog. "Doppelhypothese" die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Normenkontrollantrag aber Erfolg hätte, und die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Normenkontrollantrag aber erfolglos bliebe. Die für den Erlass der einstweiligen Anordnung sprechenden Gründe müssen die gegenläufigen Interessen deutlich überwiegen, mithin so schwer wiegen, dass der Erlass der einstweiligen Anordnung - trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache - dringend geboten ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 30.4.2019 - BVerwG 4 VR 3.19 -, juris Rn. 4 (zur Normenkontrolle eines Bebauungsplans); OVG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 22.10.2019 - 6 B 11533/19 -, juris Rn. 5 (zur Normenkontrolle einer Rechtsverordnung über die Freigabe eines verkaufsoffenen Sonntags); Sächsisches OVG, Beschl. v. 10.7.2019 - 4 B 170/19 -, juris Rn. 20 (zur Normenkontrolle einer Rechtsverordnung zur Bildung und Arbeit des Integrationsbeirats); Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 11.5.2018 - 12 MN 40/18 -, juris Rn. 24 ff. (zur Normenkontrolle gegen die Ausschlusswirkung im Flächennutzungsplan) jeweils m.w.N.).
11
Unter Anwendung dieser Grundsätze bleibt der Antrag auf vorläufige Außervollzugsetzung der in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordneten Schließung von Kosmetikstudios und ähnlichen Betrieben für den Publikumsverkehr und Besuche ohne Erfolg. Der Senat vermag den Erfolg des in der Hauptsache gestellten bzw. noch zu stellenden Normenkontrollantrags derzeit nicht verlässlich abzuschätzen (a.). Die danach gebotene Folgenabwägung führt nicht dazu, dass die von der Antragstellerin geltend gemachten Gründe für die einstweilige Außervollzugsetzung die für den weiteren Vollzug der Verordnung sprechenden Gründe überwiegen (b.).
12
a. Derzeit ist offen, ob § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 der Niedersächsischen Corona-Verordnung in einem Hauptsacheverfahren für unwirksam zu erklären ist. Der Senat geht zwar davon aus, dass diese Verordnungsregelung auf einer tragfähigen Rechtsgrundlage beruht (1) und formell rechtmäßig ist (2). Zweifel an der materiellen Rechtmäßigkeit (3) bestehen auch nicht mit Blick auf das "Ob" eines staatlichen Handelns (a) und die Notwendigkeit der infektionsschutzrechtlichen Maßnahme als solcher (b). Derzeit ist aber nicht verlässlich abzuschätzen, ob die Verordnungsregelung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG zu vereinbaren ist (c).
13
(1) Rechtsgrundlage für den Erlass der Verordnung ist § 32 Satz 1 und 2 in Verbindung mit § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz - IfSG -) vom 20. Juli 2000 (BGBl. I S. 1045), in der hier maßgeblichen zuletzt durch das Gesetz zur Umsetzung steuerlicher Hilfsmaßnahmen zur Bewältigung der Corona-Krise (Corona-Steuerhilfegesetz) vom 19. Juni 2020 (BGBl. I S. 1385) geänderten Fassung.
14
Eine Verfassungswidrigkeit dieser Rechtsgrundlagen, insbesondere mit Blick auf die Bestimmtheit der getroffenen Regelungen und deren Vereinbarkeit mit dem Vorbehalt des Gesetzes, ist für den Senat - ebenso wie offenbar für das Bundesverfassungsgericht in seiner bisherigen Spruchpraxis betreffend die Corona-Pandemie (vgl. bspw. BVerfG, Beschl. v. 15.7.2020 - 1 BvR 1630/20 -; v. 9.6.2020 - 1 BvR 1230/20 -; v. 28.4.2020 - 1 BvR 899/20 -, alle veröffentlicht in juris) - jedenfalls nicht offensichtlich (vgl. hierzu im Einzelnen: Bayerischer VerfGH, Entsch. v. 21.10.2020 - Vf. 26-VII-20 -, juris Rn. 17 ff.; OVG Bremen, Beschl. v. 9.4.2020 - 1 B 97/20 -, juris Rn. 24 ff.; Hessischer VGH, Beschl. v. 7.4.2020 - 8 B 892/20.N -, juris Rn. 34 ff.; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 26.10.2020 - 13 B 1581/20.NE -, juris Rn. 32 ff.; Beschl. v. 6.4. 2020 - 13 B 398/20.NE -, juris Rn. 36 ff.; Bayerischer VGH, Beschl. v. 30.3.2020 - 20 NE 20.632 -, juris Rn. 39 ff.; Beschl. v. 30.3.2020 - 20 CS 20.611 -, juris 17 f.; offengelassen: VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 9.4.2020 - 1 S 925/20 -, juris Rn. 37 ff.).
15
Der Vorbehalt des Gesetzes verlangt im Hinblick auf Rechtsstaatsprinzip und Demokratiegebot, dass der Gesetzgeber in grundlegenden normativen Bereichen alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen hat und nicht dem Handeln und der Entscheidungsmacht der Exekutive überlassen darf. Dabei betrifft die Normierungspflicht nicht nur die Frage, ob ein bestimmter Gegenstand überhaupt gesetzlich geregelt sein muss, sondern auch, wie weit diese Regelungen im Einzelnen zu gehen haben (sog. "Wesentlichkeitsdoktrin", BVerfG, Urt. v. 19.9.2018 - 2 BvF 1/15 u.a. -, juris Rn. 199). Inwieweit es einer Regelung durch den parlamentarischen Gesetzgeber bedarf, hängt vom jeweiligen Sachbereich und der Eigenart des betroffenen Regelungsgegenstands ab (vgl. BVerfG, Urt. v. 24.9.2003 - 2 BvR 1436/02 -, juris Rn. 67 f. m.w.N.). Auch Gesetze, die zu Rechtsverordnungen und Satzungen ermächtigen, können den Voraussetzungen des Gesetzesvorbehalts genügen, die wesentlichen Entscheidungen müssen aber durch den parlamentarischen Gesetzgeber selbst erfolgen. Das Erfordernis der hinreichenden Bestimmtheit der Ermächtigungsgrundlage bei Delegation einer Entscheidung auf den Verordnungsgeber aus Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG, wonach Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung im Gesetz bestimmt werden müssen, stellt insoweit eine notwendige Ergänzung und Konkretisierung des Gesetzesvorbehalts und des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung dar. Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG führt als eine Ausprägung des allgemeinen Gesetzesvorbehalts den staatlichen Eingriff durch die Exekutive nachvollziehbar auf eine parlamentarische Willensäußerung zurück. Eine Ermächtigung darf daher nicht so unbestimmt sein, dass nicht mehr vorausgesehen werden kann, in welchen Fällen und mit welcher Tendenz von ihr Gebrauch gemacht werden wird und welchen Inhalt die auf Grund der Ermächtigung erlassenen Verordnungen haben können (vgl. BVerfG, Urt. v. 19.9.2018 - 2 BvF 1/15 u.a. -, juris Rn. 198 ff. m.w.N.). Die Ermächtigungsnorm muss in ihrem Wortlaut nicht so genau wie irgend möglich gefasst sein; sie hat von Verfassungs wegen nur hinreichend bestimmt zu sein. Dazu genügt es, dass sich die gesetzlichen Vorgaben mit Hilfe allgemeiner Auslegungsregeln erschließen lassen, insbesondere aus dem Zweck, dem Sinnzusammenhang und der Entstehungsgeschichte der Norm. Welche Anforderungen an das Maß der erforderlichen Bestimmtheit im Einzelnen zu stellen sind, lässt sich daher nicht allgemein festlegen. Zum einen kommt es auf die Intensität der Auswirkungen der Regelung für die Betroffenen an. Je schwerwiegender die grundrechtsrelevanten Auswirkungen für die von einer Rechtsverordnung potentiell Betroffenen sind, desto strengere Anforderungen gelten für das Maß der Bestimmtheit sowie für Inhalt und Zweck der erteilten Ermächtigung. Zum anderen hängen die Anforderungen an Inhalt, Zweck und Ausmaß der gesetzlichen Determinierung von der Eigenart des zu regelnden Sachverhalts ab, insbesondere davon, in welchem Umfang der zu regelnde Sachbereich einer genaueren begrifflichen Umschreibung überhaupt zugänglich ist. Dies kann es auch rechtfertigen, die nähere Ausgestaltung des zu regelnden Sachbereichs dem Verordnungsgeber zu überlassen, der die Regelungen rascher und einfacher auf dem neuesten Stand zu halten vermag als der Gesetzgeber (vgl. BVerfG, Beschl. v. 21.9.2016 - 2 BvL 1/15 -, juris Rn. 54 ff. m.w.N.).
16
Nach der im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen und auch nur gebotenen summarischen Prüfung ist für den Senat nicht offensichtlich, dass einerseits § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG und andererseits § 32 Satz 1 und 2 IfSG diesen Anforderungen nicht genügen könnten.
17
Mit § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG hat der Bundesgesetzgeber bewusst eine offene Generalklausel geschaffen (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.3.2012 - BVerwG 3 C 16.11 -, BVerwGE 142, 205, 213 - juris Rn. 26 unter Hinweis auf den Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Seuchengesetzes, BT-Drs. 8/2468, S. 27 f.), ohne aber den zuständigen Infektionsschutzbehörden eine unzulässige Globalermächtigung zu erteilen. Der Bundesgesetzgeber hat für den fraglos eingriffsintensiven Bereich infektionsschutzrechtlichen staatlichen Handelns selbst bestimmt, dass die zuständigen Behörden nur dann, wenn Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt werden oder sich ergibt, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, "die notwendigen Schutzmaßnahmen" treffen dürfen, und zwar insbesondere die in den §§ 29 bis 31 IfSG genannten, dies aber auch nur "soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist". Der Begriff der "Schutzmaßnahmen" ist dabei umfassend angelegt, um den Infektionsschutzbehörden insbesondere bei einem dynamischen, zügiges Eingreifen erfordernden Infektionsgeschehen ein möglichst breites Spektrum geeigneter Maßnahmen an die Hand zu geben (vgl. Senatsbeschl. v. 29.5.2020 - 13 MN 185/20 -, juris Rn. 27; OVG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 2.4.2020 - 3 MB 8/20 -, juris Rn. 35). Zugleich ist der Begriff der "Schutzmaßnahmen" nach Inhalt und Zweck der Rechtsgrundlage mit Hilfe allgemeiner Auslegungsregeln hinreichend zu begrenzen. Danach umfasst er auch Untersagungen oder Beschränkungen von unternehmerischen Tätigkeiten in den Bereichen Industrie, Gewerbe, Handel und Dienstleistungen (vgl. Senatsbeschl. v. 14.5.2020 - 13 MN 165/20 -, juris Rn. 38 (Untersagung der Erbringung von Dienstleistungen in Kosmetikstudios); Senatsbeschl. v. 14.5.2020 - 13 MN 156/20 -, juris Rn. 28 (Schließung von Fitness-Studios); VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 13.5.2020 - 1 S 1281/20 -, juris Rn. 17; Senatsbeschl. v. 5.5.2020 - 13 MN 124/20 -, juris Rn. 31 (jeweils zum Verbot des Präsenzbetriebs von Nachhilfeeinrichtungen); VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 7.5.2020 - 1 S 1244/20 -, juris Rn. 16 (Untersagung des Betriebs von Spielhallen); OVG Bremen, Beschl. v. 7.5.2020 - 1 B 129/20 -, juris Rn. 20; Senatsbeschl. v. 29.4.2020 - 13 MN 120/20 -, juris Rn. 33 (jeweils zur Beschränkung der Verkaufsfläche von Einzelhandelsgeschäften); Senatsbeschl. v. 24.4.2020 - 13 MN 104/20 -, juris Rn. 30 (Schließung von Zoos und Tierparks); Senatsbeschl. v. 16.4.2020 - 13 MN 67/20 -, juris Rn. 43 (Verbot des Verkaufs von Blumen und anderen Pflanzen auf Wochenmärkten); Senatsbeschl. v. 14.4.2020 - 13 MN 63/20 -, juris Rn. 53 (Schließung von Autowaschanlagen); Bayerischer VGH, Beschl. v. 30.3.2020 - 20 CS 20.611 -, juris Rn. 11 ff. (Schließung von Einzelhandelsgeschäften)). Darüber hinaus sind dem behördlichen Einschreiten durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Grenzen gesetzt (vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 9.4.2020 - 1 B 97/20 -, juris Rn. 30). Dass diese durch Auslegung bestimmten Grenzen nicht vom Willen des Bundesgesetzgebers gedeckt wären, vermag der Senat nicht zu erkennen. Vielmehr hat der Bundesgesetzgeber mit dem Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 27. März 2020 (BGBl. I S. 587) den Satz 1 des § 28 Abs. 1 IfSG um den zweiten Halbsatz "sie kann insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten" ergänzt und gleichzeitig den bis dahin geltenden Satz 2 Halbsatz 2 gestrichen. Unabhängig von der Frage, ob es sich bei dieser Änderung um eine bloße Anpassung aus Gründen der Normenklarheit handelt, besteht für den Senat kein vernünftiger Zweifel, dass damit der Gesetzgeber selbst hinreichend bestimmt zum Ausdruck gebracht hat, dass über punktuell wirkende Maßnahmen hinaus allgemeine oder gleichsam flächendeckende Verbote erlassen werden können. Dafür spricht nicht nur der Wortlaut von § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 IfSG. Auch der Umstand, dass es sich bei der Gesetzesänderung um eine Reaktion auf das aktuelle Bedürfnis zum Erlass von landesweit geltenden Schutzmaßnahmen handelt, trägt dieses Auslegungsergebnis, zumal der Gesetzgeber in Kenntnis der bereits erlassenen Länderverordnungen bei gleichzeitig bestehender Kritik an der ursprünglichen Gesetzesfassung gehandelt hat (so ausdrücklich OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 6.4.2020 - 13 B 398/20.NE -, juris Rn. 52 m.w.N.). Eine weitergehende Konkretisierung der Eingriffsgrundlagen erscheint angesichts der Besonderheiten des Infektionsschutzrechts, die bei Eintritt eines Pandemiegeschehens kurzfristige Reaktionen des Verordnungsgebers auf sich ändernde Gefährdungslagen erforderlich machen können, verfassungsrechtlich nicht geboten.
18
Genügt danach § 28 Abs. 1 IfSG den an eine gesetzliche Rechtsgrundlage für staatliche Eingriffe zu stellenden verfassungsrechtlichen Anforderungen an Inhalt, Zweck und Ausmaß, gilt dies auch für die Verordnungsermächtigung in § 32 Satz 1 und 2 IfSG. Denn diese Verordnungsermächtigung knüpft hinsichtlich der materiellen Voraussetzungen auch an § 28 Abs. 1 IfSG an und ermächtigt die Landesregierungen bzw. von ihr befugte Stellen nur dazu, "unter den Voraussetzungen, die für Maßnahmen nach den §§ 28 bis 31 maßgebend sind, auch durch Rechtsverordnungen entsprechende Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zu erlassen". Der Gesetzgeber gibt also nicht verordnungstypisch einen Regelungsbereich in bestimmten Grenzen aus der Hand, um diesen der Exekutive zur eigenverantwortlichen abstrakten Ausfüllung zu übertragen. Die Verordnungsermächtigung nach § 32 Satz 1 und 2 IfSG stellt lediglich ein anderes technisches Instrument zur Verfügung, um konkret notwendige Schutzmaßnahmen im Sinne des § 28 Abs. 1 IfSG zu erlassen und insbesondere bei flächendeckenden Infektionsgeschehen nicht auf Einzel- oder Allgemeinverfügungen angewiesen zu sein, denen aber durchaus eine vergleichbare flächenhafte Wirkung zukommen kann.
19
(2) Anhaltspunkte für eine formelle Rechtswidrigkeit der Niedersächsischen Corona-Verordnung vom 30. Oktober 2020 bestehen derzeit nicht.
20
Anstelle der nach § 32 Satz 1 IfSG ermächtigten Landesregierung war aufgrund der nach § 32 Satz 2 IfSG gestatteten und durch § 3 Nr. 1 der Verordnung zur Übertragung von Ermächtigungen aufgrund bundesgesetzlicher Vorschriften (Subdelegationsverordnung) vom 9. Dezember 2011 (Nds. GVBl. S. 487), zuletzt geändert durch Verordnung vom 4. August 2020 (Nds. GVBl. S. 266), betätigten Subdelegation das Niedersächsische Ministerium für Gesundheit, Soziales und Gleichstellung zum Erlass der Verordnung zuständig.
21
Gemäß Art. 45 Abs. 1 Satz 2 NV ist die Verordnung von der das Ministerium vertretenden Ministerin ausgefertigt und im Niedersächsischen Gesetz- und Verordnungsblatt vom 30. Oktober 2020 (Nds. GVBl. S. 368) verkündet worden.
22
§ 20 Abs. 1 der Niedersächsischen Corona-Verordnung bestimmt, wie von Art. 45 Abs. 3 Satz 1 NV gefordert, den Tag des Inkrafttretens.
23
Auch dem Zitiergebot des Art. 43 Abs. 2 Satz 1 NV (vgl. zu den insoweit bestehenden Anforderungen: BVerfG, Urt. v. 6.7.1999 - 2 BvF 3/90 -, BVerfGE 101, 1 - juris Rn. 152 ff. (zu Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG); Steinbach, in: Epping/Butzer u.a., Hannoverscher Kommentar zur Niedersächsischen Verfassung, 2012, Art. 43 Rn. 20 m.w.N.) dürfte die Verordnung genügen.
24
Etwaige Verstöße des Antragsgegners gegen die Unterrichtungspflicht nach Art. 25 NV beeinflussen die Rechtmäßigkeit der Verordnung nicht (vgl. Niedersächsischer StGH, Beschl. v. 9.9.2020 - StGH 1/20 -, juris Rn. 9).
25
(3) Die in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Schließung von Kosmetikstudios und ähnlichen Betrieben für den Publikumsverkehr und Besuche ist auch mit Blick auf das "Ob" eines staatlichen Handelns (a) und die Notwendigkeit der infektionsschutzrechtlichen Maßnahme als solcher (b) nicht zu beanstanden.
26
(a) Die Voraussetzungen des § 32 Satz 1 in Verbindung mit § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG sind mit Blick auf das "Ob" eines staatlichen Handelns gegeben.
27
Nach § 32 Satz 1 IfSG dürfen unter den Voraussetzungen, die für Maßnahmen nach den §§ 28 bis 31 IfSG maßgebend sind, auch durch Rechtsverordnung entsprechende Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten erlassen werden. Die tatbestandlichen Voraussetzungen der Rechtsgrundlage des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG sind erfüllt.
28
Werden Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt oder ergibt sich, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, so trifft die zuständige Behörde nach § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in den §§ 29 bis 31 IfSG genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist; sie kann insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten.
29
Es wurden zahlreiche Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider (vgl. die Begriffsbestimmungen in § 2 Nrn. 3 ff. IfSG) im Sinne des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG festgestellt. Die weltweite Ausbreitung von COVID-19, die offizielle Bezeichnung der durch den neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 (Severe acute respiratory syndrome coronavirus type 2) als Krankheitserreger ausgelösten Erkrankung, wurde am 11. März 2020 von der WHO zu einer Pandemie erklärt. Weltweit sind derzeit mehr 50.000.000 Menschen mit dem Krankheitserreger infiziert und mehr als 1.250.000 Menschen im Zusammenhang mit der Erkrankung verstorben (vgl. WHO, Coronavirus disease (COVID-19) Pandemic, veröffentlicht unter: www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019, Stand: 9.11.2020). Derzeit sind im Bundesgebiet mehr als 670.000 Menschen infiziert und mehr als 13.300 Menschen im Zusammenhang mit der Erkrankung verstorben und in Niedersachsen mehr als 46.300 Menschen infiziert und mehr als 820 Menschen infolge der Erkrankung verstorben (vgl. Robert Koch-Institut (RKI), COVID-19: Fallzahlen in Deutschland und weltweit, veröffentlicht unter: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Fallzahlen.html, Stand: 9.11.2020). Es handelt sich weltweit und in Deutschland um eine sehr dynamische und ernst zu nehmende Situation. Weltweit nimmt die Anzahl der Fälle rasant zu. Nach einer vorübergehenden Stabilisierung der Fallzahlen auf einem erhöhten Niveau ist aktuell ein starker Anstieg der Übertragungen auch in der Bevölkerung in Deutschland zu beobachten. Es kommt bundesweit zu Ausbruchsgeschehen. Der Anstieg wird durch Ausbrüche, insbesondere im Zusammenhang mit privaten Treffen und Feiern sowie bei Gruppenveranstaltungen, verursacht. Bei einem zunehmenden Anteil der Fälle ist aber die Infektionsquelle unbekannt. Es werden wieder vermehrt COVID-19-bedingte Ausbrüche in Alten- und Pflegeheimen gemeldet und die Zahl der Patienten, die auf einer Intensivstation behandelt werden müssen, hat sich in den letzten zwei Wochen mehr als verdoppelt (vgl. RKI, Risikobewertung zu COVID-19, veröffentlicht unter: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html, Stand: 26.10.2020). Diese Gefährdungseinschätzung des RKI als nationaler Behörde nach § 4 Abs. 1 IfSG wird nach dem Dafürhalten des Senats durch vereinzelt geäußerte Zweifel an der Zuverlässigkeit der zum Nachweis von SARS-CoV-2 verwendeten sog. PCR-Tests nicht erschüttert (vgl. hierzu Bayerischer VGH, Beschl. v. 8.9.2020 - 20 NE 20.2001 -, juris Rn. 28).
30
COVID-19 ist eine übertragbare Krankheit im Sinne des § 2 Nr. 3 IfSG. Die Erkrankung manifestiert sich als Infektion der Atemwege, aber auch anderer Organsysteme mit den Symptomen Husten, Fieber, Schnupfen sowie Geruchs- und Geschmacksverlust. Der Krankheitsverlauf variiert in Symptomatik und Schwere. Es wird angenommen, dass etwa 81% der diagnostizierten Personen einen milden, etwa 14% einen schwereren und etwa 5% einen kritischen Krankheitsverlauf zeigen. Obwohl schwere Verläufe auch bei Personen ohne Vorerkrankung auftreten und auch bei jüngeren Patienten beobachtet wurden, haben ältere Personen (mit stetig steigendem Risiko für einen schweren Verlauf ab etwa 50 bis 60 Jahren), Männer, Raucher (bei schwacher Evidenz), stark adipöse Menschen, Personen mit bestimmten Vorerkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems (z.B. koronare Herzerkrankung und Bluthochdruck) und der Lunge (z.B. COPD) sowie Patienten mit chronischen Nieren- und Lebererkrankungen, mit Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit), mit einer Krebserkrankung oder mit geschwächtem Immunsystem (z.B. aufgrund einer Erkrankung, die mit einer Immunschwäche einhergeht oder durch Einnahme von Medikamenten, die die Immunabwehr schwächen, wie z.B. Cortison) ein erhöhtes Risiko für schwere Verläufe. Die Erkrankung ist sehr infektiös, und zwar nach Schätzungen beginnend etwa ein bis zwei Tage vor Symptombeginn und endend - bei mild-moderaten Erkrankungen - jedenfalls zehn Tage nach Symptombeginn. Die Übertragung erfolgt hauptsächlich durch die respiratorische Aufnahme virushaltiger Partikel (größere Tröpfchen und kleinere Aerosole), die beim Atmen, Husten, Sprechen und Niesen entstehen. Auch eine Übertragung durch kontaminierte Oberflächen kann nicht ausgeschlossen werden. Es ist zwar offen, wie viele Menschen sich insgesamt in Deutschland mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 infizieren werden. Schätzungen gehen aber von bis zu 70% der Bevölkerung aus, es ist lediglich unklar, über welchen Zeitraum dies geschehen wird. Grundlage dieser Schätzungen ist die so genannte Basisreproduktionszahl von COVID-19. Sie beträgt ohne die Ergreifung von Maßnahmen 3,3 bis 3,8. Dieser Wert kann so interpretiert werden, dass bei einer Basisreproduktionszahl von etwa 3 ungefähr zwei Drittel aller Übertragungen verhindert werden müssen, um die Epidemie unter Kontrolle zu bringen. Die Inkubationszeit beträgt im Mittel fünf bis sechs Tage bei einer Spannweite von einem bis zu 14 Tagen. Der Anteil der Infizierten, der auch tatsächlich erkrankt (Manifestationsindex), beträgt bis zu 85%. Laut der Daten aus dem deutschen Meldesystem werden etwa 14% der in Deutschland dem RKI übermittelten Fälle hospitalisiert. Unter hospitalisierten COVID-19-Patienten mit einer schweren akuten Atemwegserkrankung mussten 37% intensivmedizinisch behandelt und 17% beatmet werden. Die mediane Hospitalisierungsdauer von COVID-19-Patienten mit einer akuten respiratorischen Erkrankung beträgt 10 Tage und von COVID-19-Patienten mit einer Intensivbehandlung 16 Tage. Zur Aufnahme auf die Intensivstation führt im Regelfall Dyspnoe mit erhöhter Atemfrequenz (> 30/min), dabei steht eine Hypoxämie im Vordergrund. Mögliche Verlaufsformen sind die Entwicklung eines akuten Lungenversagens (Acute Respiratory Distress Syndrome - ARDS) sowie, bisher eher seltener, eine bakterielle Koinfektion mit septischem Schock. Weitere beschriebene Komplikationen sind zudem Rhythmusstörungen, eine myokardiale Schädigung sowie das Auftreten eines akuten Nierenversagens (vgl. zum Krankheitsbild im Einzelnen mit weiteren Nachweisen: Kluge/Janssens/Welte/Weber-Carstens/Marx/Karagiannidis, Empfehlungen zur intensivmedizinischen Therapie von Patienten mit COVID-19, in: Medizinische Klinik - Intensivmedizin und Notfallmedizin v. 12.3.2020, veröffentlicht unter: https://link.springer.com/content/pdf/10.1007/s00063-020-00674-3.pdf, Stand: 30.3.2020). Eine Impfung ist in Deutschland nicht verfügbar. Verschiedene spezifische Therapieansätze (direkt antiviral wirksam, immunmodulatorisch wirksam) wurden und werden im Verlauf der Pandemie in Studien untersucht. Zwei Arzneimittel erwiesen sich jeweils in einer bestimmten Gruppe von Patienten mit COVID-19 als wirksam. Als direkt antiviral wirksames Arzneimittel erhielt Remdesivir am 3. Juli 2020 eine bedingte Zulassung zur Anwendung bei schwer erkrankten Patienten durch die Europäische Kommission. Als immunmodulatorisch wirksames Arzneimittel erhielt Dexamethason eine positive Bewertung durch die Europäische Kommission für die Anwendung bei bestimmten Patientengruppen mit einer Infektion durch SARS-CoV-2. Aufgrund der Neuartigkeit des Krankheitsbildes lassen sich keine zuverlässigen Aussagen zu Langzeitauswirkungen und (irreversiblen) Folgeschäden durch die Erkrankung bzw. ihre Behandlung (z.B. in Folge einer Langzeitbeatmung) treffen. Allerdings deuten Studiendaten darauf hin, dass an COVID-19 Erkrankte auch Wochen bzw. Monate nach der akuten Erkrankung noch Symptome aufweisen können.
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Während der Fall-Verstorbenen-Anteil bei Erkrankten bis etwa 50 Jahren unter 0,1% liegt, steigt er ab 50 zunehmend an und liegt bei Personen über 80 Jahren häufig über 10% (vgl. zu Vorstehendem im Einzelnen und mit weiteren Nachweisen: RKI, SARS-CoV-2 Steckbrief zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19), veröffentlicht unter: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html?nn=13490888, Stand: 2.10.2020; Antworten auf häufig gestellte Fragen zum Coronavirus SARS-CoV-2, veröffentlicht unter: www.rki.de/SharedDocs/FAQ/NCOV2019/gesamt.html, Stand: 6.10.2020).
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Auch wenn nach diesen Erkenntnissen nur ein kleiner Teil der Erkrankungen schwer verläuft, kann das individuelle Risiko anhand der epidemiologischen und statistischen Daten nicht abgeleitet werden. So kann es auch ohne bekannte Vorerkrankungen und bei jungen Menschen zu schweren bis hin zu lebensbedrohlichen Krankheitsverläufen kommen. Langzeitfolgen, auch nach leichten Verläufen, sind derzeit noch nicht abschätzbar. Die Belastung des Gesundheitssystems hängt maßgeblich von der regionalen Verbreitung der Infektion, den hauptsächlich betroffenen Bevölkerungsgruppen, den vorhandenen Kapazitäten und den eingeleiteten Gegenmaßnahmen ab. Sie kann örtlich sehr schnell zunehmen und dann insbesondere das öffentliche Gesundheitswesen, aber auch die Einrichtungen für die ambulante und stationäre medizinische Versorgung stark belasten. Deshalb bleiben intensive gesamtgesellschaftliche Gegenmaßnahmen nötig, um die Folgen der COVID-19-Pandemie für Deutschland zu minimieren. Diese Maßnahmen verfolgen weiterhin das Ziel, die Infektionen in Deutschland so früh wie möglich zu erkennen und die weitere Ausbreitung des Virus einzudämmen. Hierdurch soll die Zeit für die Entwicklung von antiviralen Medikamenten und von Impfstoffen gewonnen werden. Auch sollen Belastungsspitzen im Gesundheitswesen vermieden werden (vgl. hierzu im Einzelnen und mit weiteren Nachweisen: RKI, Risikobewertung zu COVID-19, veröffentlicht unter: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html, Stand: 26.10.2020).
33
Die danach vorliegenden tatbestandlichen Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG verpflichten die zuständigen Behörden zum Handeln (gebundene Entscheidung, vgl. BVerwG, Urt. v. 22.3.2012 - BVerwG 3 C 16.11 -, BVerwGE 142, 205, 212 - juris Rn. 23).
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Zugleich steht damit fest, dass die Maßnahmen nicht auf die Rechtsgrundlage des § 16 Abs. 1 IfSG gestützt werden können. Denn die Rechtsgrundlagen einerseits des § 16 Abs. 1 IfSG im Vierten Abschnitt des Infektionsschutzgesetzes "Verhütung übertragbarer Krankheiten" und andererseits des § 28 Abs. 1 IfSG im Fünften Abschnitt des Infektionsschutzgesetzes "Bekämpfung übertragbarer Krankheiten" stehen in einem Exklusivitätsverhältnis zueinander; der Anwendungsbereich des § 16 Abs. 1 IfSG ist nur eröffnet, solange eine übertragbare Krankheit noch nicht aufgetreten ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.12.1971 - BVerwG I C 60.67 -, BVerwGE 39, 190, 192 f. - juris Rn. 28 (zu §§ 10 Abs. 1, 34 Abs. 1 BSeuchG a.F.); Senatsurt. v. 3.2.2011 - 13 LC 198/08 -, juris Rn. 40).
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(b) Nach summarischer Prüfung ist die in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Schließung von Kosmetikstudios und ähnlichen Betrieben für den Publikumsverkehr und Besuche auch eine notwendige Schutzmaßnahme im Sinne des § 28 Abs. 1 IfSG.
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(aa) Dies gilt zunächst für den durch die Regelung betroffenen Adressatenkreis. Wird ein Kranker, Krankheitsverdächtiger, Ansteckungsverdächtiger oder Ausscheider festgestellt, begrenzt § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG den Handlungsrahmen der Behörde nicht dahin, dass allein Schutzmaßnahmen gegenüber der festgestellten Person in Betracht kommen. Die Vorschrift ermöglicht Regelungen gegenüber einzelnen wie mehreren Personen. Vorrangige Adressaten sind zwar die in § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG benannten Personengruppen. Bei ihnen steht fest oder besteht der Verdacht, dass sie Träger von Krankheitserregern sind, die bei Menschen eine Infektion oder eine übertragbare Krankheit im Sinne von § 2 Nr. 1 bis Nr. 3 IfSG verursachen können. Wegen der von ihnen ausgehenden Gefahr, eine übertragbare Krankheit weiterzuverbreiten, sind sie schon nach den allgemeinen Grundsätzen des Gefahrenabwehr- und Polizeirechts als "Störer" anzusehen. Nach § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG können aber auch (sonstige) Dritte ("Nichtstörer") Adressat von Maßnahmen sein, beispielsweise um sie vor Ansteckung zu schützen (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.3.2012 - BVerwG 3 C 16.11 -, BVerwGE 142, 205, 212 f. - juris Rn. 25 f.; OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 3.4.2020 - OVG 11 S 14/20 -, juris Rn. 8 f.).
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Aus infektionsschutzrechtlicher Sicht maßgeblich ist insoweit allein der Bezug der durch die konkrete Maßnahme in Anspruch genommenen Person zur Infektionsgefahr. Dabei gilt für die Gefahrenwahrscheinlichkeit kein strikter, alle möglichen Fälle gleichermaßen erfassender Maßstab. Vielmehr ist der im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht geltende Grundsatz heranzuziehen, dass an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Dafür sprechen das Ziel des Infektionsschutzgesetzes, eine effektive Gefahrenabwehr zu ermöglichen (§§ 1 Abs. 1, 28 Abs. 1 IfSG), sowie der Umstand, dass die betroffenen Krankheiten nach ihrem Ansteckungsrisiko und ihren Auswirkungen auf die Gesundheit des Menschen unterschiedlich gefährlich sind. Im Falle eines hochansteckenden Krankheitserregers, der bei einer Infektion mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer tödlich verlaufenden Erkrankung führen würde, drängt sich angesichts der schwerwiegenden Folgen auf, dass die vergleichsweise geringe Wahrscheinlichkeit eines infektionsrelevanten Kontakts genügt (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.3.2012 - BVerwG 3 C 16.11 -, BVerwGE 142, 205, 216 - juris Rn. 32). Nach der Risikobewertung des gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Nr. 1 IfSG hierzu berufenen Robert Koch-Instituts im täglichen "Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19)" vom 9. November 2020 (veröffentlicht unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Gesamt.html?nn=13490888) besteht weltweit und in Deutschland eine sehr dynamische und ernst zu nehmende Situation. Weltweit und in angrenzenden Ländern Europas nimmt die Anzahl der Fälle rasant zu. Aufgrund dieser Bewertung besteht für die hier zu beurteilenden Betreiberinnen und Betreiber von Kosmetikstudios und ähnlichen Betrieben, in denen sich Dienstleister, Kunden und Gäste unmittelbar persönlich begegnen und die auch deshalb eine das allgemeine Infektionsrisiko erhöhende Gefahrenlage herbeiführen, ein hinreichend konkreter Bezug zu einer Infektionsgefahr.
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(bb) Auch Art und Umfang der vom Antragsgegner konkret gewählten Schutzmaßnahme sind nicht ersichtlich ermessensfehlerhaft.
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"Schutzmaßnahmen" im Sinne des § 28 Abs. 1 IfSG können, wie dargestellt, auch Untersagungen oder Beschränkungen von unternehmerischen Tätigkeiten in den Bereichen Industrie, Gewerbe, Handel und Dienstleistungen sein (vgl. mit zahlreichen Beispielen und weiteren Nachweisen: Senatsbeschl. v. 29.5.2020 - 13 MN 185/20 -, juris Rn. 27), wie sie in § 10 Abs. 1 und 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung getroffen worden sind.
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Dem steht nicht entgegen, dass § 31 IfSG eine Regelung für die Untersagung beruflicher Tätigkeiten gegenüber Kranken, Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen, Ausscheidern und sonstigen Personen trifft. Denn diese Regelung ist gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG ("insbesondere die in den §§ 29 bis 31 genannten") nicht abschließend. Auch die mangelnde Erwähnung der Grundrechte nach Art. 12 Abs. 1 und 14 Abs. 1 GG in § 28 Abs. 1 Satz 4 IfSG steht der dargestellten Auslegung nicht entgegen. Denn das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG, welches § 28 Abs. 1 Satz 4 IfSG zu erfüllen sucht, besteht nur, soweit im Sinne des Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG "ein Grundrecht durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann". Von derartigen Grundrechtseinschränkungen sind andersartige grundrechtsrelevante Regelungen zu unterscheiden, die der Gesetzgeber in Ausführung der ihm obliegenden, im Grundrecht vorgesehenen Regelungsaufträge, Inhaltsbestimmungen oder Schrankenziehungen vornimmt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 26.5.1970 - 1 BvR 657/68 -, BVerfGE 28, 282, 289 - juris Rn. 26 ff. (zu Art. 5 Abs. 2 GG); Beschl. v. 12.1.1967 - 1 BvR 168/64 -, BVerfGE 21, 92, 93 - juris Rn. 4 (zu Art. 14 GG); Urt. v. 29.7.1959 - 1 BvR 394/58 -, BVerfGE 10, 89, 99 - juris Rn. 41 (zu Art. 2 Abs. 1 GG)). Hierzu zählen auch die Grundrechte der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG, der Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG und des Eigentumsschutzes nach Art. 14 Abs. 1 GG.
41
Der weite Kreis möglicher Schutzmaßnahmen wird durch § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG aber dahin begrenzt, dass die Schutzmaßnahme im konkreten Einzelfall "notwendig" sein muss. Der Staat darf mithin nicht alle Maßnahmen und auch nicht solche Maßnahmen anordnen, die von Einzelnen in Wahrnehmung ihrer Verantwortung gegenüber sich selbst und Dritten bloß als nützlich angesehen werden. Vielmehr dürfen staatliche Behörden nur solche Maßnahmen verbindlich anordnen, die zur Erreichung infektionsschutzrechtlich legitimer Ziele objektiv notwendig sind (vgl. Senatsbeschl. v. 26.5.2020 - 13 MN 182/20 -, juris Rn. 38). Diese Notwendigkeit ist während der Dauer einer angeordneten Maßnahme von der zuständigen Behörde fortlaufend zu überprüfen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.4.2020 - 1 BvQ 31/20 -, juris Rn. 16).
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Derzeit stellt sich die in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Schließung von Kosmetikstudios und ähnlichen Betrieben für den Publikumsverkehr und Besuche in diesem Sinne als "notwendig" dar.
43
(α) Der Verordnungsgeber verfolgt mit der Verordnungsregelung das legitime Ziel, die Bevölkerung vor der Infektion mit dem SARS-CoV-2-Virus zu schützen, die Verbreitung der Krankheit COVID-19 zu verhindern und eine Überlastung des Gesundheitssystems infolge eines ungebremsten Anstiegs von Ansteckungen und Krankheitsfällen zu vermeiden. Zur Vorbeugung einer akuten nationalen Gesundheitsnotlage sollen die Kontakte in der Bevölkerung drastisch reduziert werden, um das Infektionsgeschehen insgesamt zu verlangsamen und die Zahl der Neuinfektionen wieder in durch den öffentlichen Gesundheitsdienst nachverfolgbare Größenordnungen zu senken.
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(β) Zur Erreichung dieses legitimen Ziels ist die Verordnungsregelung auch geeignet, weil sie die Kontaktmöglichkeiten in den Kosmetikstudios und ähnlichen Betrieben beschränkt und verhindert, dass sich wechselnde Kunden und Gäste zu dieser Zeit in den Einrichtungen einfinden. Zudem werden die Kontaktmöglichkeiten auf dem Weg von und zu den Betrieben und die erhöhte Attraktivität des öffentlichen Raums durch die Schließung von Einrichtungen, wie den Kosmetikstudios und ähnlichen Betrieben, reduziert (vgl. zur Gastronomie: OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 26.10.2020 - 13 B 1581/20.NE -, juris Rn. 54 ff.; Bayerischer VGH, Beschl. v. 19.6.2020 - 20 NE 20.1127 -, juris Rn. 40).
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(γ) Der Verordnungsgeber darf die getroffene Regelung unter Berücksichtigung des ihm zukommenden Einschätzungsspielraums auch für erforderlich halten.
46
(αα) Mildere Mittel im Hinblick auf das tätigkeitsbezogene Infektionsgeschehen drängen sich dem Senat nicht auf.
47
Für den Senat steht nach seiner bisherigen Rechtsprechung außer Zweifel, dass Zusammenkünfte in geschlossenen Räumen, mit einer Vielzahl regelmäßig einander unbekannter Personen und längerer Verweildauer ein signifikant erhöhtes Infektionsrisiko mit sich bringen (vgl. nur Senatsbeschl. v. 24.8.2020 - 13 MN 297/20 -, juris Rn. 30 ff. (Kinos); v. 14.8.2020 - 13 MN 283/20 -, juris Rn. 52 ff. (Feiern mit mehr als 50 Personen); v. 29.6.2020 - 13 MN 244/20 -, juris Rn. 35 (Clubs, Diskotheken und ähnliche Einrichtungen), v. 14.5.2020 - 13 MN 156/20 -, juris Rn. 31 (Fitnessstudios) und v. 29.10.2020 - 13 MN 393/20 -, juris Rn. 61 (Gastronomie)). Dies gilt insbesondere bei Tätigkeiten, die einen Körperkontakt zwischen wechselnden Personen notwendig machen.
48
Belastbare widerstreitende Erkenntnisse sind dem Bericht des RKI zum "Infektionsumfeld von COVID-19-Ausbrüchen in Deutschland" nicht zu entnehmen. Das RKI konnte in einer "Quellensuche" (Datenstand: 11. August 2020) von insgesamt 202.225 übermittelten Fällen nur 55.141 Fälle bestimmten Ausbruchsgeschehen zuordnen und feststellen, in welchen von 30 unterschiedlichen, verschiedenste Lebensbereiche erfassenden Infektionsumfeldern sich diese ereignet haben (vgl. RKI, Infektionsumfeld von COVID-19-Ausbrüchen in Deutschland, in: Epidemiologisches Bulletin v. 17.9.2020, S. 3 ff., veröffentlicht unter: https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2020/Ausgaben/38_20.pdf?__blob=publicationFile). Feststellungen für das Infektionsumfeld der „Kosmetikstudios und ähnlichen Betriebe“ wurden dabei nicht getroffen. Hieraus kann aber nicht geschlossen werden, dass in Kosmetikstudios und ähnlichen Betrieben kein signifikantes Infektionsrisiko besteht. Hiergegen sprechen schon die begrenzte Art betrachteter Infektionsumfelder und die sehr hohe Zahl von Fällen, in denen ein Infektionsumfeld gar nicht festgestellt werden konnte. Dahinstehen lassen kann der Senat, ob der Verordnungsgeber alles ihm Mögliche und Zumutbare unternommen hat, um bessere Erkenntnisse über die Verbreitungswege und Infektionsumfelder zu erlangen. Denn selbst verneinendenfalls führte dies nach dem Dafürhalten des Senats nicht dazu, dass infektionsschutzrechtliche Schutzmaßnahmen auf der seit Pandemiebeginn nahezu unverändert dürftigen Erkenntnislage gar nicht mehr getroffen werden dürften und die Infektionsschutzbehörden gehalten wären, dem Geschehen seinen Lauf zu lassen.
49
In Bezug auf das tätigkeitsbezogene Infektionsgeschehen mildere Mittel ergeben sich auch nicht aus bloßen Beschränkungen des Betriebs von Kosmetikstudios, etwa auf der Grundlage von Hygienekonzepten und deren notfalls zwangsweiser behördlicher Durchsetzung. Der Senat verkennt nicht, dass die Betreiberinnen und Betreiber der Kosmetikstudios und ähnlichen Betriebe in den vergangenen Monaten erhebliche Arbeitskraft und finanzielle Mittel in die Umsetzung dieser Konzepte investiert haben. Ein regelmäßiges Vollzugsdefizit, dem - in gewissen Grenzen - durch verstärkte behördliche Kontrollen entgegengewirkt werden könnte (vgl. hierzu Senatsbeschl. v. 28.8.2020 - 13 MN 307/20 -, juris Rn. 32), ist nicht zu erkennen. Eine gewisse Wirksamkeit der Konzepte ist nicht zu leugnen, auch wenn diese mangels belastbarer tatsächlicher Erkenntnisse zum konkreten Infektionsumfeld nicht konkretisiert werden kann. Es ist angesichts der derzeitigen Infektionsdynamik aber nicht festzustellen, dass diese Konzepte infektionsschutzrechtlich eine vergleichbare Effektivität aufweisen, wie die Betriebsschließungen.
50
(ββ) Mildere Mittel sind auch im Hinblick auf das gebietsbezogene Infektionsgeschehen nicht ersichtlich.
51
Der Verordnungsgeber hat die Erforderlichkeit der Betriebsschließung - anders als bei den zuvor angeordneten Beherbergungsverboten (vgl. Senatsbeschl. v. 15.10.2020 - 13 MN 371/20 -, juris Rn. 59) und Sperrzeiten im Gastronomiebereich (vgl. Senatsbeschl. v. 29.10.2020 - 13 MN 393/20 -, juris Rn. 57) - ersichtlich nicht nur anhand der 7-Tage-Inzidenz, also der Zahl der Neuinfizierten im Verhältnis zur Bevölkerung je 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner kumulativ in den letzten sieben Tagen, beurteilt, sondern, wie in dem von der Niedersächsischen Landesregierung erstellten "Handlungskonzept zur Bekämpfung des Infektionsgeschehens in der COVID 19 Pandemie" (veröffentlicht unter: www.stk.niedersachsen.de/startseite/presseinformationen/vorsorgliches-handlungskonzept-zur-bekampfung-eines-gegebenenfalls-weiter-ansteigenden-infektionsgeschehens-in-der-covid-19-pandemie-193263.html, Stand: 5.10.2020) vorgesehen, auch alle anderen für das Infektionsgeschehen relevanten Umstände in seine Bewertung einbezogen (vgl. zu dieser Verpflichtung zuletzt: Senatsbeschl. v. 29.10.2020 - 13 MN 393/20 -, juris Rn. 57).
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Diese Bewertung rechtfertigt es, landesweit einheitliche infektionsschützende Maßnahmen zu ergreifen. Landesweit beträgt die 7-Tage-Inzidenz mehr als 100. Der weit überwiegende Teil der Landkreise und kreisfreien Städte weist eine 7-Tage-Inzidenz von mehr als 50 auf, welche die Grenze markiert, bis zu der die öffentliche Gesundheitsverwaltung in Deutschland zu einer Rückverfolgung der Infektionsketten maximal in der Lage ist und so das wichtige und legitime Ziel der Verhinderung der weiteren Ausbreitung durch Fallfindung mit Absonderung von Erkrankten und engen Kontaktpersonen mit einem erhöhten Erkrankungsrisiko noch erreicht werden kann (vgl. Senatsbeschl. v 5.6.2020 - 13 MN 195/20 -, juris Rn. 33). Wird diese Grenze in einem bestimmten Gebiet überschritten, bestehen auch nach dem Dafürhalten des Senats durchaus tatsächliche Anhaltspunkte für ein dynamisches Infektionsgeschehen und eine erhöhte Infektionswahrscheinlichkeit. Hinzu kommt ein landesweit diffuses Infektionsgeschehen. Auch wenn es deutliche regionale Unterschiede in der Verteilung gibt, steigen die Zahlen von Neuinfektionen flächendeckend an und sind die Ausbruchsgeschehen weit überwiegend keinen bestimmten Ereignissen oder Örtlichkeiten mehr zuzuordnen. Die örtlichen Gesundheitsämter sind trotz personeller Verstärkung häufig nicht mehr in der Lage, Infektionsketten nachzuverfolgen. Die Verdoppelungsrate hat sich von weit über 30 Tagen im Sommer erheblich reduziert. Die Zahl infizierter und erkrankter Menschen, die älter als 60 Jahre sind und die ein höheres Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf haben, ist drastisch angestiegen. Auch die Sterbefallzahlen und die Auslastung medizinischer und insbesondere intensivmedizinischer Kapazitäten steigen stetig an, wobei der Antragsgegner seine Maßnahmen nicht erst dann treffen darf, wenn diese (nahezu) erschöpft sind (vgl. hierzu im Einzelnen die Angaben des Niedersächsischen Landesgesundheitsamtes unter https://www.niedersachsen.de/Coronavirus/aktuelle_lage_in_niedersachsen/ und des RKI im täglichen Lagebericht unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Gesamt.html?nn=13490888). Im Hinblick auf die aktuelle Entwicklung durfte der Antragsgegner den vollzogenen Strategiewechsel weg von bisherigen bloßen Betriebsbeschränkungen hin zu weitreichenden flächendeckenden Betriebsschließungen und ergänzenden Betriebsbeschränkungen als derzeit einzig verlässliches effektives Mittel und damit für erforderlich erachten.
53
In Bezug auf das gebietsbezogene Infektionsgeschehen mildere Mittel ergeben sich nicht daraus, dass neben den hier streitgegenständlichen Betriebsschließungen weitere, bisher nicht betroffene Bereiche von Industrie, Gewerbe, Handel und Dienstleistungen geschlossen oder weiter beschränkt werden könnten. Ungeachtet der Effektivität eines solchen Vorgehens handelt es sich gegenüber den von diesen Maßnahmen betroffenen Rechtsträgern jedenfalls nicht um mildere Mittel.
54
Auch eine Beschränkung der Schutzmaßnahmen auf besonders schutzbedürftige (Risiko-)Gruppen von Personen ist angesichts der Größe und nur begrenzt möglichen Konkretisierung dieser Gruppen und der jedenfalls nicht verlässlichen Effektivität einer solchen Beschränkung kein milderes Mittel.
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(δ) Die getroffene Regelung ist voraussichtlich auch angemessen.
56
Dabei verkennt der Senat nicht, dass die Betriebsschließungen tiefgreifend und wiederholt in die Berufsausübungsfreiheit der Betreiberinnen und Betreiber von Kosmetikstudios und ähnlichen Betrieben eingreifen und ihnen die Berufsausübung für einen erheblichen Zeitraum nahezu unmöglich machen, und dies nach einer Phase, in der sie erhebliche Arbeitskraft und finanzielle Mittel in die Umsetzung von infektionsschutzrechtlichen Hygienekonzepten investiert haben. Das Gewicht dieses "Sonderopfers" wird aber dadurch gemildert, dass ihnen staatlicherseits Kompensationen für die zu erwartenden Umsatzausfälle in durchaus erheblichem Umfang in Aussicht gestellt worden sind (vgl. Beschluss der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder v. 28.10.2020: "Für die von den temporären Schließungen erfassten Unternehmen, Betriebe, Selbständige, Vereine und Einrichtungen wird der Bund eine außerordentliche Wirtschaftshilfe gewähren, um sie für finanzielle Ausfälle zu entschädigen. Der Erstattungsbetrag beträgt 75% des entsprechenden Umsatzes des Vorjahresmonats für Unternehmen bis 50 Mitarbeiter, womit die Fixkosten des Unternehmens pauschaliert werden. Die Prozentsätze für größere Unternehmen werden nach Maßgabe der Obergrenzen der einschlägigen beihilferechtlichen Vorgaben ermittelt. Die Finanzhilfe wird ein Finanzvolumen von bis zu 10 Milliarden haben."; veröffentlicht unter: https://www.bundesregierung.de/resource/blob/997532/1805024/5353edede6c0125ebe5b5166504dfd79/2020-10-28-mpk-beschluss-corona-data.pdf?download=1, Stand: 4.11.2020). Mit Blick auf die gravierenden, teils irreversiblen Folgen eines weiteren Anstiegs der Zahl von Ansteckungen und Erkrankungen für die hochwertigen Rechtsgüter Leib und Leben einer Vielzahl Betroffener sowie einer Überlastung des Gesundheitswesens ist dieser Eingriff indes von ihnen hinzunehmen.
57
(c) Derzeit ist aber nicht verlässlich zu klären, ob die in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Schließung von Kosmetikstudios und ähnlichen Betrieben für den Publikumsverkehr und Besuche mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG zu vereinbaren ist.
58
Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebietet dem Normgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln (vgl. BVerfG, Beschl. v. 7.2.2012 - 1 BvL 14/07 -, BVerfGE 130, 240, 252 - juris Rn. 40; Beschl. v. 15.7.1998 - 1 BvR 1554/89 u.a. -, BVerfGE 98, 365, 385 - juris Rn. 63). Es sind nicht jegliche Differenzierungen verwehrt, allerdings bedürfen sie der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Differenzierungsziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind. Je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen reichen die Grenzen für die Normsetzung vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse. Insoweit gilt ein stufenloser, am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab, dessen Inhalt und Grenzen sich nicht abstrakt, sondern nur nach den jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereichen bestimmen lassen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 18.7.2012 - 1 BvL 16/11 -, BVerfGE 132, 179, 188 - juris Rn. 30; Beschl. v. 21.6.2011 - 1 BvR 2035/07, BVerfGE 129, 49, 69 - juris Rn. 65; Beschl. v. 21.7.2010 - 1 BvR 611/07 u.a. -, BVerfGE 126, 400, 416 - juris Rn. 79).
59
Hiernach sind die sich aus dem Gleichheitssatz ergebenden Grenzen für die Infektionsschutzbehörde weniger streng (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 17.4.2020- OVG 11 S 22/20 -, juris Rn. 25). Auch kann die strikte Beachtung des Gebots innerer Folgerichtigkeit nicht eingefordert werden (vgl. Hamburgisches OVG, Beschl. v. 26.3.2020 - 5 Bs 48/20 -, juris Rn. 13). Zudem ist die sachliche Rechtfertigung nicht allein anhand des infektionsschutzrechtlichen Gefahrengrades der betroffenen Tätigkeit zu beurteilen. Vielmehr sind auch alle sonstigen relevanten Belange zu berücksichtigen, etwa die Auswirkungen der Ge- und Verbote für die betroffenen Unternehmen und Dritte und auch öffentliche Interessen an der uneingeschränkten Aufrechterhaltung bestimmter unternehmerischer Tätigkeiten (vgl. Senatsbeschl. v. 14.4.2020 - 13 MN 63/20 -, juris Rn. 62). Auch die Überprüfbarkeit der Einhaltung von Ge- und Verboten kann berücksichtigt werden (vgl. Senatsbeschl. v. 9.6.2020 - 13 MN 211/20 -, juris Rn. 41).
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Dies zugrunde gelegt vermag der Senat im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes nur einen Verstoß der Verordnungsregelung gegen das Willkürverbot zu verneinen. Die in § 10 Abs. 1 und 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordneten Betriebsverbote und -beschränkungen beruhen auf der jedenfalls nicht schlichtweg sachfremden Erwägung, dass ein ganz erheblicher Teil der für das Infektionsgeschehen relevanten sozialen Kontakte von vorneherein verhindert werden muss, und dass diese Verhinderung neben den ganz erheblichen Beschränkungen von Kontakten im privaten Bereich am gemeinwohlverträglichsten durch Verbote und Beschränkungen in den Bereichen Freizeit, Sport, Unterhaltung und körpernaher Dienstleistungen erreicht werden kann. Ausgenommen sind grundrechtlich besonders geschützte Bereiche wie die Religionsausübung und öffentliche Versammlungen.
61
Die vom Antragsgegner vorgenommene unterschiedliche Behandlung gegenüber vergleichbaren Betrieben, Einrichtungen und Lebensbereichen ist nicht willkürlich, d.h. evident unsachlich (vgl. zu diesem Maßstab BVerfG, Beschl. v. 9.5.1961 - 2 BvR 49/60 -, juris Rn. 40, Urt. v. 2.3.1999 - 1 BvL 2/91 -, juris Rn. 84).Gegenüber dem Einzelhandel kann bei körpernahen Dienstleistungen wie der Haut- und Nagelpflege das Abstandsgebot des § 2 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung grundsätzlich nicht eingehalten werden. Auch die Privilegierung von Friseurbetrieben in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 b) der Verordnung ist nicht evident unsachlich. Friseurdienstleistungen dienen - anders als Kosmetikstudios - schwerpunktmäßig der Grundversorgung der Bevölkerung mit Körperhygiene im weitesten Sinne. In der Bevölkerung besteht ein in kürzeren Zeitabständen wiederkehrender und einen großen Personenkreis betreffender Bedarf an Friseurdienstleistungen. Insofern besteht ein öffentliches Interesse an der Aufrechterhaltung dieser Dienstleistung, wohingegen der Verordnungsgeber einen gleichwertigen Grundbedarf der Bevölkerung bezogen auf andere körpernahe Dienstleistungen nicht annehmen musste, ohne damit die Grenzen der Willkür zu überschreiten (vgl. weitergehend OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 5.11.2020 - OVG 11 S 99/20 -, juris Rn. 53). Diese Grenze ist auch nicht willkürlich im Hinblick darauf, dass den Friseurbetrieben jegliche Friseurdienstleistungen, also auch beispielsweise rein kosmetische Haarfärbungen und -verlängerungen gestattet sind. Der Senat folgt - dies ist klarzustellen - nicht der Norminterpretation des Antragsgegners, andere Friseurdienstleistungen als das Haareschneiden seien durch § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 der Niedersächsischen Corona-Verordnung untersagt. Dem Wortlaut und der Systematik nach ist jegliche einem Friseurbetrieb zuordenbare Dienstleistung gestattet. Dies ist nicht willkürlich. Zum einen ist gerade bei Friseurdienstleistungen der Übergang zwischen Hygiene und Kosmetik fließend, zum anderen muss es eine Norm wie die Niedersächsische Corona-Verordnung nicht leisten, auf jede noch so spezifische Konstellation einzugehen. Deutlich kleinteiligere Regelungen würden dazu führen, dass die grundsätzliche Regelung an Übersichtlichkeit einbüßen würde und sie nur noch schwer handhabbar wäre (vgl. Senatsbeschl. v. 28.10.2020 - 13 MN 390/20 -, juris Rn. 34).
62
Die danach gegebene schlichte Beachtung des Willkürverbots ist angesichts des Umfangs der angeordneten Betriebsverbote und -beschränkungen und der damit verbundenen erheblichen Eingriffe in Grundrechte der Betriebsinhaber aber nicht ausreichend, um eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes verneinen zu können. Die vielmehr erforderliche Beurteilung, ob der Verordnungsgeber mit der getroffenen Auswahl von zu schließenden oder zu beschränkenden Betrieben unter Berücksichtigung des infektionsschutzrechtlichen Gefahrengrades der betroffenen Tätigkeiten und aller sonstigen relevanten Belange eine auf hinreichenden Sachgründen beruhende und angemessene Differenzierung tatsächlich erreicht hat, ist schon angesichts der Vielzahl und Vielgestaltigkeit von Fallkonstellationen aber in einem Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes nicht zu leisten. Sie muss vielmehr an dieser Stelle offenbleiben.
63
Klarstellend weist der Senat darauf hin, dass eine rechtfertigungsbedürftige Ungleichbehandlung sich nicht daraus ergeben kann, dass andere Länder von den niedersächsischen Anordnungen abweichende Schutzmaßnahmen getroffen haben. Voraussetzung für eine Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG ist, dass die Vergleichsfälle der gleichen Stelle zuzurechnen sind. Daran fehlt es, wenn die beiden Sachverhalte von zwei verschiedenen Trägern öffentlicher Gewalt gestaltet werden; der Gleichheitssatz bindet jeden Träger öffentlicher Gewalt allein in dessen Zuständigkeitsbereich (vgl. BVerfG, Beschl. v. 12.5.1987 - 2 BvR 1226/83 -, BVerfGE 76, 1, 73 - juris Rn. 151 m.w.N.). Ein Land verletzt daher den Gleichheitssatz nicht deshalb, weil ein anderes Land den gleichen Sachverhalt anders behandelt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 8.5.2008 - 1 BvR 645/08 -, juris Rn. 22 m.w.N.).
64
b. Die wegen der danach offenen Erfolgsaussichten gebotene Folgenabwägung führt dazu, dass die von der Antragstellerin geltend gemachten Gründe für die vorläufige Außervollzugsetzung die für den weiteren Vollzug der Verordnung sprechenden Gründe nicht überwiegen.
65
Würde der Senat die in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Schließung von Kosmetikstudios und ähnlichen Betrieben für den Publikumsverkehr und Besuche vollständig (vgl. zur Unzulässigkeit von Normergänzungen im Normenkontrollverfahren: Senatsbeschl. v. 14.5.2020 - 13 MN 156/20 -, juris Rn. 5 m.w.N.) außer Vollzug setzen, bliebe der Normenkontrollantrag in der Hauptsache aber ohne Erfolg, könnte die Antragstellerin zwar vorübergehend die mit der Schutzmaßnahme verbundene Schließung vermeiden. Ein durchaus wesentlicher Baustein der komplexen Pandemiebekämpfungsstrategie des Antragsgegners würde aber in seiner Wirkung deutlich reduziert (vgl. zur Berücksichtigung dieses Aspekts in der Folgenabwägung: BVerfG, Beschl. v. 1.5.2020 - 1 BvQ 42/20 -, juris Rn. 10), und dies in einem Zeitpunkt eines äußerst dynamischen Infektionsgeschehens. Die Möglichkeit, eine geeignete und erforderliche Schutzmaßnahme zu ergreifen und so die Verbreitung der Infektionskrankheit zum Schutze der Gesundheit der Bevölkerung, einem auch mit Blick auf Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG überragend wichtigen Gemeinwohlbelang (vgl. BVerfG, Urt. v. 30.7.2008 - 1 BvR 3262/07 u.a. -, BVerfGE 121, 317, 350 - juris Rn. 119 m.w.N.), effektiver zu verhindern, bliebe hingegen zumindest zeitweise bis zu einer Reaktion des Verordnungsgebers (irreversibel) ungenutzt.
66
Würde hingegen die in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Schließung von Kosmetikstudios und ähnlichen Betrieben für den Publikumsverkehr und Besuche nicht vorläufig außer Vollzug gesetzt, hätte der Normenkontrollantrag aber in der Hauptsache Erfolg, wäre die Antragstellerin vorübergehend zu Unrecht zur Befolgung der - für den Fall der Nichtbefolgung bußgeldbewehrten - Schutzmaßnahme verpflichtet und müsste ihr Kosmetikstudio für den Publikumsverkehr und Besuche schließen. Der damit jedenfalls verbundene Eingriff in ihr Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG würde für die Dauer der Verpflichtung, längstens für die Dauer eines Hauptsacheverfahrens, verfestigt. Dieser Eingriff ist nach Einschätzung des Senats fraglos von erheblichem Gewicht. Dieses Gewicht wird aber dadurch abgemildert, dass staatlicherseits Kompensationen für die zu erwartenden Umsatzausfälle in durchaus erheblichem Umfang in Aussicht gestellt worden sind. Der hiernach verbleibende Eingriff hat hinter dem mit der Maßnahme verfolgten legitimen Ziel eines effektiven Infektionsschutzes zurückzustehen und ist von der Antragstellerin vorübergehend hinzunehmen. Denn ohne diesen würde sich die Gefahr der Ansteckung mit dem Virus, der erneuten Erkrankung vieler Personen, der Überlastung der gesundheitlichen Einrichtungen bei der Behandlung schwerwiegender Fälle und schlimmstenfalls des Todes von Menschen auch nach den derzeit nur vorliegenden Erkenntnissen erheblich erhöhen (vgl. zu dieser Gewichtung: BVerfG, Beschl. v 7.4.2020 - 1 BvR 755/20 -, juris Rn. 10; Beschl. v. 28.4.2020 - 1 BvR 899/20 -, juris Rn. 12 f.).
67
In diese Folgenabwägung wird insbesondere auch eingestellt, dass die Verordnung gemäß ihres § 20 Abs. 1 mit Ablauf des 30. November 2020 außer Kraft tritt. Damit ist sichergestellt, dass die Verordnung unter Berücksichtigung neuer Entwicklungen der Corona-Pandemie fortgeschrieben werden muss. Hierbei hat der Antragsgegner - wie auch bei jeder weiteren Fortschreibung der Verordnung - hinsichtlich der im vorliegenden Verfahren relevanten Schließung zu untersuchen, ob es angesichts neuer Erkenntnisse etwa zu den Verbreitungswegen des Virus oder zur Gefahr einer Überlastung des Gesundheitssystems verantwortet werden kann, die Schließung unter - gegebenenfalls strengen - Auflagen weiter zu lockern (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.4.2020 - 1 BvQ 28/20 -, juris Rn. 16).
68
II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
69
III. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG. Es entspricht der ständigen Praxis des Senats, in Normenkontrollverfahren in der Hauptsache nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO grundsätzlich den doppelten Auffangwert im Sinne des § 52 Abs. 2 GKG, mithin 10.000 EUR, als Streitwert anzusetzen (vgl. Senatsbeschl. v. 31.1.2019 - 13 KN 510/18 -, Nds. Rpfl. 2019, 130 f. - juris Rn. 29). Dieser Streitwert ist für das Verfahren auf sofortige Außervollzugsetzung der Verordnung nach § 47 Abs. 6 VwGO zu halbieren.
70
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5 in Verbindung mit 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Tenor
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerde-verfahrens.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerde-verfahren auf 2.500 Euro festgesetzt.
1Gründe:
2Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung aus den nachstehenden Gründen nicht die nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO erforderliche hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet.
3Die Beschwerde hat keinen Erfolg.
4Das Verwaltungsgericht hat ausgeführt, die vom Antragsteller während der Anhörung bei der Ausländerbehörde der Stadt L. am 18. Oktober 2019 gemachten Angaben stellten keine Gründe dar, die einer Verteilung des Antragstellers nach I. entgegenstünden. Der Antragsteller habe auch im Nachgang nicht glaubhaft gemacht, dass er bei einem Umzug nach I. eine erhebliche Verschlechterung seines Gesundheitszustandes zu befürchten habe, die ihm vor dem Hintergrund von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht mehr zumutbar sei. Die Stellungnahmen der Diplom-Psychologin Q. C. vom 4. November 2019, des Arztes für Allgemeinmedizin, Herrn Dr. G. M. , vom 14. Dezember 2019 sowie der Alexianer L. GmbH vom 13. Februar 2020 genügten bereits den Anforderungen des § 60a Abs. 2c AufenthG nicht. Aus den vorgelegten Medienberichten ergebe sich ebenfalls kein zwingender Grund, den Antragsteller nicht nach I. zu verteilen. Die Zwangsmittelandrohung sei schließlich nicht zu beanstanden.
5Die dargelegten Beschwerdegründe, auf deren Prüfung sich das Beschwerdegericht nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO zu beschränken hat, rechtfertigen keine Änderung des angegriffenen Beschlusses.
6Der vorliegende Fall gibt (dennoch) Gelegenheit, die Rechtsprechung des Senats zu Fallgestaltungen wie der vorliegenden zusammenzufassen bzw. diese weiter zu konkretisieren.
7Rechtsgrundlage für die mit dem streitgegenständlichen Verteilungsbescheid vom 30. Oktober 2019 erfolgte länderübergreifende Verteilung des Antragstellers in die Erstaufnahmeeinreichung I. ist § 15a Abs. 1 Satz 1, Abs. 3, Abs. 4 Satz 1 AufenthG. Nach der Systematik des § 15a AufenthG sind bei dieser länderübergreifenden Verteilung zwingende Gründe im Rahmen der Verteilungsentscheidung nur dann erheblich, wenn sie vor deren Veranlassung nachgewiesen worden sind, vgl. § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG.
8Derartige Gründe sind - neben der im Gesetz beispielhaft aufgeführten Haushaltsgemeinschaft zwischen Ehegatten oder Eltern und ihren minderjährigen Kindern - immer dann gegeben, wenn höherrangiges Recht der vorgenommenen Verteilung entgegensteht.
9Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 21. Dezember 2016 - 18 B 1376/16 -, juris, Rn. 8, und vom 2. März 2015 - 18 B 1423/14 -.
10Als Ausprägung der verfassungsrechtlichen Schutzpflicht für Leben und Gesundheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG kann insoweit ein zwingendes Verteilungshindernis gegeben sein, wenn sich der Gesundheitszustand des Ausländers unmittelbar durch die Verteilung bzw. als deren unmittelbare Folge voraussichtlich wesentlich verschlechtern wird.
11Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 21. Dezember 2016 - 18 B 1376/16 -, juris, Rn. 10.
12Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass nicht jede mit der Verteilung ggf. einhergehende Verschlechterung des Gesundheitszustandes in diesem Zusammenhang beachtlich ist. Indem das Aufenthaltsgesetz die Verteilung unerlaubt eingereister Ausländer im Interesse der gleichmäßigen Verteilung insbesondere der mit der Aufnahme verbundenen Kosten vorschreibt,
13vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 21. Dezember 2016 - 18 B 1376/16 -, juris, Rn. 12, und vom 4. September 2014 - 18 A 792/14 -, juris, Rn. 4,
14nimmt es die durch die Verteilung ggf. zu erwartenden Auswirkungen auf den gesundheitlichen, insbesondere psychischen Zustand des Betroffenen grundsätzlich in Kauf. So hat dieser etwa eine durch einen Ortswechsel bedingte Unterbrechung einer bereits begonnenen psychotherapeutischen Behandlung und die damit ggf. verbundenen zwischenzeitlichen Auswirkungen auf den Gesundheitszustand grundsätzlich hinzunehmen, sofern diese nicht ausnahmsweise so schwerwiegend sind, dass sie dem Ausländer mit Blick auf Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht zugemutet werden können.
15Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 21. Dezember 2016 - 18 B 1376/16 -, juris, Rn. 14, und vom 23. November 2016 - 18 B 1254/16 -.
16Besondere Umstände, die im Rahmen einer Verteilung nach § 15a AufenthG begleitende Maßnahmen (wie z.B. Sicherstellung der Weiterführung einer medizinischen Behandlung am Zuweisungsort) erfordern, die also das „Wie" der Verteilung in eine bestimmten Aufnahmeeinrichtung betreffen, können indes grundsätzlich nur im Rahmen von deren Vollstreckung berücksichtigt werden, die Rechtmäßigkeit - das „Ob" - der Verteilung als solcher in die jeweilige Erstaufnahmeeinrichtung aber nicht in Frage stellen. Nichts anderes gilt etwa im Falle einer vorübergehenden Reiseunfähigkeit aufgrund einer Schwangerschaft, die ebenfalls nicht das „Ob“ der Verteilung, sondern nur das „Wann“ betrifft. Abweichendes gilt ausnahmsweise dann, wenn hinreichende begleitende Maßnahmen am Zuweisungsort nicht getroffen werden können, weil dann das „Ob“ der Verteilung in Rede steht.
17Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 18. Juli 2019- 18 B 842/19 -, juris, Rn. 3, und vom 21. Dezember 2016 - 18 B 1376/16 -, juris, Rn. 16.
18Ein solcher Ausnahmefall kann sich auf die Rechtmäßigkeit der Verteilungsentscheidung gleichwohl nur dann auswirken, wenn er auf einen zwingenden Grund i. S. v. § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG führt und dementsprechend auch „vor Veranlassung der Verteilung“ nachgewiesen worden ist.
19„Nachweisen“ i. S. v. § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG verlangt mehr als „geltend machen“. Der Ausländer ist nach § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG gehalten, den auf einen zwingenden Grund führenden Sachverhalt so zu unterbreiten, dass die zuständige Behörde grundsätzlich keine eigenen Ermittlungen mehr anzustellen braucht. Dabei kann nicht unberücksichtigt bleiben, dass der Ausländer, der sich auf einen zwingenden Grund i.S.v. § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG beruft, in der Regel ein eigenes Interesse am Ausgang des Verteilungsverfahrens hat, so dass der gebotene Nachweis im allgemeinen nicht allein durch eigene Behauptungen zu führen sein wird, solange diese nicht durch objektive Umstände, z. B. Belege, bestätigt werden.
20Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 1. Juli 2020- 18 B 677/20 -, juris, Rn. 5, vom 20. Mai 2020- 18 B 530/20 -, juris, 10, und vom 22. Juli 2014- 18 B 695/14 -, juris, Rn. 13.
21Für den „Nachweis“ des Vorliegens zwingender gesundheitlicher Gründe im Sinne von § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG kann indes nicht auf die in § 60a Abs. 2c AufenthG normierten Voraussetzungen zurückgegriffen werden. § 60a Abs. 2c AufenthG gilt angesichts seines eindeutigen Wortlauts sowie der systematischen Stellung allein für Abschiebungen. Ebenso scheidet eine analoge Anwendung der Vorschrift aus. Hierfür fehlt es - wie bereits der Verweis in § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG auf § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG zeigt - an einer planwidrigen Regelungslücke.
22Vgl. zu den Voraussetzungen einer Analogie BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2017 - 4 C 6.16 -, juris, Rn. 15.
23Die konkreten Anforderungen an den Nachweis gesundheitlicher Gründe, die der Verteilung entgegenstehen können, ergeben sich stattdessen aus dem allgemeinen Prozessrecht. Das Bundesverwaltungsgericht hat aus der in § 86 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 VwGO normierten Pflicht des jeweiligen Beteiligten, an der Erforschung des Sachverhalts - insbesondere mit Blick auf Umstände, die in dessen Sphäre fallen - mitzuwirken, gewisse Mindestanforderungen an die vorzulegenden Atteste abgeleitet, die zur Substantiierung eines Sachverständigenbeweisantrags, der das Vorliegen einer behandlungsbedürftigen PTBS zum Gegenstand hat, erfüllt werden müssen.
24Vgl. zu den konkreten Voraussetzungen grundlegend BVerwG, Urteil vom 11. September 2007- 10 C 8.07 -, juris, Rn. 15, bestätigt durch BVerwG, Beschluss vom 26. Juli 2012 - 10 B 21.12 -, juris, Rn. 7.
25Diese Mindestanforderungen gelten auch mit Blick auf weitere psychische Erkrankungen.
26Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 18. Mai 2020- 19 A 1178/19.A -, juris, Rn. 24, vom 20. Januar 2020 - 11 A 618/19.A -, juris, Rn. 12, vom 9. Oktober 2017 - 13 A 1807/17.A -, juris, Rn. 25, und vom 21. März 2017 - 19 A 2461/14.A -, juris, Rn. 17; ebenso Bayerischer VGH, Beschluss vom 14. Dezember 2018 - 1 ZB 18.33263 -, juris, Rn. 3, und VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10. November 2014 - A 11 S 1778/14 -, juris, Rn. 54; offengelassen in OVG NRW, Beschluss vom 30. April 2019- 4 A 598/18.A -, juris, Rn. 14 ff.
27Die vorgenannte Rechtsprechung ist auf die hiesige Fallkonstellation dergestalt zu übertragen, dass es zum Nachweis des Vorliegens einer psychischen Erkrankung, die der Verteilung an einen bestimmten Ort entgegensteht bzw. entgegenstehen soll, regelmäßig eines entsprechend qualifizierten fachärztlichen Attests bedarf. Auch der Nachweis einer physischen Erkrankung kann nur anhand qualifizierter Belege gelingen.
28Die Art und Weise der Unterbringung sowie die Zustände in der konkreten Unterkunft bzw. die Gegebenheiten in der weiteren Umgebung können nur in absoluten Ausnahmefällen der Verteilung an einen bestimmten Ort i. S. v. § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG entgegenstehen.
29Der für die Abgrenzung maßgebliche Zeitpunkt der „Veranlassung der Verteilung" ist vor dem Hintergrund des in § 15a AufenthG geregelten Gangs des Verteilungsverfahrens zu bestimmen. Dieser erschließt sich bei einer am Verfahrenslauf orientierten chronologischen Betrachtung: Der Gesetzgeber ist im Rahmen des § 15a AufenthG davon ausgegangen, dass der Erstkontakt des zu verteilenden Ausländers mit der Ausländerbehörde erfolgt. Diese hat den Ausländer anzuhören und das Ergebnis der Anhörung an die die Verteilung veranlassende Behörde/Stelle zu übermitteln (§ 15a Abs. 4 Satz 2 AufenthG). Deren Bestimmung erfolgt nach § 15a Abs. 1 Satz 5 AufenthG durch das jeweilige Bundesland. In Nordrhein-Westfalen ist die Bezirksregierung Arnsberg durch § 6 ZustAVO NRW zur die Verteilung veranlassenden Behörde bestimmt worden. Die Verteilung des Ausländers auf eines der Bundesländer erfolgt sodann nach § 15a Abs. 1 Satz 3 AufenthG durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: BAMF) als vom Bundesministerium des Innern bestimmter zentraler Verteilungsstelle. Dabei benennt das BAMF der die Verteilung veranlassenden Behörde gemäß § 15a Abs. 3 Satz 1 AufenthG die nach Absatz 3 Sätze 2 und 3 zur Aufnahme verpflichtete Aufnahmeeinrichtung.
30Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 1. Juli 2020- 18 B 677/20 -, juris, Rn. 7, vom 20. Mai 2020- 18 B 530/20 -, juris, Rn. 12, und vom 4. September 2014 - 18 A 792/14 -, juris, Rn. 4.
31Die „Veranlassung der Verteilung" ist deshalb der verwaltungsinterne Verfahrensschritt, mit dem die die Verteilung veranlassende Behörde den Ausländer zur Verteilung an das BAMF meldet. Auf die Aushändigung des Verteilungsbescheides an den Ausländer kommt es nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut nicht an.
32Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 1. Juli 2020- 18 B 677/20 -, juris, Rn. 9, und vom 20. Mai 2020- 18 B 530/20 -, juris, Rn. 14; a. A. OVG Berlin-Brandenburg., Beschluss vom 10. Januar 2013- OVG 7 S 10.13 -, juris, Rn. 9.
33Danach können dementsprechende Gründe nur noch in einem Umverteilungsverfahren berücksichtigt werden.
34Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 20. Mai 2020- 18 B 530/20 -, juris, Rn. 12, vom 21. Dezember 2016 - 18 B 1376/16 -, juris, Rn. 8, und vom 7. August 2014 - 18 B 524/14 -, juris, Rn. 7.
35Dabei ist aus dem Umstand, dass § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG eine Nachweisobliegenheit (lediglich) für den Zeitraum „vor Veranlassung der Verteilung“ statuiert, nicht zu schlussfolgern, dass nach diesem Zeitpunkt bloße Behauptungen des jeweils Betroffenen genügen. Vielmehr gelten auch dann die vorstehenden Erwägungen zu den aus § 86 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 VwGO folgenden Mitwirkungspflichten.
36Rechtsgrundlage für die Zwangsmittelandrohung im streitgegenständlichen Bescheid vom 30. Oktober 2019 sind die §§ 62, 63 VwVG NRW. Auf dieser vollstreckungsrechtlichen Ebene kann der betroffene Ausländer Rechtsschutz wegen des Bestehens von Vollstreckungshindernissen erlangen.
37Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 18. Juli 2019- 18 B 842/19 -, juris, Rn. 3 (schwangerschaftsbedingte Reiseunfähigkeit), und vom 21. Dezember 2016 - 18 B 1376/16 -, juris, Rn. 16 (Weiterführung einer medizinischen Behandlung).
38Die Rechtmäßigkeit der Verteilungsentscheidung wird durch Vollstreckungshindernisse grundsätzlich nicht in Frage gestellt.
39Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 21. Dezember 2016 - 18 B 1376/16 -, juris, Rn. 16.
40Umgekehrt ist der betroffene Ausländer im Vollstreckungsverfahren mit Einwendungen gegen die Rechtmäßigkeit der Verteilungsentscheidung als entsprechender Grundverfügung ausgeschlossen.
41Vgl. zu den entsprechenden vollstreckungsrechtlichen Grundsätzen OVG NRW, Beschlüsse vom 6. Januar 2017 - 13 B 1235/16 -, juris, Rn. 6, vom 19. Dezember 2012 - 12 B 1339/12 -, juris, Rn. 3, und vom 20. Januar 2012 - 4 B 1425/11 -, juris, Rn. 4; siehe auch OVG Lüneburg, Beschluss vom 2. Februar 2015 - 4 LA 245/13 -, juris, Rn. 10, das indes Ausnahmen von diesem Grundsatz für möglich erachtet.
42Unter Berücksichtigung des mehrstufigen Aufbaus des Vollstreckungsverfahrens, das - abgesehen vom Fall des sofortigen Vollzuges - nach Erlass der sog. Grundverfügung durch die Abfolge von Androhung (§ 63 VwVG NRW), Festsetzung (§ 64 VwVG NRW) und Anwendung (§ 65 VwVG NRW) des Zwangsmittels gekennzeichnet ist, erfolgt der Vollstreckungsschutz - soweit möglich - bereits auf der Ebene der Zwangsmittelandrohung. Kann Rechtsschutz auf dieser Stufe nicht gewährt werden, so kann er gegen die nach § 64 VwVG NRW im Anschluss an die Zwangsmittelandrohung erforderliche Festsetzung des Zwangsmittels bzw. - falls dies nicht möglich ist - gegen dessen Anwendung gerichtet werden.
43Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 18. Juli 2019- 18 B 842/19 -, juris, Rn. 4 f., m. w. N.
44Maßgeblicher Zeitpunkt bei noch andauernden Vollstreckungsverfahren ist grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung der letzten Tatsacheninstanz.
45Vgl. BVerwG, Urteil vom 14. März 2006 - 1 C 11.05 -, juris, Rn. 8 f.; OVG NRW, Beschluss vom 18. Juli 2019 - 18 B 842/19 -, juris, Rn. 8.
46Schließlich gelten für die Darlegung eines Vollstreckungshindernisses die sich aus § 86 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 VwGO ergebenden Mitwirkungspflichten des betroffenen Ausländers.
47Gemessen daran verfängt das Beschwerdevorbringen nicht. Dass der Antragsteller transsexuell sein soll, steht der Verteilungsentscheidung nach I. , Sachsen-Anhalt, bereits deshalb nicht entgegen, weil dieser Umstand erst nach Veranlassung der Verteilung angeführt worden ist. Er hat auch ansonsten vor Veranlassung der Verteilung nichts vorgetragen, dass der vorgenommenen Verteilung entgegenstünde. Mithin ist der Antragsteller mit dem gesamten nachfolgenden, diesbezüglichen Vortrag auf das Umverteilungsverfahren zu verweisen. Abgesehen davon weist der Senat darauf hin, dass die hohe Schwelle, ab deren Überschreitung erst die Art und Weise der Unterbringung sowie die Zustände in der konkreten Unterkunft bzw. die Gegebenheiten in der weiteren Umgebung einer Verteilung an einen bestimmten Ort i. S. v. § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG entgegenstehen können, hier nicht erreicht sein dürfte; insbesondere dürfte der Antragsteller wegen der von ihm befürchteten Bedrohungen und körperlichen Attacken aufgrund seiner sexuellen Orientierung auf die örtlichen und überörtlichen Sicherheitsbehörden in I. bzw. Sachsen-Anhalt zu verweisen sein.
48Die vom Antragsteller geltend gemachten psychischen Erkrankungen führen ebenfalls nicht zur Rechtswidrigkeit der Verteilungsentscheidung, da auch diese nicht vor der Veranlassung der Verteilung nachgewiesen worden sind. Während der Anhörung bei der Ausländerbehörde der Stadt L. am 18. Oktober 2019 hat der Antragsteller lediglich angegeben, er wolle, dass seine Familie ihm Halt gebe. Im Schreiben des I1. e. V. vom 15. Oktober 2019 heißt es insoweit nur, der Antragsteller befinde sich „in einem schlechten physischen und psychischen Allgemeinzustand“. Damit wird den obigen Anforderungen an den Nachweis einer psychischen Erkrankung nicht im Ansatz genüge getan. Die nach Veranlassung der Verteilung übersandten Atteste sind für die Rechtmäßigkeit der Verteilungsentscheidung - wie aufgezeigt - ohne Relevanz.
49Entgegen der in der Beschwerde vertretenen Ansicht kann sich der Antragsteller auch nicht mit Erfolg auf ein Vollstreckungshindernis berufen. Die „dargelegten Umstände in der ZAST I. “ führen schon deshalb nicht auf ein Vollstreckungshindernis, weil es sich dabei um eine materiell-rechtliche Einwendung gegen die Verteilungsentscheidung als Grundverfügung handelt.
50Auch die vom Kläger geltend gemachten psychischen Erkrankungen begründen kein Vollstreckungshindernis. Selbst unterstellt, die vorgelegten Atteste genügten den auch bei der Berufung auf Vollstreckungshindernisse geltenden Darlegungsanforderungen, lägen die Voraussetzungen für ein Vollstreckungshindernis nicht vor. Nach Ansicht der Beschwerdebegründung belegen die psychologische Stellungnahme vom 4. November 2019, das allgemeinärztliche Attest vom 14. Dezember 2019 und die Stellungnahme eines Fachkrankenhauses vom 13. Februar 2019 jeweils, dass der Verbleib des Antragstellers in L. aufgrund seiner dort lebenden Angehörigen, seines (Wohn-)Umfelds und der in L. tätigen Organisation I1. e. V. aus psychologischer bzw. ärztlicher Sicht dringend erforderlich sei. Damit ist jedoch nicht das „Wie“ sondern das „Ob“ der Verteilung betroffen. Ein Durchgreifen auf die Rechtmäßigkeit der Verteilungsentscheidung kommt mangels rechtzeitigem Nachweis nicht in Betracht.
51Ungeachtet dessen dürfte sich aus den psychologischen und ärztlichen Stellungnahmen nicht ergeben, dass trotz der in I. möglichen medizinischen Betreuung eine Verteilung dorthin dennoch mit Blick auf Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG unzumutbar wäre. Zwar mag es zutreffen, dass die familiäre und sonstige Anbindung des Antragstellers in L. für dessen Genesung zuträglich ist. Gleichwohl bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die medizinische Versorgung in I. - auch im Falle der (behaupteten) Suizidgefahr - unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Schutzpflichten unzureichend sein könnte.
52Anders als das Beschwerdevorbringen meint, kommt es daher auf eine Folgenabwägung nicht an. Ebenso kann dahinstehen, ob es „wahrscheinlich“ ist bzw. „alles dafür spricht“, dass der Antragsteller mit fortschreitender Behandlungsdauer in der Lage sein wird, ausführlichere Stellungnahmen vorzulegen.
53Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 1 und 2, 53 Abs. 2 GKG und entspricht der ständigen Rechtsprechung des Senats.
54Vgl. zuletzt mit ausführlicher Begründung Beschluss vom 4. November 2020 - 18 B 1364/20 -.
55Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
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"jurisdiction": "Germany",
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"language": "de"
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Tenor
Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung wird abgelehnt.
Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 10.000 € festgesetzt.
Gründe
1
Der Antrag der Antragsteller,
2
die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs gegen die Ordnungsverfügungen des Antragsgegners vom 5. Oktober 2020 wiederherzustellen, hilfsweise die sofortige Vollziehung aufzuheben,
3
ist zulässig, aber unbegründet.
4
Mit den an die Antragsteller jeweils gleichlautend ergangenen Bescheiden vom 5. Oktober 2020 hat der Antragsgegner zu Ziffer 1a) und 1b) die bereits am 9. Mai und 29. Juli 2020 auch auf Grund des amtstierärztlich festgestellten schlechten Pflege- und Gesundheitszustands vieler Tiere tatsächlich erfolgte Fortnahme und anderweitige pflegliche Unterbringung von 19 Schafen (Koppel xxx) und 61 Schafen (A-Straße) schriftlich angeordnet. Zu Ziffer 2 ist den Antragstellern Gelegenheit eingeräumt worden, bis zum 20. Oktober 2020 die Schafe selbst anderweitig unterzubringen oder den Tierbestand aufzulösen. Für den Fall, dass dies nicht bis zum 20. Oktober 2020 erfolgt sein sollte, ist die Einziehung und Veräußerung der Tiere angeordnet worden.
5
Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der jeweiligen Widersprüche gegen die Bescheide des Antragsgegners vom 5. Oktober 2020 ist nach § 80 Abs. 5 Satz 1 1. und 2. Alt. Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) zulässig. Der Antragsgegner hat die sofortige Vollziehung der Ziffer 1a) und 1b) sowie Ziffer 2 der Bescheide in Ziffer 4 gesondert angeordnet.
6
Die Sofortvollzugsanordnung ist nicht aus formellen Gründen rechtswidrig.
7
Der Antragsgegner hat das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung der Untersagungsverfügung gemäß § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO hinreichend schriftlich begründet. Die schriftliche Begründung muss in nachvollziehbarer Weise die Erwägungen erkennen lassen, die die Behörde zur Anordnung der sofortigen Vollziehung veranlasst haben. Die Behörde muss bezogen auf die Umstände im konkreten Fall das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung sowie die Ermessenserwägungen, die sie zur Anordnung der sofortigen Vollziehung bewogen haben, darlegen. Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Der Antragsgegner hat eine besondere Dringlichkeit der angeordneten Maßnahme dargelegt, indem er ausgeführt hat, dass das öffentliche Interesse an der Sicherstellung der ordnungsgemäßen Versorgung der Tiere sowie der Herstellung rechtskonformer Zustände das private Aufschubinteresse der Antragsteller überwiege. Es könne nicht hingenommen werden, dass die rechtswidrige Tierhaltung und erhebliche Schmerzen und Leiden der Tiere durch nicht artgerechte Haltung für die Dauer eines Rechtsmittelverfahrens fortbestehe, zumal die Vergangenheit gezeigt habe, dass die Antragsteller behördliche Hinweise zur Tierhaltung nicht befolgten. Diese Ausführungen genügen dem formellen schriftlichen Begründungserfordernis.
8
Der Antrag hat auch in der Sache keinen Erfolg.
9
Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann durch das Gericht die aufschiebende Wirkung im Falle des Absatzes 2 Satz 1 Nr. 4, also insbesondere in Fällen, in denen die sofortige Vollziehung eines Verwaltungsaktes im öffentlichen Interesse von der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, besonders angeordnet wurde, ganz oder teilweise wiederhergestellt werden. In den Fällen (unter anderem) des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO kann das Gericht die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs ganz oder teilweise anordnen. Die gerichtliche Entscheidung ergeht dabei auf der Grundlage einer umfassenden Interessenabwägung. Gegenstand der Abwägung sind das private Aufschubinteresse einerseits und das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes andererseits. Im Rahmen der Interessenabwägung können auch Erkenntnisse über die Rechtmäßigkeit und die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes Bedeutung erlangen. Lässt sich bei der gebotenen summarischen Überprüfung die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides ohne Weiteres feststellen, ist sie also offensichtlich, so ist die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs wiederherzustellen bzw. anzuordnen, weil an der sofortigen Vollziehung eines offensichtlich rechtswidrigen Bescheides kein öffentliches Interesse bestehen kann. Lässt sich nach der im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotenen summarischen Überprüfung weder die offensichtliche Rechtmäßigkeit noch die offensichtliche Rechtswidrigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes mit der erforderlichen Sicherheit feststellen, so ergeht die Entscheidung aufgrund einer weiteren Interessenabwägung, in der zum einen die Auswirkungen in Bezug auf das öffentliche Interesse in dem Fall, dass dem Antrag stattgegeben wird, der Rechtsbehelf im Hauptsacheverfahren indes erfolglos bleibt, und zum anderen die Auswirkungen auf den Betroffenen für den Fall der Ablehnung eines Antrags und des erfolgreichen Rechtsbehelfs in der Hauptsache gegenüberzustellen sind (OVG Schleswig, Beschluss vom 13. September 1991 – 4 M 125/91 –, juris Rn. 14; VG Schleswig, Beschluss vom 11. September 2017 – 1 B 128/17 –, juris Rn. 28 f.).
10
Gemessen an diesen Maßstäben erweisen sich bei der hier im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen Prüfung der Rechtslage auf der Grundlage der allein möglichen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung der Sachlage die angefochtenen Bescheide des Antragsgegners als offensichtlich rechtmäßig.
11
Rechtsgrundlage für die angeordnete Fortnahme der Tiere ist – ohne dass es auf das Vorliegen der Voraussetzungen von § 16a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 TierSchG ankäme - bereits § 210 LVwG SH (Sicherstellung von Sachen). Dies Vorschrift ist nach § 90a S. 3 BGB auf Tiere anwendbar (vgl. auch § 246 LVwG).
12
Sachen können (nur) sichergestellt werden, wenn dies zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für die öffentliche Sicherheit erforderlich ist.
13
Unter dem Schutz der öffentlichen Sicherheit ist der Schutz der geschriebenen Rechtsordnung, der Schutz des Staates und der Schutz der individuellen Rechtsgüter der Bürger zu verstehen. Eine gegenwärtige Gefahr ist bei einem andauernden Verstoß gegen die Rechtsordnung anzunehmen. So liegt es hier.
14
Den Antragstellern ist unter Anordnung des Sofortvollzuges mit gleichlautenden Bescheiden vom 29. April 2015 das Halten und Betreuen von landwirtschaftlichen Nutztieren untersagt worden. Die hiergegen gerichtete Klage ist durch Urteil des Gerichts vom 29. Oktober 2019 (1 A 197/17) abgewiesen worden; über den Antrag auf Zulassung der Berufung ist noch nicht entschieden.
15
Ist den Antragstellern damit das Halten und Betreuen von landwirtschaftlichen Nutztieren verboten, verstößt die erneute Haltung zweier größerer Schafherden fortdauernd gegen geltendes Recht. Dieser Verstoß rechtfertigt die Sicherstellung der unrechtmäßig gehaltenen Tiere.
16
Dass mit dem Haltungs-und Betreuungsverbot vom 29. April 2015 das Halten und Betreuen von Schafen untersagt wurde, steht außer Frage; allein diese Art der Tierhaltung durch die Antragsteller ist (seit Jahren) Streitgegenstand zwischen den Antragstellern und dem Antragsgegner.
17
Hinsichtlich der Ziffer 3 des Bescheides ist eine Sofortvollzugsanordnung nicht erfolgt.
18
Die Einziehung und Veräußerung der sichergestellten und amtlich verwahrten Tiere ist nach § 213 LVwG SH zulässig, da eine weitere Unterhaltung mit unverhältnismäßig hohen Kosten verbunden ist und eine Verwertung durch die Antragsteller selbst innerhalb des hierfür gesetzten Zeitraums bis zum 20. Oktober 2020 nicht erfolgt ist.
19
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO; der Streitwert wurde gemäß § 63 Abs. 2, § 53 Abs. 2 Nr. 2 iVm § 52 Abs. 2 GKG festgesetzt.
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 15.000 Euro festgesetzt.
Gründe:
1Der Antrag hat keinen Erfolg.
2Aus den innerhalb der Frist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO dargelegten Gründen ergeben sich weder ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (Zulassungsgrund gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) noch die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (Zulassungsgrund gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).
3Stützt der Rechtsmittelführer seinen Zulassungsantrag auf den Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, muss er sich mit den entscheidungstragenden Annahmen des Verwaltungsgerichts auseinandersetzen. Dabei muss er den tragenden Rechtssatz oder die Feststellungen tatsächlicher Art, die er mit seinem Antrag angreifen will, bezeichnen und mit schlüssigen Gegenargumenten infrage stellen und damit zugleich Zweifel an der Richtigkeit des Entscheidungsergebnisses begründen. Daran fehlt es hier.
4Das Verwaltungsgericht hat die Klage des Klägers mit dem Antrag, die Beklagte unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 12. August 2019 zu verpflichten, ihm die beantragte Genehmigung zur Nutzung von bisher für den Betrieb einer Spielhalle genutzten Räumen im Erdgeschoss des Hauses E. Straße 100 in T. für den Betrieb eines Wettbüros (im Folgenden: Vorhaben) zu erteilen, abgewiesen. Dem Vorhaben, das nicht bereits durch die Baugenehmigung für den Betrieb einer Spielhalle vom 13. Juni 2007 gedeckt sei, stünden öffentlich-rechtliche Vorschriften, namentlich § 3 der Satzung über eine Veränderungssperre für den Bereich südlich entlang der E. Straße zwischen der Straße P. im Westen und der X.-straße im Osten (Nr.) vom 5. April 2019 (im Folgenden: Veränderungssperre) entgegen. Das Vorhaben könne nicht ausnahmsweise nach § 14 Abs. 2 Satz 1 BauGB zugelassen werden. Der Entwurf des Bebauungsplans, dessen Sicherung die Veränderungssperre diene, sehe vor, Vergnügungsstätten im Plangebiet auf der Grundlage von § 9 Abs. 2b BauGB weitgehend auszuschließen. Der Betrieb eines Wettbüros, das – wie das Vorhaben – als Vergnügungsstätte einzuordnen sei, sei danach in den bisher für den Betrieb einer Spielhalle genutzten Erdgeschossräumen auf dem Vorhabengrundstück nicht zulässig.
5Ohne Erfolg rügt der Kläger, es liege schon keine genehmigungspflichtige Nutzungsänderung vor, weil die Nutzung der besagten Erdgeschossräume für den konkret beabsichtigten Betrieb eines Wettbüros von der Baugenehmigung für den Betrieb einer Spielhalle vom 13. Juni 2007 umfasst sei. Ungeachtet dessen, dass sich nicht erschließt, inwieweit sich mit diesem Vorbringen ein Anspruch auf Erteilung der beantragten Baugenehmigung begründen ließe, hat das Verwaltungsgericht im Ergebnis zutreffend zugrunde gelegt, dass die für den Betrieb einer Spielhalle erteilte Baugenehmigung die beabsichtigte Nutzung für den Betrieb eines Wettbüros nicht umfasst. Auch unter Berücksichtigung des Zulassungsvorbringens ist anzunehmen, dass von dem hier beantragten Wettbüro mit drei SB-Wettterminals sowie fünf großformatigen, an der Wand angebrachten Fernsehbildschirmen, auf denen Kunden von insgesamt 60 Sitzplätzen an zwölf Tischen aus – die Plätze an der Theke nicht eingerechnet – Wettangebote beziehungsweise Wettergebnisse mitverfolgen können, andere städtebauliche Auswirkungen ausgehen können als von der genehmigten Spielhalle mit zwölf Geldspielgeräten, vier Spielgeräten sowie einem Stehtisch und einer Theke. An dieser Einschätzung ändert sich auch nichts, wenn man davon ausgeht, dass sich der Kreis der Besucher der Spielhalle mit dem der potenziellen Besucher des Wettbüros überschneidet. Inwieweit Einrichtungsgegenstände der Spielhalle übernommen werden und das äußere Erscheinungsbild des Betriebs nach außen unverändert bleibt, ist in diesem Zusammenhang nicht entscheidend.
6Dass ihm ein Anspruch auf Erteilung der beantragten Genehmigung nach § 14 Abs. 2 Satz 1 BauGB zustehen könnte, zeigt der Kläger mit seinem Zulassungsvorbringen nicht auf. Die Annahme des Verwaltungsgerichts, die tatbestandlichen Voraussetzungen der Vorschrift lägen nicht vor, zieht er nicht durchgreifend in Zweifel. Er stellt auch in diesem Zusammenhang darauf ab, die Nutzung der besagten Erdgeschossräume als Wettbüro habe keine anderen städtebaulichen Auswirkungen als die bisherige Nutzung als Spielhalle. Davon ist nach dem Vorstehenden jedoch nicht auszugehen.
7Liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 14 Abs. 2 Satz 1 BauGB nicht vor, kommt es nicht darauf an, woran sich die Beklagte bei der Ausübung des nach der Vorschrift eingeräumten Ermessens hätte orientieren müssen. Aus dem diesbezüglichen Vorbringen des Klägers, die Beklagte hätte berücksichtigen müssen, dass einer Fortführung des Spielhallenbetriebs in den besagten Erdgeschossräumen voraussichtlich die glücksspielrechtlichen Regelungen zur Einhaltung von Mindestabständen zu anderen Spielhallen entgegenstünden, ergibt sich auch nicht, dass die Veränderungssperre wegen fehlender Sicherungsfähigkeit der Planung unwirksam sein könnte, weil die Planung von vornherein nicht abwägungsfehlerfrei würde umgesetzt werden können. Es erscheint jedenfalls nicht als ausgeschlossen, dass der für den in Rede stehenden Teil des Plangebiets vorgesehene Ausschluss von Vergnügungsstätten das Ergebnis einer fehlerfreien Abwägung unter Berücksichtigung auch der Interessen des Klägers sein könnte. Bei der Prüfung der Sicherungsfähigkeit der Planung findet im Übrigen eine vorweggenommene Normenkontrolle nicht statt.
8Die Rechtssache hat nicht die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO.
9Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung, wenn sie eine im betreffenden Berufungsverfahren klärungsbedürftige und für die Entscheidung dieses Verfahrens erhebliche Rechts- oder Tatsachenfrage aufwirft, deren Beantwortung über den konkreten Fall hinaus wesentliche Bedeutung für die einheitliche Anwendung oder Weiterentwicklung des Rechts hat. Dabei ist zur Darlegung dieses Zulassungsgrundes die Frage auszuformulieren und substanziiert auszuführen, warum sie für klärungsbedürftig und entscheidungserheblich gehalten und aus welchen Gründen ihr Bedeutung über den Einzelfall hinaus zugemessen wird.
10Daran fehlt es hier. Die von dem Kläger aufgeworfene Frage,
11„ob die offensichtlich fehlende bodenrechtliche Relevanz innerhalb derselben Nutzungsart gleichwohl einer Nutzung als Wettbüro entgegensteht“,
12unterstellt erneut, dass die Nutzung der besagten Erdgeschossräume als Wettbüro keine anderen städtebaulichen Auswirkungen als die bisherige Nutzung als Spielhalle hat. Dies ergibt sich – wie vorstehend ausgeführt – auch aus dem Zulassungsvorbringen nicht.
13Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
14Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 40, 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 GKG.
15Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Sätze 1 und 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
16Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags ist das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert des Verfahrens wird auf 5.000 EUR festgesetzt.
Gründe
1
I. Der sinngemäß gestellte Antrag,
2
§ 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 der Niedersächsischen Verordnung über Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus SARS-CoV-2 (Niedersächsische Corona-Verordnung) vom 30. Oktober 2020 (Nds. GVBl. S. 368) vorläufig außer Vollzug zu setzen, soweit damit Tattoo-Studios und ähnliche Betriebe für den Publikumsverkehr und Besuche geschlossen sind,
3
bleibt ohne Erfolg. Der Antrag ist zulässig (1.), aber unbegründet (2.).
4
Diese Entscheidung, die nicht den prozessrechtlichen Vorgaben des § 47 Abs. 5 VwGO unterliegt (vgl. Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl. 2017, Rn. 607; Hoppe, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 47 Rn. 110 ff.), trifft der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 12.6.2009 - 1 MN 172/08 -, juris Rn. 4 m.w.N.) und gemäß § 76 Abs. 2 Satz 1 NJG ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richterinnen und Richter.
5
1. Der Antrag ist zulässig.
6
Der Normenkontrolleilantrag ist nach § 47 Abs. 6 in Verbindung mit Abs. 1 Nr. 2 VwGO und § 75 NJG statthaft. Die Niedersächsische Corona-Verordnung ist eine im Range unter dem Landesgesetz stehende Rechtsvorschrift im Sinne des § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO in Verbindung mit § 75 NJG (vgl. zu den insoweit bestehenden Anforderungen: Senatsbeschl. v. 31.1.2019 - 13 KN 510/18 -, NdsRpfl. 2019, 130 f. - juris Rn. 16 ff.).
7
Der Antragsteller ist antragsbefugt im Sinne des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO, da er geltend machen kann, in eigenen Rechten verletzt zu sein. Die in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Schließung von Tattoo-Studios und ähnlichen Betrieben für den Publikumsverkehr und Besuche ist an deren Betreiberinnen und Betreiber adressiert und lässt es möglich erscheinen, dass der Antragsteller in seinem Grundrecht der Berufsausübungsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG verletzt ist (vgl. zu dieser Qualifizierung des Eingriffs: Senatsbeschl. v. 16.4.2020 - 13 MN 77/20 -, juris Rn. 29). Eine darüberhinausgehende Verletzung des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb als einer nach Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Rechtsposition dürfte hingegen nicht vorliegen. Denn dieser Schutz erfasst nur den konkreten Bestand an Rechten und Gütern; die hier durch die verordnete Beschränkung betroffenen bloßen Umsatz- und Gewinnchancen werden hingegen auch unter dem Gesichtspunkt des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs nicht von der Eigentumsgarantie erfasst (vgl. BVerfG, Urt. v. 6.12.2016 - 1 BvR 2821/11 -, BVerfGE 143, 246, 331 f. - juris Rn. 240; Beschl. v. 26.6.2002 - 1 BvR 558/91 -, BVerfGE 105, 252, 278 - juris Rn. 79 m.w.N.).
8
Der Antrag ist zutreffend gegen das Land Niedersachsen als normerlassende Körperschaft im Sinne des § 47 Abs. 2 Satz 2 VwGO gerichtet. Das Land Niedersachsen wird durch das Niedersächsische Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung vertreten (vgl. Nr. II. des Gemeinsamen Runderlasses der Staatskanzlei und sämtlicher Ministerien, Vertretung des Landes Niedersachsen, v. 12.7.2012 (Nds. MBl. S. 578), zuletzt geändert am 15.9.2017 (Nds. MBl. S. 1288), in Verbindung mit Nr. 4.22 des Beschlusses der Landesregierung, Geschäftsverteilung der Niedersächsischen Landesregierung, v. 17.7.2012 (Nds. MBl. S. 610), zuletzt geändert am 18.11.2019 (Nds. MBl. S. 1618)).
9
2. Der Antrag ist aber unbegründet.
10
Nach § 47 Abs. 6 VwGO kann das Gericht in Normenkontrollverfahren auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist. Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind zunächst die Erfolgsaussichten eines Normenkontrollantrages im Hauptsacheverfahren, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen. Ergibt diese Prüfung, dass der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet sein wird, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht im Sinne von § 47 Abs. 6 VwGO zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Erweist sich dagegen, dass der Antrag voraussichtlich Erfolg haben wird, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache suspendiert werden muss. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist. Lassen sich die Erfolgsaussichten des Normenkontrollverfahrens nicht abschätzen, ist über den Erlass einer beantragten einstweiligen Anordnung im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden. Gegenüberzustellen sind im Rahmen der sog. "Doppelhypothese" die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Normenkontrollantrag aber Erfolg hätte, und die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Normenkontrollantrag aber erfolglos bliebe. Die für den Erlass der einstweiligen Anordnung sprechenden Gründe müssen die gegenläufigen Interessen deutlich überwiegen, mithin so schwer wiegen, dass der Erlass der einstweiligen Anordnung - trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache - dringend geboten ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 30.4.2019 - BVerwG 4 VR 3.19 -, juris Rn. 4 (zur Normenkontrolle eines Bebauungsplans); OVG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 22.10.2019 - 6 B 11533/19 -, juris Rn. 5 (zur Normenkontrolle einer Rechtsverordnung über die Freigabe eines verkaufsoffenen Sonntags); Sächsisches OVG, Beschl. v. 10.7.2019 - 4 B 170/19 -, juris Rn. 20 (zur Normenkontrolle einer Rechtsverordnung zur Bildung und Arbeit des Integrationsbeirats); Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 11.5.2018 - 12 MN 40/18 -, juris Rn. 24 ff. (zur Normenkontrolle gegen die Ausschlusswirkung im Flächennutzungsplan) jeweils m.w.N.).
11
Unter Anwendung dieser Grundsätze bleibt der Antrag auf vorläufige Außervollzugsetzung der in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordneten Schließung von Tattoo-Studios und ähnlichen Betrieben für den Publikumsverkehr und Besuche ohne Erfolg. Der Senat vermag den Erfolg des in der Hauptsache gestellten bzw. noch zu stellenden Normenkontrollantrags derzeit nicht verlässlich abzuschätzen (a.). Die danach gebotene Folgenabwägung führt nicht dazu, dass die von dem Antragsteller geltend gemachten Gründe für die einstweilige Außervollzugsetzung die für den weiteren Vollzug der Verordnung sprechenden Gründe überwiegen (b.).
12
a. Derzeit ist offen, ob § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 der Niedersächsischen Corona-Verordnung in einem Hauptsacheverfahren für unwirksam zu erklären ist. Der Senat geht zwar davon aus, dass diese Verordnungsregelung auf einer tragfähigen Rechtsgrundlage beruht (1) und formell rechtmäßig ist (2). Zweifel an der materiellen Rechtmäßigkeit (3) bestehen auch nicht mit Blick auf das "Ob" eines staatlichen Handelns (a) und die Notwendigkeit der infektionsschutzrechtlichen Maßnahme als solcher (b). Derzeit ist aber nicht verlässlich abzuschätzen, ob die Verordnungsregelung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG zu vereinbaren ist (c).
13
(1) Rechtsgrundlage für den Erlass der Verordnung ist § 32 Satz 1 und 2 in Verbindung mit § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz - IfSG -) vom 20. Juli 2000 (BGBl. I S. 1045), in der hier maßgeblichen zuletzt durch das Gesetz zur Umsetzung steuerlicher Hilfsmaßnahmen zur Bewältigung der Corona-Krise (Corona-Steuerhilfegesetz) vom 19. Juni 2020 (BGBl. I S. 1385) geänderten Fassung.
14
Eine Verfassungswidrigkeit dieser Rechtsgrundlagen, insbesondere mit Blick auf die Bestimmtheit der getroffenen Regelungen und deren Vereinbarkeit mit dem Vorbehalt des Gesetzes, ist für den Senat - ebenso wie offenbar für das Bundesverfassungsgericht in seiner bisherigen Spruchpraxis betreffend die Corona-Pandemie (vgl. bspw. BVerfG, Beschl. v. 15.7.2020 - 1 BvR 1630/20 -; v. 9.6.2020 - 1 BvR 1230/20 -; v. 28.4.2020 - 1 BvR 899/20 -, alle veröffentlicht in juris) - jedenfalls nicht offensichtlich (vgl. hierzu im Einzelnen: Bayerischer VerfGH, Entsch. v. 21.10.2020 - Vf. 26-VII-20 -, juris Rn. 17 ff.; OVG Bremen, Beschl. v. 9.4.2020 - 1 B 97/20 -, juris Rn. 24 ff.; Hessischer VGH, Beschl. v. 7.4.2020 - 8 B 892/20.N -, juris Rn. 34 ff.; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 26.10.2020 - 13 B 1581/20.NE -, juris Rn. 32 ff.; Beschl. v. 6.4. 2020 - 13 B 398/20.NE -, juris Rn. 36 ff.; Bayerischer VGH, Beschl. v. 30.3.2020 - 20 NE 20.632 -, juris Rn. 39 ff.; Beschl. v. 30.3.2020 - 20 CS 20.611 -, juris 17 f.; offengelassen: VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 9.4.2020 - 1 S 925/20 -, juris Rn. 37 ff.).
15
Der Vorbehalt des Gesetzes verlangt im Hinblick auf Rechtsstaatsprinzip und Demokratiegebot, dass der Gesetzgeber in grundlegenden normativen Bereichen alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen hat und nicht dem Handeln und der Entscheidungsmacht der Exekutive überlassen darf. Dabei betrifft die Normierungspflicht nicht nur die Frage, ob ein bestimmter Gegenstand überhaupt gesetzlich geregelt sein muss, sondern auch, wie weit diese Regelungen im Einzelnen zu gehen haben (sog. "Wesentlichkeitsdoktrin", BVerfG, Urt. v. 19.9.2018 - 2 BvF 1/15 u.a. -, juris Rn. 199). Inwieweit es einer Regelung durch den parlamentarischen Gesetzgeber bedarf, hängt vom jeweiligen Sachbereich und der Eigenart des betroffenen Regelungsgegenstands ab (vgl. BVerfG, Urt. v. 24.9.2003 - 2 BvR 1436/02 -, juris Rn. 67 f. m.w.N.). Auch Gesetze, die zu Rechtsverordnungen und Satzungen ermächtigen, können den Voraussetzungen des Gesetzesvorbehalts genügen, die wesentlichen Entscheidungen müssen aber durch den parlamentarischen Gesetzgeber selbst erfolgen. Das Erfordernis der hinreichenden Bestimmtheit der Ermächtigungsgrundlage bei Delegation einer Entscheidung auf den Verordnungsgeber aus Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG, wonach Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung im Gesetz bestimmt werden müssen, stellt insoweit eine notwendige Ergänzung und Konkretisierung des Gesetzesvorbehalts und des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung dar. Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG führt als eine Ausprägung des allgemeinen Gesetzesvorbehalts den staatlichen Eingriff durch die Exekutive nachvollziehbar auf eine parlamentarische Willensäußerung zurück. Eine Ermächtigung darf daher nicht so unbestimmt sein, dass nicht mehr vorausgesehen werden kann, in welchen Fällen und mit welcher Tendenz von ihr Gebrauch gemacht werden wird und welchen Inhalt die auf Grund der Ermächtigung erlassenen Verordnungen haben können (vgl. BVerfG, Urt. v. 19.9.2018 - 2 BvF 1/15 u.a. -, juris Rn. 198 ff. m.w.N.). Die Ermächtigungsnorm muss in ihrem Wortlaut nicht so genau wie irgend möglich gefasst sein; sie hat von Verfassungs wegen nur hinreichend bestimmt zu sein. Dazu genügt es, dass sich die gesetzlichen Vorgaben mit Hilfe allgemeiner Auslegungsregeln erschließen lassen, insbesondere aus dem Zweck, dem Sinnzusammenhang und der Entstehungsgeschichte der Norm. Welche Anforderungen an das Maß der erforderlichen Bestimmtheit im Einzelnen zu stellen sind, lässt sich daher nicht allgemein festlegen. Zum einen kommt es auf die Intensität der Auswirkungen der Regelung für die Betroffenen an. Je schwerwiegender die grundrechtsrelevanten Auswirkungen für die von einer Rechtsverordnung potentiell Betroffenen sind, desto strengere Anforderungen gelten für das Maß der Bestimmtheit sowie für Inhalt und Zweck der erteilten Ermächtigung. Zum anderen hängen die Anforderungen an Inhalt, Zweck und Ausmaß der gesetzlichen Determinierung von der Eigenart des zu regelnden Sachverhalts ab, insbesondere davon, in welchem Umfang der zu regelnde Sachbereich einer genaueren begrifflichen Umschreibung überhaupt zugänglich ist. Dies kann es auch rechtfertigen, die nähere Ausgestaltung des zu regelnden Sachbereichs dem Verordnungsgeber zu überlassen, der die Regelungen rascher und einfacher auf dem neuesten Stand zu halten vermag als der Gesetzgeber (vgl. BVerfG, Beschl. v. 21.9.2016 - 2 BvL 1/15 -, juris Rn. 54 ff. m.w.N.).
16
Nach der im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen und auch nur gebotenen summarischen Prüfung ist für den Senat nicht offensichtlich, dass einerseits § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG und andererseits § 32 Satz 1 und 2 IfSG diesen Anforderungen nicht genügen könnten.
17
Mit § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG hat der Bundesgesetzgeber bewusst eine offene Generalklausel geschaffen (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.3.2012 - BVerwG 3 C 16.11 -, BVerwGE 142, 205, 213 - juris Rn. 26 unter Hinweis auf den Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Seuchengesetzes, BT-Drs. 8/2468, S. 27 f.), ohne aber den zuständigen Infektionsschutzbehörden eine unzulässige Globalermächtigung zu erteilen. Der Bundesgesetzgeber hat für den fraglos eingriffsintensiven Bereich infektionsschutzrechtlichen staatlichen Handelns selbst bestimmt, dass die zuständigen Behörden nur dann, wenn Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt werden oder sich ergibt, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, "die notwendigen Schutzmaßnahmen" treffen dürfen, und zwar insbesondere die in den §§ 29 bis 31 IfSG genannten, dies aber auch nur "soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist". Der Begriff der "Schutzmaßnahmen" ist dabei umfassend angelegt, um den Infektionsschutzbehörden insbesondere bei einem dynamischen, zügiges Eingreifen erfordernden Infektionsgeschehen ein möglichst breites Spektrum geeigneter Maßnahmen an die Hand zu geben (vgl. Senatsbeschl. v. 29.5.2020 - 13 MN 185/20 -, juris Rn. 27; OVG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 2.4.2020 - 3 MB 8/20 -, juris Rn. 35). Zugleich ist der Begriff der "Schutzmaßnahmen" nach Inhalt und Zweck der Rechtsgrundlage mit Hilfe allgemeiner Auslegungsregeln hinreichend zu begrenzen. Danach umfasst er auch Untersagungen oder Beschränkungen von unternehmerischen Tätigkeiten in den Bereichen Industrie, Gewerbe, Handel und Dienstleistungen (vgl. Senatsbeschl. v. 14.5.2020 - 13 MN 165/20 -, juris Rn. 38 (Untersagung der Erbringung von Dienstleistungen in Tattoo-Studios); Senatsbeschl. v. 14.5.2020 - 13 MN 156/20 -, juris Rn. 28 (Schließung von Fitness-Studios); VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 13.5.2020 - 1 S 1281/20 -, juris Rn. 17; Senatsbeschl. v. 5.5.2020 - 13 MN 124/20 -, juris Rn. 31 (jeweils zum Verbot des Präsenzbetriebs von Nachhilfeeinrichtungen); VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 7.5.2020 - 1 S 1244/20 -, juris Rn. 16 (Untersagung des Betriebs von Spielhallen); OVG Bremen, Beschl. v. 7.5.2020 - 1 B 129/20 -, juris Rn. 20; Senatsbeschl. v. 29.4.2020 - 13 MN 120/20 -, juris Rn. 33 (jeweils zur Beschränkung der Verkaufsfläche von Einzelhandelsgeschäften); Senatsbeschl. v. 24.4.2020 - 13 MN 104/20 -, juris Rn. 30 (Schließung von Zoos und Tierparks); Senatsbeschl. v. 16.4.2020 - 13 MN 67/20 -, juris Rn. 43 (Verbot des Verkaufs von Blumen und anderen Pflanzen auf Wochenmärkten); Senatsbeschl. v. 14.4.2020 - 13 MN 63/20 -, juris Rn. 53 (Schließung von Autowaschanlagen); Bayerischer VGH, Beschl. v. 30.3.2020 - 20 CS 20.611 -, juris Rn. 11 ff. (Schließung von Einzelhandelsgeschäften)). Darüber hinaus sind dem behördlichen Einschreiten durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Grenzen gesetzt (vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 9.4.2020 - 1 B 97/20 -, juris Rn. 30). Dass diese durch Auslegung bestimmten Grenzen nicht vom Willen des Bundesgesetzgebers gedeckt wären, vermag der Senat nicht zu erkennen. Vielmehr hat der Bundesgesetzgeber mit dem Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 27. März 2020 (BGBl. I S. 587) den Satz 1 des § 28 Abs. 1 IfSG um den zweiten Halbsatz "sie kann insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten" ergänzt und gleichzeitig den bis dahin geltenden Satz 2 Halbsatz 2 gestrichen. Unabhängig von der Frage, ob es sich bei dieser Änderung um eine bloße Anpassung aus Gründen der Normenklarheit handelt, besteht für den Senat kein vernünftiger Zweifel, dass damit der Gesetzgeber selbst hinreichend bestimmt zum Ausdruck gebracht hat, dass über punktuell wirkende Maßnahmen hinaus allgemeine oder gleichsam flächendeckende Verbote erlassen werden können. Dafür spricht nicht nur der Wortlaut von § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 IfSG. Auch der Umstand, dass es sich bei der Gesetzesänderung um eine Reaktion auf das aktuelle Bedürfnis zum Erlass von landesweit geltenden Schutzmaßnahmen handelt, trägt dieses Auslegungsergebnis, zumal der Gesetzgeber in Kenntnis der bereits erlassenen Länderverordnungen bei gleichzeitig bestehender Kritik an der ursprünglichen Gesetzesfassung gehandelt hat (so ausdrücklich OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 6.4.2020 - 13 B 398/20.NE -, juris Rn. 52 m.w.N.). Eine weitergehende Konkretisierung der Eingriffsgrundlagen erscheint angesichts der Besonderheiten des Infektionsschutzrechts, die bei Eintritt eines Pandemiegeschehens kurzfristige Reaktionen des Verordnungsgebers auf sich ändernde Gefährdungslagen erforderlich machen können, verfassungsrechtlich nicht geboten.
18
Genügt danach § 28 Abs. 1 IfSG den an eine gesetzliche Rechtsgrundlage für staatliche Eingriffe zu stellenden verfassungsrechtlichen Anforderungen an Inhalt, Zweck und Ausmaß, gilt dies auch für die Verordnungsermächtigung in § 32 Satz 1 und 2 IfSG. Denn diese Verordnungsermächtigung knüpft hinsichtlich der materiellen Voraussetzungen auch an § 28 Abs. 1 IfSG an und ermächtigt die Landesregierungen bzw. von ihr befugte Stellen nur dazu, "unter den Voraussetzungen, die für Maßnahmen nach den §§ 28 bis 31 maßgebend sind, auch durch Rechtsverordnungen entsprechende Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zu erlassen". Der Gesetzgeber gibt also nicht verordnungstypisch einen Regelungsbereich in bestimmten Grenzen aus der Hand, um diesen der Exekutive zur eigenverantwortlichen abstrakten Ausfüllung zu übertragen. Die Verordnungsermächtigung nach § 32 Satz 1 und 2 IfSG stellt lediglich ein anderes technisches Instrument zur Verfügung, um konkret notwendige Schutzmaßnahmen im Sinne des § 28 Abs. 1 IfSG zu erlassen und insbesondere bei flächendeckenden Infektionsgeschehen nicht auf Einzel- oder Allgemeinverfügungen angewiesen zu sein, denen aber durchaus eine vergleichbare flächenhafte Wirkung zukommen kann.
19
(2) Anhaltspunkte für eine formelle Rechtswidrigkeit der Niedersächsischen Corona-Verordnung vom 30. Oktober 2020 bestehen derzeit nicht.
20
Anstelle der nach § 32 Satz 1 IfSG ermächtigten Landesregierung war aufgrund der nach § 32 Satz 2 IfSG gestatteten und durch § 3 Nr. 1 der Verordnung zur Übertragung von Ermächtigungen aufgrund bundesgesetzlicher Vorschriften (Subdelegationsverordnung) vom 9. Dezember 2011 (Nds. GVBl. S. 487), zuletzt geändert durch Verordnung vom 4. August 2020 (Nds. GVBl. S. 266), betätigten Subdelegation das Niedersächsische Ministerium für Gesundheit, Soziales und Gleichstellung zum Erlass der Verordnung zuständig.
21
Gemäß Art. 45 Abs. 1 Satz 2 NV ist die Verordnung von der das Ministerium vertretenden Ministerin ausgefertigt und im Niedersächsischen Gesetz- und Verordnungsblatt vom 30. Oktober 2020 (Nds. GVBl. S. 368) verkündet worden.
22
§ 20 Abs. 1 der Niedersächsischen Corona-Verordnung bestimmt, wie von Art. 45 Abs. 3 Satz 1 NV gefordert, den Tag des Inkrafttretens.
23
Auch dem Zitiergebot des Art. 43 Abs. 2 Satz 1 NV (vgl. zu den insoweit bestehenden Anforderungen: BVerfG, Urt. v. 6.7.1999 - 2 BvF 3/90 -, BVerfGE 101, 1 - juris Rn. 152 ff. (zu Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG); Steinbach, in: Epping/Butzer u.a., Hannoverscher Kommentar zur Niedersächsischen Verfassung, 2012, Art. 43 Rn. 20 m.w.N.) dürfte die Verordnung genügen.
24
Etwaige Verstöße des Antragsgegners gegen die Unterrichtungspflicht nach Art. 25 NV beeinflussen die Rechtmäßigkeit der Verordnung nicht (vgl. Niedersächsischer StGH, Beschl. v. 9.9.2020 - StGH 1/20 -, juris Rn. 9).
25
(3) Die in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Schließung von Tattoo-Studios und ähnlichen Betrieben für den Publikumsverkehr und Besuche ist auch mit Blick auf das "Ob" eines staatlichen Handelns (a) und die Notwendigkeit der infektionsschutzrechtlichen Maßnahme als solcher (b) nicht zu beanstanden.
26
(a) Die Voraussetzungen des § 32 Satz 1 in Verbindung mit § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG sind mit Blick auf das "Ob" eines staatlichen Handelns gegeben.
27
Nach § 32 Satz 1 IfSG dürfen unter den Voraussetzungen, die für Maßnahmen nach den §§ 28 bis 31 IfSG maßgebend sind, auch durch Rechtsverordnung entsprechende Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten erlassen werden. Die tatbestandlichen Voraussetzungen der Rechtsgrundlage des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG sind erfüllt.
28
Werden Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt oder ergibt sich, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, so trifft die zuständige Behörde nach § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in den §§ 29 bis 31 IfSG genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist; sie kann insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten.
29
Es wurden zahlreiche Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider (vgl. die Begriffsbestimmungen in § 2 Nrn. 3 ff. IfSG) im Sinne des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG festgestellt. Die weltweite Ausbreitung von COVID-19, die offizielle Bezeichnung der durch den neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 (Severe acute respiratory syndrome coronavirus type 2) als Krankheitserreger ausgelösten Erkrankung, wurde am 11. März 2020 von der WHO zu einer Pandemie erklärt. Weltweit sind derzeit mehr 50.000.000 Menschen mit dem Krankheitserreger infiziert und mehr als 1.250.000 Menschen im Zusammenhang mit der Erkrankung verstorben (vgl. WHO, Coronavirus disease (COVID-19) Pandemic, veröffentlicht unter: www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019, Stand: 9.11.2020). Derzeit sind im Bundesgebiet mehr als 670.000 Menschen infiziert und mehr als 13.300 Menschen im Zusammenhang mit der Erkrankung verstorben und in Niedersachsen mehr als 46.300 Menschen infiziert und mehr als 820 Menschen infolge der Erkrankung verstorben (vgl. Robert Koch-Institut (RKI), COVID-19: Fallzahlen in Deutschland und weltweit, veröffentlicht unter: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Fallzahlen.html, Stand: 9.11.2020). Es handelt sich weltweit und in Deutschland um eine sehr dynamische und ernst zu nehmende Situation. Weltweit nimmt die Anzahl der Fälle rasant zu. Nach einer vorübergehenden Stabilisierung der Fallzahlen auf einem erhöhten Niveau ist aktuell ein starker Anstieg der Übertragungen auch in der Bevölkerung in Deutschland zu beobachten. Es kommt bundesweit zu Ausbruchsgeschehen. Der Anstieg wird durch Ausbrüche, insbesondere im Zusammenhang mit privaten Treffen und Feiern sowie bei Gruppenveranstaltungen, verursacht. Bei einem zunehmenden Anteil der Fälle ist aber die Infektionsquelle unbekannt. Es werden wieder vermehrt COVID-19-bedingte Ausbrüche in Alten- und Pflegeheimen gemeldet und die Zahl der Patienten, die auf einer Intensivstation behandelt werden müssen, hat sich in den letzten zwei Wochen mehr als verdoppelt (vgl. RKI, Risikobewertung zu COVID-19, veröffentlicht unter: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html, Stand: 26.10.2020). Diese Gefährdungseinschätzung des RKI als nationaler Behörde nach § 4 Abs. 1 IfSG wird nach dem Dafürhalten des Senats durch vereinzelt geäußerte Zweifel an der Zuverlässigkeit der zum Nachweis von SARS-CoV-2 verwendeten sog. PCR-Tests nicht erschüttert (vgl. hierzu Bayerischer VGH, Beschl. v. 8.9.2020 - 20 NE 20.2001 -, juris Rn. 28).
30
COVID-19 ist eine übertragbare Krankheit im Sinne des § 2 Nr. 3 IfSG. Die Erkrankung manifestiert sich als Infektion der Atemwege, aber auch anderer Organsysteme mit den Symptomen Husten, Fieber, Schnupfen sowie Geruchs- und Geschmacksverlust. Der Krankheitsverlauf variiert in Symptomatik und Schwere. Es wird angenommen, dass etwa 81% der diagnostizierten Personen einen milden, etwa 14% einen schwereren und etwa 5% einen kritischen Krankheitsverlauf zeigen. Obwohl schwere Verläufe auch bei Personen ohne Vorerkrankung auftreten und auch bei jüngeren Patienten beobachtet wurden, haben ältere Personen (mit stetig steigendem Risiko für einen schweren Verlauf ab etwa 50 bis 60 Jahren), Männer, Raucher (bei schwacher Evidenz), stark adipöse Menschen, Personen mit bestimmten Vorerkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems (z.B. koronare Herzerkrankung und Bluthochdruck) und der Lunge (z.B. COPD) sowie Patienten mit chronischen Nieren- und Lebererkrankungen, mit Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit), mit einer Krebserkrankung oder mit geschwächtem Immunsystem (z.B. aufgrund einer Erkrankung, die mit einer Immunschwäche einhergeht oder durch Einnahme von Medikamenten, die die Immunabwehr schwächen, wie z.B. Cortison) ein erhöhtes Risiko für schwere Verläufe. Die Erkrankung ist sehr infektiös, und zwar nach Schätzungen beginnend etwa ein bis zwei Tage vor Symptombeginn und endend - bei mild-moderaten Erkrankungen - jedenfalls zehn Tage nach Symptombeginn. Die Übertragung erfolgt hauptsächlich durch die respiratorische Aufnahme virushaltiger Partikel (größere Tröpfchen und kleinere Aerosole), die beim Atmen, Husten, Sprechen und Niesen entstehen. Auch eine Übertragung durch kontaminierte Oberflächen kann nicht ausgeschlossen werden. Es ist zwar offen, wie viele Menschen sich insgesamt in Deutschland mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 infizieren werden. Schätzungen gehen aber von bis zu 70% der Bevölkerung aus, es ist lediglich unklar, über welchen Zeitraum dies geschehen wird. Grundlage dieser Schätzungen ist die so genannte Basisreproduktionszahl von COVID-19. Sie beträgt ohne die Ergreifung von Maßnahmen 3,3 bis 3,8. Dieser Wert kann so interpretiert werden, dass bei einer Basisreproduktionszahl von etwa 3 ungefähr zwei Drittel aller Übertragungen verhindert werden müssen, um die Epidemie unter Kontrolle zu bringen. Die Inkubationszeit beträgt im Mittel fünf bis sechs Tage bei einer Spannweite von einem bis zu 14 Tagen. Der Anteil der Infizierten, der auch tatsächlich erkrankt (Manifestationsindex), beträgt bis zu 85%. Laut der Daten aus dem deutschen Meldesystem werden etwa 14% der in Deutschland dem RKI übermittelten Fälle hospitalisiert. Unter hospitalisierten COVID-19-Patienten mit einer schweren akuten Atemwegserkrankung mussten 37% intensivmedizinisch behandelt und 17% beatmet werden. Die mediane Hospitalisierungsdauer von COVID-19-Patienten mit einer akuten respiratorischen Erkrankung beträgt 10 Tage und von COVID-19-Patienten mit einer Intensivbehandlung 16 Tage. Zur Aufnahme auf die Intensivstation führt im Regelfall Dyspnoe mit erhöhter Atemfrequenz (> 30/min), dabei steht eine Hypoxämie im Vordergrund. Mögliche Verlaufsformen sind die Entwicklung eines akuten Lungenversagens (Acute Respiratory Distress Syndrome - ARDS) sowie, bisher eher seltener, eine bakterielle Koinfektion mit septischem Schock. Weitere beschriebene Komplikationen sind zudem Rhythmusstörungen, eine myokardiale Schädigung sowie das Auftreten eines akuten Nierenversagens (vgl. zum Krankheitsbild im Einzelnen mit weiteren Nachweisen: Kluge/Janssens/Welte/Weber-Carstens/Marx/Karagiannidis, Empfehlungen zur intensivmedizinischen Therapie von Patienten mit COVID-19, in: Medizinische Klinik - Intensivmedizin und Notfallmedizin v. 12.3.2020, veröffentlicht unter: https://link.springer.com/content/pdf/10.1007/s00063-020-00674-3.pdf, Stand: 30.3.2020). Eine Impfung ist in Deutschland nicht verfügbar. Verschiedene spezifische Therapieansätze (direkt antiviral wirksam, immunmodulatorisch wirksam) wurden und werden im Verlauf der Pandemie in Studien untersucht. Zwei Arzneimittel erwiesen sich jeweils in einer bestimmten Gruppe von Patienten mit COVID-19 als wirksam. Als direkt antiviral wirksames Arzneimittel erhielt Remdesivir am 3. Juli 2020 eine bedingte Zulassung zur Anwendung bei schwer erkrankten Patienten durch die Europäische Kommission. Als immunmodulatorisch wirksames Arzneimittel erhielt Dexamethason eine positive Bewertung durch die Europäische Kommission für die Anwendung bei bestimmten Patientengruppen mit einer Infektion durch SARS-CoV-2. Aufgrund der Neuartigkeit des Krankheitsbildes lassen sich keine zuverlässigen Aussagen zu Langzeitauswirkungen und (irreversiblen) Folgeschäden durch die Erkrankung bzw. ihre Behandlung (z.B. in Folge einer Langzeitbeatmung) treffen. Allerdings deuten Studiendaten darauf hin, dass an COVID-19 Erkrankte auch Wochen bzw. Monate nach der akuten Erkrankung noch Symptome aufweisen können.
31
Während der Fall-Verstorbenen-Anteil bei Erkrankten bis etwa 50 Jahren unter 0,1% liegt, steigt er ab 50 zunehmend an und liegt bei Personen über 80 Jahren häufig über 10% (vgl. zu Vorstehendem im Einzelnen und mit weiteren Nachweisen: RKI, SARS-CoV-2 Steckbrief zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19), veröffentlicht unter: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html?nn=13490888, Stand: 2.10.2020; Antworten auf häufig gestellte Fragen zum Coronavirus SARS-CoV-2, veröffentlicht unter: www.rki.de/SharedDocs/FAQ/NCOV2019/gesamt.html, Stand: 6.10.2020).
32
Auch wenn nach diesen Erkenntnissen nur ein kleiner Teil der Erkrankungen schwer verläuft, kann das individuelle Risiko anhand der epidemiologischen und statistischen Daten nicht abgeleitet werden. So kann es auch ohne bekannte Vorerkrankungen und bei jungen Menschen zu schweren bis hin zu lebensbedrohlichen Krankheitsverläufen kommen. Langzeitfolgen, auch nach leichten Verläufen, sind derzeit noch nicht abschätzbar. Die Belastung des Gesundheitssystems hängt maßgeblich von der regionalen Verbreitung der Infektion, den hauptsächlich betroffenen Bevölkerungsgruppen, den vorhandenen Kapazitäten und den eingeleiteten Gegenmaßnahmen ab. Sie kann örtlich sehr schnell zunehmen und dann insbesondere das öffentliche Gesundheitswesen, aber auch die Einrichtungen für die ambulante und stationäre medizinische Versorgung stark belasten. Deshalb bleiben intensive gesamtgesellschaftliche Gegenmaßnahmen nötig, um die Folgen der COVID-19-Pandemie für Deutschland zu minimieren. Diese Maßnahmen verfolgen weiterhin das Ziel, die Infektionen in Deutschland so früh wie möglich zu erkennen und die weitere Ausbreitung des Virus einzudämmen. Hierdurch soll die Zeit für die Entwicklung von antiviralen Medikamenten und von Impfstoffen gewonnen werden. Auch sollen Belastungsspitzen im Gesundheitswesen vermieden werden (vgl. hierzu im Einzelnen und mit weiteren Nachweisen: RKI, Risikobewertung zu COVID-19, veröffentlicht unter: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html, Stand: 26.10.2020).
33
Die danach vorliegenden tatbestandlichen Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG verpflichten die zuständigen Behörden zum Handeln (gebundene Entscheidung, vgl. BVerwG, Urt. v. 22.3.2012 - BVerwG 3 C 16.11 -, BVerwGE 142, 205, 212 - juris Rn. 23).
34
Zugleich steht damit fest, dass die Maßnahmen nicht auf die Rechtsgrundlage des § 16 Abs. 1 IfSG gestützt werden können. Denn die Rechtsgrundlagen einerseits des § 16 Abs. 1 IfSG im Vierten Abschnitt des Infektionsschutzgesetzes "Verhütung übertragbarer Krankheiten" und andererseits des § 28 Abs. 1 IfSG im Fünften Abschnitt des Infektionsschutzgesetzes "Bekämpfung übertragbarer Krankheiten" stehen in einem Exklusivitätsverhältnis zueinander; der Anwendungsbereich des § 16 Abs. 1 IfSG ist nur eröffnet, solange eine übertragbare Krankheit noch nicht aufgetreten ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.12.1971 - BVerwG I C 60.67 -, BVerwGE 39, 190, 192 f. - juris Rn. 28 (zu §§ 10 Abs. 1, 34 Abs. 1 BSeuchG a.F.); Senatsurt. v. 3.2.2011 - 13 LC 198/08 -, juris Rn. 40).
35
(b) Nach summarischer Prüfung ist die in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Schließung von Tattoo-Studios und ähnlichen Betrieben für den Publikumsverkehr und Besuche auch eine notwendige Schutzmaßnahme im Sinne des § 28 Abs. 1 IfSG.
36
(aa) Dies gilt zunächst für den durch die Regelung betroffenen Adressatenkreis. Wird ein Kranker, Krankheitsverdächtiger, Ansteckungsverdächtiger oder Ausscheider festgestellt, begrenzt § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG den Handlungsrahmen der Behörde nicht dahin, dass allein Schutzmaßnahmen gegenüber der festgestellten Person in Betracht kommen. Die Vorschrift ermöglicht Regelungen gegenüber einzelnen wie mehreren Personen. Vorrangige Adressaten sind zwar die in § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG benannten Personengruppen. Bei ihnen steht fest oder besteht der Verdacht, dass sie Träger von Krankheitserregern sind, die bei Menschen eine Infektion oder eine übertragbare Krankheit im Sinne von § 2 Nr. 1 bis Nr. 3 IfSG verursachen können. Wegen der von ihnen ausgehenden Gefahr, eine übertragbare Krankheit weiterzuverbreiten, sind sie schon nach den allgemeinen Grundsätzen des Gefahrenabwehr- und Polizeirechts als "Störer" anzusehen. Nach § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG können aber auch (sonstige) Dritte ("Nichtstörer") Adressat von Maßnahmen sein, beispielsweise um sie vor Ansteckung zu schützen (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.3.2012 - BVerwG 3 C 16.11 -, BVerwGE 142, 205, 212 f. - juris Rn. 25 f.; OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 3.4.2020 - OVG 11 S 14/20 -, juris Rn. 8 f.).
37
Aus infektionsschutzrechtlicher Sicht maßgeblich ist insoweit allein der Bezug der durch die konkrete Maßnahme in Anspruch genommenen Person zur Infektionsgefahr. Dabei gilt für die Gefahrenwahrscheinlichkeit kein strikter, alle möglichen Fälle gleichermaßen erfassender Maßstab. Vielmehr ist der im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht geltende Grundsatz heranzuziehen, dass an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Dafür sprechen das Ziel des Infektionsschutzgesetzes, eine effektive Gefahrenabwehr zu ermöglichen (§§ 1 Abs. 1, 28 Abs. 1 IfSG), sowie der Umstand, dass die betroffenen Krankheiten nach ihrem Ansteckungsrisiko und ihren Auswirkungen auf die Gesundheit des Menschen unterschiedlich gefährlich sind. Im Falle eines hochansteckenden Krankheitserregers, der bei einer Infektion mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer tödlich verlaufenden Erkrankung führen würde, drängt sich angesichts der schwerwiegenden Folgen auf, dass die vergleichsweise geringe Wahrscheinlichkeit eines infektionsrelevanten Kontakts genügt (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.3.2012 - BVerwG 3 C 16.11 -, BVerwGE 142, 205, 216 - juris Rn. 32). Nach der Risikobewertung des gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Nr. 1 IfSG hierzu berufenen Robert Koch-Instituts im täglichen "Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19)" vom 8. November 2020 (veröffentlicht unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Gesamt.html?nn=13490888) besteht weltweit und in Deutschland eine sehr dynamische und ernst zu nehmende Situation. Weltweit und in angrenzenden Ländern Europas nimmt die Anzahl der Fälle rasant zu. Aufgrund dieser Bewertung besteht für die hier zu beurteilenden Betreiberinnen und Betreiber von Tattoo-Studios und ähnlichen Betrieben, in denen sich Dienstleister, Kunden und Gäste unmittelbar persönlich begegnen und die auch deshalb eine das allgemeine Infektionsrisiko erhöhende Gefahrenlage herbeiführen, ein hinreichend konkreter Bezug zu einer Infektionsgefahr.
38
(bb) Auch Art und Umfang der vom Antragsgegner konkret gewählten Schutzmaßnahme sind nicht ersichtlich ermessensfehlerhaft.
39
"Schutzmaßnahmen" im Sinne des § 28 Abs. 1 IfSG können, wie dargestellt, auch Untersagungen oder Beschränkungen von unternehmerischen Tätigkeiten in den Bereichen Industrie, Gewerbe, Handel und Dienstleistungen sein (vgl. mit zahlreichen Beispielen und weiteren Nachweisen: Senatsbeschl. v. 29.5.2020 - 13 MN 185/20 -, juris Rn. 27), wie sie in § 10 Abs. 1 und 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung getroffen worden sind.
40
Dem steht nicht entgegen, dass § 31 IfSG eine Regelung für die Untersagung beruflicher Tätigkeiten gegenüber Kranken, Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen, Ausscheidern und sonstigen Personen trifft. Denn diese Regelung ist gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG ("insbesondere die in den §§ 29 bis 31 genannten") nicht abschließend. Auch die mangelnde Erwähnung der Grundrechte nach Art. 12 Abs. 1 und 14 Abs. 1 GG in § 28 Abs. 1 Satz 4 IfSG steht der dargestellten Auslegung nicht entgegen. Denn das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG, welches § 28 Abs. 1 Satz 4 IfSG zu erfüllen sucht, besteht nur, soweit im Sinne des Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG "ein Grundrecht durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann". Von derartigen Grundrechtseinschränkungen sind andersartige grundrechtsrelevante Regelungen zu unterscheiden, die der Gesetzgeber in Ausführung der ihm obliegenden, im Grundrecht vorgesehenen Regelungsaufträge, Inhaltsbestimmungen oder Schrankenziehungen vornimmt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 26.5.1970 - 1 BvR 657/68 -, BVerfGE 28, 282, 289 - juris Rn. 26 ff. (zu Art. 5 Abs. 2 GG); Beschl. v. 12.1.1967 - 1 BvR 168/64 -, BVerfGE 21, 92, 93 - juris Rn. 4 (zu Art. 14 GG); Urt. v. 29.7.1959 - 1 BvR 394/58 -, BVerfGE 10, 89, 99 - juris Rn. 41 (zu Art. 2 Abs. 1 GG)). Hierzu zählen auch die Grundrechte der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG, der Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG und des Eigentumsschutzes nach Art. 14 Abs. 1 GG.
41
Der weite Kreis möglicher Schutzmaßnahmen wird durch § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG aber dahin begrenzt, dass die Schutzmaßnahme im konkreten Einzelfall "notwendig" sein muss. Der Staat darf mithin nicht alle Maßnahmen und auch nicht solche Maßnahmen anordnen, die von Einzelnen in Wahrnehmung ihrer Verantwortung gegenüber sich selbst und Dritten bloß als nützlich angesehen werden. Vielmehr dürfen staatliche Behörden nur solche Maßnahmen verbindlich anordnen, die zur Erreichung infektionsschutzrechtlich legitimer Ziele objektiv notwendig sind (vgl. Senatsbeschl. v. 26.5.2020 - 13 MN 182/20 -, juris Rn. 38). Diese Notwendigkeit ist während der Dauer einer angeordneten Maßnahme von der zuständigen Behörde fortlaufend zu überprüfen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.4.2020 - 1 BvQ 31/20 -, juris Rn. 16).
42
Derzeit stellt sich die in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Schließung von Tattoo-Studios und ähnlichen Betrieben für den Publikumsverkehr und Besuche in diesem Sinne als "notwendig" dar.
43
(α) Der Verordnungsgeber verfolgt mit der Verordnungsregelung das legitime Ziel, die Bevölkerung vor der Infektion mit dem SARS-CoV-2-Virus zu schützen, die Verbreitung der Krankheit COVID-19 zu verhindern und eine Überlastung des Gesundheitssystems infolge eines ungebremsten Anstiegs von Ansteckungen und Krankheitsfällen zu vermeiden. Zur Vorbeugung einer akuten nationalen Gesundheitsnotlage sollen die Kontakte in der Bevölkerung drastisch reduziert werden, um das Infektionsgeschehen insgesamt zu verlangsamen und die Zahl der Neuinfektionen wieder in durch den öffentlichen Gesundheitsdienst nachverfolgbare Größenordnungen zu senken.
44
(β) Zur Erreichung dieses legitimen Ziels ist die Verordnungsregelung auch geeignet, weil sie die Kontaktmöglichkeiten in den Tattoo-Studios und ähnlichen Betrieben beschränkt und verhindert, dass sich wechselnde Kunden und Gäste zu dieser Zeit in den Einrichtungen einfinden. Zudem werden die Kontaktmöglichkeiten auf dem Weg von und zu den Betrieben und die erhöhte Attraktivität des öffentlichen Raums durch die Schließung von Freizeiteinrichtungen, wie den Tattoo-Studios und ähnlichen Betriebe, reduziert (vgl. zur Gastronomie: OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 26.10.2020 - 13 B 1581/20.NE -, juris Rn. 54 ff.; Bayerischer VGH, Beschl. v. 19.6.2020 - 20 NE 20.1127 -, juris Rn. 40).
45
(γ) Der Verordnungsgeber darf die getroffene Regelung unter Berücksichtigung des ihm zukommenden Einschätzungsspielraums auch für erforderlich halten.
46
(αα) Mildere Mittel im Hinblick auf das tätigkeitsbezogene Infektionsgeschehen drängen sich dem Senat nicht auf.
47
Für den Senat steht nach seiner bisherigen Rechtsprechung außer Zweifel, dass Zusammenkünfte in geschlossenen Räumen, mit einer Vielzahl regelmäßig einander unbekannter Personen und längerer Verweildauer ein signifikant erhöhtes Infektionsrisiko mit sich bringen (vgl. nur Senatsbeschl. v. 24.8.2020 - 13 MN 297/20 -, juris Rn. 30 ff. (Kinos); v. 14.8.2020 - 13 MN 283/20 -, juris Rn. 52 ff. (Feiern mit mehr als 50 Personen); v. 29.6.2020 - 13 MN 244/20 -, juris Rn. 35 (Clubs, Diskotheken und ähnliche Einrichtungen), v. 14.5.2020 - 13 MN 156/20 -, juris Rn. 31 (Fitnessstudios) und v. 29.10.2020 - 13 MN 393/20 -, juris Rn. 61 (Gastronomie)). Dies gilt insbesondere bei Tätigkeiten, die einen Körperkontakt zwischen wechselnden Personen notwendig machen.
48
Belastbare widerstreitende Erkenntnisse sind dem Bericht des RKI zum "Infektionsumfeld von COVID-19-Ausbrüchen in Deutschland" nicht zu entnehmen. Das RKI konnte in einer "Quellensuche" (Datenstand: 11. August 2020) von insgesamt 202.225 übermittelten Fällen nur 55.141 Fälle bestimmten Ausbruchsgeschehen zuordnen und feststellen, in welchen von 30 unterschiedlichen, verschiedenste Lebensbereiche erfassenden Infektionsumfeldern sich diese ereignet haben (vgl. RKI, Infektionsumfeld von COVID-19-Ausbrüchen in Deutschland, in: Epidemiologisches Bulletin v. 17.9.2020, S. 3 ff., veröffentlicht unter: https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2020/Ausgaben/38_20.pdf?__blob=publicationFile). Von diesen 55.141 Fällen sind bis zur 29. Meldewoche zwar lediglich 1.699 Fälle dem Infektionsumfeld der "Freizeit, unspezifisch" zuzuordnen, d.h. 3,08%. Diese Zahlen finden als solche eine gewisse Bestätigung im Täglichen Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) vom 27. Oktober 2020 (dort S. 12 f.; veröffentlicht unter: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Okt_2020/2020-10-27-de.pdf?__blob=publicationFile), wonach dem Infektionsumfeld der "Freizeit" auch bis zur 43. Kalenderwoche keine signifikante Anzahl von COVID-19-Fällen zuzuordnen ist. Dass innerhalb dieses Umfelds Infektionen in Tattoo-Studios und ähnlichen Betrieben einen relevanten Teil ausmachen, lassen die Daten nicht erkennen und ist auch wegen des überaus breiten Feldes der Freizeitaktivitäten und des eher seltenen Besuchs von Tattoo-Studios und ähnlichen Betrieben nicht naheliegend. Hieraus kann aber nicht verlässlich geschlossen werden, dass in Tattoo-Studios und ähnlichen Betrieben kein signifikantes Infektionsrisiko besteht. Hiergegen spricht schon die sehr hohe Zahl von Fällen, in denen ein Infektionsumfeld gerade nicht festgestellt werden konnte. Dies lässt zwar nicht den Schluss zu, dass - etwa wegen einer mangelhaften Erfüllung der Pflicht zur Kundenkontaktdatenerhebung (vgl. § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 der vorausgegangenen Niedersächsischen Corona-Verordnung v. 7.10.2020) - diese sehr hohe Zahl von Fällen den Tattoo-Studios und ähnlichen Betrieben überwiegend oder gar ganz zuzurechnen wäre. Es mindert aber den Erkenntniswert der zahlenmäßig festgestellten Infektionsumfelder ganz erheblich. Dahinstehen lassen kann der Senat, ob der Verordnungsgeber alles ihm Mögliche und Zumutbare unternommen hat, um bessere Erkenntnisse über die Verbreitungswege und Infektionsumfelder zu erlangen. Denn selbst verneinendenfalls führte dies nach dem Dafürhalten des Senats nicht dazu, dass infektionsschutzrechtliche Schutzmaßnahmen auf der seit Pandemiebeginn nahezu unverändert dürftigen Erkenntnislage gar nicht mehr getroffen werden dürften und die Infektionsschutzbehörden gehalten wären, dem Geschehen seinen Lauf zu lassen.
49
In Bezug auf das tätigkeitsbezogene Infektionsgeschehen mildere Mittel ergeben sich auch nicht aus bloßen Beschränkungen des Betriebs von Tattoo-Studios, etwa auf der Grundlage von Hygienekonzepten und deren notfalls zwangsweiser behördlicher Durchsetzung. Der Senat verkennt nicht, dass die Betreiberinnen und Betreiber der Tattoo-Studios und ähnlichen Betriebe in den vergangenen Monaten erhebliche Arbeitskraft und finanzielle Mittel in die Umsetzung dieser Konzepte investiert haben. Ein regelmäßiges Vollzugsdefizit, dem - in gewissen Grenzen - durch verstärkte behördliche Kontrollen entgegengewirkt werden könnte (vgl. hierzu Senatsbeschl. v. 28.8.2020 - 13 MN 307/20 -, juris Rn. 32), ist nicht zu erkennen. Eine gewisse Wirksamkeit der Konzepte ist nicht zu leugnen, auch wenn diese mangels belastbarer tatsächlicher Erkenntnisse zum konkreten Infektionsumfeld nicht konkretisiert werden kann. Es ist angesichts der derzeitigen Infektionsdynamik aber nicht festzustellen, dass diese Konzepte infektionsschutzrechtlich eine vergleichbare Effektivität aufweisen, wie die Betriebsschließungen.
50
(ββ) Mildere Mittel sind auch im Hinblick auf das gebietsbezogene Infektionsgeschehen nicht ersichtlich.
51
Der Verordnungsgeber hat die Erforderlichkeit der Betriebsschließung - anders als bei den zuvor angeordneten Beherbergungsverboten (vgl. Senatsbeschl. v. 15.10.2020 - 13 MN 371/20 -, juris Rn. 59) und Sperrzeiten im Gastronomiebereich (vgl. Senatsbeschl. v. 29.10.2020 - 13 MN 393/20 -, juris Rn. 57) - ersichtlich nicht nur anhand der 7-Tage-Inzidenz, also der Zahl der Neuinfizierten im Verhältnis zur Bevölkerung je 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner kumulativ in den letzten sieben Tagen, beurteilt, sondern, wie in dem von der Niedersächsischen Landesregierung erstellten "Handlungskonzept zur Bekämpfung des Infektionsgeschehens in der COVID 19 Pandemie" (veröffentlicht unter: www.stk.niedersachsen.de/startseite/presseinformationen/vorsorgliches-handlungskonzept-zur-bekampfung-eines-gegebenenfalls-weiter-ansteigenden-infektionsgeschehens-in-der-covid-19-pandemie-193263.html, Stand: 5.10.2020) vorgesehen, auch alle anderen für das Infektionsgeschehen relevanten Umstände in seine Bewertung einbezogen (vgl. zu dieser Verpflichtung zuletzt: Senatsbeschl. v. 29.10.2020 - 13 MN 393/20 -, juris Rn. 57).
52
Diese Bewertung rechtfertigt es, landesweit einheitliche infektionsschützende Maßnahmen zu ergreifen. Landesweit beträgt die 7-Tage-Inzidenz mehr als 100. Der weit überwiegende Teil der Landkreise und kreisfreien Städte weist eine 7-Tage-Inzidenz von mehr als 50 auf, welche die Grenze markiert, bis zu der die öffentliche Gesundheitsverwaltung in Deutschland zu einer Rückverfolgung der Infektionsketten maximal in der Lage ist und so das wichtige und legitime Ziel der Verhinderung der weiteren Ausbreitung durch Fallfindung mit Absonderung von Erkrankten und engen Kontaktpersonen mit einem erhöhten Erkrankungsrisiko noch erreicht werden kann (vgl. Senatsbeschl. v 5.6.2020 - 13 MN 195/20 -, juris Rn. 33). Wird diese Grenze in einem bestimmten Gebiet überschritten, bestehen auch nach dem Dafürhalten des Senats durchaus tatsächliche Anhaltspunkte für ein dynamisches Infektionsgeschehen und eine erhöhte Infektionswahrscheinlichkeit. Hinzu kommt ein landesweit diffuses Infektionsgeschehen. Auch wenn es deutliche regionale Unterschiede in der Verteilung gibt, steigen die Zahlen von Neuinfektionen flächendeckend an und sind die Ausbruchsgeschehen weit überwiegend keinen bestimmten Ereignissen oder Örtlichkeiten mehr zuzuordnen. Die örtlichen Gesundheitsämter sind trotz personeller Verstärkung häufig nicht mehr in der Lage, Infektionsketten nachzuverfolgen. Die Verdoppelungsrate hat sich von weit über 30 Tagen im Sommer erheblich reduziert. Die Zahl infizierter und erkrankter Menschen, die älter als 60 Jahre sind und die ein höheres Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf haben, ist drastisch angestiegen. Auch die Sterbefallzahlen und die Auslastung medizinischer und insbesondere intensivmedizinischer Kapazitäten steigen stetig an, wobei der Antragsgegner seine Maßnahmen nicht erst dann treffen darf, wenn diese (nahezu) erschöpft sind (vgl. hierzu im Einzelnen die Angaben des Niedersächsischen Landesgesundheitsamtes unter https://www.niedersachsen.de/Coronavirus/aktuelle_lage_in_niedersachsen/ und des RKI im täglichen Lagebericht unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Gesamt.html?nn=13490888). Im Hinblick auf die aktuelle Entwicklung durfte der Antragsgegner den vollzogenen Strategiewechsel weg von bisherigen bloßen Betriebsbeschränkungen hin zu weitreichenden flächendeckenden Betriebsschließungen und ergänzenden Betriebsbeschränkungen als derzeit einzig verlässliches effektives Mittel und damit für erforderlich erachten.
53
In Bezug auf das gebietsbezogene Infektionsgeschehen mildere Mittel ergeben sich nicht daraus, dass neben den hier streitgegenständlichen Betriebsschließungen weitere, bisher nicht betroffene Bereiche von Industrie, Gewerbe, Handel und Dienstleistungen geschlossen oder weiter beschränkt werden könnten. Ungeachtet der Effektivität eines solchen Vorgehens handelt es sich gegenüber den von diesen Maßnahmen betroffenen Rechtsträgern jedenfalls nicht um mildere Mittel.
54
Auch eine Beschränkung der Schutzmaßnahmen auf besonders schutzbedürftige (Risiko-)Gruppen von Personen ist angesichts der Größe und nur begrenzt möglichen Konkretisierung dieser Gruppen und der jedenfalls nicht verlässlichen Effektivität einer solchen Beschränkung kein milderes Mittel.
55
(δ) Die getroffene Regelung ist voraussichtlich auch angemessen.
56
Dabei verkennt der Senat nicht, dass die Betriebsschließungen tiefgreifend und wiederholt in die Berufsausübungsfreiheit der Betreiberinnen und Betreiber von Tattoo-Studios und ähnlichen Betrieben eingreifen und ihnen die Berufsausübung für einen erheblichen Zeitraum nahezu unmöglich machen, und dies nach einer Phase, in der sie erhebliche Arbeitskraft und finanzielle Mittel in die Umsetzung von infektionsschutzrechtlichen Hygienekonzepten investiert haben. Das Gewicht dieses "Sonderopfers" wird aber dadurch gemildert, dass ihnen staatlicherseits Kompensationen für die zu erwartenden Umsatzausfälle in durchaus erheblichem Umfang in Aussicht gestellt worden sind (vgl. Beschluss der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder v. 28.10.2020: "Für die von den temporären Schließungen erfassten Unternehmen, Betriebe, Selbständige, Vereine und Einrichtungen wird der Bund eine außerordentliche Wirtschaftshilfe gewähren, um sie für finanzielle Ausfälle zu entschädigen. Der Erstattungsbetrag beträgt 75% des entsprechenden Umsatzes des Vorjahresmonats für Unternehmen bis 50 Mitarbeiter, womit die Fixkosten des Unternehmens pauschaliert werden. Die Prozentsätze für größere Unternehmen werden nach Maßgabe der Obergrenzen der einschlägigen beihilferechtlichen Vorgaben ermittelt. Die Finanzhilfe wird ein Finanzvolumen von bis zu 10 Milliarden haben."; veröffentlicht unter: https://www.bundesregierung.de/resource/blob/997532/1805024/5353edede6c0125ebe5b5166504dfd79/2020-10-28-mpk-beschluss-corona-data.pdf?download=1, Stand: 4.11.2020). Mit Blick auf die gravierenden, teils irreversiblen Folgen eines weiteren Anstiegs der Zahl von Ansteckungen und Erkrankungen für die hochwertigen Rechtsgüter Leib und Leben einer Vielzahl Betroffener sowie einer Überlastung des Gesundheitswesens ist dieser Eingriff indes von ihnen hinzunehmen.
57
(c) Derzeit ist aber nicht verlässlich zu klären, ob die in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Schließung von Tattoo-Studios und ähnlichen Betrieben für den Publikumsverkehr und Besuche mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG zu vereinbaren ist.
58
Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebietet dem Normgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln (vgl. BVerfG, Beschl. v. 7.2.2012 - 1 BvL 14/07 -, BVerfGE 130, 240, 252 - juris Rn. 40; Beschl. v. 15.7.1998 - 1 BvR 1554/89 u.a. -, BVerfGE 98, 365, 385 - juris Rn. 63). Es sind nicht jegliche Differenzierungen verwehrt, allerdings bedürfen sie der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Differenzierungsziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind. Je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen reichen die Grenzen für die Normsetzung vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse. Insoweit gilt ein stufenloser, am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab, dessen Inhalt und Grenzen sich nicht abstrakt, sondern nur nach den jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereichen bestimmen lassen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 18.7.2012 - 1 BvL 16/11 -, BVerfGE 132, 179, 188 - juris Rn. 30; Beschl. v. 21.6.2011 - 1 BvR 2035/07, BVerfGE 129, 49, 69 - juris Rn. 65; Beschl. v. 21.7.2010 - 1 BvR 611/07 u.a. -, BVerfGE 126, 400, 416 - juris Rn. 79).
59
Hiernach sind die sich aus dem Gleichheitssatz ergebenden Grenzen für die Infektionsschutzbehörde weniger streng (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 17.4.2020- OVG 11 S 22/20 -, juris Rn. 25). Auch kann die strikte Beachtung des Gebots innerer Folgerichtigkeit nicht eingefordert werden (vgl. Hamburgisches OVG, Beschl. v. 26.3.2020 - 5 Bs 48/20 -, juris Rn. 13). Zudem ist die sachliche Rechtfertigung nicht allein anhand des infektionsschutzrechtlichen Gefahrengrades der betroffenen Tätigkeit zu beurteilen. Vielmehr sind auch alle sonstigen relevanten Belange zu berücksichtigen, etwa die Auswirkungen der Ge- und Verbote für die betroffenen Unternehmen und Dritte und auch öffentliche Interessen an der uneingeschränkten Aufrechterhaltung bestimmter unternehmerischer Tätigkeiten (vgl. Senatsbeschl. v. 14.4.2020 - 13 MN 63/20 -, juris Rn. 62). Auch die Überprüfbarkeit der Einhaltung von Ge- und Verboten kann berücksichtigt werden (vgl. Senatsbeschl. v. 9.6.2020 - 13 MN 211/20 -, juris Rn. 41).
60
Dies zugrunde gelegt vermag der Senat im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes nur einen Verstoß der Verordnungsregelung gegen das Willkürverbot zu verneinen. Die in § 10 Abs. 1 und 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordneten Betriebsverbote und -beschränkungen beruhen auf der jedenfalls nicht schlichtweg sachfremden Erwägung, dass ein ganz erheblicher Teil der für das Infektionsgeschehen relevanten sozialen Kontakte von vorneherein verhindert werden muss, und dass diese Verhinderung neben den ganz erheblichen Beschränkungen von Kontakten im privaten Bereich am gemeinwohlverträglichsten durch Verbote und Beschränkungen in den Bereichen Freizeit, Sport, Unterhaltung und körpernaher Dienstleistungen erreicht werden kann. Ausgenommen sind grundrechtlich besonders geschützte Bereiche wie die Religionsausübung und öffentliche Versammlungen.
61
Die vom Antragsgegner vorgenommene unterschiedliche Behandlung gegenüber vergleichbaren Betrieben, Einrichtungen und Lebensbereichen ist nicht willkürlich, d.h. evident unsachlich (vgl. zu diesem Maßstab BVerfG, Beschl. v. 9.5.1961 - 2 BvR 49/60 -, juris Rn. 40, Urt. v. 2.3.1999 - 1 BvL 2/91 -, juris Rn. 84).Gegenüber dem Einzelhandel kann bei körpernahen Dienstleistungen wie dem Tätowieren das Abstandsgebot des § 2 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung grundsätzlich nicht eingehalten werden. Auch die Privilegierung von Friseurbetrieben in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 b) der Verordnung ist nicht evident unsachlich. Friseurdienstleistungen dienen - anders als Tattoo-Studios - schwerpunktmäßig der Grundversorgung der Bevölkerung mit Körperhygiene im weitesten Sinne. In der Bevölkerung besteht ein in kürzeren Zeitabständen wiederkehrender und einen großen Personenkreis betreffender Bedarf an Friseurdienstleistungen. Insofern besteht ein öffentliches Interesse an der Aufrechterhaltung dieser Dienstleistung, wohingegen der Verordnungsgeber einen gleichwertigen Grundbedarf der Bevölkerung bezogen auf andere körpernahe Dienstleistungen nicht annehmen musste, ohne damit die Grenzen der Willkür zu überschreiten (vgl. weitergehend OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 5.11.2020 - OVG 11 S 99/20 -, juris Rn. 53). Diese Grenze ist auch nicht willkürlich im Hinblick darauf, dass den Friseurbetrieben jegliche Friseurdienstleistungen, also auch beispielsweise rein kosmetische Haarfärbungen und -verlängerungen gestattet sind. Der Senat folgt - dies ist klarzustellen - nicht der Norminterpretation des Antragsgegners, andere Friseurdienstleistungen als das Haareschneiden seien durch § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 der Niedersächsischen Corona-Verordnung untersagt. Dem Wortlaut und der Systematik nach ist jegliche einem Friseurbetrieb zuordenbare Dienstleistung gestattet. Dies ist nicht willkürlich. Zum einen ist gerade bei Friseurdienstleistungen der Übergang zwischen Hygiene und Kosmetik fließend, zum anderen muss es eine Norm wie die Niedersächsische Corona-Verordnung nicht leisten, auf jede noch so spezifische Konstellation einzugehen. Deutlich kleinteiligere Regelungen würden dazu führen, dass die grundsätzliche Regelung an Übersichtlichkeit einbüßen würde und sie nur noch schwer handhabbar wäre (vgl. Senatsbeschl. v. 28.10.2020 - 13 MN 390/20 -, juris Rn. 34).
62
Die danach gegebene schlichte Beachtung des Willkürverbots ist angesichts des Umfangs der angeordneten Betriebsverbote und -beschränkungen und der damit verbundenen erheblichen Eingriffe in Grundrechte der Betriebsinhaber aber nicht ausreichend, um eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes verneinen zu können. Die vielmehr erforderliche Beurteilung, ob der Verordnungsgeber mit der getroffenen Auswahl von zu schließenden oder zu beschränkenden Betrieben unter Berücksichtigung des infektionsschutzrechtlichen Gefahrengrades der betroffenen Tätigkeiten und aller sonstigen relevanten Belange eine auf hinreichenden Sachgründen beruhende und angemessene Differenzierung tatsächlich erreicht hat, ist schon angesichts der Vielzahl und Vielgestaltigkeit von Fallkonstellationen aber in einem Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes nicht zu leisten. Sie muss vielmehr an dieser Stelle offenbleiben.
63
Klarstellend weist der Senat darauf hin, dass eine rechtfertigungsbedürftige Ungleichbehandlung sich nicht daraus ergeben kann, dass andere Länder von den niedersächsischen Anordnungen abweichende Schutzmaßnahmen getroffen haben. Voraussetzung für eine Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG ist, dass die Vergleichsfälle der gleichen Stelle zuzurechnen sind. Daran fehlt es, wenn die beiden Sachverhalte von zwei verschiedenen Trägern öffentlicher Gewalt gestaltet werden; der Gleichheitssatz bindet jeden Träger öffentlicher Gewalt allein in dessen Zuständigkeitsbereich (vgl. BVerfG, Beschl. v. 12.5.1987 - 2 BvR 1226/83 -, BVerfGE 76, 1, 73 - juris Rn. 151 m.w.N.). Ein Land verletzt daher den Gleichheitssatz nicht deshalb, weil ein anderes Land den gleichen Sachverhalt anders behandelt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 8.5.2008 - 1 BvR 645/08 -, juris Rn. 22 m.w.N.).
64
b. Die wegen der danach offenen Erfolgsaussichten gebotene Folgenabwägung führt dazu, dass die von dem Antragsteller geltend gemachten Gründe für die vorläufige Außervollzugsetzung die für den weiteren Vollzug der Verordnung sprechenden Gründe nicht überwiegen.
65
Würde der Senat die in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Schließung von Tattoo-Studios und ähnlichen Betrieben für den Publikumsverkehr und Besuche vollständig (vgl. zur Unzulässigkeit von Normergänzungen im Normenkontrollverfahren: Senatsbeschl. v. 14.5.2020 - 13 MN 156/20 -, juris Rn. 5 m.w.N.) außer Vollzug setzen, bliebe der Normenkontrollantrag in der Hauptsache aber ohne Erfolg, könnte der Antragsteller zwar vorübergehend die mit der Schutzmaßnahme verbundene Schließung vermeiden. Ein durchaus wesentlicher Baustein der komplexen Pandemiebekämpfungsstrategie des Antragsgegners würde aber in seiner Wirkung deutlich reduziert (vgl. zur Berücksichtigung dieses Aspekts in der Folgenabwägung: BVerfG, Beschl. v. 1.5.2020 - 1 BvQ 42/20 -, juris Rn. 10), und dies in einem Zeitpunkt eines äußerst dynamischen Infektionsgeschehens. Die Möglichkeit, eine geeignete und erforderliche Schutzmaßnahme zu ergreifen und so die Verbreitung der Infektionskrankheit zum Schutze der Gesundheit der Bevölkerung, einem auch mit Blick auf Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG überragend wichtigen Gemeinwohlbelang (vgl. BVerfG, Urt. v. 30.7.2008 - 1 BvR 3262/07 u.a. -, BVerfGE 121, 317, 350 - juris Rn. 119 m.w.N.), effektiver zu verhindern, bliebe hingegen zumindest zeitweise bis zu einer Reaktion des Verordnungsgebers (irreversibel) ungenutzt.
66
Würde hingegen die in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Schließung von Tattoo-Studios und ähnlichen Betreiben für den Publikumsverkehr und Besuche nicht vorläufig außer Vollzug gesetzt, hätte der Normenkontrollantrag aber in der Hauptsache Erfolg, wäre der Antragsteller vorübergehend zu Unrecht zur Befolgung der - für den Fall der Nichtbefolgung bußgeldbewehrten - Schutzmaßnahme verpflichtet und müsste sein Tattoo-Studio für den Publikumsverkehr und Besuche schließen. Der damit jedenfalls verbundene Eingriff in sein Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG würde für die Dauer der Verpflichtung, längstens für die Dauer eines Hauptsacheverfahrens, verfestigt. Dieser Eingriff ist nach Einschätzung des Senats fraglos von erheblichem Gewicht. Dieses Gewicht wird aber dadurch abgemildert, dass staatlicherseits Kompensationen für die zu erwartenden Umsatzausfälle in durchaus erheblichem Umfang in Aussicht gestellt worden sind. Der hiernach verbleibende Eingriff hat hinter dem mit der Maßnahme verfolgten legitimen Ziel eines effektiven Infektionsschutzes zurückzustehen und ist von dem Antragsteller vorübergehend hinzunehmen. Denn ohne diesen würde sich die Gefahr der Ansteckung mit dem Virus, der erneuten Erkrankung vieler Personen, der Überlastung der gesundheitlichen Einrichtungen bei der Behandlung schwerwiegender Fälle und schlimmstenfalls des Todes von Menschen auch nach den derzeit nur vorliegenden Erkenntnissen erheblich erhöhen (vgl. zu dieser Gewichtung: BVerfG, Beschl. v 7.4.2020 - 1 BvR 755/20 -, juris Rn. 10; Beschl. v. 28.4.2020 - 1 BvR 899/20 -, juris Rn. 12 f.).
67
In diese Folgenabwägung wird insbesondere auch eingestellt, dass die Verordnung gemäß ihres § 20 Abs. 1 mit Ablauf des 30. November 2020 außer Kraft tritt. Damit ist sichergestellt, dass die Verordnung unter Berücksichtigung neuer Entwicklungen der Corona-Pandemie fortgeschrieben werden muss. Hierbei hat der Antragsgegner - wie auch bei jeder weiteren Fortschreibung der Verordnung - hinsichtlich der im vorliegenden Verfahren relevanten Schließung zu untersuchen, ob es angesichts neuer Erkenntnisse etwa zu den Verbreitungswegen des Virus oder zur Gefahr einer Überlastung des Gesundheitssystems verantwortet werden kann, die Schließung unter - gegebenenfalls strengen - Auflagen weiter zu lockern (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.4.2020 - 1 BvQ 28/20 -, juris Rn. 16).
68
II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
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Tenor
Die sofortige Beschwerde wird zurückgewiesen.
1Gründe
2Das von den Antragstellern eingelegte Rechtsmittel gegen den Beschluss der Fachkammer für Landespersonalvertretungssachen des Verwaltungsgerichts, mit dem ihr Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung ohne Durchführung einer mündlichen Anhörung abgelehnt worden ist, ist als sofortige Beschwerde nach § 30 Abs. 1 und 3 LRiStaG und § 79 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 2 LPVG NRW i. V. m. § 85 Abs. 2 ArbGG und § 567 Abs. 1 Nr. 2 ZPO auszulegen.
3Im personalvertretungsrechtlichen Beschlussverfahren ist die sofortige Beschwerde nach § 567 Abs. 1 Nr. 2 ZPO das richtige Rechtsmittel gegen die ohne Durchführung einer mündlichen Anhörung erfolgte Ablehnung eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Verfügung.
4Ebenso Sächs. OVG, Beschluss vom 8. September 2020 - 9 B 209/20.PL -, juris, Rn. 7; Hess. VGH, Beschluss vom 9. Juli 2020 - 22 B 347/20.PV -, juris, Rn. 20; OVG Berlin-Bbg., Beschluss vom 1. Juli 2020 - 60 PV 8/20 -, juris, Rn. 2; Bay. VGH, Beschluss vom 8. Januar 2018 - 17 PC 17.2202 -, juris, Rn. 20 ff.; OVG Saarl., Beschluss vom 11. August 2015 - 5 B 131/15 -, juris, Rn. 24 ff.; Fischer/Goeres/Gronimus, GKöD, L § 85 ArbGG Rn. 189.
5Nach § 30 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 3 LRiStaG sowie § 79 Abs. 2 LPVG NRW gelten für das personalvertretungsrechtliche Beschlussverfahren die Vorschriften des Arbeitsgerichtsgesetzes über das Beschlussverfahren entsprechend. Diese Regelungen werden für einstweilige Verfügungen durch § 30 Abs. 1 Satz 5 LRiStaG und § 79 Abs. 3 Satz 3 LPVG NRW dahingehend ergänzt, dass für diese § 85 Abs. 2 ArbGG gilt. Nach Satz 2 dieser Bestimmung gelten für das Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Verfügung die Vorschriften des Achten Buches der Zivilprozessordnung über die einstweilige Verfügung mit näher benannten Maßgaben entsprechend.
6Ausgehend davon finden gegen erstinstanzliche Beschlüsse, die ohne mündliche Anhörung ergangen sind, die nach der Zivilprozessordnung einschlägigen Rechtsbehelfe Anwendung. Dies sind im Fall der Stattgabe nach §§ 924 und 936 ZPO das Rechtsmittel des Widerspruchs und im Fall der Ablehnung des Erlasses der begehrten einstweiligen Verfügung, die ohne Durchführung einer mündlichen Anhörung erfolgt, nach § 937 Abs. 2 und § 567 Abs. 1 Nr. 2 ZPO die sofortige Beschwerde. Nur bei einer Ablehnung der einstweiligen Verfügung nach Durchführung einer mündlichen Anhörung findet das Rechtsmittel der Beschwerde nach § 87 Abs. 1 ArbGG Anwendung. Diese Unterscheidung beruht darauf, dass auf der Grundlage von § 922 Abs. 1 Satz 1 ZPO bei Beschlüssen im Rahmen des arbeitsgerichtlichen und damit auch des personalvertretungsrechtlichen einstweiligen Verfügungsverfahrens zu unterscheiden ist, ob diese im Sinne der genannten Bestimmung einem "Endurteil" oder einem "Beschluss" gleichstehen. Allein bei Beschlüssen, die den Charakter eines "Endurteils" im Sinne von § 922 Abs. 1 Satz 1 ZPO haben, ist das Rechtsmittel der Beschwerde nach § 87 Abs. 1 ArbGG eröffnet, die insofern der Berufung nach § 511 Abs. 1 ZPO entspricht. Den Charakter eines "Endurteils" im Sinne von § 922 Abs. 1 Satz 1 ZPO haben aber nur solche den Erlass einer einstweiligen Verfügung ablehnenden Entscheidungen, die nach Durchführung einer mündlichen Anhörung ergehen.
7Gegen die Auffassung, dass gegen die ohne Durchführung einer mündlichen Anhörung erfolgte Ablehnung eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Verfügung das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde nach § 567 Abs. 1 Nr. 2 ZPO eröffnet ist, kann nicht mit Erfolg eingewandt werden, § 85 Abs. 2 Satz 2 ArbGG verweise für das Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Verfügung explizit (lediglich) auf die Vorschriften des Achten Buchs der Zivilprozessordnung und deshalb seien im Übrigen die unmittelbar für das Beschlussverfahren geltenden Bestimmungen anzuwenden.
8So Altvater u. a., BPersVG, 10. Aufl., § 83 Rn. 123b.
9Denn die Vorschriften des Achten Buchs der Zivilprozessordnung beinhalten kein in sich geschlossenes Regelungssystem, sondern stellen besondere Regelungen für die Zwangsvollstreckung dar, die ihrerseits auf den allgemeinen Regelungen der Zivilprozessordnung aufbauen und diese voraussetzen bzw. ergänzen. Angesichts dessen schließt der Verweis auf die Vorschriften des Achten Buchs auch die Anwendung derjenigen Vorschriften der Zivilprozessordnung ein, die in diesem Buch vorausgesetzt werden. Dazu zählen insbesondere die Bestimmungen zu den Rechtsmitteln im Dritten Buch und dort die Regelungen des 3. Abschnitts in §§ 567 ff. ZPO über die Beschwerde.
10Für die Statthaftigkeit des Rechtsmittels der sofortigen Beschwerde nach § 567 Abs. 1 Nr. 2 ZPO spricht im Übrigen auch der Charakter des einstweiligen Verfügungsverfahrens als Eilverfahren, da die sofortige Beschwerde nach § 569 Abs. 1 Satz 1 ZPO binnen einer Notfrist von zwei Wochen einzulegen ist.
11Soweit der Fachsenat für Landespersonalvertretungssachen vormals eine andere Rechtsauffassung vertreten hat,
12vgl. OVG NRW, Beschluss vom 18. Februar 1994 ‑ 1 B 3366/93.PVL ‑, juris, Rn. 2 ff.,
13wird daran aus den vorstehenden Gründen nicht mehr festgehalten.
14Über die sofortige Beschwerde können die Berufsrichter des Fachsenats wegen der Eilbedürftigkeit der Sache ohne Hinzuziehung ehrenamtlicher Richter und ohne vorhergehende Durchführung einer mündlichen Anhörung der Verfahrensbeteiligten entscheiden (§ 30 Abs. 1 und 3 LRiStaG und § 79 Abs. 2 LPVG NRW i. V. m. §§ 87 Abs. 2 Satz 1, 85 Abs. 2 ArbGG sowie § 937 Abs. 2 und § 944 ZPO in entsprechender Anwendung).
15Die sofortige Beschwerde ist unbegründet. Das von den Antragstellern weiterverfolgte vorläufige Rechtsschutzbegehren mit dem Antrag,
16dem Beteiligten im Wege der einstweiligen Verfügung aufzugeben, einstweilen hinsichtlich des Runderlasses vom 30. Juni 2020 ‑ Az. 6274-Z.6 ‑ das Mitbestimmungsverfahren einzuleiten,
17hat keinen Erfolg.
18Die Voraussetzungen für den Erlass der begehrten einstweiligen Verfügung liegen nicht vor.
19Eine einstweilige Verfügung kann nach den hier anzuwendenden Vorschriften des Achten Buches der Zivilprozessordnung erlassen werden, wenn die Regelung eines streitigen Rechtsverhältnisses zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 940 ZPO). Verfügungsanspruch und Verfügungsgrund sind glaubhaft zu machen (§ 920 Abs. 2 ZPO). Die einstweilige Verfügung darf grundsätzlich nicht mehr zusprechen, als im Hauptsacheverfahren möglich ist; sie darf außerdem die Entscheidung in der Hauptsache nicht vorwegnehmen. Allerdings kann es die Effektivität des Rechtsschutzes ausnahmsweise erfordern, durch den Erlass einer einstweiligen Verfügung der Entscheidung in der Hauptsache vorzugreifen, sofern wirksamer Rechtsschutz im ordentlichen Verfahren nicht erreicht werden kann und dies für den Antragsteller zu schlechthin unzumutbaren Folgen führen würde, insbesondere wenn ein endgültiger Rechtsverlust oder ein sonstiger irreparabler Zustand droht. Dabei sind die Belange der Beteiligten sorgfältig abzuwägen und strenge Anforderungen an die materiellen Voraussetzungen der einstweiligen Verfügung zu stellen.
20Ständige Rechtsprechung, vgl. etwa OVG NRW, Beschlüsse vom 14. Januar 2003 ‑ 1 B 1907/02.PVL ‑, juris, Rn. 3, vom 28. Januar 2003 ‑ 1 B 1681/02.PVL ‑, juris, Rn. 5 ff., vom 30. Dezember 2004 ‑ 1 B 1864/04.PVL ‑ und vom 22. Februar 2007 ‑ 1 B 2563/06.PVL ‑, juris, Rn. 25.
21Diese besonderen Anforderungen für eine die Hauptsache vorwegnehmende einstweilige Verfügung sind für das Begehren der Antragsteller einschlägig, da sie mit ihrem Antrag eine der Hauptsacheentscheidung ‑ jedenfalls in zeitlicher Hinsicht teilweise ‑ entsprechende Verpflichtungen des Beteiligten zur Einleitung eines Mitbestimmungsverfahrens begehren.
22Ausgehend von diesen Grundsätzen haben die Antragsteller keinen Verfügungsanspruch glaubhaft gemacht. Wie die Fachkammer für Landespersonalvertretungssachen in dem angefochtenen Beschluss zutreffend festgestellt hat, stellt der Runderlass vom 30. Juni 2020 ‑ Az. 6274-Z.6 ‑ keine Maßnahme im personalvertretungsrechtlichen Sinne dar, was Voraussetzung für das Eingreifen eines Mitbestimmungsrechts wäre.
23Als Maßnahme im Sinne des Personalvertretungsrechts wird im Allgemeinen jede Handlung oder Entscheidung der Dienststelle angesehen, mit der diese in eigener Zuständigkeit eine eigene Angelegenheit regelt, sofern hierdurch der Rechtsstand der Beschäftigten oder eines einzelnen Beschäftigten berührt wird. Anders ausgedrückt: Eine Maßnahme muss auf eine Veränderung des bestehenden Zustands abzielen; nach der Durchführung der Maßnahme müssen das Beschäftigungsverhältnis oder die Arbeitsbedingungen eine Änderung erfahren haben.
24Vgl. dazu im Einzelnen Cecior/Vallendar/Lechtermann/Klein, Personalvertretungsrecht NRW, § 66 Rn. 30, m. w. N.
25Die Fachkammer für Landespersonalvertretungssachen des Verwaltungsgerichts hat daher zutreffend festgestellt, dass eine ministerielle Entscheidung, die an den nachgeordneten Bereich gerichtet ist, keine Maßnahme im personalvertretungsrechtlichen Sinne darstellt, wenn sie Rechte und Pflichten für die Beschäftigten des Geschäftsbereichs nicht begründet, sondern sich darin erschöpft, den nachgeordneten Dienststellen Instruktionen zu erteilen und ihnen auf dieser Grundlage die Durchführung überlässt. Etwas anderes gilt erst dann, wenn der ministeriellen Entscheidung eine unmittelbar gestaltende Wirkung gegenüber den Beschäftigten zukommt, die den nachgeordneten Dienststellen keinerlei eigenen Gestaltungsspielraum belässt, und die auch keiner Umsetzung durch die nachgeordneten Dienststellen mehr bedarf.
26Der Runderlass vom 30. Juni 2020 ‑ Az. 6274-Z.6 - beschränkt sich darauf, den nachgeordneten Dienststellen Vorgaben für die Durchführung des Dienstbetriebs unter Berücksichtigung der durch den Corona-Virus bedingten Pandemielage zu geben, ohne damit unmittelbar Regelungen zu treffen, durch die die Beschäftigungsverhältnisse oder die Arbeitsbedingungen eine Änderung erfahren. Dies gilt insbesondere auch für die unter II.4 getroffenen Regelungen über den Zugang zu Gerichten und Behörden. Diese beinhalten lediglich Vorgaben, die von den nachgeordneten Dienststellen in eigener Zuständigkeit im Einzelnen umzusetzen sind. Auf die zutreffenden Ausführungen der Fachkammer für Landespersonalvertretungssachen des Verwaltungsgerichts wird insoweit verwiesen.
27Für das Vorliegen einer Maßnahme im personalvertretungsrechtlichen Sinne können sich die Antragsteller nicht mit Erfolg darauf berufen, der Erlass enthalte insbesondere unter II.4 Abs. 2 Satz 1 eine strikte Bindung für die nachgeordneten Dienststellen. Auch wenn dort vorgeschrieben ist, dass eine Pflicht zum Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung nicht angeordnet werden darf, ändert dies nichts daran, dass der Erlass nicht unmittelbar den Rechtsstand der Beschäftigten berührt, sondern sich allein an die nachgeordneten Dienststellen richtet und sich darauf beschränkt, diesen im Einzelnen noch umzusetzende Vorgaben zu Regelungen über den Zutritt zu den Dienstgebäuden zu geben. Auch wenn die unter II.4 Abs. 2 Satz 1 getroffene Regelung das Handeln der nachgeordneten Dienststellen hinsichtlich einer zu unterbleibenden Anordnung einer Pflicht zum Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung ohne Eröffnung eines Entscheidungsspielraums bestimmt, ist die Entscheidung nach außen eigenverantwortlich von den nachgeordneten Dienststellen zu treffen. Ein deshalb im Fall des Vorliegens eines Mitbestimmungsrechts dort durchzuführendes Mitbestimmungsverfahren verliert durch die strikte Bindung an die Weisung nicht seinen Sinn, da sich die Bindung nicht auf den bei der nachgeordneten Dienststelle gebildeten Personal- oder Richterrat erstreckt; dieser muss sich - was sich von selbst versteht - nicht der Auffassung der ihm gegenüberstehenden Dienststelle von der Recht- und Zweckmäßigkeit der Maßnahme anschließen.
28Vgl. BVerwG 17. Februar 2010 ‑ 6 PB 43.09 ‑, juris, Rn. 4.
29Angesichts des Fehlens einer Maßnahme im personalvertretungsrechtlichen Sinne kommt es nicht mehr darauf an, ob ansonsten die von den Antragstellern geltend gemachten Mitbestimmungsrechte aus § 41 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 LRiStaG und § 72 Abs. 4 Satz 1 Nr. 7 LPVG NRW bei Maßnahmen zur Verhütung von Dienst- und Arbeitsunfällen und sonstigen Gesundheitsschädigungen sowie aus § 41 Abs. 4 Satz 1 Nr. 5 LRiStaG und § 72 Abs. 4 Satz 1 Nr. 9 LPVG NRW bei Regelungen der Ordnung in der Dienststelle und des Verhaltens der Beschäftigten eingreifen würden.
30Vgl. in diesem Zusammenhang: VG Berlin, Beschluss vom 20. August 2020 ‑ 61 L 10/20 PVL ‑ juris.
31Ebenso bedarf es keiner Entscheidung, ob die Antragsteller ‑ gerade auch mit Blick auf die in Anbetracht der Vorwegnahme der Hauptsache zu stellenden Anforderungen ‑ einen Verfügungsanspruch glaubhaft gemacht haben.
32Eine Kostenentscheidung entfällt im personalvertretungsrechtlichen Beschlussverfahren.
33Der Beschluss ist gemäß § 30 Abs. 1 und 3 LRiStaG und § 79 Abs. 2 LPVG NRW i. V. m. § 92 Abs. 1 Satz 3 ArbGG unanfechtbar.
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Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
Der 1999 geborene Kläger, ein irakischer Staatsangehöriger mit kurdischer Volks- und islamischer Religionszugehörigkeit, reiste auf dem Landweg im Januar 2016 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Er stellte am 26. September 2016 einen förmlichen Asylantrag.
Bei seiner Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 16. Januar 2017 gab er an, den Irak Ende 2015 verlassen zu haben. Er habe bis zu seiner Ausreise in der Provinz Dohuk in der Gemeinde Faide gelebt. Er habe vier Jahre lang die Grundschule besucht. Im Irak seien seine Mutter, seine ältere Schwester, die nach dem Tod des Vaters für den Lebensunterhalt der Familie gesorgt habe und ein jüngerer Bruder. Als Grund für seine Flucht gab er an, das Leben im Irak sei nicht schön gewesen. In seinem Ort habe es verschiedene Nationalitäten und Glaubensrichtungen gegeben. Er sei zusammen mit seinen jezidischen Nachbarn ausgereist. Er habe Angst vor dem Irak herrschenden Krieg zwischen den Peschmerga und dem IS. Ein Cousin seines Vaters, ein Peschmergakämpfer sei 2014 oder 2015 in Zumar getötet worden.
Mit Bescheid vom 25. April 2017, zugestellt mit Postzustellungsurkunde am 26. April 2017, lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1) und auf subsidiären Schutz (Nr. 2) ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorliegen (Nr. 3) und drohte dem Kläger mit einer Ausreisefrist von 30 Tagen die Abschiebung in den Irak an (Nr. 4). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 5). Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Voraussetzungen für die Zuerkennung internationalen Schutzes lägen nicht vor. Der Kläger sei nach eigenen Angaben keiner individuellen Bedrohung im Heimatland ausgesetzt gewesen. Die Voraussetzungen für die Gewährung von subsidiärem Schutz seien ebenfalls nicht gegeben. Dem Kläger drohe bei Rückkehr in den Irak aufgrund der dortigen Situation keine erheblichen individuellen Gefahren aufgrund willkürlicher Gewalt. Ebenso lägen die Tatbestandsmerkmale von Abschiebungsverboten nicht vor.
Am 8. Mai 2017 erhob der Kläger mittels Niederschrift Klage beim Bayerischen Verwaltungsgericht München und beantragte,
den Bescheid der Beklagten vom 25. April 2017 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft und hilfsweise den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen, sowie weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG vorliegen.
Mit Beschluss vom 16. Juli 2020 wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen, § 76 Abs. 1 AsylG.
Im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 6. Oktober 2020 wurde der Kläger informatorisch gehört. Die Prozessbevollmächtigte legt dem Gericht ein Gutachten zum Eingliederungsbedarf des Klägers vom 5. Oktober 2020 vor, dem ein ärztlicher Bericht vom 1. September 2020 des Facharztes für Neurologie Dr. K. beiliegt, demzufolge eine Behinderung gemäß § 53 SGB XII in Verbindung mit § 2 SGB IX vorläge. Auf Antrag der Prozessbevollmächtigten wurde weitere Schriftsatzfrist bis zum 27. Oktober 2020 gewährt und ins schriftliche Verfahren übergegangen. Mit Schriftsatz vom 27.10.2020 teilt die Prozessbevollmächtigte des Klägers im Wesentlichen mit, kein sozialmedizinisches Gutachten vorlegen zu können und beantragt, durch Einholung eines sozialmedizinischen Gutachtens Beweis darüber zu erheben, dass bei dem Kläger eine Behinderung vorliege, die seine Fähigkeit zur selbständigen Lebensführung so einschränke, dass er nicht in der Lage sei, dass menschenrechtliche Existenzminimum zu erwirtschaften und zu sichern, ebenso wenig, wie sich selbständig um Wohnung und medizinische Versorgung zu kümmern.
Die Beklagte hat die Verwaltungsakte auf elektronischem Weg vorgelegt und beantragte mit Schriftsatz vom 2. November 2020,
die Klage abzuweisen.
Die von Klägerseite übermittelten Dokumente könnten weder eine Schutzfeststellung noch ein Abschiebungsverbot begründen. Der ärztliche Bericht vom 1. September 2020 entspräche nicht den Anforderungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 i.V.m. § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung, die vorgelegte Behördenakte und die Gerichtsakte Bezug genommen.
Gründe
Das Gericht konnte ohne Durchführung einer weiteren mündlichen Verhandlung im schriftlichen Verfahren entscheiden, da die Beteiligten sich hiermit einverstanden erklärt haben (§ 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO). Der Kläger hat mit Erklärung seiner Bevollmächtigten vom 6. Oktober 2020, die Beklagte durch allgemeine Prozesserklärung vom 27. Juni 2017 auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
Die Klage ist zulässig, aber nicht begründet.
Der Kläger hat keinen Anspruch darauf, die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des streitgegenständlichen Bescheids zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft oder den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen oder zu seinen Gunsten das Vorliegen der Voraussetzungen nationaler Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen. Auch an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung und der Befristungsentscheidung bestehen keine Zweifel.
Maßgeblich für die Entscheidung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG).
1. Ein Anspruch auf die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz besteht nicht.
1.1 Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 - Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
Die einzelnen Verfolgungshandlungen werden in § 3a AsylG näher umschrieben; die einzelnen Verfolgungsgründe werden in § 3b AsylG einer näheren Begriffsbestimmung zugeführt. Eine Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG kann nach § 3c AsylG ausgehen vom Staat (Nr. 1), von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen (Nr. 2), oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern der Staat oder die ihn beherrschenden Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3).
1.2 Die Furcht vor Verfolgung ist im Sinne des § 3 Absatz 1 AsylG begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, das heißt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 - 10 C 23/12 - juris Rn. 19) drohen. Der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erfordert die Prüfung, ob bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Maßgebend ist in dieser Hinsicht damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage der Kläger nach Abwägung aller bekannten Umstände eine (hypothetische) Rückkehr in den Herkunftsstaat als unzumutbar erscheint. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2018 - 1 C 29/17 - juris Rn. 14; U.v. 20.2.2013 - 10 C 23/12 - juris Rn. 32; BayVGH, U.v. 14.2.2017 - 21 B 16.31001 - juris Rn. 21).
Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist unabhängig davon, ob der Betroffene bereits vor seiner Ausreise verfolgt worden ist (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2010 - 10 C 5.09 - juris Rn. 22). Bei einer Vorverfolgung gilt kein herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Vorverfolgten kommt jedoch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU, der keine nationale Entsprechung hat, zugute (vgl. BVerwG, B.v. 15.8.2017 - 1 B 123.17 u. a. - juris Rn. 8; B.v. 11.7.2017 - 1 B 116.17 u. a. - juris Rn. 8). Danach ist die Tatsache, dass ein Ausländer bereits verfolgt wurde bzw. von einer solchen Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Ist der Ausländer hingegen unverfolgt ausgereist, muss er glaubhaft machen, dass ihm mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr von Verfolgung droht, wenn er in sein Heimatland zurückkehrt (VG Oldenburg, U.v. 21.5.2019 - 15 A 748/19 - juris Rn. 20).
1.3 Darüber, ob die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gegeben sind - also festgestellt werden kann, dass die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung in Anknüpfung an die Konventionsmerkmale besteht -, entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das Gericht muss sowohl von der Wahrheit und nicht nur von der Wahrscheinlichkeit des vom Schutzsuchenden behaupteten individuellen Schicksals als auch von der Richtigkeit der Prognose einer beachtlich wahrscheinlichen Verfolgungsgefahr die volle Überzeugung gewinnen. Es darf jedoch insbesondere hinsichtlich relevanter Vorgänge im Verfolgerland keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen, sondern muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, auch wenn Zweifel nicht völlig auszuschließen sind (BVerwG, U.v. 16.4.1985 - 9 C 109/84 - juris Rn. 16). In der Regel kommt dem persönlichen Vorbringen eines Rechtsuchenden und dessen Würdigung besondere Bedeutung zu. Insbesondere wenn keine weiteren Beweismittel zur Verfügung stehen, kann schon allein der Tatsachenvortrag des Asylsuchenden zur Anerkennung führen, sofern sich das Gericht von der Richtigkeit seiner Behauptungen überzeugen kann.
1.4 Die von dem Kläger im Verwaltungsverfahren vorgetragenen Gründe, die er im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 6. Oktober 2020 ergänzt hat, rechtfertigen gemessen an den vorstehend geschilderten Anforderungen nicht die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Das Gericht ist nicht im vorgenannten Sinne davon überzeugt, dass dem Kläger im Falle einer Rückkehr in den Irak Verfolgung droht. Das Gericht verweist vorbehaltlich der nachfolgenden Ausführungen auf die zutreffende Begründung des angefochtenen Bescheids (§ 77 Abs. 2 AsylG).
Der Kläger ist nicht vorverfolgt ausgereist und es droht ihm nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr von Verfolgung, wenn er in sein Heimatland zurückkehrt. Der Kläger schildert, die letzten zwei Jahre vor seiner Flucht mit seiner Familie in der Provinz Dohuk gelebt zu haben. Einen konkreten Fluchtanlass schildert er nicht; das Leben im Irak habe ihm keine Freude gemacht. Individuelle Fluchtgründe für das Verlassen des Iraks nennt der Kläger nicht. Wirtschaftliche Gründe begründen nach § 3 Abs. 1, § 3b Abs. 1 AsylG nicht die Flüchtlingseigenschaft. Der Kläger hat somit keine Vorfälle geschildert, aus denen sich eine Verfolgung „wegen“ seiner „Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“ ergebe. Er begründet seinen Antrag im Wesentlichen mit der allgemeinen Sicherheitslage im Irak.
Ebenso ist keine Verfolgung aufgrund seiner kurdischen Volkszugehörigkeit zu befürchten (vgl. VGH BW, U.v. 5.3.2020 - A 10 S 1272/17 -, juris Rn. 26ff). Die irakische Verfassung konstituiert eine weitgehend autonom regierte irakische Region Kurdistan als ein nicht unwesentlicher Teil des irakischen Staatsgebiets, das unter der Kontrolle von Kurden sunnitischer Glaubenszugehörigkeit steht. Insofern steht eine Gruppenverfolgung für den Kläger als Kurden islamischer Glaubenszugehörigkeit nicht zu befürchten.
2. Auch das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Zuerkennung des subsidiären Schutzes hat die Beklagte zutreffend verneint.
2.1 Ein Ausländer ist nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Es darf auch keine innerstaatliche Fluchtalternative bestehen. Voraussetzung ist nach § 4 Abs. 3 AsylG zudem, dass der Schaden von einem Akteur i.S.v. § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3c AsylG auszugehen droht. Hinsichtlich Wahrscheinlichkeitsmaßstab und Beweiserleichterung im Falle einer Vorverfolgung gelten die Ausführungen zu § 3 AsylG entsprechend (vgl. Nds. OVG, U.v. 24.9.2019 - 9 LB 136.19 - juris Rn. 53).
2.2 Diese Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus erfüllt der Kläger nicht.
2.2.1 Er kann keinen Sachverhalt vortragen, wonach ihm im Heimatland die Verhängung oder die Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG) droht.
2.2.2 Ebenso fehlen konkrete Anhaltspunkte für das Drohen eines ernsthaften Schadens nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Die Formulierung „Folter oder unmenschli-che oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung“ in § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG wird weder im Asylgesetz noch in der dadurch umgesetzten RL 2011/95/EU definiert. Bei der Auslegung der Norm, die die Vorgaben des - an Art. 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) orientierten - Art. 15 Buchst. b der RL 2011/95/EU in das nationale Recht umsetzt, ist die Rechtsprechung des EGMR zu berücksichtigen (vgl. NdsOVG, U.v. 24.9.2019 - 9 LB 136/19 - juris Rn. 59 f.; OVG NW, U.v. 28.8.2019 - 9 A 4590/18.A - juris Rn. 137 ff.). Nach der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK ist unter einer unmenschlichen Behandlung die vorsätzliche Zufügung entweder körperlicher Verletzungen oder intensiven physischen oder psychischen Leids zu verstehen. Erniedrigend ist eine Behandlung, wenn sie geeignet ist, das Opfer zu demütigen, zu erniedrigen oder zu entwürdigen (vgl. hierzu mit weiteren Nachweisen OVG NW, U.v. 28.8.2019 - 9 A 4590/18.A - juris Rn. 142).
(1) Der Kläger hat - aus den bereits genannten Erwägungen - keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht, dass er bei einer Rückkehr in den Irak aus einer individuell geltend gemachten Gefährdung Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht.
(2) Auch die schlechte humanitäre Lage im Irak rechtfertigt nicht die Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Denn diese ist nicht auf einen Akteur i.S.v. § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3c AsylG zurückzuführen. Es ist den Erkenntnismitteln nicht zu entnehmen, dass der irakische Staat oder die autonome Region Kurdistan-Irak als staatliche Akteure ein Interesse an einer Verschärfung oder Aufrechterhaltung der schlechten humanitären Lage zeigen und diese auf ihre Handlungen oder Unterlassungen zurückzuführen ist (vgl. NdsOVG, U.v. 24.9.2019 - 9 LB 136/19 - juris Rn. 68 ff. m.w.N.). Die in weiten Teilen des Iraks bestehende allgemein schwierige Lage hat vielfältige Ursachen, wird aber nicht zielgerichtet vom irakischen Staat, von herrschenden Parteien oder Organisationen oder von nichtstaatlichen Dritten herbeigeführt.
Schlechte humanitäre Bedingungen, die nicht auf direkte oder indirekte Handlungen oder Unterlassungen staatlicher oder nichtstaatlicher Akteure zurückzuführen sind, können daher allenfalls nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ein nationales Abschiebungsverbot nach sich ziehen (vgl. NdsOVG, U.v. 24.9.2019 - 9 LB 136/19 - juris Rn. 64 ff.).
(3) Dem Kläger droht auch wegen der derzeitigen allgemeinen Sicherheitslage im Irak keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung. Eine solche Gefahr kann sich grundsätzlich auch aus einer allgemeinen Situation der Gewalt ergeben, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung von beidem. Allerdings begründet nicht schon jede allgemeine Situation der Gewalt eine solche Gefahr. Ein unionsrechtliches Abschiebungsverbot nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ist nur in äußerst extremen Fällen anzunehmen; es setzt voraus, dass die Situation allgemeiner Gewalt so intensiv ist, dass die betreffende Person dieser Gewalt bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland tatsächlich ausgesetzt ist. Erforderlich ist danach eine Gefahrverdichtung, die zu einer individuellen Betroffenheit des Ausländers führt (vgl. OVG NW, U.v. 28.8.2019 - 9 A 4590/18.A - juris Rn. 146 ff.). Eine solche allgemeine Situation der Gewalt, die zur Folge hätte, dass jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit im Nordirak (Kurdistan-Irak) der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wäre, ist hier jedoch nicht anzunehmen. Eine besondere Bedrohungslage durch den IS besteht nach der Erkenntnislage des Gerichts in der autonomen Region Kurdistan-Irak nicht mehr. Der IS ist lediglich im Sommer 2014 kurzzeitig dorthin vorgedrungen. Allerdings konnte der Vormarsch des IS durch die kurdischen Sicherheitskräfte und Luftangriffe der internationalen Koalition gestoppt und der IS aus den kurdischen Gebieten zurückgedrängt werden. Schließlich konnte der IS in den Jahren 2016 und 2017 im gesamten Land territorial eingedämmt werden; das sogenannte „Kalifat“ des IS im Irak wurde in der Fläche besiegt. Seit Dezember 2017 gilt der IS im Irak als militärisch besiegt. In der Region Kurdistan-Irak können Kurden unter zumutbaren Bedingungen leben und sind Minderheiten weitgehend vor Gewalt und Verfolgung geschützt. Dort befinden sich auch viele Flüchtlingslager (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, Stand Dezember 2020, S. 4, 16 und 18; UK Home Office, Country Policy and Information Note, Iraq: Security and Humanitarian Situation, Version 5.0, 11/2018, S. 37; VG Köln, U.v. 10.9.2019 - 17 K 7760/17.A - juris Rn. 36 ff.).
2.2.3 Ferner ist der Kläger auch nicht subsidiär schutzberechtigt i.S.v. § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG. Ihm droht keine ernsthafte individuelle Bedrohung seines Lebens oder seiner körperlichen Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in ihrer Heimatregion. Mit der Rechtsprechung ist davon auszugehen, dass in Kurdistan-Irak zum gegenwärtigen Zeitpunkt kein bewaffneter Konflikt stattfindet (vgl. VG Köln, U.v. 10.9.2019 - 17 K 7760/17.A - juris Rn. 100 ff.; VG Bayreuth, Urteil vom 12. Juli 2019 - B 3 K 18.30379 - juris Rn. 64; VG Ansbach, U.v. 8. Juni 2017 - AN 2 K 16.31196 - juris Rn. 18).
3. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG.
3.1 Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, U. v. 11.11.1997 - 9 C 13.96 - BVerwGE 105, 322) umfasst der Verweis auf die EMRK lediglich Abschiebungshindernisse, die in Gefahren begründet liegen, welche dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen (zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse). In diesem Zusammenhang kommt vor allem eine Verletzung des Art. 3 EMRK in Frage. Wegen des absoluten Charakters des garantierten Rechts ist Art. 3 EMRK nicht nur auf eine von staatlichen Behörden ausgehende Gefahr, sondern auch dann anwendbar, wenn die Gefahr von Personen oder Gruppen herrührt, die keine staatlichen Organe sind, jedenfalls dann, wenn die Behörden des Empfangsstaates nicht in der Lage sind, der Bedrohung durch die Gewährung angemessenen Schutzes vorzubeugen (NdsOVG, U.v. 24.9.2019 - 9 LB 136.19 - juris Rn. 66 und 105). Für die Beurteilung, ob eine Verletzung des Art. 3 EMRK in Betracht kommt, ist auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob entsprechende Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet (Nds. OVG, U.v. 24.9.2019 - 9 LB 136.19 - juris Rn. 118; OVG NW, U.v. 28.8.2019 - 9 A 4590/18.A - juris Rn. 175).
3.2 Die Verbürgungen der EMRK begründen im vorliegenden Fall des Klägers kein Abschiebungsverbot, insbesondere nicht wegen der derzeitigen Sicherheitslage oder wegen den bestehenden humanitären Verhältnissen.
3.2.1 Wie bereits im Rahmen des unionsrechtlichen Abschiebungsschutzes ausgeführt, ist zunächst nicht beachtlich wahrscheinlich, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in den Irak unmenschliche oder erniedrigende Behandlung auf Grund der allgemeinen Sicherheitslage im Irak droht.
3.2.2 Schlechte sozio-ökonomische und humanitäre Verhältnisse im Bestimmungsland können nur in ganz außergewöhnlichen Fällen Art. 3 EMRK verletzten; dies ist dann der Fall, wenn die gegen die Abschiebung sprechenden humanitären Gründe „zwingend“ sind (vgl. VGH BW, U.v. 17.7.2019 - A 9 S 1566/18 - juris Rn. 28). Gemessen daran ist ein Ausnahmefall zu verneinen.
(1) Auch wenn die humanitäre Lage im Irak insgesamt und in der Region Kurdistan-Irak im Besonderen nach wie vor äußerst angespannt ist und die Lebensumstände insbesondere bei Binnenvertriebenen oder bei nur geringem Einkommen nach europäischen Standards als schwer erträglich erscheinen, ist nach gegenwärtiger Erkenntnislage mit der überwiegenden Rechtsprechung davon auszugehen, dass am Zielort einer Abschiebung in der Region Kurdistan keine derart prekäre humanitäre Situation und insbesondere keine derart unzureichende allgemeine Versorgungslage besteht, dass eine Rückführung in Anwendung von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK generell ausgeschlossen wäre. Die humanitäre Lage und die Lebensbedingungen im Zielort einer Abschiebung, die nicht ganz oder überwiegend auf Aktionen von Konfliktparteien beruhen (vgl. VG Aachen, U.v. 3.4.2019 - 4 K 1853/16.A - juris Rn. 25; VG Hamburg, U.v. 23.7.2019 - 8 A 635/17 - UA S. 24 f.), sind für den Kläger nicht derart ernst, dass er Gefahr liefe, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein.
(2) Es bestehen auch keine gefahrerhöhenden individuellen Umstände (vgl. zu dieser Anforderung VGH BW, U.v. 24.1.2018 - A 11 S 1265/17 - juris Rn. 149; VGH BW, U.v. 17.7.2019 - A 9 S 1566/18 - juris Rn. 47; VG Oldenburg, U.v. 21.5.2019 - 15 A 748/19 - juris Rn. 53), die im Fall des Klägers zu einer anderen Bewertung führen könnten.
Für einen alleinstehenden, erwerbsfähigen Mann Anfang 20 wie den Kläger, der keine Unterhaltslasten zu tragen hat, besteht kein Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots. Zwar hat er im Irak aufgrund seines jugendlichen Alters im Zeitpunkt seiner Ausreise noch keine eigentliche Berufstätigkeit ausgeübt, hat aber doch als Verkäufer auf der Straße gearbeitet. Die Schulausbildung in Deutschland hat er abgebrochen, arbeitet hier jedoch als Friseur, sodass er sich diese Arbeitserfahrung durchaus auch für ein Leben im Irak zunutze machen könnte. Außerdem können die im Irak noch vorhandenen familiären Strukturen dem Kläger im Falle der Rückkehr als Unterstützungsquelle dienen. Daher bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass er solchen Schwierigkeiten bei der Existenzsicherung ausgesetzt wäre, dass er bei einer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit alsbald verelenden würde.
Schließlich besteht für den Kläger - insbesondere im Fall der freiwilligen Ausreise - die Möglichkeit, in nicht unerheblichem Umfang Rückkehr- und Starthilfen im Rahmen des REAG/GARP- und des ERRIN-Programms sowie weitere Unterstützungsleistungen für Rückkehrer in Anspruch zu nehmen, die ihnen die Rückkehr erheblich vereinfachen und auch Startschwierigkeiten vermeiden helfen können (vgl. https://www.returningfromgermany.de/de/programmes/erin; s. a. VG Hamburg, U.v. 23.7.2019 - 8 A 635/17 - UA S. 25 f.; VG Oldenburg, U.v. 21.5.2019 - 15 A 748/19 - juris Rn. 65).
Der vorgelegte Ärztliche Bericht vom 1. September 2020 des Facharztes für Neurologie Dr. K. ist zur Einleitung von Maßnahmen/Hilfen der Eingliederungshilfe nach dem SGB VIII als Vorlage beim Sozialhilfeträger bestimmt. Die Angaben erfolgen im Wege des Ankreuzens eines Schemas, wonach eine seelische/ psychische Behinderung gemäß § 53 SGB XII in Verbindung mit § 2 SGB IX vorliege, die die Fähigkeit zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft in den Bereichen „Selbstversorgung und Wohnen, Arbeit, arbeitsähnliche Tätigkeiten, Tagesgestaltung, Freizeitgestaltung, Kommunikation/ Soziale Beziehung“ einschränke oder mit hoher Wahrscheinlichkeit erwarten lasse.
Dieser Bericht dient damit allein der sozialhilferechtlichen und fachlichen Abklärung des individuellen Hilfebedarfs nach Maßgabe der §§ 53 und 9 SGB XII. Tragfähige Anhaltspunkte für eine Behinderung, die die Leistungs- oder Erwerbsfähigkeit des Klägers infrage stellen könnten, sind hieraus nicht abzuleiten und wurden auch nicht innerhalb der gewährten Schriftsatzfrist vorgetragen. Gemäß des zwischenzeitlich aufgehobenen § 53 Abs. 1 SGB XII (aufgeh. m.W.v. 1.1.2020 - der Leistungsbereich der Eingliederungshilfe wurde aus dem SGB XII herausgelöst und in den neu geschaffenen Teil 2 des SGB IX verschoben), erhalten Personen, die durch eine Behinderung wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Inwiefern diese Voraussetzungen für den Kläger zutreffen, ist bislang nicht geklärt. Auf eine Erwerbserschwernis oder gar Erwerbsunfähigkeit des Klägers kann allein aus der Einleitung der Prüfung von Eingliederungshilfe nicht geschlossen werden; welche konkreten Umstände hier zur Gewährung von Eingliederungshilfe ausschlaggebend wären und wie konkrete Eingliederungsmaßnahmen auszusehen hätten, wurde im Übrigen nicht dargetan.
Unabhängig davon sehen die oben genannten Programme neben der Übernahme von Reisekosten auch die individuelle Unterstützung nach Rückkehr in das Herkunftsland durch ein Netzwerk lokaler Service Provider und Partner und Unterstützungsmaßnahmen für besonders schutzbedürftige Flüchtlinge vor, die dem Kläger zusätzlich, zu seinen im Irak bestehenden Familienstrukturen zur Verfügung stehen.
Aufgrund der vorstehenden Darlegungen war auch der im schriftlichen Verfahren gestellte Antrag zu dem Umstand, dass bei dem Kläger eine Behinderung vorliege, die seine Fähigkeit zur selbständigen Lebensführung so einschränke, dass er nicht in der Lage sei, dass menschenrechtliche Existenzminimum zu erwirtschaften und zu sichern, Beweis durch Einholung eines sozialmedizinischen Fachgutachtens zu erheben nicht nachzukommen.
4. Der Kläger hat schließlich auch keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
4.1 Nach dieser Vorschrift soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Konkret ist die Gefahr, wenn sie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Aus den Tatbestandsmerkmalen der „Konkretheit“ der Gefahr für „diesen“ Ausländer ergibt sich zudem das zusätzliche Erfordernis einer auf den Einzelfall bezogenen, individuell bestimmten und erheblichen, also auch alsbald nach der Rückkehr eintretenden Gefahrensituation. Diese Gefahrensituation muss landesweit drohen. Unerheblich ist allerdings, ob die Gefahr vom Staat ausgeht oder ihm zumindest zuzurechnen ist (OVG NW, U.v. 28.8.2019 - 9 A 4590/18.A - juris Rn. 224).
4.2 Die allgemeine humanitäre oder die Sicherheitslage im Irak begründet kein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Der Annahme eines Abschiebungsverbotes wegen allgemeiner Gefahren steht schon die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG entgegen (vgl. VG Aachen, U.v. 1.10.2019 - 4 K 597/19.A - juris Rn. 123; VG Augsburg, U.v. 22.10.2018 - Au 5 K 18.31266 - juris Rn. 69). Zwar dürfen die Gerichte ausnahmsweise und im Einzelfall Ausländern, die einer gefährdeten Gruppe angehören, für die kein Abschiebestopp besteht, Schutz vor der Durchführung der Abschiebung in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG zusprechen, wenn dies zur Vermeidung einer verfassungswidrigen Schutzlücke wegen einer im Zielstaat bestehenden extremen Gefahrenlage erforderlich ist (vgl. BayVGH, U.v. 8.11.2018 - 13a B 17.31960 - juris Rn. 60). Jedoch kann eine solche Gefahr wegen der weiten Auslegung von § 60 Abs. 5 AufenthG unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR und des Bundesverwaltungsgerichts von vorherein nicht angenommen werden, wenn bereits - wie hier - die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG wegen allgemeiner Gefahren zu verneinen sind (vgl. NdsOVG, U.v. 24.9.2019 - 9 LB 136/19 - juris Rn. 264; VGH BW, U.v. 17.7.2019 - A 9 S 1566/18 - juris Rn. 50). Für eine verfassungskonforme Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG besteht daher kein Bedarf mehr.
Darüber hinaus fehlt es ohnehin an einer verfassungswidrigen Schutzlücke, da die gegenwärtige ausländerrechtliche Erlasslage des Bayerischen Staatsministeriums des Innern dem betroffenen Ausländer einen vergleichbar wirksamen Schutz vor Abschiebung vermittelt (vgl. BVerwG, U.v. 13.6.2013 - 10 C 13.12 - juris Rn. 13 ff.; VG Aachen, U.v. 1.10.2019 - 4 K 597/19.A - juris Rn. 123). Das Bayerische Staatsministerium des Innern hat mit Rundschreiben vom 10. August 2012 (Gz. IA2-2081.13-15) in den Fassungen vom 3. März 2014 und vom 22. Oktober 2018 verfügt, dass eine zwangsweise Rückführung zur Ausreise verpflichteter irakischer Staatsangehöriger grundsätzlich (Ausnahme: Straftäter und sog. „Gefährder“ aus den Autonomiegebieten oder dem Zentralirak - soweit ersichtlich fällt der Kläger nicht hierunter) nicht erfolgt und ihr Aufenthalt wie bisher weiter im Bundesgebiet geduldet wird (vgl. BayVGH, B.v. 13.7.2017 - 20 ZB 17.30809 - juris Rn. 9; VG Augsburg, U.v. 22.10.2018 - Au 5 K 18.31266 - juris Rn. 70).
4.3 Individuelle Anhaltspunkte in der jeweiligen Person des Klägers, die zu einer konkreten Gefahr führen und einer Abschiebung entgegenstehen könnten, bestehen ebenfalls im Ergebnis nicht. Aus dem Gutachten zum Eingliederungsbedarf vom 1. September 2020 kann insbesondere keine aus gesundheitlichen Gründen bestehende erhebliche konkrete Gefahr abgeleitet werden, da eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung, die sich durch die Abschiebung verschlechtern würde (§ 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG) hierin nicht genannt wird. Abgesehen davon, wird der Arztbericht nicht den Anforderungen an eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung im Sinne des hier gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG anzuwendenden § 60a Abs. 2c Satz 2 AufenthG gerecht.
Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG ist daher nicht zu sehen.
5. Die von der Beklagten auf § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG gestützte Abschiebungsandrohung und das verfügte Einreise- und Aufenthaltsverbot auf der Grundlage der § 11 Abs. 1 AufenthG begegnen keinen rechtlichen Bedenken.
6. Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordung (ZPO).
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Tenor
Der Beklagte wird unter Aufhebung des Widerspruchsbescheides vom 20.08.2019 verpflichtet, den Widerspruch der Klägerin vom 19.08.2019 gegen den Bewilligungsbescheid vom 18.07.2019 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 05.08.2019 und vom 23.11.2019 in der Sache zu bescheiden. Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.
1Tatbestand:
2Die Beteiligten streiten über die Zulässigkeit eines Widerspruchs.
3Die am 27.10.19xx geborene Klägerin bezieht von dem Beklagten laufend Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch [SGB II]. Mit Bescheid vom 18.07.2019 gewährte der Beklagte ihr monatliche Leistungen von 415,95 EUR für den Zeitraum vom 01.09.2019 bis zum 31.08.2020. Mit Änderungsbescheid vom 05.08.2019 verringerte der Beklagte die Leistungshöhe für den Zeitraum vom 01.09.2019 bis zum 31.08.2020 auf monatlich 386,53 EUR.
4Mit Schreiben vom 19.08.2019 erhob der Prozessbevollmächtigte im Namen der Klägerin Widerspruch (Az. W xxx4/19) gegen den Bewilligungsbescheid vom 18.07.2019 und rügte insbesondere die Höhe der Leistungen, die für Unterkunft und Heizung gewährt worden waren. Das Widerspruchsschreiben enthält die eingescannte Unterschrift des Prozessbevollmächtigten. Zudem wurde eine Vollmacht der Klägerin vom 18.12.2018 eingereicht, welche ebenfalls mit einer eingescannten Unterschrift versehen war. Am 19.08.2019 erhob der Prozessbevollmächtigte mit gesondertem Schreiben einen weiteren Widerspruch gegen den Änderungsbescheid vom 05.08.2019 (Az. W xxx5/19).
5Mit Widerspruchsbescheid vom 20.08.2019 wies der Beklagte den Widerspruch zum Az. W 5774/19 als unzulässig zurück. Gemäß § 84 Sozialgerichtsgesetz [SGG] sei eine eigenhändige Unterschrift grundsätzlich zur Widerspruchserhebung erforderlich. Diese liege nicht vor. Neben einer eingescannten Unterschrift des Prozessbevollmächtigten auf dem Widerspruchsscheiben sei auch die Unterschrift auf der Vollmacht lediglich eingescannt und weiche von der Unterschrift der Klägerin ab, welche diese auf Weiterbewilligungsanträgen gegenüber dem Beklagten verwandt habe. Die Vollmacht datiere auf den 18.12.2018 und solle eine unzulässige Pauschalvollmacht enthalten. Es seien keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass der Widerspruch mit Wissen und Wollen in den Verkehr gebracht worden sei.
6Mit Schriftsatz vom 19.09.2019, der am selben Tag beim SG Duisburg eingegangen ist, hat der Prozessbevollmächtigte im Namen der Klägerin Klage erhoben. Auch in diesem Zusammenhang übersandte der Prozessbevollmächtigte die Vollmacht der Klägerin, welche auf den 18.12.2018 datierte. Zudem überreichte er aktuelle Unterlagen der Klägerin zum Prozesskostenhilfeverfahren. Die Klägerin trägt vor, dass der Beklagte den Widerspruch zu Unrecht als unzulässig verworfen habe. Es liege kein Verstoß gegen das Schriftformerfordernis nach § 84 SGG vor. Zwar sei grundsätzlich eine eigenhändige Unterschrift erforderlich. Wenn aber allein aus dem Schriftsatz oder in Verbindung mit beigefügten Unterlagen die Urheberschaft und der Wille das Schreiben in den Verkehr zu bringen hinreichend sicher hervorgehen würden, sei nach der Rechtsprechung die Schriftform ebenfalls gewahrt. Dies sei hier der Fall. Eine Zurückweisung wäre allenfalls dann möglich gewesen, wenn der Prozessbevollmächtigte seitens des Beklagten zuvor nach § 13 Abs. 1 S. 3 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch [SGB X] erfolglos zum Nachweis seiner Bevollmächtigung aufgefordert worden sei. Eine solche vorherige Aufforderung zum Nachweis der Bevollmächtigung hätte es hier aber nicht gegeben. Es sei daher, unter isolierter gerichtlicher Aufhebung des fehlerhaften Widerspruchsbescheides, erneut durch den Beklagten über den Widerspruch der Klägerin in der Sache zu entscheiden. Dabei sei auch unabhängig von den Erfolgsaussichten in der Hauptsache erneut über den Widerspruch zu entscheiden.
7Die Klägerin beantragt mit Schriftsatz vom 19.09.2020,
8die Beklagte unter Aufhebung des Widerspruchsbescheides vom 20.08.2019 zu verpflichten, über den Widerspruch der Klägerin vom 19.08.2019 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.
9Der Beklagte beantragt mit Schriftsatz vom 15.10.2019,
10die Klage abzuweisen.
11Der Beklagte verweist ergänzend zu seinen Ausführungen im Widerspruchsbescheid darauf, dass selbst wenn der Widerspruch als zulässig zu werten wäre, der Widerspruch wegen der Unterkunftskosten in der Sache keinen Erfolg haben werde. Vor Erlass des Widerspruchsbescheides sei vorab kein Aufforderungsschreiben an den Prozessbevollmächtigten ergangen, in welchem dieser zur Nachholung einer Unterschrift und / oder Vorlage einer aktuelleren Vollmacht der Klägerin aufgefordert worden ist.
12Mit Änderungsbescheid vom 23.11.2019 gewährte der Beklagte der Klägerin, in Folge der gesetzlichen Anpassung der Regelbedarfe, für den Zeitraum vom 01.01.2020 bis zum 31.08.2020 Leistungen in Höhe von monatlich 400,84 EUR.
13Mit Verfügung vom 20.07.2020 hat das Gericht den Beteiligten unter Hinweis auf § 105 SGG mitgeteilt, dass beabsichtigt sei, durch Gerichtsbescheid zu entscheiden. Den Beteiligten wurde eine Stellungnahmefrist von vier Wochen ab Zugang der gerichtlichen Verfügung eingeräumt. Die Verfügung ist den Beteiligten am 22.07.2020 bzw. 23.07.2020 zugegangen.
14Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die Leistungsakte der Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der Entscheidung waren.
15Entscheidungsgründe:
16Die statthafte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 S. 1 Alt. 1, Alt. 2 SGG) ist zulässig und begründet.
17I. Über die Klage kann gemäß § 105 Abs. 1 SGG ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entschieden werden, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten sind zudem mit gerichtlicher Verfügung vom 20.07.2020 zuvor auf diese Möglichkeit hingewiesen worden. Ihnen wurde dabei die Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt, § 105 Abs. 1 S. 2 SGG. Die Stellungnahmefrist ist nunmehr verstrichen. Das Gericht sieht hier von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung insbesondere auch deshalb ab, da von dieser in Bezug auf Sach- und Streitstand kein Mehrwert zu erwarten ist und keine Möglichkeit einer unstreitigen Verfahrensbeendigung gegeben erscheint.
18II. Für das Klagebegehren der Klägerin ist die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 S. 1 Alt. 1, Alt. 2 SGG) statthaft, die auch im Übrigen zulässig ist.
191. Das Klagebegehren richtet sich entsprechend der ausführlichen Darlegung der Klageschrift auf die isolierte Aufhebung des rechtswidrigen Widerspruchsbescheides durch das Gericht, unter gleichzeitiger Verpflichtung des Beklagten im wiedereröffneten Widerspruchsverfahren dann eine Entscheidung in der Sache zu treffen.
20Die Formulierung des Klageantrages steht dem nicht entgegen, selbst wenn dieser ausdrücklich auch auf eine gerichtliche Verpflichtung des Beklagten gerichtet ist, über den Widerspruch der Klägerin vom 19.08.2019 - einer Ermessensentscheidung vergleichbar - gerade unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden. Denn das Gericht ist nach § 123 SGG nicht an die Fassung des Antrages gebunden, sondern an das erkennbare Klagebegehren, welches - insbesondere bei unvertretenen Klägern - nach dem sog. Prinzip der Meistbegünstigung auszulegen ist (vgl. zur Meistbegünstigung: BSG, Urt. v. 27.09.2011 – B 4 AS 160/10 R, juris, Rn. 14 m.w.N.; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Auflage 2020, § 123 SGG, Rn. 3 m.w.N.; Haupt, in: Fichte/Jüttner, SGG, 3. Aufl. 2020, § 123 SGG [Entscheidung ohne Bindung an Anträge], Rn. 10) m.w.N. – "Im Zweifel begehrt der unvertretene Kläger (bereits angesichts Art. 19 Abs. 4 GG und §§ 2 Abs. 2, 17 Abs. 1 Nr. 1 SGB I) ungeachtet des Wortlauts seines Antrags dasjenige, was ihm den größten Nutzen bringen kann. Die Auslegung der Anträge muss sich danach richten, was als Leistung möglich ist, wenn jeder verständige Antragsteller mutmaßlich seinen Antrag bei entsprechender Beratung angepasst hätte und keine Gründe zur Annahme eines abweichenden Verhaltens vorliegen."). Insofern ist wegen der detaillierten Darstellung zum Klageziel der Neubescheidung in der Klagebegründung davon auszugehen, dass das Klagebegehren in dem oben dargelegten Sinn zu verstehen ist. Die Klägerin begehrt erkennbar die alleinige Aufhebung des Widerspruchsbescheides und die Verpflichtung des Beklagten zur Entscheidung über den Widerspruch in der Sache. Offensichtlich nicht begehrt wird die erneute Entscheidung des Beklagten über Zulässigkeit und Begründetheit des Widerspruchs mit einem Ergebnis, dass erneut die Unzulässigkeit des Widerspruchs festgestellt werden würde. Für eine derartige Klage wäre auch kein Rechtsschutzbedürfnis gegeben. Vielmehr begehrt die Klägerin eine – aus ihrer Sicht rechtlich gebotene - Widerspruchsentscheidung in der Sache, die seitens der Beklagten trotz zulässigen Widerspruchs noch nicht getroffen worden ist.
212. Soweit ein Kläger unter isolierter Aufhebung der Widerspruchsentscheidung durch das Gericht (§ 54 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 SGG) die gleichzeitige gerichtliche Verpflichtung des Beklagten zur Sachentscheidung als Verwaltungsakt begehrt (§ 54 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 SGG), ist für dieses Begehren die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage nach § 54 Abs. 1 S. 1 Alt. 1, Alt. 2 SGG statthaft (LSG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 09.06.2020 – L 2 AS 401/19, juris, Rn. 29; SG Duisburg, Urt. v. 26.04.2018 – S 49 AS 857/17, juris, Rn. 23; Söhngen, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl., § 54 SGG (Stand: 30.06.2020), Rn. 66.1).
22Die umstrittene Frage, inwiefern bei einem zu Unrecht als unzulässig zurückgewiesenen Widerspruch eine Klage auf gerichtliche Entscheidung in der Sache möglich ist (dagegen etwa: SG Duisburg, Urt. v. 26.04.2018 – S 49 AS 857/17, Rn. 24 ff. m.w.N.; SG Kassel, Urt. v. 27.02.2019 – S 7 AS 29/19, juris, Rn. 25; a.A.: SG München, Urt. v. 28.06.2019 – S 46 AS 1966/18, juris, Rn. 20; Söhngen, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl., § 54 SGG (Stand: 30.06.2020), Rn. 66.1 m.w.N.; Loytved, jurisPR-SozR 10/2019 Anm. 4; zuletzt offengelassen etwa: LSG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 28.09.2020 – L 7 AS 1021/20 NZB, juris, Rn. 24 m.w.N.), bedarf hier keiner weiterer Vertiefung. Unstreitig ist eine Klage auf isolierte Aufhebung eines rechtswidrigen Widerspruchsbescheides unter Zurückverweisung der Sache an die Behörde zur Entscheidung des Widerspruchs in der Sache jedenfalls dann möglich, wenn der Betroffene sich - wie hier - gerade nur auf die isolierte Anfechtung des Widerspruchsbescheides zur Rückverweisung beschränken möchte und allein die Fehlerhaftigkeit der Widerspruchsentscheidung geltend macht (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 09.06.2020 – L 2 AS 401/19, juris, Rn. 29; Söhngen, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl., § 54 SGG (Stand: 30.06.2020), Rn. 66.1; Loytved, jurisPR-SozR 10/2019 Anm. 4).
233. Die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 S. 1 Alt. 1, Alt. 2 SGG) ist auch im Übrigen zulässig.
24Ein Rechtsschutzbedürfnis ist nicht bereits deshalb zu verneinen, weil der Beklagte bereits angekündigt hat, dass er bei einer Sachentscheidung nicht inhaltlich von einem Widerspruchserfolg in der Sache – im Sinne der Gewährung weiterer Leistungen – ausgehen würde. Abweichend von § 95 SGG ist der Klagegegenstand hier analog § 79 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung [VwGO] allein der Widerspruchsbescheid vom 20.08.2019, dessen besondere Fehlerhaftigkeit hier geltend gemacht wird. Wie eine inhaltliche Sachentscheidung über einen zulässigen Widerspruch zukünftig (nicht) ausfallen wird, ist in diesem Zusammenhang unerheblich. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund, dass der Behörde über die Prüfung der Zweckmäßigkeit im Widerspruchsverfahren ein besonders weiter eigener Überprüfungsmaßstab zusteht, der sich nicht auf die Nachprüfung der Rechtmäßigkeit der Entscheidung beschränkt.
25Auch bestehen keine ernsthaften Zweifel an einer ausreichenden Bevollmächtigung des Prozessbevollmächtigten der Klägerin in Bezug auf die Durchführung des Klageverfahrens i.S.d. § 73 Abs. 2 S. 1, Abs. 6 SGG. Unabhängig davon, ob die vorgelegte Vollmacht vom 18.12.2018 eine ausreichende Bevollmächtigung für das Klageverfahren enthält, hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin bei Klageerhebung zum Prozesskostenhilfeverfahren aktuelle Unterlagen der Klägerin eingereicht, die von dieser selbst mit Blick auf das konkrete Klageverfahren ausgefüllt und unterschrieben worden sind. Es ist daher von einer Kenntnis der Klägerin von dem konkreten Klageverfahren vor dem SG Duisburg auszugehen. Konkrete Anhaltspunkte, dass diese Klage nicht mit Wissen und Wollen der Klägerin betrieben werden würde, sind nicht ersichtlich. Daher hatte das Gericht keine ausreichende Veranlassung hier bzgl. einer Bevollmächtigung des Prozessbevollmächtigten durch die Klägerin von der Vermutungsregelung des § 73 Abs. 6 S. 5 SGG abzuweichen.
26III. Die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage ist begründet. Der Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 20.08.2019 ist rechtswidrig, da der Widerspruch der Klägerin vom 19.08.2019 gegen den Bewilligungsbescheid vom 18.07.2019 zu Unrecht als unzulässig zurückgewiesen worden ist (1.). Der Beklagte ist, unter Aufhebung des rechtswidrigen Widerspruchsbescheides vom 20.08.2019, zur Entscheidung über den Widerspruch der Klägerin vom 19.08.2019 in der Sache zu verpflichten (2.).
271. Der Widerspruchsbescheid vom 20.08.2019 ist fehlerhaft, da er zu Unrecht von einer Unzulässigkeit des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 18.07.2019 ausgeht (vgl. allgemein zu Zulässigkeitsvoraussetzungen des Widerspruchsverfahrens: Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Sozialgerichtsgesetz, 13. Auflage 2020, § 83 SGG, Rn. 3 ff.; Gall, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl., § 83 SGG (Stand: 15.07.2017), Rn. 24 ff.; Binder, in: Berchtold, Sozialgerichtsgesetz, 6. Auflage 2021 (abrufbar bereits über beck.online), § 83 SGG, Rn. 7 ff.).
28a) Auf die im Widerspruchsbescheid angeführten Gründe kann die Zurückweisung des Widerspruchs als unzulässig nicht in rechtmäßiger Weise gestützt werden.
29Das Gericht kann hier im Ergebnis dahingestellt lassen, ob der Beklagte zum insofern maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt der Widerspruchsentscheidung noch zu Recht von einer unzureichenden Bevollmächtigung des Prozessbevollmächtigten durch die Klägerin ausgehen durfte. Ausreichende Zweifel an der Bevollmächtigung, die zumindest eine rechtmäßige Aufforderung nach § 13 Abs. 1 S. 3 SGB X zum Nachwies gerechtfertigt hätten (vgl. hierzu umfassend: LSG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 09.06.2020 – L 2 AS 401/19, juris, Rn. 30 ff.), sind zwar grundsätzlich gegeben gewesen (unzureichende Generalvollmacht vom 18.12.2018; abweichende Unterschrift auf der Vollmachtsurkunde).
30Hier hat die Behörde es jedoch versäumt, die Klägerseite vor der Widerspruchsentscheidung überhaupt zum Nachweis der Bevollmächtigung nach § 13 Abs. 1 S. 3 SGB X aufzufordern. Der Widerspruchsbescheid mit dem erstmalig eine unzureichende Bevollmächtigung thematisiert worden ist, ist daher unter Verstoß gegen § 13 Abs. 1 S. 3 SGB X ergangen und somit rechtswidrig (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 16.10.2013 – L 2 AS 1342/13 B, juris, Rn. 13 ff.; LSG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 30.04.2013 – L 3 AS 98/13, juris, Rn. 16; Schleswig-Holsteinisches LSG, Urt. v. 04.11.2008 – L 4 KA 3/07, juris, Rn. 25 ff. – "Der die Vorlage der Vollmacht im Verwaltungsverfahren betreffende § 13 Abs. 1 SGB X unterscheidet sich von der das sozialgerichtliche Verfahren betreffenden Regelung in § 73 SGG (in der bis zum 30. Juni 2008 geltenden Fassung) im Wesentlichen dadurch, dass nicht (auch) die schriftliche Erteilung der Vollmacht verlangt wird, sondern dass es in dieser Vorschrift allein um den Nachweis einer Vollmacht geht. Die Vollmacht kann also im Grundsatz auch mündlich erteilt werden und das Verlangen auf Vorlage einer schriftlichen Vollmacht dient allein dem Nachweis [ ]. Auch das mit § 13 Abs. 1 Satz 3 SGB X angestrebte Ziel, im Verwaltungsverfahren Rechtssicherheit bezogen auf das Vorliegen einer Vollmacht herbeizuführen, ist jedoch nicht mehr erreichbar, wenn die Vollmacht erst im anschließenden Gerichtsverfahren vorgelegt wird. Insofern gibt es keinen Unterschied zum gerichtlichen Verfahren. Deshalb sind für das Verwaltungsverfahren auch die für das gerichtliche Verfahren vom Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes (a.a.O.) entwickelten und in dem Urteil des BSG vom 13. Dezember 2000 (a.a.O.) konkretisierten Maßstäbe entsprechend heranzuziehen. Für die Übertragbarkeit der für das gerichtliche Verfahren entwickelten Maßstäbe spricht, dass diese anhand allgemeiner verfahrensrechtlicher Grundsätze entwickelt worden sind, die auch für das Verwaltungsverfahren Geltung beanspruchen können. Danach erfordern Rechtsklarheit und Rechtssicherheit, dass nicht durch nachträgliche Genehmigung einer prozessual zu Recht ergangenen Entscheidung die Grundlage entzogen wird. Nur soweit noch nicht eine das Rechtsmittel als unzulässig verwerfende Entscheidung vorliegt, kann durch die Genehmigung der Vertretenen, die auch in der Erteilung einer Prozessvollmacht liegen kann, der Mangel der Vollmacht mit rückwirkender Kraft geheilt werden [ ]. Das bedeutet auf der anderen Seite, dass die Zurückweisung des Widerspruchs als unzulässig nur unter den für das gerichtliche Verfahren entwickelten Voraussetzungen erfolgen darf. [ ] Danach bedarf es, damit ein Widerspruch mangels Vollmacht als unzulässig zurückgewiesen werden kann, einer vorherigen schriftlichen Aufforderung, binnen einer bestimmten Frist die Vollmacht nachzureichen. Außerdem ist regelmäßig ein Hinweis erforderlich, dass der Widerspruch anderenfalls als unzulässig zurückgewiesen werden kann. Dieser hat im Verhältnis zu dem vollmachtlos auftretenden Prozessvertreter Anhörungs- und Warnfunktion. Spätestens mit Erhalt dieses Schreibens kann er erkennen, dass das Fehlen der Vollmacht zur Zurückweisung des Rechtsmittels führen kann und dies auch in einem nachfolgenden Gerichtsverfahren nicht mehr geheilt werden kann [ ].").
31Zudem stellt das erstmalige und plötzliche Abstellen der Beklagten auf eine unzureichende Bevollmächtigung sowie die Nichteinhaltung des Schriftformerfordernisses nach § 84 SGG im abschließenden Widerspruchsbescheid gleichermaßen einen Verstoß gegen den – auch durch § 24 SGB X - abgesicherten Grundsatz auf rechtliches Gehör dar (§ 62 SGB X i.V.m. § 62 SGG), auf dem die Widerspruchsentscheidung des Beklagten auch maßgeblich beruht, weil zuvor keine Äußerungsmöglichkeit der Klägerin oder ihres Bevollmächtigten zu diesen neuen Punkten gegeben worden ist. Auch aus diesem Grund ist die Widerspruchsentscheidung vom 20.08.2019 als unzulässige Überraschungsentscheidung ohne vorherige Anhörung der Klägerseite rechtswidrig (vgl. allgemein zur Geltung des Grundsatzes auf rechtliches Gehör auch im Widerspruchsverfahren: Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Sozialgerichtsgesetz, 13. Auflage 2020, § 85 SGG, Rn. 6 m.w.N.; Jüttner, in: Fichte/Jüttner, SGG, 3. Aufl. 2020, § 85 SGG [Abhilfe oder Erlass eines Widerspruchsbescheids], Rn. 17; Masuch, in: Hauck/Noftz, SGB, 11/18, § 201 SGB IX, Rn. 16; vgl. zur besonderen Anhörungspflicht nach § 24 SGB X, wenn erstmalige Beschwer durch Widerspruchsentscheidung ergehen soll: BSG, Urt. v. 09.12.2004 – B 6 KA 44/03 R, juris, Rn. 36; Franz, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl., § 24 SGB X (Stand: 01.12.2017), Rn. 18, 29).
32b) Der Widerspruch vom 19.08.2019 ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig, so dass der Beklagte eine Entscheidung in der Sache hätte treffen müssen.
33aa) Sofern der Beklagte geltend macht, dass der Widerspruch entgegen § 84 SGG nicht formwirksam erhoben worden sei, weil mit den eingescannten Unterschriften keine eigenhändigen Unterschriften des Prozessbevollmächtigten und / oder der Klägerin vorgelegen haben, teilt das Gericht diese Betrachtung nicht.
34Wenn nach überwiegender Ansicht bereits ein Faksimilestempel als Unterschrift zur Wahrung der Schriftform nach § 84 SGG ausreichen soll (BSG, Urt. v. 25.06.1963 – 10 RV 1143/61, juris, Rn. 9; Gall, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl., § 84 SGG (Stand: 15.07.2017), Rn. 13 m.w.N.), sind die hierzu entwickelten Grundsätze auch auf eingescannte Unterschriften zu übertragen (so im Ergebnis wohl auch: SG München, Urt. v. 28.06.2019 – S 46 AS 1966/18, juris, Rn. 25 – "Eine einfache Regel "Unterschrift eingescannt, also Widerspruch unzulässig" gibt es wohl nicht."). Hier bestanden hinsichtlich der Urheberschaft des Prozessbevollmächtigten hinsichtlich des Widerspruchsschreibens, welches die konkreten Bescheiddaten ebenso benannt hat wie die aus Sicht des Unterzeichners maßgeblichen Widerspruchsaspekte, keine berechtigten Zweifel daran, dass dieses Schreiben mit Wissen und Wollen zwecks Widerspruchserhebung in den Verkehr gebracht worden war.
35bb) Der Widerspruch gegen den Bescheid vom 19.08.2019 gegen den Bewilligungsbescheid vom 18.07.2019 ist auch nicht unzulässig, weil sich der Ausgangsbescheid durch den zwischenzeitlich erlassenen Änderungsbescheid vom 05.08.2019 erledigt hätte. Die Änderungsbescheide vom 05.08.2019 und 23.11.2019 sind vielmehr analog § 86 SGG Gegenstand des Widerspruchsverfahrens gegen den Bewilligungsbescheid vom 18.07.2019 geworden.
36Nach § 86 SGG wird auch der neue Verwaltungsakt Gegenstand des Vorverfahrens, wenn während des Vorverfahrens der Verwaltungsakt abgeändert wird; er ist der Stelle, die über den Widerspruch entscheidet, unverzüglich mitzuteilen.
37Einer Einbeziehung des 05.08.2019 erlassenen Änderungsbescheides steht nicht entgegen, dass das Widerspruchsverfahren W 5774/19 gegen den Bewilligungsbescheid vom 18.07.2019 erst später am 19.08.2019 anhängig gemacht worden ist. Zwar regelt § 86 SGG seinem Wortlaut nach nicht ausdrücklich den Fall, dass der Ausgangsbescheid noch vor Einlegung des Widerspruchsbescheides abgeändert wird, da zum Zeitpunkt der Änderung ein bereits laufendes Vorverfahren (noch) nicht existiert. Vorliegend ist der Zeitraum einer laufenden Widerspruchsfrist aber bereits in den zeitlichen Anwendungsbereich des § 86 SGG miteinzubeziehen (so ausdrücklich auch: Becker, in: beck-online.GROSSKOMMENTAR, GesamtHrsg: Roos/Wahrendorf, Stand: 01.09.2019, § 86 SGG, Rn. 9 – "Nach ihrem Sinn und Zweck erfasst die Regelung aber auch einen Änderungsbescheid, der zwischen dem Erlass des ursprünglichen Verwaltungsakts und der Erhebung des Widerspruchs gegen den ursprünglichen Verwaltungsakt ergeht. Dieser wird dann Gegenstand eines Vorverfahrens gegen den ursprünglichen Verwaltungsakt, wenn ein solches eingeleitet wird. Wird ein Vorverfahren gegen den ursprünglichen Verwaltungsakt jedoch nicht eingeleitet, wird der Änderungsbescheid nur Gegenstand eines eigenen Vorverfahrens, wenn gegen ihn gesondert Widerspruch eingelegt wurde."; ders., in: Roos/Wahrendorf, Sozialgerichtsgesetz: SGG, 1. Auflage 2014, § 86 SGG, Rn. 8; a.A.: Senger in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl., § 86 SGG (Stand: 25.04.2019), Rn. 14; Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Sozialgerichtsgesetz, 13. Auflage 2020, § 86 SGG, Rn. 2a). Eine vergleichbare Problematik bestand vor der Neuregelung der Parallelvorschrift des § 96 SGG in dem Fall, dass ein Änderungsbescheid nach Abschluss des Widerspruchsverfahren aber noch vor Klageerhebung ergeht. Hierbei wurde allgemein davon ausgegangen, dass § 96 SGG a.F. analog auch auf den Zeitraum zwischen Widerspruchsbescheid und Klageverfahren angewandt werden sollte (Hintz, in: BeckOK Sozialrecht, Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, 58. Edition, Stand: 01.09.2020, § 86 SGG, Rn. 2; Binder, in: Berchtold, Sozialgerichtsgesetz, 6. Auflage 2021 (bereits abrufbar über beck.online), § 96 SGG, Rn. 3; Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Sozialgerichtsgesetz, 13. Auflage 2020, § 96 SGG, Rn. 3a). Teilweise wurde die Einbeziehung des Änderungsbescheides in ein späteres Klageverfahren rechtsdogmatisch auch über eine allgemeine Rechtsanalogie zu den Grundsätzen des §§ 86, 96 SGG begründet (BSG, Urt. v. 01.08.1978 – 7 RAr 37/77, juris, Rn. 17 – "Gegenstand des Verfahrens sind nicht nur die Bescheide vom 12. April 1973 und 31. Oktober 1973, sondern auch der Bescheid vom 9. November 1973, der die vorangegangenen Bescheide abgeändert und ersetzt hat. Dem steht nicht entgegen, daß dieser Bescheid weder bis zum Ergehen des Widerspruchsbescheides noch nach Klageerhebung (§ 96 SGG) ergangen ist. In der Literatur wird die Auffassung vertreten, daß in solchen Fällen § 96 SGG anzuwenden ist [ ]. Auch der Senat ist der Meinung, daß abändernde oder ersetzende Bescheide, die nach Erlaß des Widerspruchsbescheides, aber noch vor Klageerhebung ergehen, dem der Regelung in §§ 86, 96 SGG zugrunde liegenden Gedanken der Prozeßökonomie entsprechend in das Klageverfahren über die abgeänderten oder ersetzten Bescheide einzubeziehen sind. Sinn des § 86 und des § 96 ist es nämlich, eine schnelle und erschöpfende Entscheidung über das gesamte Streitverhältnis möglich zu machen [ ]. Wollte man weder § 86 noch § 96 in einem solchen Falle anwenden, so würde das bedeuten, daß zwar die abändernden und ersetzenden Verwaltungsakte vor Ergehen des Widerspruchsbescheides und während des gerichtlichen Verfahrens in die Überprüfung einbezogen werden würden, nicht aber die "zwischen beiden Verfahren" ergangenen Verwaltungsakte. Für sie wäre auch ein besonderes Vorverfahren erforderlich, was aber der zweckstrebenden Natur des Verfahrensrechtes widersprechen würde."). Diese Grundsätze sind für einen Änderungsbescheid entsprechend zu übertragen, der während einer noch laufenden Widerspruchsfrist erlassen wird. Ob diese Einbeziehung analog § 86 SGG oder analog einem allgemeinen Rechtsgedanken der §§ 86, 96 SGG zu begründen ist, kann im Ergebnis dahingestellt bleiben. Für diese Rechtsauffassung spricht insbesondere auch der Umstand, dass § 96 SGG im Vergleich zu § 86 SGG die eingeschränktere Reichweite aufweist (vgl. zum Eingrenzungsbestreben des Gesetzgebers bei der Neufassung des § 96 SGG: BT-Drs. 16/7716, S. 22). Wenn daher (analog) § 96 SGG (a.F.) selbst eine Einbeziehung von Änderungsbescheiden erfolgen soll, die während der (noch) laufenden Klagefrist erlassen werden, muss dies erst recht analog § 86 SGG für Änderungsbescheide gelten, die während der (noch) laufenden Widerspruchsfrist erlassen werden. Denn gerade aus den Regelungszielen der Prozessökonomie, des effektiven Rechtsschutzes und der Sicherstellung einer einheitlichen Entscheidung scheint auch hier eine Bündelung des gesamten Streitgegenstandes geboten (Becker, in: beck-online.GROSSKOMMENTAR, GesamtHrsg: Roos/Wahrendorf, Stand: 01.09.2019, § 96 SGG, Rn. 5 m.w.N. - "Die Regelungen bewirken, dass die aktuelle Fassung einer getroffenen Regelung auch beim Vorliegen von Änderungsbescheiden in einem einzigen Verfahren überprüft werden kann, indem die neuen Bescheide kraft Gesetzes Gegenstand des Widerspruchs- bzw. des Klageverfahrens werden. Dies soll einen rationellen und effektiven Rechtsschutz gewährleisten, divergierende Entscheidungen vermeiden und durch die kraft Gesetzes erfolgende Einbeziehung in ein bestehendes Verfahren auch dem Schutz der Beteiligten dienen."). Andernfalls ließe sich das erste Widerspruchsverfahren gegen den Ausgangsbescheid, der materiell-rechtlich nur noch in Gestalt seines Änderungsbescheides existiert, auch nicht sinnig ohne Blick auf das Ergebnis des dann parallel zu führenden Widerspruchsverfahrens gegen den Änderungsbescheid abschließen, was so durch § 86 SGG nicht gewollt erscheint.
38Der Änderungsbescheid des Beklagten vom 05.08.2019 ist auch als Änderung des Bewilligungsbescheides vom 18.07.2019 i.S.d. § 86 Hs. 1 SGG anzusehen. Eine Änderung ist immer dann gegeben, wenn die Regelungsgegenstände beider Bescheide zumindest teilweise kongruent sind aber unterschiedliche Rechtsfolgen in dem Sinne bestimmen, das in die Regelung des ersten Bescheides durch den späteren Bescheid eingegriffen wird (BSG, Urt. v. 23.02.2005 – B 6 KA 45/03 R, juris, Rn. 17 m.w.N.; Jüttner, in: Fichte/Jüttner, SGG, 3. Aufl. 2020, § 86 SGG [Abänderung des Verwaltungsakts während des Vorverfahrens], Rn. 3; Becker, in: beck-online.GROSSKOMMENTAR, GesamtHrsg: Roos/Wahrendorf, Stand: 01.09.2019, § 86 SGG, Rn. 13; Senger in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl., § 86 SGG (Stand: 25.04.2019), Rn. 17 - "Maßgeblich ist, ob die von dem angefochtenen Verwaltungsakt ausgehende belastende Wirkung verstärkt oder verringert wird."). Mit dem Bescheid vom 05.08.2019 werden die ursprünglich für den denselben Zeitraum von September 2019 bis August 2020 bewilligten Leistungen von monatlich 415,95 EUR - welche die Klägerin bei Widerspruchserhebung ohnehin schon als zu gering angesehen hat – noch weiter auf monatlich 386,53 EUR abgesenkt. Die Klägerin muss sich mit dem Ziel noch höhere Leistungen zu erhalten, als ihr mit Bewilligungsbescheid vom 18.07.2019 ursprünglich gewährt worden sind, zwangsläufig und vorrangig auch gegen den Änderungsbescheid vom 05.08.2019 wenden, mit dem hier sogar noch geringere Leistungen bewilligt worden sind und welcher insofern eine noch stärkere Belastung darstellt.
392. Entgegen der wohl überwiegend vertretenen Ansicht sieht das Gericht – im Einklang mit dem Klageantrag - hier davon ab, durch Teilurteil eine isolierte Aufhebung des Widerspruchsbescheides unter Rückverweisung an die Behörde zur Sachentscheidung eine entsprechende gerichtliche Entscheidung der Klägerin vorzunehmen (a.A.: LSG Niedersachsen-Bremen, Teilurt. v. 10.12.2014 - L 2 R 494/13, juris, Rn. 37 ff.; LSG Rheinland-Pfalz, Teilurt. v. 30.09.2010 - L 1 AL 122/09, juris, Rn. 19; wohl auch: LSG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 14.06.2011 - L 7 AS 552/11 B, juris, Rn. 5). Vielmehr hält es das Gericht auch bzgl. des stattgebenden Teils der Gerichtsentscheidung eine Entscheidung unmittelbar durch Endurteil für rechtlich geboten (so bereits: SG Duisburg, Urt. v. 26.04.2018 – S 49 AS 857/17, juris, Rn. 57 ff.; so - ohne nähere Begründung - im Ergebnis auch: LSG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 20.11.2013 - L 12 AS 343/13).
40Sofern die Rechtsprechung von einer Entscheidung durch Endurteil absieht und über die (isolierte) Aufhebung des Widerspruchsbescheides und die Verpflichtung der Behörde zur (Neu-) Bescheidung des Widerspruches in der Sache durch Teilurteil nach § 202 SGG i.V.m. § 301 ZPO ausspricht, erscheint dies maßgeblich der Annahme geschuldet, dass ein Klageverfahren analog § 114 SGG auszusetzen sei, wenn ein Vorverfahren nicht durchgeführt wurde (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Teilurt. v. 10.12.2014 - L 2 R 494/13, juris, Rn. 37 ff.; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 14.06.2011 - L 7 AS 552/11 B, juris, Rn. 5). Nach der überwiegend vertretenen Ansicht könne in einer Klageerhebung auch eine erstmalige Widerspruchserhebung i.S.d. § 83 SGG gesehen werden (BSG, Urt. v. 13.12.2000 - B 6 KA 1/00 R, juris, Rn. 19; kritisch: Guttenberger, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl. 2017, § 114 SGG, Fn. 92) und es sei analog § 114 Abs. 2 S. 2 SGG nicht möglich, die Klage mangels Durchführung eines Widerspruchverfahrens (§ 78 SGG) als unzulässig abzuweisen (BSG, Urt. v. 24.10.2013 - B 13 R 31/12 R, juris, Rn. 20; BSG, Urt. v. 13.12.2000 - B 6 KA 1/00 R, juris, Rn. 25 m.w.N. – "Wurde vor Klageerhebung kein Widerspruchsverfahren durchgeführt, führt das im Regelfall nicht zur Abweisung einer Klage als unzulässig. Bedarf es eines Widerspruchsverfahrens, geben die Gerichte den Beteiligten vielmehr Gelegenheit zur Nachholung [ ]."; Guttenberger, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl. 2017, § 114 SGG, Rn. 43; a.A.: SG Stuttgart, Gerichtsbescheid v. 09.05.2011 - S 20 SO 1922/11; SG Berlin, Urt. v. 16.05.2012 - S 205 AS 11726/09). Bei der isolierten Aufhebung des Widerspruchsbescheides unter Verpflichtung zur Bescheidung des Widerspruchs in der Sache sollen dann dieselben Grundsätze zur Aussetzung analog § 114 Abs. 2 S. 2 SGG gelten, da mit der gerichtlichen Aufhebung des Widerspruchsbescheides kein abgeschlossenes Widerspruchsverfahren (mehr) vorliege.
41Dieses Rechtsverständnis hält das Gericht im Ergebnis jedenfalls dann nicht für überzeugend, wenn es - wie im vorliegenden Fall - um die isolierte Aufhebung eines Widerspruchsbescheides unter Verpflichtung des Beklagten zur (Neu-) Bescheidung des Widerspruchs in der Sache geht. Denn anders als in den vom Bundessozialgericht entschiedenen Fällen soll die Klage dann gerade nicht zu Lasten des Bürgers als unzulässig abgewiesen werden. Vielmehr wird der Klage zugunsten des Bürgers sogar stattgegeben. Der Bürger kann nun die Neubescheidung seines Widerspruchs in der Sache - ggf. auch im Wege der Vollstreckung (§§ 198 ff., 201 Abs. 1 SGG) - durchsetzen.
42Warum es in diesen Fällen einer weiteren, parallelen Fortführung des gerichtlichen Klageverfahrens unter Aussetzung dieses Verfahrens analog § 114 Abs. 2 S. 2 SGG bedürfen würde, bis die Behörde einen neuen Widerspruchsbescheid in der Sache erlassen hat, erschließt sich dem Gericht nicht. Ein weiteres, ununterbrochenes Vorbehalten gerade des bisherigen Gerichtsverfahrens nur für den Bedarfsfall ist jedenfalls nicht angezeigt. Denn sofern die spätere Widerspruchsentscheidung in der Sache der Beschwer des Bürgers abhelfen sollte, erscheint ab diesem Zeitpunkt eine weitere erfolgreiche Fortführung des früheren Klageverfahrens ausgeschlossen. Wenn andernfalls auch nach der Widerspruchsentscheidung in der Sache eine Beschwer des Bürgers verbleiben sollte, bedarf es ebenfalls keiner Fortführung des ursprünglichen Klageverfahrens mehr. Denn mit dem Erlass des (neuen) Widerspruchsbescheides werden für den Bürger sämtliche Rechtsschutzmöglichkeiten (neu) eröffnet. Dieser kann ungehindert eine (neue) Klage gegen den Ausgangsbescheid in Gestalt des (neuen) Widerspruchsbescheides erheben. Eine Fortführung gerade des ursprünglichen Klageverfahrens erscheint demgegenüber - auch aus prozessökonomischen Erwägungen - nicht angezeigt. Denn mit dem Ausgangsbescheid in Gestalt des neuen (Sach-) Widerspruchsbescheides wird der bisherige Streitgegenstand inhaltlich vollständig ausgetauscht und ein inhaltlich (neues) Verfahren zur Sachprüfung beginnt von vorn. Es gibt auch keine wesentliche inhaltliche Überschneidung mit dem bisherigen Streitstoff des Gerichtsverfahrens mehr, der gerade in der - nicht länger relevanten - Frage nach der Zulässigkeit des Widerspruchs und der Rechtmäßigkeit des früheren (nicht mehr existenten) Widerspruchsbescheides bestand. Insofern sind auch keine Synergieeffekte für die Beteiligten oder das Gericht zu erwarten. Ein Bedürfnis des Bürgers für den Unterliegensfall im Widerspruchsverfahren schon einmal ein (weiter) laufendes Klageverfahren auf Vorrat bei Gericht anhängig zu haben, ist nicht gegeben.
43IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und trägt dem Ausgang des Verfahrens Rechnung.
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Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.
Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Vollstreckungsschuldner dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Vollstreckungsgläubigerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.
Tatbestand
1
Die Kläger, ein Ehepaar, wenden sich gegen einen schornsteinfegerrechtlichen Zweibescheid und die damit verbundenen Kostenbescheide.
2
Bei den Klägern handelt es sich um die Grundeigentümer eines Grundstücks in der Gemeinde A-Stadt. Die Kehr- und Überprüfungspflichten für dieses Grundstück wurden im Feuerstättenbescheid vom 22. Mai 2016 festgelegt. Danach waren die Schornsteinfegerarbeiter bis zum 31. Mai eines jeden Jahres durchzuführen.
3
Unter den 1. Juni 2020 wendete sich der Kläger zu 1.) in einer E-Mail an den zuständigen Bezirksschornsteinfeger, teilte darin mit, dass man zur „Corona-Risikogruppe“ - sogar zur „Hochrisikogruppe“ - gehöre und baten um die Verschiebung des Prüftermins.
4
Da der Schornsteinfeger die Kläger telefonisch nicht erreichen konnte, antwortete er ebenfalls mit einer E-Mail. Die Arbeitsausführung lasse sich nicht verschieben. Für – in der Mail näher beschriebene – Schutzmaßnahmen werde gesorgt.
5
Daraufhin antwortete der Kläger zu 1.), dass er zurzeit eine Überprüfung für zu riskant halte. Man gehöre zur Risikogruppe und es gebe keinen separaten Zugang zur Heizanlage.
6
Nunmehr forderte mit Schreiben vom 25. Juni 2020 die Beklagte beide Kläger auf, die Schornsteinfegerarbeiter durchführen zu lassen und drohte einen kostenpflichtigen Zweitbescheid an.
7
Der Kläger zu 1.) antwortete wiederum per E-Mail und vertrat die Ansicht, der Schornsteinfeger stelle eine vermeidbare potentielle Gefährdung dar.
8
Die Beklagte antwortete ebenfalls mittels E-Mail und wies daraufhin, dass es keine Ausnahmen gebe, verlängerte allerdings die mit Schreiben vom 25. Juni 2020 gesetzte Frist noch einmal.
9
Nachdem auch diese verlängerte Frist verstrichen war, erließ die Beklagte unter dem 20. Juli 2020 jeweils gegenüber dem Kläger zu 1.) und der Klägerin zu 2.) einen Zweitbescheid, indem die Kläger aufgefordert wurden, die Abgaswege-Abgasleitungsüberprüfung zu veranlassen.
10
Für den Erlass der beiden Zweitbescheide setzte die Beklagte mit zwei Kostenbescheiden vom 20. Juli 2020 jeweils 137,68 € an Gebühren fest.
11
Alle Bescheide wurden den Klägern am 21. Juli 2020 zugestellt.
12
Am 29. Juli 2020 wurden dann die streitigen Schornsteinfegerarbeiten durchgeführt.
13
Die Kläger haben am 12. August 2020 Klage erhoben.
14
Der Erlass der beiden Zweitbescheide und der Kostenbescheide sei unbegründet, überzogen und total inakzeptabel. Von einer dauerhaften Aufschiebung der Arbeiten sei nie die Rede gewesen. Aus den Antrag einer Terminverschiebung sei eine Verweigerungshaltung konstruiert worden.
15
Die Kläger beantragen sinngemäß,
16
die beiden Feuerstättenbescheide und die dazugehörigen Kostenbescheide aufzuheben
17
Die Beklagte beantragt,
18
die Klage abzuweisen.
19
Sie tritt der Klage entgegen. Die gesetzlich begründeten Eigentümerpflichten seien aufgrund der Corona-Pandemie zu keinem Zeitpunkt aufgehoben worden.
20
Alle Beteiligten haben sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung und mit einer Entscheidung des Berichterstatters anstelle der Kammer einverstanden erklärt.
21
Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
22
Im Einverständnis der Beteiligten ergeht die Entscheidung gemäß § 87a Abs. 2 und 3 VwGO durch den Berichterstatter und nach § 101 Abs. 2 VwGO weiterhin ohne mündliche Verhandlung.
23
Die zulässige Klage ist unbegründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig und verletzten die Kläger nicht in ihren Rechten.
24
Rechtsgrundlage des sogenannten Zweitbescheides vom 20. Juli 2020 ist § 25 Abs. 2 des Gesetzes über das Berufsrecht und die Versorgung im Schornsteinfegerhandwerk – Schornsteinfeger-Handwerksgesetz (SchHwG). Danach erlässt die zuständige Behörde – hier die Beklagte - einen Zweitbescheid gegenüber den Eigentümern des Grundstücks, wenn die Durchführung der Schornsteinfegerarbeiten aufgrund des Feuerstättenbescheides nicht nachgewiesen wurde.
25
Die Kläger sind Eigentümer des betroffenen Grundstückes. Die im Feuerstättenbescheid vom 22. Mai 2016 festgelegten Arbeiten für das Grundstück der Kläger wurden – dies dürfte auch unstreitig sein - nicht fristgerecht nachgewiesen.
26
Die Kläger können sich nicht darauf berufen, ein Zweitbescheid hätte nicht erlassen werden dürfen, weil sie ja lediglich eine Verschiebung der Schornsteinfegerarbeiten beantragt hätten.
27
Sowohl der Bezirksschornsteinfeger als auch die Beklagte hatten gegenüber den Klägern einen Aufschub der Arbeiten abgelehnt. Die Kläger wurden vor Erlass des Zweitbescheides von der Beklagten mit Schreiben vom 25. Juni 2020 angehört und auf die Folgen der Nicht-Durchführung der Schornsteinfegerarbeiten hingewiesen. Obwohl die dort gesetzte Frist von der Beklagten noch einmal verlängert wurde, haben die Kläger die Arbeiten innerhalb der gesetzten Frist nicht nachgewiesen.
28
Auch im Hinblick auf die Corona-Pandemie war die Durchführung der Arbeiten nicht unzumutbar. Abgesehen davon, dass die Kläger lediglich behaupten, einer Risikogruppe anzugehören, duldeten die Schornsteinfegerarbeiten aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung keinen weiteren Aufschub. Die Schornsteinfegerarbeiten dienen neben dem Erhalt der Betriebs- und Brandsicherheit - die auch den Klägern zu Gute kommt – den Zielen des Umweltschutzes, der Energieeinsparung und des Klimaschutzes. Der Schornsteinfeger bzw. mit seinem Mitarbeiter hätten – dies hat der Schornsteinfeger auch unter dem 25. Mai 2020 gegenüber den Klägern dargelegt - bei der Arbeitsausführung Einwegmund-, Hand-und Fußschutz getragen; außerdem hätte sich niemand von den Klägern bei der Arbeitsausführung im selben Raum wieder Schornsteinfeger zwingend aufhalten müssen.
29
Nachdem die Kläger trotz Ablehnung des Verschiebungsantrages und Setzung einer Frist zur Durchführung der Arbeiten diese innerhalb der Frist nicht nachgewiesen haben, musste die Beklagte nicht mehr länger zuwarten und durfte die angefochtenen Zweitbescheide erlassen.
30
Da die Kläger zu beiden Teilen Eigentümer des betreffenden Grundstückes sind, war es ebenfalls gerechtfertigt und erforderlich, Ihnen gegenüber jeweils einen Zweitbescheid zu erlassen.
31
Der Erlass eines Zweitbescheides ist kostenpflichtig. Darauf wurden die Kläger vor Erlass durch die Beklagte hingewiesen. Da die Kläger der Aufforderung im Schreiben vom 25. Juni 2020 nicht nachgekommen sind, haben sie Anlass zum Erlass des Zweitbescheides gegeben. Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 und § 5 Abs. 1 Satz 1 des niedersächsischen Verwaltungskostengesetzes haben sie deshalb die durch Erlass des Zweitbescheides entstehenden Kosten (Gebühren und Auslagen) zu tragen. Den vorgegebenen Gebührenrahmen hat die Beklagte eingehalten. Die Festsetzung der Gebühren ist rechtmäßig und deren Höhe nicht zu beanstanden.
32
Gründe für die Zulassung der Berufung gem. §§ 124a Abs. 1, 124 Abs. 2 Nr. 3 und 4 VwGO sind nicht ersichtlich.
33
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO.
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Tenor
I. Die aufschiebende Wirkung der noch zu erhebenden Anfechtungsklage gegen die Allgemeinverfügung vom 3.11.2020 zur „Änderung der Allgemeinverfügung zur Bekämpfung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 in der Stadt A. vom 23.10.2020“ (Abl. S. 311) wird wiederhergestellt.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 2.500,- EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Der Antragsteller begehrt im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung gegen die Allgemeinverfügung vom 3.11.2020 „zur Änderung der Allgemeinverfügung zur Bekämpfung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 in der Stadt A. vom 23.10.2020“.
Die Siebte Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (7. BayIfSMV) vom 1. Oktober 2020 (BayMBl. Nr. 562, BayRS 2126-1-11-G), die zuletzt durch Verordnung vom 18. Oktober 2020 (BayMBl. Nr. 589) geändert wurde, enthält auszugsweise folgende Regelungen:
„§ 1 Allgemeines Abstandsgebot, Mund-Nasen-Bedeckung
(1) Jeder wird angehalten, die physischen Kontakte zu anderen Menschen auf ein Minimum zu reduzieren und den Personenkreis möglichst konstant zu halten. Wo immer möglich, ist ein Mindestabstand zwischen zwei Personen von 1,5 m einzuhalten. Wo die Einhaltung des Mindestabstands im öffentlichen Raum nicht möglich ist, soll eine Mund-Nasen-Bedeckung getragen werden. In geschlossenen Räumlichkeiten ist stets auf ausreichende Belüftung zu achten.
(2) Soweit in dieser Verordnung die Verpflichtung vorgesehen ist, eine Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen (Maskenpflicht), gilt:
1. Kinder sind bis zum sechsten Geburtstag von der Tragepflicht befreit.
2. Personen, die glaubhaft machen können, dass ihnen das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung aufgrund einer Behinderung oder aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich oder unzumutbar ist, sind von der Trageverpflichtung befreit.
3. Das Abnehmen der Mund-Nasen-Bedeckung ist zulässig, solange es zu Identifikationszwecken oder zur Kommunikation mit Menschen mit Hörbehinderung oder aus sonstigen zwingenden Gründen erforderlich ist.
§ 24 Regelungen bei einer Sieben-Tage-Inzidenz größer 35
Das Staatsministerium für Gesundheit und Pflege gibt täglich auf seiner Internetseite unter https://www.stmgp.bayern.de die Landkreise und kreisfreien Städte bekannt, in denen laut Feststellung des Robert Koch-Instituts oder des Landesamts für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit eine Zahl der Neuinfektionen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 von 35 pro 100 000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen überschritten wird oder vor weniger als sechs Tagen noch überschritten worden ist. In diesen Landkreisen und kreisfreien Städten gilt ab dem Tag, der auf den Tag der erstmaligen Nennung folgt, bis zum Ablauf des Tages der letztmaligen Nennung über die §§ 1 bis 23 hinaus Folgendes:
1. Es besteht Maskenpflicht auf von der zuständigen Kreisverwaltungsbehörde festzulegenden stark frequentierten öffentlichen Plätzen, auf den Begegnungs- und Verkehrsflächen einschließlich der Fahrstühle von öffentlichen Gebäuden sowie von Freizeiteinrichtungen nach § 11 Abs. 1, Kulturstätten nach § 23 Abs. 1 und sonstigen öffentlich zugänglichen Gebäuden, für die in dieser Verordnung keine besonderen Regelungen vorgesehen sind."
Da die Anzahl an Neuinfektionen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 von 35 pro 100.000 Einwohnern im Stadtgebiet A. innerhalb von sieben Tagen überschritten wurde, erließ die Antragsgegnerin am 23.10.2020 die Allgemeinverfügung zur Bekämpfung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 in der Stadt A. Diese Allgemeinverfügung wurde am 24.10.2020, 00:00 Uhr, wirksam und endete am 8.11.2020, 24:00 Uhr, vgl. Ziffer IV der Allgemeinverfügung. Die Allgemeinverfügung enthält auszugsweise folgende Regelungen:
„II. Als stark frequentierte Plätze im Sinn des § 24 Satz 2 Nr. 1 der 7. BayIfSMV, bei deren Benutzung Maskenpflicht besteht, werden sämtliche öffentliche Verkehrsflächen festgelegt, die in dem im anliegenden, einen Bestandteil dieser Allgemeinverfügung bildenden Lageplan blau markierten Gebiet liegen (Innenstadt). Ausgenommen hiervon sind jeweils gastronomisch genutzte Flächen, sofern sich die Besucher an ihren Plätzen befinden.
III.
Die sofortige Vollziehbarkeit dieser Allgemeinverfügung wird im besonderen öffentlichen Interesse angeordnet."
Die Festlegung der stark frequentierten Plätze in der Allgemeinverfügung begründete die Antragsgegnerin folgendermaßen:
„Die Voraussetzungen für die Festlegung von öffentlichen Plätzen in diesem Sinn sind vorliegend an den im anliegenden Lageplan dargestellten öffentlichen Verkehrsflächen erfüllt. Es handelt sich hierbei um in der Innenstadt gelegene, stark frequentierte öffentliche Plätze. Die Regelung erfolgt in Ausübung pflichtgemäßen Ermessens (Art. 40 BayVwVfG). Ein Regelungsbedürfnis besteht, weil der Wert von 35 Einwohnern pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen in der Stadt A. deutlich überschritten worden ist (Entschließungsermessen). Bei der Altstadt (einschließlich der Arkaden) besteht wegen des Zusammentreffens einer großen Vielzahl von Menschen im öffentlichen Raum ein beträchtliches Infektionsrisiko mit dem Coronavirus SARS-CoV-2. Die erfolgte Festlegung steht insbesondere mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Einklang. Der legitime Zweck besteht in der Bekämpfung der weiteren Ausbreitung des vorgenannten Virus, das schwerwiegende Erkrankungen hervorrufen und die Funktionsfähigkeit des öffentlichen Gesundheitswesens bei einer exponentiellen Zunahme von Krankheitsfällen schwerwiegend gefährden kann. Die Festlegung ist erforderlich, weil gegenüber dem Tragen einer Maske bisher kein milderes Mittel zur Verfügung steht. Schließlich ist die Festlegung auch angemessen, weil sie den Adressaten der Regelung zugemutet werden kann. Gegenüber dem erwarteten Nutzen sind hiermit in der Regel keine wesentlichen Beschwernisse verbunden. Im Übrigen gilt auch hier die Ausnahmeregelung in § 1 Abs. 2 7. BayIfSMV.“
Die Allgemeinverfügung enthält als Anlage einen Auszug des Stadtplans der Stadt A., auf dem der Innenstadtbereich blau markiert ist. Der Auszug des Stadtplans enthält weder Straßennamen, eine Legende, einen Maßstab noch die Angabe der Quelle.
Am 2.11.2020 trat die Achte Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (8. BayIfSMV) vom 30. Oktober 2020 (BayMBl. 2020 Nr. 616) in Kraft. Die 8. BayIfSMV regelt unter anderem das Außerkrafttreten der 7. BayIfSMV mit Ablauf des 1.11.2020 (vgl. § 28 Satz 2 der 7. BayIfSMV) und enthält auszugsweise folgende weitere Regelungen:
"§ 2 Mund-Nasen-Bedeckung
Soweit in dieser Verordnung die Verpflichtung vorgesehen ist, eine Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen (Maskenpflicht), gilt:
1. Kinder sind bis zum sechsten Geburtstag von der Tragepflicht befreit.
2. Personen, die glaubhaft machen können, dass ihnen das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung aufgrund einer Behinderung oder aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich oder unzumutbar ist, sind von der Trageverpflichtung befreit.
3. Das Abnehmen der Mund-Nasen-Bedeckung ist zulässig, solange es zu Identifikationszwecken oder zur Kommunikation mit Menschen mit Hörbehinderung oder aus sonstigen zwingenden Gründen erforderlich ist.
§ 24 Weitergehende Maskenpflicht und Alkoholverbot
(1) Es besteht Maskenpflicht auf von der zuständigen Kreisverwaltungsbehörde festzulegenden stark frequentierten öffentlichen Plätzen, auf den Begegnungs- und Verkehrsflächen einschließlich der Fahrstühle von öffentlichen Gebäuden sowie von sonstigen öffentlich zugänglichen Gebäuden, für die in dieser Verordnung keine besonderen Regelungen vorgesehen sind, auf den Begegnungs- und Verkehrsflächen der Arbeitsstätte, insbesondere in Fahrstühlen, Fluren, Kantinen und Eingängen; Gleiches gilt für den Arbeitsplatz, soweit der Mindestabstand von 1,5m nicht zuverlässig eingehalten werden kann.
(…)
(4) Die zuständige Kreisverwaltungsbehörde kann in begründeten Einzelfällen Ausnahmen zulassen, soweit dies aus infektionsschutzrechtlicher Sicht vertretbar ist."
Da seit Inkrafttreten der 8. BayIfSMV eine Maskenpflicht unabhängig von einem bestimmten 7-Tage-Inzidenzwert pro 100.000 Einwohner besteht, erließ die Antragsgegnerin am 3.11.2020 die Allgemeinverfügung zur Änderung der Allgemeinverfügung zur Bekämpfung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 in der Stadt A. vom 23.10.2020 (Abl. S. 311). Die Allgemeinverfügung enthält folgende Regelungen:
„I. In Abänderung der Allgemeinverfügung der Stadt A. vom 23.10.2020 (Abl. S. 311) wird Folgendes geregelt:
1. Die Ziff. II Satz 2 der Allgemeinverfügung erhält folgenden neuen Wortlaut: „Die Verpflichtung besteht nur in der Zeit von 06:00 bis 21:00 Uhr.“
2. Die Ziff. IV Satz 2 der Allgemeinverfügung erhält folgenden neuen Wortlaut: „Die Wirksamkeit der Allgemeinverfügung endet am 30.11.2020, 24:00 Uhr.“
II.
Die sofortige Vollziehbarkeit dieser Allgemeinverfügung wird im besonderen öffentlichen Interesse angeordnet.
III. Diese Allgemeinverfügung wird am 04.11.2020, 00:00 Uhr, wirksam"
Zur Begründung der Allgemeinverfügung führt die Antragsgegnerin aus:
"Gemäß § 24 Abs. 1 Nr. 1 8. BayIfSMV besteht auf den von der Kreisverwaltungsbehörde festzulegenden stark frequentierten Plätzen Maskenpflicht, wenn in der besagten Rechtsverordnung keine besonderen Regelungen vorgesehen sind. Die Festlegung der stark frequentierten Plätze in der Stadt A. hat bereits mit der Allgemeinverfügung vom 23.10.2020 auf der Grundlage von § 24 Satz 2 Nr. 1 7. BayIfSMV mit Wirksamkeit bis 8.11.2020, 24:00 Uhr, stattgefunden. Unter der jetzigen Geltung von § 24 Abs. 1 Nr. 1 8. BayIfSMV kann hieran in Ausübung pflichtgemäßen Ermessens (Art. 40 BayVwVfG) festgehalten und die Wirksamkeit der Regelung der Geltungszeit der besagten Rechtsverordnung bis 30.11.2020 entsprechend verlängert werden (vgl. § 28 Satz 1 8. BayIfSMV).
(…)
Da nach Inkrafttreten der neuen infektionsschutzrechtlichen Regelungen in Bayern am 02.11.2020, insbesondere denen zu Freizeiteinrichtungen (§ 11 8. BayIfSMV), zur Gastronomie (§ 13 8. BayIfSMV) und zu Kulturstätten (§ 23 8. BayIfSMV), während der Nachtzeit mit keiner erhöhten (Verkehrs-)Frequenz in der Innenstadt zu rechnen ist, erscheint es ausreichend, wenn die Maskenpflicht fortan nur noch in der Zeit von täglich 06:00 bis 21:00 Uhr vorgeschrieben wird."
Der Antragsgegner wandte sich am 3.11.2020 mit einem Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz an das Verwaltungsgericht Regensburg. Zur Begründung trägt er vor, die Verpflichtung zum Tragen einer Maske verletze seine in Art. 2 Abs. 1 GG geregelte allgemeine Handlungsfreiheit. Als Bewohner der historischen Altstadt würden sein Arbeitsweg, sowie die Wege zum Einkaufen durch die von der Stadt A. mit Maskenpflicht belegten Straßen und Plätze führen. Es bestehe keine Möglichkeit Individualsport im Freien zu treiben, ohne dazu eine Maske aufzusetzen. Die Antragsgegnerin habe am 27.2.2018 bei der Gesellschaft für M. mbH ein Einzelhandelsentwicklungskonzept für die Stadt A. in Auftrag gegeben. Dort seien die Neustadt, der D.platz sowie Gassen zwischen Alt- und Neustadt als Nebenlage aufgeführt. Die Nebenlagen, wo vereinzelt auch Ladenleerstände auftauchten, zeichnen sich laut Studie durch deutlich geringere Frequenzen aus. Demzufolge handle es sich bei den Nebenlagen nicht um „stark frequentierte Flächen“ im Sinne der 8. BayIfSMV. Die 8. BayIfSMV versuche mit der erweiterten Maskenpflicht eine Situation zu regeln, bei der aufgrund hohen Besucheraufkommens ein Einhalten des Mindestabstands nicht gewährleistet sei. In den genannten Nebenlagen sei jedoch das Einhalten eines Mindestabstands zu jeder Zeit gewährleistet.
Der Antragsteller beantragt sinngemäß,
die aufschiebende Wirkung einer noch zu erhebenden Anfechtungsklage gegen die Allgemeinverfügung vom 3.11.2020 zur Änderung der Allgemeinverfügung zur Bekämpfung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 in der Stadt A. vom 23.10.2020 (Abl. S. 311) wiederherzustellen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Der Antrag sei bereits unzulässig, da der Antragsteller nicht klagebefugt gemäß § 42 Abs. 2 VwGO sei. Er habe in seinem Antrag die erforderliche Möglichkeit einer eigenen Rechtsverletzung durch die ihn treffende Maskenpflicht nicht dargelegt. Auch wenn ihn die Maskenpflicht nach der Allgemeinverfügung formal treffe, sei nicht ersichtlich, warum ihn diese Pflicht konkret beschwere.
Im Übrigen sei der Antrag nicht begründet. Eine summarische Prüfung der Rechtmäßigkeit der Allgemeinverfügung ergebe, dass eine Anfechtungsklage keine Aussicht auf Erfolg habe. Die Festlegung der stark frequentierten Plätze in der Stadt A. habe bereits mit der Allgemeinverfügung vom 23.10.2020 auf Grundlage des § 24 Satz 2 Nr. 1 der 7. BayIfSMV stattgefunden. Unter der jetzigen Geltung von § 24 Abs. 1 Nr. 1 der 8. BayIfSMV könne hieran in Ausübung pflichtgemäßen Ermessens festgehalten werden.
Entgegen der Ansicht des Antragstellers erstrecke sich der räumliche Umfang der von der Antragsgegnerin in der Allgemeinverfügung vorgenommenen Regelung auf einen stark frequentierten Platz. Der Begriff des Platzes sei vorliegend nicht im Sinne des Straßen- und Wegerechts als besondere straßenbauliche Erscheinungsform einer einzelnen öffentlichen Straße, sondern als für Fußgänger und Radfahrer allgemein zugänglicher öffentlicher Raum zu verstehen, der sich auch aus mehreren Straßen, Wegen und Plätzen zusammensetzen könne. Es verstehe sich von selbst, dass in einem solchen öffentlichen Raum nicht an allen Stellen ein gleich starkes Verkehrsaufkommen bestehe. Die gegenteilige Annahme hätte eine Zersplitterung des öffentlichen Raums zur Folge, in dem die Regelung nicht praktikabel eingehalten und hinreichend überwacht werden könne.
Bei starker Frequenz, also besonders häufigen Begegnungen, bestehe bei derzeitigem landesweiten und örtlichen Infektionsgeschehen das gesteigerte Risiko einer Ansteckung mit dem Coronavirus SARS-CoV-2. Grund hierfür sei insbesondere, dass an solchen Plätzen der Mindestabstand wegen der räumlichen Gegebenheiten und erfahrungsgemäß zu erwartenden Verhaltensweisen der anwesenden Personen häufig nicht eingehalten werden könne. Die Stadt A. habe über 73.000 Einwohner. Der räumliche Umfang der Regelung in der Allgemeinverfügung erstrecke sich auf die A.er Innenstadt, in der mit besonders häufigen Begegnungen von Menschen gerechnet werde. Die starke Frequenz herrsche entgegen der Auffassung des Antragstellers nicht nur im Hauptstraßenzug der Altstadt, sondern auch in den übrigen, von ihr abzweigenden und zu ihr hinführenden Straßen, Wegen und Plätzen.
Zur räumlichen Abgrenzung bedarf es keiner empirischen Untersuchung, etwa in Gestalt einer Verkehrszählung oder eines Verkehrsgutachtens. Es genüge die sich auf konkrete Erfahrung stützende Einschätzung durch die zuständige Behörde. Das von der Gesellschaft für M. mbH erstellte Einzelhandelsentwicklungskonzept für die Stadt A. spiele bei der hier vorzunehmenden infektionsschutzrechtlichen Beurteilung keine Rolle. Das dem besagten Konzept zugrunde liegende wissenschaftliche Erkenntnisinteresse richte sich ausschließlich auf den örtlichen Einzelhandel und seine Entwicklungschancen, nicht hingegen auf den innerstädtischen Fußgängerverkehr und die Möglichkeit von infektionsepidemiologisch relevanten Begegnungen im öffentlichen Raum, auf die es hier im Interesse der effektiven Gefahrenabwehr bzw. der Infektionsbekämpfung ankomme.
Dass die Gastronomiebetriebe derzeit geschlossen seien (vergleiche § 13 Abs. 1 der 8. BayIfSMV), sei nachrangig zu bewerten, zumal die Abgabe mitnahmefähiger Speisen weiterhin zulässig sei. Da nach Inkrafttreten der neuen infektionsschutzrechtlichen Regelungen der 8. BayIfSMV, insbesondere denen zu Freizeiteinrichtungen, Gastronomie und Kulturstätten während der Nachtzeit mit keiner erhöhten Verkehrsfrequenz in der Innenstadt zu rechnen sei, erscheine es ausreichend, wenn die Maskenpflicht nur im Zeitraum von 6:00 bis 21:00 Uhr vorgeschrieben werde.
Die Regelung beruhe auf der Ausübung pflichtgemäßen Ermessens. Sie sei insbesondere verhältnismäßig. Der legitime Zweck bestehe in der Bekämpfung der weiteren Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2. Ein milderes, ebenso gut geeignetes Mittel stehe derzeit nicht zur Verfügung. Eine räumliche Differenzierungen in der Innenstadt sei aus vorgenannten Gründen für die Pflichtigen nicht praktikabel bzw. könne von den zuständigen Behörden nicht hinreichend überwacht und kontrolliert werden.
Schließlich könne das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung dem Antragsteller zugemutet werden, da dies für ihn mit keiner persönlichen Belastung verbunden sei, die nicht durch den individuellen und überindividuellen Schutzzweck vollständig gedeckt sei.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten, insbesondere auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze, Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag ist begründet.
Nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes erforderlichen, aber auch ausreichenden summarischen Überprüfung der Sach- und Rechtslage ist die Allgemeinverfügung vom 3.11.2020 zur Änderung der Allgemeinverfügung zur Bekämpfung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 in der Stadt A. vom 23.10.2020 im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung voraussichtlich rechtswidrig und verletzt den Antragsteller in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
1. Der Antrag ist zulässig.
a) Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ist die richtige Antragsart und daher statthaft.
Das Antragsbegehren ist gemäß §§ 122 Abs. 1, 88 VwGO dahingehend auszulegen, dass sich der Antragsteller nicht grundsätzlich gegen die Maskenpflicht wendet, sondern nur gegen die konkrete Ausweisung der stark frequentierten öffentlichen Plätze in der Stadt A. Sein Rechtsschutzziel ist daher nicht im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes im Normenkontrollverfahren gemäß § 47 Abs. 6 VwGO gegen die Regelungen der 8. BayIfSMV zu erreichen. Der Antragsteller begehrt die Aufhebung einer ihn belastenden Regelung in Form der Allgemeinverfügung vom 3.11.2020 der Stadt A., in der die Ausweisung der stark frequentierten öffentlichen Plätze zu einer weitergehenden Maskenpflicht im Freien führt. Richtige Klageart in der Hauptsache ist daher die Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 VwGO gerichtet gegen die Allgemeinverfügung vom 3.11.2020.
Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse von der Behörde angeordnet worden ist gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO ganz oder teilweise wiederherstellen. Vorliegend hat die Antragsgegnerin die sofortige Vollziehbarkeit der Allgemeinverfügung vom 23.10.2020 gem. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO angeordnet (vgl. Ziffer III der Allgemeinverfügung). Dies hat zur Folge, dass die aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs und der Anfechtungsklage entfällt, weshalb der Antrag gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO statthaft ist.
b) Der Antrag ist auch statthaft, da der Antragsteller in der Hauptsache in Bezug auf die streitgegenständliche Regelung nach § 42 Abs. 2 VwGO klagebefugt ist. Der Antragsteller ist - ausweislich seiner ladungsfähigen Anschrift - in dem Bereich der Innenstadt wohnhaft, der der Maskenpflicht in der Allgemeinverfügung unterliegt. Sobald der Antragsteller sein Wohngebäude verlässt, ist er durch die weitergehende Maskenpflicht beschwert und folglich antragsbefugt.
c) Unschädlich ist, dass der Antragsteller beantragt hat, „die aufschiebende Wirkung [des] Widerspruchs gegen Teil II der Allgemeinverfügung anzuordnen. Von dem nicht anwaltlich vertretenen Antragsteller kann nicht erwartet werden, dass er die juristische Terminologie beherrscht und Kenntnis darüber hat, dass gemäß Art. 15 Abs. 2 AGVwGO das Widerspruchsverfahren gemäß § 68 Abs. 1 VwGO entfällt. Entsprechend seines Rechtsschutzbegehrens ist sein Antrag gem. §§ 122 Abs. 1, 88 VwGO dahingehend auszulegen, dass die Wiederherstellung der aufschiebende Wirkung der noch zu erhebenden Anfechtungsklage gegen die Allgemeinverfügung vom 3.11.2020 beantragt wird.
d) Der Antrag kann gemäß § 80 Abs. 5 Satz 2 VwGO auch schon vor Erhebung der Anfechtungsklage eingereicht werden. Im vorliegenden Fall ist aufgrund der Eilbedürftigkeit der Entscheidung von vornherein absehbar, dass die Entscheidung in der Hauptsache nicht rechtzeitig ergehen kann. Daher ist der Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO auch unabhängig von einer Klageerhebung zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts zulässig.
2. Der Antrag ist auch begründet.
Im Rahmen seiner Entscheidung hat das Gericht eine Interessenabwägung zwischen dem Vollzugsinteresse der Allgemeinheit sowie dem Interesse des Antragstellers, die Anordnungen bis zur Entscheidung über die Hauptsache nicht befolgen zu müssen, vorzunehmen. Im Rahmen dieser Interessenabwägung spielen die Erfolgsaussichten der Hauptsacheklage eine entscheidende Rolle. Ergibt die summarische Prüfung, dass die angefochtene Allgemeinverfügung offensichtlich rechtswidrig und der Antragsteller dadurch in seinen Rechten verletzt ist, kann kein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung bestehen.
Vorliegend wird die Hauptsacheklage voraussichtlich erfolgreich sein, da die streitgegenständliche Allgemeinverfügung voraussichtlich rechtswidrig ist.
a) Es kann dahinstehen, ob die §§ 32 Abs. 1 IfSG, 24 Abs. 1 Nr. 1 der 8. BayIfSMV formell und materiell rechtmäßig sind und eine geeignete Rechtsgrundlage für die Allgemeinverfügung der Antragsgegnerin darstellen.
b) Jedenfalls ist die Allgemeinverfügung voraussichtlich rechtswidrig, weil ein Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vorliegt.
aa) Die zuständigen Kreisverwaltungsbehörden legen stark frequentierte öffentliche Plätze fest, auf denen eine weitergehende Maskenpflicht gemäß § 24 Abs. 1 Nr. 1 der 8. BayIfSMV besteht. Entgegen der Auffassung der Antragstellerin steht ihr keine Ermessensentscheidung im Sinne des Art. 40 BayVwVfG bei der Ausweisung der stark frequentierten öffentlichen Plätze zu. Der Begriff der „stark frequentierten öffentlichen Plätze“ gemäß § 24 Abs. 1 Nr. 1 der 8. BayIfSMV ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, da die weitergehende Maskenpflicht erst dann besteht, wenn die zuständige Kreisverwaltungsbehörde öffentliche Plätze ausgewiesen hat. Im Unterschied zum Ermessen, welches auf der Rechtsfolgenseite besteht, sind unbestimmte Rechtsbegriffe Tatbestandsmerkmale. Die Ausweisung als „stark frequentierte öffentliche Plätze“ ist ein Tatbestandsmerkmal, welches die weitergehende Maskenpflicht auslöst, sodass es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff handelt.
Auslegung und Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe unterliegen der vollen gerichtlichen Überprüfung (vgl. BayVGH, B.v. 16.1.2015 - 12 C 14.2846 - juris Rn. 12; OVG NRW, B.v. 2.9.2008 - 12 B 1224/08 - juris, Rn. 13; OVG Bremen, B.v. 17.11.2010 - 2 B 256/10 - juris, Rn. 21). Diese gerichtliche Kontrolle erstreckt sich sowohl auf die Bestimmung des Sinngehalts der Norm als auch auf die Feststellung der Tatsachengrundlagen und die Anwendung des unbestimmten Rechtsbegriffs auf die im Einzelfall festgestellten Tatsachen (vgl. BVerfGE 64, 261, 279; 103, 142, 156; BVerwGE 94, 307, 309). Eine Überprüfung durch die Verwaltungsgerichte scheidet nur dann aus, wenn unbestimmte Rechtsbegriffe „wegen hoher Komplexität oder besonderer Dynamik der geregelten Materie so vage und ihre Konkretisierung im Nachvollzug der Verwaltungsentscheidung so schwierig“ ist, dass die gerichtliche Kontrolle an ihre Funktionsgrenzen stößt (BVerfG NJW 1991, 2005, 2006). Ein solcher Ausnahmefall liegt jedoch nicht vor, sodass die Auslegung und Anwendung des unbestimmten Rechtsbegriffs der “stark frequentierten öffentlichen Plätze“ gemäß § 24 Abs. 1 Nr. 1 der 8. BayIfSMV der vollen gerichtlichen Überprüfung unterliegt.
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gilt nicht nur bei dem Erlass belastender Verwaltungsakte, sondern ist stets zu beachten, sodass auch die Anwendung und Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe verhältnismäßig sein muss.
bb) Regelungszweck des § 24 Abs. 1 Satz 1 der 8. BayIfSMV ist es, dort eine weitergehende Maskenpflicht einzuführen, wo Personen dichter und/oder länger zusammenkommen. Das gilt insbesondere an solchen Orten, an denen Personen den Mindestabstand von 1,5 m - auch im Freien - nicht einhalten können, wie z.B. Fußgängerzonen, Marktplätze, in Fahrstühlen, Eingangsbereichen von Gebäuden (vgl. § 1 Satz 1 und 2 der 8. BayIfSMV; Bayerische Staatsregierung, Bericht aus der Kabinettssitzung vom 15. Oktober 2020, abrufbar unter: https://www.bayern.de/bericht-aus-der-kabinettssitzung-vom-15-oktober-2020/?seite=1579).
Durch die Maskenpflicht soll die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Coronavirus in der Bevölkerung verlangsamt werden. Dabei geht es zuallererst nicht um den eigenen Schutz, sondern darum, andere Personen vor Ansteckung durch Tröpfcheninfektion zu schützen. Durch Bedeckung von Mund und Nase können andere Personen vor Partikeln geschützt werden, die beim Husten, Niesen oder Sprechen freigesetzt werden (vgl. Häufige Fragen der Bayerischen Staatsregierung, abrufbar unter: https://www.innenministerium.bayern.de/miniwebs/coronavirus/faq/index.php).
Das Robert Koch-Institut, das bei der Vorbeugung übertragbarer Krankheiten und der Verhinderung der Verbreitung von Infektionen eine besondere Sachkunde aufweist (§ 4 IfSG), empfiehlt das generelle Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung in bestimmten Situationen im öffentlichen Raum als einen weiteren Baustein, um den Infektionsdruck und damit die Ausbreitungsgeschwindigkeit von COVID-19 in der Bevölkerung zu reduzieren und somit Risikogruppen zu schützen. Diese Empfehlung beruht auf Untersuchungen, die belegen, dass ein relevanter Anteil von Übertragungen von SARS-CoV-2 unbemerkt erfolgt, d.h. zu einem Zeitpunkt vor dem Auftreten der ersten Krankheitszeichen. Eine teilweise Reduktion der unbemerkten Übertragung von infektiösen Tröpfchen durch das Tragen von Mund-Nase-Bedeckung könnte auf Populationsebene zu einer weiteren Verlangsamung der Ausbreitung beitragen. Dies betrifft die Übertragung im öffentlichen Raum, wo mehrere Menschen zusammentreffen und sich länger aufhalten (z.B. Arbeitsplatz) oder der physische Abstand von mindestens 1,5 m nicht immer eingehalten werden kann (z.B. Einkaufssituation, öffentliche Verkehrsmittel). Dies gilt auch bei Menschenansammlungen im Freien, wenn der Mindestabstand von 1,5 m nicht eingehalten wird (vgl. Robert Koch-Institut, Antworten auf häufig gestellte Fragen zum Coronavirus SARS-CoV-2 / Krankheit COVID-19, Gesamtstand: 4.11.2020, abrufbar unter: https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/NCOV2019/gesamt.html)
Unter Berücksichtigung dieser infektiologischen Erwägungen muss sich die Ausweisung der stark frequentierten öffentlichen Plätze danach orientieren, an welchen Orten sich üblicherweise Personen begegnen, an denen der Mindestabstand von 1,5 m nicht eingehalten werden kann und aufgrund der Quell- und Zielrichtung an diesen Engstellen die Personen keine Möglichkeit haben, diese Wege zu meiden oder zu umgehen.
Den zuständigen Kreisverwaltungsbehörden steht dabei ein Beurteilungsspielraum zu. Das bedeutet, dass die Kreisverwaltungsbehörde nach ihrer Ortskenntnis, den Erfahrungen und Recherchen, ggf. nach Rücksprache oder fachlicher Beratung von anderen Behörden ermitteln müssen, an welchen Orten von einem erhöhten Personenaufkommen oder beengten räumlichen Verhältnissen auszugehen ist. Es ist eine Abgrenzung zu den übrigen Gebieten, Straßen und Plätzen vorzunehmen.
Dabei sind neben den zeitlichen und örtlichen Gegebenheiten auch das konkrete Infektionsgeschehen vor Ort zu berücksichtigen. Ebenfalls ist im Rahmen des Beurteilungsspielraums zu berücksichtigen, dass der Betrieb von Gastronomie, Hotels und Beherbergungsbetrieben für touristische Zwecke, Kulturstätten und körpernahe Dienstleistungen aufgrund den Regelungen der 8. BayIfSMV untersagt sind.
cc) Gemessen an diesen Maßstäben erweist sich die Ausweisung der stark frequentierten öffentlichen Plätze in der Allgemeinverfügung als unverhältnismäßig.
Zwar ist die Ausweisung der gesamten Innenstadt mit der Folge, dass dort eine Maskenpflicht auch im Freien gilt, geeignet, um eine Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 einzudämmen. Dabei genügt es, dass die Maßnahme zur Zweckerreichung beiträgt (vgl. BayVGH, B. v. 1.9.2020 - 20 CS 20.1962 - juris Rn. 27; BVerwG, U.v. 2.8.2012 - 7 CN 1.11 - NVwZ 2013, 227 - juris Rn. 29)
Die Ausweisung der gesamten Innenstadt ist jedoch nicht erforderlich, da mildere Mittel in Betracht kommen, die denselben Erfolg mit gleicher Sicherheit erzielen.
Unter Berücksichtigung der oben genannten Grundsätze hätte die Antragsgegnerin zu dem Ergebnis kommen müssen, dass jedenfalls nicht der in der Allgemeinverfügung vollständige Innenstadtbereich als stark frequentierte öffentliche Plätze auszuweisen ist.
Zwar ist der Antragsgegnerin zuzustimmen, dass das Einzelhandelsentwicklungskonzept der Stadt A. nicht als Grundlage für die Ausweisung der stark frequentierten öffentlichen Plätze geeignet ist, da sich das Konzept nicht an infektiologischen Erwägungen orientiert.
Allerdings kann die Kammer weder den Ausführungen der Antragsgegnerin noch der Begründung der streitgegenständlichen Allgemeinverfügung entnehmen, aus welchen Erwägungen die A.er Innenstadt insgesamt als „stark frequentierte öffentliche Plätze“ ausgewiesen wurde. Die Begründung der Antragsgegnerin, eine Differenzierung sei nicht praktikabel und können nicht kontrolliert werden, vermag nicht zu überzeugen. Die Antragsgegnerin hätte sich bei der Ausweisung an infektiologischen Kriterien orientieren müssen.
Insoweit überzeugt das Vorbringen der Antragsgegnerin nicht, die Ausweisung nur einzelner Stellen der Innenstadt führe zu einer Zersplitterung des öffentlichen Raumes, sei daher nicht praktikabel und könne nicht hinreichend überwacht werden.
Ein Vergleich mit den Allgemeinverfügungen anderer bayerischer Kreisverwaltungsbehörden zeigt, dass es sehr wohl gelingt, einzelne Straßen, Plätze oder Wege als „stark frequentierte öffentliche Plätze“ auszuweisen (vgl. Festlegung der stark frequentierten öffentlichen Plätze gemäß § 24 der 8. BayIfSMV für die Stadt Erlangen, abrufbar unter: https://www.erlangen.de/desktopdefault.aspx/tabid-2066/4596_read-37911/; Festlegung stark frequentierter öffentlicher Plätze im Landkreis Schwandorf, abrufbar unter: https://corona.landkreis-schwandorf.de/wp-content/uploads/2020/10/Amtsblatt-Nr.-28-2020.pdf; Allgemeinverfügung der Stadt Würzburg zur Festlegung stark frequentierter öffentlicher Plätze, abrufbar unter: https://www.wuerzburg.de/527462.Corona…Verordnungen-und-Verfuegungen.html; Allgemeinverfügung der Stadt Regensburg vom 23.10.2020 „Vollzug des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (abrufbar unter: https://www.regensburg.de/fm/121/allgemeinverfuegung-31-10-2020.pdf).
Den oben genannten Beispielen anderer bayerischer Kreisverwaltungsbehörden ist auch zu entnehmen, dass sich die Kreisverwaltungsbehörden an den Erfahrungen der letzten Wochen und Monate hinsichtlich der Einhaltung der infektionsschutzrechtlichen Anordnungen bei der Ausweisung der stark frequentierten öffentlichen Plätze orientiert haben. So wurden unter anderem die Erkenntnisse des kommunalen Ordnungsdienstes, der Polizei und des Gesundheitsamtes hinsichtlich der Lage, der Bebauung, der angesiedelten Geschäfte sowie der allgemeinen Gefahr einer Ansammlung von Personen berücksichtigt. Insbesondere wurde bei der Ausweisung berücksichtigt, an welchen engen Verkehrsflächen mit gemischtem Verkehr zum Beispiel aus Fußgängern, Radfahrern, Kunden des Einzelhandels, Patienten anliegende Arztpraxen etc. zu rechnen ist.
Auch hätte die Antragsgegnerin berücksichtigen müssen, dass sich aufgrund der nunmehr kälteren Jahreszeit Personen insgesamt weniger im Freien aushalten und es dementsprechend zu weniger Menschenansammlungen kommt, bei denen der Mindestabstand nicht eingehalten werden kann.
Ebenso wenig hat die Antragsgegnerin überzeugend dargelegt, wie sich die Öffnungszeiten der ansässigen Ladengeschäfte und Dienstleistungsbetriebe, der Pendlerverkehr, typische Laufwege von Schülern zu ansässigen Schulgebäuden oder von Fußgängern in der Einkaufs straße sowie zu öffentlichen Einrichtungen wie Bushaltestellen auswirken. Nicht berücksichtigt wurde auch, dass nur für einen Teil der ausgewiesenen Fläche eine Fußgängerzone besteht und in anderen Teilen der Innenstadt überwiegend Wohnbebauung besteht und dementsprechend mit weniger Menschenansammlungen zu rechnen ist.
Schließlich führt die vollständige Ausweisung der Innenstadt dazu, dass auch nicht öffentliche Verkehrsflächen wie z.B. Hinterhöfe, private Parkplätze und Grundstückseinfahrten umfasst sind.
Auch ein Vergleich mit der Landeshauptstadt München zeigt, dass die Antragsgegnerin die Grenzen des ihr zustehenden Beurteilungsspielraums überschritten hat. Der von der Landeshauptstadt München ausgewiesene Bereich an stark frequentierten öffentlichen Plätzen umfasst ca. 0,22 km² bei einer Bevölkerungszahl von 1,557 Mio. (vgl. Stadt München, Bevölkerungsstand, abrufbar unter: https://www.muenchen.de/rathaus/Stadtinfos/Statistik/Bev-lkerung/Monatlicher-Bestand.html).
Die Antragsgegnerin hat hingegen für den gesamten Innenstadtbereich der Stadt A. stark frequentierte öffentliche Plätze mit einer Fläche von ca. 0,195 km² ausgewiesen und damit eine vergleichsweise Fläche wie die Landeshauptstadt (vgl. Flächenberechnung nach BayernAtlas, Daten der Bayerischen Vermessungsverwaltung, abrufbar unter: https://geoportal.bayern.de).
Im Übrigen geht auch die Bayerische Staatsregierung davon aus, dass die zuständige Kreisverwaltungsbehörde nur vereinzelt stark frequentierten öffentlichen Plätze ausweist und nicht den vollständigen Innenstadtbereich. So wird in den FAQ zur erweiterten Maskenpflicht Folgendes erläutert:
„Die Städte und Gemeinden können auf bestimmten stark frequentierten Plätzen und in Fußgängerzonen Maskenpflicht anordnen. Die Kommunen machen die betroffenen Straßen und Plätze örtlich bekannt, z.B. auf ihrer Internetseite oder durch entsprechende Verkehrsschilder“
(vgl. Häufige Fragen der Bayerischen Staatsregierung, abrufbar unter: https://www.innenministerium.bayern.de/miniwebs/coronavirus/faq/index.php).
Nach alledem hat die Antragsgegnerin die Grenzen des ihr zustehenden Beurteilungsspielraums bei der Ausweisung der stark frequentierten öffentlichen Plätze im Sinne des § 24 Abs. 1 Nummer 1 der 8. BayIfSMV überschritten, sodass die Regelung unverhältnismäßig ist.
c) Die Befugnis zur Anordnung einer weitergehenden Maskenpflicht für die gesamte A.er Innenstadt ergibt sich auch nicht aus § 25 Satz 2 der 8. BayIfSMV. Nach dieser Regelung können die zuständigen Kreisverwaltungsbehörden im Einzelfall ergänzende Anordnungen erlassen, soweit dies aus infektionsschutzrechtlicher Sicht erforderlich ist. Diese Befugnisnorm räumt der zuständigen Kreisverwaltungsbehörde einen Ermessensspielraum sowohl hinsichtlich des Einschreitens („soweit“) als auch der Auswahl der geeigneten Maßnahmen ein.
Indem die Antragsgegnerin weder die infektiologische Lage zum Zeitpunkt der behördlichen Maßnahme in die Ermessenserwägung eingestellt hat, noch sich im konkreten Einzelfall damit befasst hat, auf welchen öffentlichen Plätzen mit einer derart starken Frequenzänderung von Personen zu rechnen ist, liegt ein Ermessensausfall vor. Zudem sind dem Ermessen durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Grenzen gesetzt (vgl. BayVGH, B.v. 13.8.2020 - 20 CS 20.1821 - juris Rn. 27). Insoweit wird auf die Erwägungen unter Nr. II 2. a) cc) verwiesen.
d) Ebenso wenig ergibt sich die Befugnis zur Ausweisung der stark frequentierten Flächen aus § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG. Werden Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt oder ergibt sich, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, so trifft die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist. Hinsichtlich der Art und des Umfangs der Bekämpfungsmaßnahmen ist der zuständigen Behörde ein Auswahlermessen eingeräumt. Auch insoweit liegt ein Ermessensausfall vor, da sich die Antragsgegnerin bei der Ausweisung der stark frequentierten öffentlichen Plätze nicht an den konkreten Umständen im Einzelfall orientiert hat. Die Ausführungen zu Nr. II 2 a) cc) gelten ebenfalls entsprechend.
e) Die aufschiebende Wirkung der noch zu erhebenden Anfechtungsklage gegen die Allgemeinverfügung vom 23.10.2020 war vollständig wiederherzustellen.
Gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht die aufschiebende Wirkung der Hauptsache ganz oder teilweise wiederherstellen. Eine teilweise Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung kommt dann in Betracht, wenn die Gesamtregelung teilbar ist. Dies ist dann der Fall, wenn der von der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung betroffene Teil ein bloßes Minus zur Gesamtregelung und deren Vollzugsfähigkeit darstellt (vgl. NK-VwGO/Adelheid Puttler, 5. Aufl. 2018, VwGO § 80 Rn. 168). Eine solche Teilbarkeit liegt bei der mit dem Antrag angegriffenen Regelung der Ziffer II der Allgemeinverfügung vom 23.10.2020 nicht vor.
Ziffer I der Allgemeinverfügung enthält lediglich die Feststellung, dass die Stadt A. den 7-TageInzidenzwert pro 100.000 Einwohner von 35 im Sinne des § 24 Satz 2 der 7. BayIfSMV überschritten hat. Da die 7. BayIfSMV mit Ablauf des 1.11.2020 außer Kraft getreten ist, entfaltet die Ziffer I der Allgemeinverfügung keine Wirkung (mehr).
Ziffer III ordnet die sofortige Vollziehbarkeit der Allgemeinverfügung an. Die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit setzt einen rechtmäßigen Verwaltungsakt voraus, der nach der durchgeführten summarischen Prüfung jedoch nicht vorliegt (vgl. Nr. II. 2). Ziffer IV bestimmt den Zeitpunkt, in dem die Allgemeinverfügung wirksam ist.
Zusammengefasst enthalten die Ziffern I, III und IV keinen untrennbaren Regelungsgehalt, da der wesentliche Regelungscharakter, und zwar die Ausweisung der stark frequentierten Plätze, in Ziffer II der Allgemeinverfügung vorgenommen wird. Ohne die Ausweisung in Ziffer II laufen die übrigen Regelungen leer, sodass die aufschiebende Wirkung vollständig wiederherzustellen ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (abrufbar auf der Homepage des BVerwG).
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Tenor
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Mannheim vom 14. September 2020 wird zurückgewiesen.Außergerichtliche Kosten auch des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
1 1. Die am 15. Oktober 2020 beim Sozialgericht Mannheim (SG) zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des SG vom 14. September 2020 ist zulässig, insbesondere ist sie nicht gemäß §§ 172 Abs. 3 Nr. 1, 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ausgeschlossen. Denn das Begehren des Antragstellers, die Antragsgegnerin vorläufig zur Auszahlung des Entlastungsbetrages in monatlicher Höhe von 125,00 EUR seit April 2020 zu verpflichten, überstieg bereits im Zeitpunkt der Beschwerdeeinlegung den Beschwerdewert von 750,00 EUR.
2 2. Die Beschwerde ist jedoch nicht begründet. Das SG hat den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung zu Recht abgelehnt.
3 a) Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache, soweit – wie hier – nicht ein Fall des Abs. 1 vorliegt, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Satz 2). Vorliegend kommt nur eine Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG in Betracht.
4 Der Erlass einer einstweiligen Anordnung verlangt grundsätzlich die – summarische – Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung. Die Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung). Die Erfolgsaussichten in der Hauptsache können auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden, solange jedenfalls nicht schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären (Bundesverfassungsgericht, Kammerbeschluss vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05 – juris, Rn. 23 ff.; 25. Februar 2009 – 1 BvR 120/09 – juris, Rn. 11; 4. Juni 2020 – 1 BvR 2846/16 – juris, Rn. 10). Maßgebend für die Beurteilung der Anordnungsvoraussetzungen sind regelmäßig die Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.
5 b) Bei Berücksichtigung dieser Maßstäbe liegt bereits kein Anordnungsanspruch i.S.e. materiell-rechtlichen Leistungsanspruches vor. Dabei steht aufgrund des bestandskräftig gewordenen Bescheides der Antragsgegnerin vom 20. November 2019 zwischen den Beteiligten bindend fest, dass der Antragsteller ab dem 1. Oktober 2019 Anspruch auf Leistungen zumindest nach Pflegegrad 2 hat und ihm damit auch der Entlastungsbetrag nach § 45b Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) dem Grunde nach zusteht. Die begehrten Kosten für die vom Antragsteller ab April 2020 in Anspruch genommenen Hilfeleistungen sind jedoch nicht im Rahmen des Entlastungsbetrages erstattungsfähig.
6 aa) Nach § 45b Abs. 1 SGB XI haben Pflegebedürftige in häuslicher Pflege Anspruch auf einen Entlastungsbetrag in Höhe von bis zu 125,00 EUR monatlich. Der Betrag ist zweckgebunden einzusetzen für qualitätsgesicherte Leistungen zur Entlastung pflegender Angehöriger und vergleichbar Nahestehender in ihrer Eigenschaft als Pflegende sowie zur Förderung der Selbständigkeit und Selbstbestimmtheit der Pflegebedürftigen bei der Gestaltung ihres Alltags. Er dient der Erstattung von Aufwendungen, die den Versicherten entstehen im Zusammenhang mit der Inanspruchnahme von
7 1. Leistungen der Tages- oder Nachtpflege,2. Leistungen der Kurzzeitpflege,3. Leistungen der ambulanten Pflegedienste im Sinne des § 36 SGB XI, in den Pflegegraden 2 bis 5 jedoch nicht von Leistungen im Bereich der Selbstversorgung,4. Leistungen der nach Landesrecht anerkannten Angebote zur Unterstützung im Alltag im Sinne des § 45a SGB XI.
8 Der Anspruch auf den Entlastungsbetrag entsteht nach § 45b Abs. 2 SGB XI, sobald die in Absatz 1 Satz 1 genannten Anspruchsvoraussetzungen vorliegen, ohne dass es einer vorherigen Antragstellung bedarf.
9 Nach der ausdrücklichen gesetzlichen Regelung des § 45b Abs. 1 Satz 2 SGB XI ist der Betrag zweckgebunden einzusetzen für die in Satz 3 genannten qualitätsgesicherten zusätzlichen Betreuungsleistungen (zum Ganzen Senatsurteil vom 18. Mai 2020 – L 4 P 561/19 – nicht veröffentlicht, m.w.N.). Diese Aufzählung ist nach der amtlichen Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Ergänzung der Leistungen bei häuslicher Pflege von Pflegebedürftigen mit erheblichem allgemeinem Betreuungsbedarf (Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetz – PflEG), in dessen Folge § 45b SGB XI eingeführt wurde, abschließend (BT-Drucks. 14/6949 S. 10, 15; Linke, in: Krauskopf, SGB XI, Stand Oktober 2018, § 45b Rn. 8; Koch, in: Kasseler Kommentar, SGB XI, Stand Juli 2020, § 45b Rn. 8 f.). Ausdrücklich sollte eine pauschale Pflegegelderhöhung verhindert werden, die nicht die gewünschten infrastrukturfördernden Effekte bedingte. Die knappen Finanzmittel der Pflegeversicherung sollten nur für qualitätsgesicherte Betreuungsangebote eingesetzt werden, die gleichzeitig infrastrukturprägende Wirkungen haben. Das Konzept an Leistungsverbesserungen dürfe nicht den Charakter eines bloßen Geldhingabemodells aufweisen (BT-Drucks. 14/6949 S. 9, 10).
10 Die vorliegend geltend gemachten haushaltsnahen Dienstleistungen (Einkaufen, Putzen, Botengänge, Abfallentsorgung) sind nur unter den Voraussetzungen des § 45a Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB XI erstattungsfähig. Danach sind Angebote zur Unterstützung im Alltag u.a. Angebote, die dazu dienen, die Pflegebedürftigen bei der Bewältigung von allgemeinen oder pflegebedingten Anforderungen des Alltags oder im Haushalt, insbesondere bei der Haushaltsführung, oder bei der eigenverantwortlichen Organisation individuell benötigter Hilfeleistungen zu unterstützen (Angebote zur Entlastung im Alltag). Nach § 45a Abs. 1 Satz 3, Abs. 3 SGB XI benötigen diese Angebote eine Anerkennung durch die zuständige Behörde nach Maßgabe des Landesrechts.
11 Nach den vorgelegten Rechnungen und Quittungen wurden die Hilfeleistungen durch verschiedene Privatpersonen erbracht. Dies gilt auch für die Hilfeleistungen ab Juli 2020 durch Frau I. W. (im Folgenden IW). So hat der Antragsteller selbst vorgetragen, diese nunmehr privat in Anspruch zu nehmen und nicht mehr – wie zu Beginn des Jahres – im Rahmen der Nachbarschaftshilfe der Diakonie Sozialstation M. Bei diesen Hilfeleistungen durch Privatpersonen handelt es sich somit nicht um durch einen Stadt- oder Landkreis (§ 4 Abs. 1 der Verordnung der Landesregierung über die Anerkennung der Angebote zur Unterstützung im Alltag nach § 45a Absatz 3 SGB XI, zur Förderung ehrenamtlicher Strukturen und Weiterentwicklung der Versorgungsstrukturen und Versorgungskonzepte nach § 45c Absatz 7 SGB XI sowie über die Förderung der Selbsthilfe nach § 45d SGB XI [Unterstützungsangebote-Verordnung - UstA-VO] vom 17. Januar 2017, GBl. 2017, 49) anerkanntes Angebot (vgl. § 45a Abs. 1 Satz 3, Abs. 3 SGB XI i.V.m. §§ 6 Abs. 2, 10 UstA-VO). Eine solche Anerkennung hat der Antragsteller selbst nicht behauptet. Sie kommt vorliegend auch nicht in Betracht. Denn die Anerkennung von Einzelpersonen ist ausgeschlossen (§10 Abs. 4 UstA-VO). Dies entspricht dem Zweck der Regelungen der §§ 45a und b SGB XI, die gewünschten infrastrukturfördernden Effekte zu erzielen. Auf die Frage der Qualifikation der IW kommt es daher nicht an.
12 bb) Ein materiell-rechtlicher Anspruch ergibt sich auch nicht aus § 150 SGB XI.
13 (1) § 150 SGB XI wurde mit Wirkung vom 28. März 2020 neu eingefügt (Art. 4 Nr. 6 des Gesetzes zum Ausgleich COVID-19 bedingter finanzieller Belastungen der Krankenhäuser und weiterer Gesundheitseinrichtungen [COVID-19-Krankenhausentlastungsgesetz – COVKHEntlG] vom 27. März 2020, BGBl. I, S. 580) und durch Art. 5 Nr. 4 des Zweiten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 19. Mai 2020 (BGBl. I, S. 1018) u.a. um die Absätze 5a bis 5d ergänzt. Die zunächst bis 30. September 2020 befristete Regelung wurde durch Art. 5 Nr. 3 des Gesetzes für ein Zukunftsprogramm Krankenhäuser (Krankenhauszukunftsgesetz – KHZG) vom 23. Oktober 2020 (BGBl. I, S. 2208) m.W.v. 1. Oktober 2020 bis zum 31. Dezember 2020 verlängert, ist also vorliegend anwendbar.
14 (2) Nach § 150 Abs. 5b Satz 1 SGB XI können Pflegebedürftige des Pflegegrades 1 den Entlastungsbetrag abweichend von § 45b Abs. 1 Satz 3 SGB XI auch für die Inanspruchnahme anderer Hilfen im Wege der Kostenerstattung einsetzen, wenn dies zur Überwindung von infolge des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 verursachten Versorgungsengpässen erforderlich ist. Nach dem ausdrücklichen gesetzlichen Wortlaut gilt diese Regelung nicht für Pflegebedürftige des Pflegegrades 2 und höher, wie den Antragsteller. Denn für diesen Personenkreis wurde bereits durch § 150 Abs. 5 SGB XI eine Sonderregelung zur Kostenerstattung geschaffen (amtl. Begr. zum Entwurf eines Zweiten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite, BT-Drucks. 19/18967, S. 73 zu Absatz 5b).
15 (3) Nach § 150 Abs. 5 SGB XI können die Pflegekassen nach ihrem Ermessen zur Vermeidung von durch das neuartige Coronavirus SARS-CoV-2 im Einzelfall im häuslichen Bereich verursachten pflegerischen Versorgungsengpässen Kostenerstattung in Höhe der ambulanten Sachleistungsbeträge (§ 36) nach vorheriger Antragstellung gewähren, wenn die Maßnahmen nach Absatz 1 Satz 3 nicht ausreichend sind; dabei haben sie vorrangig Leistungserbringer zu berücksichtigen, die von Pflegefachkräften geleitet werden. Entsprechende Kostenerstattungszusagen sind jeweils auf bis zu drei Monate zu begrenzen.
16 Durch das Corona-Virus verursachte pflegerische Versorgungsengpässe für den vorliegend geltend gemachten Hilfebedarf sind aber derzeit nicht ersichtlich und werden vom Antragsteller weder behauptet noch substantiiert dargelegt. Zwar wurden die erbrachten Hilfen in den Quittungen für April und Mai 2020 als „Haushalt-Corona-Hilfe“ bezeichnet. Hieraus ergeben sich aber keine Hinweise auf das tatsächliche Bestehen eines pflegerischen Versorgungsengpasses. Die für den Zeitraum ab Juni 2020 vorgelegten Rechnungen und Quittungen enthalten eine solche Bezeichnung bereits nicht mehr. Insbesondere ist nicht erkennbar, dass und weshalb die Hilfeleistung nicht weiterhin durch die zuvor eingeschaltete Sozialstation erbracht werden könnte. Der Antragsteller hatte vielmehr die ursprünglich am 3. März 2020 erklärte Abtretung seines Anspruches auf den Entlastungsbetrag an die Sozialstation mit Schreiben vom 9. Juli 2020 ohne Angabe von Gründen widerrufen. Gleiches gilt für seine den Widerruf bestätigende E-Mail vom 17. Juli 2020. Die Sozialstation teilte der Antragsgegnerin auch nicht mit, dass sie die Hilfen wegen eines coronabedingten Versorgungsengpasses nicht länger erbringen könne. Erst dann, wenn eine Versorgung des Pflegebedürftigen durch ein - vom Stadt- oder Landkreis (§ 4 Abs. 1 UstA-VO) - anerkanntes Angebot wegen der Corona-Pandemie nicht mehr möglich ist, kommt für die Versorgung des Pflegebedürftigen auch eine Person ohne Qualifikation aus dem Gesundheits- und Sozialbereich, z.B. ein Nachbar, in Betracht (vgl. Bockholdt/Lungstras/Schmidt, NZS 2020, 324, 331). Dabei knüpft das Gesetz die Versorgung durch nicht anerkannte Angebote an die Bedingung, dass allein die Corona-Pandemie die Ursache für den eingetretenen pflegerischen Notstand ist (vgl. Abs. 5 Satz 1: „[...] von durch das neuartige Coronavirus SARS-CoV-2 im Einzelfall im häuslichen Bereich verursachten [...]“). Ein durch das Corona-Virus verursachter pflegerischer Versorgungsengpass wurde aber weder vom Antragsteller behauptet noch liegen entsprechende Anhaltspunkte im konkreten Einzelfall hierfür vor. Es bedarf daher keiner Prüfung, ob und gegebenenfalls inwieweit der den Pflegekassen durch § 150 Abs. 5 SGB XI eingeräumte weite Gestaltungsspielraum (amtl. Begr. zum Entwurf des COVKHEntlG, BT-Drucks. 19/18112, S. 42 zu Absatz 5: „Den Pflegekassen wird ein weiter Gestaltungsspielraum [...] eingeräumt...Sodann ist auf andere Leistungserbringer, wie Betreuungsdienste, andere medizinische Leistungserbringer und zuletzt auf Nachbarinnen und Nachbarn zurück zu greifen.“; s. auch Klein, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XI, Stand November 2020, § 150 SGB XI, Rn. 33) im vorliegenden Fall auf eine konkrete Leistung reduziert sein könnte.
17 c) Einen Anordnungsgrund i.S.e. besonderen Eilbedürftigkeit hat der Antragsteller nicht glaubhaft gemacht. Der Senat nimmt insoweit nach eigener Prüfung auf die zutreffenden Ausführungen des SG im angefochtenen Beschluss Bezug (§ 142 Abs. 2 Satz 3 SGG). Trotz des Hinweises im angefochtenen Beschluss hat der Antragsteller auch im Beschwerdeverfahren keine Angaben zu seinen Vermögensverhältnissen gemacht. Soweit der Antragsteller die Gewährung des Entlastungsbetrags für einen bei Stellung des Antrags auf einstweiligen Rechtsschutz bereits in der Vergangenheit liegenden, abgeschlossenen Zeitraum begehrt, hat das SG zutreffend dargelegt, dass und aus welchen Gründen grundsätzlich durch Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes keine Leistungen für einen Zeitpunkt erstritten werden können, der vor der Erhebung des Antrags bei Gericht liegt. Der Antragsteller hat auch nicht glaubhaft gemacht, dass eine in der Vergangenheit eingetretene Notlage noch in die Gegenwart hineinwirkt, dass also fehlende oder unzulängliche Leistungen in der Vergangenheit wirtschaftliche Auswirkungen in der Gegenwart zeitigen.
18 3. Die Kostenerstattung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 und 4 SGG.
19 4. Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
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Tenor
Der Antragsgegner wird verpflichtet, die Antragstellerin zur Durchführung der Wahlstation in der Zeit vom 1. Januar 2021 bis zum 31. März 2021 vorbehaltlos in die Ausbildungsstelle xxxxx)“ am Standort xxx zu überweisen.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 5.000 € festgesetzt.
Gründe
I.
1
Die Beteiligten streiten um die Durchführung einer Wahlstation im Rahmen des juristischen Vorbereitungsdienstes.
2
Die Antragstellerin ist seit dem 1. April 2019 Rechtsreferendarin des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts. Am 7. September 2020 beantragte sie, für die Zeit vom 1. Januar 2021 bis zum 31. März 2021 in eine Ausbildungsstelle bei der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit am Standort xxx überwiesen zu werden.
3
Mit E-Mail vom 18. September 2020 lehnte der Antragsgegner dies mit der Begründung ab, dass für xxx eine Reisewarnung des Auswärtigen Amtes für nicht notwendige touristische Reisen wegen der Sars-COV-2-Pandemie bestehe. Es werde auf das Schreiben „Informationen des Leiters der Referendarabteilung“ vom 12. Mai 2020 verwiesen.
4
Unter dem 21. September 2020 machte die Antragstellerin geltend, dass es sich bei der die Absolvierung der Wahlstation im Ausland nicht um eine „nicht notwendige touristische Reise“ im Sinne der Reisewarnung handele. In ihrem Fall sei es die wichtigste Station des Referendariats, da sie eine Karriere in der internationalen Zusammenarbeit anstrebe. Das Auswärtige Amt biete gegenwärtig selbst Wahlstationen in Auslandsvertretungen in Afrika an. Zudem sei die Lage in xxx stabil und das Land verfüge über eine mit deutschen Standards vergleichbare medizinische Versorgung. Darüber hinaus bestehe bei ihr mangels Vorerkrankungen keine erhöhte gesundheitliche Gefahr. Im Falle eines Lockdowns vor Ort sei die Arbeit vom Home-Office aus gewährleistet. Im Falle einer Einreisesperre durch die xxx Regierung bestehe die Möglichkeit, an einem der deutschen Standorte (Eschborn, Bonn oder Berlin) der GIZ zu arbeiten. Sie bitte daher um Zuweisung auf eigene Verantwortung hin und sei bereit, etwaige Risiken persönlich zu übernehmen.
5
Mit E-Mail vom 29. September 2020 lehnte der Antragsgegner die Zuweisung erneut ab.
6
Am 6. Oktober 2020 hat die Antragstellerin Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt.
7
Zur Begründung vertieft sie ihr bisheriges Vorbringen und führt aus: Sie habe nach § 32 Abs. 3 Satz 1 Nummer 4 und Satz 2 JAVO einen Anspruch auf die Zuweisung. Die gewählte Ausbildungsstelle sei eine sonstige Stelle im Sinne der Vorschrift und entspreche allen Anforderungen. Die Ablehnung sei nicht auf eine ausreichende Rechtsgrundlage gestützt. Die Reisewarnung des Auswärtigen Amtes stelle kein Hindernis für die Zuweisung dar, da sie gerade kein Reiseverbot beinhalte. Die vor Ort verbreiteten „üblichen“ Krankheiten, wie etwa Malaria, hätten den Antragsgegner in der Vergangenheit auch nicht davon abgehalten, Referendarinnen und Referendare afrikanischen Orten zuzuweisen. Die Zahlen der Neuinfektionen seien in xxx geringer als in anderen afrikanischen Staaten, aber auch als in Deutschland und in anderen europäischen Ländern. Bei einem Telefonat mit dem zuständigen Referenten des Antragsgegners sei erkennbar geworden, dass die Dienststelle vordringlich zusätzlichen Verwaltungsaufwand im Zusammenhang mit Wahlstationen im Ausland vermeiden wolle, wie sie wohl im April des Jahres 2020 eingetreten seien. Die Situation sei jedoch nicht vergleichbar, da die Auswirkungen mittlerweile vorhersehbarer geworden seien und die von ihr begehrte Ausbildungsstelle unterstützend zur Seite stehe und gegebenenfalls eine Ausbildungsstelle an einem der Standorte in Deutschland zur Verfügung stelle. Auch durch eine sich bei der Rückreise ergebende Quarantäne entstünden keine Nachteile, da danach keine Pflichtveranstaltungen anstünden und sie für den Zeitraum Erholungsurlaub nehmen könne. Auch der Erlass des Ministeriums für Justiz, Verbraucherschutz und Europa vom 8. Oktober 2020 sei keine geeignete Rechtsgrundlage, da es sich bei der Wahlstation gerade nicht um eine Dienstreise handele. Soweit der Antragsgegner der Auffassung sei, dass § 45 Beamtenstatusgesetz eine Ablehnung gebiete, so sei die Ausübung der Fürsorgepflicht gegen ihren Willen nicht geboten. Zudem sei auch nach den „Informationen des Leiters der Referendarabteilung vom 12. Mai 2020“ im Einzelfall eine Zuweisung trotz bestehender Reisewarnung möglich. Die Versagung sei im Übrigen unverhältnismäßig und verletze sie in ihrer Berufsfreiheit nach Art. 12 GG.
8
Die Antragstellerin hat zunächst beantragt, den Antragsgegner zu verpflichten, sie - die Antragstellerin - für die Wahlstation in der Zeit vom 1. Januar 2021 bis zum 31. März 2021 zur Ausbildungsstelle xxx am Standort xxx zuzuweisen.
9
Am 17. Oktober 2020 hat das Auswärtige Amt die Reisewarnung für das Land xxx aufgehoben, weil es gegenwärtig kein Sars-COV-2- Risikogebiet mehr ist.
10
Der Antragsgegner hat daraufhin mit Schriftsatz vom 27. Oktober 2020 erklärt, dass die Antragsgegnerin in die begehrte Station unter dem Vorbehalt überwiesen werden soll, dass die Überweisung für den Fall einer erneuten Reisewarnung des Auswärtigen Amtes widerrufen werden kann.
11
Die Antragstellerin beantragt nunmehr,
12
sie - die Antragstellerin - für die Wahlstation in der Zeit vom 1. Januar 2021 bis zum 31. März 2021 der Ausbildungsstelle xxx am Standort xxx vorbehaltlos zuzuweisen.
13
Der Antragsgegner beantragt,
14
den Antrag abzulehnen.
15
Ein genereller und unbedingter Anspruch auf Überweisung zu einer konkreten, von dem Referendar oder der Referendarin ausgesuchten Ausbildungsstelle bestehe nicht. Die Zuweisung erfolge vielmehr nach pflichtgemäßem Ermessen. Ein Anordnungsanspruch der Antragstellerin setze daher eine Ermessensreduzierung auf Null voraus. Bereits im Frühjahr sei die Referendarausbildung durch die Verbreitung des Coronavirus erheblich betroffen gewesen. Dabei hätten sich besondere Problemlagen auch im Zusammenhang mit Auslandsstationen ergeben. Die Einschätzung der Versorgungs- und Gefährdungslage in den verschiedenen Ländern sei schwierig, und es könne je nach der Entwicklung des Infektionsgeschehens vor Ort eine verfrühte Abreise erforderlich oder - wie das Rückholprogramm des Auswärtigen Amtes in der ersten Jahreshälfte gezeigt habe - eine Rückreise erschwert oder zeitweise unmöglich werden. Mit dem Schreiben vom 12. Mai 2020 seien zu den Auslandsstationen transparente Grundsätze aufgestellt worden. Zwar könne die Ausbildung im Ausland für Referendarinnen und Referendare eine besondere Bedeutung haben. Zur Erlangung der durch die JAVO kodifizierten Ausbildungsziele sei die 3-monatige Auslandstation indes nicht notwendig. Demgemäß seien unter Berücksichtigung der beamtenrechtlichen Fürsorgepflicht, des individuellen Gesundheitsschutzes der Referendare und mit Blick auf das Erfordernis einer Eindämmung des Infektionsgeschehens und eines reibungslosen Ausbildungsbetriebes die Überweisungen in Auslandstationen begrenzt worden. Die Anknüpfung an die Reisewarnung des Auswärtigen Amtes stelle dabei ein angemessenes, sachgerechtes Mittel dar. Nach den Ausführungen des Auswärtigen Amtes hänge eine Warnung von nicht notwendigen touristischen Reisen gegenwärtig stark mit der Einstufung eines Landes als Sars-COV-2-Risikogebiet zusammen und werde entsprechend aktualisiert. Auch entsprechend dem Erlass des Ministeriums für Justiz, Europa und Verbraucherschutz - der allerdings nicht als rechtliche Grundlage der Zuweisungsentscheidung herangezogen worden sei - sei eine vorsichtige Herangehensweise geboten. Dienstreisen kämen nur in außergewöhnlichen Einzelfällen in Betracht. Ein derartiger besonderer Fall liege hier nicht vor. Soweit sich die Antragstellerin auf ihre gute gesundheitliche Konstitution beziehe, sei eine Differenzierung zwischen gesunden Referendaren und Risikopatienten nicht geboten. Zudem könne aufgrund des dynamischen Infektionsgeschehens nicht garantiert werden, dass die ab Mitte April anzuberaumende mündliche Prüfung absolviert werden könne, da pandemiebedingte Beeinträchtigungen des Reiseverkehrs zu befürchten seien.
16
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte Bezug genommen.
II.
17
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO ist zulässig und begründet.
18
Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Verwaltungsgericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO setzt sowohl die Glaubhaftmachung (§ 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO) eines Bedürfnisses für die Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes (Anordnungsgrund) als auch einen Anordnungsanspruch voraus, d.h. die bei summarischer Überprüfung der Sach- und Rechtslage hinreichende Aussicht auf Erfolg des geltend gemachten Begehrens in der Hauptsache.
19
1. Ein Anordnungsgrund liegt vor.
20
Der Antragstellerin ist ein weiteres Zuwarten bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache nicht zumutbar. Denn eine Entscheidung in der Hauptsache käme zu spät, da sie ihre Wahlstation am 1. Januar 2021 antreten muss.
21
Es ist vorliegend auch ausnahmsweise eine Ausnahme vom Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache durch den einstweiligen Rechtsschutz gerechtfertigt, da der Antragstellerin ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare Nachteile entstehen, die durch eine Entscheidung in der Hauptsache nachträglich nicht mehr ausgeglichen werden können (BVerwG, Beschluss vom 13. August 1999 – 2 VR 1/99 –, BVerwGE 109, 258-268, Rn. 24 f.). Die Antragstellerin kann die Wahlstation, die vom 1. Januar 2021 bis zum 31. März 2021 stattzufinden hat, nicht verschieben und auch nicht zu einem anderen Termin wiederholen (vgl. VG München, Beschluss vom 16. Mai 2011 – M 5 E 11.1830 –, Rn. 16, juris und OVG Weimar, Beschluss vom 31. März 2000 – 2 ZEO 220/00 –, Rn. 5, juris).
22
Auch durch die im Schriftsatz vom 27. Oktober 2020 erteilte Zusage des Antragsgegners, der Antragstellerin unter Widerrufsvorbehalt die begehrte Stelle zuzuweisen, ist der Anordnungsgrund nicht entfallen. Der Antragstellerin ist hier nicht zuzumuten, eine Planung und Vorfinanzierung ihres Auslandsaufenthalts einschließlich der Beantragung des Visums, der Buchung eines Fluges, der Suche nach einer Unterkunft vor Ort usw. vorzunehmen, solange im Raum steht, dass im Falle einer - jederzeit denkbaren - erneuten Reisewarnung durch das Auswärtige Amt ein Widerruf der Überweisung erfolgt.
23
2. Der Antragstellerin steht auch ein Anordnungsanspruch zur Seite. Die im Rahmen dieses Verfahrens gebotene, aber auch ausreichende summarische Prüfung ergibt, dass die Antragstellerin einen Anspruch darauf hat, vorbehaltlos in die von ihr gewünschte Wahlstation in, überwiesen zu werden.
24
Die Antragstellerin befindet sich als Rechtsreferendarin gemäß §§ 8, 9 Juristenausbildungsgesetz (JAG), § 4 Abs. 3 Landesbeamtengesetz (LBG) in einem öffentlich-rechtlichen Ausbildungsverhältnis. Auf die Auszubildenden in einem öffentlich-rechtlichen Ausbildungsverhältnis sind nach § 4 Abs. 2 Satz 2 LBG mit Ausnahme von § 7 Abs. 1 Nr. 2 und § 33 Abs. 1 Satz 3 Beamtenstatusgesetz (BeamtStG) die für Beamtinnen und Beamte im Vorbereitungsdienst geltenden Vorschriften entsprechend anzuwenden, soweit nicht durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes etwas anderes bestimmt wird. Derartige anderweitige Regelungen finden sich in den auf § 14 JAG beruhenden §§ 30 ff. der Juristenausbildungsverordnung (JAVO). Nach § 30 Abs. 3 Satz 1 JAVO überweist die Präsidentin oder der Präsident des Oberlandesgerichtes die Rechtsreferendarin oder den Rechtsreferendar in die einzelnen Stationen. Nach § 32 Abs. 3 Satz 2 JAVO kann die Ausbildung in der Wahlstation mit dem Schwerpunktbereich Staat und Verwaltung neben den unter § 32 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 JAVO benannten Stellen auch bei einer einschlägigen überstaatlichen, zwischenstaatlichen oder ausländischen Stelle oder einer sonstigen Stelle, bei der eine sachgerechte Ausbildung gewährleistet ist, durchgeführt werden. Nach § 30 Abs. 8 JAVO soll die Rechtsreferendarin oder der Rechtsreferendar mindestens drei Monate vor Beginn der Wahlstation der Präsidentin oder dem Präsidenten des Oberlandesgerichtes unter Bezugnahme des Schwerpunktbereiches die gewählte Stelle anzeigen.
25
a. Die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Überweisung liegen vor.
26
Bei der von der Antragstellerin gewählten Stelle in xxx ist ihre sachgerechte Ausbildung bei der gebotenen summarischen Prüfung gewährleistet. Bei dem Begriff der „sachgerechten Ausbildung“ handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der der vollen gerichtlichen Kontrolle unterliegt und insbesondere im Lichte der in § 31 Abs. 1 JAVO niedergelegten Ziele der Referendarausbildung zu verstehen ist. Danach sollen die Rechtsreferendarinnen und Rechtsreferendare in die Aufgaben der Rechtspflege, der Verwaltung und der Anwaltschaft eingeführt werde, sodass diese ihre im Studium erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten vertiefen und lernen, sie in der beruflichen Praxis umzusetzen. Bedenken hinsichtlich der Gewährleistung einer sachgerechten Ausbildung bestehen nicht. Auf den Inhalt der Ausbildung bezogene Gesichtspunkte haben in den Erwägungen des Antragsgegners keine Rolle gespielt und sind auch nicht ersichtlich. Vielmehr stützt der Antragsgegner die Versagung hier maßgeblich auf organisatorische Erwägungen.
27
Weitere tatbestandliche Voraussetzungen bestehen nicht. Insbesondere handelt es sich bei dem Rundschreiben vom 12. Mai 2020, in dem auch die Vorgaben hinsichtlich der Reisewarnung des Auswärtigen Amtes benannt wurden, nicht um eine Vorschrift im Rechtssinne, auf die eine Ablehnung gestützt werden könnte, sondern nur um eine Mitteilung, durch die den Referendaren die gegenwärtige Verwaltungspraxis erläutert wird. Der Erlass des Ministeriums für Justiz, Verbraucherschutz und Europa vom 8. Oktober 2020 betrifft bereits seinem Anwendungsbereich nach nur Dienstreisen, nicht jedoch eine mehrere Monate andauernde Station im Rahmen des Referendariats.
28
b. Der Antragsgegner kann auch auf die von ihm vorgebrachten Ermessenserwägungen weder eine gänzliche Ablehnung der Zuweisung noch eine Zuweisung unter Widerrufsvorbehalt (§ 107 Abs. 2 Nr. 3 Landesverwaltungsgesetz (LVwG)) stützen.
29
Es kann an dieser Stelle dahinstehen, ob die Zuweisung im Ermessen des Antragsstellers liegt, oder ob es sich - wofür insbesondere der Wortlaut der §§ 30 Abs. 2, 30 Abs. 3 Satz 2 und Abs. 8 JAVO spricht - um eine gebundene Entscheidung handelt.
30
Die vom Antragsgegner angeführten Gründe rechtfertigen eine Untersagung auch dann nicht, wenn man davon ausgeht, dass die Überweisung grundsätzlich in seinem Ermessen steht.
31
Zwar ist dem Gericht die Überprüfung der Ermessensausübung nur eingeschränkt möglich (§ 114 Satz 1 VwGO). Jedoch muss sich das Ermessen innerhalb des Zwecks der Norm halten, die der Verwaltung die Befugnis zur Ermessensausübung einräumt (Rennert in: Eyermann, VwGO, 14. Auflage 2014, Rn. 21 zu § 114) und darf die Grenzen dieses eingeräumten Ermessens nicht überschreiten.
32
Dies ist hier nicht der Fall. Die hier vom Antragsgegner angeführten Gründe rechtfertigen die Einschränkung des Wahlrechts der Antragstellerin nicht. Insoweit wäre die Entscheidung des Antragsgegners - sofern man denn vom Vorliegen einer Ermessensvorschrift ausginge - ermessensfehlerhaft.
33
Die Regelungen der Ausbildungs-und Prüfungsordnung für Juristen verfolgen vorrangig den Zweck, die inhaltlichen Anforderungen an den Vorbereitungsdienst aufzustellen (vgl. VG München, Beschluss vom 16. Mai 2011 – M 5 E 11.1830 –, Rn. 19, juris - dort lag eine nach Landesrecht erforderliche sozialversicherungsrechtliche Erklärung der Ausbildungsstelle nicht vor). Der möglichst reibungslose Ablauf der Referendarausbildung ist vom Zweck der Vorschriften zwar ebenfalls (mit) umfasst. Dabei ist jedoch auch zu berücksichtigen, dass nicht jede organisatorische Überlegung des Dienstherrn dazu führen kann, dass der Referendar in seinem nach § 31 Abs. 3 Satz 2 JAVO grundsätzlich bestehende Wahlrecht eingeschränkt wird. Vielmehr müssten derartige organisatorische Gründe von einem gewissen Gewicht sein, um eine Versagung zu rechtfertigen. Anderenfalls ist das Ermessen des Antragsgegners auf Null reduziert und wäre der Referendar entsprechend seiner Anzeige zuzuweisen.
34
Die Ermessenserwägungen des Antragstellers mit dem Ziel, das hiesige Infektionsgeschehen einzudämmen, sind bereits nicht vom Zweck der Ermächtigungsgrundlage umfasst. Soweit der Antragsgegner oder das Ministerium hierzu bspw. in dem Erlass vom 8. Oktober 2020 in Bezug auf die Durchführung von Dienstreisen Anordnungen gegenüber ihren Beschäftigten treffen, so geschieht dies in Ausübung des Weisungs- bzw. Hausrechts. Diese sind in Bezug auf die Zuweisung eines Referendars zu einer Wahlstation jedoch nicht einschlägig.
35
Soweit sich der Antragssteller auf seine Fürsorgepflicht beruft, so vermag dies die Versagung der Zuweisung ebenfalls nicht zu rechtfertigen. Bei der Handhabung von Beurteilungsspielräumen und Ermessensentscheidungen ist der Dienstherr zwar verpflichtet, im Rahmen einer sachgerechten Interessenabwägung die schutzwürdigen Belange der/des Beamten/in und ihrer/seiner Familie wohlwollend zu berücksichtigen und zu wahren (Kohde in: v. Roetteken/Rothländer, Beamtenstatusgesetz, 19. Update Juni 2020, I. Allgemeines, Rn. 16). Jedoch ist dem mit der Antragstellerin entgegenzuhalten, dass dies gegen ihren ausdrücklichen Willen erfolgen würde und sie auch erklärt hat, etwaige Risiken zu übernehmen. Zudem ist ausgesprochen zweifelhaft, ob die Untersagung eines Auslandsaufenthalts bei der gegenwärtigen pandemischen Lage überhaupt ein geeignetes Mittel darstellt, um die individuelle Gesundheit des Referendars zu schützen, da die Gefahr einer Ansteckung innerhalb Deutschlands ebenfalls besteht. Gegebenenfalls müsste die Antragstellerin im Falle einer Einschränkung des Reiseverkehrs oder einer mit ihrer Dienstpflicht kollidierenden Quarantäneanordnung mit einem Verlust ihrer Dienstbezüge rechnen, wenn sie den Auslandsaufenthalt trotz Reisewarnung angetreten hätte. Dies ist jedoch ihr persönliches Risiko. Ihr stünden auch aufgrund der Zusage der GIZ, dass ggf. Standorte in Deutschland vorhanden seien, im Falle einer deutlichen Veränderung der Situation vor Ort in xxx frei, kurzfristig auf die Auslandsstation zu verzichten.
36
Auch im Hinblick auf das Ziel der Gewährleistung eines reibungslosen Ausbildungsbetriebes ist der Widerrufsvorbehalt nicht erforderlich. Da sich an die Wahlstation der Antragstellerin nur noch die mündliche Prüfung anschließen wird, kann sich der Auslandsaufenthalt im Falle von Rückreisebeschränkungen, Quarantäneanordnungen oder Unterbrechungen des Reiseverkehrs allenfalls noch auf diese auswirken. Die Antragstellerin hat bereits ausgeführt, dass sie im Falle einer 14-tägigen Quarantäneanordnung Erholungsurlaub nehmen könne. Hierfür bestünde selbst für den Fall, dass ihr einer der frühesten Termine für die mündliche Prüfung ab Mitte April zugewiesen wird, ausreichend Zeit. Damit beschränkt sich die Möglichkeit einer organisatorischen Mehrbelastung des Antragsgegners durch die Auslandstation auch im Falle einer Reisewarnung durch das Auswärtige Amt allein auf die Gefahr, dass der Reiseverkehr aus xxx für mehr als zwei Wochen gänzlich zum Erliegen kommt. In diesem - unwahrscheinlichen - Falle wäre es immer noch möglich, der Antragstellerin durch das Gemeinsame Prüfungsamt einen späteren Prüfungstermin zuzuweisen. Der organisatorische Mehraufwand hierfür ist dem Antragsgegner zumutbar.
37
Insgesamt fallen damit die dem Antragsteller mit der begehrten vorbehaltlosen Zuweisung erwachsenden organisatorischen Erschwernisse nicht maßgeblich gegenüber dem Interesse der Antragstellerin an der freien Wahl ihrer Ausbildungsstation ins Gewicht. Da sonst keine weiteren Anhaltspunkte ersichtlich sind, die gegen eine Zulassung der Ausbildungsstelle sprechen, wäre - ein Ermessen des Antragsgegners vorausgesetzt - dieses auf Null reduziert und ein Anspruch der Antragstellerin auf Überweisung zur der Ausbildungsstelle glaubhaft gemacht.
38
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
39
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG in Verbindung mit § 52 Abs. 1 und Abs. 2 VwGO. Ist Streitgegenstand eine Versetzung, ist für den Wert des Streitgegenstands der Auffangwert festzusetzen (OVG Schleswig Beschluss vom 8. April 2020 2 - MB 14/19 -; OVG Münster, Beschluss vom 30. Juli 2007 – 6 E 718/07 –, Rn. 2 f., juris). Dies ist auf die Zuweisung eines Referendars in eine Station übertragbar. Auf den Auffangwert ist die in Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit vorgesehene Reduzierung nicht anwendbar (vgl. OVG Schleswig, Beschluss vom 29. Mai 2015 – 3 O 23/15 –; Beschluss vom 10. August 1995 – 3 O 19/95 –).
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.
Gründe
1
Der Senat hat das Aktivrubrum auf Antrag der Antragstellerin berichtigt.
2
Der Normenkontrolleilantrag nach § 47 Abs. 6 VwGO ist zulässig (dazu unter I.), aber unbegründet (dazu unter II.).
3
I. Der sinngemäß gestellte Antrag,
4
§ 9 Abs. 1 Satz 1 sowie § 7 Abs. 1 Satz 1 der am 1. November 2020 gemäß § 60 Abs. 3 Satz 1 LVwG ersatzverkündeten und ab dem 2. November 2020 in Kraft getretenen Schleswig-Holsteinischen Landesverordnung zur Bekämpfung des Coronavirus SARS-CoV-2 bis zur Entscheidung über den Normenkontrollantrag in der Hauptsache außer Vollzug zu setzen,
5
ist zulässig, insbesondere statthaft im Sinne von § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO i. V. m. § 67 Landesjustizgesetz vom 17. April 2018 (GVOBl. 2018, 231, ber. 441).
6
Gegen die Zulässigkeit des Antrags der Antragstellerin ergeben sich auch im Übrigen keine Bedenken.
7
Die Antragstellerin, die je ein Tattoo-Studio in Husum und Flensburg sowie zwei Gastronomiebetriebe in Flensburg betreibt, in denen in erster Linie Getränke sowie kleine Speisen angeboten werden, ist antragsbefugt (§ 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO). Sie kann als juristische Personen geltend machen, durch die angegriffenen Normen zumindest in ihrem Grundrecht aus Art. 12 GG i. V. m. Art. 19 Abs. 3 GG verletzt zu werden. Sie hat ausgeführt, dass ihr durch die Untersagung der Erbringung von Dienstleistungen in den Tattoo-Studios und des Betriebes von Bars/Kneipen nicht unerhebliche Umsatzeinbußen und eine Vernichtung ihrer wirtschaftlichen Existenz drohen. Auch ist nach ihrem Vortrag nicht ausgeschlossen, dass die Antragstellerin in ihrem Recht auf Gleichbehandlung (Art. 3 Abs. 1 GG) verletzt ist, da andere wesensähnliche Gewerbe wie einerseits zum Beispiel Friseure und andererseits beispielsweise Kantinen und Autobahnraststätten geöffnet haben dürfen.
8
II. Der Antrag ist indes unbegründet.
9
Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 47 Abs. 6 VwGO, wonach das Normenkontrollgericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen kann, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist, liegen nicht vor.
10
Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind in erster Linie die Erfolgsaussichten des in der Hauptsache anhängigen Normenkontrollantrags, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 25. Februar 2015 – 4 VR 5.14 –, juris Rn. 12; Schl.-Holst. OVG, Beschl. v. 9. April 2020 – 3 MR 4/20 –, juris Rn. 3). Dabei erlangen die Erfolgsaussichten des Normenkontrollantrags eine umso größere Bedeutung für die Entscheidung im Eilverfahren, je kürzer die Geltungsdauer der in der Hauptsache angegriffenen Normen befristet und je geringer damit die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine Entscheidung über den Normenkontrollantrag noch vor dem Außerkrafttreten der Normen ergehen kann. Das muss insbesondere dann gelten, wenn die in der Hauptsache angegriffenen Normen in quantitativer und qualitativer Hinsicht erhebliche Grundrechtseingriffe enthalten oder begründen, sodass sich das Normenkontrollverfahren (ausnahmsweise) als zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG geboten erweisen dürfte.
11
Ergibt demnach die Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache, dass der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet sein wird, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Erweist sich dagegen, dass der Antrag zulässig und (voraussichtlich) begründet sein wird, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache suspendiert werden muss. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange der Antragstellerin, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für die Antragstellerin günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist.
12
Lassen sich die Erfolgsaussichten des Normenkontrollverfahrens im Zeitpunkt der Entscheidung über den Eilantrag nicht (hinreichend) abschätzen, ist über den Erlass einer beantragten einstweiligen Anordnung im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden: Gegenüberzustellen sind die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, das Hauptsacheverfahren aber Erfolg hätte, und die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, das Normenkontrollverfahren aber erfolglos bliebe. Die für den Erlass der einstweiligen Anordnung sprechenden Erwägungen müssen die gegenläufigen Interessen dabei deutlich überwiegen, mithin so schwer wiegen, dass der Erlass der einstweiligen Anordnung – trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache – dringend geboten ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 25. Februar 2015, a. a. O., juris Rn. 12; Schl.-Holst. OVG, Beschl. v. 9. April 2020, a. a. O., juris Rn. 5).
13
Nach diesen Maßstäben kommt eine vorläufige Außervollzugsetzung der mit dem Normenkontrollantrag der Antragstellerin angegriffenen Bestimmungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 und § 9 Abs. 1 Satz 1 der Landesverordnung zur Bekämpfung des Coronavirus SARS-CoV-2 vom 1. November 2020 (Corona-Bekämpfungsverordnung – Corona-BekämpfVO) nicht in Betracht. Nach summarischer Prüfung erweist sich der Normenkontrollantrag (Az. 3 KN 35/20) in der Hauptsache als sehr wahrscheinlich erfolglos (1.). Darüber hinaus ergäbe sich bei Abwägung der Folgen, dass die Interessen der Antragstellerin an der Außervollzugsetzung des Verbots von Gaststätten und körpernahen Dienstleistungen die Interessen des Antragsgegners an der Aufrechterhaltung der Verbote nicht so deutlich überwiegen, dass der Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung in dem obigen Sinne dringend geboten wäre (2.).
14
1. Zunächst spricht vieles dafür, dass die angegriffene Verordnung einer rechtlichen Überprüfung im Hauptsacheverfahren standhalten würde. Die formellen Voraussetzungen sind gewahrt (a) und die materiellen Voraussetzungen sind erfüllt (b). Der Inhalt der Verordnung überschreitet nicht die Grenzen der Verordnungsermächtigung (aa) und verstößt nicht gegen höherrangiges Recht, insbesondere nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (bb) und den Gleichbehandlungsgrundsatz (cc).
15
a) Die Corona-Bekämpfungsverordnung vom 1. November 2020 entspricht den formalen Anforderungen des § 56 LVwG. Sie ist als Landesverordnung bezeichnet, die Ermächtigungsgrundlage ist angegeben, ebenso das Datum der Ausfertigung und die erlassende Behörde. Die Verordnung ist ordnungsgemäß im Wege der Ersatzverkündung (§ 60 Abs. 3 Satz 1 LVwG) unterzeichnet auf der Internetseite der Landesregierung https://www.schleswig-holstein.de/DE/Schwerpunkte/Coronavirus/Erlasse/Downloads/201101_corona_bekaempfungsVO_unterzeichnet.pdf?__blob=publicationFile&v=3) bekanntgemacht worden.
16
b) Die in der Hauptsache angegriffene Landesverordnung findet in § 32 Satz 1 i. V. m. § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG vom 20. Juli 2000 (BGBl.I S. 1045), zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 27. März 2020 (BGBl.I S. 587) eine hinreichende Ermächtigungsgrundlage.
Gemäß § 32 Satz 1 IfSG werden die Landesregierungen ermächtigt, unter den Voraussetzungen, die für Maßnahmen nach den §§ 28 bis 31 maßgebend sind, auch durch Rechtsverordnungen entsprechende Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zu erlassen. Nach § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG trifft, wenn Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt werden oder sich ergibt, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist; sie kann insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten.
18
Bei summarischer Prüfung ist nicht davon auszugehen, dass die Regelungen in § 32 Satz 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG verfassungswidrig sind.
Verordnungsermächtigungen müssen gemäß Art. 80 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG durch ein formelles Gesetz eingeräumt werden, das Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung bestimmt. Dass die Reglung des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG gegen den Parlamentsvorbehalt verstößt, ist nicht erkennbar (vgl. bereits Beschl. des Senats v. 5. November 2020 – 3 MR 56/20 –). Der Senat erachtet bei summarischer Prüfung auch einen Verstoß der Verordnungsermächtigung aus § 32 IfSG gegen das Bestimmtheitsgebot derzeit nicht für überwiegend wahrscheinlich (so auch OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 4. November 2020 – 11 S 94/20 –, juris Rn. 32, OVG Lüneburg, Beschl. v. 6. November 2020 – 13 MN 433/20 –, juris Rn. 14).
Nach diesen Maßgaben und unter Zugrundelegung nachstehender Ausführungen ergeben sich keine durchgreifenden Bedenken dagegen, dass der Landesverordnungsgeber – fußend auf dem Infektionsschutzgesetz – die Corona-Bekämpfungsverordnung erlassen hat. Zwar sind mit dem darin geregelten „Teil-Lockdown“, der für einzelne Bereiche ein Verbot der wirtschaftlichen und kulturellen Betätigung vorsieht, erhebliche Grundrechtseingriffe verbunden. Die Landesverordnung ist jedoch zeitlich befristet auf die Dauer von vier Wochen; dabei stehen die angeordneten Maßnahmen unter ständiger Beobachtung des Landesverordnungsgebers. Bereits zu Mitte November ist eine (erste) Evaluierung durch die Landesregierung im Zusammenwirken mit den anderen Bundesländern und der Bundesregierung in Aussicht genommen. Das exponentielle Wachstum der Neuinfektionen in den vergangenen (Herbst-)Wochen hat ein umgehendes Tätigwerden des Verordnungsgebers unter vorheriger Verständigung mit den anderen Bundesländern erfordert. Eine mit der jetzigen Landesverordnung bezweckte rasche Eindämmung des Pandemiegeschehens wäre mit dem Erlass eines formellen Parlamentsgesetzes nicht zu erreichen gewesen.aa) Die Voraussetzungen nach § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG liegen vor. In ganz Schleswig-Holstein gibt es bestätigte Infektionen mit dem neuartigen Corona-Virus SARS-CoV-2, welches die übertragbare Krankheit (im Sinne von § 2 Nr. 3 IfSG) COVID-19 auslöst; am 9. November 2020 beliefen sich die bestätigten Fälle für Schleswig-Holstein auf 10.000, darunter 220 Neuinfektionen (Quelle: RKI, COVID-19: Fallzahlen in Deutschland und weltweit, (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/neuartiges_Coronavirus/Fallzahlen.html).Aus dem Wortlaut des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG („die zuständige Behörde trifft die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in den §§ 29 bis 31 genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist; sie kann insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten.“) folgt, dass der Begriff der „Schutzmaßnahmen“ umfassend ist und der Infektionsschutzbehörde ein möglichst breites Spektrum an geeigneten Schutzmaßnahmen eröffnet, welches durch die Notwendigkeit der Maßnahme im Einzelfall begrenzt wird. Dieses Ergebnis ergibt sich zum einen anhand der Gesetzesmaterialien (vgl. Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Seuchengesetzes, BT-Drs. 8/2468, S. 27 zu dem insoweit vergleichbaren § 34 BSeuchG). Danach lässt sich die Fülle der Schutzmaßnahmen, die bei Ausbruch einer übertragbaren Krankheit in Frage kommen können, nicht von vornherein übersehen.Zudem hat das Bundesverwaltungsgericht zu den nach § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG möglichen Schutzmaßnahmen in seinem Urteil vom 22. März 2012 (Az. 3 C 16.11, juris Rn. 24) ausgeführt:
„bb) Hinsichtlich Art und Umfang der Bekämpfungsmaßnahmen – „wie“ – des Ergreifens – ist der Behörde, wie bereits ausgeführt, Ermessen eingeräumt (BR-Drs. 566/99 S. 169). Dem liegt die Erwägung zu Grunde, dass sich die Bandbreite der Schutzmaßnahmen, die bei Auftreten einer übertragbaren Krankheit in Frage kommen können, nicht im Vorfeld bestimmen lässt. Der Gesetzgeber hat § 28 Abs. 1 IfSG daher als Generalklausel ausgestaltet. Das behördliche Ermessen wird dadurch beschränkt, dass es sich um „notwendige Schutzmaßnahmen“ handeln muss, nämlich Maßnahmen, die zur Verhinderung der (Weiter-)Verbreitung der Krankheit geboten sind. Darüber hinaus sind dem Ermessen durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Grenzen gesetzt (vgl. Entwurf eines vierten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Seuchengesetzes, BT-Drs. 8/2468, S. 27 zur Vorgängerregelung in § 24 BSeuchG).“
Aus alledem folgt, dass alle notwendigen Schutzmaßnahmen – und mithin auch das in § 7 Abs. 1 Satz 1 und § 9 Abs. 1 Satz 1 der Corona-BekämpfVOstatuierte Gaststättenbetriebs- und Dienstleistungsverbot – auf die Generalklausel des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG gestützt werden können (stRspr. des Senats, vgl. z.B. Beschl. v. 29. April 2020 – 3 MR 11/20 –, juris Rn. 11 ff.).
23
bb) Soweit die Antragstellerin rügt, das Dienstleistungs- und Gaststättenbetriebsverbot greife unverhältnismäßig in ihre Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) ein und ihr drohe die Vernichtung ihrer wirtschaftlichen Existenz, was auch den Verlust von Arbeitsplätzen bedeute, folgt der beschließende Senat dieser Auffassung nicht und erkennt auch keinen unverhältnismäßigen Eingriff in Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG, insbesondere nicht in das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb.
24
§ 7 Abs.1 Satz 1 und § 9 Abs.1 Satz 1 Corona-BekämpfVO vom 1. November 2020 verletzen die Antragstellerin nicht in ihrer Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 19 Abs. 3 GG).
25
Hinsichtlich Art. 12 Abs. 1 GG, der keinen Anspruch auf Erfolg im Wettbewerb und auf Sicherung künftiger Erwerbsmöglichkeiten umfasst (vgl. BVerfG, Beschl. v. 26. Juni 2002 – 1 BvR 558/91 –, juris Rn. 43), stellt sich die angegriffene Regelung für die Antragstellerin als Berufsausübungsregelung dar, da mit dieser zeitweise der Geschäftsbetrieb der Antragstellerin – der Betrieb ihrer Tattoo-Studios und Gaststätten – unterbunden wird.
26
In Bezug auf Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG, der das bürgerlich-rechtliche Eigentum samt Nutzung schützt, sind die angegriffenen Regelungen in der Corona-Bekämpfungsverordnung vom 1. November 2020 darüber hinaus als Inhalts- und Schrankenbestimmung im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG zu qualifizieren. Das Bundesverfassungsgericht betont, dass auch der Schutz des „eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs“ nicht weiter reicht als der Schutz, den seine wirtschaftliche Grundlage genießt und nur den konkreten Bestand an Rechten und Gütern erfasst; bloße Umsatz- und Gewinnchancen oder tatsächliche Gegebenheiten werden hingegen auch unter dem Gesichtspunkt „des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs“ nicht von der Eigentumsgarantie erfasst (BVerfG, Urt. v. 6. Dezember 2016 – 1 BvR 2821/11 u. a. –, NJW 2017, 217, 223).
27
Ob der Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG daher überhaupt betroffen ist, ist zweifelhaft, kann aber offenbleiben. Die zeitlich bis zum 29. November 2020 befristeten Beschränkungen von Art. 12 Abs. 1 GG und Art. 14 Abs. 1 GG sind derzeit jedenfalls gerechtfertigt, insbesondere verhältnismäßig.
28
Dabei ist in den Blick zu nehmen, dass sich die Pandemie nach einer vorübergehenden Stabilisierung der Fallzahlen auf einem erhöhten Niveau Ende August und Anfang September aktuell in allen Bundesländern weiter ausgebreitet hat (vgl. RKI, täglicher Lagebericht zur Coronavirus-Krankeheit-2019 https://www.tagesschau.de/inland/rki-corona-intensivbetten-101.html). Ein Vergleich der täglichen Lageberichte des Robert-Koch-Instituts der vergangenen zwei Wochen zeigt anschaulich, dass die Inzidenz der letzten sieben Tage deutschlandweit von 48,6 Fälle pro 100.000 Einwohner (Stand 20. Oktober 2020) auf mittlerweile 139 Fälle pro 100.00 Einwohner (Stand: 9. November 2020) angestiegen ist. Auch ist die Anzahl der Kreise mit einer hohen 7-Tage-Inzidenz weiter angestiegen; Stand 3. November weisen nur noch sieben Stadt- und Landkreise eine 7-Tage-Inzidenz von unter 25 Fällen/100.000 Einwohner auf. Der bundesweite Anstieg wird zunehmend durch zumeist diffuse Geschehen verursacht. Die Zahl der intensivmedizinisch behandelten COVID-19-Fälle hat sich in dieser Zeit von 879 Patienten am 20. Oktober 2020 auf 2.388 Patienten am 3. November 2020 fast verdreifacht. Auch bezogen auf die Situation in Schleswig-Holstein ist ein spürbarer Anstieg von 165 Neuinfektionen bei insgesamt 5.879 Fällen per 20. Oktober 2020 gegenüber der jetzigen aktuellen Fallzahl von 10.000 bei 177 Neuinfektionen festzustellen.
29
In diesem Zusammenhang hat der Antragsgegner zutreffend darauf hingewiesen, dass die jetzt bekannten Infektionszahlen nicht das aktuelle Geschehen abbilden, sondern diesen Erhebungen das Geschehen zugrunde liegt, wie es sich zum Zeitpunkt der Meldung durch die jeweiligen Gesundheitsämter an das Robert-Koch-Institut dargestellt hat. Da die Inkubationszeit durchaus auch einen längeren Zeitraum von zehn bis vierzehn Tagen umfassen kann (vgl. RKI, SARS-CoV-2 Steckbrief zur Coronavirus-Krankheit-2019, Stand 30. Oktober 2020, Nr. 5. ) und die Infektion bereits ca. 48 Stunden vor Symptomentwicklung weiter übertragen werden kann, ist davon auszugehen, dass zum jetzigen Zeitpunkt bereits deutlich mehr Menschen als statistisch erfasst infiziert sind. Erschwerend hinzu kommt die – nicht mehr durchgängig gewährleistete – Erfassung und Weiterleitung durch die Gesundheitsämter vor Ort. Aktuell sind die Ansteckungsumstände im Bundesdurchschnitt in mehr als 75% der Fälle unklar (vgl. Begründung zur Landesverordnung, Teil A. unter Bezugnahme auf die Statistiken des RKI; vgl. Beschluss der Bundeskanzlerin und der Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder am 28. Oktober 2020 zur Bekämpfung der SARS-CoV-2-Pandemie, Anlage Ag. 3).
30
Die Ministerpräsidenten und Ministerpräsidentinnen haben daher im Einvernehmen mit der Bundesregierung beschlossen, beginnend ab dem 2. November 2020, die Corona-Bekämpfungsmaßnahmen für einen Zeitraum von vier Wochen bundesweit zu verschärfen. Angesichts des Umstandes, dass die Infektionszahlen flächendeckend stark angestiegen sind (und noch weiter ansteigen) und sich das Ausbruchsgeschehen in der weit überwiegenden Zahl der Fälle nicht mehr zurückverfolgen lässt, sind Beschränkungen in weiten Bereichen des Lebens und der Wirtschaft getroffen worden, wozu auch die in § 7 und § 9 Corona-BekämpfVO geregelten Gaststättenbetriebs- und Dienstleistungsverbote gehören (vgl. Begründung zur Corona-Bekämpfungsverordnung, Teil A.). Diese Maßgaben sind mit der streitgegenständlichen Landesverordnung für den Bereich des Landes Schleswig-Holstein umgesetzt worden.
31
Ist somit eine deutlich verschärfte Lage der Ausbreitung der Pandemie und insbesondere auch der Beanspruchung intensivmedizinischer Kapazitäten gegenüber der vor zwei bis drei Wochen herrschenden Infektionslage festzustellen, so ist auch nicht zu beanstanden, dass sich der Verordnungsgeber, wie die übrigen an dem „Teil-Lockdown“ beteiligten Bundesländer, des Rates von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen auf dem Gebiet der Virologie, der Epidemiologie und der übrigen Medizin bedient haben, auch wenn diese Beratung bzw. das mit ihr erzielte Ergebnis des „Teil-Lockdowns“ in der Wissenschaft nicht unumstritten geblieben ist.
32
Fehlt es nämlich – wie hier – in den einschlägigen Fachkreisen und der einschlägigen Wissenschaft an allgemein anerkannten Maßstäben und Methoden für die fachliche Beurteilung, kann die gerichtliche Kontrolle des behördlichen Entscheidungsergebnisses mangels besserer Erkenntnis der Gerichte an objektive Grenzen stoßen. Sofern eine außerrechtliche Frage durch Fachkreise und Wissenschaft bislang nicht eindeutig beantwortet ist, lässt sich objektiv nicht abschließend feststellen, ob die behördliche Antwort auf diese Fachfrage richtig oder falsch ist. Dem Gericht ist durch Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht auferlegt, das außerrechtliche tatsächliche Erkenntnisdefizit aufzulösen. Gerichte sind nicht in der Lage, fachwissenschaftliche Erkenntnislücken selbständig zu schließen, und auch nicht verpflichtet, über Ermittlungen im Rahmen des Stands der Wissenschaft hinaus Forschungsaufträge zu erteilen. Nach Sinn und Zweck der verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantie ist über die im Rahmen bestehender Erkenntnis mögliche Überprüfung der Vertretbarkeit der behördlichen Annahmen hinaus keine weitere, von der behördlichen Entscheidung unabhängige, eigenständige Einschätzung durch das Gericht geboten. Vielmehr kann das Gericht seiner Entscheidung insoweit die – auch aus seiner Sicht plausible – Einschätzung der Behörde zugrunde legen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 23. Oktober 2018 – 1 BvR 2523/13 –, BVerfGE 149, 407-421, juris Rn. 20f. m. w. N.).
33
Das für die Dauer von vier Wochen befristete Herunterfahren eines Teiles des öffentlichen Lebens, das darauf abzielt, vermeidbare Kontakte im privaten Umfeld bei Aufrechterhaltung solcher Bereiche, die für ein Funktionieren der Gesellschaft und der Wirtschaft unerlässlich sind, deutlich zu reduzieren, ist in sich konsistent und berücksichtigt insbesondere die betroffenen (grundrechtlich geschützten) Belange der betroffenen Bereiche sowohl im Verhältnis zueinander als auch für sich genommen (vgl. Bundesministerium für Justiz und für Verbraucherschutz und Bundesministerium des Inneren, für Bau und Heimat vom 30. Oktober 2020, Darstellung der leitenden rechtlichen Erwägungen für die beschlossenen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie, Anlage Ag. 2).
34
Es begegnet keinen durchgreifenden Bedenken, dass sich der Verordnungsgeber dafür entschieden hat, diejenigen Bereiche der Wirtschaft vorübergehend herunter zu fahren, die (haupt-) ursächlich für eine Ausbreitung privater Kontakte sind. Aufgrund der massiv gestiegenen Anzahl an Corona-Neuinfektionen, nicht nur bundesweit, sondern auch in Schleswig-Holstein, und damit einhergehend der Befürchtung der Überlastung des Gesundheitssystems – hat es die Landesregierung in nicht zu beanstandender Weise als geboten angesehen, neue Maßnahmen zu ergreifen. Diese sind nunmehr im Lichte der aktuellen Situation, der sehr hohen Dynamik der Ausbreitung des Virus und der nicht mehr vollständig zu gewährleistenden Kontaktnachverfolgung zu bewerten. Dabei hat der Verordnungsgeber das Pandemiegeschehen ständig unter Beobachtung zu halten und – unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (Art. 20 Abs. 3 GG) – die erforderlich werdenden Maßnahmen auf dem Gebiet des Infektionsschutzes daran anzupassen. Dies ist mit der nunmehr ergangenen streitbefangenen Landesverordnung vom 1. November 2020 geschehen.
35
Sowohl das in der Corona-Bekämpfungsverordnung geregelte Gaststättenbetriebs- als auch das Dienstleistungsverbot stellen sich danach als geeignete Maßnahmen dar. Beide Maßnahmen dienen der Beschränkung der Kontakte, um eine weitere Ausbreitung des Virus mit den beschriebenen Folgen für die Kontaktnachverfolgung und für die begrenzten intensivmedizinischen Kapazitäten zu verhindern. Die abstrakte Gefahr einzuschätzen ist Aufgabe des Verordnungsgebers, dem insoweit eine Einschätzungsprärogative zukommt. Dass die Bewertung des Verordnungsgebers offensichtlich unzutreffend und damit rechtswidrig wäre, ist nicht erkennbar (vgl. Beschluss des Senats vom 20. Oktober 2020 – 3 MR 50/20). Die Anzahl der intensivmedizinisch behandelten COVID-19-Fälle ist stark ansteigend und per Stand 30. Oktober 2020 haben in Schleswig-Holstein sechs Kreise bzw. kreisfreie Städte die Zahl von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner überschritten (vgl. Begründung Teil A. Allgemein). Zwischenzeitlich (Stand 7. November) ist die Zahl auf sieben angestiegen.
36
Die Maßnahmen sind auch erforderlich, um die Corona-SARS-CoV-2-Pandemie wirksam zu bekämpfen. Soweit die Antragstellerin auf die umfassenden Hygienekonzepte in ihren Betrieben verweist und darauf, dass eine Ansteckungsgefahr in Tattoo-Studios nicht nachgewiesen sei, vermag dies die Erforderlichkeit des aus der Corona-Bekämpfungsverordnung resultierenden Gaststättenbetriebs- und Dienstleistungsverbots nicht in Frage zu stellen. Aufgrund des dynamischen Fortschreitens der Pandemie haben die Länder den Beschluss gefasst, ein neues Konzept zur Vermeidung einer akuten nationalen Gesundheitsnotlage einzuführen. Dieses basiert nicht auf dem Gedanken, besondere Infektionsherde auszuschalten, sondern generell Kontakte auf der privaten Ebene, die nicht unbedingt erforderlich sind, in der Fläche zu reduzieren. Ob die seitens der Antragstellerin betroffenen Betriebe tatsächlich kein erhöhtes Infektionsrisiko aufweisen, was im Hinblick darauf, dass 75% der Infektionsherde nicht bekannt sind, bereits zweifelhaft ist, ist vor diesem Hintergrund nicht entscheidungserheblich. Zudem stellt ein Hygienekonzept keine in gleicher Weise geeignete Maßnahme dar. Auch bei Beachtung der nicht in Abrede gestellten Hygienekonzepte, tritt mit dem Besuch einer Bar oder eines Tattoo-Studios regelmäßig eine Erweiterung der persönlichen Kontakte durch vorübergehende Änderung des Kontaktumfelds der Kunden ein. Dies gilt nicht nur für den Besuch des Betriebes als solchen, sondern potentiell bereits für den Weg zu den betrieblichen Einrichtungen. So besteht nicht nur die Gefahr, das Infektionsgeschehen weiter zu tragen und das Virus zu verbreiten; im Falle einer Virusübertragung auf dem Weg zu der jeweiligen Einrichtung fehlt zudem die Möglichkeit einer Nachverfolgung. Soweit die Antragstellerin auf die in Nr. 3 der Allgemeinverfügung der Stadt Flensburg vom 25. Oktober 2020 enthaltene Sperrstunde für Gastronomiebetriebe verweist, ist in einer Sperrstundenregelung zwar ein milderes, aber nicht gleich geeignetes Mittel zu sehen. Durch Einführung einer nächtlichen Schließregelung können die Kontakte, die bis zur Sperrstunde eintreten, nicht begrenzt werden.
37
Sowohl das Gaststättenbetriebs- als auch das Dienstleistungsverbot sind zudem angemessen (verhältnismäßig im engeren Sinne). Die Verbote dienen wie auch die übrigen angeordneten Maßnahmen dazu, vermeidbare Kontakte im privaten Bereich zu vermeiden, um die exponentiell wachsende Zahl der Neuinfektionen deutlich zu reduzieren und damit das öffentliche Gesundheitswesen spürbar zu entlasten. Dadurch sollen die Gesundheitsämter wieder in die Lage versetzt werden, Infektionsketten möglichst lückenlos zurückverfolgen zu können. Gleichfalls muss es unter allen Umständen vermieden werden, die Krankenhausversorgung zu überlasten. Dies gilt umso mehr, als bereits jetzt festzustellen ist, dass ausreichendes (Intensiv-)Pflegepersonal nicht zur Verfügung steht und bis zu einem voraussichtlichen Greifen der Lockdown-Maßnahmen auf den Intensivstationen noch voraussichtlich vier Wochen vergehen werden (vgl. Coronavirus in Deutschland, „Es wird ein harter November“, Stand: 3. November 2020, https://www.tagesschau.de/inland/deutschland-corona-lage-101.html). Angesichts dieser für das öffentliche Gesundheitssystem zu befürchtenden gravierenden Folgen muss das Interesse der Betreiber von Gaststätten und Dienstleistern mit Körperkontakt zurückstehen, zumal ihnen seitens der Bundesregierung finanzielle Hilfen zugesagt worden sind.
38
cc) Die angegriffenen Regelungen in § 7 Abs. 1 Satz 1 und § 9 Abs. 1 Satz 1 Corona-BekämpfVO sind auch unter dem Aspekt der grundrechtlich geschützten Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 3 Abs. 1 GG) nicht zu beanstanden.
39
Art. 3 Abs. 1 GG gebietet es, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Das hieraus folgende Gebot, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln, gilt für ungleiche Belastungen und ungleiche Begünstigungen. Dabei verwehrt Art. 3 Abs. 1 GG dem Gesetzgeber nicht jede Differenzierung. Differenzierungen bedürfen jedoch stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Ziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind. Dabei gilt ein stufenloser am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab, dessen Inhalt und Grenzen sich nicht abstrakt, sondern nur nach den jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereichen bestimmen lassen. Aus dem allgemeinen Gleichheitssatz ergeben sich je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Anforderungen, die von gelockerten auf das Willkürverbot beschränkten Bindungen bis hin zu strengen Verhältnismäßigkeitserfordernissen reichen können. Eine strengere Bindung des Gesetzgebers kann sich aus den jeweils betroffenen Freiheitsrechten ergeben. Zudem verschärfen sich die verfassungsrechtlichen Anforderungen, je weniger die Merkmale, an die die gesetzliche Differenzierung anknüpft, für den Einzelnen verfügbar sind oder je mehr sie sich denen des Art. 3 Abs. 3 GG annähern (BVerfG, Beschl. v. 7. März 2017 – 1 BvR 1314/12 –, BVerfGE 145, 20-105, Rn. 171 mwN).
40
Nach Maßgabe dieser verfassungsgerichtlichen Vorgaben erweist sich weder das Gaststättenbetriebs- (aaa), noch das Dienstleistungsverbot mit Körperkontakt (bbb) als gleichheitswidrig.
41
(aaa) Die Freistellung vom Verbot der in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 5 CoronaBekämpfVO bezeichneten Gaststätten ist nicht zu beanstanden, da sie sachlich gerechtfertigt ist.
42
Die Freistellung von Betriebskantinen (Nr. 1) erfolgte nur in Bezug auf die Betriebsangehörigen. Damit hat der Verordnungsgeber klargestellt, dass eine Erweiterung der in Betrieben ohnehin innerhalb der Kohorte stattfindenden Kontaktbegegnungen durch die Zulassung Betriebsfremder nicht erfolgt. Die Gewichtung der Verpflegung in den Betrieben als notwendig, da sie der Grundversorgung dient und damit erreicht, dass die Arbeit fortgeführt werden kann, ist nachvollziehbar begründet.
43
Die Zulassung der Bewirtung von Beherbergungsgästen in den Beherbergungsbetrieben (Nr. 4) ist ebenso wenig als unsachgemäß zu beanstanden. Der Verordnungsgeber hat die Beherbergung aus beruflichen Gründen im Interesse der Volkswirtschaft und vor dem Hintergrund der Berufsausübungsfreiheit als gewichtig angesehen (vgl. dazu Beschl. des Senats v. 5. November 2020 - 3 MR 56/20 --). Da die Verpflegung dieser Gäste deren Grundversorgung dient, ist sie sachlich gerechtfertigt.
44
Auf den sachlichen Grund, die Grundversorgung sicherzustellen, stützt sich auch die in Nr. 5 normierte Ausnahmeregelung. Danach ist der Betrieb von Autobahnraststätten und Autohöfen im Sinne des Bundesfernstraßengesetzes zulässig. Dadurch steht den Kraftfahrerinnen und Kraftfahrern eine Grundversorgung zur Verfügung, die auch die Sanitärbereiche umfasst. Dies dient der Gewährleistung des Warentransports weshalb insoweit ein besonderes öffentliches Interesse besteht.
45
Soweit der Verordnungsgeber vor dem Hintergrund der geringeren Infektionsgefahr beim Außerhausverkauf – denn die Gäste dürfen nur einzeln die Gaststätte zur Abholung betreten –, die Abgabe und Lieferung von Speisen und Getränken zum Verzehr außerhalb der Gaststätte freigestellt hat (Nr. 2), ist die Zulassung aus volkswirtschaftlichen Interessen und damit letztlich vor dem Hintergrund der Berufsausübungsfreiheit der Gaststättenbetreiber (Art. 12 Abs. 1 GG) angemessen begründet (vgl. Begründung Teil B. zu § 7). Auch der Antragstellerin bleibt es unbenommen, Speisen und Getränke außer Haus zu verkaufen. Die Übertragung der Regelung zum Außerhausverkauf auf Cateringbetriebe (Nr. 3) ist aus Gründen der Vergleichbarkeit gemäß Art. 3 Abs. 1 GG geboten.
46
bbb) Auch die in § 9 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und Nr. 2 Corona-BekämpfVO geregelte Freistellung medizinischer und pflegerisch notwendiger Dienstleistungen sowie Friseurleistungen, soweit dabei die Leistungserbringerin oder der Leistungserbringer sowie die Kundin oder der Kunde eine Mund-Nasen-Bedeckung nach Maßgabe von § 2 Abs. 5 Corona-BekämpfVO tragen, ist sachlich gerechtfertigt.
47
Bei den Freistellungen im medizinischen und pflegerischen Bereich (§ 9 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Corona-BekämpfVO) handelt es sich um Dienstleistungen, die im überwiegenden öffentlichen Interesse notwendig sind, da ihnen eine besondere Bedeutung für die Allgemeinheit und Volksgesundheit zukommt, die beim Tätowieren nicht gegeben ist. Die Sachverhalte sind schon nicht vergleichbar.
48
Ob es sich bei der Tätigkeit des Tätowierens und den freigestellten Friseurleistungen (§ 9 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Corona-BekämpfVO) um vergleichbare Sachverhalte handelt, ist schon zweifelhaft. Zwar werden beide Tätigkeiten mit unmittelbarem Kundenkontakt und regelmäßig unter Unterschreitung des Mindestabstands von 1,5 Metern über längere Zeit erbracht. Während das Tätowieren unmittelbar am Körper vollzogen wird, hat der Verordnungsgeber unter den in § 9 Abs. 1 Nr. 2 Corona-BekämpfVO beschriebenen Voraussetzungen ausschließlich die Friseurleistung als solche von der grundsätzlichen Unzulässigkeit ausgenommen und damit die körpernahe aber nicht auf Körperkontakt angelegte Tätigkeit erlaubt. Aus diesem Grund bleiben kosmetische Dienstleitungen auch für den Friseur unzulässig. Hierauf weist der Verordnungsgeber in der Begründung (vgl. B. zu § 9 Abs. 1) ausdrücklich hin. Die Friseurleistung unterscheidet sich auch insoweit von der Körpertätowierung, als sie auf Pflege zielt.
49
Jedenfalls ist die unterschiedliche Behandlung aber sachlich gerechtfertigt. Friseurleistungen zählen zu den Grundbedürfnissen eines Menschen, die auch in außergewöhnlichen Gesundheitssituationen gewährleistet werden sollen. Die besondere Bedeutung ergibt sich nicht zuletzt aus den Vorschriften über den Regelbedarf des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch. Der Staat ist im Rahmen seines Auftrags zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrags verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die materiellen Voraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein dem hilfebedürftigen Menschen zur Verfügung stehen. Der Staat gewährleistet das gesamte Existenzminimum durch eine einheitliche, grundrechtliche Garantie, die unter anderem die physische Existenz des Menschen, also Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit umfasst (vgl. BVerfG, Urt. vom 9. Februar 2010 – 1 BvL 1/09 –, BVerfGE 125, 175-260, juris Rn. 134 f.). Dass zum Existenzminimum auch die freigestellten Friseurleistungen zählen, ergibt sich aus der Gesetzesbegründung zu Art. 1 Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz. Danach sind in die Ermittlung des Betrages regelbedarfsrelevanter Verbrauchsausgaben in Abteilung 12 von § 5 Abs. 1 Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz ausdrücklich Friseurdienstleistungen einbezogen worden (BT-Drs. 17/3404 S. 63).
50
Auch mit dem Hinweis auf den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 7. Mai 2020 (– 1 B 74/20 –, juris) vermag die Antragstellerin einen Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz nicht zu begründen. In der Entscheidung hat das Verwaltungsgericht ausdrücklich offengelassen, ob die (Wieder-)Gestattung der Erbringung von Friseurdienstleistungen durch einen sachlichen Grund – namentlich das hohe gesellschaftliche Bedürfnis an dieser Dienstleistung – gerechtfertigt sein könnte, und einen Verstoß der Landesverordnung über Maßnahmen zur Bekämpfung der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 vom 1. Mai 2020 gegen den Gleichheitssatz in Bezug auf Tätowierer nur darauf gestützt, dass Kosmetikern, kosmetischer Fußpflege und Nagelstudios ein Wiederanbieten der Leistung gestattet werde. Aus der Entscheidung kann die Antragstellerin aber auch sonst keine für sie günstigen Folgen herleiten, da es in der Entscheidung um das stufenweise Wiederhochfahren des öffentlichen Lebens ging und nicht wie vorliegend um die Reduzierung persönlicher Kontakte im Rahmen eines „Lockdowns“.
51
2. Unterstellte man, die Erfolgsaussichten des Normenkontrollantrags wären offen, würde ebenso eine Abwägung der sich ergebenden Vollzugsfolgen kein anderes Ergebnis herbeiführen. Dabei wären zum einen die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Normenkontrollantrag in der Hauptsache hingegen Erfolg hätte und zum anderen die Folgen, die sich ergeben würden, wenn eine einstweilige Anordnung erlassen würde, der Normenkontrollantrag aber letztlich erfolglos bliebe, gegenüberzustellen. Hierbei ist wegen der schwerwiegenden Folgen einer einstweiligen Anordnung grundsätzlich ein strenger Maßstab anzulegen. (Beschl. des Senats v. 9. April 2020 – 3 MR 4/20 –, juris Rn. 21). Bei der Folgenabwägung sind die Auswirkungen auf alle von den angegriffenen Regelungen Betroffenen zu berücksichtigen, nicht nur die Folgen für den Beschwerdeführer (vgl. BVerfG, Ablehnung einstweilige Anordnung vom 7. April 2020 – 1 BvR 755/20 –, juris Rn. 8; Ziekow in: Sodan/Ziekow, VwGO Großkommentar, 5. Aufl. 2018, § 47 Rn. 395 m.w.N.).
52
Nach diesen Maßgaben wäre eine einstweilige Anordnung ebenfalls nicht zu erlassen. Die Antragstellerin legt zwar dar, dass die in § 7 Abs. 1 Satz 1 und § 9 Abs. 1 Satz 1 Corona-BekämpfVO geregelten Verbote massiv in ihr Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG eingreifen, indem es ihr für die Dauer von vier Wochen untersagt wird, ihre Tattoo-Studios und ihre Bars/Kneipen zu betreiben. Erginge die beantragte einstweilige Anordnung nicht, wären die mit den Verboten verbundenen Einschränkungen mit ihren erheblichen und voraussichtlich teilweise auch irreversiblen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Folgen zu Unrecht eingetreten.
53
Erginge demgegenüber die beantragte einstweilige Anordnung, würden sich voraussichtlich sehr viele Menschen so verhalten, wie es mit der angegriffenen Regelung der Corona-Bekämpfungsverordnung unterbunden werden soll. So dürften Dienstleistungen mit Körperkontakt wieder angeboten werden und Gaststätten öffnen, mit der Folge, dass auch der unmittelbare Kontakt zwischen Menschen wieder häufiger stattfinden würde. Damit würde sich die Gefahr der Ansteckung mit dem Virus, der Erkrankung vieler Personen, der Überlastung der gesundheitlichen Einrichtungen bei der Behandlung schwerwiegender Fälle und schlimmstenfalls des Todes von Menschen nach derzeitigen Erkenntnissen erheblich erhöhen.
54
Aus dem Normenkontrolleilantrag ist damit insgesamt nicht ersichtlich oder sonst erkennbar, dass die Folgen einer Fortgeltung der angegriffenen Schutzmaßnahmen gegen die Corona-Pandemie in einem Maße untragbar wären, dass ausnahmsweise die geltenden Regelungen im Eilrechtsschutz außer Vollzug gesetzt werden müssten. Die hier geltend gemachten Interessen sind gewichtig, erscheinen aber nach dem hier anzulegenden strengen Maßstab nicht derart schwerwiegend, dass es unzumutbar erschiene, sie einstweilen zurückzustellen, um einen möglichst weitgehenden Gesundheits- und Lebensschutz zu ermöglichen, zu dem der Staat aus dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit in Art. 2 Abs. 2 GG prinzipiell auch verpflichtet ist (vgl. BVerfG, Ablehnung einstweilige Anordnung vom 07. April 2020, a. a. O., juris Rn. 11 m. w. N.). Gegenüber den Gefahren für Leib und Leben wiegen die Einschränkungen der wirtschaftlichen bzw. persönlichen Freiheit weniger schwer. Insoweit ist auch zu berücksichtigen, dass die angegriffene Regelung wie auch die Regelungen der angegriffenen Landesverordnung im Übrigen von vornherein befristet sind und im Hinblick auf die bei den von der Corona-BekämpfVO betroffenen Betrieben zwangsläufig entstehenden Einbußen Kompensationen vorgesehen sind (vgl. Beschluss der Bundeskanzlerin und der Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder vom 28. Oktober 2020, Punkt 12, Anlage Ag. 3).
55
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2, § 52 Abs. 2 GKG.
56
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Tenor
Die sofortige Beschwerde wird zurückgewiesen.
1Das von den Antragstellern eingelegte Rechtsmittel gegen den Beschluss der Fachkammer für Landespersonalvertretungssachen des Verwaltungsgerichts, mit dem ihr Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung ohne Durchführung einer mündlichen Anhörung abgelehnt worden ist, ist als sofortige Beschwerde nach § 83 Abs. 2 BPersVG i. V. m. § 85 Abs. 2 ArbGG und § 567 Abs. 1 Nr. 2 ZPO auszulegen.
2Im personalvertretungsrechtlichen Beschlussverfahren ist die sofortige Beschwerde nach § 567 Abs. 1 Nr. 2 ZPO das richtige Rechtsmittel gegen die ohne Durchführung einer mündlichen Anhörung erfolgte Ablehnung eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Verfügung.
3Ebenso Sächs. OVG, Beschluss vom 8. September 2020 - 9 B 209/20.PL -, juris; Hess. VGH, Beschluss vom 9. Juli 2020 - 22 B 347/20.PV -, ZfPR online 2020, Nr. 10, 11; OVG Berlin-Bbg., Beschluss vom 1. Juli 2020 - 60 PV 8/20 -, ZfPR online 2020, Nr. 7-8, 9; Bay. VGH, Beschluss vom 8. Januar 2018 - 17 PC 17.2202 -, ZBVR online 2018, Nr. 12, 23; OVG Saarl., Beschluss vom 11. August 2015 - 5 B 131/15 -, ZfPR online 2016, Nr. 4 ,11; Fischer/Goeres/Gronimus, GKöD, L § 85 ArbGG Rn. 189.
4Nach § 83 Abs. 2 BPersVG gelten für das personalvertretungsrechtliche Beschlussverfahren die Vorschriften des Arbeitsgerichtsgesetzes über das Beschlussverfahren entsprechend. Dies schließt die Vorschrift des § 85 Abs. 2 ArbGG ein, nach deren Satz 2 für das Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Verfügung die Vorschriften des Achten Buches der Zivilprozessordnung über die einstweilige Verfügung mit näher benannten Maßgaben entsprechend gelten.
5Ausgehend davon finden gegen erstinstanzliche Beschlüsse, die ohne mündliche Anhörung ergangen sind, die nach der Zivilprozessordnung einschlägigen Rechtsbehelfe Anwendung. Dies sind im Fall der Stattgabe nach §§ 924 und 936 ZPO das Rechtsmittel des Widerspruchs und im Fall der Ablehnung des Erlasses der begehrten einstweiligen Verfügung, die ohne Durchführung einer mündlichen Anhörung erfolgt, nach § 937 Abs. 2 und § 567 Abs. 1 Nr. 2 ZPO die sofortige Beschwerde. Nur bei einer Ablehnung der einstweiligen Verfügung nach Durchführung einer mündlichen Anhörung findet das Rechtsmittel der Beschwerde nach § 87 Abs. 1 ArbGG Anwendung. Diese Unterscheidung beruht darauf, dass auf der Grundlage von § 922 Abs. 1 Satz 1 ZPO bei Beschlüssen im Rahmen des arbeitsgerichtlichen und damit auch des personalvertretungsrechtlichen einstweiligen Verfügungsverfahrens zu unterscheiden ist, ob diese im Sinne der genannten Bestimmung einem "Endurteil" oder einem "Beschluss" gleichstehen. Allein bei Beschlüssen, die den Charakter eines "Endurteils" im Sinne von § 922 Abs. 1 Satz 1 ZPO haben, ist das Rechtsmittel der Beschwerde nach § 87 Abs. 1 ArbGG eröffnet, die insofern der Berufung nach § 511 Abs. 1 ZPO entspricht. Den Charakter eines "Endurteils" im Sinne von § 922 Abs. 1 Satz 1 ZPO haben aber nur solche den Erlass einer einstweiligen Verfügung ablehnenden Entscheidungen, die nach Durchführung einer mündlichen Anhörung ergehen.
6Gegen die Auffassung, dass gegen die ohne Durchführung einer mündlichen Anhörung erfolgte Ablehnung eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Verfügung das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde nach § 567 Abs. 1 Nr. 2 ZPO eröffnet ist, kann nicht mit Erfolg eingewandt werden, § 85 Abs. 2 Satz 2 ArbGG verweise für das Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Verfügung explizit (lediglich) auf die Vorschriften des Achten Buchs der Zivilprozessordnung und deshalb seien im Übrigen die unmittelbar für das Beschlussverfahren geltenden Bestimmungen anzuwenden.
7So Altvater u. a., BPersVG, 10. Aufl., § 83 Rn. 123b.
8Denn die Vorschriften des Achten Buchs der Zivilprozessordnung beinhalten kein in sich geschlossenes Regelungssystem, sondern stellen besondere Regelungen für die Zwangsvollstreckung dar, die ihrerseits auf den allgemeinen Regelungen der Zivilprozessordnung aufbauen und diese voraussetzen bzw. ergänzen. Angesichts dessen schließt der Verweis auf die Vorschriften des Achten Buchs auch die Anwendung derjenigen Vorschriften der Zivilprozessordnung ein, die in diesem Buch vorausgesetzt werden. Dazu zählen insbesondere die Bestimmungen zu den Rechtsmitteln im Dritten Buch und dort die Regelungen des 3. Abschnitts in §§ 567 ff. ZPO über die Beschwerde.
9Für die Statthaftigkeit des Rechtsmittels der sofortigen Beschwerde nach § 567 Abs. 1 Nr. 2 ZPO spricht im Übrigen auch der Charakter des einstweiligen Verfügungsverfahrens als Eilverfahren, da die sofortige Beschwerde nach § 569 Abs. 1 Satz 1 ZPO binnen einer Notfrist von zwei Wochen einzulegen ist.
10Soweit der Fachsenat für Landespersonalvertretungssachen des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vormals eine andere Rechtsauffassung vertreten hat,
11vgl. OVG NRW, Beschluss vom 18. Februar 1994 ‑ 1 B 3366/93.PVL ‑, PersV 1996, 407,
12hält dieser aus den vorstehenden Gründen nicht mehr daran fest.
13Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 9. November 2020 ‑ 20 B 1359/20.PVL ‑.
14Über die sofortige Beschwerde kann der Vorsitzende des Fachsenats wegen der Eilbedürftigkeit der Sache ohne Hinzuziehung ehrenamtlicher Richter und ohne vorhergehende Durchführung einer mündlichen Anhörung der Verfahrensbeteiligten entscheiden (§ 83 Abs. 2 BPersVG i. V. m. §§ 87 Abs. 2 Satz 1, 85 Abs. 2 ArbGG sowie § 937 Abs. 2 und § 944 ZPO in entsprechender Anwendung).
15Die sofortige Beschwerde ist unbegründet. Das von den Antragstellern weiterverfolgte vorläufige Rechtsschutzbegehren mit dem (sinngemäßen) Antrag,
16die Beteiligte im Wege der einstweiligen Verfügung zu verpflichten, ein Mitbestimmungsverfahren hinsichtlich der Umsetzung des Erlasses des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat vom 7. April 2020 betreffend die "Gewährung von Sonderurlaub unter Fortzahlung der Besoldung gem. § 22 Abs. 2 SUrIV bzw. Arbeitsbefreiung unter (Voraus)Leistung einer Entschädigung durch den Arbeitgeber nach § 56 Abs. 1a lfSG anlässlich aktuelIer Entwicklungen in Bezug auf das Corona-Virus (COVID 19) zur Betreuung von Kindern und pflegebedürftigen Angehörigen" einzuleiten,
17hat keinen Erfolg.
18Dabei kann dahinstehen, ob die Fachkammer für Bundespersonalvertretungssachen des Verwaltungsgerichts bei der Entscheidung über den Antrag ordnungsgemäß besetzbar war und deshalb der angegriffene Beschluss vom 3. Juli 2020 durch den gesetzlichen Richter im Sinne von Art. 101 GG ergangen ist. Der Antragsteller stellt dies mit der Begründung in Abrede, dass der entscheidende Richter nicht das Statusamt eines Vorsitzenden Richters am Verwaltungsgericht bekleidet habe und die im Geschäftsverteilungsplan der Fachkammer vorgesehene Verteilung der eingehenden Verfahren in der Form, dass dem Vorsitzenden der Fachkammer jede erste und zweite und dessen ‑ im Amt eines Richters am Verwaltungsgericht befindlichen ‑ Stellvertreter jede dritte Sache zugewiesen wird, mit den Vorgaben aus § 21 f. GVG nicht in Einklang stehe und deshalb keinen zulässigen Vertretungsfall begründen könne.
19Vgl. in diesem Zusammenhang: BVerwG, Beschlüsse vom 7. November 1969 ‑ VII P 3.69 ‑, BVerwGE 34, 180 = Buchholz 238.3 § 77 PersVG Nr. 1 = PersV 1971, 15 = ZBR 1970, 331, vom 5. Februar 1971 ‑ VII P 9.70 ‑, BVerwGE 37, 162 = Buchholz 238.3 § 22 PersVG Nr. 8 = PersV 1971, 243 = ZBR 1971, 247, und vom 23. November 2010 ‑ 6 P 2.10 ‑, Buchholz 251.7 § 66 NWPersVG Nr. 2 = PersR 2011, 78 = ZfPR 2011, 34 = ZTR 2011, 124; Altvater u. a., BPersVG, 10. Aufl., § 84 Rn. 6; Gronimus, Das personalvertretungsrechtliche Beschlussverfahren, 2017, § 84 BPersVG Rn. 16; Kissel u. a., GVG, 8. Aufl., § 21f Rn. 18
20Ein darin möglicherweise liegender Mangel des Verfahrens in der ersten Instanz rechtfertigt keine Zurückverweisung der Sache an die Fachkammer für Bundespersonalvertretungssachen des Verwaltungsgerichts, da nach § 83 Abs. 2 BPersVG i. V. m. § 91 Abs. 1 Satz 2 ArbGG eine Zurückverweisung nicht zulässig ist. Daraus folgt, dass der Fachsenat für Bundespersonalvertretungssachen ‑ selbst wenn ein Verfahrensfehler anzunehmen wäre ‑ in dem eingeleiteten Beschwerdeverfahren zur Sache entscheiden muss.
21Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 5. April 1995 ‑ 1 B 580/95.PVL ‑, juris.
22Die Voraussetzungen für den Erlass der begehrten einstweiligen Verfügung liegen nicht vor.
23Eine einstweilige Verfügung kann nach den hier anzuwendenden Vorschriften des Achten Buches der Zivilprozessordnung erlassen werden, wenn die Regelung eines streitigen Rechtsverhältnisses zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 940 ZPO). Verfügungsanspruch und Verfügungsgrund sind glaubhaft zu machen (§ 920 Abs. 2 ZPO). Die einstweilige Verfügung darf grundsätzlich nicht mehr zusprechen, als im Hauptsacheverfahren möglich ist; sie darf außerdem die Entscheidung in der Hauptsache nicht vorwegnehmen. Allerdings kann es die Effektivität des Rechtsschutzes ausnahmsweise erfordern, durch den Erlass einer einstweiligen Verfügung der Entscheidung in der Hauptsache vorzugreifen, sofern wirksamer Rechtsschutz im ordentlichen Verfahren nicht erreicht werden kann und dies für den Antragsteller zu schlechthin unzumutbaren Folgen führen würde, insbesondere wenn ein endgültiger Rechtsverlust oder ein sonstiger irreparabler Zustand droht. Dabei sind die Belange der Beteiligten sorgfältig abzuwägen und strenge Anforderungen an die materiellen Voraussetzungen der einstweiligen Verfügung zu stellen.
24Ständige Rechtsprechung, vgl. etwa OVG NRW, Beschlüsse vom 14. Januar 2003 ‑ 1 B 1907/02.PVL ‑, PersV 2003, 198, vom 28. Januar 2003 ‑ 1 B 1681/02.PVL ‑, PersR 2004, 64, vom 30. Dezember 2004 ‑ 1 B 1864/04.PVL ‑ und vom 22. Februar 2007 ‑ 1 B 2563/06.PVL ‑.
25Diese besonderen Anforderungen für eine die Hauptsache vorwegnehmende einstweilige Verfügung sind für das Begehren des Antragstellers einschlägig, da er mit seinem Antrag eine der Hauptsacheentscheidung ‑ jedenfalls in zeitlicher Hinsicht teilweise ‑ entsprechende Verpflichtung der Beteiligten zur Einleitung eines Mitbestimmungsverfahrens verfolgt.
26Ausgehend davon hat der Antragsteller ‑ jedenfalls ‑ keinen Verfügungsgrund glaubhaft gemacht.
27Es kann nicht festgestellt werden, dass es für den Antragsteller mit unzumutbaren Folgen verbunden wäre, die Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren abzuwarten.
28Bei der Frage, wann schlechthin unzumutbare Folgen anzunehmen sind, ist sowohl das Interesse des Personalrats als auch dasjenige der von ihm vertretenen Beschäftigten in den Blick zu nehmen. Als wesentlicher Gesichtspunkt ist dabei zu berücksichtigen, inwieweit die Arbeit des Personalrats ohne den Erlass der einstweiligen Verfügung generell oder für bestimmte wichtige Bereiche in einer Weise unmöglich oder eingeschränkt würde, die auch nur vorübergehend hinzunehmen dem Personalrat und/oder den von ihm vertretenen Beschäftigten nicht angesonnen werden könnte. Zu gewichten ist vor allem, welche Bedeutung dem geltend gemachten Beteiligungsrecht für den Personalrat und/oder für die Beschäftigten in dem jeweiligen Einzelfall beizumessen ist. Dabei ist insbesondere auch in den Blick zu nehmen, welche Möglichkeiten dem Personalrat zur Erlangung von Rechtsschutz in einem Hauptsacheverfahren noch verbleiben.
29Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 9. Juli 2012 ‑ 20 B 675/12.PVB ‑, DÖD 2012, 237, vom 20. August 2013 ‑ 20 B 585/13.PVL ‑, IÖD 2013, 234, und vom 8. Oktober 2013 ‑ 20 B 838/13.PVL -.
30Angesichts dieser Umstände sind weder mit Blick auf die Interessen des Antragstellers noch mit Blick auf die Interessen der betroffenen Beschäftigten unzumutbare Folgen für den Antragsteller glaubhaft gemacht.
31Eine mögliche dauerhafte Beeinträchtigung eines Mitbestimmungsrechts des Antragstellers ist nicht zu befürchten, weil ihm weiterhin die Möglichkeit offen steht, die Frage des Bestehens eines Mitbestimmungsrechts und einer daraus folgenden Verpflichtung zur Einleitung eines Mitbestimmungsverfahrens ‑ notfalls im Wege einer abstrakten Antragstellung ‑ zum Gegenstand eines Hauptsacheverfahrens zu machen.
32Dafür, dass es dem Antragsteller nicht zumutbar wäre, eine mögliche Beeinträchtigung seines Mitbestimmungsrechts oder ein Offenbleiben der im konkreten Fall aufgetretenen abstrakten Rechtsfrage vorübergehend bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens hinzunehmen, ist nichts ersichtlich. Insbesondere ist nicht erkennbar, dass die Personalratsarbeit des Antragstellers generell oder für bestimmte Bereiche in einer Weise unmöglich oder eingeschränkt würde, die es als schlechthin unzumutbar erscheinen lässt, ihm eine auch nur vorübergehende Hinnahme anzusinnen. Im Übrigen ist zu berücksichtigen, dass der Antragsteller angesichts des auf der Grundlage von § 78 Abs. 1 Nr. 1 BPersVG bereits durchgeführten Mitwirkungsverfahrens schon Gelegenheit hatte, seine Auffassung zu den die Umsetzung des Erlasses des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat vom 7. April 2020 betreffenden Fragen gegenüber der Beteiligten zu äußern.
33Unzumutbare Folgen mit Blick auf die von der konkreten Maßnahme betroffenen Beschäftigten bei einer etwaigen auf die Zeit bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens begrenzten Beeinträchtigung des geltend gemachten Mitbestimmungsrechts sind auch in Würdigung des Beschwerdevorbringens des Antragstellers nicht erkennbar. Zwar entfalten die mit der Umsetzung des Erlasses des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat vom 7. April 2020 verbundenen Regelungen für die davon betroffenen Beschäftigten zunächst einmal Rechtswirkungen. Allein der Umstand, bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens an die mit der Umsetzung des Erlasses verbundenen Folgen gebunden zu sein, ohne dass ein ‑ unterstellt ‑ erforderliches Mitbestimmungsverfahren durchgeführt worden ist, stellt für die betroffenen Beschäftigten keine unzumutbare Folge dar.
34Da es nach dem Vorstehenden bereits an einer hinreichenden Glaubhaftmachung eines Verfügungsgrundes fehlt, bedarf es keiner Entscheidung mehr, ob der Antragsteller ‑ auch mit Blick auf die in Anbetracht der Vorwegnahme der Hauptsache zu stellenden Anforderungen ‑ einen Verfügungsanspruch glaubhaft gemacht hat.
35Eine Kostenentscheidung entfällt im personalvertretungsrechtlichen Beschlussverfahren.
36Der Beschluss ist gemäß § 83 Abs. 2 BPersVG NRW i. V. m. § 92 Abs. 1 Satz 3 ArbGG unanfechtbar.
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 40.000,00 Euro festgesetzt.
1Gründe:
2Der Senat entscheidet über den Antrag auf Zulassung der Berufung durch den Berichterstatter, weil sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben (§ 87a Abs. 2 und 3, § 125 Abs. 1 VwGO).
3Der Berufungszulassungsantrag hat keinen Erfolg.
4Die Berufung ist gemäß § 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO zuzulassen, wenn einer der in § 124 Abs. 2 VwGO genannten Zulassungsgründe den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechend dargelegt wird und vorliegt. Die Klägerin stützt ihren Antrag auf die Zulassungsgründe nach § 124 Abs. 2 Nrn. 1 und 3 VwGO. Keiner der beiden Gründe liegt vor.
5I. Aus der Zulassungsbegründung ergeben sich zunächst keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
6Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO liegen vor, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird.
7Vgl. statt vieler BVerfG, Kammerbeschluss vom 16. April 2020 - 1 BvR 2705/16 ‑, NVwZ-RR 2020, 905, juris, Rn. 21, und Beschluss vom 18. Juni 2019 - 1 BvR 587/17 ‑, BVerfGE 151, 173, juris, Rn. 32; VerfGH NRW, Beschluss vom 17. Dezember 2019 - VerfGH 56/19.VB-3 ‑, NVwZ-RR 2020, 377, juris, Rn. 17 ff., jeweils m. w. N.
8Nach diesem Maßstab liegen ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils nicht vor. Das Verwaltungsgericht hat ohne Rechtsfehler festgestellt, dass die Bewertungen der Unterrichtspraktischen Prüfungen der Klägerin vom 26. April 2017 im Rahmen ihrer Zweiten Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien und Gesamtschulen in den Fächern Geschichte mit „mangelhaft“ (5,0) und Englisch mit „ausreichend“ (4,0) nicht zu beanstanden seien.
91. Die Klägerin macht zunächst geltend, es habe hinreichende Anhaltspunkte für eine ernsthafte Besorgnis der Befangenheit der Mitglieder des Prüfungsausschusses gegeben. Das Ergebnis der Prüfung habe bereits vor der Beratung der Prüfungskommission festgestanden, weil die Klägerin nicht nach dem Thema ihres – an die Unterrichtspraktischen Prüfungen anschließenden – Kolloquiums gefragt worden sei. Außerdem seien die Schriftlichen Arbeiten der Klägerin nicht bewertet worden. Dies spreche für die Voreingenommenheit der Prüfer.
10Das Verwaltungsgericht hat seiner Prüfung einer rechtmäßigen Besetzung des Prüfungsausschusses zutreffend den Maßstab zugrunde gelegt, dass nach § 21 Abs. 1 VwVfG NRW die Besorgnis der Befangenheit berechtigt ist, wenn nach den Umständen des Einzelfalls ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen eine unparteiische Amtsausübung zu rechtfertigen. Es müssen Tatsachen vorliegen, die ohne Rücksicht auf individuelle Empfindlichkeiten den Schluss rechtfertigen, dass dieser Prüfer speziell gegenüber diesem Prüfling nicht die notwendige Distanz und sachliche Neutralität aufbringen wird und nicht (mehr) offen ist für eine nur an der wirklichen Leistung des Prüflings orientierte Bewertung.
11Vgl. OVG NRW, Urteile vom 10. Dezember 2015 - 19 A 254/13 ‑, DVBl. 2016, 926, juris, Rn. 121, und vom 25. September 2014 - 14 A 1872/12 ‑, DVBl. 2015, 52, juris, Rn. 58.
12Aus der Nichtbewertung der Schriftlichen Arbeiten ergibt sich danach, wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausführt, kein Anhaltspunkt für eine Voreingenommenheit der Prüfer (S. 5 f. des Urteils). Führt bereits die Bewertung der Unterrichtspraktischen Prüfungen nach § 34 Abs. 2 Nr. 2 der Ordnung des Vorbereitungsdienstes und der Staatsprüfung für Lehrämter an Schulen (Ordnung des Vorbereitungsdienstes und der Staatsprüfung – OVP NRW) vom 10. April 2011 zum Nichtbestehen der Staatsprüfung, ist die gemäß § 32 Abs. 9 Satz 1 i. V. m. § 34 Abs. 1 Nrn. 3 und 5 OVP NRW gesonderte Bewertung der Schriftlichen Arbeiten ohne Ergebnisrelevanz. Da es auch keine Verpflichtung des Prüfungsausschusses gibt, die Schriftlichen Arbeiten bereits vor Beginn oder Abschluss der Bewertung der Unterrichtspraktischen Prüfungen zu bewerten, lässt sich aus einer Unterlassung der Bewertung der Schriftlichen Arbeiten nicht eine Vorabfestlegung der Prüfer auf ein negatives Ergebnis für die Unterrichtspraktischen Prüfungen selbst ableiten.
13Ein tragfähiger Anhaltspunkt für eine Voreingenommenheit der Prüfer lässt sich mit dem Verwaltungsgericht auch nicht daraus folgern, dass die Klägerin am Ende des nach § 32 Abs. 7 OVP NRW vor Bewertung der Unterrichtspraktischen Prüfung zu führenden Reflexionsgesprächs nicht nach dem Thema des nach § 33 OVP NRW das Prüfungsverfahrens abschließenden Kolloquiums gefragt worden sein soll. Die hiergegen erhobenen Einwände der Klägerin bleiben ohne Erfolg. Zunächst liegt kein Widerspruch darin, dass das Prüfungsamt im Klageverfahren vorgetragen hat, das Fehlen der Frage nach dem Kolloquium könne – entgegen der insoweit anderslautenden Stellungnahme des Prüfungsausschusses im Widerspruchsverfahren vom 6. Oktober 2017 – als wahr unterstellt werden, ohne dass sich am Ergebnis etwas ändere. Damit ist kein widersprüchlicher Sachverhalt vorgebracht, sondern allein eine rechtliche Bewertung der Relevanz hypothetischer Sachverhaltsvarianten. Entsprechend hat das Verwaltungsgericht festgestellt, „auch aus einer unterbliebenen Nachfrage“ lasse sich keine Voreingenommenheit ableiten, denn eine solche Nachfragepflicht des Prüfungsausschusses gebe es nicht (S. 6 f. des Urteils). Dass entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts eine solche Pflicht des Prüfungsausschusses bestehen sollte, das Thema des Kolloquiums zu erfragen oder jedenfalls zu erfragen, ob der Prüfling mit einer – den üblichen Gegenstand des Kolloquiums bildenden – Handlungssituation der eigenen pädagogischen Praxis beginnen möchte, legt das Zulassungsvorbringen nicht überzeugend dar. Daran ändert die von der Klägerin vertretene Anlegung einer „natürlichen Betrachtungsweise“ nichts. Mit der vom Verwaltungsgericht betonten fehlenden Normierung einer solchen Pflicht in den prüfungsrechtlichen Bestimmungen setzt sich die Klägerin nicht auseinander. Dass eine solche vorsorgliche Nachfrage des Prüfungsausschusses ständige Praxis der Staatsprüfung sei, ergibt sich unabhängig davon, welche rechtlichen Folgen die Klägerin hieraus ziehen könnte, aus dem Zulassungsvorbringen ebenfalls nicht.
14Soweit die Klägerin in ihrem Zulassungsvorbringen schließlich ihren früheren Einwand aus dem Klageverfahren wiedergibt, der Prüfungsvorsitzende habe ihr gegenüber bereits vor der Beratung zum Ausdruck gebracht, dass sie die Prüfung nicht bestanden habe, verhält sie sich dazu in ihrer konkreten Zulassungsantragsbegründung nicht weiter. Die Würdigung des Verwaltungsgerichts, aus der fehlenden Nachfrage zum Thema des Kolloquiums lasse sich dies nicht ableiten und einen anderen Geschehensablauf habe die Klägerin jedenfalls nicht substantiiert dargelegt (S. 7 des Urteils), wird damit nicht in Frage gestellt.
152. Die Klägerin beruft sich ferner ohne Erfolg auf eine mangelnde Begründung der Bewertung der Unterrichtspraktischen Prüfung im Fach Englisch. Zwar genüge die gefertigte Niederschrift über die Unterrichtspraktische Prüfung den rechtlichen Anforderungen der OVP NRW. Ebenfalls sei dem Verwaltungsgericht zuzustimmen, dass es dem Prüfling obliege, von der Prüfungskommission eine ausführliche und nachvollziehbare Begründung zu verlangen, die es ihm ermögliche, ihr substantiiert entgegenzutreten. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts habe die Klägerin dies im Verlauf des Verfahrens auch getan. Es sei unzutreffend, wenn das Verwaltungsgericht feststelle, ein solches Verlangen einer über die bloße Niederschrift des § 32 Abs. 10 OVP NRW hinausgehenden Begründung habe die Klägerin nicht formuliert.
16Hiermit sind ernstliche Zweifel an der Feststellung des Verwaltungsgerichts, die Klägerin habe an die Prüfungskommission kein substantiiertes Verlangen nach einer spezifizierten Erläuterung einzelner der in der Prüfungsniederschrift festgehaltenen Begründungserwägungen gerichtet (S. 8 f. des Urteils), nicht dargetan. In ihrer Widerspruchsbegründung hat die Klägerin geltend gemacht, sie könne die Notenbegründung der Niederschrift vom 26. April 2017 nicht entziffern. Die daraufhin seitens des betroffenen Mitglieds des Prüfungsausschusses gefertigte maschinenschriftliche Abschrift hat das Prüfungsamt der Klägerin mit Schreiben vom 17. Juli 2017 mit der Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 28. Juli 2017 übersandt. Eine entsprechende Stellungnahme der Klägerin ist bis zum Ergehen des Widerspruchsbescheids vom 18. Oktober 2017 nicht ersichtlich. Im Rahmen ihrer Klagebegründung vom 28. Februar 2018 hat die Klägerin dann geltend gemacht, es fehle „im Rahmen der Stellungnahme im Widerspruchsverfahren an jeglicher weitergehender Begründung der Bewertung im Fach Englisch“ (S. 4 der Klagebegründung). Damit ist schon nicht vorgebracht, dass sie eine über die Anforderung einer lesbaren Abschrift der Niederschrift selbst hinausgehende Begründung oder Erläuterung der Begründung verlangt hätte. Denn die Klägerin stellt selbst nur darauf ab, dass es an der Begründung fehle, „obwohl die Prüfungskommission seitens des Beklagten ausdrücklich darum gebeten worden ist, möglichst differenzierte Aussagen zur Begründung der Leistungsbewertungen zu machen und damit die in der Niederschrift angelegten Bewertungsbegründungen zu erläutern und zu vertiefen.“ Die im angefochtenen Urteil getroffene tatsächliche Feststellung eines fehlenden Begründungsverlangens der Klägerin gegenüber dem Prüfungsausschuss ist damit nicht in Frage gestellt.
17Soweit die Klägerin wie bereits im Klageverfahren die Auffassung vertritt, das Prüfungsamt sei selbst davon ausgegangen, die Bewertungsbegründungen in den Niederschriften über die Unterrichtspraktischen Prüfungen für beide Fächer seien noch nicht ausreichend und müssten weiter substantiiert werden, trifft dies nicht zu. In seinem Schreiben an den Vorsitzenden des Prüfungsausschusses vom 14. September 2017 hat das Prüfungsamt den Prüfern lediglich unter Verwendung von Standardformulierungen Gelegenheit gegeben, im Rahmen des den Prüfern zustehenden Beurteilungsspielraums eigene Erwägungen darüber anzustellen, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang die vorliegenden Bewertungsbegründungen vor dem Hintergrund des zuvor seitens des Prüfungsamts skizzierten rechtlichen Rahmens und in Kenntnis der Rügen des Prüflings einer Ergänzung oder Erläuterung bedürften. Damit ist offensichtlich nicht zum Ausdruck gebracht, dass das Prüfungsamt selbst nach rechtlicher Prüfung von Mängeln oder einer Ergänzungsbedürftigkeit der in der Niederschrift vom 26. April 2017 gegebenen Begründung ausgegangen ist. Dies hat der Beklagte bereits im Klageverfahren vorgebracht, die Klägerin hat dem nichts Überzeugendes entgegen gehalten.
18II. Die Rechtssache hat auch nicht die durch die Klägerin geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO.
19Die Klägerin hält für grundsätzlich bedeutsam die Fragen,
20„wie umfangreich eine Begründung einer Bewertung einer unterrichtspraktischen Prüfung sein muss, um im Rahmen der rechtlichen Überprüfung Bestand zu haben“,
21„und ob pauschal gehaltene Ausführungen, wie dass bestimmte Methoden nicht immer sinnvoll ausgewählt worden seien oder von den Schülerinnen und Schülern im Verlauf der Stunde nur eingeschränkt angemessene Ergebnisse erreicht worden seien, etc., die eine sinnvolle, substantielle fachliche Auseinandersetzung des Prüflings mit der Prüfungsentscheidung nicht ermöglichen, bereits ausreichend sind, um dem Transparenzgebot einer Berufungsbegründung (gemeint wohl: Prüfungsbegründung) zu genügen.“
22Grundsätzliche Bedeutung kommt einer Rechtssache nur zu, wenn sie eine bisher höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht beantwortete Rechtsfrage oder eine im Bereich der Tatsachenfeststellung bisher obergerichtlich nicht geklärte Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die sich in dem angestrebten Berufungsverfahren stellen würde und die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts berufungsgerichtlicher Klärung bedarf. Für die Darlegung dieser Voraussetzungen bedarf es neben der Formulierung einer Rechts- oder Tatsachenfrage, dass der Zulassungsantrag konkret auf die Klärungsbedürftigkeit und -fähigkeit der Rechts- oder Tatsachenfrage sowie ihre über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung eingeht.
23Vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 16. April 2020, a. a. O., Rn. 23, und Beschluss vom 18. Juni 2019, a. a. O., Rn. 33, jeweils m. w. N.; BVerwG, Beschlüsse vom 22. September 2020 - 1 B 39.20 ‑, juris, Rn. 3, und vom 2. Dezember 2019 - 2 B 21.19 ‑, juris, Rn. 4 m. w. N.; OVG NRW, Beschlüsse vom 14. Mai 2020 ‑ 19 A 1650/19.A ‑, juris, Rn. 16, und vom 13. Februar 2018 - 1 A 2517/16 ‑, juris, Rn. 32.
24Eine Rechtsfrage ist nicht schon klärungsbedürftig, wenn sie noch nicht Gegenstand einer höchstrichterlichen oder obergerichtlichen Entscheidung war. Nur wenn ihre Klärung gerade eine solche Entscheidung verlangt, muss ein Rechtsmittelverfahren in der Hauptsache durchgeführt werden. Um dies darzulegen, muss der Kläger aufzeigen, dass die Frage nicht schon anhand der üblichen Auslegungsregeln unter Berücksichtigung der bisherigen Rechtsprechung aus dem Gesetz zu beantworten ist.
25Vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 6. Juni 2018 ‑ 2 BvR 350/18 ‑, juris, Rn. 17 m. w. N.; BVerwG, Beschlüsse vom 22. September 2020, a. a. O., Rn. 3, vom 13. Mai 2020 - 8 B 69.19 ‑, juris, Rn. 5, und vom 18. Januar 2017 - 8 B 16.16 ‑, LKV 2017, 126, juris, Rn. 20.
26Nach diesen Maßstäben ist mit Blick auf die obigen Ausführungen (siehe I.2) ein Berufungsverfahren hinsichtlich der von der Klägerin aufgeworfenen Fragen mangels Klärungsbedürftigkeit nicht erforderlich. Denn auf den Umfang oder die Tiefe einer Bewertungsbegründung einer Unterrichtspraktischen Prüfung kam es auf der Grundlage der verwaltungsgerichtlichen Feststellungen zum fehlenden inhaltlichen Begründungsverlangen der Klägerin nicht an. Diese Fragen würden sich nur stellen, wenn sich aus dem angefochtenen Urteil ergäbe, dass die Klägerin überhaupt ein solches Substantiierungsverlangen vorgebracht hätte. Die Rechtsfrage muss aber selbst – so wie sie entschieden worden ist – von grundsätzlicher Bedeutung sein und nicht erst die Rechtsfrage, die sich stellen würde, wenn die Rechtssache anders entschieden worden wäre.
27Vgl. BVerwG, Beschluss vom 29. Juni 1992 - 3 B 102.91 ‑, Buchholz 418.04 Heilpraktiker Nr. 17, juris, Rn. 8; Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124 Rn. 152 m. w. N.
28Unabhängig davon sind die Anforderungen an eine verfassungsrechtlichen Vorgaben genügende Begründung von Unterrichtspraktischen Prüfungen in der Rechtsprechung des beschließenden Senats geklärt, ohne dass der Zulassungsantrag weitergehenden Klärungsbedarf aufzeigen würde.
29Vgl. zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben BVerwG, Urteil vom 10. April 2019 ‑ 6 C 19.18 ‑, NJW 2019, 2871, juris, Rn. 22 ff.; Beschlüsse vom 15. Juli 2010 ‑ 2 B 104.09 ‑, juris, Rn. 5, vom 8. November 2005 ‑ 6 B 45.05 ‑, NVwZ 2006, 478, juris, Rn. 6, und vom 20. Mai 1998 ‑ 6 B 50.97 ‑, NJW 1998, 3657, juris, Rn. 11, Urteil vom 6. September 1995 ‑ 6 C 18.93 ‑, BVerwGE 99, 185, juris, Rn. 18 ff.
30Danach müssen dem Prüfling die wesentlichen Gründe bekannt gegeben werden, mit denen der Prüfer zu einer bestimmten Bewertung der schriftlichen und mündlichen Prüfungsleistungen gelangt ist. Diesem Grundrechtsschutz des Prüflings trägt grundsätzlich § 32 Abs. 10 OVP NRW für Unterrichtspraktische Prüfungen im Rahmen der Staatsprüfung für ein Lehramt Rechnung, der verlangt, dass über jede Unterrichtspraktische Prüfung von einem Mitglied des Prüfungsausschusses eine Niederschrift anzufertigen ist, die nicht nur Angaben über das Thema, den Prüfungsverlauf und die festgelegte Note, sondern auch die wesentlichen Begründungen dafür enthält, ob und in welchem Maße der Prüfling die Ziele des Vorbereitungsdienstes gemäß § 1 OVP NRW erreicht hat. Weitere Vorgaben über Inhalt und Umfang der Begründung macht die OVP NRW nicht. In einem solchen Fall muss sich die Verwaltungspraxis hinsichtlich des Inhalts und Umfangs der Begründung daran orientieren, dass nach den Umständen des Einzelfalles dem Grundrechtsschutz des Prüflings Rechnung getragen wird, soweit dies unter Ausschöpfung aller Möglichkeiten den Prüfern zumutbar ist. Inhaltlich setzt eine Begründung voraus, dass der Prüfling, um wirksam Rechtsschutz erlangen zu können, diejenigen Informationen erhält, die er benötigt, um feststellen zu können, ob die rechtlichen Vorgaben und Grenzen der Prüfung, insbesondere der Leistungsbeurteilung eingehalten worden sind. Die Begründung muss ihrem Inhalt nach daher so beschaffen sein, dass der Prüfling die die Bewertung tragenden Gründe der Prüfer in den Grundzügen nachvollziehen kann, d. h. die Kriterien erfährt, die für die Benotung maßgeblich waren, und verstehen kann, wie die Anwendung dieser Kriterien in wesentlichen Punkten zu dem Bewertungsergebnis geführt hat. Es muss zwar nicht in allen Einzelheiten, aber doch in den für das Ergebnis ausschlaggebenden Punkten erkennbar sein, welchen Sachverhalt sowie welche allgemeinen und besonderen Bewertungsmaßstäbe der Prüfer zugrunde gelegt hat und auf welchen wissenschaftlich-fachlichen Annahmen des Prüfers die Bewertung beruht. Dies schließt nicht aus, dass die Begründung nur kurz ausfällt, vorausgesetzt, die dargestellten Kriterien für ein mögliches Nachvollziehen der grundlegenden Gedankengänge der Prüfer sind erfüllt.
31Vgl. BVerwG, Urteil vom 10. April 2019, a. a. O., Rn. 23; Beschluss vom 8. März 2012 ‑ 6 B 36.11 ‑, NJW 2012, 2054, juris, Rn. 8 m. w. N.; OVG NRW, Beschluss vom 29. April 2020 - 19 A 110/19 ‑, juris, Rn. 14 ff.
32Auf ein entsprechend spezifiziertes Begründungsverlangen ist die Begründung gegebenenfalls zu konkretisieren. Erst durch eine diesen Maßstäben genügende Begründung wird der Prüfling in den Stand gesetzt, Einwände gegen die Bewertung wirksam vorzubringen und unberechtigte Eingriffe in sein Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG abzuwehren, damit der Prüfling ein Überdenken der fachlichen Einschätzungen und Wertungen der Prüfer veranlassen kann. Hierbei ist allerdings den Besonderheiten einer mündlichen Prüfung angemessen Rechnung zu tragen. Dazu gehört es, den Aufwand, der für die Prüfer mit jeglicher Begründung ihrer Bewertung von Prüfungsleistungen verbunden ist, auf dasjenige Maß zu beschränken, das nach den im Einzelfall gegebenen Umständen notwendig, d. h. vor allem für das wirksame Erheben von Einwänden gegen die Bewertung erforderlich ist.
33Vgl. BVerwG, Urteil vom 10. April 2019, a. a. O., Rn. 24; OVG NRW, Beschluss vom 29. April 2020, a. a. O., Rn. 16.
34Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
35Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 40, § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG i. V. m. Nr. 36.2 des Streitwertkatalogs 2013 für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
36Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 66 Abs. 3 Satz 3, § 68 Abs. 1 Satz 5 GKG).
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Tenor
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen die Wiederherstellung bzw. Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Ordnungsverfügung und den Gebührenbescheid vom 22. Oktober 2019 durch den Beschluss des Verwaltungsgerichts Köln vom 2. Dezember 2019 wird zurückgewiesen.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert wird – zugleich unter Abänderung der erstinstanzlichen Streitwertfestsetzung – für beide Rechtszüge auf 2.540,58 Euro festgesetzt.
1Gründe
2Die Beschwerde gegen die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat keinen Erfolg. Die gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO auf die dargelegten Gründe beschränkte Überprüfung der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes führt zu keinem für den Antragsgegner günstigeren Ergebnis.
3Der Antragsgegner wendet sich mit seiner Beschwerde im Wesentlichen gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Gutachtenanordnung vom 25. Juni 2019 erweise sich aufgrund des darin enthaltenen Zusatzes bzw. Hinweises,
4„Ich weise darauf hin, dass erfahrungsgemäß seitens der Untersuchungsstelle ein Drogenabstinenznachweis über mindestens sechs Monate verlangt wird.“,
5als rechtswidrig, da eine sechsmonatige Abstinenz nach den Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung in Fällen des gelegentlichen Konsums von Cannabis im Entziehungsverfahren grundsätzlich nicht gefordert werden dürfe. Aus der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ergebe sich, dass ein Abstinenzzeitraum zudem nach Ziff. 9.5 der Anlage 4 zur FeV dann gefordert werden könne, wenn die Frage der Wiedererlangung der Fahreignung streitgegenständlich sei und nicht – wie hier – die Frage des Verlustes derselben.
6Soweit der Antragsgegner hiergegen einwendet, dass sich aus der unmittelbaren Fragestellung,
7„Kann der zu Untersuchende trotz der Hinweise auf gelegentlichen Cannabiskonsum sowie der bekannten Verkehrsteilnahme unter Cannabis ein Kraftfahrzeug der Gruppe 1 sicher führen? Ist insbesondere nicht zu erwarten, dass er auch künftig ein Kraftfahrzeug unter Einfluss von Betäubungsmitteln oder deren Nachwirkungen führen wird (Fähigkeit zum Trennen von Konsum und Verkehrsteilnahme)?“,
8keine Forderung eines sechsmonatigen Abstinenznachweises ergebe, führt dies nicht zum Erfolg der Beschwerde. Zwar ergibt sich aus der Formulierung der Gutachtenfrage selbst keine derartige Forderung (des Antragsgegners) nach Einhaltung eines sechsmonatigen Abstinenzzeitraums. Allerdings kommt es vorliegend nicht allein auf die unmittelbare Formulierung der Gutachtenfrage an, sondern auf den gesamten Inhalt der Gutachtenanordnung einschließlich ihrer Begründung.
9Da eine Gutachtenanordnung nicht selbständig anfechtbar ist, sondern nur im Rahmen eines Rechtsbehelfsverfahrens gegen eine daran anknüpfende Fahrerlaubnisentziehung oder sonstige in Rechte des Betroffenen eingreifende Maßnahmen der Fahrerlaubnisbehörde - wie hier die Entziehung der Fahrerlaubnis - inzident auf ihre Rechtmäßigkeit überprüft werden kann, ist es ein Gebot effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG), auch insoweit strenge Anforderungen zu stellen. Die Begutachtungsanordnung muss im Wesentlichen aus sich heraus verständlich sein. Für den Betroffenen muss ausgehend von der für die jeweilige Fallgestaltung in Betracht kommenden Befugnisnorm in der Fahrerlaubnis-Verordnung erkennbar sein, was der Anlass für die angeordnete Untersuchung ist und ob die in ihr verlautbarten Gründe die behördlichen Bedenken an der Kraftfahreignung zu rechtfertigen vermögen. Denn nur auf der Grundlage dieser Information kann er sachgerecht einschätzen, ob er sich trotz der mit einer Untersuchung verbundenen Beeinträchtigung seines Persönlichkeitsrechts und der Kostenbelastung der Begutachtung stellen oder ob er die mit der Verweigerung der Begutachtung verbundenen Risiken eingehen möchte.
10Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 7. Februar 2013
11- 16 E 1257/12 -, juris, Rn. 4 f. m. w. N.
12Diese Anforderungen erfüllt die Gutachtenanordnung aufgrund des o. g. Zusatzes nicht. Der Antragsteller durfte bzw. musste bei verständiger Würdigung der Anordnung einschließlich ihrer Begründung wegen der Formulierung des Hinweises (" … erfahrungsgemäß …") davon ausgehen, dass die Erstellung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens vor Ablauf einer sechsmonatigen Abstinenz regelmäßig nicht in Betracht kommt. Dass diese Annahme jedoch unzutreffend ist, hat das Verwaltungsgericht – von dem Antragsgegner unbestritten – zutreffend dargelegt. Insoweit kann der Antragsgegner auch nicht mit Erfolg einwenden, er habe den Antragsteller nur aus Gründen der Bürgerfreundlichkeit darauf vorbereiten wollen, dass die Begutachtungsstelle je nach dem jeweiligen Konsumverhalten einen Abstinenznachweis verlangen könnte. Zwar ist zutreffend, dass nach den Begutachtungsleitlinien in bestimmten Fallgestaltungen ein solcher Abstinenznachweis auch bei gelegentlichem Cannabiskonsum sachgerecht gefordert werden kann.
13Vgl. Schubert/Huetten/Reimann/Graw, Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung, Kommentar, 3. Aufl. 2018, S. 438.
14Jedoch lässt sich hieraus nicht ableiten, dass dieser regelmäßig gefordert werden darf. Soweit im Einzelfall einige Begutachtungsstellen – entgegen den Begutachtungsleitlinien und der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum einzuhaltenden Abstinenzzeitraum vor einer Wiedererteilung der Fahrerlaubnis – generell derartige Abstinenznachweise anfordern, kann dies nicht zulasten des Antragstellers gehen.
15Zwar hat der Antragsgegner mit Schreiben vom 24. September 2019 klargestellt, dass nicht in jedem Fall ein Abstinenznachweis erforderlich sei und hat insoweit auf Hypothesen und Prüfkriterien der Begutachtungsleitlinien verwiesen. Eine Verlängerung der Beibringungsfrist dahingehend, dass dem Antragsteller nach dieser Klarstellung noch der (ursprünglich festgesetzte) Zeitraum von drei Monaten zur Vorlage des angeordneten Gutachtens verblieben wäre, hat der Antragsgegner jedoch nicht gewährt.
16Die Beschwerde gegen die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage des Antragstellers gegen den Gebührenbescheid vom 22. Oktober 2019 ist aus den o. g. Gründen ebenfalls unbegründet, zumal sich der Antragsgegner nicht i. S. v. § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO mit den diesbezüglichen Ausführungen im angefochtenen Beschluss auseinandersetzt.
17Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung und -änderung auf § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 1 bis 3, § 53 Abs. 2 Nr. 2 sowie § 63 Abs. 3 GKG. Zu dem für die Entziehung der Fahrerlaubnis anzusetzenden Betrag von 2.500 Euro kommt ein Viertel der festgesetzten Kosten in Höhe von 162,32 Euro hinzu (vgl. Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013).
18Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Tenor
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Osnabrück - 6. Kammer - vom 9. Oktober 2020 wird zurückgewiesen.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 10.000 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
1
Der Antragsteller wendet sich gegen einen Internetbeitrag auf der Homepage des AStA der Universität A-Stadt, der sich kritisch mit seiner Haltung zur Corona-Pandemie auseinandersetzt.
2
Der Antragsteller ist Leiter des G. der Universität und der Hochschule A-Stadt. Als Privatperson engagiert er sich für die Bürgerbewegung A-Stadt, die nach eigener Darstellung „ein Zusammenschluss von Bürger*innen mit eigener Meinung ohne partei-politische Zugehörigkeit“ darstellt und die unter anderem die sofortige Beendigung aller Corona-Maßnahmen fordert. Auf Versammlungen der Bürgerbewegung trat der Antragsteller als Redner auf; zudem postete er zahlreiche Beiträge in der Telegram-Gruppe der Bürgerbewegung, die sich kritisch u.a. mit den Themen Masken, Impfen, 5G-Strahlung sowie dem Nachweis und der Gefährlichkeit des Sars-CoV2-Virus auseinandersetzen. Der Antragsteller nahm auch an der Demonstration am 1. August 2020 in Berlin unter dem Motto „Das Ende der Pandemie - Tag der Freiheit“ teil. In diesem Zusammenhang trat er am selben Tag unter Nennung seines Arbeitgebers als Gast in einer auf Youtube verbreiteten Talkshow auf.
3
Diese Aktivitäten nahm der Allgemeine Studierendenausschuss der Universität A-Stadt für die Studierendenschaft, die Antragsgegnerin zu 1., am 1. September 2020 zum Anlass, einen kritischen Internetbeitrag über den Antragsteller auf seiner Homepage zu veröffentlichen. In dem mit „Corona Leugner & Verschwörungsideologien an Universität und Hochschule“ überschriebenen Beitrag, der weiterhin öffentlich zugänglich ist, heißt es nach Darstellung des Sachverhalts unter anderem:
4
„Ein Mensch, der laut eigener, in der Telegram-Gruppe der Bürgerbewegung getroffener Aussagen, mit der AfD sympathisiert und somit eine völkisch nationalistische Partei unterstützt - angeblich natürlich nur aufgrund zufälliger Gemeinsamkeiten bei der gewählten Verschwörungstheorie - hat in einem Wissenschaftsbetrieb nichts verloren. Eine Person, die wissenschaftsfeindlich eingestellt ist und sich öffentlich gegen jegliche Erkenntnisse der Wissenschaft zur bestehenden Pandemie ausspricht und deren Gefahr leugnet; jemand, der zusammen mit Esoteriker*innen, rechtsextremen und antisemitischen Personen und Holocaustleugner*innen durch Berlin und A-Stadt zieht, gehört weder an eine Universität noch an eine Hochschule. Jemand, der offensichtlich antisemitisches, rechtes und verschwörungsideologisches Gedankengut verbreitet oder zumindest akzeptiert, kann keineswegs die Fähigkeiten besitzen, die für eine Vermittlung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft notwendig sind.“
5
Diese Aussage nahm der Antragsteller zum Anlass, den Antragsgegner zu 1. und den Antragsgegner zu 2., den Finanzreferenten des AStA, mit Anwaltsschreiben vom 10. September 2020 zur Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungs- und Verpflichtungserklärung aufzufordern. Die Antragsgegner wiesen dieses Ansinnen zurück.
6
Am 18. September 2020 hat der Antragsteller vor dem Verwaltungsgericht einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt mit dem Ziel, den Antragsgegnern zu verbieten, folgende Aussagen zu wiederholen:
7
1. „Ein Mensch, der laut eigener, in der Telegram-Gruppe der Bürgerbewegung getroffener Aussage mit der AfD sympathisiert und somit eine völkisch nationale Partei unterstützt…“,
8
2. „Jemand, der zusammen mit Esoteriker*innen, rechtsextremen und antisemitischen Personen und Holocaustleugner*innen durch Berlin und A-Stadt zieht…“,
9
3. „Jemand, der offensichtlich antisemitisches, rechtes und verschwörungsideologisches Gedankengut verbreitet oder zumindest akzeptiert…“.
10
Die Antragsgegner traten dem entgegen, änderten unter dem 21. September 2020 aber den ersten Satz des Beitrags wie folgt ab:
11
„Ein Mensch, der laut eigener, in der Telegram-Gruppe der Bürgerbewegung getroffener Aussagen, mit Positionen der AfD sympathisiert und der Meinung ist, die AfD sei "die einzige deutsche Partei" die das tue, was er "als absolute Pflicht empfinde" und mit den Worten "Danke AFD" schließt, sich damit bei einer völkisch nationalistische Partei bedankt - angeblich natürlich nur aufgrund zufälliger Gemeinsamkeiten bei der gewählten Verschwörungstheorie - hat in einem Wissenschaftsbetrieb nichts verloren.“
12
Das Verwaltungsgericht hat den Antrag mit dem angegriffenen Beschluss vom 9. Oktober 2020 abgelehnt. Es fehle jedenfalls an einem Anordnungsanspruch - hier in Gestalt eines öffentlich-rechtlichen Unterlassungsanspruchs -, weil eine rechtswidrige Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Antragstellers nicht vorliege. Die Antragsgegner hätten weder unwahre Tatsachen behauptet, noch Werturteile getätigt, sie sich als unzulässige Formalbeleidigung oder Schmähkritik darstellten. Insofern seien die Äußerungen von dem Antragsteller hinzunehmen. Datenschutzrechtliche Bestimmungen stellten ebenfalls keine Grundlage für den Anspruch dar. Dagegen wendet sich der Antragsteller mit der Beschwerde.
II.
13
Die zulässige Beschwerde hat keinen Erfolg.
14
Die dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigen keine Änderung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung. Die tragenden Gründe der Entscheidung, insbesondere die Annahme, dass es an dem gemäß § 123 Abs. 1 VwGO erforderlichen Anordnungsanspruch fehle, zieht die Beschwerde nicht wirksam in Zweifel.
15
1. Ob die aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG abgeleiteten rechtlichen Grundsätze, nach denen das Verwaltungsgericht in Anlehnung an eine Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen (Urt. v. 23.4.1999 - 21 A 490/97 -, juris Rn. 19) zwischen zulässigen und unzulässigen Äußerungen der nach § 20 Abs. 1 Satz 4 bis 6 NHG in hochschulpolitischen Angelegenheiten äußerungsbefugten Antragsgegner unterscheidet, zutreffen, lässt der Senat aus zwei selbstständig tragenden Gründen offen. Erstens hat der Antragsteller diese Grundsätze mit seinem nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO allein maßgeblichen Beschwerdevorbringen nicht angegriffen. Zweitens erweisen sich die angegriffenen Äußerungen der Antragsgegnerin zu 1. auch bei Anwendung eines strengeren Maßstabs, nach dem sich eine amtliche Äußerung erstens im Kompetenzbereich des sich Äußernden halten muss und zweitens dem Sachlichkeitsgebot unterliegt (vgl. BVerwG, Beschl. v. 11.11.2010 - 7 B 54.10 -, juris Rn. 14; Urt. v. 13.9.2017 - 10 C 6.16 -, juris Rn. 16 ff.), als zulässig.
16
2. Der Antragsteller meint zunächst, bei der ersten Äußerung („Ein Mensch, der laut eigener, in der Telegram-Gruppe der Bürgerbewegung getroffener Aussage, mit der AfD sympathisiert und somit eine völkisch nationale Partei unterstützt…“) handele es sich entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht um eine Meinungsäußerung, sondern um eine unwahre Tatsachenbehauptung. Das trifft - ungeachtet der Tatsache, dass ein Unterlassungsanspruch in Bezug auf die ursprüngliche Aussage nach der nunmehr wesentlich deutlicheren Differenzierung durch die Antragsgegner schon mangels fortdauernder Verletzungshandlung nicht besteht - nicht zu. Wie das Verwaltungsgericht überzeugend dargelegt hat, liegt in der Aussage, der Antragsteller sympathisiere mit der AfD und unterstütze somit eine völkisch nationale Partei, eine wertende Stellungnahme. Deren Tatsachenkern - die von dem Antragsteller in einer Telegram-Gruppe geäußerte und mit den Worten „In diesem Fall: Danke AfD“ schließende Unterstützung für die Position dieser Partei zur Maskenpflicht an Schulen - trifft nachweislich zu. Daraus leitet die Antragsgegnerin zu 1. in wertender Betrachtung ab, der Antragsteller sympathisiere mit der AfD, zeige also Zuneigung bzw. Unterstützung für diese Partei. Diffamierend, herabsetzend oder den Tatsachenkern nicht mehr sachgerecht und vertretbar würdigend (vgl. BVerwG, Beschl. v. 11.11.2010 - 7 B 54.10 -, juris Rn. 14) ist dies nicht. Soweit der Antragsteller dem entgegenhält, mit den Worten „In diesem Fall“ habe er sich im Übrigen gerade von den politischen Inhalten der AfD distanziert, ist diese Schlussfolgerung keineswegs zwingend. Im Gegenteil führt bereits die Tatsache, dass der Antragsteller nicht bloß die Position, die Maskenpflicht in Schulen sei abzulehnen, sondern zugleich die Haltung der AfD dazu betont und die Partei namentlich und belobigend erwähnt, dazu, dass die Wertung der Antragsgegner vertretbar erscheint. Schon nicht ausreichend dargelegt im Sinne des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO sind Bedenken im Hinblick auf die Bewertung der Antragsgegner, die AfD sei völkisch national orientiert.
17
3. Ohne Erfolg wendet sich der Antragsteller gegen die Feststellung des Verwaltungsgerichts, bei der zweiten Aussage („Jemand, der zusammen mit Esoteriker*innen, rechtsextremen und antisemitischen Personen und Holocaustleugner*innen durch Berlin und A-Stadt zieht…“) handele es sich um eine zumindest ihrem Kern nach wahre Tatsachenbehauptung. Das Verwaltungsgericht hat ausführlich und unter Angabe konkreter Belege dargelegt, dass der Antragsteller bei Kundgebungen der Bürgerbewegung A-Stadt aufgetreten ist. Es hat weiter dargestellt, dass Mitglieder dieser Bewegung kruden Verschwörungstheorien - einer weitergehenden Definition dieses allgemein geläufigen und hinreichend inhaltsklaren Begriffs bedurfte es entgegen der Auffassung des Antragstellers nicht - anhängen und diese im Internet verbreiten. Zudem hat das Gericht auf die Teilnahme des Antragstellers an der Kundgebung in Berlin am 1. August 2020 hingewiesen und den Teilnehmerkreis dieser Veranstaltung näher beleuchtet. Vor diesem Hintergrund liegt der Einwand, das Verwaltungsgericht habe übersehen, dass die behauptete Tatsache erwiesenermaßen wahr sein müsse, neben der Sache. Das Verwaltungsgericht hat sich vielmehr im Rahmen seiner Amtsermittlungspflicht überzeugend vom Wahrgehalt des Tatsachenkerns überzeugt; diesen Ausführungen tritt der Senat gemäß § 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO zur Vermeidung von Wiederholungen bei.
18
Ohne Erfolg wendet der Antragsteller ein, in der Telegram-Gruppe der Bürgerbewegung würden auch Informationen geteilt, die keinen verschwörungstheoretischen Charakter aufwiesen. Das mag zutreffen, ändert aber nichts daran, dass dort - die von den Antragsgegnern vorgelegte DVD liefert eine Vielzahl ergänzender Belege - in erheblichem Umfang Verschwörungstheorien bzw. als „esoterisch“ zu bezeichnenden Positionen angehangen wird. Die Telegram-Beiträge des Antragstellers zur „Verursachung von Corona“ durch 5G-Strahlung (weitergeleiteter Post vom 23.7.2020) und zu als Corona-Test-Abstrich getarnten Impfstoffen (weitergeleiteter Post vom 25.7.2020) sprechen insofern für sich. Dass alle Mitglieder der Bürgerbewegung derartige Positionen teilen, haben die Antragsgegner nicht behauptet.
19
Neben der Sache liegen die abstrakten Überlegungen des Antragstellers zu der rechtlichen Bedeutung des „Teilens“ von Informationen Dritter. Für die Bewertung des Verwaltungsgerichts maßgeblich war die Tatsache, dass in der Telegram-Gruppe der Bürgerbewegung verschwörungstheoretisches Gedankengut breiten Raum einnimmt. Dass dies in distanzierender Weise geschehen könnte, ist weder dargetan noch ersichtlich.
20
Dass Mitglieder der Telegram-Gruppe der Bürgerbewegung, die als Veranstalter aufgetreten und zu den Demonstrationen in A-Stadt aufgerufen hat, an den Demonstrationen teilgenommen haben, liegt in einer Weise auf der Hand, die nähere Ausführungen des Verwaltungsgerichts dazu entbehrlich macht. Auch der Antragsteller legt im Übrigen nicht in einer § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO genügenden Weise dar, dass dies anders gewesen sein könnte.
21
Hinsichtlich der Demonstration in Berlin am 1. August 2020 belegt der vom Verwaltungsgericht zitierte Beitrag auf der Internetseite der ARD (https://www.tagesschau.de/inland/corona-demo-polizei-101.html, letzter Abruf am 5.11.2020) anschaulich, dass dort Rechtsextremisten mitmarschiert sind. Das Mitführen von Reichskriegsflaggen und das Tragen von T-Shirts mit einschlägigen Aufdrucken lässt zwanglos auf eine rechtsextremistische Gesinnung schließen, die regelmäßig mit einer Leugnung des Holocausts und antisemitischen Einstellungen einhergeht. Ob der Antragsteller dies bemerkt hat, ist unerheblich; das Verwaltungsgericht hat zu Recht ausgeführt, dass die Antragsgegner eine dahingehende Behauptung nicht erhoben haben.
22
Vertretbar ist die mit der Äußerung der Antragsgegner wohl verbundene und von ihnen nach ihrem Vortrag im Beschwerdeverfahren auch so verstandene Wertung, man trage eine Verantwortung dafür, in wessen Gesellschaft man sich begebe. Bereits vor der Demonstration in Berlin gab es eine breite Diskussion darüber, dass die Proteste gegen die coronabedingten Freiheitsbeschränkungen von Rechtsextremisten begleitet, unterstützt und möglicherweise auch instrumentalisiert werden. In einem demokratischen Rechtsstaat muss dies niemanden hindern, eine solche Demonstration gleichwohl zu besuchen. Zugleich aber kann niemand beanspruchen, dass dies nicht von Dritten öffentlich thematisiert wird.
23
4. Die Angriffe auf die Einstufung der dritten Äußerung („Jemand, der offensichtlich antisemitisches, rechtes und verschwörungsideologisches Gedankengut verbreitet oder zumindest akzeptiert…“) als Wertung, die sich auf einen Tatsachenkern stützt, gehen ebenfalls fehl. Das Verwaltungsgericht hat darauf verwiesen, dass der Antragsteller in der Telegram-Gruppe für eine „Express-Zeitung“ geworben habe, deren Aufmacher mit den Worten „Corona-Hysterie ohne Beweise“ überschrieben ist. Ferner hat das Gericht auf das Teilen eines Beitrags zu den Auswirkungen von 5G-Strahlung Bezug genommen, der Verschwörungsmythen der QAnon-Bewegung aufgreift. Dass der Antragsteller diese Inhalte verbreitet, also Dritte darauf aufmerksam gemacht hat, ist eine offenkundige Tatsache. Anders kann man die Wiedergabe und Verlinkung der Beiträge in eigenen Posts nicht charakterisieren.
24
Auf dieser Grundlage - so das Verwaltungsgericht - beruhe die Wertung der Antragsgegner, der Antragsteller habe diese Aussagen zumindest akzeptiert. Der Antragsteller setzt dem entgegen, dieser Schluss sei unzulässig, weil er keine dahingehende Bemerkung getätigt habe. Im Hinblick auf die „Express-Zeitung“ trifft das offensichtlich nicht zu; der Antragsteller hat für die Zeitung mit den Worten: „Unbedingt anschauen und verbreiten!“ geworben und damit eine positive Haltung zum Ausdruck gebracht. Im Übrigen belegt bereits die Auswahl der verbreiteten Beiträge, dass der Antragsteller diese für relevant und lesenswert hält.
25
Soweit der Antragsteller weitergehend meint, das Verwaltungsgericht habe ihm eine antisemitische Haltung sowie eigene Postings mit rechten und verschwörungsideologischen Inhalten nachweisen müssen, trifft das nicht zu. Dahingehende Behauptungen haben die Antragsgegner nicht erhoben.
26
5. Die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, die beanstandeten Äußerungen seien aufgrund ihres Sachbezugs nicht als auf Diffamierung angelegte Schmähkritik zu werten, zieht der Antragsteller ebenfalls nicht wirksam in Zweifel. Es trifft dazu, dass Verschwörungstheoretiker, Rechtsextremisten, Holocaustleugner und Antisemiten in der Gesellschaft - wenngleich in unterschiedlichem Maße - Ächtung erfahren. Sachlich umso berechtigter ist es vor diesem Hintergrund, dass sich die Antragsgegnerin zu 1. aufgrund ihres aus § 20 Abs. 1 NHG folgenden Mandats kritisch damit auseinandersetzt, dass sich ein Mitarbeiter einer öffentlichen Hochschule, also einer wissenschaftlichen Institution, jedenfalls in einem Fall unter Hinweis auf seine Tätigkeit bewusst oder unbewusst in die Gesellschaft eines derartigen Personenkreises begibt und dessen Positionen verbreitet. Den Rahmen, den das Sachlichkeitsgebot setzt, überschreitet eine derartige kritische Äußerung ebenfalls nicht. Das Verhalten des Antragstellers ist ohne Zweifel von der Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG sowie der Versammlungsfreiheit des Art. 8 Abs. 1 GG gedeckt. Diese Grundrechte schützen ihn jedoch nicht davor, dass sein Verhalten von den studentischen Gremien kritisch betrachtet und öffentlich thematisiert wird. Wer die Öffentlichkeit mit kontroversen Positionen unter Bezugnahme auf die eigene Zugehörigkeit zu einer Hochschule sucht, muss sich seinerseits der Kritik der nach den gesetzlichen Regelungen dazu berufenen Hochschulgremien stellen.
27
6. Datenschutzrechtliche Vorschriften verhelfen der Beschwerde ebenfalls nicht zum Erfolg. Soweit sich der Antragsteller auf Art. 17 i.V. mit Art. 9 Abs. 1 der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO), der hier (nur) aufgrund von § 2 Nr. 2 lit. c) NDSG anwendbar ist, beruft, versäumt er entgegen § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO die substantiierte Darlegung, dass die Datenverarbeitung durch die Antragsgegner unrechtmäßig erfolgt sein könnte. Anlass hätte insbesondere dazu bestanden, sich näher mit Art. 9 Abs. 2 lit. e) DSGVO auseinanderzusetzen. Die Vorschrift nimmt die Verarbeitung personenbezogener Daten, die die betroffene Person offensichtlich öffentlich gemacht hat, von dem grundsätzlichen Verarbeitungsverbot des Art. 9 Abs. 1 DSGVO aus.
28
Ungeachtet der fehlenden Darlegung greift Art. 9 Abs. 2 lit. e) DSGVO zugunsten der Antragsgegner ein. Diese nutzen ausschließlich Informationen, die der Antragsteller in allgemein zugänglichen Quellen selbst verbreitet hat. Soweit der Antragsteller dazu lediglich ausführt, er habe sich selbst nicht bezichtigt, mit der AfD zu sympathisieren, sich mit Esoterikern, rechtsextremen und antisemitischen Personen oder gar Holocaustleugnern gemein zu machen oder offensichtlich antisemitisches, rechtes und verschwörungsideologisches Gedankengut zu verbreiten oder zumindest zu akzeptieren, greift das zu kurz. Die Datenschutzgrundverordnung regelt den Schutz personenbezogener Daten; sie schützt nicht daher, dass von der betroffenen Person selbst und aus freien Stücken öffentlich gemachte Daten öffentlich diskutiert und zum Anlass wertender Schlussfolgerungen genommen werden. Auf die Frage, ob zudem - wie die Antragsgegner vortragen - Art. 17 Abs. 3 lit. a DSGVO dem geltend gemachten Anspruch entgegensteht, kommt es angesichts dessen nicht an.
29
7. Soweit der Antragsteller schließlich „Verfahrensrüge“ erhebt und rügt, er habe von der von den Antragsgegnern als Bestandteil des Verwaltungsvorgangs übermittelten DVD vor der Entscheidung des Verwaltungsgerichts keine Kenntnis gehabt, kann offenbleiben, ob insofern ein Gehörsverstoß vorlag. Im Beschwerdeverfahren hat der Senat Akteneinsicht gewährt; der Antragsteller hatte damit Gelegenheit, zum Inhalt der DVD vorzutragen.
30
8. Auf die weiteren Fragen - namentlich das Vorliegen eines Anordnungsgrundes und die sehr fragliche Passivlegitimation des Antragstellers zu 2. - kommt es vor diesem Hintergrund nicht mehr an.
31
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
32
Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1 GKG; ebenso wie das Verwaltungsgericht folgt auch der Senat dem Vorschlag des Antragstellers, der der Bedeutung der Sache gerecht wird.
33
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 5.000 € festgesetzt.
Gründe
1
Der Antrag des Antragstellers,
2
die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs vom 28. April 2020 gegen die Versetzungsverfügung der Antragsgegnerin vom 7. April 2020 anzuordnen,
3
hat in der Sache keinen Erfolg.
4
Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der xxxx als Bevollmächtigter vor dem Verwaltungsgericht vertretungsbefugt ist. Gemäß § 67 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 VwGO sind u. a. Vereinigungen von Arbeitgebern für ihre Mitglieder als Bevollmächtigte vor dem Verwaltungsgericht vertretungsbefugt. In der obergerichtlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass es sich bei dem D. um eine solche Arbeitgebervereinigung handelt (VGH Mannheim, Beschluss vom 26. April 2016 - 4 S 64.16 -, juris, Rn. 2 bis 6; OVG Münster, Beschluss vom 27. April 2016 - 1 A 1923/14 -, juris, Rn. 20 bis 22). Der xxxx ist zwar aus dem internen Arbeitgeberverband des Konzerns xxxxx hervorgegangen; nach seiner Satzung ist der Wirkungskreis jedoch nicht auf den Konzern beschränkt, sondern die Mitgliedschaft kann von allen Unternehmen erworben werden, die in der Bundesrepublik Deutschland geschäftsmäßig Telekommunikations- und/oder IT-Leistungen erbringen, sowie von artverwandten Unternehmen, die Serviceleistungen für die vorgenannten Unternehmen erbringen (VGH Mannheim, Beschluss vom 26. April 2016, a. a. O., Rn. 3). Entsprechend hat der D. in der Vergangenheit in zahlreichen Verfahren die Antragsgegnerin vor dieser Kammer vertreten und ist die erneute Vorlage einer Vollmacht insoweit entbehrlich.
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I. Der Antrag ist als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO statthaft und auch im Übrigen zulässig. Das Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes richtet sich hier nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO, weil es sich bei der streitgegenständlichen Maßnahme um einen Verwaltungsakt, nämlich eine Versetzung, und nicht lediglich um eine nach § 123 Abs. 1 VwGO zu überprüfende Umsetzung handelt. Bei der Versetzung entfällt die aufschiebende Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Alt. 1 VwGO i. V. m. § 126 Abs. 4 Bundesbeamtengesetz (BBG) kraft Gesetzes. Gemäß § 2 Abs. 2 Satz 2 Postpersonalrechtsgesetz (PostPersRG) gilt § 126 Abs. 4 BBG auch für Versetzungen bei den Postnachfolgeunternehmen.
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II. Der Antrag ist allerdings unbegründet.
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Die aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs ist anzuordnen, wenn dieser - wie hier - keine aufschiebende Wirkung entfaltet und eine Interessenabwägung ergibt, dass das Aussetzungsinteresse des Antragstellers das Vollziehungsinteresse der Antragsgegnerin überwiegt (vgl. § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Im Rahmen dieser Abwägung finden vor allem die Erfolgsaussichten in der Hauptsache bei einer summarischen Prüfung Berücksichtigung. Ist der Verwaltungsakt, gegen den der Widerspruch gerichtet ist, offensichtlich rechtswidrig, so überwiegt in der Regel das Aussetzungsinteresse. Ist der Verwaltungsakt hingegen nicht offensichtlich rechtswidrig, überwiegt – auch im Hinblick auf die durch den Gesetzgeber in § 126 Abs. 4 BBG vorgenommene Wertung – in der Regel das Vollziehungsinteresse (vgl. VG Schleswig, Beschluss vom 23. August 2018 – 12 B 58/17 –, juris, Rn. 21, m.w.N.).
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Vorliegend erweist sich die Versetzung des Antragstellers durch die Antragsgegnerin bei der gebotenen summarischen Prüfung sowohl in formeller als auch in materieller Hinsicht als rechtmäßig.
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1. Die Versetzung ist formell nicht zu beanstanden.
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Die Betriebsräte des abgebenden sowie des aufnehmenden Unternehmens sind ordnungsgemäß beteiligt worden und die Einigungsstelle hat zugestimmt.
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Soweit der Antragsteller geltend macht, dass ihm Akteneinsicht nicht gewährt und der Verwaltungsvorgang nachträglich erstellt worden und daher zu besorgen sei, dass die streitgegenständliche Verfügung nicht auf einer hinreichenden Tatsachengrundlage beruhe, so vermag er hiermit nicht durchzudringen. Die für die Versetzungsentscheidung maßgeblichen Umstände sind im von der Antragsgegnerin übersendeten Verwaltungsvorgang dokumentiert und jedenfalls im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens hat der Antragsteller auch Einsicht in den Verwaltungsvorgang genommen.
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2. Die Versetzung ist bei der gebotenen summarischen Prüfung auch materiell rechtmäßig.
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Ermächtigungsgrundlage für den angefochtenen Bescheid ist der gemäß § 2 Abs. 2 PostPersRG auf die bei den Postnachfolgeunternehmen beschäftigten Beamten mangels anderer Bestimmungen anzuwendende § 28 Abs. 2 BBG. Danach ist eine Versetzung aus dienstlichen Gründen ohne Zustimmung des Beamten zulässig, wenn das andere Amt mit mindestens demselben Endgrundgehalt verbunden ist wie das bisherige Amt, und die Tätigkeit aufgrund der Vorbildung oder Berufsausbildung zumutbar ist. Diese Voraussetzungen sind gegeben.
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Entgegen der Auffassung des Antragstellers ist eine Versetzung zur xxx möglich. Die Kammer hat hierzu mit Beschluss vom 6. Februar 2019, Az. 12 B 78/18 ausgeführt:
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Eine Versetzung ist nach § 28 Abs. 1 BBG die auf Dauer angelegte Übertragung eines anderen Amtes bei einer anderen Dienststelle bei demselben oder einem anderen Dienstherrn. Dienstherr der Antragstellerin war und ist die Bundesrepublik Deutschland (vgl. § 1 Abs. 1 Satz 1 PostPersRG). „Amt“ im Sinne des § 28 Abs. 1 BBG ist das Amt im abstrakt-funktionellen Sinne (OVG Saarlouis, Beschluss vom 28. April 2017 – 1 B 358/16 –, juris, Rn. 4 f. m. w. N.). Ein abstrakt-funktionelles Amt erhält der Beamte durch Zuweisung an eine Behörde (vgl. nur Battis, in: Battis, BBG, 5. Aufl. 2017, § 10 Rn. 11).
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Bei Beamten der Postnachfolgeunternehmen treten an die Stelle von abstrakt-funktionellen und konkret-funktionellen Ämtern abstrakte und konkrete Aufgabenbereiche (BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 2. Mai 2016 – 2 BvR 1137/14 – juris, Rn. 27) und an die Stelle des Dienststellen- oder Behördenwechsels der Betriebswechsel (BVerwG, Beschluss vom 25. Januar 2012 – 6 P 25.10 –, juris, Rn. 18; Beschluss vom 15. November 2006 – 6 P 1/06 –, juris, Rn. 18; VG Schleswig, Urteil vom 1. November 2018 – 12 A 186/17 –, juris, Rn. 48).
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Ob eine Versetzung zu einer Organisationseinheit eines Postnachfolgeunternehmens möglich ist, hängt also von der Frage ab, ob es sich bei dieser Organisationseinheit um einen „Betrieb“ handelt. Auf die Frage, ob die jeweilige Organisationseinheit gemäß § 3 Abs. 1 PostPersRG in Verbindung mit der Anordnung zur Übertragung dieser Befugnis im Bereich der xxxx die Befugnisse einer Dienstbehörde wahrnimmt, kommt es deshalb – entgegen der Stellungnahmen der Bundesregierung bzw. des Bundesministeriums der Finanzen – nicht an (VG Schleswig, Urteil vom 1. November 2018 – 12 A 186/17 –, juris, Rn. 49; im Ergebnis ebenso VG Berlin, Beschluss vom 9. Mai 2018 – VG 5 L 122.18 –, juris, Rn. 15).
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Das Postpersonalrechtsgesetz enthält keine Legaldefinition des Begriffs „Betrieb“. Soweit es den Begriff verwendet, geschieht dies ganz überwiegend im 8. Abschnitt des Gesetzes (Betriebliche Interessenvertretungen). Der in diesem Abschnitt befindliche § 26 Nr. 1 PostPersRG nimmt sogar ausdrücklich Bezug auf die „in den Betrieben der Postnachfolgeunternehmen beschäftigten Beamten“. Nach § 24 Abs. 1 PostPersRG findet in den Postnachfolgeunternehmen das Betriebsverfassungsgesetz Anwendung, soweit im Postpersonalrechtsgesetz nichts anderes bestimmt ist.
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Daraus folgt, dass hinsichtlich der Frage, ob eine Organisationseinheit eines Postnachfolgeunternehmens als „Betrieb“ anzusehen ist, auf den Betriebsbegriff des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG) abzustellen ist (VG Schleswig, Urteil vom 1. November 2018 – 12 A 186/17 –, juris, Rn. 51). Das entspricht auch dem Grundsatz der Einheitlichkeit der Rechtsordnung (dazu P. Kirchhof, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. 1 Rn. 412 ). Zwar enthält auch das Betriebsverfassungsgesetz keine Legaldefinition des „Betriebs“. Dieser ist jedoch in der Rechtsprechung geklärt. Danach ist ein Betrieb im Sinne von § 1 Absatz 1 Satz 1 BetrVG eine organisatorische Einheit, innerhalb derer der Arbeitgeber zusammen mit den von ihm beschäftigten Arbeitnehmern bestimmte arbeitstechnische Zwecke fortgesetzt verfolgt (stRspr, vgl. nur BAG, Beschluss vom 18. Januar 2012 – 7 ABR 72/10 –, juris, Rn. 26, m. w. N.).
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Die Kammer sieht keinen Anlass dafür, an der Betriebseigenschaft der XXX zu zweifeln. Die XXX verfügt über einen Betriebsrat. Weder aus dem Vortrag der Antragstellerin noch sonst sind Umstände ersichtlich, die gegen eine Betriebseigenschaft der XXX sprechen würden.“
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Der Antragsteller soll auch in einem Amt mit mindestens demselben Endgrundgehalt im Sinne von § 28 Abs. 2 BBG eingesetzt werden. Er steht als technischer Fernmeldebetriebsinspektor (Besoldungsgruppe A9 VZ (Verzahnungsamt)) im Dienste der Antragsgegnerin und soll ausweislich der insoweit maßgeblichen Versetzungsverfügung erneut auf einem Dienstposten mit der Wertigkeit A 9 eingesetzt werden.
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Die Versetzung des Antragstellers ist auch durch hinreichende dienstliche Gründe gerechtfertigt. Die Antragsgegnerin hat dazu ausgeführt, dass der Arbeitsposten „Supporter Projektmanagement“ bei der XXX am Standort xxx frei sei und im Interesse einer geregelten Arbeitserledigung besetzt werden müsse. Neben der sach- und zeitgerechten Erfüllung der Dienstgeschäfte sei zudem der Anspruch des Antragstellers auf amtsangemessene Beschäftigung zu erfüllen.
23
Dabei handelt es sich um hinreichende dienstliche Gründe.
24
Ein dienstlicher Grund liegt regelmäßig schon dann vor, wenn ein Dienstposten frei ist und besetzt werden muss (VG Schleswig, Urteil vom 1. November 2018 – 12 A 186/17 –, juris, Rn. 58, m. w. N.). Die Versetzung eines beschäftigungslosen Beamten liegt darüber hinaus nicht nur im betriebswirtschaftlichen Interesse der Antragsgegnerin‚ eine Gegenleistung für die fortlaufend gezahlten Bezüge zu erhalten‚ sondern auch im öffentlichen Interesse an einer sachgerechten und reibungslosen Aufgabenwahrnehmung. Hinzu kommt die durch die Versetzung erfolgende Erfüllung des Beschäftigungsanspruchs des zuvor - hier seit dem 1. April 2019 - beschäftigungslosen Antragstellers aus Art. 33 Abs. 5 GG (vgl. OVG Schleswig, Beschluss vom 02. Oktober 2019 – 12 B 52/19 –, juris, Rn. 4; vgl. VGH München, Beschluss vom 13. März 2017 – 6 B 16.1627 –, juris, Rn. 32; VG Saarlouis, Beschluss vom 15. November 2016 – 2 L 990/16 –, juris, Rn. 13).
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Es bestehen auch keine durchgreifenden Zweifel am Vorliegen eines Personalbedarfs am Standort Xxx. Soweit der Antragsteller das Vorliegen eines dienstlichen Grundes in Zweifel zieht und vorträgt, dass der Versetzung eine Bestrafungsfunktion zukommen solle und Ziel der Antragsgegnerin sei, Beamte „loszuwerden“, so handelt es sich um eine reine Mutmaßung. Auch soweit der Antragsteller weiter rügt, mit der Versetzung werde er zukünftig mangels vorhandener Aufgaben nicht mehr amtsangemessen beschäftigt, vermag dies keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Versetzung zu begründen. Gegenstand des Verfahrens ist die Übertragung der Aufgabe eines „Supporter Projektmanagement“ bei der Organisationseinheit XXX, entsprechend einem Amt im abstrakt-funktionellen Sinne. Eine Zuweisung bestimmter konkreter Aufgaben bereits mit der Versetzung ist nicht erforderlich, mithin nicht Rechtmäßigkeitsvoraussetzung (OVG Schleswig, Beschluss vom 8. April 2020 - 2 MB 14/19 -; VG Schleswig, Urteil vom 1. November 2018 – 12 A 186/17 –, juris, Rn. 63). Lediglich bei einer dauerhaften Zuweisung zu einem Unternehmen außerhalb eines Postnachfolgeunternehmens (§ 4 Abs. 4 PostPersRG) sind solche Festlegungen erforderlich (dazu OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 15. Januar 2019 – 10 S 35.18 –, juris, Rn. 5; VG Schleswig, Beschluss vom 7. Januar 2016 – 12 B 87/15 –, juris, Rn. 32). Von vornherein ausgeschlossen erscheint eine amtsangemessene Beschäftigung des Antragstellers bei der gebotenen summarischen Prüfung vor diesem Hintergrund nicht, zumal die Antragsgegnerin vorträgt, dass eine ordnungsgemäße Bewertung der Funktion im Rahmen eines Prüfverfahrens bei der DTAG durchgeführt worden sei, und der Antragssteller dies nur pauschal bestreitet. Sollte sich die konkrete Tätigkeit als nicht amtsangemessen herausstellen, wäre er vielmehr gehalten, hiergegen gesondert Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen (vgl. OVG Schleswig, Beschluss vom 8. April 2020 - 2 MB 14/19, nicht auf juris veröffentlicht). Soweit der Antragsteller darüber hinaus geltend macht, dass ihm aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Laufbahn des technischen Dienstes eine Tätigkeit in Form des Erstellens von Projektplänen nicht zumutbar sei, da dies keine Tätigkeit für einen Rundfunktechniker sei, so ist ihm mit der Antragsgegnerin entgegenzuhalten, dass der Einsatz überwiegend in Projekten im technischen Umfeld erfolgen soll und auch ein Beamter der Laufbahn des technischen Dienstes nicht davon ausgehen kann, dauerhaft nur praktische Tätigkeiten auszuüben.
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Die Versetzung des Antragstellers ist auch ermessensfehlerfrei erfolgt. Die Antragsgegnerin hat weder die Grenzen des ihr eingeräumten Ermessensspielraums überschritten, noch von ihrem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht (vgl. § 114 Satz 1 VwGO).
27
Die Antragsgegnerin hat glaubhaft versichert, dass ihr keine für eine Besetzung mit dem Antragsteller geeigneten wohnortnäheren Stellen zur Verfügung stehen. Soweit sich der Antragsteller zum Beleg eines Personalbedarfs in der Nähe seines bisherigen Wohnortes auf die von ihm als Anlage 6 und 7 vorgelegten Excel-Tabellen (Bl. 95-118 d.A.) beruft, erschließt sich schon nicht, an welcher Stelle hier freie Dienstposten im Umkreis des Antragstellers zu erkennen sein sollen. Es besteht hier auch keine Selbstbindung durch eine frühere Praxis bei der Deutschen Post, allenfalls Beamte des gehobenen und höheren Dienstes auf einen Dienstposten außerhalb ihrer damaligen Oberpostdirektion zu versetzten. Ob eine derartige Verwaltungspraxis überhaupt geeignet ist, hier die Ermessensausübung einzuschränken, kann dahinstehen. Denn eine derartige Praxis besteht, wie der Kammer aus zahlreichen anderen Verfahren bekannt ist, jedenfalls gegenwärtig nicht mehr. Im Gegenteil versetzt die Antragsgegnerin mittlerweile auch zahlreiche Beamte des mittleren Dienstes an andere Standorte.
28
Im Übrigen besteht keine strenge, bei jeder Versetzung mit Ortswechsel alle denkbaren Alternativbeschäftigungsmöglichkeiten umfassend in den Blick nehmende Suchpflicht des Dienstherrn (vgl. VG Aachen, Beschluss vom 30. Mai 2018 - 1 L 628/18 -, juris, Rn. 36). Insbesondere wird man die strengen Anforderungen, die nach der Rechtsprechung bei der vorzeitigen Versetzung eines Beamten in den Ruhestand wegen Dienstunfähigkeit vor dem Hintergrund des Grundsatzes „Rehabilitation vor Ruhestand“ für die gebotene Suche des Dienstherrn nach einer gemessen an dem gesundheitlichen Leistungsvermögen des Betroffenen noch gegebenen anderweitigen Verwendungsmöglichkeit bestehen, wegen bedeutsamer Unterschiede der betroffenen Fallgruppen nicht einfach auf Personalmaßnahmen übertragen können, die - wie Versetzung und Zuweisung - keine Änderung des Status eines aktiven Beamten bewirken, sondern (nur) zu einem Wechsel des Dienstortes führen (OVG Münster, Beschluss vom 08.03.2018 - 1 B 770/17 -, juris, Rn. 41 ff.).
29
Der Antragsteller hat auch unter dem Gesichtspunkt der Fürsorgepflicht des Dienstherrn (§ 78 BBG) keinen Anspruch auf eine wohnortnahe dienstliche Verwendung. Nach § 72 Abs. 1 BBG hat ein Beamter seine Wohnung so zu wählen, dass er in seiner Dienstausübung nicht beeinträchtigt wird (Heid, in: Brinktrine/Schollendorf, BeckOK Beamtenrecht Bund, BBG § 72 Rn. 1). Daraus folgt, dass sich der private Wohnsitz nach dem Dienstort richtet, und nicht etwa der Dienstort sich nach dem Wohnort zu richten hat. Ein Bundesbeamter nimmt mit seinem Dienstantritt grundsätzlich die mit der Möglichkeit einer Versetzung, insbesondere mit einem Ortswechsel durch das ganze Bundesgebiet, generell und unvermeidlich verbundenen persönlichen, familiären und auch finanziellen Belastungen in Kauf. Die Bewältigung von dienstlich veranlassten Veränderungen ist eine Frage der persönlichen Lebensgestaltung des Beamten und seiner Familie, die diese allein zu beurteilen und zu entscheiden haben (VG Schleswig, Beschluss vom 02. Oktober 2019 – 12 B 52/19 –, juris, Rn. 46). In diesem Zusammenhang ist ein – nicht gewünschter – Ortswechsel für den Beamten und seine Familie immer auch gesundheitlich ungünstiger als der gewünschte Verbleib am bisherigen Ort. Dies liegt jedoch im Rahmen der regelmäßigen Nachteile einer Versetzung, die grundsätzlich in Kauf genommen werden müssen (Beschluss OVG Schleswig vom 8. April 2020 - 2 MB 14/19 -; vgl. Bayerischer VGH, Beschluss vom 13. Juli 2018 – 6 CS 18.1205 –, juris, Rn. 21 f., m.w.N.).
30
Demgegenüber wird die beamtenrechtliche Fürsorgepflicht durch eine Versetzung erst dann berührt, wenn ausnahmsweise besondere Umstände des Einzelfalls bei der Ermessensausübung Beachtung verlangen oder gewichtige Grundrechte des Beamten – darunter auch der Schutz der Gesundheit sowie der Schutz von Ehe und Familie – besonders schwer beeinträchtigt werden (VG Schleswig, Beschluss vom 02. Oktober 2019 – 12 B 52/19 –, juris, Rn. 46; vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 6. September 2013 – 5 NE 165/13 –, juris, Rn. 34, m. w. N.; VG Schleswig, Urteil vom 1. November 2018 – 12 A 186/17 –, juris, Rn. 65).
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Ein solcher Ausnahmefall ist vorliegend nicht gegeben.
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Insbesondere begründet die Erkrankung des Antragstellers an Diabetes mellitus, die er durch Vorlage des ärztlichen Attests vom 20. Juli 2020 glaubhaft gemacht hat, keine derartige besondere Beeinträchtigung durch die Versetzung. Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller aufgrund des Attestes in Anbetracht der gegenwärtigen COVID-19-Pandemie bis auf Widerruf das mobile Arbeiten von zu Hause aus gestattet. Auch soweit der Antragsteller sich darauf beruft, dass für seine Ehefrau aufgrund ihrer selbstständigen Tätigkeit mit einem festen Kundenstamm im Großraum B-Stadt ein Umzug nach Xxx nicht möglich ist, so handelt es sich nicht um eine besonders schwere Beeinträchtigung. Dem Antragsteller ist bei einer Fahrtdauer von etwa 4 Stunden und 15 Minuten durchaus zuzumuten, sich während der Arbeitswoche an seinem nunmehrigen Dienstort Xxx aufzuhalten und an den Wochenenden zu seinem bisherigen Wohnsitz zu fahren.
33
3. Wird die angefochtene Verfügung somit einer gerichtlichen Überprüfung in einem sich ggf. anschließenden Klageverfahren voraussichtlich standhalten, hat es bei dem vom Gesetz (§ 126 Abs. 4 BBG) angeordneten Ausschluss der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage zu bleiben.
34
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
35
IV. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG in Verbindung mit § 52 Abs. 1 VwGO und § 52 Abs. 2 VwGO. Ist Streitgegenstand eine Versetzung, ist für den Wert des Streitgegenstands der Auffangwert festzusetzen (vgl. OVG Münster, Beschluss vom 30.07.2007 - 6 E 718/07 - juris, Rn. 2 f.). Auf den Auffangwert ist die in Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit vorgesehene Reduzierung nicht anwendbar (vgl. OVG Schleswig, Beschluss vom 29. Mai 2015 – 3 O 23/15 –; Beschluss vom 10. August 1995 - 3 O 19/95 -).
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Tenor
1. Dem Antragsteller wird für die erste Instanz Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt XXX aus B-Stadt bewilligt, soweit er die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen Ziffer 2. des Bescheides des Antragsgegners vom 26. August 2020 begehrt. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
2. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 8. September 2020 gegen Ziffer 2. des Bescheides vom 26. August 2020 wird angeordnet. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
3. Der Antragsteller und der Antragsgegner tragen die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte.
4. Der Streitwert wird auf 5.000 Euro festgesetzt.
Gründe
I.
1
Der am 00. Mai 19… in Baku/ehem. UdSSR geborene Kläger ist armenischer Volkszugehöriger aus (jetzt) Aserbaidschan. Er reiste Anfang 1990 nach Russland, wo er nach eigenen Angaben ohne offizielle Registrierung lebte. Am 30. Juli 1999 reiste er in die Bundesrepublik Deutschland weiter und stellte einen Asylantrag, mit dem er die Anerkennung als Asylberechtigter sowie die Feststellung von Abschiebungsverboten für politisch Verfolgte begehrte. Mit Bescheid vom 21. September 1999 lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländische Flüchtlinge (Bundesamt) die Anerkennung als Asylberechtigter wegen Einreise über einen sicheren Drittstaat ab (Ziffer 1) und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG bezüglich Aserbaidschans vorlägen (Ziffer 2). Gegen diesen Bescheid erhob der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten Klage (4 A 192/00), woraufhin das Verwaltungsgericht Schleswig Ziffer 2 des Bescheides durch Urteil vom 16. Juni 2003 aufhob, wobei es im Wesentlichen darauf abstellte, dass offenbleiben könne, welcher Staatsangehörigkeit der Antragsteller sei, denn sowohl die aserbaidschanische, die armenische und die russische Staatsangehörigkeit unterstellt, ließen sich keine Abschiebungsverbote feststellen. Gehe man von der aserbaidschanischen Staatsangehörigkeit des Antragstellers aus, gebe es für ihn im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung trotz der Verfolgung armenischer Volkszugehöriger eine inländische Fluchtalternative in Berg-Karabach. Hinsichtlich Armeniens seien keine Verfolgungstatbestände ersichtlich oder vorgetragen. Abschiebungsverbote mit Blick auf die Russische Föderation schieden wegen des anzunehmenden fehlenden Erwerbs der Staatsangehörigkeit aufgrund des illegalen Aufenthaltes aus, weil eine Abschiebung nach Russland ohne Staatsangehörigkeit nicht möglich sei. Selbst den Erwerb der russischen Staatsangehörigkeit unterstellt, drohe dem Antragsteller jedoch keine an seine Ethnie anknüpfende Verfolgung. Die Entscheidung wurde rechtskräftig (OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 28. November 2003 - 1 LA 132/03 -).
2
Mit Bescheid vom 16. Dezember 2004 stellte das Bundesamt fest, dass keine Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG vorlägen (Ziffer 1), forderte den Antragsteller zur Ausreise auf und drohte andernfalls die Abschiebung nach Aserbaidschan an (Ziffer 2). Auf die gegen den Bescheid erhobene Klage (14 A 2/05) hin, hob das Verwaltungsgericht Schleswig durch Urteil vom 22. Februar 2007 die Ziffer 2 des Bescheides auf, soweit hierin die Abschiebung nach Aserbaidschan angedroht wurde und stellte fest, dass die in Ziffer 1 des Bescheides vom 16. Dezember 2004 getroffene Feststellung, dass Abschiebungshindernisse nicht vorlägen, gegenstandlos sei. Zur Begründung führte das Verwaltungsgericht aus, der Antragsteller sei kein aserbaidschanischer Staatsangehöriger, weil er vor der Staatsgründung Aserbaidschans bereits nach Russland ausgereist sei und die Staatangehörigkeit Aserbaidschans entweder nie erlangt oder jedenfalls aufgrund des langen Auslandsaufenthaltes wieder verloren habe. Weil der Antragsteller wegen der fehlenden Möglichkeit aserbaidschanische Papiere zu erlangen auf unabsehbare Zeit nicht nach Aserbaidschan abgeschoben werden könne, könne die Abschiebungsandrohung ohne die an sich gebotene gerichtliche Prüfung von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG (zuvor § 53 AuslG) aufgehoben werden. Die Feststellung in Ziffer 1 sei jedoch mangels Rechtsschutzbedürfnisses nicht aufzuheben, sondern faktisch gegenstandslos. Die Entscheidung wurde am 22. Mai 2007 rechtskräftig.
3
Daraufhin wurden dem Antragsteller verschiedentlich Duldungen ausgestellt. Seit dem 24. September 2014 war er im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG, zuletzt mit einer Gültigkeitsdauer bis zum 30. April 2018. Am 22. März 2018 beantragte er die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis und sprach hierzu am 29. Januar 2019 beim Antragsgegner vor. In dem Gespräch wurde der Antragsteller darauf hingewiesen, dass er sich um einen Reisepass aus Aserbaidschan bzw. Armenien bemühen müsse. Die hierfür erforderlichen Dokumente für die Vorlage bei der Botschaft wurden ihm im Nachgang übersandt. Am 12. Februar 2019 reichte er die Ausdrucke von Bustickets von B-Stadt nach Berlin und zurück vom 10. bis 11. Februar 2019 sowie Fotos ein, die ihn offenbar vor der Aserbaidschanischen Botschaft in Berlin zeigten. Im Rahmen der Vorsprache zur Beantragung einer Fiktionsbescheinigung am 17. Februar 2020 tat der Antragsteller gegenüber dem Antragsgegner kund, er werde nicht noch einmal nach Berlin reisen, weil ihm dies zu teuer sei und er in der Aserbaidschanischen Botschaft eh nichts bekomme. In Armenien sei er noch nie gewesen und bekomme in der dortigen Botschaft auch nichts.
4
Mit Schreiben vom 10. März 2020 hörte der Antragsgegner den Antragsteller zur beabsichtigten Ablehnung der Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis an. Ihm wurde Frist zur Stellungnahme bis 9. April 2019 gewährt.
5
Durch Bescheid vom 26. August 2020 lehnte der Antragsgegner die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ab (Ziffer 1), wies den Antragsteller auf seine Pflicht hin, die Bundesrepublik binnen eines Monats nach Zustellung des Bescheides zu verlassen und drohte für den Fall der nicht freiwilligen fristgerechten Ausreise die Abschiebung nach Aserbaidschan, Armenien oder einen anderen zur Aufnahme bereiten Staat an (Ziffer 2). Zur Begründung führt er im Wesentlichen aus, dass ein vom Antragsteller verschuldetes Ausreisehindernis vorliege, weil er zumutbare Anforderungen zur Beseitigung des Ausreisehindernisses nicht erfülle, indem er Mitwirkungspflichten zur Beschaffung von Identitätspapieren nicht hinreichend nachkomme. Außerdem fehle es am Vorliegen der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen, weil sein Lebensunterhalt aufgrund des Bezugs von Sozialleistungen nicht gesichert, seine Staatsangehörigkeit nicht geklärt und die Passpflicht nicht erfüllt sei.
6
Mit Schreiben vom 8. September 2020 erhob der Antragsteller hiergegen Widerspruch und hat am selben Tag einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung bei Gericht anhängig gemacht, zu dessen Begründung er vorträgt, dass das Ausreisehindernis von ihm nicht zu vertreten sei. Es lägen seine aserbaidschanische Geburtsurkunde und Schulzeugnisse vor. Nach Aserbaidschan könne er aber nach den verwaltungsgerichtlichen Feststellungen nicht abgeschoben werden. Die armenische Staatsbürgerschaft besitze er nicht, weshalb die armenische Botschaft – trotz mehrerer Versuche – seine Anfragen nicht beantworte. Dies solle bei Personen armenischer Volkszugehörigkeit, die in Aserbaidschan geboren seinen, regelmäßig der Fall sein. Es sei nicht ersichtlich, welcher Staat zu seiner Aufnahme bereit sei. Zudem leide er an einer psychischen Erkrankung, deren Nachweis er durch Einreichung von Attesten nachholen werde.
7
Der Antragsteller beantragt,
8
die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs vom 8. September 2020 anzuordnen.
9
Der Antragsgegner beantragt,
10
den Antrag abzulehnen.
11
Zur Begründung bezieht er sich vornehmlich auf die Begründung des angegriffenen Bescheides und führt darüber hinaus aus, dass das zunächst hinsichtlich Aserbaidschans festgestellte Aufenthaltsverbot durch rechtskräftiges Urteil vom 16. Juni 2003 aufgehoben worden sei. Soweit die Passlosigkeit des Antragstellers ein Ausreisehindernis darstelle, sei dieses vom Antragsteller selbst zu vertreten. Eine mögliche Passausstellung komme durch die Länder Aserbaidschan, Armenien und Russland in Betracht. Die hierfür zumutbaren Handlungen habe der Antragsteller nicht erfüllt. Die eingereichten Fotos stellten keinen hinreichenden Nachweis für Bemühungen zur Passerlangung dar. Negativbescheinigungen, Terminvereinbarungen oder anderweitige geeignete schriftliche Nachweise für eine Vorsprache bei den Botschaften oder eine Bemühung hierum habe der Antragsteller trotz Aufforderungen nicht vorgelegt.
12
Hinsichtlich des übrigen Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
II.
13
1. Die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe nach § 166 VwGO i. V. m. § 114 ZPO sind hinsichtlich des aus dem Tenor ersichtlichen Umfangs erfüllt, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung des Antragstellers gegenüber dem angefochtenen Bescheid vom 26. August 2020 in diesem Umfang aus den Gründen zu 2. Aussicht auf Erfolg bietet. Dass der Antragsteller bisweilen keine Unterlagen zur beantragten Prozesskostenhilfe eingereicht hat, ist unschädlich, weil sich seine Mittellosigkeit aufgrund des Bezugs von Leistungen nach dem SGB II aus dem angegriffenen Bescheid selbst sowie den beigezogenen Verwaltungsvorgängen ergibt. Im Übrigen war der Antrag mangels hinreichender Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung abzuweisen.
14
2. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs vom 8. September 2020 gegen die in Ziffer 1. des Bescheides vom 26. August 2020 erfolgte Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis des Antragstellers ist gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 i. V. m. § 80 Abs. 2 Nr. 2 VwGO statthaft, weil der Suspensiveffekt von Widerspruch und Klage nach § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG kraft Gesetzes entfällt. Auch dem Widerspruch gegen die in Ziffer 2. ausgesprochene Abschiebungsandrohung als Maßnahme des Verwaltungsvollzuges kommt gemäß § 248 Abs. 1 Satz 2 LVwG SH von Gesetz wegen keine aufschiebende Wirkung zu.
15
Der Antrag ist auch im Übrigen zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.
16
Die im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO durch das Gericht vorzunehmende Interessenabwägung zwischen dem privaten Aufschubinteresse des Antragstellers einerseits und dem öffentlichen Vollziehungsinteresse des Antragsgegners andererseits geht teilweise zu Lasten des Antragstellers, teilweise zu Lasten des Antragsgegners aus. Nach der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nur möglichen und gebotenen summarischen Prüfung der Sachlage sowie der Prüfung der Rechtslage, wie sie sich auf dieser Basis darstellt, ist lediglich Ziffer 1. des streitgegenständlichen Bescheides offensichtlich rechtmäßig (a.). Bei dieser Sachlage überwiegt in den Fällen des gesetzlich angeordneten Sofortvollzuges regelmäßig das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Bescheides gegenüber dem privaten Aussetzungsinteresse des Antragstellers (vgl. OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 6. August 1991 – 4 M 109/91 –, juris Rn. 5). Ziffer 2. hingegen erweist sich als offensichtlich rechtswidrig, weshalb das Aussetzungsinteresse des Antragstellers überwiegt, weil an der sofortigen Vollziehung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes kein öffentliches Interesse bestehen kann (b.).
17
a. Gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG kann einem Ausländer, der vollziehbar ausreisepflichtig ist, eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist. Die Aufenthaltserlaubnis soll erteilt werden, wenn die Abschiebung seit 18 Monaten ausgesetzt ist. Sie darf nur erteilt werden, wenn der Ausländer unverschuldet an der Ausreise gehindert ist. Ein Verschulden des Ausländers liegt insbesondere vor, wenn er falsche Angaben macht oder über seine Identität oder Staatsangehörigkeit täuscht oder zumutbare Anforderungen zur Beseitigung der Ausreisehindernisse nicht erfüllt.
18
Die Voraussetzungen des § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG sind zwar erfüllt. Der Antragsteller war seit rechtskräftiger Ablehnung seines Asylantrages am 22. Mai 2007 und bei erstmaliger Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG im Jahr 2014 gemäß §§ 50 Abs. 1, 58 Abs. 2 AufenthG vollziehbar ausreisepflichtig, weil er keinen Aufenthaltstitel besaß und die während des Asylverfahrens erteilte Aufenthaltsgestattung nach dessen Beendigung weggefallen ist. Die im Asylbescheid vom 16. Dezember 2004 angedrohte Abschiebung war in Ermangelung der tatsächlichen Durchführbarkeit aufgrund fehlender Ausreisepapiere auch über 18 Monate ausgesetzt und seine Ausreise aus tatsächlichen Gründen unmöglich. Er besitzt keinen Reisepass oder sonstiges Identitätsdokument, mithilfe dessen eine Ausreise ermöglicht werden könnte. Das tatsächliche Ausreisehindernis ist vom Antragsteller allerdings verschuldet, weil er zumutbare Anforderungen zur Beseitigung des Ausreisehindernisses noch nicht erfüllt hat. Besitzt der Ausländer keinen gültigen Pass oder Passersatz, ist er gemäß § 48 Abs. 3 Satz 1 AufenthG verpflichtet, an der Beschaffung des Identitätspapiers mitzuwirken sowie alle Urkunden, sonstigen Unterlagen und Datenträger, die für die Feststellung seiner Identität und Staatsangehörigkeit und für die Feststellung und Geltendmachung einer Rückführungsmöglichkeit in einen anderen Staat von Bedeutung sein können und in deren Besitz er ist, den mit der Ausführung dieses Gesetzes betrauten Behörden auf Verlangen vorzulegen, auszuhändigen und zu überlassen. Identitätspapiere im Sinne dieser Vorschrift sind alle für die Rückreise benötigten Papiere (Grünewald, GK-AufenthG, § 48 Rn. 43 m. w. N). Zwar hat der Antragsteller seine vorhandenen Dokumente dem Antragsgegner vorgelegt. Diese stellen aber keine Identitätspapiere im vorgenannten Sinne dar. Dass er in hinreichender Weise an der Beschaffung eines Identitätspapiers mitgewirkt hat, hat er nicht glaubhaft dargelegt. Insoweit kommen als Staaten der Staatsangehörigkeit und damit als ausweisausstellende Staaten jedenfalls Aserbaidschan und Armenien, ggf. auch Russland, in Betracht. Der Antragsteller hat weder vorgetragen noch belastbare Nachweise dafür vorgelegt, dass er tatsächlich bei den dortigen Konsularbehörden vorgesprochen hat und diese Vorsprachen erfolglos blieben. Zur Begründung nimmt die Kammer gemäß § 117 Abs. 5 VwGO Bezug auf die Ausführungen im angegriffenen Bescheid und schließt sich der Auffassung an, dass die eingereichten Bustickets nach Berlin und die Fotos vor der dortigen Botschaft Aserbaidschans für eine tatsächliche Vorsprache oder eine erfolglose Bemühung hierum keinen Beweiswert haben. Dass der Antragsteller bei der Armenischen Botschaft vorgesprochen oder einen Termin zur Vorsprache zu vereinbaren versucht hat, hat er weder glaubhaft vorgetragen, noch ist dies ersichtlich. Vielmehr hat er im Gespräch gegenüber dem Antragsgegner ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er nicht noch einmal nach Berlin fahre, weil ihm dies zu teuer sei und dass er zu keinem Zeitpunkt in Armenien gelebt habe, dort also auch keine Dokumente bekomme. Nachweise der im Widerspruch behaupteten Kontaktversuche gegenüber der Armenischen Botschaft hat er nicht vorgelegt. In der Folge kann offenbleiben, ob der Antragsteller die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 AufenthG erfüllt und ob der Antragsgegner sein Ermessen bezüglich des Absehens von den Voraussetzungen des Abs. 1 nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG (fehlerfrei bzw. überhaupt) ausgeübt hat.
19
b. Die in Ziffer 2 des Bescheides ausgesprochene Abschiebungsandrohung nach Aserbaidschan bzw. Armenien erweist sich hingegen nach der gebotenen rechtlichen Überprüfung aufgrund des summarisch ermittelten Sachverhaltes als offensichtlich rechtswidrig. Der Antragsgegner war nicht befugt, die Abschiebung nach Aserbaidschan oder Armenien anzudrohen. Dies gilt jedenfalls, wenn – wie hier – das Bundesamt im Rahmen der Abschiebungsandrohung nicht zur Prüfung etwaiger Abschiebungshindernisse gemäß § 72 Abs. 2 AufenthG beteiligt worden ist.
20
Hat das Bundesamt das Vorliegen von Abschiebungsverboten lediglich hinsichtlich des in der Androhung bezeichneten Zielstaates geprüft, gebietet es der Schutzzweck des § 24 Abs. 2 AsylG, dass eine Abschiebung in einen anderen Staat erst dann erfolgt, wenn auch hinsichtlich dieses Zielstaates die Prüfung im Sinne des § 24 Abs. 2 AsylG i. V. m. § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG durch das Bundesamt erfolgt ist (OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 13. August 2008 – 2 L 12/08 –, juris). Dies gilt vorliegend erst recht mit Blick darauf, dass die Zielstaatsbestimmung „Aserbaidschan“ in Anwendung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. u. a. Urteil vom 10. März 2007 – 1 C 21.02 –, juris) durch rechtskräftiges Urteil vom 22. Februar 2007 aufgehoben worden ist, ohne die Rechtmäßigkeit der Verneinung zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote hinsichtlich Aserbaidschans materiell-rechtlich zu überprüfen. Dem Antragsteller wurde mithin – Stand heute – weder die Aserbaidschan und Armenien umfassende behördliche Prüfung von Abschiebungsverboten durch das in der Sache damit befasste Bundesamt noch deren gerichtliche Überprüfung ermöglicht.
21
Es kann offenbleiben (offenlassend auch OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 22. März 2019 – 4 MB 16/19 –, juris), ob die hier erforderliche (nachträgliche) Konkretisierung des Zielstaats ausschließlich durch das Bundesamt erfolgen darf (in diesem Sinne: VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 13. September 2007 – 11 S 1684/07 –, juris Rn. 7 a. E.; Bergmann/Dienelt/Dollinger, 13. Aufl. 2020, AufenthG § 59 Rn. 45), weil im Ergebnis das Asylverfahren mangels Erfüllung des gesetzlichen Prüfungsauftrages gemäß § 24 AsylG noch nicht abgeschlossen ist, oder unter den Voraussetzungen der Beteiligung nach § 72 Abs. 2 AufenthG die Abschiebungsandrohung auch durch die Ausländerbehörde ausgesprochen werden darf (in diese Richtung wohl OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 13. August 2008 – 2 L 12/08 –, juris).
22
Denn jedenfalls hat vor einer Abschiebung das Bundesamt – in welcher Form auch immer – zu prüfen, ob Abschiebeverbote hinsichtlich der (neuen) Zielstaaten bestehen, was vorliegend unterblieben ist.
23
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 2. Alt. VwGO.
24
4. Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 63 Abs. 2, 53 Abs. 2, 52 Abs. 2 GKG.
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1Gründe:
2Der Senat entscheidet über die Berufungszulassung durch den Vorsitzenden als Berichterstatter, weil sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben (§ 87a Abs. 2 und 3, § 125 Abs. 1 VwGO).
3Der Berufungszulassungsantrag ist unbegründet. Nach § 78 Abs. 3, Abs. 4 Satz 4 AsylG ist die Berufung nur zuzulassen, wenn einer der in Abs. 3 Nrn. 1 bis 3 aufgezählten Zulassungsgründe dargelegt ist und vorliegt. Der Kläger stützt seinen Antrag ausschließlich auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache nach § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG. Die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung kommt der vorliegenden Rechtssache jedoch nicht zu. Als grundsätzlich klärungsbedürftig bezeichnet der Kläger die Frage,
4„ob einem eritreischen Staatsangehörigen aufgrund der illegalen Ausreise und des damit verbundenen Entziehens der Einberufung zum Nationaldienst bereits allein, oder i. V. m. der Asylantragstellung im Bundesgebiet, oder i. V. m. tatsächlichen oder auch nur von den Heimatbehörden vermuteten regierungsfeindlichen bzw. exilpolitischen Aktivitäten gegen seine Heimatregierung, bei freiwilliger oder unfreiwilliger Rückkehr - insbes. Abschiebung - in sein Heimatland gem. § 3 Abs. 1 AsylG relevante Repressalien wegen tatsächlicher oder vermeintlicher Regimegegnerschaft mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen.“
5Diese Frage rechtfertigt im vorliegenden Fall keine Berufungszulassung. Sie ist nicht mehr klärungsbedürftig, weil sie in der Rechtsprechung des beschließenden Senats inzwischen geklärt ist. Danach ist die Grundsatzfrage zu verneinen. Nationaldienstpflichtigen eritreischen Staatsangehörigen drohen Verfolgungsmaßnahmen wegen einer Entziehung oder Desertion nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Anknüpfung an eine ihnen zugeschriebene politische Überzeugung. Das gilt auch für eine im Fall der Rückkehr drohende Bestrafung. Ebenso wenig drohen ihnen solche Verfolgungsmaßnahmen wegen ihrer illegalen Ausreise oder ihrer Asylantragstellung in Deutschland.
6OVG NRW, Beschluss vom 21. September 2020 ‑ 19 A 1857/19.A ‑, juris, Rn. 31 ff., 36 ff., 131 f.
7In Bezug auf diese Grundsatzfragen ist die Berufung auch nicht wegen nachträglicher Abweichung von der zitierten Senatsrechtsprechung nach § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG zuzulassen. Wegen nachträglicher Abweichung ist die Berufung nach dieser Vorschrift unabhängig davon zuzulassen, ob der Rechtsmittelführer diesen Zulassungsgrund nach § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG dargelegt hat, wenn der zunächst vorliegende Zulassungsgrund grundsätzlicher Bedeutung nach § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG nachträglich dadurch entfällt, dass ein übergeordnetes Gericht die als grundsätzlich klärungsbedürftig dargelegte Grundsatzfrage in einem anderen Verfahren klärt, und die angefochtene Entscheidung von dieser höchstrichterlichen oder obergerichtlichen Rechtsprechung objektiv abweicht.
8OVG NRW, Beschluss vom 10. Juni 2020 ‑ 19 A 4332/19.A ‑, juris, Rn. 2 f. m. w. N.
9Hier liegt keine solche Abweichung vor. Denn auch das Verwaltungsgericht hat seiner Entscheidung durch Bezugnahme auf sein Urteil vom 23. März 2017 ‑ 6 K 7338/16.A ‑, juris, die Tatsachenfeststellung zugrunde gelegt, dass Sanktionierungen von Wehrdienstentziehung und illegaler Ausreise in Eritrea nicht generell an eine vermutete oder vorhandene politische Überzeugung anknüpfen (dort Rn. 32 ff., 65 ff., 138 ff.).
10Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.
11Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 5.000 Euro festgesetzt.
Gründe
1I.
2Die Antragstellerin betreibt in der Rechtsform der GbR in C. eine Speisegaststätte. Sie begehrt die vorläufige Außervollzugsetzung von § 14 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 (Coronaschutzverordnung - CoronaSchVO) vom 30. Oktober 2020 (GV. NRW. S. 1044b), geändert durch Verordnung vom 4. November 2020 (GV. NRW. S. 1044c).
3§ 14 Abs. 1 CoronaSchVO lautet wie folgt:
4§ 14
5Gastronomie
6(1) Der Betrieb von Restaurants, Gaststätten, Imbissen, Kneipen, Cafés und anderen gastronomischen Einrichtungen ist bis zum 30. November 2020 untersagt. Betriebskantinen und Mensen in Bildungseinrichtungen dürfen zur Versorgung der Beschäftigten bzw. der Nutzerinnen und Nutzer der Bildungseinrichtungen betrieben werden.
7Die Antragstellerin hat am 2. November 2020 den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt.
8Zur Begründung macht sie im Wesentlichen geltend: Es fehle an einer hinreichenden Ermächtigungsgrundlage für das angefochtene Verbot. Die Annahme des Verordnungsgebers, dass es ohne die verordneten Maßnahmen binnen weniger Wochen unweigerlich zu einer Überlastung des Gesundheitssystems kommen werde, könne sich nicht auf die bisherigen Erfahrungen stützen. Jedenfalls sei es nicht gerechtfertigt, Maßnahmen allein wegen des Erreichens von Inzidenzwerten anzuordnen. Es müsse vielmehr eine Abwägung vorgenommen werden, die auch die mit den Grundrechtseingriffen verbundenen Folgen betrachte. Der Betrieb von gastronomischen Einrichtungen trage nach derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht wesentlich zur Weiterverbreitung des Virus bei. Die angeordneten Betriebsverbote seien willkürlich.
9Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,
10im Wege der einstweiligen Anordnung den Vollzug von § 14 Abs. 1 Satz 1 CoronaSchVO vorläufig auszusetzen.
11Der Antragsgegner verteidigt die angegriffene Regelung und beantragt,
12den Antrag abzulehnen.
13II.
14Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat keinen Erfolg. Der gemäß § 47 Abs. 6, Abs. 1 Nr. 2 VwGO i. V. m. § 109a JustG NRW statthafte und auch im Übrigen zulässige Antrag ist unbegründet. Die von der Antragstellerin begehrte einstweilige Anordnung ist nicht zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten (§ 47 Abs. 6 VwGO).
15Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind zunächst die Erfolgsaussichten des Normenkontrollantrags in der Hauptsache, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen. Ist danach der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Ergibt diese Prüfung, dass ein Normenkontrollantrag in der Hauptsache voraussichtlich begründet wäre, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug der streitgegenständlichen Norm zu suspendieren ist. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug der Rechtsvorschrift vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist. Lassen sich die Erfolgsaussichten des Normenkontrollverfahrens nicht abschätzen, ist über den Erlass einer beantragten einstweiligen Anordnung im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden: Gegenüberzustellen sind die Folgen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Normenkontrollantrag aber Erfolg hätte, und die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Antrag nach § 47 Abs. 1 VwGO aber erfolglos bliebe. Die für den Erlass der einstweiligen Anordnung sprechenden Erwägungen müssen die gegenläufigen Interessen dabei deutlich überwiegen, also so schwer wiegen, dass der Erlass der einstweiligen Anordnung - trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache - dringend geboten ist.
16Vgl. BVerwG, Beschluss vom 16. September 2015 ‑ 4 VR 2.15 -, juris, Rn. 4.
17Gemessen an diesen Grundsätzen ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht dringend geboten, weil der Senat bei der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur möglichen summarischen Prüfung von offenen Erfolgsaussichten eines noch zu stellenden Normenkontrollantrags ausgeht (I.), die deswegen anzustellende Folgenabwägung aber zu Lasten der Antragstellerin ausfällt (II.).
18I. 1. Bei summarischer Prüfung erweist sich noch nicht als offensichtlich, dass § 32 Satz 1 i. V. m. § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG als hinreichende, dem Parlamentsvorbehalt genügende Ermächtigungsgrundlage für die derzeit erneut (in § 14 Abs. 1 Satz 1 CoronaSchVO) geregelten Betriebsverbote aufgrund der sich mit zunehmender Häufung intensivierenden Eingriffe in die Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG von vornherein nicht mehr in Betracht kommt. Zwar gewinnen die in der Rechtsprechung des erkennenden Senats bereits angesprochenen, zu Beginn der Pandemielage jedoch verworfenen verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Generalklausel des § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 IfSG als Grundlage für allgemeine flächendeckende Betriebsverbote,
19siehe insoweit grundlegend Beschluss vom 6. April 2020 - 13 B 398/20.NE -, juris, Rn. 37 ff.; vgl. ferner etwa Beschluss vom 23. Juni 2020 ‑ 13 B 695/20.NE ‑, juris, Rn. 43 ff., m. w. N.,
20mit Fortdauer der Pandemielage und Wiederholung der verordneten Betriebsschließungen zunehmend Gewicht. Insoweit spricht einiges dafür, dass der Gesetzgeber auf Dauer besonders grundrechtsintensive flächendeckende Maßnahmen, wie etwa Untersagungen unternehmerischer Tätigkeiten, selbst tatbestandlich und auf Rechtsfolgenseite konkretisieren und möglicherweise auch eine Entscheidung über etwaige Entschädigungsleistungen (wie sie bereits im 12. Abschnitt des Infektionsschutzgesetzes für andere Sachverhalte normiert wurden) treffen muss.
21Vgl. dazu nunmehr den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, Entwurf eines Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 3. November 2020, BT-Drs. 19/23944, der in einem neuen § 28a IfSG für die Dauer der Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite insbesondere Betriebsschließungen ausdrücklich vorsieht.
22Allerdings ist in der Rechtsprechung auch anerkannt, dass es im Rahmen unvorhergesehener Entwicklungen aus übergeordneten Gründen des Gemeinwohls geboten sein kann, nicht hinnehmbare gravierende Regelungslücken für einen Übergangszeitraum insbesondere auf der Grundlage von Generalklauseln zu schließen, um so auf schwerwiegende Gefahrensituationen auch mit im Grunde genommen näher regelungsbedürftigen Maßnahmen vorläufig reagieren zu können.
23Siehe dazu nochmals OVG NRW, Beschluss vom 6. April 2020 - 13 B 398/20.NE -, juris, Rn. 59 ff., m. w. N.
24Dass ein solcher Übergangszeitraum ‑ die grundsätzliche Notwendigkeit einer näheren (anvisierten) Regelung durch den parlamentarischen Gesetzgeber unterstellt ‑ bereits abgelaufen ist, kann im Verfahren der einstweiligen Anordnung nicht als offensichtlich angenommen werden, sondern bedarf eingehender Prüfung in einem Hauptsacheverfahren.
25Vgl. zuletzt zu § 32 Satz 1 und 2 i. V .m. § 28 Abs. 1 Satz 1, 2 IfSG als hinreichende Ermächtigungsgrundlage für Betriebsverbote: VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 6. Oktober 2020 - 1 S 2871/20 -, juris, Rn. 30 (offen gelassen); zu Eingriffen in die Berufsfreiheit durch das Verbot von Zuschauern bei Sportveranstaltungen: Bay. VGH, Beschluss vom 16. September 2020 ‑ 20 NE 20.1994 ‑, juris, Rn. 17; siehe auch Bay. VerfGH, Entscheidung vom 21. Oktober 2020 ‑ Vf. 26-VII-20 ‑, juris, Rn. 17 f.
262. Die angegriffene Regelung in § 14 Abs. 1 Satz 1 CoronaSchVO erweist sich im Übrigen als voraussichtlich rechtmäßig. Der mit der streitigen Maßnahme in erster Linie verbundene Eingriff in die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsfreiheit und gegebenenfalls die von Art. 14 GG geschützte Eigentumsgarantie der Betreiber von gastronomischen Einrichtungen genügt bei summarischer Bewertung dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (a) und begründet auch keinen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG (b).
27a) Das Betriebsverbot für Restaurants, Gaststätten, Imbisse, Kneipen, Cafés und andere gastronomische Einrichtungen dient dem legitimen Zweck, die Weiterverbreitung des SARS-CoV-2-Virus einzudämmen. Der Verordnungsgeber darf davon ausgehen, dass die Corona-Pandemie angesichts der in jüngster Zeit erfolgten rapiden und flächendeckenden Zunahme der Zahl der nachweislich infizierten Personen eine ernstzunehmende Gefahrensituation begründet, die staatliches Einschreiten nicht nur rechtfertigt, sondern mit Blick auf die Schutzpflicht des Staates für Leib und Gesundheit der Bevölkerung auch gebietet.
28Vgl. zu dieser Schutzpflicht BVerfG, Urteil vom 28. Januar 1992 - 1 BvR 1025/82 u.a. -, juris, Rn. 69, m. w. N.
29Die gegenwärtige Situation ist durch ein exponentielles Ansteigen der Infektionszahlen gekennzeichnet. Die 7-Tage-Inzidenz liegt mit Stand vom 8. November 2020 für ganz Deutschland bei einem Wert von 136 und für Nordrhein-Westfalen nochmals deutlich darüber bei einem Wert von 165. Die berichteten R-Werte liegen derzeit bei 1,1 (4 Tage-R-Wert) und 1,01 (7-Tage-R-Wert). Gleichzeitig steigt mit der Zahl der Neuinfizierungen die Zahl der Corona-Patienten auch in den nordrhein-westfälischen Krankenhäusern stark an. Die Zahl der intensivmedizinisch behandelten COVID-19-Fälle hat sich bundesweit in den vergangenen drei Wochen von 618 Patienten am 13. Oktober 2020 auf 2.904 Patienten am 8. November 2020 mehr als vervierfacht. Dies lässt sich auch nicht mehr durch wenige einzelne Ursachen erklären. Vielmehr stellt sich das aktuelle Infektionsgeschehen sehr diffus dar.
30Vgl. Robert Koch-Institut, Täglicher Lagebericht zur Coronavirus-Krankheit-2019 (Covid-19), Stand: 8. November 2020, abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Nov_2020/2020-11-08-de.pdf?__blob= publicationFile.
31Die Krankenhäuser rechnen vor dem Hintergrund dieser Entwicklung schon bald mit einer Rekordzahl an Intensiv-Patienten. Nicht nur die Anzahl der zur Verfügung stehenden Intensivbetten (auch für nicht COVID-19-Patienten), sondern vor allem auch der Personal- bzw. Fachkräftemangel bereitet erhebliche Sorgen.
32Vgl. https://www.ruhr24.de/nrw/corona-nrw-intensivstationen-krankenhaus-covid-19-patienten-intensivbetten-alarm-aerzte-90080033.html, Stand: 29. Oktober 2020; vgl. zur Entwicklung der Fallzahlen Tagesreport DIVI Intensivregister https://www.divi.de/joomlatools-files/docman-files/divi-intensivregister-tagesreports/DIVI-Intensivregister_Tagesreport_2020_11_05.pdf.
33Angesichts dessen sieht der Verordnungsgeber zu Recht einen dringenden Handlungsbedarf. Ziel seiner Maßnahmen ist es, in dieser Situation durch eine allgemeine Reduzierung von Kontakten vor allem im Privaten und im Freizeit- und Unterhaltungsbereich bei gleichzeitiger Offenhaltung von Schulen und Kitas und weitgehender Schonung der Wirtschaft im Übrigen den exponentiellen Anstieg des Infektionsgeschehens bis auf eine wieder nachverfolgbare Größe von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner pro Woche zu senken, um eine Überforderung des Gesundheitssystems zu vermeiden.
34Vgl. dazu den Beschluss der Videokonferenz der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder am 28. Oktober 2020; abrufbar unter:https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/videokonferenz-der-bundeskanzlerin-mit-den-regierungschefinnen-und-regierungschefs-der-laender-am-28-oktober-2020-1805248, den der Antragsgegner seinem Verordnungserlass zugrunde gelegt hat.
35Zur Erreichung dieses Ziels dürfte die angefochtene Maßnahme geeignet (aa), erforderlich (bb) und angemessen sein (cc). Ebenso wie für die Eignung einer Maßnahme kommt dem Gesetz- bzw. im Rahmen der Ermächtigung dem Verordnungsgeber für ihre Erforderlichkeit ein Beurteilungs- und Prognosespielraum zu.
36Vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 29. September 2010 - 1 BvR 1789/10 -, juris, Rn. 21; BVerwG, Urteil vom 16. Dezember 2016 - 8 C 6.15 -, juris, Rn. 49.
37Diesen hat der Verordnungsgeber nicht erkennbar überschritten.
38aa) Dass Maßnahmen zur Reduzierung von Kontakten im Privaten und im Freizeitbereich grundsätzlich geeignet sind, Infektionsrisiken zu reduzieren, ist angesichts des Hauptübertragungswegs, der respiratorischen Aufnahme virushaltiger Partikel, die beim Atmen, Husten, Sprechen, Singen oder Niesen entstehen, nicht zweifelhaft. Das Betriebsverbot für Restaurants, Gaststätten, Imbisse, Kneipen, Cafés und andere gastronomische Einrichtungen trägt zur Kontaktreduzierung bei. In gastronomischen Einrichtungen, die in den Wintermonaten schwerpunktmäßig in geschlossenen Räumlichkeiten betrieben werden, kommt eine größere Zahl wechselnder Personen für einen längeren Zeitraum nicht nur zum Essen, sondern auch zum geselligen Beisammensein zusammen. Auch unter Beachtung der bereits bestehenden Hygienekonzepte und der aktuell geltenden zulässigen Gruppengrößen lässt sich eine Weiterverbreitung des Coronavirus in solchen Einrichtungen nicht ausschließen, da die Gäste jedenfalls während des Essens und Trinkens keine Mund-Nasen-Bedeckung tragen können und sich eine Verbreitung von potentiell virushaltigen Tröpfchen und Aerosolen in der Luft nicht verhindern lässt. Das Betriebsverbot für gastronomische Einrichtungen verhindert eine Übertragung des Coronavirus in diesen Lokalitäten. Auf diese Weise beugt es auch einem Eintrag der Infektion in das weitere berufliche und private Umfeld der Gäste vor.
39Unabhängig von der konkreten Ausgestaltung des Betriebs ist zudem zu berücksichtigen, dass bereits die Öffnung von gastronomischen Einrichtungen für den Publikumsverkehr zwangsläufig zu weiteren Sozialkontakten führt, indem Menschen sich, um zu den entsprechenden Einrichtungen zu gelangen, in der Öffentlichkeit bewegen und dort etwa in öffentlichen Verkehrsmitteln aufeinandertreffen. Nicht zuletzt auch dieser Effekt soll nach dem Willen des Verordnungsgebers mit den insgesamt ergriffenen Maßnahmen zur Kontaktbeschränkung aus den oben beschriebenen Gründen deutlich reduziert werden.
40bb) Das Verbot dürfte auch erforderlich sein. Dem Verordnungsgeber wird voraussichtlich nicht vorgehalten werden können, sich nicht für ein anderes, die Berufsfreiheit der Antragstellerin weniger beeinträchtigendes Regelungsmodell entschieden zu haben. Angesichts der Diffusität des Infektionsgeschehens und des Umstands, dass sich Infektionsketten größtenteils nicht mehr zurückverfolgen lassen,
41vgl. Robert Koch-Institut, Täglicher Lagebericht zur Coronavirus-Krankheit-2019 (Covid-19), S. 2, Stand: 5. November 2020, abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Nov_2020/2020-11-05-de.pdf?__blob= publicationFile.
42kann die Antragstellerin nicht mit Erfolg geltend machen, ein Betriebsverbot sei nicht erforderlich, weil sich gastronomische Einrichtungen nicht als Infektionstreiber erwiesen hätten.
43cc) Das Verbot dürfte sich auch als angemessen erweisen. Angemessen, d. h. verhältnismäßig im engeren Sinne, ist eine freiheitseinschränkende Regelung, wenn das Maß der Belastung des Einzelnen noch in einem vernünftigen Verhältnis zu den der Allgemeinheit erwachsenden Vorteilen steht. Hierbei ist eine Abwägung zwischen den Gemeinwohlbelangen, deren Wahrnehmung der Eingriff in Grundrechte dient, und den Auswirkungen auf die Rechtsgüter der davon Betroffenen notwendig. Die Interessen des Gemeinwohls müssen umso gewichtiger sein, je empfindlicher der Einzelne in seiner Freiheit beeinträchtigt wird. Zugleich wird der Gemeinschaftsschutz umso dringlicher, je größer die Nachteile und Gefahren sind, die aus gänzlich freier Grundrechtsausübung erwachsen können.
44St. Rspr., vgl. etwa BVerfG, Urteil vom 26. Februar 2020 ‑ 2 BvR 2347/15 ‑, juris, Rn. 265, m. w. N.
45Davon ausgehend ist die fragliche Regelung bei vorläufiger Bewertung nicht zu beanstanden, weil die Schwere der damit erneut verbundenen Grundrechtseingriffe voraussichtlich noch nicht außer Verhältnis zu dem beabsichtigten Verordnungszweck steht. Das Betriebsverbot für gastronomische Einrichtungen greift in ganz erheblicher Weise in das Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) und gegebenenfalls auch das von der Eigentumsgarantie erfasste Recht des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs (Art. 14 Abs. 1 GG) der davon betroffenen Betreiber ein. Infolge der im Frühjahr verordneten Schließung und der nachfolgend angeordneten Infektionsschutzmaßnahmen dürften ‑ trotz der staatlichen Unterstützungsmaßnahmen ‑ viele Betriebe mit ganz erheblichen wirtschaftlichen Einbußen konfrontiert sein. Die Umsatzausfälle des Monats November 2020 sollen jedoch durch staatliche Unterstützungsmaßnahmen abgefedert werden. Das außerordentliche Wirtschaftshilfeprogramm des Bundes stellt hierfür insgesamt bis zu 10 Milliarden Euro bereit. Unternehmen mit bis zu 50 Beschäftigten erhalten eine einmalige Kostenpauschale in Höhe von bis zu 75 Prozent ihres Umsatzes von November 2019. Die Höhe errechnet sich aus dem durchschnittlichen wöchentlichen Umsatz des Vorjahresmonats, gezahlt wird sie für jede angeordnete Lockdown- Woche. Bei jungen Unternehmen, die nach November 2019 gegründet wurden, gelten die Umsätze von Oktober 2020 als Maßstab. Solo-Selbständige haben das Wahlrecht, als Bezugsrahmen für den Umsatz auch den durchschnittlichen Vorjahresumsatz 2019 zugrunde zu legen. Für größere Unternehmen gelten abweichende Prozentanteile vom Vorjahresumsatz. Die Höhe der Zuschüsse wird hier im Einzelnen anhand beihilferechtlicher Vorgaben ermittelt. Anderweitige Hilfen für den Zeitraum wie beispielsweise Kurzarbeitergeld oder Überbrückungshilfe werden vom Erstattungsbetrag abgezogen.
46Vgl. Übersicht über die Corona-Hilfen des Bundes, https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/Themen/Schlaglichter/Corona-Schutzschild/2020-10-29-neue-corona-hilfen.html, Stand: 5. November 2020.
47Hinzu tritt die Überbrückungshilfe des Bundes (2. Phase). Die 2. Phase der Überbrückungshilfe ist ein branchenübergreifendes Zuschussprogramm mit einer Laufzeit von vier Monaten (September bis Dezember 2020), welches zum Ziel hat, Umsatzrückgänge während der Corona-Krise abzumildern. Die Förderung schließt nahtlos an die 1. Phase der Überbrückungshilfe mit dem Förderzeitraum Juni bis August 2020 an. Dabei werden die Zugangsbedingungen abgesenkt und die Förderung ausgeweitet. Das Hilfsprogramm unterstützt kleine und mittelständische Unternehmen sowie Solo-Selbstständige und Freiberufler, die von den Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung besonders stark betroffen sind, mit nicht-rückzahlbaren Zuschüssen zu den betrieblichen Fixkosten. Je nach Höhe der betrieblichen Fixkosten können Unternehmen für die vier Monate bis zu 200.000 Euro an Förderung erhalten.
48Vgl. https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Pressemitteilungen/Finanzpolitik/2020/09/2020-09-18-PM-Corona-Ueberbrueckungshilfe-verlaengert.html, abgerufen am 5. November 2020.
49Von Seiten des Landes Nordrhein-Westfalen wurde das Bundesprogramm durch die NRW Überbrückungshilfe Plus ergänzt (1. Phase in den Fördermonaten Juni bis August 2020). Diese stellt zusätzliche Hilfen für Solo-Selbstständige, Freiberufler und im Unternehmen tätige Inhaber von Einzelunternehmen und Personengesellschaften mit höchstens 50 Mitarbeitern in Nordrhein-Westfalen bereit. Berechtigte erhielten danach eine einmalige Zahlung in Höhe von 1.000 Euro pro Monat für maximal drei Monate. Das Programm wird für eine Laufzeit von weiteren vier Monaten (September bis Dezember 2020) fortgesetzt.
50Vgl. Übersicht des Wirtschaftsministeriums über Überbrückungshilfe (2. Phase),
51https://www.wirtschaft.nrw/ueberbrueckungshilfe2, abgerufen am 5. November 2020.
52Unabhängig von diesen umfangreichen Hilfsmaßnahmen sind nach Maßgabe von § 14 Abs. 2 CoronaSchVO die Belieferung mit Speisen und der Außer-Haus-Verkauf von Speisen weiterhin zulässig. Vor diesem Hintergrund dürften die mit der angefochtenen Regelung verbundenen Grundrechtseingriffe noch in einem vernünftigen Verhältnis zu dem mit der Regelung verfolgten Zweck stehen, ganz erhebliche Gefahren für Leib und Leben einer Vielzahl von Menschen im Falle einer unkontrollierten Infektionsausbreitung zu verhindern.
53b) Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG dürfte ebenfalls nicht vorliegen. Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebietet dem Normgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln.
54Vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. Februar 2012 - 1 BvL 14/07 -, juris, Rn. 40.
55Er verwehrt dem Normgeber nicht jede Differenzierung. Diese bedürfen jedoch stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Differenzierungsziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind.
56Vgl. BVerfG, Beschluss vom 21. Juni 2011 - 1 BvR 2035/07 -, juris, Rn. 64.
57Sachgründe können sich im vorliegenden Regelungszusammenhang aus dem infektionsrechtlichen Gefahrengrad der Tätigkeit, aber voraussichtlich auch aus ihrer Relevanz für das öffentliche Leben (etwa Schulen, Kitas, Bildungseinrichtungen, ÖPNV sowie die Versorgung der Bevölkerung mit Gütern und Dienstleistungen) ergeben.
58Vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 14. Mai 2020 ‑ 13 MN 156/20 -, juris, Rn. 36.
59In Anwendung dieses Maßstabs drängt sich ein Gleichheitsverstoß des Verordnungsgebers nicht auf. Dieser durfte im Rahmen des von ihm verfolgten Regelungskonzepts voraussichtlich das gesellschaftliche Bedürfnis nach bestimmten, weiter zulässigen (Dienst-)Leistungen ebenso wie die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen der in Betracht kommenden Maßnahmen in seine Entscheidung einfließen lassen, weite Teile des öffentlichen Lebens, in denen ebenfalls Menschen in geschlossenen Räumlichkeiten zusammentreffen, nicht zu schließen.
60II. Die angesichts der offenen Erfolgsaussichten anzustellende Folgenabwägung ergibt, dass die von der Antragstellerin dargelegten wirtschaftlichen Einbußen unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit des angefochtenen Verbots hinter den Schutz von Leben und Gesundheit einer Vielzahl von Menschen zurücktreten müssen. Angesichts des eingangs beschriebenen rasanten Anstiegs der Zahl von Neuinfektionen und der vor diesem Hintergrund konkret zu befürchtenden Überlastung der (intensiv)medizinischen Behandlungskapazitäten fallen die zu erwartenden Folgen einer Außervollzugsetzung der angegriffenen Norm schwerer ins Gewicht als die durch die vorbeschriebenen Hilfsprogramme abgemilderten wirtschaftlichen Folgen ihres einstweilig weiteren Vollzugs.
61Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 2 GKG. Da die angegriffene Regelung mit Ablauf des 30. November 2020 außer Kraft tritt, zielt der Antrag inhaltlich auf eine Vorwegnahme der Hauptsache, sodass eine Reduzierung des Auffangstreitwerts für das Eilverfahren nicht veranlasst ist.
62Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Tenor
Der vom Rat der Antragsgegnerin (zuletzt) am 10. Juli 2020 beschlossene Bebauungsplan „A-Stadt-D. Nr. 46 "E-Ladestation B-Straße“ wird bis zur Entscheidung über den Normenkontrollantrag der Antragstellerin vorläufig außer Vollzug gesetzt.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Normenkontrolleilverfahren auf 5.000 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
1
Die Antragstellerin wendet sich gegen den Bebauungsplan A-Stadt-D. Nr. 46 „E-Ladestation B-Straße“; sie rügt insbesondere eine fehlerhafte Bewältigung der Lärmproblematik.
2
Die Antragstellerin bewohnt eine in gemeinschaftlichem Wohnungseigentum stehende Wohnung im zweiten Obergeschoss eines Mehrfamilienhauses unter der im Aktivrubrum bezeichneten Anschrift. Das Gebäude liegt im Südosten der sog. E., einem ehemaligen Kasernengelände im Stadtteil D., und zwar unmittelbar nordwestlich der Kreuzung B-Straße/F. Straße/G. in einem mit Bebauungsplan A-Stadt-D. Nr. 210 festgesetzten allgemeinen Wohngebiet. Dem Gebäude gegenüber auf der anderen Seite der Kreuzung liegt eine mit Sträuchern und kleineren Gehölzen bestandene Brachfläche, die nördlich, westlich und südlich von Straßen begrenzt wird und im Osten in den A-Stadt Stadtwald übergeht. Jenseits der Straßen, die den Wald, das Naturschutzgebiet H. Feld und einen ehemaligen Schießplatz erschließen und die jedenfalls nach dem Vortrag der Antragstellerin nicht für den allgemeinen Verkehr freigegeben sind, beginnt ebenfalls der Stadtwald. Die Brachfläche war ebenso wie der umgebende Wald bis zu ihrer im Jahr 2019 erfolgten Entlassung Teil des Landschaftsschutzgebietes I.; der Flächennutzungsplan stellt die Fläche als Wald dar.
3
Die Antragsgegnerin beabsichtigt, ihren Stadtbusverkehr auf elektrisch betriebene Busse umzustellen. Zu diesem Zweck möchte sie an verschiedenen Endhaltestellen Ladestationen errichten. Eine solche Endhaltestelle mit Lademöglichkeiten für vier Busse soll auf der vorbezeichneten Brachfläche entstehen. Zu diesem Zweck setzt der angegriffene Bebauungsplan den westlichen Teil einschließlich der dort bislang verlaufenden Straße als öffentliche Verkehrsfläche besonderer Zweckbestimmung „Busstellplätze mit Ladeinfrastruktur“ fest. Die Fläche soll ausweislich der textlichen Festsetzungen den städtischen Verkehrsbetrieben zum Laden und Abstellen von Hybrid- und Elektrobussen dienen. Betriebsbezogene Nebenanlagen sowie technische Versorgungseinrichtungen - in der Ausführungsplanung vorgesehen sind unter anderem ein Transformatorenhäuschen, Sozialräume und vier Lademasten - sind zulässig. Als Ersatz für den überplanten Teil der bisherigen Straße setzt der Plan in seinem östlichen Bereich eine neue Anbindung der den Stadtwald erschließenden Straßen an die Straße G. in Gestalt einer Straßenverkehrsfläche fest. Die neue Anbindung liegt rund 70 m von der alten Anbindung entfernt. Weitere Flächen - auch außerhalb des eigentlichen Plangebiets - werden als Grünflächen festgesetzt; diese Flächen dienen (auch) dem Ausgleich von Eingriffen in Natur und Landschaft. Entlang der Straße G. werden acht Pkw-Stellplätze festgesetzt.
4
Den Planaufstellungsbeschluss fasste der Verwaltungsausschuss der Antragsgegnerin am 10. September 2018. Nach frühzeitiger Beteiligung der Öffentlichkeit, in der zahlreiche Einwendungen von Bürgerinnen und Bürgern, darunter der Antragstellerin eingingen, veranlasste die Antragsgegnerin eine schalltechnische Untersuchung. Das erste Gutachten vom 7. Mai 2019 bewertete die durch die Verkehrsbewegungen der Busse sowohl im Bereich der Ladestation als auch auf den umliegenden öffentlichen Verkehrsflächen ausgelösten Immissionen sowie die Immissionen der Parkplätze auf der Grundlage der 16. BImSchV, die Immissionen des Transformators nach der TA Lärm. Im Ergebnis stellte das Gutachten eine nächtliche Überschreitung der Immissionsgrenzwerte der 16. BImSchV an dem von der Antragstellerin bewohnten Mehrfamilienhaus von bis zu 0,6 dB(A) fest; der Lärm des Transformators unterschritt die Immissionsrichtwerte der TA Lärm hingegen an allen Immissionsorten um mindestens 15 dB(A). Mit ergänzender Stellungnahme vom 20. Mai 2019 bezog der Gutachter zudem den allgemeinen Verkehrslärm in seine Betrachtung ein mit dem Ergebnis, dass sowohl die Tag- als auch die Nachtwerte nach der 16. BImSchV an zahlreichen Immissionsorten schon im Bestand überschritten sind und nach Errichtung der Ladestation eine weitergehende Überschreitung zu erwarten sei. Es folgte die öffentliche Auslegung im Sommer 2019, die erneut zu zahlreichen Einwendungen auch der Antragstellerin führte. Die Antragsgegnerin überarbeitete daraufhin den Planentwurf durch kleinere Änderungen an den Verkehrs-, Grün- und Ausgleichsflächen sowie seine Begründung und legte den Plan im Januar 2020 für die Zeit von 13 Tagen erneut aus, wobei sie die Möglichkeit der Abgabe von Stellungnahmen auf die geänderten oder ergänzten Teile beschränkte. Aufgrund der Corona-Pandemie und des zwischenzeitlich beschlossenen Lockdowns erging der Satzungsbeschluss sodann durch den Verwaltungsausschuss als Eilentscheidung im Umlaufverfahren mit Abschluss am 18. März 2020. Die öffentliche Bekanntmachung im Amtsblatt der Antragsgegnerin erfolgte am 31. März 2020.
5
Die Antragstellerin hat am 20. April 2020 einen Normenkontrollantrag gestellt und zugleich vorläufigen Rechtsschutz beantragt, zu dessen Begründung sie zahlreiche formelle und materielle Fehler rügt. Insbesondere macht sie Fehler bei der Bewertung der Lärmimmissionen geltend. Die eingeholten Gutachten gingen von fehlerhaften rechtlichen und tatsächlichen Annahmen aus. Insbesondere habe die Betrachtung insgesamt nach der TA Lärm erfolgen müssen. Dementsprechend sei die Abwägung fehlerhaft. Die Entlassung der Teilfläche aus dem Landschaftsschutzgebiet sei unwirksam. Umweltbezogene Belange seien nicht ausreichend berücksichtigt worden.
6
Die Antragstellerin beantragt,
7
den Bebauungsplan A-Stadt-D. Nr. 46 „E-Ladestation B-Straße“ im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig bis zur Rechtskraft der Entscheidung in der Hauptsache außer Vollzug zu setzen.
8
Die Antragsgegnerin beantragt,
9
den Antrag abzulehnen.
10
Sie verteidigt den angegriffenen Plan. Insbesondere gingen von der Busladestation keine unzumutbaren Lärmimmissionen aus. Die Abwägung sei insofern frei von Rechtsfehlern.
11
Der beigeladene Verkehrsbetrieb hat sich nicht geäußert.
12
Während des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens hat die Antragsgegnerin eine erneute schalltechnische Stellungnahme vom 28. Mai 2020 eingeholt, die eine Gesamtbetrachtung der E-Ladestation nach der TA Lärm vornimmt. Die Stellungnahme kommt zu dem Ergebnis, dass die Immissionsrichtwerte an allen Immissionsorten sicher eingehalten werden und auch der An- und Abfahrtsverkehr der Anlage auf öffentlichen Verkehrsflächen keine zusätzlichen Maßnahmen erfordere. Die Antragsgegnerin hat daraufhin die Planbegründung entsprechend ergänzt, den Satzungsbeschluss - diesmal durch den Rat - am 10. Juli 2020 wiederholt und den Bebauungsplan unter dem 21. Juli 2020 erneut ortsüblich bekannt gemacht. Die Antragstellerin hat die neue Planfassung in ihren Normenkontrolleilantrag sowie in ihren Antrag in der Hauptsache einbezogen.
II.
13
Der zulässige Normenkontrolleilantrag der Antragstellerin ist begründet.
14
1. Der Senat hat sich mit Beschluss vom 28.2.2020 - 1 MN 153/19 -, juris Rn. 15, dem vom 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts in ständiger Rechtsprechung (Beschl. v. 25.2.2015 - 4 VR 5.14 -, ZfBR 2015, 381 = BauR 2015, 968 = juris Rn. 12; v. 16.9.2015 - 4 VR 2.15 -, BRS 83 Nr. 58 = juris Rn. 4; v. 30.4.2019 - 4 VR 3.19 -, BauR 2019, 1442 = juris Rn. 4) vertretenen Prüfungsmaßstab für Anträge nach § 47 Abs. 6 VwGO angeschlossen. Zu prüfen sind danach zunächst die Erfolgsaussichten des in der Sache anhängigen Normenkontrollantrages, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen. Ergibt diese Prüfung, dass der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet sein wird, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht im Sinne von § 47 Abs. 6 VwGO zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Erweist sich dagegen, dass der Antrag nach § 47 Abs. 1 VwGO zulässig und (voraussichtlich) begründet sein wird, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug des Bebauungsplans bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache suspendiert werden muss. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn dessen (weiterer) Vollzug vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist. Lassen sich die Erfolgsaussichten des Normenkontrollverfahrens nicht abschätzen, ist über den Erlass einer beantragten einstweiligen Anordnung im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden: Gegenüberzustellen sind die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Normenkontrollantrag aber Erfolg hätte, und die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Antrag nach § 47 Abs. 1 VwGO aber erfolglos bliebe. Die für den Erlass der einstweiligen Anordnung sprechenden Erwägungen müssen die gegenläufigen Interessen dabei deutlich überwiegen, mithin so schwer wiegen, dass der Erlass der einstweiligen Anordnung - trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache - dringend geboten ist.
15
a) Die Erfolgsaussichten des bereits anhängigen Hauptsacherechtsbehelfs der Antragstellerin sind hoch. Der Bebauungsplan der Antragsgegnerin leidet unter einem beachtlichen Fehler im Abwägungsvorgang, der aller Voraussicht nach dessen Unwirksamkeit zur Folge hat. Der Antragsgegnerin ist es - verlasst durch die in zentralen Punkten mangelhaften schalltechnischen Stellungnahmen - nicht gelungen, die von der E-Ladestation ausgehenden Lärmimmissionen rechtlich wie tatsächlich zutreffend zu erfassen.
16
Als Rechtsgrundlage für die Festsetzung der Ladestation hat die Antragsgegnerin zutreffend § 9 Abs. 1 Nr. 11 BauGB herangezogen. Die Vorschrift ermächtigt zur Festsetzung von Verkehrsflächen besonderer Zweckbestimmung; die Flächen können auch als öffentliche oder private Flächen festgesetzt werden. Verkehrsflächen besonderer Zweckbestimmung sind Flächen, bei denen die Verkehrsfunktion um eine weitere städtebauliche Zweckbestimmung ergänzt wird (vgl. Gierke, in: Brügelmann, BauGB, § 9 Rn. 463 ). Das gestattet die Festsetzung einer Fläche zum Abstellen und Laden von Hybrid- und Elektrobussen und schließt die Errichtung der Ladeinfrastruktur wie eines Transformators und der Lademasten sowie die Errichtung der mit Blick auf die besondere verkehrliche Zweckbestimmung erforderlichen Nebenanlagen - hier sieht die Ausführungsplanung einen Aufenthaltsraum für die Fahrer einschließlich sanitärer Anlagen vor - ein. Bedenken gegen die Bestimmtheit des in der textlichen Festsetzung verwendeten Begriffs der „betriebsbezogenen Nebenanlagen“ sind nicht begründet. Der Begriff lässt nur bauliche Anlagen zu, die mit der Zweckbestimmung „Laden und Abstellen“ von Bussen in unmittelbarem Zusammenhang stehen. Dass Carports, Garagen und vergleichbare Überdachungen für Busse - so die Planbegründung - bzw. für einen Betriebshof typische weitergehende bauliche Anlagen zur Wartung von Bussen - so die Abwägung - nicht eingeschlossen sind, lässt sich der Auslegung ohne Schwierigkeiten entnehmen.
17
Die Festsetzung als öffentliche Verkehrsfläche für den Busverkehr führt allerdings nicht dazu, dass die Busladestation als Teil einer öffentlichen Straße im Sinne von § 41 Abs. 1 BImSchG, § 1 Abs. 1 16. BImSchV anzusehen wäre mit der Folge, dass die Lärmimmissionen der Verkehrsbewegungen nach der 16. BImSchV zu bewerten wären. Öffentliche Straßen im Sinne der vorgenannten Vorschriften sind nur solche, die dem allgemeinen Verkehr gewidmet sind (vgl. Jarass, BImSchG, 13. Aufl. 2020, § 41 Rn. 12 m.w.N.). Daran fehlt es hier aus zwei Gründen, und zwar auch in Bezug auf die der Ladestation zugehörigen Verkehrsflächen. Die Busladestation soll erstens nach ihrer Zweckbestimmung den Bussen des städtischen Verkehrsbetriebs vorbehalten bleiben. Zweitens ist sie nicht Teil des Verkehrswegs als solcher, sondern aus straßenrechtlicher Perspektive allenfalls eine mit dessen wesentlicher Verkehrsfunktion nur mittelbar verknüpfte Nebenanlage, die ihrerseits nicht § 41 Abs. 1 BImSchG, § 1 Abs. 1 16. BImSchV unterfällt (vgl. zu einer Abstell- und Instandhaltungsanlage für eine Eisenbahn VGH BW, Urt. v. 25.10.2002 - 5 S 1013/00 -, NVwZ-RR 2003, 461 = juris Rn. 29). Es handelt sich deshalb um eine ortsfeste Anlage im Sinne des § 3 Abs. 5 BImSchG, sodass die von ihr ausgehenden Immissionen einschließlich des Zu- und Abgangsverkehrs - der Vertreter der Antragstellerin hat dies zu Recht wiederholt eingefordert - auf der Grundlage der TA Lärm zu bewerten sind (vgl. dazu BVerwG, Urt. v. 27.8.1998 - 4 C 5.98 -, NVwZ 1999, 523 = juris Rn. 37).
18
Möglicherweise als Bau einer öffentlichen Straße im Sinne des § 1 Abs. 1 16. BImSchV anzusehen sein könnte allerdings die als Straßenverkehrsfläche festgesetzte neue Anbindung des Stadtwalds, des Naturschutzgebiets H. Feld und des ehemaligen Schießplatzes im Nordosten des Plangebiets (vgl. zum Begriff des Baus in Abgrenzung zur bloßen Änderung BVerwG, Urt. v. 10.11.2004 - 9 A 67.03 -, NVwZ 2005, 591 = juris Rn. 25), dies allerdings nur, soweit es sich insofern nicht um eine reine Privatstraße handelt. Hier wird unter Aufgabe der alten Trasse eine gänzlich neue Straßenanbindung geschaffen, die demzufolge eine neue Betrachtung der von ihr ausgehenden Verkehrsimmissionen (Busverkehr und sonstiger Verkehr) verlangt. Dabei kommt es allerdings allein auf die durch das Neubauvorhaben bedingten Lärmimmissionen an; der Bestand - das betrifft insbesondere den Verkehr auf den Straßen G., B-Straße und F. Straße - bleibt unberücksichtigt (vgl. BVerwG, Urt. v. 10.11.2004 - 9 A 67.03 -, NVwZ 2005, 591 = juris Rn. 23).
19
Eine Gesamtbetrachtung des (bestehenden und zukünftigen) Verkehrslärms sowie der von der Busladestation ausgehenden Lärmimmissionen in Gestalt eines Summenpegels wäre demgegenüber nur dann zulässig und zugleich erforderlich, wenn Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass die Gesamtbelastung der Geräuschimmissionen aus verschiedenen Lärmquellen die Grenze zur Gesundheitsgefährdung überschreiten könnte. Dafür ist in diesem Fall jedoch nichts ersichtlich; die Ermittlungen zeigen, dass auch in der maßgeblichen lautesten Nachstunde eine Gesundheitsgefährdung offenkundig nicht zu erwarten ist.
20
Den daraus gemäß § 2 Abs. 3 BauGB folgenden Pflichten an die Ermittlung und Bewertung der abwägungserheblichen Lärmimmissionen ist die Antragsgegnerin - dies rügt die Antragstellerin zu Recht - nicht vollständig gerecht geworden. Zwar hat sie ihrem letzten Satzungsbeschluss eine ergänzte Begründung beigefügt, die den Lärm der Busladestation einschließlich der Fahrbewegungen auf den dazugehörigen Flächen sowie des Ein- und Ausfahrtverkehrs - im Ausgangspunkt zutreffend - auf der Grundlage der TA Lärm bewertet. Die dem zugrundeliegende schalltechnische Stellungnahme vom 28. Mai 2020 ist jedoch ihrerseits fehlerhaft, weil sie - auch insoweit folgt der Senat der Antragstellerin - von fehlerhaften Emissionsansätzen ausgeht. Nach ihrer Zweckbestimmung dient die Busladestation dem Laden und Abstellen von Hybrid- und Elektrobussen. Vor diesem Hintergrund ist damit zu rechnen, dass Hybridbusse auch unter Nutzung eines dieselbetriebenen Verbrennungsmotors die Station anfahren. Die schalltechnische Stellungnahme legt jedoch für die Parkvorgänge die Emissionen eines Niederflurstadtbusses mit Erdgasantrieb und für die Fahrwege die Emissionen eines reinen Elektrobusses zugrunde; jedenfalls letztere Emissionen liegen erheblich unterhalb der Emissionen eines dieselbetriebenen Fahrzeugs. Dass im betrieblichen Ablauf Hybridbusse möglicherweise nicht zum Einsatz kommen werden, ist unerheblich. Zu bewerten sind die Immissionen, mit denen unter Berücksichtigung der Festsetzungen des Bebauungsplans realistischerweise zu rechnen ist. Das sind bei einer Anlage zum Abstellen und Laden von Hybrid- und Elektrobussen naturgemäß auch Hybridbusse, über die die Beigeladene zudem in größerer Anzahl verfügt.
21
Der Senat vermag auch nicht auszuschließen, dass sich dadurch die immissionsschutzrechtliche Betrachtung insgesamt verändert. Jedenfalls an dem für die Antragstellerin maßgeblichen Immissionspunkt B-Straße, 2 OG, wird der für ein allgemeines Wohngebiet geltende Immissionsrichtwert für die Nacht gemäß Nr. 6.1 TA Lärm von 40 dB(A) ausweislich der Stellungnahme mit 39,7 dB(A) nahezu erreicht; die Unterschätzung der Emissionen kann sich also auch im Ergebnis auswirken und zu einer Überschreitung führen, die die Antragsgegnerin veranlassen könnte, ihre Planung zu überarbeiten. Vor diesem Hintergrund ist der offenkundige Fehler gemäß § 214 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BauGB beachtlich und führt aller Voraussicht nach zur Unwirksamkeit des Bebauungsplans in seiner gegenwärtigen Gestalt.
22
b) Die weiter gebotene Abwägung der wechselseitigen Interessen fällt zugunsten der Antragstellerin aus. Ihr ist nicht zuzumuten, die nach Auffassung der Antragsgegnerin im Wesentlichen nicht baugenehmigungspflichtige Errichtung der Busladestation hinzunehmen, ohne dass eine Einhaltung der Immissionsrichtwerte gesichert ist. Der Außervollzugsetzung stehen keine hinreichend gewichtigen Interessen der Antragsgegnerin oder Dritter an der vorläufigen Ausnutzung des Bebauungsplans gegenüber. Das Interesse an der Umsetzung eines mit hoher Wahrscheinlichkeit abwägungsfehlerhaft zustande gekommenen Bebauungsplans wiegt generell gering. Die Antragsgegnerin kann sich zudem zeitnah vergewissern, ob auch bei Zugrundelegung fehlerfreier Emissionsansätze die Immissionsrichtwerte der TA Lärm eingehalten werden. Ist das der Fall, ist die Heilung des Bebauungsplans ohne großen Zeitverzug möglich.
23
2. Nur für den Fall, dass die Antragsgegnerin ein ergänzendes Verfahren durchführen möchte, merkt der Senat an, dass die weiteren Angriffe der Antragstellerin - soweit nach erneutem Satzungsbeschluss noch von Belang - dem Normenkontrollantrag nach Lage der Akten voraussichtlich nicht zum Erfolg verhelfen würden.
24
Ein Verfahrensfehler liegt nicht darin, dass die Antragsgegnerin die erneute Planoffenlegung im Januar 2020 auf einen Zeitraum von 13 Tagen verkürzt und Stellungnahmen nur zu den geringfügig geänderten Festsetzungen - einen Gehweg und eine Grünfläche betreffend - ermöglicht hat (§ 4a Abs. 3 Satz 2 und 3 BauGB). Das gilt ungeachtet dessen, dass die schalltechnische Bewertung in der Planbegründung zwischenzeitlich ergänzt worden war. § 4a Abs. 3 Satz 2 BauGB gestattet es der Gemeinde zu bestimmen, dass Stellungnahmen nur zu den geänderten oder ergänzten Teilen abgegeben werden können. Die Begriffe der Änderung und der Ergänzung beziehen sich auf den „Entwurf des Bauleitplans“, dem gemäß § 2a Satz 1 BauGB „eine Begründung beizufügen“ ist. Die Pflicht zur erneuten Offenlegung wird daher nur von veränderten Festsetzungen, nicht aber von einer veränderten Planbegründung und dem zugehörigen Umweltbericht ausgelöst; dies gilt jedenfalls dann, wenn ein geänderter Umweltbericht lediglich eine Neubewertung bereits vorhandener Sachinformationen enthält (vgl. BVerwG, Urt. v. 8.3.2017 - 4 CN 1.16 -, BVerwGE 158, 182 = juris Rn. 15; Senatsurt. v. 24.6.2015 - 1 KN 138/13 -, BauR 2015, 1624 = juris Rn. 19). So liegt der Fall bezüglich der von der Antragstellerin gerügten Lärmproblematik hier. Die Planbegründung enthält zwar eine weitergehende Erläuterung und Bewertung von Lärmschutzaspekten, dies allerdings ausschließlich auf der Grundlage der bereits in der ersten Auslegung vorliegenden schalltechnischen Stellungnahmen. Der Umweltbericht hat in diesem Punkt keine Änderung erfahren. Eine Pflicht zur erneuten Offenlegung hätte dies nicht ausgelöst, sodass dazu auch keine Stellungnahmemöglichkeit eröffnet werden musste.
25
Eine Pflicht zur erneuten Öffentlichkeitsbeteiligung folgt vor diesem Hintergrund auch nicht daraus, dass die Antragsgegnerin vor dem letzten Satzungsbeschluss eine weitere schalltechnische Stellungnahme vom 28. Mai 2020 - diesmal auf der Grundlage der TA Lärm - veranlasst hat. Diese aus Sicht der Antragsgegnerin nur ergänzende Betrachtung hat keine neuen oder andersartigen Belastungen erbracht. Demzufolge ist der Umweltbericht wiederum unverändert geblieben. Der Senat betont allerdings, dass mit dieser auf die Vergangenheit bezogenen Feststellung eine Aussage darüber, ob ein ergänzendes Verfahren nach rechtlich wie tatsächlich richtiger Einordnung der Lärmimmissionen mit einer erneuten Öffentlichkeitsbeteiligung verbunden werden müsste, ausdrücklich nicht verbunden ist.
26
Die Entlassung der Teilfläche aus dem Landschaftsschutzgebiet I. durch Verordnung vom 13. September 2019 ist wirksam bekannt gemacht. Die Antragsgegnerin hat die der Verordnung zugehörigen Karten gemäß § 14 Abs. 4 Satz 4 NAGBNatSchG als Anlage im Amtsblatt veröffentlicht. Dafür, dass dies nicht maßstabsgetreu erfolgt sein könnte, spricht gegenwärtig nichts.
27
Der Bebauungsplan verstößt nicht in beachtlicher Weise gegen das Entwicklungsgebot des § 8 Abs. 2 Satz 1 BauGB. Dabei kann offenbleiben, ob die Festsetzung knapp bemessener Verkehrsflächen am äußersten Rand des im Flächennutzungsplan dargestellten Waldes im Übergang zum Siedlungsbereich schon aufgrund der insofern nicht parzellenscharfen Darstellung mit § 8 Abs. 2 Satz 1 BauGB vereinbar ist. Selbst wenn das nicht der Fall sein sollte, wäre ein Fehler jedenfalls nicht im Sinne von § 214 Abs. 2 Nr. 2 BauGB beachtlich. Die sich aus dem Flächennutzungsplan ergebende geordnete städtebauliche Entwicklung in Bezug auf das gesamte Gemeindegebiet wird angesichts des geringen Umfangs der betroffenen Flächen und der Gesamtausdehnung des Waldes offensichtlich nicht beeinträchtigt.
28
Die Abweichung von dem gemäß § 4 NAGBNatSchG, § 11 BNatSchG aufgestellten Landschaftsplan begründet ebenfalls keinen Rechtsfehler. Aus § 11 Abs. 3 BNatSchG folgt, dass die darin für die örtliche Ebene konkretisierten Ziele, Erfordernisse und Maßnahmen des Naturschutzes und der Landschaftspflege (lediglich) in der Abwägung nach § 1 Abs. 7 BauGB zu berücksichtigen sind. Dies hat die Antragsgegnerin in fehlerfreier Weise getan. Dass die von der Antragsgegnerin verfolgten Belange - Klimaschutz, Immissionsschutz - ein besonders hohes Gewicht aufweisen und das Zurückstellen anderer Belange rechtfertigen, liegt auf der Hand (vgl. § 1 Abs. 6 Nr. 7, § 1a Abs. 5 BauGB).
29
Der Senat vermag auch nicht zu erkennen, dass die Antragsgegnerin die naturschutzfachliche Bedeutung der in Anspruch zu nehmenden Flächen am Waldrand unterschätzt haben könnte. Es ist nicht ersichtlich, dass die von der Antragsgegnerin vorgenommene Erfassung der vorhandenen Biotoptypen und der betroffenen Tierarten insoweit defizitär sein könnte; auch die Antragstellerin legt dies nicht nachvollziehbar dar.
30
Eine mögliche Erdfallgefahr begründet ebenfalls keinen Abwägungsfehler. Die Antragsgegnerin hat die entsprechenden Karten des Landesamtes für Bergbau, Energie und Geowissenschaften ausgewertet, die für die in Anspruch zu nehmenden Flächen keine Erdfallgefahr ausweisen. Bei Erstellung der Karten war bekannt, dass in dem Gebiet grundsätzlich ein Erdfallrisiko besteht. Weitergehende Ermittlungen waren vor diesem Hintergrund auch mit Blick auf die abstrakten Ausführungen der Antragstellerin nicht veranlasst.
31
Bezüglich der Lärmproblematik sieht der Senat ebenfalls keine weiteren Abwägungsfehler. Die nur kursorische Darstellung der Emissionsansätze bezüglich der Ladevorgänge in der schalltechnischen Stellungnahme vom 28. Mai 2020 hat der Gutachter mit Blick auf eine mögliche Abweichung von der bayerischen Parkplatzlärmstudie in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 7. Oktober 2020 plausibel erläutert. Dass insofern ein Fehler vorliegen könnte, ist gegenwärtig nicht ersichtlich. Plausibel ist auch die Darstellung des Gutachters, dass es einer Einbeziehung der von den Bussen im Kreuzungsbereich, also außerhalb der Ladestation, verursachten Emissionen gemäß Nr. 7.4 TA Lärm nicht bedurft habe. Einzubeziehen sind nach Nr. 7.4 Abs. 1 Satz 1 TA Lärm lediglich die Fahrzeuggeräusche bei der Ein- und Ausfahrt, die in Zusammenhang mit dem Betrieb der Anlage entstehen. Dem stehen die Verkehrsgeräusche auf den öffentlichen Verkehrsflächen gegenüber, für die (nur) die Absätze 2 bis 4 gelten (vgl. BVerwG, Beschl. v. 8.1.2013 - 4 B 23.12 -, BRS 81 Nr. 91= juris Rn. 5). Verkehrsgeräusche bei der Ein- und Ausfahrt finden danach zwar im öffentlichen Straßenraum statt; sie müssen jedoch in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Ein- und Ausfahrtvorgang stehen (vgl. für das Rangieren im öffentlichen Straßenraum zum Zweck der Ein- und Ausfahrt OVG NRW, Beschl. v. 7.8.2018 - 10 A 2185/16 -, juris Rn. 5 ff.). Der insofern entstehende Lärm - dies hat der Gutachter ausweislich seiner Darstellung der angesetzten Fahrbewegungen zutreffend berücksichtigt - ist der Anlage zuzurechnen. Für die übrigen Verkehrsgeräusche kommen allein Verminderungsmaßnahmen in Betracht.
32
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
33
Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG. Der Senat berücksichtigt dabei, dass die Antragstellerin eine erhebliche Minderung des Wohnwertes ihrer Eigentumswohnung beklagt. Dieses Interesse bemisst der Senat mit 10.000 EUR; der Betrag ist aufgrund der Vorläufigkeit der hier angestrebten Entscheidung zu halbieren.
34
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Tenor
Die aufschiebende Wirkung der Klage VG Düsseldorf 26 K 6594/20 gegen die Allgemeinverfügung des Oberbürgermeisters der Stadt Düsseldorf vom 3. November 2020 -07-32/1 Corona 11- wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 2.500,00 Euro festgesetzt.
1Gründe:
2Der am 4. November 2020 bei Gericht anhängig gemachte sinngemäße Antrag des Antragstellers,
3die aufschiebende Wirkung der Klage VG Düsseldorf 26 K 6594/20 gegen die Allgemeinverfügung des Oberbürgermeisters der Stadt Düsseldorf vom 3. November 2020 -07-32/1 Corona 11- anzuordnen,
4ist zulässig und auch begründet.
5Der Klage des Antragstellers gegen die Allgemeinverfügung zum Schutz der Bevölkerung vor Infektionen mit dem Virus SARS-CoV-2 (sog. >>Corona-Virus<<) des Oberbürgermeisters der Stadt Düsseldorf vom 3. November 2020 war entgegen der gesetzlichen Grundentscheidung in §§ 28 Abs. 3, 16 Abs. 8 InfG, 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 VwGO aufschiebende Wirkung zu geben, da die vorzunehmende Interessenabwägung einen Vorrang des Aufschubinteresses des Antragstellers ergibt. Denn die in der Allgemeinverfügung des Oberbürgermeisters der Stadt Düsseldorf getroffene Regelung über die Pflicht zur Tragung einer Alltagsmaske genügt in mehrfacher Hinsicht nicht den Anforderungen, die an die Bestimmtheit eines Verwaltungsaktes –um einen solchen handelt es sich bei einer Allgemeinverfügung, § 35 S. 2 VwVfG NRW- zu stellen sind.
6Gem. § 37 Abs. 1 VwVfG NRW muss ein Verwaltungsakt inhaltlich hinreichend bestimmt sein. – Dies ist nur dann der Fall, wenn die getroffene Regelung –ggf. im Zusammenhang mit der Begründung- für den oder die Adressaten vollständig, klar und unzweideutig ist, mithin das abverlangte Verhalten so eindeutig beschrieben ist, dass ein Adressat in der Lage ist zu erkennen, was von ihm genau gefordert wird. Dieses Erfordernis gewinnt an zusätzlichem Gewicht, wenn ein Verstoß gegen die getroffene Anordnung –wie hier- als Ordnungswidrigkeit geahndet und mit einem Bußgeld in erheblicher Höhe geahndet werden kann. - Maßgeblich für die Feststellung, ob eine Regelung diesen Anforderungen genügt, sind letztlich die Umstände des Einzelfalls.
7Vgl. hierzu Kopp/Ramsauer, VwVfG, 21. Auflage 2020, § 37 Rdn. 5, 6, 12 m.w.N..
8Vorliegend ist die getroffene Anordnung in mehrfacher Hinsicht unbestimmt.
9Zweifelhaft ist die Bestimmtheit bereits betreffend die Beschreibung des räumlichen Geltungsbereichs der Verpflichtung zur Tragung einer Alltagsmaske, soweit diese für „im Zusammenhang bebaute Ortsteile“ gelten soll. Mit dieser Formulierung greift die Behörde einen Begriff aus dem Baugesetzbuch (§ 34) auf, der vorliegend zwar für einen Adressaten der Allgemeinverfügung, der sich in der Düsseldorfer Innenstadt oder in dicht bebauten anderen Ortsteilen aufhält, eindeutig sein mag; für größere Baulücken innerhalb Düsseldorfs oder Stadtrandbereiche ist dies aber schon nicht mehr der Fall. Dies zeigen nicht zuletzt auch zahlreiche baurechtliche Verfahren, in denen es um die Frage geht, ob ein Bauvorhaben (noch) in einem im Zusammenhang bebauten Ortsteil verwirklicht werden soll oder ob dies (schon) im sog. Außenbereich liegt. - Letztlich kann dies aber dahingestellt bleiben, da die Allgemeinverfügung jedenfalls deshalb unbestimmt ist, weil ein Adressat anhand der dort niedergelegten Vorgaben nicht in der Lage ist zu entscheiden, ob er nun der Maskenpflicht unterliegt oder nicht. Denn alle dort genannten Begriffe –Tageszeit, räumliche Situation, Passantenfrequenz- sind unbestimmt und ohne erläuternde weitere Angaben ist ihr Vorliegen für einen Adressaten auch nicht bestimmbar, zumal sie auch noch kumulativ vorliegen müssen, um von der Maskenpflicht befreit zu sein. Eine Bestimmtheit oder zumindest Bestimmbarkeit der Anforderungen an das Bestehen bzw. Nichtbestehen einer Maskenpflicht ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung der unter Punkt 2. der Allgemeinverfügung erfolgten „Klarstellung“ durch Aufzählung von Bereichen, in denen eine Maskenpflicht nicht bestehen soll. Denn diese Aufzählung dient ausweislich der Begründung zu dieser Ziffer dazu, Bürgerinnen und Bürgern die Identifizierung innenstadtnaher Bereiche ohne Maskenpflicht zu erleichtern. Diese Formulierung macht aus sich heraus schon deutlich, dass letztlich nicht durch die Allgemeinverfügung selbst die Verpflichtung zum Tragen einer Maske geregelt wird, sondern vielmehr die Adressaten anhand von unbestimmten Vorgaben –Tageszeit (welche?), räumliche Situation (welche?), Passantenfrequenz (welche?)- selbst über das Vorliegen einer Situation entscheiden müssen, in der es „objektiv ausgeschlossen ist, dass es zu Begegnungen mit anderen Personen kommen kann“.
10Lediglich angemerkt sei, dass es auch nicht ersichtlich ist, aufgrund welcher Erkenntnis in der Allgemeinverfügung festgelegt ist, dass ein Abstand von fünf Metern nicht unterschritten werden darf. Nach der auf Hinweisen des RKI beruhende Regelung in der aktuellen Coronaschutzverordnung vom 30. Oktober 2020 –dort § 2 Abs. 1- ist jedenfalls ein Mindestabstand von 1,5 Metern einzuhalten.
11Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
12Die Streitwertfestsetzung ist nach §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 2 GKG erfolgt.
13Rechtsmittelbelehrung:
14(1) Gegen die Entscheidung über den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz kann innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) schriftlich Beschwerde eingelegt werden, über die das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster entscheidet.
15Die Beschwerde kann auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) eingelegt werden.
16Die Beschwerdefrist ist auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster oder Postfach 6309, 48033 Münster) eingeht.
17Die Beschwerde ist innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht bereits mit der Beschwerde vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster oder Postfach 6309, 48033 Münster) schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV einzureichen. Sie muss einen bestimmten Antrag enthalten, die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist, und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen. Das Oberverwaltungsgericht prüft nur die dargelegten Gründe.
18Die Beschwerdeschrift und die Beschwerdebegründungsschrift sind durch einen Prozessbevollmächtigten einzureichen. Im Beschwerdeverfahren müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die das Verfahren eingeleitet wird. Die Beteiligten können sich durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, der die Befähigung zum Richteramt besitzt, als Bevollmächtigten vertreten lassen. Auf die zusätzlichen Vertretungsmöglichkeiten für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse wird hingewiesen (vgl. § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO und § 5 Nr. 6 des Einführungsgesetzes zum Rechtsdienstleistungsgesetz – RDGEG –). Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 7 VwGO bezeichneten Personen und Organisationen unter den dort genannten Voraussetzungen als Bevollmächtigte zugelassen.
19Die Beschwerdeschrift und die Beschwerdebegründungsschrift sollen möglichst 3-fach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.
20(2) Gegen den Streitwertbeschluss kann schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) Beschwerde eingelegt werden, über die das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster entscheidet, falls ihr nicht abgeholfen wird.
21Die Beschwerde kann auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) oder zu Protokoll der Geschäftsstelle eingelegt werden; § 129a der Zivilprozessordnung gilt entsprechend.
22Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn sie innerhalb von sechs Monaten eingelegt wird, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat; ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
23Die Beschwerde ist nicht gegeben, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200,-- Euro nicht übersteigt.
24Die Beschwerdeschrift soll möglichst 3-fach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.
25War der Beschwerdeführer ohne sein Verschulden verhindert, die Frist einzuhalten, ist ihm auf Antrag von dem Gericht, das über die Beschwerde zu entscheiden hat, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn er die Beschwerde binnen zwei Wochen nach der Beseitigung des Hindernisses einlegt und die Tatsachen, welche die Wiedereinsetzung begründen, glaubhaft macht. Nach Ablauf eines Jahres, von dem Ende der versäumten Frist angerechnet, kann die Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt werden.
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert des Verfahrens wird auf 5.000 EUR festgesetzt.
Gründe
1
I. Der sinngemäß gestellte Antrag,
2
§ 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 der Niedersächsischen Verordnung über Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus SARS-CoV-2 (Niedersächsische Corona-Verordnung) vom 30. Oktober 2020 (Nds. GVBl. S. 368) vorläufig außer Vollzug zu setzen,
3
bleibt ohne Erfolg. Der Antrag ist zulässig (1.), aber unbegründet (2.).
4
Diese Entscheidung, die nicht den prozessrechtlichen Vorgaben des § 47 Abs. 5 VwGO unterliegt (vgl. Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl. 2017, Rn. 607; Hoppe, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 47 Rn. 110 ff.), trifft der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 12.6.2009 - 1 MN 172/08 -, juris Rn. 4 m.w.N.) und gemäß § 76 Abs. 2 Satz 1 NJG ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richterinnen und Richter.
5
1. Der Antrag ist zulässig.
6
Der Normenkontrolleilantrag ist nach § 47 Abs. 6 in Verbindung mit Abs. 1 Nr. 2 VwGO und § 75 NJG statthaft. Die Niedersächsische Corona-Verordnung ist eine im Range unter dem Landesgesetz stehende Rechtsvorschrift im Sinne des § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO in Verbindung mit § 75 NJG (vgl. zu den insoweit bestehenden Anforderungen: Senatsbeschl. v. 31.1.2019 - 13 KN 510/18 -, NdsRpfl. 2019, 130 f. - juris Rn. 16 ff.).
7
Die Antragstellerin ist antragsbefugt im Sinne des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO, da sie geltend machen kann, in eigenen Rechten verletzt zu sein. Die in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Schließung von Spielhallen, Spielbanken, Wettannahmestellen und ähnlichen Einrichtungen ist an deren Betreiberinnen und Betreiber adressiert und lässt es möglich erscheinen, dass die Antragstellerin in ihrem Grundrecht der Berufsausübungsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG verletzt ist (vgl. zu dieser Qualifizierung des Eingriffs: Senatsbeschl. v. 16.4.2020 - 13 MN 77/20 -, juris Rn. 29). Eine darüberhinausgehende Verletzung des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb als einer nach Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Rechtsposition dürfte hingegen nicht vorliegen. Denn dieser Schutz erfasst nur den konkreten Bestand an Rechten und Gütern; die hier durch die verordnete Beschränkung betroffenen bloßen Umsatz- und Gewinnchancen werden hingegen auch unter dem Gesichtspunkt des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs nicht von der Eigentumsgarantie erfasst (vgl. BVerfG, Urt. v. 6.12.2016 - 1 BvR 2821/11 -, BVerfGE 143, 246, 331 f. - juris Rn. 240; Beschl. v. 26.6.2002 - 1 BvR 558/91 -, BVerfGE 105, 252, 278 - juris Rn. 79 m.w.N.).
8
Der Antrag ist zutreffend gegen das Land Niedersachsen als normerlassende Körperschaft im Sinne des § 47 Abs. 2 Satz 2 VwGO gerichtet. Das Land Niedersachsen wird durch das Niedersächsische Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung vertreten (vgl. Nr. II. des Gemeinsamen Runderlasses der Staatskanzlei und sämtlicher Ministerien, Vertretung des Landes Niedersachsen, v. 12.7.2012 (Nds. MBl. S. 578), zuletzt geändert am 15.9.2017 (Nds. MBl. S. 1288), in Verbindung mit Nr. 4.22 des Beschlusses der Landesregierung, Geschäftsverteilung der Niedersächsischen Landesregierung, v. 17.7.2012 (Nds. MBl. S. 610), zuletzt geändert am 18.11.2019 (Nds. MBl. S. 1618)).
9
2. Der Antrag ist aber unbegründet.
10
Nach § 47 Abs. 6 VwGO kann das Gericht in Normenkontrollverfahren auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist. Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind zunächst die Erfolgsaussichten eines Normenkontrollantrages im Hauptsacheverfahren, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen. Ergibt diese Prüfung, dass der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet sein wird, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht im Sinne von § 47 Abs. 6 VwGO zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Erweist sich dagegen, dass der Antrag voraussichtlich Erfolg haben wird, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache suspendiert werden muss. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist. Lassen sich die Erfolgsaussichten des Normenkontrollverfahrens nicht abschätzen, ist über den Erlass einer beantragten einstweiligen Anordnung im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden. Gegenüberzustellen sind im Rahmen der sog. "Doppelhypothese" die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Normenkontrollantrag aber Erfolg hätte, und die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Normenkontrollantrag aber erfolglos bliebe. Die für den Erlass der einstweiligen Anordnung sprechenden Gründe müssen die gegenläufigen Interessen deutlich überwiegen, mithin so schwer wiegen, dass der Erlass der einstweiligen Anordnung - trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache - dringend geboten ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 30.4.2019 - BVerwG 4 VR 3.19 -, juris Rn. 4 (zur Normenkontrolle eines Bebauungsplans); OVG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 22.10.2019 - 6 B 11533/19 -, juris Rn. 5 (zur Normenkontrolle einer Rechtsverordnung über die Freigabe eines verkaufsoffenen Sonntags); Sächsisches OVG, Beschl. v. 10.7.2019 - 4 B 170/19 -, juris Rn. 20 (zur Normenkontrolle einer Rechtsverordnung zur Bildung und Arbeit des Integrationsbeirats); Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 11.5.2018 - 12 MN 40/18 -, juris Rn. 24 ff. (zur Normenkontrolle gegen die Ausschlusswirkung im Flächennutzungsplan) jeweils m.w.N.).
11
Unter Anwendung dieser Grundsätze bleibt der Antrag auf vorläufige Außervollzugsetzung der in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordneten Schließung von Spielhallen, Spielbanken, Wettannahmestellen und ähnlichen Einrichtungen für den Publikumsverkehr und Besuche ohne Erfolg. Der Senat vermag den Erfolg des in der Hauptsache gestellten bzw. noch zu stellenden Normenkontrollantrags derzeit nicht verlässlich abzuschätzen (a.). Die danach gebotene Folgenabwägung führt nicht dazu, dass die von der Antragstellerin geltend gemachten Gründe für die einstweilige Außervollzugsetzung die für den weiteren Vollzug der Verordnung sprechenden Gründe überwiegen (b.).
12
a. Derzeit ist offen, ob § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 der Niedersächsischen Corona-Verordnung in einem Hauptsacheverfahren für unwirksam zu erklären ist. Der Senat geht zwar davon aus, dass diese Verordnungsregelung auf einer tragfähigen Rechtsgrundlage beruht (1) und formell rechtmäßig ist (2). Zweifel an der Bestimmtheit (3) bestehen nicht. Gleiches gilt hinsichtlich der materiellen Rechtmäßigkeit (4) im Hinblick auf das "Ob" eines staatlichen Handelns (a) und die Notwendigkeit der infektionsschutzrechtlichen Maßnahme als solcher (b). Derzeit ist aber nicht verlässlich abzuschätzen, ob die Verordnungsregelung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG zu vereinbaren ist (c).
13
(1) Rechtsgrundlage für den Erlass der Verordnung ist § 32 Satz 1 und 2 in Verbindung mit § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz - IfSG -) vom 20. Juli 2000 (BGBl. I S. 1045), in der hier maßgeblichen zuletzt durch das Gesetz zur Umsetzung steuerlicher Hilfsmaßnahmen zur Bewältigung der Corona-Krise (Corona-Steuerhilfegesetz) vom 19. Juni 2020 (BGBl. I S. 1385) geänderten Fassung.
14
Eine Verfassungswidrigkeit dieser Rechtsgrundlagen, insbesondere mit Blick auf die Bestimmtheit der getroffenen Regelungen und deren Vereinbarkeit mit dem Vorbehalt des Gesetzes, ist für den Senat - ebenso wie offenbar für das Bundesverfassungsgericht in seiner bisherigen Spruchpraxis betreffend die Corona-Pandemie (vgl. bspw. BVerfG, Beschl. v. 15.7.2020 - 1 BvR 1630/20 -; v. 9.6.2020 - 1 BvR 1230/20 -; v. 28.4.2020 - 1 BvR 899/20 -, alle veröffentlicht in juris) - jedenfalls nicht offensichtlich (vgl. hierzu im Einzelnen: Bayerischer VerfGH, Entsch. v. 21.10.2020 - Vf. 26-VII-20 -, juris Rn. 17 ff.; OVG B-Stadt, Beschl. v. 9.4.2020 - 1 B 97/20 -, juris Rn. 24 ff.; Hessischer VGH, Beschl. v. 7.4.2020 - 8 B 892/20.N -, juris Rn. 34 ff.; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 26.10.2020 - 13 B 1581/20.NE -, juris Rn. 32 ff.; Beschl. v. 6.4. 2020 - 13 B 398/20.NE -, juris Rn. 36 ff.; Bayerischer VGH, Beschl. v. 30.3.2020 - 20 NE 20.632 -, juris Rn. 39 ff.; Beschl. v. 30.3.2020 - 20 CS 20.611 -, juris 17 f.; offengelassen: VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 9.4.2020 - 1 S 925/20 -, juris Rn. 37 ff.).
15
Der Vorbehalt des Gesetzes verlangt im Hinblick auf Rechtsstaatsprinzip und Demokratiegebot, dass der Gesetzgeber in grundlegenden normativen Bereichen alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen hat und nicht dem Handeln und der Entscheidungsmacht der Exekutive überlassen darf. Dabei betrifft die Normierungspflicht nicht nur die Frage, ob ein bestimmter Gegenstand überhaupt gesetzlich geregelt sein muss, sondern auch, wie weit diese Regelungen im Einzelnen zu gehen haben (sog. "Wesentlichkeitsdoktrin", BVerfG, Urt. v. 19.9.2018 - 2 BvF 1/15 u.a. -, juris Rn. 199). Inwieweit es einer Regelung durch den parlamentarischen Gesetzgeber bedarf, hängt vom jeweiligen Sachbereich und der Eigenart des betroffenen Regelungsgegenstands ab (vgl. BVerfG, Urt. v. 24.9.2003 - 2 BvR 1436/02 -, juris Rn. 67 f. m.w.N.). Auch Gesetze, die zu Rechtsverordnungen und Satzungen ermächtigen, können den Voraussetzungen des Gesetzesvorbehalts genügen, die wesentlichen Entscheidungen müssen aber durch den parlamentarischen Gesetzgeber selbst erfolgen. Das Erfordernis der hinreichenden Bestimmtheit der Ermächtigungsgrundlage bei Delegation einer Entscheidung auf den Verordnungsgeber aus Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG, wonach Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung im Gesetz bestimmt werden müssen, stellt insoweit eine notwendige Ergänzung und Konkretisierung des Gesetzesvorbehalts und des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung dar. Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG führt als eine Ausprägung des allgemeinen Gesetzesvorbehalts den staatlichen Eingriff durch die Exekutive nachvollziehbar auf eine parlamentarische Willensäußerung zurück. Eine Ermächtigung darf daher nicht so unbestimmt sein, dass nicht mehr vorausgesehen werden kann, in welchen Fällen und mit welcher Tendenz von ihr Gebrauch gemacht werden wird und welchen Inhalt die auf Grund der Ermächtigung erlassenen Verordnungen haben können (vgl. BVerfG, Urt. v. 19.9.2018 - 2 BvF 1/15 u.a. -, juris Rn. 198 ff. m.w.N.). Die Ermächtigungsnorm muss in ihrem Wortlaut nicht so genau wie irgend möglich gefasst sein; sie hat von Verfassungs wegen nur hinreichend bestimmt zu sein. Dazu genügt es, dass sich die gesetzlichen Vorgaben mit Hilfe allgemeiner Auslegungsregeln erschließen lassen, insbesondere aus dem Zweck, dem Sinnzusammenhang und der Entstehungsgeschichte der Norm. Welche Anforderungen an das Maß der erforderlichen Bestimmtheit im Einzelnen zu stellen sind, lässt sich daher nicht allgemein festlegen. Zum einen kommt es auf die Intensität der Auswirkungen der Regelung für die Betroffenen an. Je schwerwiegender die grundrechtsrelevanten Auswirkungen für die von einer Rechtsverordnung potentiell Betroffenen sind, desto strengere Anforderungen gelten für das Maß der Bestimmtheit sowie für Inhalt und Zweck der erteilten Ermächtigung. Zum anderen hängen die Anforderungen an Inhalt, Zweck und Ausmaß der gesetzlichen Determinierung von der Eigenart des zu regelnden Sachverhalts ab, insbesondere davon, in welchem Umfang der zu regelnde Sachbereich einer genaueren begrifflichen Umschreibung überhaupt zugänglich ist. Dies kann es auch rechtfertigen, die nähere Ausgestaltung des zu regelnden Sachbereichs dem Verordnungsgeber zu überlassen, der die Regelungen rascher und einfacher auf dem neuesten Stand zu halten vermag als der Gesetzgeber (vgl. BVerfG, Beschl. v. 21.9.2016 - 2 BvL 1/15 -, juris Rn. 54 ff. m.w.N.).
16
Nach der im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen und auch nur gebotenen summarischen Prüfung ist für den Senat nicht offensichtlich, dass einerseits § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG und andererseits § 32 Satz 1 und 2 IfSG diesen Anforderungen nicht genügen könnten.
17
Mit § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG hat der Bundesgesetzgeber bewusst eine offene Generalklausel geschaffen (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.3.2012 - BVerwG 3 C 16.11 -, BVerwGE 142, 205, 213 - juris Rn. 26 unter Hinweis auf den Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Seuchengesetzes, BT-Drs. 8/2468, S. 27 f.), ohne aber den zuständigen Infektionsschutzbehörden eine unzulässige Globalermächtigung zu erteilen. Der Bundesgesetzgeber hat für den fraglos eingriffsintensiven Bereich infektionsschutzrechtlichen staatlichen Handelns selbst bestimmt, dass die zuständigen Behörden nur dann, wenn Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt werden oder sich ergibt, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, "die notwendigen Schutzmaßnahmen" treffen dürfen, und zwar insbesondere die in den §§ 29 bis 31 IfSG genannten, dies aber auch nur "soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist". Der Begriff der "Schutzmaßnahmen" ist dabei umfassend angelegt, um den Infektionsschutzbehörden insbesondere bei einem dynamischen, zügiges Eingreifen erfordernden Infektionsgeschehen ein möglichst breites Spektrum geeigneter Maßnahmen an die Hand zu geben (vgl. Senatsbeschl. v. 29.5.2020 - 13 MN 185/20 -, juris Rn. 27; OVG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 2.4.2020 - 3 MB 8/20 -, juris Rn. 35). Zugleich ist der Begriff der "Schutzmaßnahmen" nach Inhalt und Zweck der Rechtsgrundlage mit Hilfe allgemeiner Auslegungsregeln hinreichend zu begrenzen. Danach umfasst er auch Untersagungen oder Beschränkungen von unternehmerischen Tätigkeiten in den Bereichen Industrie, Gewerbe, Handel und Dienstleistungen sein (vgl. Senatsbeschl. v. 14.5.2020 - 13 MN 165/20 -, juris Rn. 38 (Untersagung der Erbringung von Dienstleistungen in Tattoo-Studios); Senatsbeschl. v. 14.5.2020 - 13 MN 156/20 -, juris Rn. 28 (Schließung von Fitness-Studios); VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 13.5.2020 - 1 S 1281/20 -, juris Rn. 17; Senatsbeschl. v. 5.5.2020 - 13 MN 124/20 -, juris Rn. 31 (jeweils zum Verbot des Präsenzbetriebs von Nachhilfeeinrichtungen); VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 7.5.2020 - 1 S 1244/20 -, juris Rn. 16 (Untersagung des Betriebs von Spielhallen); OVG B-Stadt, Beschl. v. 7.5.2020 - 1 B 129/20 -, juris Rn. 20; Senatsbeschl. v. 29.4.2020 - 13 MN 120/20 -, juris Rn. 33 (jeweils zur Beschränkung der Verkaufsfläche von Einzelhandelsgeschäften); Senatsbeschl. v. 24.4.2020 - 13 MN 104/20 -, juris Rn. 30 (Schließung von Zoos und Tierparks); Senatsbeschl. v. 16.4.2020 - 13 MN 67/20 -, juris Rn. 43 (Verbot des Verkaufs von Blumen und anderen Pflanzen auf Wochenmärkten); Senatsbeschl. v. 14.4.2020 - 13 MN 63/20 -, juris Rn. 53 (Schließung von Autowaschanlagen); Bayerischer VGH, Beschl. v. 30.3.2020 - 20 CS 20.611 -, juris Rn. 11 ff. (Schließung von Einzelhandelsgeschäften)). Darüber hinaus sind dem behördlichen Einschreiten durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Grenzen gesetzt (vgl. OVG B-Stadt, Beschl. v. 9.4.2020 - 1 B 97/20 -, juris Rn. 30). Dass diese durch Auslegung bestimmten Grenzen nicht vom Willen des Bundesgesetzgebers gedeckt wären, vermag der Senat nicht zu erkennen. Vielmehr hat der Bundesgesetzgeber mit dem Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 27. März 2020 (BGBl. I S. 587) den Satz 1 des § 28 Abs. 1 IfSG um den zweiten Halbsatz "sie kann insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten" ergänzt und gleichzeitig den bis dahin geltenden Satz 2 Halbsatz 2 gestrichen. Unabhängig von der Frage, ob es sich bei dieser Änderung um eine bloße Anpassung aus Gründen der Normenklarheit handelt, besteht für den Senat kein vernünftiger Zweifel, dass damit der Gesetzgeber selbst hinreichend bestimmt zum Ausdruck gebracht hat, dass über punktuell wirkende Maßnahmen hinaus allgemeine oder gleichsam flächendeckende Verbote erlassen werden können. Dafür spricht nicht nur der Wortlaut von § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 IfSG. Auch der Umstand, dass es sich bei der Gesetzesänderung um eine Reaktion auf das aktuelle Bedürfnis zum Erlass von landesweit geltenden Schutzmaßnahmen handelt, trägt dieses Auslegungsergebnis, zumal der Gesetzgeber in Kenntnis der bereits erlassenen Länderverordnungen bei gleichzeitig bestehender Kritik an der ursprünglichen Gesetzesfassung gehandelt hat (so ausdrücklich OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 6.4.2020 - 13 B 398/20.NE -, juris Rn. 52 m.w.N.). Eine weitergehende Konkretisierung der Eingriffsgrundlagen erscheint angesichts der Besonderheiten des Infektionsschutzrechts, die bei Eintritt eines Pandemiegeschehens kurzfristige Reaktionen des Verordnungsgebers auf sich ändernde Gefährdungslagen erforderlich machen können, verfassungsrechtlich nicht geboten.
18
Genügt danach § 28 Abs. 1 IfSG den an eine gesetzliche Rechtsgrundlage für staatliche Eingriffe zu stellenden verfassungsrechtlichen Anforderungen an Inhalt, Zweck und Ausmaß, gilt dies auch für die Verordnungsermächtigung in § 32 Satz 1 und 2 IfSG. Denn diese Verordnungsermächtigung knüpft hinsichtlich der materiellen Voraussetzungen auch an § 28 Abs. 1 IfSG an und ermächtigt die Landesregierungen bzw. von ihr befugte Stellen nur dazu, "unter den Voraussetzungen, die für Maßnahmen nach den §§ 28 bis 31 maßgebend sind, auch durch Rechtsverordnungen entsprechende Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zu erlassen". Der Gesetzgeber gibt also nicht verordnungstypisch einen Regelungsbereich in bestimmten Grenzen aus der Hand, um diesen der Exekutive zur eigenverantwortlichen abstrakten Ausfüllung zu übertragen. Die Verordnungsermächtigung nach § 32 Satz 1 und 2 IfSG stellt lediglich ein anderes technisches Instrument zur Verfügung, um konkret notwendige Schutzmaßnahmen im Sinne des § 28 Abs. 1 IfSG zu erlassen und insbesondere bei flächendeckenden Infektionsgeschehen nicht auf Einzel- oder Allgemeinverfügungen angewiesen zu sein, denen aber durchaus eine vergleichbare flächenhafte Wirkung zukommen kann.
19
(2) Anhaltspunkte für eine formelle Rechtswidrigkeit der Niedersächsischen Corona-Verordnung vom 30. Oktober 2020 bestehen derzeit nicht.
20
Anstelle der nach § 32 Satz 1 IfSG ermächtigten Landesregierung war aufgrund der nach § 32 Satz 2 IfSG gestatteten und durch § 3 Nr. 1 der Verordnung zur Übertragung von Ermächtigungen aufgrund bundesgesetzlicher Vorschriften (Subdelegationsverordnung) vom 9. Dezember 2011 (Nds. GVBl. S. 487), zuletzt geändert durch Verordnung vom 4. August 2020 (Nds. GVBl. S. 266), betätigten Subdelegation das Niedersächsische Ministerium für Gesundheit, Soziales und Gleichstellung zum Erlass der Verordnung zuständig.
21
Gemäß Art. 45 Abs. 1 Satz 2 NV ist die Verordnung von der das Ministerium vertretenden Ministerin ausgefertigt und im Niedersächsischen Gesetz- und Verordnungsblatt vom 30. Oktober 2020 (Nds. GVBl. S. 368) verkündet worden.
22
§ 20 Abs. 1 der Niedersächsischen Corona-Verordnung bestimmt, wie von Art. 45 Abs. 3 Satz 1 NV gefordert, den Tag des Inkrafttretens.
23
Auch dem Zitiergebot des Art. 43 Abs. 2 Satz 1 NV (vgl. zu den insoweit bestehenden Anforderungen: BVerfG, Urt. v. 6.7.1999 - 2 BvF 3/90 -, BVerfGE 101, 1 - juris Rn. 152 ff. (zu Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG); Steinbach, in: Epping/Butzer u.a., Hannoverscher Kommentar zur Niedersächsischen Verfassung, 2012, Art. 43 Rn. 20 m.w.N.) dürfte die Verordnung genügen.
24
Etwaige Verstöße des Antragsgegners gegen die Unterrichtungspflicht nach Art. 25 NV beeinflussen die Rechtmäßigkeit der Verordnung nicht (vgl. Niedersächsischer StGH, Beschl. v. 9.9.2020 - StGH 1/20 -, juris Rn. 9).
25
(3) Bedenken gegen die Bestimmtheit des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 der Niedersächsischen Corona-Verordnung hat der Senat nicht. Die Begriffe "Spielhallen", "Spielbanken" und "Wettannahmestellen" sind hinreichend klar. Auch der Inhalt des Begriffs der "ähnlichen Einrichtung" ist durch Auslegung ermittelbar. Die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe bei der Formulierung von Rechtsnormen ist seit langem anerkannt und stellt für sich genommen keinen Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot dar (vgl. BVerfG, Urt. v. 18.12.1953 - 1 BvL 106/53 -, juris Rn. 41; Beschl. v. 17.12.2019 - 1 BvL 6/16 -, juris Rn. 22 m.w.N.). Ob etwa eine Lottonannahmestelle eine "ähnliche Einrichtung" ist, kann erforderlichenfalls von den Verwaltungsgerichten und/oder dem Senat unter Anwendung der juristischen Auslegungsgrundsätze ohne weiteres geklärt werden.
26
(4) Die in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Schließung von Spielhallen, Spielbanken, Wettannahmestellen und ähnlichen Einrichtungen für den Publikumsverkehr und Besuche ist auch mit Blick auf das "Ob" eines staatlichen Handelns (a) und die Notwendigkeit der infektionsschutzrechtlichen Maßnahme als solcher (b) nicht zu beanstanden.
27
(a) Die Voraussetzungen des § 32 Satz 1 in Verbindung mit § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG sind mit Blick auf das "Ob" eines staatlichen Handelns gegeben.
28
Nach § 32 Satz 1 IfSG dürfen unter den Voraussetzungen, die für Maßnahmen nach den §§ 28 bis 31 IfSG maßgebend sind, auch durch Rechtsverordnung entsprechende Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten erlassen werden. Die tatbestandlichen Voraussetzungen der Rechtsgrundlage des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG sind erfüllt.
29
Werden Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt oder ergibt sich, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, so trifft die zuständige Behörde nach § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in den §§ 29 bis 31 IfSG genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist; sie kann insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten.
30
Es wurden zahlreiche Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider (vgl. die Begriffsbestimmungen in § 2 Nrn. 3 ff. IfSG) im Sinne des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG festgestellt. Die weltweite Ausbreitung von COVID-19, die offizielle Bezeichnung der durch den neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 (Severe acute respiratory syndrome coronavirus type 2) als Krankheitserreger ausgelösten Erkrankung, wurde am 11. März 2020 von der WHO zu einer Pandemie erklärt. Weltweit sind derzeit mehr 46.900.000 Menschen mit dem Krankheitserreger infiziert und mehr als 1.200.000 Menschen im Zusammenhang mit der Erkrankung verstorben (vgl. WHO, Coronavirus disease (COVID-19) Pandemic, veröffentlicht unter: www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019, Stand: 5.11.2020). Derzeit sind im Bundesgebiet mehr als 619.000 Menschen infiziert und mehr als 11.000 Menschen im Zusammenhang mit der Erkrankung verstorben und in Niedersachsen mehr als 42.700 Menschen infiziert und mehr als 800 Menschen infolge der Erkrankung verstorben (vgl. Robert Koch-Institut (RKI), COVID-19: Fallzahlen in Deutschland und weltweit, veröffentlicht unter: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Fallzahlen.html, Stand: 6.11.2020). Es handelt sich weltweit und in Deutschland um eine sehr dynamische und ernst zu nehmende Situation. Weltweit nimmt die Anzahl der Fälle rasant zu. Nach einer vorübergehenden Stabilisierung der Fallzahlen auf einem erhöhten Niveau ist aktuell ein starker Anstieg der Übertragungen auch in der Bevölkerung in Deutschland zu beobachten. Es kommt bundesweit zu Ausbruchsgeschehen. Der Anstieg wird durch Ausbrüche, insbesondere im Zusammenhang mit privaten Treffen und Feiern sowie bei Gruppenveranstaltungen, verursacht. Bei einem zunehmenden Anteil der Fälle ist die aber Infektionsquelle unbekannt. Es werden wieder vermehrt COVID-19-bedingte Ausbrüche in Alten- und Pflegeheimen gemeldet und die Zahl der Patienten, die auf einer Intensivstation behandelt werden müssen, hat sich in den letzten zwei Wochen mehr als verdoppelt (vgl. RKI, Risikobewertung zu COVID-19, veröffentlicht unter: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html, Stand: 26.10.2020). Diese Gefährdungseinschätzung des RKI als nationaler Behörde nach § 4 Abs. 1 IfSG wird nach dem Dafürhalten des Senats durch vereinzelt geäußerte Zweifel an der Zuverlässigkeit der zum Nachweis von SARS-CoV-2 verwendeten sog. PCR-Tests nicht erschüttert (vgl. hierzu Bayerischer VGH, Beschl. v. 8.9.2020 - 20 NE 20.2001 -, juris Rn. 28).
31
COVID-19 ist eine übertragbare Krankheit im Sinne des § 2 Nr. 3 IfSG. Die Erkrankung manifestiert sich als Infektion der Atemwege, aber auch anderer Organsysteme mit den Symptomen Husten, Fieber, Schnupfen sowie Geruchs- und Geschmacksverlust. Der Krankheitsverlauf variiert in Symptomatik und Schwere. Es wird angenommen, dass etwa 81% der diagnostizierten Personen einen milden, etwa 14% einen schwereren und etwa 5% einen kritischen Krankheitsverlauf zeigen. Obwohl schwere Verläufe auch bei Personen ohne Vorerkrankung auftreten und auch bei jüngeren Patienten beobachtet wurden, haben ältere Personen (mit stetig steigendem Risiko für einen schweren Verlauf ab etwa 50 bis 60 Jahren), Männer, Raucher (bei schwacher Evidenz), stark adipöse Menschen, Personen mit bestimmten Vorerkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems (z.B. koronare Herzerkrankung und Bluthochdruck) und der Lunge (z.B. COPD) sowie Patienten mit chronischen Nieren- und Lebererkrankungen, mit Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit), mit einer Krebserkrankung oder mit geschwächtem Immunsystem (z.B. aufgrund einer Erkrankung, die mit einer Immunschwäche einhergeht oder durch Einnahme von Medikamenten, die die Immunabwehr schwächen, wie z.B. Cortison) ein erhöhtes Risiko für schwere Verläufe. Die Erkrankung ist sehr infektiös, und zwar nach Schätzungen beginnend etwa ein bis zwei Tage vor Symptombeginn und endend - bei mild-moderaten Erkrankungen - jedenfalls zehn Tage nach Symptombeginn. Die Übertragung erfolgt hauptsächlich durch die respiratorische Aufnahme virushaltiger Partikel (größere Tröpfchen und kleinere Aerosole), die beim Atmen, Husten, Sprechen und Niesen entstehen. Auch eine Übertragung durch kontaminierte Oberflächen kann nicht ausgeschlossen werden. Es ist zwar offen, wie viele Menschen sich insgesamt in Deutschland mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 infizieren werden. Schätzungen gehen aber von bis zu 70% der Bevölkerung aus, es ist lediglich unklar, über welchen Zeitraum dies geschehen wird. Grundlage dieser Schätzungen ist die so genannte Basisreproduktionszahl von COVID-19. Sie beträgt ohne die Ergreifung von Maßnahmen 3,3 bis 3,8. Dieser Wert kann so interpretiert werden, dass bei einer Basisreproduktionszahl von etwa 3 ungefähr zwei Drittel aller Übertragungen verhindert werden müssen, um die Epidemie unter Kontrolle zu bringen. Die Inkubationszeit beträgt im Mittel fünf bis sechs Tage bei einer Spannweite von einem bis zu 14 Tagen. Der Anteil der Infizierten, der auch tatsächlich erkrankt (Manifestationsindex), beträgt bis zu 85%. Laut der Daten aus dem deutschen Meldesystem werden etwa 14% der in Deutschland dem RKI übermittelten Fälle hospitalisiert. Unter hospitalisierten COVID-19-Patienten mit einer schweren akuten Atemwegserkrankung mussten 37% intensivmedizinisch behandelt und 17% beatmet werden. Die mediane Hospitalisierungsdauer von COVID-19-Patienten mit einer akuten respiratorischen Erkrankung beträgt 10 Tage und von COVID-19-Patienten mit einer Intensivbehandlung 16 Tage. Zur Aufnahme auf die Intensivstation führt im Regelfall Dyspnoe mit erhöhter Atemfrequenz (> 30/min), dabei steht eine Hypoxämie im Vordergrund. Mögliche Verlaufsformen sind die Entwicklung eines akuten Lungenversagens (Acute Respiratory Distress Syndrome - ARDS) sowie, bisher eher seltener, eine bakterielle Koinfektion mit septischem Schock. Weitere beschriebene Komplikationen sind zudem Rhythmusstörungen, eine myokardiale Schädigung sowie das Auftreten eines akuten Nierenversagens (vgl. zum Krankheitsbild im Einzelnen mit weiteren Nachweisen: Kluge/Janssens/Welte/Weber-Carstens/Marx/Karagiannidis, Empfehlungen zur intensivmedizinischen Therapie von Patienten mit COVID-19, in: Medizinische Klinik - Intensivmedizin und Notfallmedizin v. 12.3.2020, veröffentlicht unter: https://link.springer.com/content/pdf/10.1007/s00063-020-00674-3.pdf, Stand: 30.3.2020). Eine Impfung ist in Deutschland nicht verfügbar. Verschiedene spezifische Therapieansätze (direkt antiviral wirksam, immunmodulatorisch wirksam) wurden und werden im Verlauf der Pandemie in Studien untersucht. Zwei Arzneimittel erwiesen sich jeweils in einer bestimmten Gruppe von Patienten mit COVID-19 als wirksam. Als direkt antiviral wirksames Arzneimittel erhielt Remdesivir am 3. Juli 2020 eine bedingte Zulassung zur Anwendung bei schwer erkrankten Patienten durch die Europäische Kommission. Als immunmodulatorisch wirksames Arzneimittel erhielt Dexamethason eine positive Bewertung durch die Europäische Kommission für die Anwendung bei bestimmten Patientengruppen mit einer Infektion durch SARS-CoV-2. Aufgrund der Neuartigkeit des Krankheitsbildes lassen sich keine zuverlässigen Aussagen zu Langzeitauswirkungen und (irreversiblen) Folgeschäden durch die Erkrankung bzw. ihre Behandlung (z.B. in Folge einer Langzeitbeatmung) treffen. Allerdings deuten Studiendaten darauf hin, dass an COVID-19 Erkrankte auch Wochen bzw. Monate nach der akuten Erkrankung noch Symptome aufweisen können.
32
Während der Fall-Verstorbenen-Anteil bei Erkrankten bis etwa 50 Jahren unter 0,1% liegt, steigt er ab 50 zunehmend an und liegt bei Personen über 80 Jahren häufig über 10% (vgl. zu Vorstehendem im Einzelnen und mit weiteren Nachweisen: RKI, SARS-CoV-2 Steckbrief zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19), veröffentlicht unter: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html?nn=13490888, Stand: 2.10.2020; Antworten auf häufig gestellte Fragen zum Coronavirus SARS-CoV-2, veröffentlicht unter: www.rki.de/SharedDocs/FAQ/NCOV2019/gesamt.html, Stand: 6.10.2020).
33
Auch wenn nach diesen Erkenntnissen nur ein kleiner Teil der Erkrankungen schwer verläuft, kann das individuelle Risiko anhand der epidemiologischen und statistischen Daten nicht abgeleitet werden. So kann es auch ohne bekannte Vorerkrankungen und bei jungen Menschen zu schweren bis hin zu lebensbedrohlichen Krankheitsverläufen kommen. Langzeitfolgen, auch nach leichten Verläufen, sind derzeit noch nicht abschätzbar. Die Belastung des Gesundheitssystems hängt maßgeblich von der regionalen Verbreitung der Infektion, den hauptsächlich betroffenen Bevölkerungsgruppen, den vorhandenen Kapazitäten und den eingeleiteten Gegenmaßnahmen ab. Sie kann örtlich sehr schnell zunehmen und dann insbesondere das öffentliche Gesundheitswesen, aber auch die Einrichtungen für die ambulante und stationäre medizinische Versorgung stark belasten. Deshalb bleiben intensive gesamtgesellschaftliche Gegenmaßnahmen nötig, um die Folgen der COVID-19-Pandemie für Deutschland zu minimieren. Diese Maßnahmen verfolgen weiterhin das Ziel, die Infektionen in Deutschland so früh wie möglich zu erkennen und die weitere Ausbreitung des Virus einzudämmen. Hierdurch soll die Zeit für die Entwicklung von antiviralen Medikamenten und von Impfstoffen gewonnen werden. Auch sollen Belastungsspitzen im Gesundheitswesen vermieden werden (vgl. hierzu im Einzelnen und mit weiteren Nachweisen: RKI, Risikobewertung zu COVID-19, veröffentlicht unter: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html, Stand: 26.10.2020).
34
Die danach vorliegenden tatbestandlichen Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG verpflichten die zuständigen Behörden zum Handeln (gebundene Entscheidung, vgl. BVerwG, Urt. v. 22.3.2012 - BVerwG 3 C 16.11 -, BVerwGE 142, 205, 212 - juris Rn. 23).
35
Zugleich steht damit fest, dass die Maßnahmen nicht auf die Rechtsgrundlage des § 16 Abs. 1 IfSG gestützt werden können. Denn die Rechtsgrundlagen einerseits des § 16 Abs. 1 IfSG im Vierten Abschnitt des Infektionsschutzgesetzes "Verhütung übertragbarer Krankheiten" und andererseits des § 28 Abs. 1 IfSG im Fünften Abschnitt des Infektionsschutzgesetzes "Bekämpfung übertragbarer Krankheiten" stehen in einem Exklusivitätsverhältnis zueinander; der Anwendungsbereich des § 16 Abs. 1 IfSG ist nur eröffnet, solange eine übertragbare Krankheit noch nicht aufgetreten ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.12.1971 - BVerwG I C 60.67 -, BVerwGE 39, 190, 192 f. - juris Rn. 28 (zu §§ 10 Abs. 1, 34 Abs. 1 BSeuchG a.F.); Senatsurt. v. 3.2.2011 - 13 LC 198/08 -, juris Rn. 40).
36
(b) Nach summarischer Prüfung ist die in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Schließung von Spielhallen, Spielbanken, Wettannahmestellen und ähnlichen Einrichtungen für den Publikumsverkehr und Besuche auch eine notwendige Schutzmaßnahme im Sinne des § 28 Abs. 1 IfSG.
37
(aa) Dies gilt zunächst für den durch die Regelung betroffenen Adressatenkreis. Wird ein Kranker, Krankheitsverdächtiger, Ansteckungsverdächtiger oder Ausscheider festgestellt, begrenzt § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG den Handlungsrahmen der Behörde nicht dahin, dass allein Schutzmaßnahmen gegenüber der festgestellten Person in Betracht kommen. Die Vorschrift ermöglicht Regelungen gegenüber einzelnen wie mehreren Personen. Vorrangige Adressaten sind zwar die in § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG benannten Personengruppen. Bei ihnen steht fest oder besteht der Verdacht, dass sie Träger von Krankheitserregern sind, die bei Menschen eine Infektion oder eine übertragbare Krankheit im Sinne von § 2 Nr. 1 bis Nr. 3 IfSG verursachen können. Wegen der von ihnen ausgehenden Gefahr, eine übertragbare Krankheit weiterzuverbreiten, sind sie schon nach den allgemeinen Grundsätzen des Gefahrenabwehr- und Polizeirechts als "Störer" anzusehen. Nach § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG können aber auch (sonstige) Dritte ("Nichtstörer") Adressat von Maßnahmen sein, beispielsweise um sie vor Ansteckung zu schützen (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.3.2012 - BVerwG 3 C 16.11 -, BVerwGE 142, 205, 212 f. - juris Rn. 25 f.; OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 3.4.2020 - OVG 11 S 14/20 -, juris Rn. 8 f.).
38
Aus infektionsschutzrechtlicher Sicht maßgeblich ist insoweit allein der Bezug der durch die konkrete Maßnahme in Anspruch genommenen Person zur Infektionsgefahr. Dabei gilt für die Gefahrenwahrscheinlichkeit kein strikter, alle möglichen Fälle gleichermaßen erfassender Maßstab. Vielmehr ist der im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht geltende Grundsatz heranzuziehen, dass an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Dafür sprechen das Ziel des Infektionsschutzgesetzes, eine effektive Gefahrenabwehr zu ermöglichen (§§ 1 Abs. 1, 28 Abs. 1 IfSG), sowie der Umstand, dass die betroffenen Krankheiten nach ihrem Ansteckungsrisiko und ihren Auswirkungen auf die Gesundheit des Menschen unterschiedlich gefährlich sind. Im Falle eines hochansteckenden Krankheitserregers, der bei einer Infektion mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer tödlich verlaufenden Erkrankung führen würde, drängt sich angesichts der schwerwiegenden Folgen auf, dass die vergleichsweise geringe Wahrscheinlichkeit eines infektionsrelevanten Kontakts genügt (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.3.2012 - BVerwG 3 C 16.11 -, BVerwGE 142, 205, 216 - juris Rn. 32). Nach der Risikobewertung des gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Nr. 1 IfSG hierzu berufenen Robert Koch-Instituts im täglichen "Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19)" vom 3. November 2020 (veröffentlicht unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Gesamt.html?nn=13490888) besteht weltweit und in Deutschland um eine sehr dynamische und ernst zu nehmende Situation. Weltweit und in angrenzenden Ländern Europas nimmt die Anzahl der Fälle rasant zu. Aufgrund dieser Bewertung besteht für die hier zu beurteilenden Betreiberinnen und Betreiber von Spielhallen, Spielbanken, Wettannahmestellen und ähnlichen Einrichtungen, in denen sich eine Vielzahl von Mitarbeitern und Besuchern unmittelbar persönlich begegnet oder zumindest begegnen kann und die auch deshalb eine das allgemeine Infektionsrisiko erhöhende Gefahrenlage herbeiführen, ein hinreichend konkreter Bezug zu einer Infektionsgefahr.
39
(bb) Auch Art und Umfang der vom Antragsgegner konkret gewählten Schutzmaßnahme sind nicht ersichtlich ermessensfehlerhaft.
40
"Schutzmaßnahmen" im Sinne des § 28 Abs. 1 IfSG können, wie dargestellt, auch Untersagungen oder Beschränkungen von unternehmerischen Tätigkeiten in den Bereichen Industrie, Gewerbe, Handel und Dienstleistungen sein (vgl. mit zahlreichen Beispielen und weiteren Nachweisen: Senatsbeschl. v. 29.5.2020 - 13 MN 185/20 -, juris Rn. 27), wie sie in § 10 Abs. 1 und 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung getroffen worden sind.
41
Dem steht nicht entgegen, dass § 31 IfSG eine Regelung für die Untersagung beruflicher Tätigkeiten gegenüber Kranken, Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen, Ausscheidern und sonstigen Personen trifft. Denn diese Regelung ist gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG ("insbesondere die in den §§ 29 bis 31 genannten") nicht abschließend. Auch die mangelnde Erwähnung der Grundrechte nach Art. 12 Abs. 1 und 14 Abs. 1 GG in § 28 Abs. 1 Satz 4 IfSG steht der dargestellten Auslegung nicht entgegen. Denn das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG, welches § 28 Abs. 1 Satz 4 IfSG zu erfüllen sucht, besteht nur, soweit im Sinne des Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG "ein Grundrecht durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann". Von derartigen Grundrechtseinschränkungen sind andersartige grundrechtsrelevante Regelungen zu unterscheiden, die der Gesetzgeber in Ausführung der ihm obliegenden, im Grundrecht vorgesehenen Regelungsaufträge, Inhaltsbestimmungen oder Schrankenziehungen vornimmt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 26.5.1970 - 1 BvR 657/68 -, BVerfGE 28, 282, 289 - juris Rn. 26 ff. (zu Art. 5 Abs. 2 GG); Beschl. v. 12.1.1967 - 1 BvR 168/64 -, BVerfGE 21, 92, 93 - juris Rn. 4 (zu Art. 14 GG); Urt. v. 29.7.1959 - 1 BvR 394/58 -, BVerfGE 10, 89, 99 - juris Rn. 41 (zu Art. 2 Abs. 1 GG)). Hierzu zählen auch die Grundrechte der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG, der Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG und des Eigentumsschutzes nach Art. 14 Abs. 1 GG.
42
Der weite Kreis möglicher Schutzmaßnahmen wird durch § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG aber dahin begrenzt, dass die Schutzmaßnahme im konkreten Einzelfall "notwendig" sein muss. Der Staat darf mithin nicht alle Maßnahmen und auch nicht solche Maßnahmen anordnen, die von Einzelnen in Wahrnehmung ihrer Verantwortung gegenüber sich selbst und Dritten bloß als nützlich angesehen werden. Vielmehr dürfen staatliche Behörden nur solche Maßnahmen verbindlich anordnen, die zur Erreichung infektionsschutzrechtlich legitimer Ziele objektiv notwendig sind (vgl. Senatsbeschl. v. 26.5.2020 - 13 MN 182/20 -, juris Rn. 38). Diese Notwendigkeit ist während der Dauer einer angeordneten Maßnahme von der zuständigen Behörde fortlaufend zu überprüfen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.4.2020 - 1 BvQ 31/20 -, juris Rn. 16).
43
Derzeit stellt sich die in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Schließung von Spielhallen, Spielbanken, Wettannahmestellen und ähnlichen Einrichtungen für den Publikumsverkehr und Besuche in diesem Sinne als "notwendig" dar.
44
(α) Der Verordnungsgeber verfolgt mit der Verordnungsregelung das legitime Ziel, die Bevölkerung vor der Infektion mit dem SARS-CoV-2-Virus zu schützen, die Verbreitung der Krankheit COVID-19 zu verhindern und eine Überlastung des Gesundheitssystems infolge eines ungebremsten Anstiegs von Ansteckungen und Krankheitsfällen zu vermeiden. Zur Vorbeugung einer akuten nationalen Gesundheitsnotlage sollen die Kontakte in der Bevölkerung drastisch reduziert werden, um das Infektionsgeschehen insgesamt zu verlangsamen und die Zahl der Neuinfektionen wieder in durch den öffentlichen Gesundheitsdienst nachverfolgbare Größenordnungen zu senken.
45
(β) Zur Erreichung dieses legitimen Ziels ist die Verordnungsregelung auch geeignet, weil sie die Kontaktmöglichkeiten in den Spielhallen, Spielbanken, Wettannahmestellen und ähnlichen Einrichtungen beschränkt und verhindert, dass sich wechselnde Gäste oder Gästegruppen zu dieser Zeit in den Einrichtungen einfinden. Zudem werden die Kontaktmöglichkeiten auf dem Weg von und zu derartigen Einrichtungen reduziert (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 26.10.2020 - 13 B 1581/20.NE -, juris Rn. 54 ff.; Bayerischer VGH, Beschl. v. 19.6.2020 - 20 NE 20.1127 -, juris Rn. 40).
46
(γ) Der Verordnungsgeber darf die getroffene Regelung unter Berücksichtigung des im zukommenden Einschätzungsspielraums auch für erforderlich halten.
47
(αα) Mildere Mittel im Hinblick auf das tätigkeitsbezogene Infektionsgeschehen drängen sich dem Senat nicht auf.
48
Für den Senat steht nach seiner bisherigen Rechtsprechung außer Zweifel, dass Zusammenkünfte in geschlossenen Räumen, mit einer Vielzahl regelmäßig einander unbekannter Personen und längerer Verweildauer ein signifikant erhöhtes Infektionsrisiko mit sich bringen (vgl. nur Senatsbeschl. v. 24.8.2020 - 13 MN 297/20 -, juris Rn. 30 ff. (Kinos); v. 14.8.2020 - 13 MN 283/20 -, juris Rn. 52 ff. (Feiern mit mehr als 50 Personen); v. 29.6.2020 - 13 MN 244/20 -, juris Rn. 35 (Clubs, Diskotheken und ähnliche Einrichtungen) und v. 14.5.2020 - 13 MN 156/20 -, juris Rn. 31 (Fitnessstudios)). Dies gilt naturgemäß auch für den Aufenthalt zahlreicher Personen in einer Spielhalle, Spielbank, Wettannahmestelle oder ähnlichen Einrichtung.
49
Belastbare widerstreitende Erkenntnisse sind dem Bericht des RKI zum "Infektionsumfeld von COVID-19-Ausbrüchen in Deutschland" nicht zu entnehmen. Das RKI konnte in einer "Quellensuche" (Datenstand: 11. August 2020) von insgesamt 202.225 übermittelten Fällen nur 55.141 Fälle bestimmten Ausbruchsgeschehen zuordnen und feststellen, in welchen von 30 unterschiedlichen, verschiedenste Lebensbereiche erfassenden Infektionsumfeldern sich diese ereignet haben (vgl. RKI, Infektionsumfeld von COVID-19-Ausbrüchen in Deutschland, in: Epidemiologisches Bulletin v. 17.9.2020, S. 3 ff., veröffentlicht unter: https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2020/Ausgaben/38_20.pdf?__blob=publicationFile). Von diesen 55.141 Fällen sind bis zur 29. Meldewoche immerhin 1.699 Fälle dem Infektionsumfeld der "Freizeit, unspezifisch" zuzuordnen, d.h. 3,08%. Diese Zahlen finden als solche eine gewisse Bestätigung im Täglichen Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) vom 27. Oktober 2020 (dort S. 12 f.; veröffentlicht unter: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Okt_2020/2020-10-27-de.pdf?__blob=publicationFile), wonach dem Infektionsumfeld der "Freizeit" auch bis zur 43. Kalenderwoche zwar keine signifikante aber eine deutlich erkennbare Anzahl von COVID-19-Fällen zuzuordnen ist. Auch steigt der Anteil der Ausbrüche bei Freizeitaktivitäten seit dem Sommer an. Hieraus kann aber nicht verlässlich geschlossen werden, ob in Spielhallen, Spielbanken, Wettannahmestellen und ähnlichen Einrichtungen ein signifikantes Infektionsrisiko besteht. Hiergegen spricht neben der fehlenden Differenzierung des Begriffs "Freizeit" schon die sehr hohe Zahl von Fällen, in denen ein Infektionsumfeld gerade nicht festgestellt werden konnte. Dies lässt zwar nicht den Schluss zu, dass - etwa wegen einer mangelhaften Erfüllung der Pflicht zur Kundenkontaktdatenerhebung (vgl. § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 der vorausgegangenen Niedersächsischen Corona-Verordnung v. 7.10.2020) - diese sehr hohe Zahl von Fällen dem Freizeitbereich überwiegend oder gar ganz zuzurechnen wäre. Es mindert aber den Erkenntniswert der zahlenmäßig festgestellten Infektionsumfelder ganz erheblich. Dahinstehen lassen kann der Senat, ob der Verordnungsgeber alles ihm Mögliche und Zumutbare unternommen hat, um bessere Erkenntnisse über die Verbreitungswege und Infektionsumfelder zu erlangen. Denn selbst verneinendenfalls führte dies nach dem Dafürhalten des Senats nicht dazu, dass infektionsschutzrechtliche Schutzmaßnahmen auf der seit Pandemiebeginn nahezu unverändert dürftigen Erkenntnislage gar nicht mehr getroffen werden dürften und die Infektionsschutzbehörden gehalten wären, dem Geschehen seinen Lauf zu lassen.
50
In Bezug auf das tätigkeitsbezogene Infektionsgeschehen mildere Mittel ergeben sich auch nicht aus bloßen Beschränkungen des Betriebs von Spielhallen, Spielbanken, Wettannahmestellen und ähnlichen Einrichtungen, etwa auf der Grundlage von Hygienekonzepten und deren notfalls zwangsweiser behördlicher Durchsetzung. Der Senat verkennt nicht, dass die Betreiberinnen und Betreiber der genannten Einrichtungen in den vergangenen Monaten erhebliche Arbeitskraft und finanzielle Mittel in die Umsetzung dieser Konzepte investiert haben. Ein regelmäßiges Vollzugsdefizit, dem - in gewissen Grenzen - durch verstärkte behördliche Kontrollen entgegengewirkt werden könnte (vgl. hierzu Senatsbeschl. v. 28.8.2020 - 13 MN 307/20 -, juris Rn. 32), ist nicht zu erkennen. Eine gewisse Wirksamkeit der Konzepte ist nicht zu leugnen, auch wenn diese mangels belastbarer tatsächlicher Erkenntnisse zum konkreten Infektionsumfeld nicht konkretisiert werden kann. Es ist angesichts der derzeitigen Infektionsdynamik aber nicht festzustellen, dass diese Konzepte infektionsschutzrechtlich eine vergleichbare Effektivität aufweisen, wie die Betriebsschließungen. Dies gilt umso mehr, als aufgrund der Emotionalität des (Glücks-)Spiels und von Wetten sowie wegen der unter den regelmäßigen Besuchern derartiger Einrichtungen bestehenden Bekanntschaften die Einhaltung von Abstands- und Hygieneregeln nur schwer einzuhalten und durchzusetzen ist. Dies gilt in gleicher Weise für die Beschränkungen bei der Aufstellung von Spielgeräten nach § 3 der Verordnung über Spielgeräte und andere Spiele mit Gewinnmöglichkeit (Spielverordnung) vom 27. Januar 2006 (BGBl. I S. 280), zuletzt geändert durch Gesetz vom 18. Juli 2016 (BGBl. I S. 1666).
51
(ββ) Mildere Mittel sind auch im Hinblick auf das gebietsbezogene Infektionsgeschehen nicht ersichtlich.
52
Der Verordnungsgeber hat die Erforderlichkeit der Betriebsschließung - anders als bei den zuvor angeordneten Beherbergungsverboten (vgl. Senatsbeschl. v. 15.10.2020 - 13 MN 371/20 -, juris Rn. 59) und Sperrzeiten im Gastronomiebereich (vgl. Senatsbeschl. v. 29.10.2020 - 13 MN 393/20 -, juris Rn. 57) - ersichtlich nicht nur anhand der 7-Tage-Inzidenz, also der Zahl der Neuinfizierten im Verhältnis zur Bevölkerung je 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner kumulativ in den letzten sieben Tagen, beurteilt, sondern, wie in dem von der Niedersächsischen Landesregierung erstellten "Handlungskonzept zur Bekämpfung des Infektionsgeschehens in der COVID 19 Pandemie" (veröffentlicht unter: www.stk.niedersachsen.de/startseite/presseinformationen/vorsorgliches-handlungskonzept-zur-bekampfung-eines-gegebenenfalls-weiter-ansteigenden-infektionsgeschehens-in-der-covid-19-pandemie-193263.html, Stand: 5.10.2020) vorgesehen, auch alle anderen für das Infektionsgeschehen relevanten Umstände in seine Bewertung einbezogen (vgl. zu dieser Verpflichtung zuletzt: Senatsbeschl. v. 29.10.2020 - 13 MN 393/20 -, juris Rn. 57).
53
Diese Bewertung rechtfertigt es, landesweit einheitliche infektionsschützende Maßnahmen zu ergreifen. Landesweit beträgt die 7-Tage-Inzidenz mehr als 100. Der weit überwiegende Teil der Landkreise und kreisfreien Städte weist eine 7-Tage-Inzidenz von mehr als 50 auf, welche die Grenze markiert, bis zu der die öffentliche Gesundheitsverwaltung in Deutschland zu einer Rückverfolgung der Infektionsketten maximal in der Lage ist und so das wichtige und legitime Ziel der Verhinderung der weiteren Ausbreitung durch Fallfindung mit Absonderung von Erkrankten und engen Kontaktpersonen mit einem erhöhten Erkrankungsrisiko noch erreicht werden kann (vgl. Senatsbeschl. v 5.6.2020 - 13 MN 195/20 -, juris Rn. 33). Wird diese Grenze in einem bestimmten Gebiet überschritten, bestehen auch nach dem Dafürhalten des Senats durchaus tatsächliche Anhaltspunkte für ein dynamisches Infektionsgeschehen und eine erhöhte Infektionswahrscheinlichkeit. Hinzu kommt ein landesweit diffuses Infektionsgeschehen. Auch wenn es deutliche regionale Unterschiede in der Verteilung gibt, steigen die Zahlen von Neuinfektionen flächendeckend an und sind die Ausbruchsgeschehen weit überwiegend keinen bestimmten Ereignissen oder Örtlichkeiten mehr zuzuordnen. Die örtlichen Gesundheitsämter sind trotz personeller Verstärkung häufig nicht mehr in der Lage, Infektionsketten nachzuverfolgen. Die Verdoppelungsrate hat sich von weit über 30 Tagen im Sommer auf 7 Tage im Zeitpunkt vor Erlass der angefochtenen Verordnung reduziert. Die Zahl infizierter und erkrankter Menschen, die älter als 60 Jahre sind und die ein höheres Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf haben, ist drastisch angestiegen. Auch die Sterbefallzahlen und die Auslastung medizinischer und insbesondere intensivmedizinischer Kapazitäten steigen stetig an, wobei der Antragsgegner seine Maßnahmen nicht erst dann treffen darf, wenn diese (nahezu) erschöpft sind (vgl. hierzu im Einzelnen die Angaben des Niedersächsischen Landesgesundheitsamtes unter https://www.niedersachsen.de/Coronavirus/aktuelle_lage_in_niedersachsen/ und des RKI im täglichen Lagebericht unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Gesamt.html?nn=13490888). Im Hinblick auf die aktuelle Entwicklung durfte der Antragsgegner den vollzogenen Strategiewechsel weg von bisherigen bloßen Betriebsbeschränkungen hin zu weitreichenden flächendeckenden Betriebsschließungen und ergänzenden Betriebsbeschränkungen als derzeit einzig verlässliches effektives Mittel und damit für erforderlich erachten.
54
In Bezug auf das gebietsbezogene Infektionsgeschehen mildere Mittel ergeben sich nicht daraus, dass neben den hier streitgegenständlichen Betriebsschließungen weitere, bisher nicht betroffene Bereiche von Industrie, Gewerbe, Handel und Dienstleistungen geschlossen oder weiter beschränkt werden könnten. Ungeachtet der Effektivität eines solchen Vorgehens handelt es sich gegenüber den von diesen Maßnahmen betroffenen Rechtsträgern jedenfalls nicht um mildere Mittel.
55
Auch eine Beschränkung der Schutzmaßnahmen auf besonders schutzbedürftige (Risiko-)Gruppen von Personen ist angesichts der Größe und nur begrenzt möglichen Konkretisierung dieser Gruppen und der jedenfalls nicht verlässlichen Effektivität einer solchen Beschränkung kein milderes Mittel.
56
(δ) Die getroffene Regelung ist voraussichtlich auch angemessen.
57
Dabei verkennt der Senat nicht, dass die Betriebsschließungen tiefgreifend und wiederholt in die Berufsausübungsfreiheit der Betreiberinnen und Betreiber von Spielhallen, Spielbanken, Wettannahmestellen und ähnlichen Einrichtungen eingreifen und ihnen die Berufsausübung für einen erheblichen Zeitraum nahezu unmöglich machen, und dies nach einer Phase, in der sie erhebliche Arbeitskraft und finanzielle Mittel in die Umsetzung von infektionsschutzrechtlichen Hygienekonzepten investiert haben. Das Gewicht dieses "Sonderopfers" wird aber dadurch gemildert, dass ihnen staatlicherseits Kompensationen für die zu erwartenden Umsatzausfälle in durchaus erheblichem Umfang in Aussicht gestellt worden sind (vgl. Beschluss der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder v. 28.10.2020: "Für die von den temporären Schließungen erfassten Unternehmen, Betriebe, Selbständige, Vereine und Einrichtungen wird der Bund eine außerordentliche Wirtschaftshilfe gewähren, um sie für finanzielle Ausfälle zu entschädigen. Der Erstattungsbetrag beträgt 75% des entsprechenden Umsatzes des Vorjahresmonats für Unternehmen bis 50 Mitarbeiter, womit die Fixkosten des Unternehmens pauschaliert werden. Die Prozentsätze für größere Unternehmen werden nach Maßgabe der Obergrenzen der einschlägigen beihilferechtlichen Vorgaben ermittelt. Die Finanzhilfe wird ein Finanzvolumen von bis zu 10 Milliarden haben."; veröffentlicht unter: https://www.bundesregierung.de/resource/blob/997532/1805024/5353edede6c0125ebe5b5166504dfd79/2020-10-28-mpk-beschluss-corona-data.pdf?download=1, Stand: 4.11.2020). Mit Blick auf die gravierenden, teils irreversiblen Folgen eines weiteren Anstiegs der Zahl von Ansteckungen und Erkrankungen für die hochwertigen Rechtsgüter Leib und Leben einer Vielzahl Betroffener sowie einer Überlastung des Gesundheitswesens ist dieser Eingriff indes von ihnen hinzunehmen.
58
(c) Derzeit ist aber nicht verlässlich zu klären, ob die in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Schließung von Spielhallen, Spielbanken, Wettannahmestellen und ähnlichen Einrichtungen für den Publikumsverkehr und Besuche mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG zu vereinbaren ist.
59
Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebietet dem Normgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln (vgl. BVerfG, Beschl. v. 7.2.2012 - 1 BvL 14/07 -, BVerfGE 130, 240, 252 - juris Rn. 40; Beschl. v. 15.7.1998 - 1 BvR 1554/89 u.a. -, BVerfGE 98, 365, 385 - juris Rn. 63). Es sind nicht jegliche Differenzierungen verwehrt, allerdings bedürfen sie der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Differenzierungsziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind. Je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen reichen die Grenzen für die Normsetzung vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse. Insoweit gilt ein stufenloser, am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab, dessen Inhalt und Grenzen sich nicht abstrakt, sondern nur nach den jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereichen bestimmen lassen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 18.7.2012 - 1 BvL 16/11 -, BVerfGE 132, 179, 188 - juris Rn. 30; Beschl. v. 21.6.2011 - 1 BvR 2035/07, BVerfGE 129, 49, 69 - juris Rn. 65; Beschl. v. 21.7.2010 - 1 BvR 611/07 u.a. -, BVerfGE 126, 400, 416 - juris Rn. 79).
60
Hiernach sind die sich aus dem Gleichheitssatz ergebenden Grenzen für die Infektionsschutzbehörde weniger streng (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 17.4.2020- OVG 11 S 22/20 -, juris Rn. 25). Auch kann die strikte Beachtung des Gebots innerer Folgerichtigkeit nicht eingefordert werden (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 26.3.2020 - 5 Bs 48/20 -, juris Rn. 13). Zudem ist die sachliche Rechtfertigung nicht allein anhand des infektionsschutzrechtlichen Gefahrengrades der betroffenen Tätigkeit zu beurteilen. Vielmehr sind auch alle sonstigen relevanten Belange zu berücksichtigen, etwa die Auswirkungen der Ge- und Verbote für die betroffenen Unternehmen und Dritte und auch öffentliche Interessen an der uneingeschränkten Aufrechterhaltung bestimmter unternehmerischer Tätigkeiten (vgl. Senatsbeschl. v. 14.4.2020 - 13 MN 63/20 -, juris Rn. 62). Auch die Überprüfbarkeit der Einhaltung von Ge- und Verboten kann berücksichtigt werden (vgl. Senatsbeschl. v. 9.6.2020 - 13 MN 211/20 -, juris Rn. 41).
61
Dies zugrunde gelegt vermag der Senat im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes nur einen Verstoß der Verordnungsregelung gegen das Willkürverbot zu verneinen. Die in § 10 Abs. 1 und 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordneten Betriebsverbote und -beschränkungen beruhen auf der jedenfalls nicht schlichtweg sachfremden Erwägung, dass ein ganz erheblicher Teil der für das Infektionsgeschehen relevanten sozialen Kontakte von vorneherein verhindert werden muss, und dass diese Verhinderung neben den ganz erheblichen Beschränkungen von Kontakten im privaten Bereich am gemeinwohlverträglichsten durch Verbote und Beschränkungen in den Bereichen Freizeit, Sport, Unterhaltung und körpernaher Dienstleistungen erreicht werden kann. Ausgenommen sind grundrechtlich besonders geschützte Bereiche wie die Religionsausübung und öffentliche Versammlungen. Es ist in diesem Zusammenhang auch nicht zu beanstanden, wenn der Normgeber bei der Abfassung des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 der Niedersächsischen Corona-Verordnung auf Spielhallen, Spielbanken und Wettannahmestellen in ihrer typischen Ausprägung abstellt und nicht darauf, ob einzelne Unternehmen eine atypische Gestaltung mit einem nach Auffassung des jeweiligen Betreibers geringeren Infektionsrisiko aufweisen.
62
Diese schlichte Beachtung des Willkürverbots ist angesichts des Umfangs der angeordneten Betriebsverbote und -beschränkungen und der damit verbundenen erheblichen Eingriffe in Grundrechte der Betriebsinhaber aber nicht ausreichend, um eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes verneinen zu können. Die vielmehr erforderliche Beurteilung, ob der Verordnungsgeber mit der getroffenen Auswahl von zu schließenden oder zu beschränkenden Betrieben unter Berücksichtigung des infektionsschutzrechtlichen Gefahrengrades der betroffenen Tätigkeiten und aller sonstigen relevanten Belange eine auf hinreichenden Sachgründen beruhende und angemessene Differenzierung tatsächlich erreicht hat, ist schon angesichts der Vielzahl und Vielgestaltigkeit von Fallkonstellationen aber in einem Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes nicht zu leisten. Sie muss vielmehr an dieser Stelle offenbleiben.
63
Klarstellend weist der Senat darauf hin, dass eine rechtfertigungsbedürftige Ungleichbehandlung sich nicht daraus ergeben kann, dass andere Länder von den niedersächsischen Anordnungen abweichende Schutzmaßnahmen getroffen haben. Voraussetzung für eine Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG ist, dass die Vergleichsfälle der gleichen Stelle zuzurechnen sind. Daran fehlt es, wenn die beiden Sachverhalte von zwei verschiedenen Trägern öffentlicher Gewalt gestaltet werden; der Gleichheitssatz bindet jeden Träger öffentlicher Gewalt allein in dessen Zuständigkeitsbereich (vgl. BVerfG, Beschl. v. 12.5.1987 - 2 BvR 1226/83 -, BVerfGE 76, 1, 73 - juris Rn. 151 m.w.N.). Ein Land verletzt daher den Gleichheitssatz nicht deshalb, weil ein anderes Land den gleichen Sachverhalt anders behandelt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 8.5.2008 - 1 BvR 645/08 -, juris Rn. 22 m.w.N.).
64
b. Die wegen der danach offenen Erfolgsaussichten gebotene Folgenabwägung führt dazu, dass die von der Antragstellerin geltend gemachten Gründe für die vorläufige Außervollzugsetzung die für den weiteren Vollzug der Verordnung sprechenden Gründe nicht überwiegen.
65
Würde der Senat die in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Schließung von Spielhallen, Spielbanken, Wettannahmestellen und ähnlichen Einrichtungen für den Publikumsverkehr und Besuche vollständig (vgl. zur Unzulässigkeit von Normergänzungen im Normenkontrollverfahren: Senatsbeschl. v. 14.5.2020 - 13 MN 156/20 -, juris Rn. 5 m.w.N.) außer Vollzug setzen, bliebe der Normenkontrollantrag in der Hauptsache aber ohne Erfolg, könnte die Antragstellerin zwar vorübergehend die mit der Schutzmaßnahme verbundene Schließung vermeiden. Ein durchaus wesentlicher Baustein der komplexen Pandemiebekämpfungsstrategie des Antragsgegners würde aber in seiner Wirkung deutlich reduziert (vgl. zur Berücksichtigung dieses Aspekts in der Folgenabwägung: BVerfG, Beschl. v. 1.5.2020 - 1 BvQ 42/20 -, juris Rn. 10), und dies in einem Zeitpunkt eines äußerst dynamischen Infektionsgeschehens. Die Möglichkeit, eine geeignete und erforderliche Schutzmaßnahme zu ergreifen und so die Verbreitung der Infektionskrankheit zum Schutze der Gesundheit der Bevölkerung, einem auch mit Blick auf Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG überragend wichtigen Gemeinwohlbelang (vgl. BVerfG, Urt. v. 30.7.2008 - 1 BvR 3262/07 u.a. -, BVerfGE 121, 317, 350 - juris Rn. 119 m.w.N.), effektiver zu verhindern, bliebe hingegen zumindest zeitweise bis zu einer Reaktion des Verordnungsgebers (irreversibel) ungenutzt.
66
Würde hingegen die in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Schließung von Spielhallen, Spielbanken, Wettannahmestellen und ähnlichen Einrichtungen für den Publikumsverkehr und Besuche nicht vorläufig außer Vollzug gesetzt, hätte der Normenkontrollantrag aber in der Hauptsache Erfolg, wäre die Antragstellerin vorübergehend zu Unrecht zur Befolgung der - für den Fall der Nichtbefolgung bußgeldbewehrten - Schutzmaßnahme verpflichtet und müsste ihre Einrichtung für den Publikumsverkehr und Besuche schließen. Der damit jedenfalls verbundene Eingriff in ihr Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG würde für die Dauer der Verpflichtung, längstens für die Dauer eines Hauptsacheverfahrens, verfestigt. Dieser Eingriff ist nach Einschätzung des Senats fraglos von erheblichem Gewicht. Dieses Gewicht wird aber dadurch abgemildert, dass staatlicherseits Kompensationen für die zu erwartenden Umsatzausfälle in durchaus erheblichem Umfang in Aussicht gestellt worden sind. Der hiernach verbleibende Eingriff hat hinter dem mit der Maßnahme verfolgten legitimen Ziel eines effektiven Infektionsschutzes zurückzustehen und ist von der Antragstellerin vorübergehend hinzunehmen. Denn ohne diesen würde sich die Gefahr der Ansteckung mit dem Virus, der erneuten Erkrankung vieler Personen, der Überlastung der gesundheitlichen Einrichtungen bei der Behandlung schwerwiegender Fälle und schlimmstenfalls des Todes von Menschen auch nach den derzeit nur vorliegenden Erkenntnissen erheblich erhöhen (vgl. zu dieser Gewichtung: BVerfG, Beschl. v 7.4.2020 - 1 BvR 755/20 -, juris Rn. 10; Beschl. v. 28.4.2020 - 1 BvR 899/20 -, juris Rn. 12 f.).
67
In diese Folgenabwägung wird insbesondere auch eingestellt, dass die Verordnung gemäß ihres § 20 Abs. 1 mit Ablauf des 30. November 2020 außer Kraft tritt. Damit ist sichergestellt, dass die Verordnung unter Berücksichtigung neuer Entwicklungen der Corona-Pandemie fortgeschrieben werden muss. Hierbei hat der Antragsgegner - wie auch bei jeder weiteren Fortschreibung der Verordnung - hinsichtlich der im vorliegenden Verfahren relevanten Schließung zu untersuchen, ob es angesichts neuer Erkenntnisse etwa zu den Verbreitungswegen des Virus oder zur Gefahr einer Überlastung des Gesundheitssystems verantwortet werden kann, die Schließung unter - gegebenenfalls strengen - Auflagen weiter zu lockern (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.4.2020 - 1 BvQ 28/20 -, juris Rn. 16).
68
II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
69
III. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG. Es entspricht der ständigen Praxis des Senats, in Normenkontrollverfahren in der Hauptsache nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO grundsätzlich den doppelten Auffangwert im Sinne des § 52 Abs. 2 GKG, mithin 10.000 EUR, als Streitwert anzusetzen (vgl. Senatsbeschl. v. 31.1.2019 - 13 KN 510/18 -, Nds. Rpfl. 2019, 130 f. - juris Rn. 29). Dieser Streitwert ist für das Verfahren auf sofortige Außervollzugsetzung der Verordnung nach § 47 Abs. 6 VwGO zu halbieren.
70
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5 in Verbindung mit 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Tenor
1. Soweit in Ziffer II, § 1 Nr. 5a Abs. 2 der Allgemeinverfügung der Stadt Köln „Änderung der Allgemeinverfügung vom 02.10.2020 zur regionalen Anpassung der Coronaschutzverordnung an das Infektionsschutzgeschehen in der Stadt Köln“ der Antragsgegnerin vom 02.11.2020 angeordnet wird, dass in ärztlichen Attesten über medizinische Einschränkungen zugleich eine Schutzmaßnahme festgelegt werden muss, die zumutbar und in der Schutzwirkung gegenüber Dritten einer geeigneten Mund-Nasen-Bedeckung möglichst nahe kommt, wird die aufschiebende Wirkung der Klage 20 K 6027/20 angeordnet.
Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
Die Kosten des Verfahrens tragen der Antragsteller zu 2/3 und die Antragsgegnerin zu 1/3.
2. Der Streitwert wird auf 5.000,00 € festgesetzt.
1G r ü n d e
2Der sinngemäße Antrag des Antragstellers,
3die aufschiebende Wirkung der Klage gegen Ziffer II, § 1 Nr. 2 g), Nr. 5a und Nr. 9 der Allgemeinverfügung „Änderung der Allgemeinverfügung vom 02.10.2020 zur regionalen Anpassung der Coronaschutzverordnung an das Infektionsschutzgeschehen in der Stadt Köln“ der Antragsgegnerin vom 02.11.2020 anzuordnen,
4ist zulässig, aber nur teilweise begründet.
5Gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag die aufschiebende Wirkung einer Klage ganz oder teilweise wiederherstellen, wenn wie hier eine behördliche Maßnahme kraft Gesetzes sofort vollziehbar ist, § 28 Abs. 3 i.V.m. § 16 Abs. 8 IfSG.
6In der Sache hat das Gericht bei seiner Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO das öffentliche Vollziehungs- und das private Aussetzungsinteresse gegeneinander abzuwägen und dabei die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs zu berücksichtigen. Während bei offensichtlicher Aussichtslosigkeit des Rechtsbehelfs ein schutzwürdiges Aussetzungsinteresse nicht in Betracht kommt, besteht umgekehrt kein öffentliches Interesse am Vollzug einer offensichtlich rechtswidrigen Verfügung. Lassen sich die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs nicht abschätzen, ist eine Abwägung zwischen dem privaten Interesse an der aufschiebenden Wirkung und dem allgemeinen öffentlichen Interesse bzw. dem privaten Interesse sonstiger Beteiligter am Vollzug vorzunehmen. Im Rahmen dieser Abwägung ist auch eine gesetzgeberische Grund- entscheidung (für den Ausschluss der aufschiebenden Wirkung) in den Blick zu nehmen.
71.
8Vorliegend spricht Überwiegendes für die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Regelungen in § 1 Nr. 2 g und Nr. 9 der Allgemeinverfügung, die ihre Rechtsgrundlage in § 15a Coronaschutzverordnung NRW vom 01.09.2020 bzw. in § 13 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m § 3 Abs. 2 Nr. 6 Coronaschutzverordnung NRW vom 30.10.2020 finden. Sowohl die Ausweitung der Pflicht, eine Mund-Nasenbedeckung zu tragen, als auch die Begrenzung der Teilnehmerzahl auf 100 Personen dienen der Bekämpfung des exponentiellen Infektionsgeschehens der Sars-CoV-2-Pandemie und sind zu diesem Zweck entsprechen den ständig aktualisierten fachlichen Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts auch geeignet und erforderlich. Es ist vor diesem Hintergrund voraussichtlich unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten nicht zu beanstanden, dass durch die in Rede stehenden Maßnahmen für einen befristeten Zeitraum das Versammlungsrecht geringfügig beschränkt und in der gegenwärtigen Situation dem Gesundheitsschutz der Vorrang eingeräumt wird.
9Aber auch eine unabhängig von den Erfolgsaussichten vorzunehmende Interessenabwägung fällt zu Lasten des Antragstellers aus. Dabei sind die Auswirkungen auf alle von der angegriffenen Regelung Betroffenen zu berücksichtigen, nicht nur die Folgen für den Antragsteller.
10Vgl. BVerfG, Beschluss vom 07.04.2020 – 1 BvR 755/20 – und vom 09.04.2020 – 1 BvR 802/20 -.
11Die angegriffenen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie verkürzen zwar die grundrechtlich geschützten Freiheiten des Antragstellers, weil er bei Durchführung der Versammlung zusätzlich zu dem geltenden Mindestabstandsgebot zur Tragung einer Mund-Nasen-Bedeckung verpflichtet ist. Hierdurch sowie durch die Begrenzung der Teilnehmerzahl können auch potentielle Versammlungsteilnehmer von einer Teilnahme an der Versammlung abgehalten werden.
12Demgegenüber steht aber angesichts des außerordentlich dynamischen Infektionsgeschehens auf dem Gebiet der Stadt Köln mit einer Inzidenzzahl von gegenwärtig 177,7 entsprechend den schriftsätzlichen Angaben der Antragsgegnerin (Stand: 5.11.2020 sogar 195,3 - https://www.stadt-koeln.de/artikel/69443/index.html), dass sich bei größeren Menschenansammlungen die Gefahr der Ansteckung mit dem Virus, der Erkrankung vieler Personen, der Überlastung der gesundheitlichen Einrichtungen bei der Behandlung schwerwiegender Fälle und schlimmstenfalls des Todes von Menschen nach derzeitigen Erkenntnissen erheblich erhöhen. Hinzukommen die jetzt schon unzureichenden Möglichkeiten einer effektiven Kontaktverfolgung durch die Gesundheitsämter bei weiter steigendem Infektionsgeschehen.
13Bei Gegenüberstellung dieser Folgen muss das Interesse an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung der angegriffenen Regelungen zurücktreten. Angesichts der von vornherein begrenzten Geltungsdauer der Verordnung erscheint nicht unzumutbar, die hier geltend gemachten schwerwiegenden Interessen einstweilen zurückzustellen, um einen möglichst weitgehenden Gesundheits- und Lebensschutz zu ermöglichen, zu dem der Staat aus dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit in Art. 2 Abs. 2 GG ebenfalls verpflichtet ist.
142.
15Hinsichtlich der Regelungen in § 1 Nr. 5a der Allgemeinverfügung vom 02.11.2020 bestehen allerdings insoweit Bedenken, als in Abs. 2 angeordnet wird, dass in einem ärztlichen Attest über medizinische Einschränkungen auch eine Schutzmaßnahme festgelegt werden muss, die zumutbar und in ihrer Schutzwirkung gegenüber Dritten einer geeigneten Mund-Nasen-Bedeckung möglichst nahe kommt. Rechtmäßigkeitsbedenken bestehen insoweit sowohl unter dem Aspekt der Bestimmtheit der Regelung, da nicht ohne weiteres erkennbar ist, welche Schutzmaßnahmen überhaupt in Betracht kommen könnten. Nach den Angaben der Antragsgegnerin in ihrem Schriftsatz vom heutigen Tage scheinen Gesichtsvisiere in Betracht zu kommen, was sich allerdings mit der Regelung in Nr. 5a Abs. 1 letzter Satz nur schwer in Einklang bringen lässt. Die Rechtmäßigkeitsbedenken bestehen aber auch unter dem Aspekt der Geeignetheit. Nach der Begründung der Allgemeinverfügung dient diese Regelung dem Entgegenwirken von Missbräuchen. Dass die in Rede stehende Regelung diesen Zweck fördern kann, ist jedoch nicht hinreichend dargelegt und hoch zweifelhaft.
16Im Übrigen bestehen gegen die Regelungen in Nr. 5a der Allgemeinverfügung aus den oben unter Ziffer 1 dargelegten Gründen keine durchgreifenden Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit und auch insoweit geht eine von den Erfolgsaussichten unabhängige Interessenabwägung zu Lasten des Antragstellers aus. Die dort konkretisierten Anforderungen an die Mund-Nasen-Bedeckungen entsprechen zudem den fachlichen Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts.
17Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 VwGO.
18Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1, 2 GKG und trägt der Tatsache Rechnung, dass die Entscheidung in der Hauptsache vorweggenommen wird.
19Rechtsmittelbelehrung
20Gegen Ziffer 1 dieses Beschlusses kann innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, Beschwerde eingelegt werden.
21Statt in Schriftform kann die Einlegung der Beschwerde auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) erfolgen.
22Die Beschwerdefrist wird auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, eingeht.
23Die Beschwerde ist innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht bereits mit der Beschwerde vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV einzureichen. Sie muss einen bestimmten Antrag enthalten, die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinander setzen.
24Die Beteiligten müssen sich bei der Einlegung und der Begründung der Beschwerde durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.
25Gegen Ziffer 2 dieses Beschlusses kann innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, Beschwerde eingelegt werden. Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
26Die Beschwerde ist schriftlich, zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, einzulegen.
27Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.
28Die Beschwerdeschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.
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Tenor
Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das auf die mündliche Verhandlung vom 21.8.2019 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Aachen wird abgelehnt.
Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Gründe:
1Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
2Die Berufung ist nicht wegen der ausschließlich geltend gemachten Verletzung des rechtlichen Gehörs der Klägerin zuzulassen, § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i. V. m. § 138 Nr. 3 VwGO.
3Die Verfahrensgarantie des rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Die Gerichte sind aber nicht verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen in den Gründen ausdrücklich zu befassen. Nur wenn sich im Einzelfall aus besonderen Umständen ergibt, dass das Gericht aus seiner Sicht erhebliche, zum Kern des Beteiligtenvorbringens gehörende Gesichtspunkte nicht zur Kenntnis genommen oder nicht erwogen hat, ist Art. 103 Abs. 1 GG verletzt.
4Vgl. BVerwG, Beschluss vom 18.1.2017 ‒ 8 B 16.16 ‒, Buchholz 451.622 EAEG Nr. 3 = juris, Rn. 4; OVG NRW, Beschluss vom 17.12.2019 – 4 A 4236/19 –, juris, Rn. 2, m. w. N.
5Derartige besondere Umstände sind vorliegend weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Vielmehr hat sich das Verwaltungsgericht insbesondere mit dem Vortrag der Klägerin zu den Bedrohungen durch ihren Bruder – auch als sie bei ihren Schwiegereltern untergekommen war – und dessen Angriff an der Haltestelle auseinandergesetzt. Diesen hat es sowohl im Tatbestand des Urteils (Urteilsabdruck, Seite 2, zweiter Absatz) in seinen wesentlichen Zügen beschrieben als auch in den Entscheidungsgründen (Urteilsabdruck, Seite 7, vierter Absatz, bis Seite 8, erster Absatz) im Zusammenhang mit der Frage, ob eine ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG rechtfertigende Gefahrenlage vorliege, gewürdigt. Dass es den Vortrag anders als die Klägerin bewertet hat, führt nicht auf eine Verletzung des rechtlichen Gehörs.
6Im Übrigen hat das Verwaltungsgericht kein nach seinem Rechtsstandpunkt entscheidungserhebliches Vorbringen der Klägerin übergangen. Angesichts der vom Verwaltungsgericht verneinten von ihrem Bruder ausgehenden, ernsthaften Gefahr war die Frage, ob die Klägerin polizeiliche Hilfe in Anspruch nehmen konnte, aus Sicht des Verwaltungsgerichts schon nicht entscheidungserheblich. Ebenso wenig bedurfte die von der Antragsbegründung pauschal angeführte allgemeine Situation alleinstehender Frauen mit Kindern in Pakistan einer näheren Befassung durch das Verwaltungsgericht. Es ist mit Blick auf die individuelle Situation der Klägerin davon ausgegangen, dass sie in Pakistan auf die familiäre Unterstützung ihrer dort lebenden Schwiegereltern sowie ihres Vaters und weiterer Geschwister zurückgreifen könne (Urteilsabdruck, Seite 8, zweiter Absatz).
7Insoweit erschöpfen sich die Einwände der Klägerin in Kritik an der Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts, die dem sachlichen Recht zuzurechnen ist und von vornherein nicht die Zulassung der Berufung nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG rechtfertigt.
8Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 21.9.2020 ‒ 4 A 798/20.A –, juris, Rn. 15 f., m. w. N.
9Die darüber hinaus von der Klägerin gerügte falsche Rechtsanwendung des Verwaltungsgerichts hinsichtlich dessen Hinweises auf die Prüfung des Vorliegens eines sogenannten inlandsbezogenen Abschiebungsverbotes (Urteilsabdruck, Seite 8, dritter Absatz) vermag ebenfalls keine Verletzung des rechtlichen Gehörs zu begründen. Diese Kritik ist gleichfalls dem sachlichen Recht zuzuordnen und rechtfertigt von vornherein nicht die Zulassung der Berufung gemäß § 78 Abs. 3 AsylG.
10Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 8.8.2018 – 4 A 2522/18.A –, juris, Rn. 10 f., m. w. N.
11Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.
12Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).
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Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Klageverfahren durch den Beschluss des Verwaltungsgerichts Köln vom 16.7.2020 wird verworfen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
1G r ü n d e :
2Die Beschwerde ist unzulässig.
3Nach § 80 AsylG können Entscheidungen in Rechtsstreitigkeiten nach dem Asylgesetz vorbehaltlich des § 133 Abs. 1 VwGO nicht mit der Beschwerde angefochten werden. Dieser Rechtsmittelausschluss erfasst sämtliche unselbständigen und selbständigen Nebenverfahren und erstreckt sich damit auch auf das prozesskostenhilferechtliche Nebenverfahren.
4Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 8.6.2017 – 4 E 379/17.A –, AuAS 2017, 202 = juris, Rn. 5, und vom 20.12.2018 – 13 E 337/18.A –, juris, Rn. 2; Bay. VGH, Beschluss vom 28.5.2020 – 13a C 20.30391 –, juris, Rn. 9, jeweils m. w. N.
5Die dem angefochtenen Beschluss beigefügte, auf eine Beschwerdemöglichkeit verweisende Rechtsmittelbelehrung ändert hieran nichts. Durch eine unzutreffende Rechtsmittelbelehrung wird das darin bezeichnete, tatsächlich aber nicht gegebene Rechtsmittel nicht eröffnet.
6Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 8.6.2017 – 4 E 379/17.A –, AuAS 2017, 202 = juris, Rn. 7 f., m. w. N.
7Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 2, 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 127 Abs. 4 ZPO und § 83 b AsylG.
8Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.
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Tenor
Im Wege einer einstweiligen Anordnung wird festgestellt, dass § 1 der Verordnung der Antragsgegnerin über das Offenhalten von Verkaufsstellen aus Anlass des Martinsmarktes vom 2.3.2020 eine Ladenöffnung am 8.11.2020 nicht gestattet. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.
Gründe:
1Der Antrag,
2§ 1 der Verordnung über das Offenhalten von Verkaufsstellen aus Anlass des Martinsmarktes vom 2.3.2020 im Wege der einstweiligen Anordnung außer Vollzug zu setzen,
3ist zulässig und im tenorierten Umfang begründet.
4Nach § 47 Abs. 6 VwGO kann das Normenkontrollgericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist.
5Die auf dieser Grundlage beantragte Außervollzugsetzung von § 1 der angegriffenen ordnungsbehördlichen Verordnung ist zur Wahrung der Rechte der Antragstellerin nicht dringend geboten. Insbesondere kann offenbleiben, ob die streitgegenständliche Verordnung schon von Anfang an nichtig und damit unwirksam ist, weil etwa – wie die Antragstellerin nun erstmals geltend macht – der räumliche Geltungsbereich der Ladenöffnung nicht hinreichend bestimmt sei.
6Der Außervollzugsetzung von § 1 der angegriffenen ordnungsbehördlichen Verordnung bedarf es nicht, weil die vom Rat der Antragsgegnerin beschlossene Verordnung ohne Durchführung des Martinsmarktes, auf den die Verordnungsregelung maßgeblich gestützt ist, keine Verkaufsstellenöffnung am Sonntag, den 8.11.2020, gestattet. Die ursprünglich geplante Veranstaltung des Martinsmarktes mit großem Martinsumzug und weiteren in der Ratsvorlage näher beschriebenen Aktionen wird auch auf der Grundlage des Vortrags der Antragsgegnerin nicht stattfinden. Bei dem nunmehr nur noch angebotenen Verkauf von Waffeln zur Mitnahme durch das Kultur-Haus A. handelt es sich nicht mehr um den Martinsmarkt, auch nicht „in deutlich reduzierter Form“, geschweige denn um eine Veranstaltung im Sinne des § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 LÖG NRW, sondern nur noch um ein kleines Begleitprogramm zur Ladenöffnung. Es ist zwar nicht ausgeschlossen, dass auch eine ursprünglich möglicherweise rechtmäßig erlassene Verordnung zu einer anlassbezogenen Freigabe eines verkaufsoffenen Sonntags nach § 6 Abs. 4 LÖG NRW durch eine nachträgliche Veränderung der Umstände rechtswidrig werden kann, wenn der Anlass für die sonntägliche Ladenöffnung wegfällt. Dies gilt aber allenfalls dann, wenn die Norm auch eine anlassunabhängige Ladenöffnung ermöglichen würde, ohne dass dies im Einzelfall die Unwirksamkeit zur Folge hätte.
7Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 30.10.2020 – 4 B 1580/20.NE –, und vom 4.9.2020 – 4 B 1331/20.NE –, juris, Rn. 4 f., m. w. N.
8Das ist hier nicht der Fall. Der Wegfall der hier ursprünglich geplanten Veranstaltung hat nach § 1 der angegriffenen ordnungsbehördlichen Verordnung zur Folge, dass die Ermächtigung zur Verkaufsstellenöffnung entfällt; mit anderen Worten geht die Freigaberegelung nunmehr ins Leere.
9Es ist auch ausgeschlossen, dass die Verwaltung der Antragsgegnerin der vom Rat bereits beschlossenen Verordnung nachträglich einen neuen Inhalt gibt. Deshalb ist unbeachtlich, dass sie die Ladenöffnung nunmehr auf den Sachgrund aus § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 LÖG NRW zum Erhalt, der Stärkung oder Entwicklung zentraler Versorgungsbereiche sowie auf ungeschriebene Sachgründe im Sinne des § 6 Abs. 1 Satz 2 LÖG NRW zur Bekämpfung der wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie für den örtlichen Einzelhandel und zudem zur Entzerrung des Kundenandrangs in Anlehnung an die Regelung des § 11 Abs. 3 Coronaschutzverordnung NRW in der derzeit gültigen Fassung stützen möchte.
10Es bedarf aber der tenorierten Feststellung, weil die Antragsgegnerin trotz des Wegfalls der anlassgebenden Veranstaltung erklärt hat, die in Rede stehende Verordnungsregelung rechtfertige mit neuer Begründung auch weiterhin eine Ladenöffnung am 8.11.2020. Diese neue Beurteilung steht aber nicht der Verwaltung, sondern nur dem Rat als Verordnungsgeber selbst zu.
11Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 4.9.2020 – 4 B 1331/20.NE –, juris, Rn. 7.
12Im Übrigen könnte die von der Verwaltung der Antragsgegnerin nachträglich gegebene Begründung die nunmehr geplante Sonntagsöffnung aber auch nicht rechtfertigen. Sie ist im Wesentlichen deckungsgleich mit der Begründung des seit dem 30.9.2020 aufgehobenen Erlasses des Ministeriums für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie NRW vom 9.7.2020, aktualisiert am 14.7.2020. Hierzu hat der Senat in zahlreichen Entscheidungen bereits entschieden hat, dass sie den höchstrichterlich geklärten verfassungsrechtlichen Maßstäben zu Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV, der ein Mindestniveau des Sonn- und Feiertagsschutzes gewährleistet und für die Arbeit an Sonn- und Feiertagen ein Regel-Ausnahme-Verhältnis statuiert, nicht gerecht wird. Angesichts der erklärten Zielrichtung der Antragsgegnerin, dem örtlichen Handel durch die Sonntagsöffnung die Chance zu bieten, sich zu präsentieren und Verluste teilweise auszugleichen, die sich mit einer bloßen abweichenden Verteilung der wöchentlichen Kundenströme aus Gründen des Infektionsschutzes mit ausschließlich höheren Kosten für die betroffenen Handelsgeschäfte nicht erreichen ließe, ergibt sich insbesondere auch aus dem Gesichtspunkt der ebenfalls beabsichtigten Entzerrung des Einkaufsverhaltens – unabhängig von infektionsschutzrechtlichen Maßgaben – jedenfalls kein gewichtiges öffentliches Interesse im Sinne des § 6 Abs. 1 Satz 2 LÖG NRW an der Ladenöffnung auch noch an Sonntagen.
13Vgl. nur OVG NRW, Beschlüsse vom 3.9.2020 – 4 B 1253/20.NE –, juris, Rn. 30 f., und vom 28.8.2020 – 4 B 1261/20.NE –, juris, Rn. 29 ff.
14Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO.
15Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG, und trägt dem Umstand Rechnung, dass eine einstweilige Regelung bezogen auf eine Sonntagsfreigabe begehrt wird, für die der Senat in ständiger Praxis den Auffangstreitwert heranzieht.
16Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 10.6.2016 – 4 B 504/16 –, NVwZ-RR 2016, 868 = juris, Rn. 48 ff., m. w. N.
17Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Tenor
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
1Gründe:
2Der Senat entscheidet über die Beschwerde durch den Berichterstatter, weil sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben (§ 87a Abs. 2 und 3 VwGO).
3Die Prozesskostenhilfebeschwerde ist zulässig, aber unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat den Prozesskostenhilfeantrag der Klägerin für das erstinstanzliche Klageverfahren zu Recht abgelehnt.
4Soweit sich die Klägerin mit ihrer Beschwerde zunächst dagegen wendet, dass das Verwaltungsgericht die wirtschaftlichen Voraussetzungen einer Prozesskostenhilfebewilligung als nicht ausreichend nachgewiesen angesehen habe, greift sie insoweit nur eine nicht entscheidungstragende, im Sinne eines „obiter dictum“ gegebene Einschätzung des Verwaltungsgerichts an („Antrag dürfte schon deshalb abzulehnen sein, weil…“, „kann hier jedoch dahinstehen, weil der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe auch in der Sache abzulehnen ist“).
5Das Beschwerdevorbringen der Klägerin gibt auch keinen Anlass zu einer abweichenden Beurteilung, soweit sie sich gegen die allein entscheidungstragende Bewertung im Beschluss vom 10. September 2020 wendet, dass ihre Klage keine hinreichende Aussicht auf Erfolg biete (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
6Hinreichende Aussicht auf Erfolg bedeutet bei einer an Art. 3 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4 GG orientierten Auslegung des Begriffes einerseits, dass Prozesskostenhilfe nicht erst dann bewilligt werden darf, wenn der Erfolg der beabsichtigten Rechtsverfolgung gewiss ist, andererseits aber auch, dass Prozesskostenhilfe zu versagen ist, wenn ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, die Erfolgschance indes nur eine entfernte ist. Soweit Tatsachen im Streit stehen und Ermittlungen erforderlich sind, ist Prozesskostenhilfe zu bewilligen. Zugleich dürfen schwierige oder ungeklärte Rechtsfragen nicht schon im Verfahren der Bewilligung von Prozesskostenhilfe „durchentschieden“ werden, weil das Prozesskostenhilfeverfahren den Rechtsschutz nicht selbst bieten, sondern erst zugänglich machen soll.
7Vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 22. August 2018 - 2 BvR 2647/17 -, NVwZ-RR 2018, 873, juris, Rn. 14, vom 4. August 2016 - 1 BvR 380/16 -, juris, Rn. 12, und vom 30. April 2007 - 1 BvR 1323/05 -, NVwZ-RR 2007, 569, juris, Rn. 23; OVG NRW, Beschlüsse vom 13. Oktober 2020 - 19 E 752/20 -, juris, Rn. 8 f., und vom 22. September 2020 - 19 E 477/20 -, juris, Rn. 4 f.
8Danach hat das Verwaltungsgericht zu Recht entschieden, dass die Klägerin keinen Anspruch auf Wiederholung der zweiten Wiederholungsklausur im Fach Mathematik – Pflichtmodul „HR1: Arithmetik und ihre Didaktik“ – im Rahmen ihres Lehramtsbachelorstudiengangs habe, da die Festsetzung der Note „nicht ausreichend (5,0)“ für die zweite Wiederholungsklausur der Klägerin nicht zu beanstanden sei. Die Klägerin, die der Klausurbewertung selbst nicht entgegen getreten ist, hat im Klageverfahren geltend gemacht, dass sie aufgrund einer während der Klausurbearbeitung aufgetretenen denkblockierenden Panikattacke von der Prüfung zurückgetreten sei und die als Letztversuch erbrachte Prüfungsleistung daher nicht gewertet werde dürfe. Das Verwaltungsgericht hat demgegenüber festgestellt, dass sie es bereits versäumt habe, die aus ihrer Sicht einen Rücktritt rechtfertigenden Gründe gemäß § 18 Abs. 2 Satz 1 der Prüfungsordnung für die Lehramtsbachelorstudiengänge an der Technischen Universität E. vom 24. Mai 2018 – BPO unverzüglich schriftlich beim Prüfungsausschuss der Beklagten anzuzeigen (S. 3 ff. des Beschlusses). Die fragliche schriftliche Prüfung unternahm die Klägerin am 19. Februar 2019. Am 20. Februar 2019 suchte sie einen Facharzt auf, der ihr eine denkblockierende Panikattacke während der Klausur bescheinigte. Am 21. Februar 2019 um 14.30 Uhr sei – so das Verwaltungsgericht – das Klausurergebnis auf der hochschuleigenen Onlineplattform bekanntgegeben worden. Am gleichen Tag ging um 15.09 Uhr die Rücktrittserklärung der Klägerin per E-Mail bei der Beklagten ein. Es sei der Klägerin jedenfalls zumutbar gewesen, sich noch am Tag des Arztbesuchs oder spätestens am darauffolgenden Morgen des 21. Februar 2019 per E-Mail an den Prüfungsausschuss zu wenden und den Rücktritt zu erklären. Stattdessen habe die Klägerin ihre Rücktrittserklärung – womöglich in der Hoffnung, die Klausur trotz der erlittenen Panikattacke bestanden zu haben – bis zur Kenntnisnahme von ihrem endgültigen Scheitern hinausgezögert. Unabhängig davon hat das Verwaltungsgericht selbstständig tragend festgestellt, dass das seitens der Klägerin vorlegte fachärztliche Attest vom 20. Februar 2019 den in § 18 Abs. 2 Satz 4 BPO normierten Anforderungen nicht genüge, da es keine Angaben darüber enthalte, dass die gesundheitlich bedingte Leistungsbeeinträchtigung für die Klägerin im Zeitpunkt der Prüfung nicht erkennbar gewesen sei und vernünftigerweise kein Anlass bestanden habe, die Leistungsfähigkeit in Zweifel zu ziehen (S. 5 des Beschlusses).
9Diesen sowohl nach den zugrunde gelegten Maßstäben,
10vgl. zur Unverzüglichkeit eines Prüfungsrücktritts: BVerwG, Beschluss vom 25. Januar 2018 - 6 B 36.17 -, Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 432, juris, Rn. 25, und Urteil vom 7. Oktober 1988 - 7 C 8.88 -, BVerwGE 80, 282, juris, Rn. 12; OVG NRW, Urteil vom 7. November 2019 - 14 A 2071/16 -, juris, Rn. 41 ff. jeweils m. w. N.; zu den Anforderungen an ein ärztliches Attest zur Geltendmachung von Prüfungsunfähigkeit: OVG NRW, Urteil vom 29. Januar 2020 - 19 A 3028/15 -, juris, Rn. 43 ff. m. w. N.,
11als auch in der einzelfallbezogenen Würdigung überzeugenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts hält die Klägerin mit ihrer Prozesskostenhilfebeschwerde nur entgegen, „die weitergehenden Feststellungen des Gerichts“ gingen „bereits über die geforderte summarische Prüfung hinaus“, was „u. a. durch mehrere Bezugnahmen auf höchstrichterliche Rechtsprechung dokumentiert werde“. Dieser Einwand einer Verfehlung der für die Prüfung der hinreichenden Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung gemäß § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO geltenden verfassungsrechtlichen Maßstäbe greift nicht durch. Die gerügte Bezugnahme auf höchstrichterliche Rechtsprechung spricht nicht für ein „Durchentscheiden“ trotz schwieriger oder ungeklärter Rechtsfragen. Im Gegenteil spricht die – hier zutreffende – Bezugnahme auf bestehende obergerichtliche und höchstrichterliche Rechtsprechung dafür, dass die Rechtsfragen an sich bereits geklärt sind. Auch unabhängig von diesem Einwand hat das Verwaltungsgericht die von Art. 3 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4 GG vorgegebenen Anforderungen an die Bewilligung von Prozesskostenhilfe nicht überspannt. Die angestellten tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen im Beschluss vom 10. September 2020 sind nach dem bisherigen Gang des Verwaltungs- und Klageverfahrens so evident wie naheliegend.
12Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 127 Abs. 4 ZPO.
13Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1Gründe:
2Der Senat entscheidet über den Antrag auf Zulassung der Berufung durch den Berichterstatter, weil sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben (§ 87a Abs. 2 und 3, § 125 Abs. 1 VwGO).
3Der Berufungszulassungsantrag hat keinen Erfolg. Die Berufung ist nicht wegen der allein geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) zuzulassen.
4Grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine bisher höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht beantwortete Rechtsfrage oder eine im Bereich der Tatsachenfeststellung bisher obergerichtlich nicht geklärte Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die sich in dem angestrebten Berufungsverfahren stellen würde und die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts berufungsgerichtlicher Klärung bedarf. Für die Darlegung dieser Voraussetzungen bedarf es neben der Formulierung einer Rechts- oder Tatsachenfrage, dass der Zulassungsantrag konkret auf die Klärungsbedürftigkeit und -fähigkeit der Rechts- oder Tatsachenfrage sowie ihre über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung eingeht.
5Vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 10. Juli 2019 ‑ 2 BvR 1545/14 ‑, juris, Rn. 15 m. w. N.; OVG NRW, Beschlüsse vom 18. März 2020 - 19 A 147/20.A ‑, juris, Rn. 30 f., und vom 7. August 2018 - 19 A 355/18.A ‑, juris, Rn. 3 m. w. N.
6Diesen Anforderungen genügt die seitens des Klägers aufgeworfene Frage,
7ob eine Rechtsmittelbelehrung, die keinen Hinweis auf die möglichen Formen der Klageerhebung enthält, unrichtig ist, mit der Folge, dass die Klagefrist nach § 74 Abs. 1 1. Halbsatz AsylG nicht zu laufen beginnt,
8nicht. Die Frage bedarf nicht der Durchführung eines Berufungsverfahrens. Sie ist bereits durch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt.
9Nach § 58 Abs. 1 VwGO beginnt die Klagefrist nur zu laufen, wenn der Beteiligte über den Rechtsbehelf, das Gericht, bei dem der Rechtsbehelf anzubringen ist, den Sitz und die einzuhaltende Frist belehrt worden ist. Eine Belehrung über die Form des einzulegenden Rechtsbehelfs gehört nicht zu den zwingenden Angaben. Enthält eine Rechtsbehelfsbelehrung – wie hier – keine Angaben über die möglichen Formen der Klageerhebung, ist dies unschädlich.
10BVerwG, Urteile vom 20. August 2020 - 1 C 28.19 -, juris, Rn. 32, und vom 29. August 2018 - 1 C 6.18 -, BVerwGE 163, 26, juris, Rn. 13.
11Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung macht es eine Belehrung daher nicht fehlerhaft, dass sie – wie hier bezogen auf den Bescheid vom 2. Mai 2017 im maßgeblichen Zeitpunkt ihrer Verwendung – keinen Hinweis auf den durch § 55a VwGO in der damals geltenden Fassung i. V. m. der Verordnung über den elektronischen Rechtsverkehr bei den Verwaltungsgerichten und den Finanzgerichten im Lande Nordrhein-Westfalen (ERVVO VG/FG) vom 7. November 2012 (GV. NRW. S. 548) eröffneten elektronischen Rechtsverkehr enthielt.
12Vgl. BVerwG, Urteil vom 20. August 2020, a. a. O., Rn. 32; anders noch: OVG NRW, Beschluss vom 11. Juli 2013 - 19 B 406/13 -, NWVBl 2014, 38, juris, Rn. 19.
13Die dem Bescheid vom 2. Mai 2017 beigefügte Rechtsbehelfsbelehrung enthält demgegenüber die zwingenden Angaben und gibt diese zutreffend wieder.
14Ist eine Rechtsfrage bereits ober- oder höchstrichterlich geklärt, erfordert die Darlegung der Klärungsbedürftigkeit den Vortrag, welche neuen gewichtigen Gesichtspunkte vorliegen, die bislang von der Rechtsprechung noch nicht berücksichtigt worden sind.
15OVG NRW, Beschlüsse vom 2. Juni 2020 - 19 A 2171/19.A -, juris, Rn. 22, und vom 6. Dezember 2019 - 19 A 4054/18.A ‑, juris, Rn. 21; Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124a Rn. 212 unter Hinweis auf BVerwG, Beschluss vom 27. Januar 1992 ‑ 5 B 183.91 ‑, juris, Rn. 3.
16Derartige Gesichtspunkte sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
17Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.
18Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).
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Tenor
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 5.11.2020 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 5.11.2020 wird wiederhergestellt.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 5.000,- € festgesetzt.
Gründe
1
Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den angefochtenen Bescheid ist nach § 80 Abs. 5 VwGO zulässig und begründet.
2
Die Entscheidung über einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ergeht aufgrund einer Interessenabwägung. In diese Abwägung ist die Erfolgsaussicht des eingelegten Rechtsbehelfs dann maßgeblich anzustellen, wenn sie in der einen oder anderen Richtung offensichtlich ist. An der Vollziehung eines offensichtlich rechtswidrigen Bescheides besteht kein öffentliches Interesse. Ist der Bescheid hingegen offensichtlich rechtmäßig, ist ein Aussetzungsantrag regelmäßig abzulehnen. Lässt sich nach der im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotenen summarischen Prüfung weder die Rechtmäßigkeit noch die Rechtswidrigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes mit der erforderlichen Sicherheit feststellen, so ergeht die Entscheidung aufgrund einer weiteren Interessenabwägung, in der gegenüber zu stellen sind zum einen die Auswirkungen in Bezug auf das öffentliche Interesse in dem Fall, dass dem Antrag stattgegeben wird, die Klage im Hauptsacheverfahren aber erfolglos bleibt, und zum anderen die Auswirkungen auf den Betroffenen für den Fall, dass es zunächst bei der vorläufigen Vollziehung des Verwaltungsaktes bleibt, sein Rechtsschutzbegehren im Hauptsacheverfahren dann jedoch Erfolg hat. Bei der Interessenabwägung ist jeweils die Richtigkeit des Vorbringens desjenigen als wahr zu unterstellen, dessen Position gerade betrachtet wird, soweit das jeweilige Vorbringen ausreichend substantiiert und die Unrichtigkeit nicht ohne weiteres erkennbar ist (OVG Schleswig, Beschluss vom 13.9.1991 - 4 M 125/91 -, Juris Rn. 14; Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht, Beschluss vom 11.9.2017 - 1 B 128/17 -, Juris Rn. 28 f.).
3
Vorliegend ist entscheidend, dass der streitige Bescheid als offensichtlich rechtswidrig anzusehen ist. Der Erlass des streitgegenständlichen Widerrufsbescheides war jedenfalls ermessensfehlerhaft.
4
Zwar kann nach § 117 Abs. 2 Nr. 1 LVwG ein rechtmäßiger begünstigender Verwaltungsakt, auch wenn er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft widerrufen werden, wenn der Widerruf durch Rechtsvorschrift zugelassen ist. Ob insbesondere diese letzte Voraussetzung, wie vom Antragsgegner vorgetragen, durch die Regelung des § 2 Abs. 4 Satz 4 der Benutzungs- und Gebührenordnung des Kreises B hinreichend erfüllt ist, kann vorliegend dahinstehen bleiben, da der erfolgte Widerruf – welcher im pflichtgemäßen Ermessen des Antragsgegners steht – ermessensfehlerhaft war.
5
Im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ist die Überprüfung einer Ermessensentscheidung durch § 114 Satz 1 VwGO auf die Feststellung etwaiger Ermessensfehler beschränkt. Zu überprüfen ist lediglich, ob sich die Behörde in den gesetzlichen Grenzen ihres Ermessens gehalten und von ihrem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Das Gericht kann kein eigenes Ermessen ausüben oder sein Ermessen an die Stelle des Ermessens der Behörde setzen. Das Gericht hat, abgesehen von den allgemeinen Voraussetzungen der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts mithin nur zu prüfen, ob die in § 114 Satz 1 VwGO genannten vorliegen, nicht aber, ob der Verwaltungsakt zweckmäßig ist oder nicht; die Gerichte sind mithin nicht ermächtigt, ihre Zweckmäßigkeitserwägungen an die Stelle derjenigen der Behörde zu setzen (vgl. Decker, in: Posser/Wolff, BeckOK VwGO, Stand 1.7.2020, § 114 Rn. 26 m.w.N.).
6
Die Erforderlichkeit des Widerrufs ist durch den Antragsgegner im Rahmen der summarischen Prüfung nicht zur Überzeugung des Gerichts gebracht.
7
Insbesondere soweit der Antragsgegner darauf abstellt, dass sein Hygienekonzept nicht eingehalten werden könne, weil der Abstand von 1,5 m zwischen den Personen nicht jederzeit eingehalten werden könne sowie eine Gruppenaktivität im Sinne von § 5 Abs. 3 der Ersatzverkündung der Landesverordnung zur Bekämpfung des Coronavirus SARS-SoV-2 (Corona-Landesverordnung) gegeben sei, ist für die Kammer nicht erkennbar, dass diese Ausführungen den Widerruf erforderlich werden lassen. Nach der Corona-Landesverordnung sind Veranstaltungen in geschlossenen Räumen mit bis zu 100 Teilnehmern zulässig, sofern die Voraussetzungen von § 5 Abs. 2 - 5 Corona-Landesverordnung erfüllt werden und sie nicht der Unterhaltung dienen. Dass bei der geplanten Veranstaltung des Antragstellers nicht mehr als 100 Teilnehmer erwartet werden, trägt diese unwidersprochen vor. Anhaltspunkte, warum von mehr Teilnehmern auszugehen sein sollte, sind nicht gegeben; zumal nach der widerrufenen Genehmigung ohnehin nur 45 Teilnehmer erlaubt waren. Anders als der Antragsgegner meint, ist auch nicht erkennbar, dass eine Veranstaltung mit Gruppenaktivität im Sinne des § 5 Abs. 3 Corona-Landesverordnung gegeben wäre, bei der nur maximal 10 Teilnehmer erlaubt wären. Eine solche zeichnet sich nach der Begründung der Landesverordnung dadurch aus, dass diese in der Regel nicht sitzend wahrgenommen werden sowie sich dort ein fester Teilnehmerkreis über längere Zeit an einem oder gemeinsam an einem sich ändernden Ort aufhält und die Abstandsregelungen nur teilweise eingehalten werden. Ausdrücklich abgegrenzt werden von solchen Veranstaltungen Sitzungen mit Sitzungscharakter (Absatz 5). Diese sind nach der Begründung der Corona-Landesverordnung Veranstaltungen, bei denen sich ein fester Teilnehmerkreis über einen längeren Zeitraum auf festen Sitzplätzen befindet. Vorliegend ist im Rahmen der summarischen Prüfung nach den vorstehenden Darlegungen eine Veranstaltung mit Sitzungscharakter anzunehmen. Nach dem insoweit übereinstimmenden Vortrag der Beteiligten will der Antragsteller in den hier fraglichen Räumen eine Kreismitgliedsversammlung durchführen, bei der u.a. ein Kreisvorstand gewählt werden soll. Konkrete Anhaltspunkte, warum bei einer solchen Mitgliederversammlung davon auszugehen wäre, dass ständig Personen die Plätze verlassen sollten, um etwa gemeinsame Aktivitäten abseits der zugewiesenen Plätze durchzuführen, sind weder ersichtlich, noch hinreichend substantiiert vorgetragen. Allein der Umstand, dass einzelne Teilnehmer etwa zum Halten von Reden, den Besuch von Toiletten oder der Durchführung eines Wahlvorgangs ihre Plätze verlassen, lässt den Sitzungscharakter nicht entfallen. Vielmehr sind all diese Vorgänge insbesondere politischen Sitzungen immanent. Selbst der von dem Antragsgegner nicht näher substantiierten Vortrag, dass einzelne Mitglieder zur Überwachung des Wahlvorgangs ihre Plätze verlassen könnten, lässt an der vorstehenden Feststellung keine Zweifel aufkommen. Eine Gruppenaktivität mit den damit verbundenen Gefahren der Virusübertragung ist darin nicht zu sehen. Der Antragsteller trägt zwar im Weiteren selbst vor, dass insbesondere im Rahmen des geplanten Wahlvorgangs einzelne Teilnehmer ihre Sitze verlassen werden und dabei auch im Einzelfall der Abstand von 1,5 m unterschritten werden wird. Sie trägt allerdings auch – und insoweit unwidersprochen vor –, dass nur an den Sitzplätzen eine Mund-Nasen-Bedeckung nicht getragen werden müsse und eine solche bei jedem Aufstehen anzulegen sei. Dass es sich dabei um mehr als einzelne, zeitlich geringfügige Unterschreitungen des Mindestabstandes handelt, ist weder substantiiert vorgetragen, noch ersichtlich. Zudem hätte dabei nach dem unwidersprochenen Vortrag des Antragstellers jedenfalls einer der Personen eine Mund-Nasen-Bedeckung auf. Warum solche Vorgänge konkret dem Hygienekonzept des Antragsgegners widersprechen sollten, ist weder substantiiert vorgetragen noch erkennbar. Insbesondere wurde im Rahmen des vorliegenden Eilverfahrens das entsprechende Konzepte nicht vorgelegt und konnte aufgrund der Eilbedürftigkeit der Entscheidung durch das Gericht auch nicht mehr angefordert werden. Zumal insofern – ohne, dass es darauf noch ankäme – auch zu beachten sein dürfte, dass, sofern die Unterschreitung der Abstände Folge der Sitzordnung ist, diese vom Antragsgegner vorgegeben ist.
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Auch aus dem Umstand, dass gegenwärtig ein „Lockdown-Light“ angeordnet ist, folgt nichts Anderes. Da – wie gesagt – auch in diesem bestimmte Versammlungen zulässig sind, und im Rahmen der hiesigen summarischen Prüfung nicht erkennbar ist, dass die Voraussetzungen für eine Unzulässigkeit der Versammlung nach der Corona-Landesverordnung gegeben wären.
9
Soweit der Antragsgegner vorträgt, dass in Folge des Einsatzes von Personal auch am Wochenende zur Nachverfolgung von Kontaktpersonen von Corona-Infizierten die Sanitäranlagen im Kreistagsgebäude für Dritte nicht zur Verfügung stehen würden, ist dieser Vortrag bereits völlig unsubstantiiert. Es ist bereits nicht erkennbar, warum wie viele Mitarbeiter wie viele Toiletten benötigen, wie viele Toiletten vorhanden sind und warum eine Aufteilung nicht möglich ist.
10
Dasselbe gilt im Hinblick auf den Vortrag, dass die hier fraglichen Räumlichkeiten gegebenenfalls am kommenden Wochenende für einen Zusammentritt des Krisenstabs des Antragsgegners benötigt werden würden und dies zum Zeitpunkt der Nutzungsgenehmigung nicht absehbar gewesen sei. Es wird schon nicht hinreichend erkennbar, dass tatsächlich ein Zusammentritt des Krisenstabs ausgerechnet am kommenden Sonntag notwendig werden wird. Letztlich beschränkt sich der Antragsgegner insofern auf nicht hinreichend begründete Vermutungen ohne darzulegen, warum ein solcher Eintritt hinreichend wahrscheinlich sein sollte.
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Auch aus der Anordnung des Landrates vom heutigen Tage folgt nichts Anderes. Dieses mag ein innerhalb der Behörde grundsätzlich zu beachtendes Internum darstellen, ändert aber nichts an der durch das Gericht zu überprüfenden Ermessensfehlerhaftigkeit des Widerrufs der ursprünglich erteilten Genehmigung.
12
Im Falle des § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO ist zudem das besondere öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung schriftlich zu begründen. Aus dem Zweck der Begründungspflicht, zum einen den Betroffenen in die Lage zu versetzen, durch Kenntnis der Gründe, die die Behörde zur Vollziehungsanordnung veranlasst haben, seine Rechte wirksam wahrzunehmen und die Erfolgsaussichten eines Rechtsmittels abzuschätzen, und zum anderen der Behörde den Ausnahmecharakter der Vollziehungsanordnung vor Augen zu führen und sie zu veranlassen, mit besonderer Sorgfalt zu prüfen, ob tatsächlich ein überwiegendes Vollzugsinteresse den Ausschluss der aufschiebenden Wirkung erfordert, ergibt sich, dass die maßgeblichen Gründe konkret darzulegen sind, wobei die Begründung ausnahmsweise auf die Begründung des zu vollziehenden Verwaltungsaktes Bezug nehmen kann, wenn aus dieser bereits die besondere Dringlichkeit auch der Regelung im Sinne des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4, Abs. 3 VwGO hervorgeht und die von der Behörde getroffene Interessenabwägung klar erkennbar ist (vgl. W.-R. Schenke, in; Kopp/Schenke, VwGO, 23. Aufl. 2017, § 80 Rn. 84 ff.).
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Für die Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO muss ein (zusätzliches) öffentliches Interesse gerade daran bestehen, dass Rechtsbehelfe keine aufschiebende Wirkung haben. Erforderlich ist ein besonderes Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts. Dieses besondere Interesse ist nicht gleichzusetzen mit dem Interesse am Erlass des zugrundeliegenden Verwaltungsakts; es geht vielmehr über dieses hinaus. Es bezieht sich gerade auf den Sofortvollzug und muss so gewichtig sein, dass es gerechtfertigt erscheint, aufgrund dieses Interesses den durch die aufschiebende Wirkung ansonsten eintretenden Rechtsschutz des Betroffenen einstweilen zurückzustellen. Die sofortige Vollziehung ist also nur dann gerechtfertigt, wenn ein das Rechtsschutzinteresse des Betroffenen überwiegendes öffentliches Vollzugsinteresse besteht. Bei gleichermaßen gewichtigen Interessen auf beiden Seiten darf die aufschiebende Wirkung nicht ausgeschlossen werden. Die Behörde ermittelt das besondere Vollzugsinteresse durch eine Abwägung aller Umstände des konkreten Einzelfalles. In die Abwägung einzustellen sind alle Gesichtspunkte, die für die sofortige Vollziehung des Verwaltungsakts sprechen, sowie alle, die für eine Aufrechterhaltung des in § 80 Abs. 1 VwGO vorgesehenen Rechtsschutzes des Betroffenen sprechen. Dieser Rechtsschutzanspruch des Betroffenen hat hierbei ein umso höheres Gewicht gegenüber dem öffentlichen Vollzugsinteresse, je schwerwiegender die durch den Verwaltungsakt auferlegte Belastung ist und je mehr die Maßnahmen der Behörde Unabänderliches bewirken. In einem Fall, in dem die sofortige Vollziehung des Verwaltungsakts für den Betroffenen schwere und nicht rückgängig zu machende Folgen hätte, muss das öffentliche Interesse am Sofortvollzug von besonderem Gewicht sein (Puttler, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 80 Rn. 84 f. m.w.N.).
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Diese Anforderungen sind vorliegend nicht erfüllt. Der Antragsgegner begründet den Sofortvollzug letztlich damit, dass die Räumlichkeiten gegebenfalls wegen der Bedrohung durch die bestehende Pandemie für den Krisenstab gebraucht werden würden. Dass dies aber tatsächlich hinreichend wahrscheinlich ist, ist – wie gesagt – bereits nicht hinreichend substantiiert vorgetragen und kann somit auch nicht das Interesse des Antragstellers an der Aussetzung des Vollzugs des angefochtenen Widerrufsbescheides überwiegen.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 2, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 63 Abs. 2 GKG. Die Kammer hat den vollen Auffangstreitwert (5.000,- €) eines möglichen Hauptsacheverfahrens angesetzt. Eine Halbierung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren kommt nach der Rechtsprechung des Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts mangels gesetzlichem Anhalt nicht in Betracht (Beschluss vom 13.1.2020 – 4 O 2/20 –).
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Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
1. Der 13-jährige Antragsteller (Schüler), vertreten durch seine Eltern, wendet sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen eine Anordnung zur Verlängerung der häuslichen Quarantäne als Kontaktperson der Kategorie I wegen Kontakt zu einem nachweislich infizierten Mitschüler in der Schulklasse.
Mit Schreiben vom 27. Oktober 2020 wies das Landratsamt Schweinfurt, Gesundheitsamt, den Antragsteller mit Bezug auf die Allgemeinverfügung „Isolation von Kontaktpersonen der Kategorie I, von Verdachtspersonen und von positiv auf das Coronavirus getesteten Personen“ vom 18. August 2020, geändert durch Bekanntmachung vom 29. September 2020 (im Folgenden: Allgemeinverfügung) auf die Verpflichtung zur häuslichen Quarantäne hin. Unter anderem führte es aus, dass eine Entisolierung und Entlassung frühestens 14 Tage nach Kontakt zum Index-Fall (letzter Kontakt: 19.10.2020) möglich sei. Die Entlassung aus der Quarantäne erfolge nach Vorliegen aller Voraussetzungen durch das Gesundheitsamt Schweinfurt, d.h. die Kontaktperson I müsse in Quarantäne bleiben, bis sie eine entsprechende Mitteilung erhalte.
Einen dagegen gerichteten Sofortantrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung lehnte das Verwaltungsgericht Würzburg mit Beschluss vom 30. Oktober 2020 (W 8 S 20.1625) ab.
Mit Schreiben vom 2. November 2020 wies das Landratsamt Schweinfurt, Gesundheitsamt, mit Bezug auf die Allgemeinverfügung erneut auf die Verpflichtung zur häuslichen Quarantäne hin (Nr. 1). Eine Entisolierung und Entlassung sei mangels vorliegendem negativen Testergebnis nicht nach 14 Tagen nach letztmaligem Kontakt zu einer mit COVID-19-infizierten Person möglich. Da weder ein Test bisher durchgeführt worden sei, noch ein Test nach Aussage des Anwalts durchgeführt werde, verlängere sich die Quarantäne um weitere zehn Tage - also bis einschließlich 12. November 2020 (Nr. 2).
In den Gründen ist im Wesentlichen ausgeführt: Der Antragsteller sei aufgrund des Kontakts Krankheitsverdächtiger bzw. Ansteckungsverdächtiger im Sinne des IfSG und unterliege einem höheren Infektionsrisiko. Um eine weitere Verbreitung der ansteckenden Krankheit bzw. des hochansteckenden Erregers zu verhindern, sei eine häusliche Absonderung für einen Zeitraum von mindestens 14 Tagen seit seinem letzten Kontakt zum Erkrankungsfall erforderlich. Zudem sei der Antragsteller als Kontaktperson der Kategorie I einzustufen, da der letzte Kontakt zu einer mit COVID-19-infizierten Person noch nicht länger als 14 Tage (Inkubationszeit) zurückliege und sich noch eine Infektion einstellen könne. Eine Verlängerung der Quarantäne um weitere 10 Tage erfolge, da nach Vorgabe des Robert-Koch-Instituts (im Folgenden: RKI) davon auszugehen sei, dass noch am 14. Tag nach dem Kontakt mit einer Referenzperson eine Symptomatik auftreten könnte und das RKI für asymptomatisch positiv getestete Personen eine Isolation von zehn Tagen vorsehe. Eine Aufhebung der Quarantäne müsse ausdrücklich durch das Gesundheitsamt erfolgen.
2. Am 5. November 2020 ließ der Antragsteller im Verfahren W 8 K 20.1692 Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid vom 2. November 2020 erheben und im vorliegenden Sofortverfahren b e a n t r a g e n:
Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Verlängerung der Quarantäne bis 12. November 2020 wird gemäß § 80 Abs. 5 VwGO angeordnet.
Zur Antragsbegründung ist im Wesentlichen ausgeführt: Die Verlängerung der Quarantäne sei eine gesonderte Entscheidung und stelle einen eigenen Verwaltungsakt dar. Die Verlängerung der Quarantäne bis 12. November 2020 sei rechtswidrig und verletze den Antragsteller in seinen Rechten. Die Quarantänefrist sei abgelaufen und der Antragsteller habe während der Quarantäne keine Symptome gezeigt. Die Begründung, es sei nach den Vorgaben des RKI davon auszugehen, dass noch am 14. Tag nach dem Kontakt mit der Referenzperson eine Symptomatik auftreten könnte und das RKI für asymptomatisch positiv getestete Personen eine Isolation von zehn Tagen vorsehe, sei willkürlich. Hier werde ganz offensichtlich unterstellt, dass der Antragsteller positiv getestet sei bzw. während der Quarantäne Symptome entwickelt habe. Für diese Fiktion gebe es keine Rechtsgrundlage. Nr. 6.1 der Quarantäneanordnung bestimme, dass die Quarantäne ende, wenn der letzte Kontakt zu einer positiv getesteten Person 14 Tage zurückliege und sich keine Krankheitszeichen entwickelt hätten. Eine Verlängerung um zehn Tage trete laut Nr. 6.2 der Quarantäneanordnung nur ein, wenn die Person getestet worden und das Testergebnis positiv sei. Die Verlängerung sei auch nicht sachlich gerechtfertigt. Weder aus den SARS-CoV-2-Testkriterien für Schulen vom 12. Oktober 2020 noch aus der Kontaktpersonen-Nachverfolgung bei Infektionen ergebe sich, dass Personen zwingend getestet werden müssten. Erst recht ergebe sich nicht aus diesem Schreiben, dass die Quarantäne bei einer Nichttestung um zehn Tage verlängert werden müsse. Offensichtlich solle der Antragsteller bestraft werden. Die Verlängerung sei offensichtlich rechtswidrig. Es gehe hier um ein Kind, dessen Rechte durch die Fortdauer der Quarantäne schwer beeinträchtigt würden.
3. Das Landratsamt Schweinfurt b e a n t r a g t e mit Schriftsatz vom 5. November 2020, den Antrag abzulehnen.
Zur Antragserwiderung ist im Wesentlichen ausgeführt: Die zuständige Behörde treffe nach § 28 Abs. 1 IfSG die notwendigen Schutzmaßnahmen. Bei Kontaktpersonen der Kategorie I bestehe ein erhöhtes Infektionsrisiko, aufgrund dessen möglich sei, dass am letzten Tag der 14-tägigen Quarantäne die Erkrankung COVID-19 aufgetreten sei. Ohne negatives Testergebnis bestehe hierüber keine ausreichende Gewissheit, um die Quarantäne beenden zu können. Die Dauer der Verlängerung richte sich nach der Quarantäne-Dauer für positiv getestete Personen nach den RKI-Kriterien.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte (einschließlich der Akten der Verfahren W 8 S 20.1625 und W 8 K 20.1692), insbesondere die eingereichten Schriftsätze samt Anlagen Bezug genommen.
II.
Der Antrag ist zulässig, aber unbegründet.
Zulässig und statthaft ist ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO.
Denn, soweit das Landratsamt, Gesundheitsamt, in seinem Schreiben vom 2. November 2020 einzelfallbezogen auf den Antragsteller eine konkrete Anordnung zur Verlängerung der Isolation bzw. Quarantäne um weitere zehn Tage getroffen hat, hat diese Regelung Verwaltungsaktscharakter gemäß Art. 35 Satz 1 BayVwVfG (vgl. schon VG Würzburg, B.v. 30.10.2020 - W 8 S 20.1625; VG Bayreuth, B.v. 23.10.2020 - B 7 S 20.1094).
Die angefochtene Regelung vom 2. November 2020 ist gemäß § 30 Abs. 1 Satz 2, § 28 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 sowie § 16 Abs. 8 IfSG kraft Gesetzes sofort vollziehbar. Die erhobene Anfechtungsklage entfaltet gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO keine aufschiebende Wirkung.
Der zulässige Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist unbegründet.
Gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alternative 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage im Falle des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO ganz oder teilweise anordnen. Das Gericht trifft dabei eine eigene originäre Entscheidung. Es hat zwischen dem in der gesetzlichen Regelung - hier § 28 Abs. 3 i.V.m. § 16 Abs. 8 IfSG - zum Ausdruck kommenden Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit des Verwaltungsaktes und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs abzuwägen. Im Rahmen dieser Abwägung sind in erster Linie die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Rahmen des Eilverfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende summarische Prüfung, dass der Rechtsbehelf voraussichtlich keinen Erfolg haben wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück. Erweist sich der zugrundeliegende Bescheid bei dieser Prüfung hingegen als rechtswidrig und das Hauptsacheverfahren dann voraussichtlich als erfolgreich, ist das Interesse an der sofortigen Vollziehung regelmäßig zu verneinen. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens hingegen offen, kommt es zu einer allgemeinen Abwägung der widerstreitenden Interessen.
Bei summarischer Prüfung spricht Überwiegendes dafür, dass die Klage des Antragstellers im Hauptsacheverfahren erfolglos bleiben wird. Jedenfalls ist bei einer allgemeinen Abwägung der widerstreitenden Interessen vorliegend dem Interesse der Allgemeinheit am Sofortvollzug der Isolations- bzw. Quarantäneanordnung der Vorzug gegenüber dem Interesse des Antragstellers auf Aufhebung der Quarantäne zu geben.
Auf die zutreffende Begründung im Schreiben des Landratsamtes Schweinfurt vom 2. November 2020, welche in der Antragserwiderung vom 5. November 2020 nachvollziehbar vertieft wurde, wird ergänzend Bezug genommen (§ 117 Abs. 5 VwGO analog).
Zur Rechtmäßigkeit der Allgemeinverfügung in Verbindung mit dem Schreiben des Landratsamtes Schweinfurt vom 27. Oktober 2020 und der darauf basierenden Anordnung zur Quarantäne gegenüber dem Antragsteller als Kontaktperson I B wird auf die betreffenden Ausführungen im Beschluss des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 30. Oktober 2020 (W 8 S 20.1625) Bezug genommen. Im Schreiben des Landratsamts Schweinfurt vom 27. Oktober 2020 war schon ausgeführt, dass eine Entisolierung und Entlassung aus der Quarantäne frühestens 14 Tage nach dem Kontakt möglich ist und dass eine Entlassung erst erfolgt, wenn die Voraussetzungen dafür durch das Gesundheitsamt Schweinfurt festgestellt sind.
Die Verlängerung der Quarantäne um zehn Tage ist rechtmäßig und verletzt den Antragsteller nicht in seinen Rechten. Sie findet ihre rechtliche Grundlage in § 28 Abs. 1 IfSG in Verbindung mit der Allgemeinverfügung und ist auch sachlich gerechtfertigt.
In Nr. 2.1.1 sowie Nr. 2.1.2 der Allgemeinverfügung ist ausdrücklich angesprochen, dass das Gesundheitsamt anderweitige Anordnungen treffen kann. Über die Beendigung der Quarantäne entscheidet das Gesundheitsamt (siehe Nr. 6.2 bis Nr. 6.4 der Allgemeinverfügung). Konkret ist unter Nr. 6.2 Sätze 2 und 3 der Allgemeinverfügung ausgeführt, dass im Falle eines positiven Testergebnisses die Isolation bei einem asymptomatischen Krankheitsverlauf frühestens zehn Tage nach dem Erstnachweis des Erregers endet, worüber das Gesundheitsamt entscheidet. Unter Nr. 6.3 Sätze 4 und 5 der Allgemeinverfügung sowie unter Nr. 6.4 der Allgemeinverfügung findet sich eine entsprechende Regelung, wonach bei positiv Getesteten die Isolation bei asymptomatischem Krankheitsverlauf frühestens zehn Tage nach Erstnachweis endet und das Gesundheitsamt die notwendigen Anordnungen trifft sowie über die Beendigung der Isolation entscheidet.
In der Begründung zu Nr. 6 der Allgemeinverfügung ist ausgeführt, dass in jedem Fall eine fachliche Beurteilung und Entscheidung des Gesundheitsamts zur Aufhebung der Isolation erforderlich ist, um das Ziel der Isolation nicht zu gefährden. Das zuständige Gesundheitsamt hat insbesondere auch über die Dauer der Isolation zu entscheiden.
Dem Gesundheitsamt mit seinem Fachverstand ist danach ausdrücklich die Beurteilungskompetenz eingeräumt. Ausgehend davon sieht es das Gericht nicht als ermessensfehlerhaft an, dass das zuständige Gesundheitsamt, parallel zum Fall einer positiven getesteten Person und zu den dafür geltenden RKI-Kriterien, die Isolation um zehn Tage verlängert hat. Das Gericht sieht es als ermessensfehlerfrei vertretbar an, dass sich das Gesundheitsamt bei einer Verweigerung der Testung und bei einem hier möglichen - jedenfalls mangels Testung nicht mit ausreichender Gewissheit ausschließbaren - asymptomatischen Verlauf, bei dem laut RKI noch nach 14 Tagen eine Symptomatik auftreten könnte, parallel zu den ausdrücklich unter Nr. 6 der Allgemeinverfügung genannten Fallkonstellationen für eine Fortdauer der Isolation um weitere zehn Tage entscheidet. Ergänzend wird auf die plausiblen Ausführungen in der Antragserwiderung des Landratsamtes, Gesundheitsamt, vom 5. November 2020 verwiesen.
Die Verlängerung der Quarantäneanordnung ist nicht unverhältnismäßig. Sie ist geeignet, die Gefahr der Ausbreitung des SARS-CoV-2-Virus zu minimieren. Das Gericht sieht auch keine milderen Mittel, nachdem die Testung vom Antragsteller ausdrücklich weiterhin verweigert wird. Vielmehr ist die Verlängerung der Quarantäne ein milderes, da weniger eingreifendes Mittel im Vergleich zu einer mit Mitteln des unmittelbaren Zwangs gegen den Willen des minderjährigen Antragstellers durchgesetzten Testung. Die Versicherung an Eidesstatt, keine Symptome zu zeigen, vermag nicht einen negativen Test zu ersetzen, weil gerade bei einem asymptomatischen Krankheitsverlauf die 10-Tages-Frist zur häuslichen Isolation Mittel der Wahl ist.
Aus den vorgelegten Testkriterien für Schulen während der COVID-19-Pandemie vom 12. Oktober 2020, als Empfehlungen des RKI, sowie der Kontaktpersonen-Nachverfolgung bei Infektionen des RKI vom 19. Oktober 2020 ergibt sich nichts Gegenteiliges.
Soweit in der Antragsbegründung seitens des Antragstellers ausgeführt wird, dass eine Verlängerung der Isolation um zehn Tage bei einer Nichttestung nach diesen Vorgaben nicht zwingend vorgeschrieben ist, ist dem entgegenzuhalten, dass die streitgegenständliche Quarantäneverlängerung als eine der nach der Allgemeinverfügung möglichen Maßnahmen wie hier unter der sachverständigen Einschätzung des dazu berufenen Gesundheitsamts zwar nicht zwingend angeordnet werden muss, aber ermessensfehlerfrei angeordnet werden kann.
Die Anordnung zur Verlängerung der häuslichen Isolation ist weder willkürlich, noch aus sachwidrigen Gründen („Bestrafung“ des Antragstellers für die verweigerte Testung) erfolgt, sondern war schon im vorhergehenden Verfahren W 8 K 20.1625 angedeutet (vgl. VG Würzburg, B.v. 30.10.2020). Sie ist gerade ein mögliches geeignetes Mittel in Fallkonstellationen wie dieser, um den fachlich notwendig erachteten Anforderungen des Infektionsschutzes gerecht zu werden, ohne unmittelbare Zwangsmittel gegen einen 13-jährigen Schüler einsetzen zu müssen.
Soweit hier über eine Freiheitsbeschränkung hinaus eine mögliche Freiheitsentziehung bzw. eine Verlängerung der Freiheitsentziehung angesprochen ist, verweist das Gericht auf seine betreffenden Ausführungen im Beschluss vom 30. Oktober 2020 - W 8 S 20.1625.
Selbst wenn man die Erfolgsaussichten der in der Hauptsache erhobenen Klage als offen einstufen würde, führt eine Folgenabwägung gerade vor dem Hintergrund der aktuell exponentiell steigenden Infektionszahlen zu einem Überwiegen des Gesundheitsschutzes für dritte Personen gegenüber dem Interesse des Antragstellers, von einer vorübergehenden Quarantäne/Isolation verschont zu bleiben. Andernfalls würde ein wesentlicher Baustein bei der Bekämpfung und Eindämmung der Pandemie herausgebrochen, wenn sich Kontaktpersonen der Kategorie I als mögliche infektiöse Person weiter ungehindert unter die Bevölkerung mischen und so die Weiterverbreitung des Virus fördern könnten (VG Regensburg, B.v. 28.10.2020 - RO 14 S 20.2590; VGH BW, B.v. 16.10.2020 - 1 S 3196/30 - juris; VG Düsseldorf, B.v. 30.9.2020 - 7 L 1939/20 - juris).
Die Folgenabwägung zwischen dem betroffenen Schutzgut des Antragstellers aus Art. 2 Abs. 1 GG und dem Schutzgut Leben und Gesundheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ergibt insbesondere im Hinblick auf die enorm steigenden Infektionszahlen, dass der individuelle Freiheitsanspruch des Antragstellers für weitere zehn Tage hinter den Belangen von Leben und Gesundheit einer Vielzahl von Menschen zurücktreten muss, gerade nachdem nach fachlicher Einschätzung des Gesundheitsamtes eine weitere Infektionsgefahr vom Antragsteller ausgehen kann und er andernfalls unter anderem in unmittelbarem Kontakt in seiner Schulklasse käme und so seine Mitschüler und Lehrer gefährden würde. In dieser Situation ergibt eine Folgenabwägung, dass die zu erwartenden Folgen der Anordnung der aufschiebenden Wirkung mit der möglichen Eröffnung weiterer Infektionsketten schwerer ins Gewicht fallen als die nachteiligen Folgen für den Antragsteller (so ausdrücklich BayVGH, B.v. 5.11.2020 - 20 NE 20.2468 zu den aktuell im Wege der Verordnung angeordneten Betriebsschließungen im Hotel- und Gaststättengewerbe).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1 und 2, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG. Da der Antrag angesichts des kurzen Zeitlaufs der zehntägigen Verlängerung der Quarantäne auf eine Vorwegnahme der Hauptsache zielt, war gemäß Nr. 1.5 Satz 2 des Streitwertkatalogs von einer Halbierung des Streitwerts im Sofortverfahren abzusehen, so dass es beim Auffangwert von 5.000,00 EUR bleibt (ebenso BayVGH, B.v. 5.11.2020 - 20 NE 20.2468; VG Karlsruhe, B.v. 13.10.2020 - 8 K 4139/20 - juris).
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 5.000 Euro festgesetzt.
Gründe
1I.
2Die Antragstellerin betreibt in der Rechtsform der GmbH in L. und Umgebung insgesamt elf Fitnessstudios. Sie begehrt die vorläufige Außervollzugsetzung von § 9 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 (Coronaschutzverordnung - CoronaSchVO) vom 30. Oktober 2020 (GV. NRW. S. 1044b), geändert durch Verordnung vom 4. November 2020 (GV. NRW. S. 1044c), soweit dadurch der Betrieb von Fitnessstudios betroffen ist.
3§ 9 Abs. 1 CoronaSchVO lautet wie folgt:
4§ 9
5Sport
6(1) Der Freizeit- und Amateursportbetrieb auf und in allen öffentlichen und privaten Sportanlagen, Fitnessstudios, Schwimmbädern und ähnlichen Einrichtungen ist bis zum 30. November 2020 unzulässig. Ausgenommen ist der Individualsport allein, zu zweit oder ausschließlich mit Personen des eigenen Hausstands außerhalb geschlossener Räumlichkeiten von Sportanlagen. Die Nutzung von Gemeinschaftsräumen einschließlich Räumen zum Umkleiden und zum Duschen von Sportanlagen durch mehrere Personen gleichzeitig ist unzulässig.
7Die Antragstellerin hat am 1. November 2020 einen Normenkontrollantrag (13 D 226/20.NE) gestellt und zugleich den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt.
8Zur Begründung macht sie im Wesentlichen geltend: Die mit der Regelung verbundenen Eingriffe in ihre Berufsausübungsfreiheit und ihr Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb seien unverhältnismäßig und damit rechtswidrig. Die Schließung von Fitnessstudios stelle keine notwendige Schutzmaßnahme im Sinne von § 28 Abs. 1 IfSG dar; denn die bereits etablierten Hygiene- und Rückverfolgungskonzepte verhinderten eine unkontrollierte Ausbreitung des Coronavirus infolge des Besuchs von Fitnessstudios. Sollte der Antragsgegner diese Maßnahmen nicht für ausreichend erachten, stünden ihm mildere Mittel als das streitgegenständliche Verbot zur Verfügung. So könne die Maskenpflicht erweitert werden oder Fiebermessen vor Zutritt zu den Studios, eine Erweiterung der Abstandszonen über 1,5 Meter hinaus und eine Begrenzung der Personenzahl pro Quadratmeter angeordnet werden. Es sei nicht nachvollziehbar, dass sich der Verordnungsgeber entschlossen habe, Fitnessstudios zu schließen, hingegen Sonnenstudios weiter betrieben werden dürften. Die sportliche Betätigung in Fitnessstudios sei gesundheitsförderlich, das Risiko einer Infektion sehr gering.
9Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,
10im Wege der einstweiligen Anordnung den Vollzug von § 9 Abs. 1 Satz 1 CoronaSchVO bis zu einer Entscheidung über ihren Normenkontrollantrag auszusetzen, soweit die Regelung den Betrieb von Fitnessstudios für unzulässig erklärt.
11Der Antragsgegner verteidigt die angegriffene Regelung und beantragt,
12den Antrag abzulehnen.
13II.
14Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat keinen Erfolg. Der gemäß § 47 Abs. 6, Abs. 1 Nr. 2 VwGO i. V. m. § 109a JustG NRW statthafte und auch im Übrigen zulässige Antrag ist unbegründet. Die von der Antragstellerin begehrte einstweilige Anordnung ist nicht zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten (§ 47 Abs. 6 VwGO).
15Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind zunächst die Erfolgsaussichten des Normenkontrollantrags in der Hauptsache, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen. Ist danach der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Ergibt diese Prüfung, dass ein Normenkontrollantrag in der Hauptsache voraussichtlich begründet wäre, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug der streitgegenständlichen Norm zu suspendieren ist. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug der Rechtsvorschrift vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist. Lassen sich die Erfolgsaussichten des Normenkontrollverfahrens nicht abschätzen, ist über den Erlass einer beantragten einstweiligen Anordnung im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden: Gegenüberzustellen sind die Folgen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Normenkontrollantrag aber Erfolg hätte, und die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Antrag nach § 47 Abs. 1 VwGO aber erfolglos bliebe. Die für den Erlass der einstweiligen Anordnung sprechenden Erwägungen müssen die gegenläufigen Interessen dabei deutlich überwiegen, also so schwer wiegen, dass der Erlass der einstweiligen Anordnung - trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache - dringend geboten ist.
16Vgl. BVerwG, Beschluss vom 16. September 2015 ‑ 4 VR 2.15 -, juris, Rn. 4.
17Gemessen an diesen Grundsätzen ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht dringend geboten, weil der Senat bei der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur möglichen summarischen Prüfung von offenen Erfolgsaussichten eines noch zu stellenden Normenkontrollantrags ausgeht (I.), die deswegen anzustellende Folgenabwägung aber zu Lasten der Antragstellerin ausfällt (II.).
18I. 1. Bei summarischer Prüfung erweist sich noch nicht als offensichtlich, dass § 32 Satz 1 i. V. m. § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG als hinreichende, dem Parlamentsvorbehalt genügende Ermächtigungsgrundlage für die derzeit erneut (in § 9 Abs. 1 Satz 1 CoronaSchVO) geregelten Betriebsverbote aufgrund der sich mit zunehmender Häufung intensivierenden Eingriffe in die Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG von vornherein nicht mehr in Betracht kommt. Zwar gewinnen die in der Rechtsprechung des erkennenden Senats bereits angesprochenen, zu Beginn der Pandemielage jedoch verworfenen verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Generalklausel des § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 IfSG als Grundlage für allgemeine flächendeckende Betriebsverbote,
19siehe insoweit grundlegend Beschluss vom 6. April 2020 - 13 B 398/20.NE -, juris, Rn. 37 ff.; vgl. ferner etwa Beschluss vom 23. Juni 2020 ‑ 13 B 695/20.NE ‑, juris, Rn. 43 ff., m. w. N.,
20mit Fortdauer der Pandemielage und Wiederholung der verordneten Betriebsschließungen zunehmend Gewicht. Insoweit spricht einiges dafür, dass der Gesetzgeber auf Dauer besonders grundrechtsintensive flächendeckende Maßnahmen, wie etwa Untersagungen unternehmerischer Tätigkeiten, selbst tatbestandlich und auf Rechtsfolgenseite konkretisieren und möglicherweise auch eine Entscheidung über etwaige Entschädigungsleistungen (wie sie bereits im 12. Abschnitt des Infektionsschutzgesetzes für andere Sachverhalte normiert wurden) treffen muss.
21Vgl. dazu nunmehr den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, Entwurf eines Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 3. November 2020, BT-Drs. 19/23944, der in einem neuen § 28a IfSG für die Dauer der Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite insbesondere Betriebsschließungen ausdrücklich vorsieht.
22Allerdings ist in der Rechtsprechung auch anerkannt, dass es im Rahmen unvorhergesehener Entwicklungen aus übergeordneten Gründen des Gemeinwohls geboten sein kann, nicht hinnehmbare gravierende Regelungslücken für einen Übergangszeitraum insbesondere auf der Grundlage von Generalklauseln zu schließen, um so auf schwerwiegende Gefahrensituationen auch mit im Grunde genommen näher regelungsbedürftigen Maßnahmen vorläufig reagieren zu können.
23Siehe dazu nochmals OVG NRW, Beschluss vom 6. April 2020 - 13 B 398/20.NE -, juris, Rn. 59 ff., m. w. N.
24Dass ein solcher Übergangszeitraum ‑ die grundsätzliche Notwendigkeit einer näheren (anvisierten) Regelung durch den parlamentarischen Gesetzgeber unterstellt ‑ bereits abgelaufen ist, kann im Verfahren der einstweiligen Anordnung nicht als offensichtlich angenommen werden, sondern bedarf eingehender Prüfung in einem Hauptsacheverfahren.
25Vgl. zuletzt zu § 32 Satz 1 und 2 i. V .m. § 28 Abs. 1 Satz 1, 2 IfSG als hinreichende Ermächtigungsgrundlage für Betriebsverbote: VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 6. Oktober 2020 - 1 S 2871/20 -, juris, Rn. 30 (offen gelassen); zu Eingriffen in die Berufsfreiheit durch das Verbot von Zuschauern bei Sportveranstaltungen: Bay. VGH, Beschluss vom 16. September 2020 ‑ 20 NE 20.1994 ‑, juris, Rn. 17; siehe auch Bay. VerfGH, Entscheidung vom 21. Oktober 2020 ‑ Vf. 26-VII-20 ‑, juris, Rn. 17 f.
262. Die angegriffene Regelung in § 9 Abs. 1 Satz 1 CoronaSchVO erweist sich im Übrigen als voraussichtlich rechtmäßig. Der mit der streitigen Maßnahme in erster Linie verbundene Eingriff in die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsfreiheit und gegebenenfalls die von Art. 14 GG geschützte Eigentumsgarantie der Betreiber von Fitnessstudios genügt bei summarischer Bewertung dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (a) und begründet auch keinen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG (b).
27a) Das Verbot für den Freizeit- und Amateursportbetrieb in Fitnessstudios dient dem legitimen Zweck, die Weiterverbreitung des SARS-CoV-2-Virus einzudämmen. Der Verordnungsgeber darf davon ausgehen, dass die Corona-Pandemie angesichts der in jüngster Zeit erfolgten rapiden und flächendeckenden Zunahme der Zahl der nachweislich infizierten Personen eine ernstzunehmende Gefahrensituation begründet, die staatliches Einschreiten nicht nur rechtfertigt, sondern mit Blick auf die Schutzpflicht des Staates für Leib und Gesundheit der Bevölkerung auch gebietet.
28Vgl. zu dieser Schutzpflicht BVerfG, Urteil vom 28. Januar 1992 - 1 BvR 1025/82 u.a. -, juris, Rn. 69, m. w. N.
29Die gegenwärtige Situation ist durch ein exponentielles Ansteigen der Infektionszahlen gekennzeichnet. Die 7-Tage-Inzidenz liegt mit Stand vom 5. November 2020 für ganz Deutschland bei einem Wert von 126,8 und für Nordrhein-Westfalen nochmals deutlich darüber bei einem Wert von 168,3. Die berichteten R-Werte liegen derzeit bei 0,79 (4 Tage-R-Wert) und 0,93 (7-Tage-R-Wert). Gleichzeitig steigt mit der Zahl der Neuinfizierungen die Zahl der Corona-Patienten auch in den nordrhein-westfälischen Krankenhäusern stark an. Die Zahl der intensivmedizinisch behandelten COVID-19-Fälle hat sich bundesweit in den vergangenen drei Wochen von 618 Patienten am 13. Oktober 2020 auf 2.653 Patienten am 5. November 2020 mehr als vervierfacht. Dies lässt sich auch nicht mehr durch wenige einzelne Ursachen erklären. Vielmehr stellt sich das aktuelle Infektionsgeschehen sehr diffus dar.
30Vgl. Robert Koch-Institut, Täglicher Lagebericht zur Coronavirus-Krankheit-2019 (Covid-19), Stand: 5. November 2020, abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Nov_2020/2020-11-05-de.pdf?__blob= publicationFile.
31Die Krankenhäuser rechnen vor dem Hintergrund dieser Entwicklung schon bald mit einer Rekordzahl an Intensiv-Patienten. Nicht nur die Anzahl der zur Verfügung stehenden Intensivbetten (auch für nicht COVID-19-Patienten), sondern vor allem auch der Personal- bzw. Fachkräftemangel bereitet erhebliche Sorgen.
32Vgl. https://www.ruhr24.de/nrw/corona-nrw-intensivstationen-krankenhaus-covid-19-patienten-intensivbetten-alarm-aerzte-90080033.html, Stand: 29. Oktober 2020; vgl. zur Entwicklung der Fallzahlen Tagesreport DIVI Intensivregister https://www.divi.de/joomlatools-files/docman-files/divi-intensivregister-tagesreports/DIVI-Intensivregister_Tagesreport_2020_11_05.pdf.
33Angesichts dessen sieht der Verordnungsgeber zu Recht einen dringenden Handlungsbedarf. Ziel seiner Maßnahmen ist es, in dieser Situation durch eine allgemeine Reduzierung von Kontakten vor allem im Privaten und im Freizeit- und Unterhaltungsbereich bei gleichzeitiger Offenhaltung von Schulen und Kitas und weitgehender Schonung der Wirtschaft im Übrigen den exponentiellen Anstieg des Infektionsgeschehens bis auf eine wieder nachverfolgbare Größe von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner pro Woche zu senken, um eine Überforderung des Gesundheitssystems zu vermeiden.
34Vgl. dazu den Beschluss der Videokonferenz der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder am 28. Oktober 2020; abrufbar unter:https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/videokonferenz-der-bundeskanzlerin-mit-den-regierungschefinnen-und-regierungschefs-der-laender-am-28-oktober-2020-1805248, den der Antragsgegner seinem Verordnungserlass zugrunde gelegt hat.
35Zur Erreichung dieses Ziels dürfte die angefochtene Maßnahmen geeignet (aa), erforderlich (bb) und angemessen sein (cc). Ebenso wie für die Eignung einer Maßnahme kommt dem Gesetz- bzw. im Rahmen der Ermächtigung dem Verordnungsgeber für ihre Erforderlichkeit ein Beurteilungs- und Prognosespielraum zu.
36Vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 29. September 2010 - 1 BvR 1789/10 -, juris, Rn. 21; BVerwG, Urteil vom 16. Dezember 2016 - 8 C 6.15 -, juris, Rn. 49.
37Diesen hat der Verordnungsgeber nicht erkennbar überschritten.
38aa) Dass Maßnahmen zur Reduzierung von Kontakten im Privaten und im Freizeitbereich grundsätzlich geeignet sind, Infektionsrisiken zu reduzieren, ist angesichts des Hauptübertragungswegs, der respiratorischen Aufnahme virushaltiger Partikel, die beim Atmen, Husten, Sprechen, Singen oder Niesen entstehen, nicht zweifelhaft. Das Verbot von Freizeit- und Amateursport in Fitnessstudios trägt zur Kontaktreduzierung bei. Fitnessstudios sind Freizeiteinrichtungen in geschlossenen Räumlichkeiten, in denen Menschen zusammenkommen, um Sport zu betreiben. Auch wenn das jeweilige Training einzeln unter Wahrung des Mindestabstands erfolgt und Schmierinfektionen durch Desinfektionsmaßnahmen weitgehend verhindert werden können, ändert dies nichts daran, dass in Fitnessstudios eine größere Anzahl wechselnder Personen in geschlossenen Räumlichkeiten zusammenkommt. Überdies lässt sich dort eine Verbreitung von Tröpfchen und Aerosolen in der Luft durch heftiges Atmen infolge hoher körperlicher Belastungen während des Trainingsbetriebs trotz aller denkbaren Hygienekonzepte nicht ausschließen. Das Verbot des Freizeit- und Amateursports in Fitnessstudios verhindert eine Übertragung des Coronavirus in diesen Lokalitäten. Auf diese Weise beugt es auch einem Eintrag der Infektion in das weitere berufliche und private Umfeld der Gäste vor.
39Unabhängig von der konkreten Ausgestaltung des Betriebs ist zudem zu berücksichtigen, dass bereits die Öffnung von Sport- und Freizeiteinrichtungen für den Publikumsverkehr zwangsläufig zu weiteren Sozialkontakten führt, indem Menschen sich, um zu den entsprechenden Einrichtungen zu gelangen, in der Öffentlichkeit bewegen und dort etwa in öffentlichen Verkehrsmitteln aufeinandertreffen. Nicht zuletzt auch dieser Effekt soll nach dem Willen des Verordnungsgebers mit den insgesamt ergriffenen Maßnahmen zur Kontaktbeschränkung aus den oben beschriebenen Gründen deutlich reduziert werden.
40bb) Das Verbot dürfte auch erforderlich sein. Dem Verordnungsgeber wird voraussichtlich nicht vorgehalten werden können, sich nicht für ein anderes, die Berufsfreiheit der Antragstellerin weniger beeinträchtigendes Regelungsmodell entschieden zu haben. Die von ihr aufgeführten zusätzlichen Infektionsschutzmaßnahmen (Erweiterung der Maskenpflicht, Fiebermessen vor Zutritt zu den Studios, Erweiterung der Abstandszonen über 1,5 Meter hinaus, Begrenzung der Personenzahl pro Quadratmeter) stellen zwar mildere Mittel dar, die jedoch nicht ebenso wirksam sind wie das (zeitweise) Verbot. Verbleibende Infektionsrisiken durch das Aufeinandertreffen von Menschen bei Aufsuchen, Aufenthalt und Verlassen der Fitnessstudios werden durch diese Maßnahmen jedenfalls nicht verhindert.
41Vgl. OVG Bln.-Bbg., Beschluss vom 22. Mai 2020 ‑ OVG 11 S 41/20 -, juris Rn. 32, m. w. N.
42Angesichts der Diffusität des Infektionsgeschehens und des Umstands, dass sich Infektionsketten größtenteils nicht mehr zurückverfolgen lassen,
43vgl. Robert Koch-Institut, Täglicher Lagebericht zur Coronavirus-Krankheit-2019 (Covid-19), S. 2, Stand: 5. November 2020, abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Nov_2020/2020-11-05-de.pdf?__blob= publicationFile.
44verfängt schließlich auch der Einwand, eine Schließung sei nicht erforderlich, weil sich Fitnessstudios nicht als Infektionstreiber erwiesen hätten, nicht.
45cc) Das Verbot dürfte sich auch als angemessen erweisen. Angemessen, d. h. verhältnismäßig im engeren Sinne, ist eine freiheitseinschränkende Regelung, wenn das Maß der Belastung des Einzelnen noch in einem vernünftigen Verhältnis zu den der Allgemeinheit erwachsenden Vorteilen steht. Hierbei ist eine Abwägung zwischen den Gemeinwohlbelangen, deren Wahrnehmung der Eingriff in Grundrechte dient, und den Auswirkungen auf die Rechtsgüter der davon Betroffenen notwendig. Die Interessen des Gemeinwohls müssen umso gewichtiger sein, je empfindlicher der Einzelne in seiner Freiheit beeinträchtigt wird. Zugleich wird der Gemeinschaftsschutz umso dringlicher, je größer die Nachteile und Gefahren sind, die aus gänzlich freier Grundrechtsausübung erwachsen können.
46St. Rspr., vgl. etwa BVerfG, Urteil vom 26. Februar 2020 ‑ 2 BvR 2347/15 ‑, juris, Rn. 265, m. w. N.
47Davon ausgehend ist die fragliche Regelung bei vorläufiger Bewertung nicht zu beanstanden, weil die Schwere der damit erneut verbundenen Grundrechtseingriffe voraussichtlich noch nicht außer Verhältnis zu dem beabsichtigten Verordnungszweck steht. Das Verbot von Freizeit- und Amateursport in Fitnessstudios greift in ganz erheblicher Weise in das Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) und gegebenenfalls auch das von der Eigentumsgarantie erfasste Recht des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs (Art. 14 Abs. 1 GG) der davon betroffenen Betreiber ein. Infolge der im Frühjahr verordneten Schließung und der nachfolgend angeordneten Infektionsschutzmaßnahmen dürften ‑ trotz der staatlichen Unterstützungsmaßnahmen ‑ viele Betriebe mit ganz erheblichen wirtschaftlichen Einbußen konfrontiert sein. Die Umsatzausfälle des Monats November 2020 sollen jedoch durch staatliche Unterstützungsmaßnahmen abgefedert werden. Das außerordentliche Wirtschaftshilfeprogramm des Bundes stellt hierfür insgesamt bis zu 10 Milliarden Euro bereit. Unternehmen mit bis zu 50 Beschäftigten erhalten eine einmalige Kostenpauschale in Höhe von bis zu 75 Prozent ihres Umsatzes von November 2019. Die Höhe errechnet sich aus dem durchschnittlichen wöchentlichen Umsatz des Vorjahresmonats, gezahlt wird sie für jede angeordnete Lockdown- Woche. Bei jungen Unternehmen, die nach November 2019 gegründet wurden, gelten die Umsätze von Oktober 2020 als Maßstab. Solo-Selbständige haben das Wahlrecht, als Bezugsrahmen für den Umsatz auch den durchschnittlichen Vorjahresumsatz 2019 zugrunde zu legen. Für größere Unternehmen gelten abweichende Prozentanteile vom Vorjahresumsatz. Die Höhe der Zuschüsse wird hier im Einzelnen anhand beihilferechtlicher Vorgaben ermittelt. Anderweitige Hilfen für den Zeitraum wie beispielsweise Kurzarbeitergeld oder Überbrückungshilfe werden vom Erstattungsbetrag abgezogen.
48Vgl. Übersicht über die Corona-Hilfen des Bundes, https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/Themen/Schlaglichter/Corona-Schutzschild/2020-10-29-neue-corona-hilfen.html, Stand: 5. November 2020.
49Hinzu tritt die Überbrückungshilfe des Bundes (2. Phase). Die 2. Phase der Überbrückungshilfe ist ein branchenübergreifendes Zuschussprogramm mit einer Laufzeit von vier Monaten (September bis Dezember 2020), welches zum Ziel hat, Umsatzrückgänge während der Corona-Krise abzumildern. Die Förderung schließt nahtlos an die 1. Phase der Überbrückungshilfe mit dem Förderzeitraum Juni bis August 2020 an. Dabei werden die Zugangsbedingungen abgesenkt und die Förderung ausgeweitet. Das Hilfsprogramm unterstützt kleine und mittelständische Unternehmen sowie Solo-Selbstständige und Freiberufler, die von den Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung besonders stark betroffen sind, mit nicht-rückzahlbaren Zuschüssen zu den betrieblichen Fixkosten. Je nach Höhe der betrieblichen Fixkosten können Unternehmen für die vier Monate bis zu 200.000 Euro an Förderung erhalten.
50Vgl. https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Pressemitteilungen/Finanzpolitik/2020/09/2020-09-18-PM-Corona-Ueberbrueckungshilfe-verlaengert.html, abgerufen am 5. November 2020.
51Von Seiten des Landes Nordrhein-Westfalen wurde das Bundesprogramm durch die NRW Überbrückungshilfe Plus ergänzt (1. Phase in den Fördermonaten Juni bis August 2020). Diese stellt zusätzliche Hilfen für Solo-Selbstständige, Freiberufler und im Unternehmen tätige Inhaber von Einzelunternehmen und Personengesellschaften mit höchstens 50 Mitarbeitern in Nordrhein-Westfalen bereit. Berechtigte erhielten danach eine einmalige Zahlung in Höhe von 1.000 Euro pro Monat für maximal drei Monate. Das Programm wird für eine Laufzeit von weiteren vier Monaten (September bis Dezember 2020) fortgesetzt.
52Vgl. Übersicht des Wirtschaftsministeriums über Überbrückungshilfe (2. Phase),
53https://www.wirtschaft.nrw/ueberbrueckungshilfe2, abgerufen am 5. November 2020.
54Auch angesichts dieser umfangreichen Hilfsmaßnahmen dürften die mit der angefochtenen Regelung verbundenen Grundrechtseingriffe noch in einem vernünftigen Verhältnis zu dem mit der Regelung verfolgten Zweck stehen, ganz erhebliche Gefahren für Leib und Leben einer Vielzahl von Menschen im Falle einer unkontrollierten Infektionsausbreitung zu verhindern.
55b) Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG dürfte ebenfalls nicht vorliegen. Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebietet dem Normgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln.
56Vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. Februar 2012 - 1 BvL 14/07 -, juris, Rn. 40.
57Er verwehrt dem Normgeber nicht jede Differenzierung. Diese bedürfen jedoch stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Differenzierungsziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind.
58Vgl. BVerfG, Beschluss vom 21. Juni 2011 - 1 BvR 2035/07 -, juris, Rn. 64.
59Sachgründe können sich im vorliegenden Regelungszusammenhang aus dem infektionsrechtlichen Gefahrengrad der Tätigkeit, aber voraussichtlich auch aus ihrer Relevanz für das öffentliche Leben (etwa Schulen, Kitas, Bildungseinrichtungen, ÖPNV sowie die Versorgung der Bevölkerung mit Gütern und Dienstleistungen) ergeben.
60Vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 14. Mai 2020 ‑ 13 MN 156/20 -, juris, Rn. 36.
61In Anwendung dieses Maßstabs drängt sich ein Gleichheitsverstoß des Verordnungsgebers nicht auf. Dieser durfte im Rahmen des von ihm verfolgten Regelungskonzepts voraussichtlich das gesellschaftliche Bedürfnis nach bestimmten, weiter zulässigen (Dienst-)Leistungen ebenso wie die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen der in Betracht kommenden Maßnahmen in seine Entscheidung einfließen lassen, weite Teile des öffentlichen Lebens, in denen ebenfalls Menschen in geschlossenen Räumlichkeiten zusammentreffen, nicht zu schließen. Soweit die Antragstellerin in diesem Zusammenhang darauf verweist, dass der (typischerweise kontaktarme) Betrieb von Sonnenstudios nicht untersagt worden sei, dürfte es im Übrigen bereits im Ausgangspunkt an einem annähernd vergleichbaren Infektionsrisiko fehlen.
62II. Die angesichts der offenen Erfolgsaussichten anzustellende Folgenabwägung ergibt, dass die von der Antragstellerin dargelegten wirtschaftlichen Einbußen unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit des angefochtenen Verbots hinter den Schutz von Leben und Gesundheit einer Vielzahl von Menschen zurücktreten müssen. Angesichts des eingangs beschriebenen rasanten Anstiegs der Zahl von Neuinfektionen und der vor diesem Hintergrund konkret zu befürchtenden Überlastung der (intensiv)medizinischen Behandlungskapazitäten fallen die zu erwartenden Folgen einer Außervollzugsetzung der angegriffenen Norm schwerer ins Gewicht als die durch die vorbeschriebenen Hilfsprogramme abgemilderten wirtschaftlichen Folgen ihres einstweilig weiteren Vollzugs.
63Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 2 GKG. Da die angegriffene Regelung mit Ablauf des 30. November 2020 außer Kraft tritt, zielt der Antrag inhaltlich auf eine Vorwegnahme der Hauptsache, sodass eine Reduzierung des Auffangstreitwerts für das Eilverfahren nicht veranlasst ist.
64Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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"jurisdiction": "Germany",
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert des Verfahrens wird auf 5.000 EUR festgesetzt.
Gründe
1
I. Der sinngemäß gestellte Antrag,
2
§ 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Niedersächsischen Verordnung über Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus SARS-CoV-2 (Niedersächsische Corona-Verordnung) vom 30. Oktober 2020 (Nds. GVBl. S. 368) vorläufig außer Vollzug zu setzen,
3
bleibt ohne Erfolg. Der Antrag ist zulässig (1.), aber unbegründet (2.).
4
Diese Entscheidung, die nicht den prozessrechtlichen Vorgaben des § 47 Abs. 5 VwGO unterliegt (vgl. Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl. 2017, Rn. 607; Hoppe, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 47 Rn. 110 ff.), trifft der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 12.6.2009 - 1 MN 172/08 -, juris Rn. 4 m.w.N.) und gemäß § 76 Abs. 2 Satz 1 NJG ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richterinnen und Richter.
5
1. Der Antrag ist zulässig.
6
Der Normenkontrolleilantrag ist nach § 47 Abs. 6 in Verbindung mit Abs. 1 Nr. 2 VwGO und § 75 NJG statthaft. Die Niedersächsische Corona-Verordnung ist eine im Range unter dem Landesgesetz stehende Rechtsvorschrift im Sinne des § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO in Verbindung mit § 75 NJG (vgl. zu den insoweit bestehenden Anforderungen: Senatsbeschl. v. 31.1.2019 - 13 KN 510/18 -, NdsRpfl. 2019, 130 f. - juris Rn. 16 ff.).
7
Der Antragsteller ist antragsbefugt im Sinne des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO, da er geltend machen kann, in eigenen Rechten verletzt zu sein. Die in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Schließung von Gastronomiebetrieben für den Publikumsverkehr und Besuche, ausgenommen der Außer-Haus-Verkauf und die Abholung von Speisen zum Verzehr außerhalb der jeweiligen Einrichtung und mit Ausnahme von Gastronomiebetrieben in Heimen nach § 2 Abs. 2 des Niedersächsischen Gesetzes über unterstützende Wohnformen (NuWG) zur Versorgung der Bewohnerinnen und Bewohner, von Gastronomiebetrieben in Beherbergungsstätten und Hotels zur Versorgung der zulässig beherbergten Gäste, ist an die Betreiberinnen und Betreiber von Gastronomiebetrieben adressiert und lässt es möglich erscheinen, dass der Antragsteller in seinem Grundrecht der Berufsausübungsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG verletzt ist (vgl. zu dieser Qualifizierung des Eingriffs: Senatsbeschl. v. 16.4.2020 - 13 MN 77/20 -, juris Rn. 29). Eine darüberhinausgehende Verletzung des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb als einer nach Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Rechtsposition dürfte hingegen nicht vorliegen. Denn dieser Schutz erfasst nur den konkreten Bestand an Rechten und Gütern; die hier durch die verordnete Beschränkung betroffenen bloßen Umsatz- und Gewinnchancen werden hingegen auch unter dem Gesichtspunkt des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs nicht von der Eigentumsgarantie erfasst (vgl. BVerfG, Urt. v. 6.12.2016 - 1 BvR 2821/11 -, BVerfGE 143, 246, 331 f. - juris Rn. 240; Beschl. v. 26.6.2002 - 1 BvR 558/91 -, BVerfGE 105, 252, 278 - juris Rn. 79 m.w.N.).
8
Der Antrag ist zutreffend gegen das Land Niedersachsen als normerlassende Körperschaft im Sinne des § 47 Abs. 2 Satz 2 VwGO gerichtet. Das Land Niedersachsen wird durch das Niedersächsische Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung vertreten (vgl. Nr. II. des Gemeinsamen Runderlasses der Staatskanzlei und sämtlicher Ministerien, Vertretung des Landes Niedersachsen, v. 12.7.2012 (Nds. MBl. S. 578), zuletzt geändert am 15.9.2017 (Nds. MBl. S. 1288), in Verbindung mit Nr. 4.22 des Beschlusses der Landesregierung, Geschäftsverteilung der Niedersächsischen Landesregierung, v. 17.7.2012 (Nds. MBl. S. 610), zuletzt geändert am 18.11.2019 (Nds. MBl. S. 1618)).
9
2. Der Antrag ist aber unbegründet.
10
Nach § 47 Abs. 6 VwGO kann das Gericht in Normenkontrollverfahren auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist. Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind zunächst die Erfolgsaussichten eines Normenkontrollantrages im Hauptsacheverfahren, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen. Ergibt diese Prüfung, dass der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet sein wird, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht im Sinne von § 47 Abs. 6 VwGO zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Erweist sich dagegen, dass der Antrag voraussichtlich Erfolg haben wird, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache suspendiert werden muss. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist. Lassen sich die Erfolgsaussichten des Normenkontrollverfahrens nicht abschätzen, ist über den Erlass einer beantragten einstweiligen Anordnung im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden. Gegenüberzustellen sind im Rahmen der sog. "Doppelhypothese" die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Normenkontrollantrag aber Erfolg hätte, und die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Normenkontrollantrag aber erfolglos bliebe. Die für den Erlass der einstweiligen Anordnung sprechenden Gründe müssen die gegenläufigen Interessen deutlich überwiegen, mithin so schwer wiegen, dass der Erlass der einstweiligen Anordnung - trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache - dringend geboten ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 30.4.2019 - BVerwG 4 VR 3.19 -, juris Rn. 4 (zur Normenkontrolle eines Bebauungsplans); OVG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 22.10.2019 - 6 B 11533/19 -, juris Rn. 5 (zur Normenkontrolle einer Rechtsverordnung über die Freigabe eines verkaufsoffenen Sonntags); Sächsisches OVG, Beschl. v. 10.7.2019 - 4 B 170/19 -, juris Rn. 20 (zur Normenkontrolle einer Rechtsverordnung zur Bildung und Arbeit des Integrationsbeirats); Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 11.5.2018 - 12 MN 40/18 -, juris Rn. 24 ff. (zur Normenkontrolle gegen die Ausschlusswirkung im Flächennutzungsplan) jeweils m.w.N.).
11
Unter Anwendung dieser Grundsätze bleibt der Antrag auf vorläufige Außervollzugsetzung der in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordneten Schließung von Gastronomiebetrieben für den Publikumsverkehr und Besuche ohne Erfolg. Der Senat vermag den Erfolg des in der Hauptsache gestellten bzw. noch zu stellenden Normenkontrollantrags derzeit nicht verlässlich abzuschätzen (a.). Die danach gebotene Folgenabwägung führt nicht dazu, dass die von dem Antragsteller geltend gemachten Gründe für die einstweilige Außervollzugsetzung die für den weiteren Vollzug der Verordnung sprechenden Gründe überwiegen (b.).
12
a. Derzeit ist offen, ob § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung in einem Hauptsacheverfahren für unwirksam zu erklären ist. Der Senat geht zwar davon aus, dass diese Verordnungsregelung auf einer tragfähigen Rechtsgrundlage beruht (1) und formell rechtmäßig ist (2). Zweifel an der materiellen Rechtmäßigkeit (3) bestehen auch nicht mit Blick auf das "Ob" eines staatlichen Handelns (a) und die Notwendigkeit der infektionsschutzrechtlichen Maßnahme als solcher (b). Derzeit ist aber nicht verlässlich abzuschätzen, ob die Verordnungsregelung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG zu vereinbaren ist (c).
13
(1) Rechtsgrundlage für den Erlass der Verordnung ist § 32 Satz 1 und 2 in Verbindung mit § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz - IfSG -) vom 20. Juli 2000 (BGBl. I S. 1045), in der hier maßgeblichen zuletzt durch das Gesetz zur Umsetzung steuerlicher Hilfsmaßnahmen zur Bewältigung der Corona-Krise (Corona-Steuerhilfegesetz) vom 19. Juni 2020 (BGBl. I S. 1385) geänderten Fassung.
14
Eine Verfassungswidrigkeit dieser Rechtsgrundlagen, insbesondere mit Blick auf die Bestimmtheit der getroffenen Regelungen und deren Vereinbarkeit mit dem Vorbehalt des Gesetzes, ist für den Senat - ebenso wie offenbar für das Bundesverfassungsgericht in seiner bisherigen Spruchpraxis betreffend die Corona-Pandemie (vgl. bspw. BVerfG, Beschl. v. 15.7.2020 - 1 BvR 1630/20 -; v. 9.6.2020 - 1 BvR 1230/20 -; v. 28.4.2020 - 1 BvR 899/20 -, alle veröffentlicht in juris) - jedenfalls nicht offensichtlich (vgl. hierzu im Einzelnen: Bayerischer VerfGH, Entsch. v. 21.10.2020 - Vf. 26-VII-20 -, juris Rn. 17 ff.; OVG Bremen, Beschl. v. 9.4.2020 - 1 B 97/20 -, juris Rn. 24 ff.; Hessischer VGH, Beschl. v. 7.4.2020 - 8 B 892/20.N -, juris Rn. 34 ff.; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 26.10.2020 - 13 B 1581/20.NE -, juris Rn. 32 ff.; Beschl. v. 6.4. 2020 - 13 B 398/20.NE -, juris Rn. 36 ff.; Bayerischer VGH, Beschl. v. 30.3.2020 - 20 NE 20.632 -, juris Rn. 39 ff.; Beschl. v. 30.3.2020 - 20 CS 20.611 -, juris 17 f.; offengelassen: VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 9.4.2020 - 1 S 925/20 -, juris Rn. 37 ff.).
15
Der Vorbehalt des Gesetzes verlangt im Hinblick auf Rechtsstaatsprinzip und Demokratiegebot, dass der Gesetzgeber in grundlegenden normativen Bereichen alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen hat und nicht dem Handeln und der Entscheidungsmacht der Exekutive überlassen darf. Dabei betrifft die Normierungspflicht nicht nur die Frage, ob ein bestimmter Gegenstand überhaupt gesetzlich geregelt sein muss, sondern auch, wie weit diese Regelungen im Einzelnen zu gehen haben (sog. "Wesentlichkeitsdoktrin", BVerfG, Urt. v. 19.9.2018 - 2 BvF 1/15 u.a. -, juris Rn. 199). Inwieweit es einer Regelung durch den parlamentarischen Gesetzgeber bedarf, hängt vom jeweiligen Sachbereich und der Eigenart des betroffenen Regelungsgegenstands ab (vgl. BVerfG, Urt. v. 24.9.2003 - 2 BvR 1436/02 -, juris Rn. 67 f. m.w.N.). Auch Gesetze, die zu Rechtsverordnungen und Satzungen ermächtigen, können den Voraussetzungen des Gesetzesvorbehalts genügen, die wesentlichen Entscheidungen müssen aber durch den parlamentarischen Gesetzgeber selbst erfolgen. Das Erfordernis der hinreichenden Bestimmtheit der Ermächtigungsgrundlage bei Delegation einer Entscheidung auf den Verordnungsgeber aus Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG, wonach Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung im Gesetz bestimmt werden müssen, stellt insoweit eine notwendige Ergänzung und Konkretisierung des Gesetzesvorbehalts und des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung dar. Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG führt als eine Ausprägung des allgemeinen Gesetzesvorbehalts den staatlichen Eingriff durch die Exekutive nachvollziehbar auf eine parlamentarische Willensäußerung zurück. Eine Ermächtigung darf daher nicht so unbestimmt sein, dass nicht mehr vorausgesehen werden kann, in welchen Fällen und mit welcher Tendenz von ihr Gebrauch gemacht werden wird und welchen Inhalt die auf Grund der Ermächtigung erlassenen Verordnungen haben können (vgl. BVerfG, Urt. v. 19.9.2018 - 2 BvF 1/15 u.a. -, juris Rn. 198 ff. m.w.N.). Die Ermächtigungsnorm muss in ihrem Wortlaut nicht so genau wie irgend möglich gefasst sein; sie hat von Verfassungs wegen nur hinreichend bestimmt zu sein. Dazu genügt es, dass sich die gesetzlichen Vorgaben mit Hilfe allgemeiner Auslegungsregeln erschließen lassen, insbesondere aus dem Zweck, dem Sinnzusammenhang und der Entstehungsgeschichte der Norm. Welche Anforderungen an das Maß der erforderlichen Bestimmtheit im Einzelnen zu stellen sind, lässt sich daher nicht allgemein festlegen. Zum einen kommt es auf die Intensität der Auswirkungen der Regelung für die Betroffenen an. Je schwerwiegender die grundrechtsrelevanten Auswirkungen für die von einer Rechtsverordnung potentiell Betroffenen sind, desto strengere Anforderungen gelten für das Maß der Bestimmtheit sowie für Inhalt und Zweck der erteilten Ermächtigung. Zum anderen hängen die Anforderungen an Inhalt, Zweck und Ausmaß der gesetzlichen Determinierung von der Eigenart des zu regelnden Sachverhalts ab, insbesondere davon, in welchem Umfang der zu regelnde Sachbereich einer genaueren begrifflichen Umschreibung überhaupt zugänglich ist. Dies kann es auch rechtfertigen, die nähere Ausgestaltung des zu regelnden Sachbereichs dem Verordnungsgeber zu überlassen, der die Regelungen rascher und einfacher auf dem neuesten Stand zu halten vermag als der Gesetzgeber (vgl. BVerfG, Beschl. v. 21.9.2016 - 2 BvL 1/15 -, juris Rn. 54 ff. m.w.N.).
16
Nach der im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen und auch nur gebotenen summarischen Prüfung ist für den Senat nicht offensichtlich, dass einerseits § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG und andererseits § 32 Satz 1 und 2 IfSG diesen Anforderungen nicht genügen könnten.
17
Mit § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG hat der Bundesgesetzgeber bewusst eine offene Generalklausel geschaffen (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.3.2012 - BVerwG 3 C 16.11 -, BVerwGE 142, 205, 213 - juris Rn. 26 unter Hinweis auf den Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Seuchengesetzes, BT-Drs. 8/2468, S. 27 f.), ohne aber den zuständigen Infektionsschutzbehörden eine unzulässige Globalermächtigung zu erteilen. Der Bundesgesetzgeber hat für den fraglos eingriffsintensiven Bereich infektionsschutzrechtlichen staatlichen Handelns selbst bestimmt, dass die zuständigen Behörden nur dann, wenn Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt werden oder sich ergibt, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, "die notwendigen Schutzmaßnahmen" treffen dürfen, und zwar insbesondere die in den §§ 29 bis 31 IfSG genannten, dies aber auch nur "soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist". Der Begriff der "Schutzmaßnahmen" ist dabei umfassend angelegt, um den Infektionsschutzbehörden insbesondere bei einem dynamischen, zügiges Eingreifen erfordernden Infektionsgeschehen ein möglichst breites Spektrum geeigneter Maßnahmen an die Hand zu geben (vgl. Senatsbeschl. v. 29.5.2020 - 13 MN 185/20 -, juris Rn. 27; OVG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 2.4.2020 - 3 MB 8/20 -, juris Rn. 35). Zugleich ist der Begriff der "Schutzmaßnahmen" nach Inhalt und Zweck der Rechtsgrundlage mit Hilfe allgemeiner Auslegungsregeln hinreichend zu begrenzen. Danach umfasst er auch Untersagungen oder Beschränkungen von unternehmerischen Tätigkeiten in den Bereichen Industrie, Gewerbe, Handel und Dienstleistungen (vgl. Senatsbeschl. v. 14.5.2020 - 13 MN 165/20 -, juris Rn. 38 (Untersagung der Erbringung von Dienstleistungen in Tattoo-Studios); Senatsbeschl. v. 14.5.2020 - 13 MN 156/20 -, juris Rn. 28 (Schließung von Fitness-Studios); VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 13.5.2020 - 1 S 1281/20 -, juris Rn. 17; Senatsbeschl. v. 5.5.2020 - 13 MN 124/20 -, juris Rn. 31 (jeweils zum Verbot des Präsenzbetriebs von Nachhilfeeinrichtungen); VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 7.5.2020 - 1 S 1244/20 -, juris Rn. 16 (Untersagung des Betriebs von Spielhallen); OVG Bremen, Beschl. v. 7.5.2020 - 1 B 129/20 -, juris Rn. 20; Senatsbeschl. v. 29.4.2020 - 13 MN 120/20 -, juris Rn. 33 (jeweils zur Beschränkung der Verkaufsfläche von Einzelhandelsgeschäften); Senatsbeschl. v. 24.4.2020 - 13 MN 104/20 -, juris Rn. 30 (Schließung von Zoos und Tierparks); Senatsbeschl. v. 16.4.2020 - 13 MN 67/20 -, juris Rn. 43 (Verbot des Verkaufs von Blumen und anderen Pflanzen auf Wochenmärkten); Senatsbeschl. v. 14.4.2020 - 13 MN 63/20 -, juris Rn. 53 (Schließung von Autowaschanlagen); Bayerischer VGH, Beschl. v. 30.3.2020 - 20 CS 20.611 -, juris Rn. 11 ff. (Schließung von Einzelhandelsgeschäften)). Darüber hinaus sind dem behördlichen Einschreiten durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Grenzen gesetzt (vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 9.4.2020 - 1 B 97/20 -, juris Rn. 30). Dass diese durch Auslegung bestimmten Grenzen nicht vom Willen des Bundesgesetzgebers gedeckt wären, vermag der Senat nicht zu erkennen. Vielmehr hat der Bundesgesetzgeber mit dem Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 27. März 2020 (BGBl. I S. 587) den Satz 1 des § 28 Abs. 1 IfSG um den zweiten Halbsatz "sie kann insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten" ergänzt und gleichzeitig den bis dahin geltenden Satz 2 Halbsatz 2 gestrichen. Unabhängig von der Frage, ob es sich bei dieser Änderung um eine bloße Anpassung aus Gründen der Normenklarheit handelt, besteht für den Senat kein vernünftiger Zweifel, dass damit der Gesetzgeber selbst hinreichend bestimmt zum Ausdruck gebracht hat, dass über punktuell wirkende Maßnahmen hinaus allgemeine oder gleichsam flächendeckende Verbote erlassen werden können. Dafür spricht nicht nur der Wortlaut von § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 IfSG. Auch der Umstand, dass es sich bei der Gesetzesänderung um eine Reaktion auf das aktuelle Bedürfnis zum Erlass von landesweit geltenden Schutzmaßnahmen handelt, trägt dieses Auslegungsergebnis, zumal der Gesetzgeber in Kenntnis der bereits erlassenen Länderverordnungen bei gleichzeitig bestehender Kritik an der ursprünglichen Gesetzesfassung gehandelt hat (so ausdrücklich OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 6.4.2020 - 13 B 398/20.NE -, juris Rn. 52 m.w.N.). Eine weitergehende Konkretisierung der Eingriffsgrundlagen erscheint angesichts der Besonderheiten des Infektionsschutzrechts, die bei Eintritt eines Pandemiegeschehens kurzfristige Reaktionen des Verordnungsgebers auf sich ändernde Gefährdungslagen erforderlich machen können, verfassungsrechtlich nicht geboten.
18
Genügt danach § 28 Abs. 1 IfSG den an eine gesetzliche Rechtsgrundlage für staatliche Eingriffe zu stellenden verfassungsrechtlichen Anforderungen an Inhalt, Zweck und Ausmaß, gilt dies auch für die Verordnungsermächtigung in § 32 Satz 1 und 2 IfSG. Denn diese Verordnungsermächtigung knüpft hinsichtlich der materiellen Voraussetzungen auch an § 28 Abs. 1 IfSG an und ermächtigt die Landesregierungen bzw. von ihr befugte Stellen nur dazu, "unter den Voraussetzungen, die für Maßnahmen nach den §§ 28 bis 31 maßgebend sind, auch durch Rechtsverordnungen entsprechende Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zu erlassen". Der Gesetzgeber gibt also nicht verordnungstypisch einen Regelungsbereich in bestimmten Grenzen aus der Hand, um diesen der Exekutive zur eigenverantwortlichen abstrakten Ausfüllung zu übertragen. Die Verordnungsermächtigung nach § 32 Satz 1 und 2 IfSG stellt lediglich ein anderes technisches Instrument zur Verfügung, um konkret notwendige Schutzmaßnahmen im Sinne des § 28 Abs. 1 IfSG zu erlassen und insbesondere bei flächendeckenden Infektionsgeschehen nicht auf Einzel- oder Allgemeinverfügungen angewiesen zu sein, denen aber durchaus eine vergleichbare flächenhafte Wirkung zukommen kann.
19
(2) Anhaltspunkte für eine formelle Rechtswidrigkeit der Niedersächsischen Corona-Verordnung vom 30. Oktober 2020 bestehen derzeit nicht.
20
Anstelle der nach § 32 Satz 1 IfSG ermächtigten Landesregierung war aufgrund der nach § 32 Satz 2 IfSG gestatteten und durch § 3 Nr. 1 der Verordnung zur Übertragung von Ermächtigungen aufgrund bundesgesetzlicher Vorschriften (Subdelegationsverordnung) vom 9. Dezember 2011 (Nds. GVBl. S. 487), zuletzt geändert durch Verordnung vom 4. August 2020 (Nds. GVBl. S. 266), betätigten Subdelegation das Niedersächsische Ministerium für Gesundheit, Soziales und Gleichstellung zum Erlass der Verordnung zuständig.
21
Gemäß Art. 45 Abs. 1 Satz 2 NV ist die Verordnung von der das Ministerium vertretenden Ministerin ausgefertigt und im Niedersächsischen Gesetz- und Verordnungsblatt vom 30. Oktober 2020 (Nds. GVBl. S. 368) verkündet worden.
22
§ 20 Abs. 1 der Niedersächsischen Corona-Verordnung bestimmt, wie von Art. 45 Abs. 3 Satz 1 NV gefordert, den Tag des Inkrafttretens.
23
Auch dem Zitiergebot des Art. 43 Abs. 2 Satz 1 NV (vgl. zu den insoweit bestehenden Anforderungen: BVerfG, Urt. v. 6.7.1999 - 2 BvF 3/90 -, BVerfGE 101, 1 - juris Rn. 152 ff. (zu Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG); Steinbach, in: Epping/Butzer u.a., Hannoverscher Kommentar zur Niedersächsischen Verfassung, 2012, Art. 43 Rn. 20 m.w.N.) dürfte die Verordnung genügen.
24
Etwaige Verstöße des Antragsgegners gegen die Unterrichtungspflicht nach Art. 25 NV beeinflussen die Rechtmäßigkeit der Verordnung nicht (vgl. Niedersächsischer StGH, Beschl. v. 9.9.2020 - StGH 1/20 -, juris Rn. 9).
25
(3) Die in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Schließung von Gastronomiebetrieben für den Publikumsverkehr und Besuche ist auch mit Blick auf das "Ob" eines staatlichen Handelns (a) und die Notwendigkeit der infektionsschutzrechtlichen Maßnahme als solcher (b) nicht zu beanstanden.
26
(a) Die Voraussetzungen des § 32 Satz 1 in Verbindung mit § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG sind mit Blick auf das "Ob" eines staatlichen Handelns gegeben.
27
Nach § 32 Satz 1 IfSG dürfen unter den Voraussetzungen, die für Maßnahmen nach den §§ 28 bis 31 IfSG maßgebend sind, auch durch Rechtsverordnung entsprechende Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten erlassen werden. Die tatbestandlichen Voraussetzungen der Rechtsgrundlage des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG sind erfüllt.
28
Werden Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt oder ergibt sich, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, so trifft die zuständige Behörde nach § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in den §§ 29 bis 31 IfSG genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist; sie kann insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten.
29
Es wurden zahlreiche Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider (vgl. die Begriffsbestimmungen in § 2 Nrn. 3 ff. IfSG) im Sinne des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG festgestellt. Die weltweite Ausbreitung von COVID-19, die offizielle Bezeichnung der durch den neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 (Severe acute respiratory syndrome coronavirus type 2) als Krankheitserreger ausgelösten Erkrankung, wurde am 11. März 2020 von der WHO zu einer Pandemie erklärt. Weltweit sind derzeit mehr 47.300.000 Menschen mit dem Krankheitserreger infiziert und mehr als 1.210.000 Menschen im Zusammenhang mit der Erkrankung verstorben (vgl. WHO, Coronavirus disease (COVID-19) Pandemic, veröffentlicht unter: www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019, Stand: 5.11.2020). Derzeit sind im Bundesgebiet mehr als 597.000 Menschen infiziert und mehr als 10.900 Menschen im Zusammenhang mit der Erkrankung verstorben und in Niedersachsen mehr als 41.200 Menschen infiziert und mehr als 790 Menschen infolge der Erkrankung verstorben (vgl. Robert Koch-Institut (RKI), COVID-19: Fallzahlen in Deutschland und weltweit, veröffentlicht unter: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Fallzahlen.html, Stand: 5.11.2020). Es handelt sich weltweit und in Deutschland um eine sehr dynamische und ernst zu nehmende Situation. Weltweit nimmt die Anzahl der Fälle rasant zu. Nach einer vorübergehenden Stabilisierung der Fallzahlen auf einem erhöhten Niveau ist aktuell ein starker Anstieg der Übertragungen auch in der Bevölkerung in Deutschland zu beobachten. Es kommt bundesweit zu Ausbruchsgeschehen. Der Anstieg wird durch Ausbrüche, insbesondere im Zusammenhang mit privaten Treffen und Feiern sowie bei Gruppenveranstaltungen, verursacht. Bei einem zunehmenden Anteil der Fälle ist aber die Infektionsquelle unbekannt. Es werden wieder vermehrt COVID-19-bedingte Ausbrüche in Alten- und Pflegeheimen gemeldet und die Zahl der Patienten, die auf einer Intensivstation behandelt werden müssen, hat sich in den letzten zwei Wochen mehr als verdoppelt (vgl. RKI, Risikobewertung zu COVID-19, veröffentlicht unter: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html, Stand: 26.10.2020). Diese Gefährdungseinschätzung des RKI als nationaler Behörde nach § 4 Abs. 1 IfSG wird nach dem Dafürhalten des Senats durch vereinzelt geäußerte Zweifel an der Zuverlässigkeit der zum Nachweis von SARS-CoV-2 verwendeten sog. PCR-Tests nicht erschüttert (vgl. hierzu Bayerischer VGH, Beschl. v. 8.9.2020 - 20 NE 20.2001 -, juris Rn. 28).
30
COVID-19 ist eine übertragbare Krankheit im Sinne des § 2 Nr. 3 IfSG. Die Erkrankung manifestiert sich als Infektion der Atemwege, aber auch anderer Organsysteme mit den Symptomen Husten, Fieber, Schnupfen sowie Geruchs- und Geschmacksverlust. Der Krankheitsverlauf variiert in Symptomatik und Schwere. Es wird angenommen, dass etwa 81% der diagnostizierten Personen einen milden, etwa 14% einen schwereren und etwa 5% einen kritischen Krankheitsverlauf zeigen. Obwohl schwere Verläufe auch bei Personen ohne Vorerkrankung auftreten und auch bei jüngeren Patienten beobachtet wurden, haben ältere Personen (mit stetig steigendem Risiko für einen schweren Verlauf ab etwa 50 bis 60 Jahren), Männer, Raucher (bei schwacher Evidenz), stark adipöse Menschen, Personen mit bestimmten Vorerkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems (z.B. koronare Herzerkrankung und Bluthochdruck) und der Lunge (z.B. COPD) sowie Patienten mit chronischen Nieren- und Lebererkrankungen, mit Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit), mit einer Krebserkrankung oder mit geschwächtem Immunsystem (z.B. aufgrund einer Erkrankung, die mit einer Immunschwäche einhergeht oder durch Einnahme von Medikamenten, die die Immunabwehr schwächen, wie z.B. Cortison) ein erhöhtes Risiko für schwere Verläufe. Die Erkrankung ist sehr infektiös, und zwar nach Schätzungen beginnend etwa ein bis zwei Tage vor Symptombeginn und endend - bei mild-moderaten Erkrankungen - jedenfalls zehn Tage nach Symptombeginn. Die Übertragung erfolgt hauptsächlich durch die respiratorische Aufnahme virushaltiger Partikel (größere Tröpfchen und kleinere Aerosole), die beim Atmen, Husten, Sprechen und Niesen entstehen. Auch eine Übertragung durch kontaminierte Oberflächen kann nicht ausgeschlossen werden. Es ist zwar offen, wie viele Menschen sich insgesamt in Deutschland mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 infizieren werden. Schätzungen gehen aber von bis zu 70% der Bevölkerung aus, es ist lediglich unklar, über welchen Zeitraum dies geschehen wird. Grundlage dieser Schätzungen ist die so genannte Basisreproduktionszahl von COVID-19. Sie beträgt ohne die Ergreifung von Maßnahmen 3,3 bis 3,8. Dieser Wert kann so interpretiert werden, dass bei einer Basisreproduktionszahl von etwa 3 ungefähr zwei Drittel aller Übertragungen verhindert werden müssen, um die Epidemie unter Kontrolle zu bringen. Die Inkubationszeit beträgt im Mittel fünf bis sechs Tage bei einer Spannweite von einem bis zu 14 Tagen. Der Anteil der Infizierten, der auch tatsächlich erkrankt (Manifestationsindex), beträgt bis zu 85%. Laut der Daten aus dem deutschen Meldesystem werden etwa 14% der in Deutschland dem RKI übermittelten Fälle hospitalisiert. Unter hospitalisierten COVID-19-Patienten mit einer schweren akuten Atemwegserkrankung mussten 37% intensivmedizinisch behandelt und 17% beatmet werden. Die mediane Hospitalisierungsdauer von COVID-19-Patienten mit einer akuten respiratorischen Erkrankung beträgt 10 Tage und von COVID-19-Patienten mit einer Intensivbehandlung 16 Tage. Zur Aufnahme auf die Intensivstation führt im Regelfall Dyspnoe mit erhöhter Atemfrequenz (> 30/min), dabei steht eine Hypoxämie im Vordergrund. Mögliche Verlaufsformen sind die Entwicklung eines akuten Lungenversagens (Acute Respiratory Distress Syndrome - ARDS) sowie, bisher eher seltener, eine bakterielle Koinfektion mit septischem Schock. Weitere beschriebene Komplikationen sind zudem Rhythmusstörungen, eine myokardiale Schädigung sowie das Auftreten eines akuten Nierenversagens (vgl. zum Krankheitsbild im Einzelnen mit weiteren Nachweisen: Kluge/Janssens/Welte/Weber-Carstens/Marx/Karagiannidis, Empfehlungen zur intensivmedizinischen Therapie von Patienten mit COVID-19, in: Medizinische Klinik - Intensivmedizin und Notfallmedizin v. 12.3.2020, veröffentlicht unter: https://link.springer.com/content/pdf/10.1007/s00063-020-00674-3.pdf, Stand: 30.3.2020). Eine Impfung ist in Deutschland nicht verfügbar. Verschiedene spezifische Therapieansätze (direkt antiviral wirksam, immunmodulatorisch wirksam) wurden und werden im Verlauf der Pandemie in Studien untersucht. Zwei Arzneimittel erwiesen sich jeweils in einer bestimmten Gruppe von Patienten mit COVID-19 als wirksam. Als direkt antiviral wirksames Arzneimittel erhielt Remdesivir am 3. Juli 2020 eine bedingte Zulassung zur Anwendung bei schwer erkrankten Patienten durch die Europäische Kommission. Als immunmodulatorisch wirksames Arzneimittel erhielt Dexamethason eine positive Bewertung durch die Europäische Kommission für die Anwendung bei bestimmten Patientengruppen mit einer Infektion durch SARS-CoV-2. Aufgrund der Neuartigkeit des Krankheitsbildes lassen sich keine zuverlässigen Aussagen zu Langzeitauswirkungen und (irreversiblen) Folgeschäden durch die Erkrankung bzw. ihre Behandlung (z.B. in Folge einer Langzeitbeatmung) treffen. Allerdings deuten Studiendaten darauf hin, dass an COVID-19 Erkrankte auch Wochen bzw. Monate nach der akuten Erkrankung noch Symptome aufweisen können.
31
Während der Fall-Verstorbenen-Anteil bei Erkrankten bis etwa 50 Jahren unter 0,1% liegt, steigt er ab 50 zunehmend an und liegt bei Personen über 80 Jahren häufig über 10% (vgl. zu Vorstehendem im Einzelnen und mit weiteren Nachweisen: RKI, SARS-CoV-2 Steckbrief zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19), veröffentlicht unter: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html?nn=13490888, Stand: 2.10.2020; Antworten auf häufig gestellte Fragen zum Coronavirus SARS-CoV-2, veröffentlicht unter: www.rki.de/SharedDocs/FAQ/NCOV2019/gesamt.html, Stand: 6.10.2020).
32
Auch wenn nach diesen Erkenntnissen nur ein kleiner Teil der Erkrankungen schwer verläuft, kann das individuelle Risiko anhand der epidemiologischen und statistischen Daten nicht abgeleitet werden. So kann es auch ohne bekannte Vorerkrankungen und bei jungen Menschen zu schweren bis hin zu lebensbedrohlichen Krankheitsverläufen kommen. Langzeitfolgen, auch nach leichten Verläufen, sind derzeit noch nicht abschätzbar. Die Belastung des Gesundheitssystems hängt maßgeblich von der regionalen Verbreitung der Infektion, den hauptsächlich betroffenen Bevölkerungsgruppen, den vorhandenen Kapazitäten und den eingeleiteten Gegenmaßnahmen ab. Sie kann örtlich sehr schnell zunehmen und dann insbesondere das öffentliche Gesundheitswesen, aber auch die Einrichtungen für die ambulante und stationäre medizinische Versorgung stark belasten. Deshalb bleiben intensive gesamtgesellschaftliche Gegenmaßnahmen nötig, um die Folgen der COVID-19-Pandemie für Deutschland zu minimieren. Diese Maßnahmen verfolgen weiterhin das Ziel, die Infektionen in Deutschland so früh wie möglich zu erkennen und die weitere Ausbreitung des Virus einzudämmen. Hierdurch soll die Zeit für die Entwicklung von antiviralen Medikamenten und von Impfstoffen gewonnen werden. Auch sollen Belastungsspitzen im Gesundheitswesen vermieden werden (vgl. hierzu im Einzelnen und mit weiteren Nachweisen: RKI, Risikobewertung zu COVID-19, veröffentlicht unter: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html, Stand: 26.10.2020).
33
Die danach vorliegenden tatbestandlichen Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG verpflichten die zuständigen Behörden zum Handeln (gebundene Entscheidung, vgl. BVerwG, Urt. v. 22.3.2012 - BVerwG 3 C 16.11 -, BVerwGE 142, 205, 212 - juris Rn. 23).
34
Zugleich steht damit fest, dass die Maßnahmen nicht auf die Rechtsgrundlage des § 16 Abs. 1 IfSG gestützt werden können. Denn die Rechtsgrundlagen einerseits des § 16 Abs. 1 IfSG im Vierten Abschnitt des Infektionsschutzgesetzes "Verhütung übertragbarer Krankheiten" und andererseits des § 28 Abs. 1 IfSG im Fünften Abschnitt des Infektionsschutzgesetzes "Bekämpfung übertragbarer Krankheiten" stehen in einem Exklusivitätsverhältnis zueinander; der Anwendungsbereich des § 16 Abs. 1 IfSG ist nur eröffnet, solange eine übertragbare Krankheit noch nicht aufgetreten ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.12.1971 - BVerwG I C 60.67 -, BVerwGE 39, 190, 192 f. - juris Rn. 28 (zu §§ 10 Abs. 1, 34 Abs. 1 BSeuchG a.F.); Senatsurt. v. 3.2.2011 - 13 LC 198/08 -, juris Rn. 40).
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(b) Nach summarischer Prüfung ist die in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Schließung von Gastronomiebetrieben für den Publikumsverkehr und Besuche auch eine notwendige Schutzmaßnahme im Sinne des § 28 Abs. 1 IfSG.
36
(aa) Dies gilt zunächst für den durch die Regelung betroffenen Adressatenkreis. Wird ein Kranker, Krankheitsverdächtiger, Ansteckungsverdächtiger oder Ausscheider festgestellt, begrenzt § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG den Handlungsrahmen der Behörde nicht dahin, dass allein Schutzmaßnahmen gegenüber der festgestellten Person in Betracht kommen. Die Vorschrift ermöglicht Regelungen gegenüber einzelnen wie mehreren Personen. Vorrangige Adressaten sind zwar die in § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG benannten Personengruppen. Bei ihnen steht fest oder besteht der Verdacht, dass sie Träger von Krankheitserregern sind, die bei Menschen eine Infektion oder eine übertragbare Krankheit im Sinne von § 2 Nr. 1 bis Nr. 3 IfSG verursachen können. Wegen der von ihnen ausgehenden Gefahr, eine übertragbare Krankheit weiterzuverbreiten, sind sie schon nach den allgemeinen Grundsätzen des Gefahrenabwehr- und Polizeirechts als "Störer" anzusehen. Nach § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG können aber auch (sonstige) Dritte ("Nichtstörer") Adressat von Maßnahmen sein, beispielsweise um sie vor Ansteckung zu schützen (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.3.2012 - BVerwG 3 C 16.11 -, BVerwGE 142, 205, 212 f. - juris Rn. 25 f.; OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 3.4.2020 - OVG 11 S 14/20 -, juris Rn. 8 f.).
37
Aus infektionsschutzrechtlicher Sicht maßgeblich ist insoweit allein der Bezug der durch die konkrete Maßnahme in Anspruch genommenen Person zur Infektionsgefahr. Dabei gilt für die Gefahrenwahrscheinlichkeit kein strikter, alle möglichen Fälle gleichermaßen erfassender Maßstab. Vielmehr ist der im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht geltende Grundsatz heranzuziehen, dass an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Dafür sprechen das Ziel des Infektionsschutzgesetzes, eine effektive Gefahrenabwehr zu ermöglichen (§§ 1 Abs. 1, 28 Abs. 1 IfSG), sowie der Umstand, dass die betroffenen Krankheiten nach ihrem Ansteckungsrisiko und ihren Auswirkungen auf die Gesundheit des Menschen unterschiedlich gefährlich sind. Im Falle eines hochansteckenden Krankheitserregers, der bei einer Infektion mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer tödlich verlaufenden Erkrankung führen würde, drängt sich angesichts der schwerwiegenden Folgen auf, dass die vergleichsweise geringe Wahrscheinlichkeit eines infektionsrelevanten Kontakts genügt (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.3.2012 - BVerwG 3 C 16.11 -, BVerwGE 142, 205, 216 - juris Rn. 32). Nach der Risikobewertung des gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Nr. 1 IfSG hierzu berufenen Robert Koch-Instituts im täglichen "Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19)" vom 5. November 2020 (veröffentlicht unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Gesamt.html?nn=13490888) besteht weltweit und in Deutschland eine sehr dynamische und ernst zu nehmende Situation. Weltweit und in angrenzenden Ländern Europas nimmt die Anzahl der Fälle rasant zu. Aufgrund dieser Bewertung besteht für die hier zu beurteilenden Betreiberinnen und Betreiber von Gastronomiebetrieben, in denen sich eine Vielzahl von Mitarbeitern und Gästen unmittelbar persönlich begegnet oder zumindest begegnen kann und die auch deshalb eine das allgemeine Infektionsrisiko erhöhende Gefahrenlage herbeiführen, ein hinreichend konkreter Bezug zu einer Infektionsgefahr.
38
(bb) Auch Art und Umfang der vom Antragsgegner konkret gewählten Schutzmaßnahme sind nicht ersichtlich ermessensfehlerhaft.
39
"Schutzmaßnahmen" im Sinne des § 28 Abs. 1 IfSG können, wie dargestellt, auch Untersagungen oder Beschränkungen von unternehmerischen Tätigkeiten in den Bereichen Industrie, Gewerbe, Handel und Dienstleistungen sein (vgl. mit zahlreichen Beispielen und weiteren Nachweisen: Senatsbeschl. v. 29.5.2020 - 13 MN 185/20 -, juris Rn. 27), wie sie in § 10 Abs. 1 und 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung getroffen worden sind.
40
Dem steht nicht entgegen, dass § 31 IfSG eine Regelung für die Untersagung beruflicher Tätigkeiten gegenüber Kranken, Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen, Ausscheidern und sonstigen Personen trifft. Denn diese Regelung ist gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG ("insbesondere die in den §§ 29 bis 31 genannten") nicht abschließend. Auch die mangelnde Erwähnung der Grundrechte nach Art. 12 Abs. 1 und 14 Abs. 1 GG in § 28 Abs. 1 Satz 4 IfSG steht der dargestellten Auslegung nicht entgegen. Denn das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG, welches § 28 Abs. 1 Satz 4 IfSG zu erfüllen sucht, besteht nur, soweit im Sinne des Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG "ein Grundrecht durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann". Von derartigen Grundrechtseinschränkungen sind andersartige grundrechtsrelevante Regelungen zu unterscheiden, die der Gesetzgeber in Ausführung der ihm obliegenden, im Grundrecht vorgesehenen Regelungsaufträge, Inhaltsbestimmungen oder Schrankenziehungen vornimmt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 26.5.1970 - 1 BvR 657/68 -, BVerfGE 28, 282, 289 - juris Rn. 26 ff. (zu Art. 5 Abs. 2 GG); Beschl. v. 12.1.1967 - 1 BvR 168/64 -, BVerfGE 21, 92, 93 - juris Rn. 4 (zu Art. 14 GG); Urt. v. 29.7.1959 - 1 BvR 394/58 -, BVerfGE 10, 89, 99 - juris Rn. 41 (zu Art. 2 Abs. 1 GG)). Hierzu zählen auch die Grundrechte der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG, der Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG und des Eigentumsschutzes nach Art. 14 Abs. 1 GG.
41
Der weite Kreis möglicher Schutzmaßnahmen wird durch § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG aber dahin begrenzt, dass die Schutzmaßnahme im konkreten Einzelfall "notwendig" sein muss. Der Staat darf mithin nicht alle Maßnahmen und auch nicht solche Maßnahmen anordnen, die von Einzelnen in Wahrnehmung ihrer Verantwortung gegenüber sich selbst und Dritten bloß als nützlich angesehen werden. Vielmehr dürfen staatliche Behörden nur solche Maßnahmen verbindlich anordnen, die zur Erreichung infektionsschutzrechtlich legitimer Ziele objektiv notwendig sind (vgl. Senatsbeschl. v. 26.5.2020 - 13 MN 182/20 -, juris Rn. 38). Diese Notwendigkeit ist während der Dauer einer angeordneten Maßnahme von der zuständigen Behörde fortlaufend zu überprüfen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.4.2020 - 1 BvQ 31/20 -, juris Rn. 16).
42
Derzeit stellt sich die in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Schließung von Gastronomiebetrieben für den Publikumsverkehr und Besuche in diesem Sinne als "notwendig" dar.
43
(α) Der Verordnungsgeber verfolgt mit der Verordnungsregelung das legitime Ziel, die Bevölkerung vor der Infektion mit dem SARS-CoV-2-Virus zu schützen, die Verbreitung der Krankheit COVID-19 zu verhindern und eine Überlastung des Gesundheitssystems infolge eines ungebremsten Anstiegs von Ansteckungen und Krankheitsfällen zu vermeiden. Zur Vorbeugung einer akuten nationalen Gesundheitsnotlage sollen die Kontakte in der Bevölkerung drastisch reduziert werden, um das Infektionsgeschehen insgesamt zu verlangsamen und die Zahl der Neuinfektionen wieder in durch den öffentlichen Gesundheitsdienst nachverfolgbare Größenordnungen zu senken.
44
(β) Zur Erreichung dieses legitimen Ziels ist die Verordnungsregelung auch geeignet, weil sie die Kontaktmöglichkeiten in den Gastronomiebetrieben beschränkt und verhindert, dass sich wechselnde Gäste oder Gästegruppen zu dieser Zeit in den Einrichtungen einfinden. Zudem werden die Kontaktmöglichkeiten auf dem Weg von und zu gastronomischen Einrichtungen und die erhöhte Attraktivität des öffentlichen Raums bei geschlossenen gastronomischen Einrichtungen reduziert (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 26.10.2020 - 13 B 1581/20.NE -, juris Rn. 54 ff.; Bayerischer VGH, Beschl. v. 19.6.2020 - 20 NE 20.1127 -, juris Rn. 40).
45
(γ) Der Verordnungsgeber darf die getroffene Regelung unter Berücksichtigung des ihm zukommenden Einschätzungsspielraums auch für erforderlich halten.
46
(αα) Mildere Mittel im Hinblick auf das tätigkeitsbezogene Infektionsgeschehen drängen sich dem Senat nicht auf.
47
Für den Senat steht nach seiner bisherigen Rechtsprechung außer Zweifel, dass Zusammenkünfte in geschlossenen Räumen, mit einer Vielzahl regelmäßig einander unbekannter Personen und längerer Verweildauer ein signifikant erhöhtes Infektionsrisiko mit sich bringen (vgl. nur Senatsbeschl. v. 24.8.2020 - 13 MN 297/20 -, juris Rn. 30 ff. (Kinos); v. 14.8.2020 - 13 MN 283/20 -, juris Rn. 52 ff. (Feiern mit mehr als 50 Personen); v. 29.6.2020 - 13 MN 244/20 -, juris Rn. 35 (Clubs, Diskotheken und ähnliche Einrichtungen) und v. 14.5.2020 - 13 MN 156/20 -, juris Rn. 31 (Fitnessstudios)). Dies gilt naturgemäß - und wie zahlreichen Medienberichten über konkrete Ausbruchsgeschehen zu entnehmen war - auch für den Aufenthalt zahlreicher Personen in einem Gastronomiebetrieb zum Zwecke des Konsums von Speisen und Getränken (vgl. Senatsbeschl. v. 29.10.2020 - 13 MN 393/20 -, juris Rn. 61).
48
Belastbare widerstreitende Erkenntnisse sind dem Bericht des RKI zum "Infektionsumfeld von COVID-19-Ausbrüchen in Deutschland" nicht zu entnehmen. Das RKI konnte in einer "Quellensuche" (Datenstand: 11. August 2020) von insgesamt 202.225 übermittelten Fällen nur 55.141 Fälle bestimmten Ausbruchsgeschehen zuordnen und feststellen, in welchen von 30 unterschiedlichen, verschiedenste Lebensbereiche erfassenden Infektionsumfeldern sich diese ereignet haben (vgl. RKI, Infektionsumfeld von COVID-19-Ausbrüchen in Deutschland, in: Epidemiologisches Bulletin v. 17.9.2020, S. 3 ff., veröffentlicht unter: https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2020/Ausgaben/38_20.pdf?__blob=publicationFile). Von diesen 55.141 Fällen sind bis zur 29. Meldewoche zwar lediglich 293 Fälle dem Infektionsumfeld der "Speisestätten" (beinhaltet "Speisestätten, unspezifisch", "Restaurant, Gaststätte", "Kantine" und "Imbiss") zuzuordnen, d.h. 0,53%. Diese Zahlen finden als solche eine gewisse Bestätigung im Täglichen Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) vom 27. Oktober 2020 (dort S. 12 f.; veröffentlicht unter: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Okt_2020/2020-10-27-de.pdf?__blob=publicationFile), wonach dem Infektionsumfeld der "Speisestätten" auch bis zur 43. Kalenderwoche keine signifikante Anzahl von COVID-19-Fällen zuzuordnen ist. Hieraus kann aber nicht verlässlich geschlossen werden, dass in Gastronomiebetrieben kein signifikantes Infektionsrisiko besteht. Hiergegen spricht schon die sehr hohe Zahl von Fällen, in denen ein Infektionsumfeld gerade nicht festgestellt werden konnte. Dies lässt zwar nicht den Schluss zu, dass - etwa wegen einer mangelhaften Erfüllung der Pflicht zur Kundenkontaktdatenerhebung (vgl. § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 der vorausgegangenen Niedersächsischen Corona-Verordnung v. 7.10.2020) - diese sehr hohe Zahl von Fällen dem gastronomischen Bereich überwiegend oder gar ganz zuzurechnen wäre. Es mindert aber den Erkenntniswert der zahlenmäßig festgestellten Infektionsumfelder ganz erheblich. Dahinstehen lassen kann der Senat, ob der Verordnungsgeber alles ihm Mögliche und Zumutbare unternommen hat, um bessere Erkenntnisse über die Verbreitungswege und Infektionsumfelder zu erlangen. Denn selbst verneinendenfalls führte dies nach dem Dafürhalten des Senats nicht dazu, dass infektionsschutzrechtliche Schutzmaßnahmen auf der seit Pandemiebeginn nahezu unverändert dürftigen Erkenntnislage gar nicht mehr getroffen werden dürften und die Infektionsschutzbehörden gehalten wären, dem Geschehen seinen Lauf zu lassen.
49
In Bezug auf das tätigkeitsbezogene Infektionsgeschehen mildere Mittel ergeben sich auch nicht aus bloßen Beschränkungen des Gastronomiebetriebs, etwa auf der Grundlage von Hygienekonzepten und deren notfalls zwangsweiser behördlicher Durchsetzung. Der Senat verkennt nicht, dass die Betreiberinnen und Betreiber der Gastronomiebetriebe in den vergangenen Monaten erhebliche Arbeitskraft und finanzielle Mittel in die Umsetzung dieser Konzepte investiert haben. Ein regelmäßiges Vollzugsdefizit, dem - in gewissen Grenzen - durch verstärkte behördliche Kontrollen entgegengewirkt werden könnte (vgl. hierzu Senatsbeschl. v. 28.8.2020 - 13 MN 307/20 -, juris Rn. 32), ist nicht zu erkennen. Eine gewisse Wirksamkeit der Konzepte ist nicht zu leugnen, auch wenn diese mangels belastbarer tatsächlicher Erkenntnisse zum konkreten Infektionsumfeld nicht konkretisiert werden kann. Es ist angesichts der derzeitigen Infektionsdynamik aber nicht festzustellen, dass diese Konzepte infektionsschutzrechtlich eine vergleichbare Effektivität aufweisen, wie die Betriebsschließungen.
50
(ββ) Mildere Mittel sind auch im Hinblick auf das gebietsbezogene Infektionsgeschehen nicht ersichtlich.
51
Der Verordnungsgeber hat die Erforderlichkeit der Betriebsschließung - anders als bei den zuvor angeordneten Beherbergungsverboten (vgl. Senatsbeschl. v. 15.10.2020 - 13 MN 371/20 -, juris Rn. 59) und Sperrzeiten im Gastronomiebereich (vgl. Senatsbeschl. v. 29.10.2020 - 13 MN 393/20 -, juris Rn. 57) - ersichtlich nicht nur anhand der 7-Tage-Inzidenz, also der Zahl der Neuinfizierten im Verhältnis zur Bevölkerung je 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner kumulativ in den letzten sieben Tagen, beurteilt, sondern, wie in dem von der Niedersächsischen Landesregierung erstellten "Handlungskonzept zur Bekämpfung des Infektionsgeschehens in der COVID 19 Pandemie" (veröffentlicht unter: www.stk.niedersachsen.de/startseite/presseinformationen/vorsorgliches-handlungskonzept-zur-bekampfung-eines-gegebenenfalls-weiter-ansteigenden-infektionsgeschehens-in-der-covid-19-pandemie-193263.html, Stand: 5.10.2020) vorgesehen, auch alle anderen für das Infektionsgeschehen relevanten Umstände in seine Bewertung einbezogen (vgl. zu dieser Verpflichtung zuletzt: Senatsbeschl. v. 29.10.2020 - 13 MN 393/20 -, juris Rn. 57).
52
Diese Bewertung rechtfertigt es, landesweit einheitliche infektionsschützende Maßnahmen zu ergreifen. Landesweit beträgt die 7-Tage-Inzidenz mehr als 100. Der weit überwiegende Teil der Landkreise und kreisfreien Städte weist eine 7-Tage-Inzidenz von mehr als 50 auf, welche die Grenze markiert, bis zu der die öffentliche Gesundheitsverwaltung in Deutschland zu einer Rückverfolgung der Infektionsketten maximal in der Lage ist und so das wichtige und legitime Ziel der Verhinderung der weiteren Ausbreitung durch Fallfindung mit Absonderung von Erkrankten und engen Kontaktpersonen mit einem erhöhten Erkrankungsrisiko noch erreicht werden kann (vgl. Senatsbeschl. v 5.6.2020 - 13 MN 195/20 -, juris Rn. 33). Wird diese Grenze in einem bestimmten Gebiet überschritten, bestehen auch nach dem Dafürhalten des Senats durchaus tatsächliche Anhaltspunkte für ein dynamisches Infektionsgeschehen und eine erhöhte Infektionswahrscheinlichkeit. Hinzu kommt ein landesweit diffuses Infektionsgeschehen. Auch wenn es deutliche regionale Unterschiede in der Verteilung gibt, steigen die Zahlen von Neuinfektionen flächendeckend an und sind die Ausbruchsgeschehen weit überwiegend keinen bestimmten Ereignissen oder Örtlichkeiten mehr zuzuordnen. Die örtlichen Gesundheitsämter sind trotz personeller Verstärkung häufig nicht mehr in der Lage, Infektionsketten nachzuverfolgen. Die Verdoppelungsrate hat sich von weit über 30 Tagen im Sommer auf nun 7 Tage reduziert. Die Zahl infizierter und erkrankter Menschen, die älter als 60 Jahre sind und die ein höheres Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf haben, ist drastisch angestiegen. Auch die Sterbefallzahlen und die Auslastung medizinischer und insbesondere intensivmedizinischer Kapazitäten steigen stetig an, wobei der Antragsgegner seine Maßnahmen nicht erst dann treffen darf, wenn diese (nahezu) erschöpft sind (vgl. hierzu im Einzelnen die Angaben des Niedersächsischen Landesgesundheitsamtes unter https://www.niedersachsen.de/Coronavirus/aktuelle_lage_in_niedersachsen/ und des RKI im täglichen Lagebericht unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Gesamt.html?nn=13490888). Im Hinblick auf die aktuelle Entwicklung durfte der Antragsgegner den vollzogenen Strategiewechsel weg von bisherigen bloßen Betriebsbeschränkungen hin zu weitreichenden flächendeckenden Betriebsschließungen und ergänzenden Betriebsbeschränkungen als derzeit einzig verlässliches effektives Mittel und damit für erforderlich erachten.
53
In Bezug auf das gebietsbezogene Infektionsgeschehen mildere Mittel ergeben sich nicht daraus, dass neben den hier streitgegenständlichen Betriebsschließungen weitere, bisher nicht betroffene Bereiche von Industrie, Gewerbe, Handel und Dienstleistungen geschlossen oder weiter beschränkt werden könnten. Ungeachtet der Effektivität eines solchen Vorgehens handelt es sich gegenüber den von diesen Maßnahmen betroffenen Rechtsträgern jedenfalls nicht um mildere Mittel.
54
Auch eine Beschränkung der Schutzmaßnahmen auf besonders schutzbedürftige (Risiko-)Gruppen von Personen ist angesichts der Größe und nur begrenzt möglichen Konkretisierung dieser Gruppen und der jedenfalls nicht verlässlichen Effektivität einer solchen Beschränkung kein milderes Mittel.
55
(δ) Die getroffene Regelung ist voraussichtlich auch angemessen.
56
Dabei verkennt der Senat nicht, dass die Betriebsschließungen tiefgreifend und wiederholt in die Berufsausübungsfreiheit der Betreiberinnen und Betreiber von Gastronomiebetrieben eingreifen und ihnen die Berufsausübung für einen erheblichen Zeitraum nahezu unmöglich machen, und dies nach einer Phase, in der sie erhebliche Arbeitskraft und finanzielle Mittel in die Umsetzung von infektionsschutzrechtlichen Hygienekonzepten investiert haben. Das Gewicht dieses "Sonderopfers" wird aber dadurch gemildert, dass ihnen staatlicherseits Kompensationen für die zu erwartenden Umsatzausfälle in durchaus erheblichem Umfang in Aussicht gestellt worden sind (vgl. Beschluss der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder v. 28.10.2020: "Für die von den temporären Schließungen erfassten Unternehmen, Betriebe, Selbständige, Vereine und Einrichtungen wird der Bund eine außerordentliche Wirtschaftshilfe gewähren, um sie für finanzielle Ausfälle zu entschädigen. Der Erstattungsbetrag beträgt 75% des entsprechenden Umsatzes des Vorjahresmonats für Unternehmen bis 50 Mitarbeiter, womit die Fixkosten des Unternehmens pauschaliert werden. Die Prozentsätze für größere Unternehmen werden nach Maßgabe der Obergrenzen der einschlägigen beihilferechtlichen Vorgaben ermittelt. Die Finanzhilfe wird ein Finanzvolumen von bis zu 10 Milliarden haben."; veröffentlicht unter: https://www.bundesregierung.de/resource/blob/997532/1805024/5353edede6c0125ebe5b5166504dfd79/2020-10-28-mpk-beschluss-corona-data.pdf?download=1, Stand: 4.11.2020). Mit Blick auf die gravierenden, teils irreversiblen Folgen eines weiteren Anstiegs der Zahl von Ansteckungen und Erkrankungen für die hochwertigen Rechtsgüter Leib und Leben einer Vielzahl Betroffener sowie einer Überlastung des Gesundheitswesens ist dieser Eingriff indes von ihnen hinzunehmen.
57
(c) Derzeit ist aber nicht verlässlich zu klären, ob die in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Schließung von Gastronomiebetrieben für den Publikumsverkehr und Besuche mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG zu vereinbaren ist.
58
Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebietet dem Normgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln (vgl. BVerfG, Beschl. v. 7.2.2012 - 1 BvL 14/07 -, BVerfGE 130, 240, 252 - juris Rn. 40; Beschl. v. 15.7.1998 - 1 BvR 1554/89 u.a. -, BVerfGE 98, 365, 385 - juris Rn. 63). Es sind nicht jegliche Differenzierungen verwehrt, allerdings bedürfen sie der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Differenzierungsziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind. Je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen reichen die Grenzen für die Normsetzung vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse. Insoweit gilt ein stufenloser, am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab, dessen Inhalt und Grenzen sich nicht abstrakt, sondern nur nach den jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereichen bestimmen lassen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 18.7.2012 - 1 BvL 16/11 -, BVerfGE 132, 179, 188 - juris Rn. 30; Beschl. v. 21.6.2011 - 1 BvR 2035/07, BVerfGE 129, 49, 69 - juris Rn. 65; Beschl. v. 21.7.2010 - 1 BvR 611/07 u.a. -, BVerfGE 126, 400, 416 - juris Rn. 79).
59
Hiernach sind die sich aus dem Gleichheitssatz ergebenden Grenzen für die Infektionsschutzbehörde weniger streng (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 17.4.2020 - OVG 11 S 22/20 -, juris Rn. 25). Auch kann die strikte Beachtung des Gebots innerer Folgerichtigkeit nicht eingefordert werden (vgl. OVG A-Stadt, Beschl. v. 26.3.2020 - 5 Bs 48/20 -, juris Rn. 13). Zudem ist die sachliche Rechtfertigung nicht allein anhand des infektionsschutzrechtlichen Gefahrengrades der betroffenen Tätigkeit zu beurteilen. Vielmehr sind auch alle sonstigen relevanten Belange zu berücksichtigen, etwa die Auswirkungen der Ge- und Verbote für die betroffenen Unternehmen und Dritte und auch öffentliche Interessen an der uneingeschränkten Aufrechterhaltung bestimmter unternehmerischer Tätigkeiten (vgl. Senatsbeschl. v. 14.4.2020 - 13 MN 63/20 -, juris Rn. 62). Auch die Überprüfbarkeit der Einhaltung von Ge- und Verboten kann berücksichtigt werden (vgl. Senatsbeschl. v. 9.6.2020 - 13 MN 211/20 -, juris Rn. 41).
60
Dies zugrunde gelegt vermag der Senat im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes nur einen Verstoß der Verordnungsregelung gegen das Willkürverbot zu verneinen. Die in § 10 Abs. 1 und 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordneten Betriebsverbote und -beschränkungen beruhen auf der jedenfalls nicht schlichtweg sachfremden Erwägung, dass ein ganz erheblicher Teil der für das Infektionsgeschehen relevanten sozialen Kontakte von vorneherein verhindert werden muss, und dass diese Verhinderung neben den ganz erheblichen Beschränkungen von Kontakten im privaten Bereich am gemeinwohlverträglichsten durch Verbote und Beschränkungen in den Bereichen Freizeit, Sport, Unterhaltung und körpernaher Dienstleistungen erreicht werden kann. Ausgenommen sind grundrechtlich besonders geschützte Bereiche wie die Religionsausübung und öffentliche Versammlungen.
61
Diese schlichte Beachtung des Willkürverbots ist angesichts des Umfangs der angeordneten Betriebsverbote und -beschränkungen und der damit verbundenen erheblichen Eingriffe in Grundrechte der Betriebsinhaber aber nicht ausreichend, um eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes verneinen zu können. Die vielmehr erforderliche Beurteilung, ob der Verordnungsgeber mit der getroffenen Auswahl von zu schließenden oder zu beschränkenden Betrieben unter Berücksichtigung des infektionsschutzrechtlichen Gefahrengrades der betroffenen Tätigkeiten und aller sonstigen relevanten Belange eine auf hinreichenden Sachgründen beruhende und angemessene Differenzierung tatsächlich erreicht hat, ist schon angesichts der Vielzahl und Vielgestaltigkeit von Fallkonstellationen aber in einem Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes nicht zu leisten. Sie muss vielmehr an dieser Stelle offenbleiben.
62
Klarstellend weist der Senat darauf hin, dass eine rechtfertigungsbedürftige Ungleichbehandlung sich nicht daraus ergeben kann, dass andere Länder von den niedersächsischen Anordnungen abweichende Schutzmaßnahmen getroffen haben. Voraussetzung für eine Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG ist, dass die Vergleichsfälle der gleichen Stelle zuzurechnen sind. Daran fehlt es, wenn die beiden Sachverhalte von zwei verschiedenen Trägern öffentlicher Gewalt gestaltet werden; der Gleichheitssatz bindet jeden Träger öffentlicher Gewalt allein in dessen Zuständigkeitsbereich (vgl. BVerfG, Beschl. v. 12.5.1987 - 2 BvR 1226/83 -, BVerfGE 76, 1, 73 - juris Rn. 151 m.w.N.). Ein Land verletzt daher den Gleichheitssatz nicht deshalb, weil ein anderes Land den gleichen Sachverhalt anders behandelt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 8.5.2008 - 1 BvR 645/08 -, juris Rn. 22 m.w.N.).
63
b. Die wegen der danach offenen Erfolgsaussichten gebotene Folgenabwägung führt dazu, dass die von dem Antragsteller geltend gemachten Gründe für die vorläufige Außervollzugsetzung die für den weiteren Vollzug der Verordnung sprechenden Gründe nicht überwiegen.
64
Würde der Senat die in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Schließung von Gastronomiebetrieben für den Publikumsverkehr und Besuche vollständig (vgl. zur Unzulässigkeit von Normergänzungen im Normenkontrollverfahren: Senatsbeschl. v. 14.5.2020 - 13 MN 156/20 -, juris Rn. 5 m.w.N.) außer Vollzug setzen, bliebe der Normenkontrollantrag in der Hauptsache aber ohne Erfolg, könnte der Antragsteller zwar vorübergehend die mit der Schutzmaßnahme verbundene Schließung vermeiden. Ein durchaus wesentlicher Baustein der komplexen Pandemiebekämpfungsstrategie des Antragsgegners würde aber in seiner Wirkung deutlich reduziert (vgl. zur Berücksichtigung dieses Aspekts in der Folgenabwägung: BVerfG, Beschl. v. 1.5.2020 - 1 BvQ 42/20 -, juris Rn. 10), und dies in einem Zeitpunkt eines äußerst dynamischen Infektionsgeschehens. Die Möglichkeit, eine geeignete und erforderliche Schutzmaßnahme zu ergreifen und so die Verbreitung der Infektionskrankheit zum Schutze der Gesundheit der Bevölkerung, einem auch mit Blick auf Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG überragend wichtigen Gemeinwohlbelang (vgl. BVerfG, Urt. v. 30.7.2008 - 1 BvR 3262/07 u.a. -, BVerfGE 121, 317, 350 - juris Rn. 119 m.w.N.), effektiver zu verhindern, bliebe hingegen zumindest zeitweise bis zu einer Reaktion des Verordnungsgebers (irreversibel) ungenutzt.
65
Würde hingegen die in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Schließung von Gastronomiebetrieben für den Publikumsverkehr und Besuche nicht vorläufig außer Vollzug gesetzt, hätte der Normenkontrollantrag aber in der Hauptsache Erfolg, wäre der Antragsteller vorübergehend zu Unrecht zur Befolgung der - für den Fall der Nichtbefolgung bußgeldbewehrten - Schutzmaßnahme verpflichtet und müsste seinen Gastronomiebetrieb grundsätzlich für den Publikumsverkehr und Besuche schließen. Der damit jedenfalls verbundene Eingriff in sein Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG würde für die Dauer der Verpflichtung, längstens für die Dauer eines Hauptsacheverfahrens, verfestigt. Dieser Eingriff ist nach Einschätzung des Senats fraglos von erheblichem Gewicht. Dieses Gewicht wird aber dadurch abgemildert, dass die Verordnung selbst Ausnahmen von der Betriebsschließung für den "Außer-Haus-Verkauf und die Abholung von Speisen zum Verzehr außerhalb der jeweiligen Einrichtung", für "Gastronomiebetriebe in Heimen nach § 2 Abs. 2 des Niedersächsischen Gesetzes über unterstützende Wohnformen (NuWG) zur Versorgung der Bewohnerinnen und Bewohner" und für "Gastronomiebetriebe in Beherbergungsstätten und Hotels zur Versorgung der zulässig beherbergten Gäste" ausdrücklich vorsieht. Hinzu kommt, dass staatlicherseits Kompensationen für die zu erwartenden Umsatzausfälle in durchaus erheblichem Umfang in Aussicht gestellt worden sind. Der hiernach verbleibende Eingriff hat hinter dem mit der Maßnahme verfolgten legitimen Ziel eines effektiven Infektionsschutzes zurückzustehen und ist von dem Antragsteller vorübergehend hinzunehmen. Denn ohne diesen würde sich die Gefahr der Ansteckung mit dem Virus, der erneuten Erkrankung vieler Personen, der Überlastung der gesundheitlichen Einrichtungen bei der Behandlung schwerwiegender Fälle und schlimmstenfalls des Todes von Menschen auch nach den derzeit nur vorliegenden Erkenntnissen erheblich erhöhen (vgl. zu dieser Gewichtung: BVerfG, Beschl. v 7.4.2020 - 1 BvR 755/20 -, juris Rn. 10; Beschl. v. 28.4.2020 - 1 BvR 899/20 -, juris Rn. 12 f.).
66
In diese Folgenabwägung wird insbesondere auch eingestellt, dass die Verordnung gemäß ihres § 20 Abs. 1 mit Ablauf des 30. November 2020 außer Kraft tritt. Damit ist sichergestellt, dass die Verordnung unter Berücksichtigung neuer Entwicklungen der Corona-Pandemie fortgeschrieben werden muss. Hierbei hat der Antragsgegner - wie auch bei jeder weiteren Fortschreibung der Verordnung - hinsichtlich der im vorliegenden Verfahren relevanten Schließung zu untersuchen, ob es angesichts neuer Erkenntnisse etwa zu den Verbreitungswegen des Virus oder zur Gefahr einer Überlastung des Gesundheitssystems verantwortet werden kann, die Schließung unter - gegebenenfalls strengen - Auflagen weiter zu lockern (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.4.2020 - 1 BvQ 28/20 -, juris Rn. 16).
67
II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
68
III. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG. Es entspricht der ständigen Praxis des Senats, in Normenkontrollverfahren in der Hauptsache nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO grundsätzlich den doppelten Auffangwert im Sinne des § 52 Abs. 2 GKG, mithin 10.000 EUR, als Streitwert anzusetzen (vgl. Senatsbeschl. v. 31.1.2019 - 13 KN 510/18 -, Nds. Rpfl. 2019, 130 f. - juris Rn. 29). Dieser Streitwert ist für das Verfahren auf sofortige Außervollzugsetzung der Verordnung nach § 47 Abs. 6 VwGO zu halbieren.
69
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5 in Verbindung mit 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert des Verfahrens wird auf 5.000 EUR festgesetzt.
Gründe
1
I. Der sinngemäß gestellte Antrag,
2
§ 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 der Niedersächsischen Verordnung über Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus SARS-CoV-2 (Niedersächsische Corona-Verordnung) vom 30. Oktober 2020 (Nds. GVBl. S. 368) vorläufig außer Vollzug zu setzen, soweit damit Fitnessstudios für den Publikumsverkehr und Besuche geschlossen sind,
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bleibt ohne Erfolg. Der Antrag ist zulässig (1.), aber unbegründet (2.).
4
Diese Entscheidung, die nicht den prozessrechtlichen Vorgaben des § 47 Abs. 5 VwGO unterliegt (vgl. Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl. 2017, Rn. 607; Hoppe, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 47 Rn. 110 ff.), trifft der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 12.6.2009 - 1 MN 172/08 -, juris Rn. 4 m.w.N.) und gemäß § 76 Abs. 2 Satz 1 NJG ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richterinnen und Richter.
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1. Der Antrag ist zulässig.
6
Der Normenkontrolleilantrag ist nach § 47 Abs. 6 in Verbindung mit Abs. 1 Nr. 2 VwGO und § 75 NJG statthaft. Die Niedersächsische Corona-Verordnung ist eine im Range unter dem Landesgesetz stehende Rechtsvorschrift im Sinne des § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO in Verbindung mit § 75 NJG (vgl. zu den insoweit bestehenden Anforderungen: Senatsbeschl. v. 31.1.2019 - 13 KN 510/18 -, NdsRpfl. 2019, 130 f. - juris Rn. 16 ff.).
7
Die Antragstellerin ist antragsbefugt im Sinne des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO, da sie geltend machen kann, in eigenen Rechten verletzt zu sein. Die in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Schließung von Fitnessstudios für den Publikumsverkehr und Besuche ist an die Betreiberinnen und Betreiber von Fitnessstudios adressiert und lässt es möglich erscheinen, dass die Antragstellerin in ihrem Grundrecht der Berufsausübungsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG verletzt ist (vgl. zu dieser Qualifizierung des Eingriffs: Senatsbeschl. v. 16.4.2020 - 13 MN 77/20 -, juris Rn. 29). Eine darüberhinausgehende Verletzung des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb als einer nach Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Rechtsposition dürfte hingegen nicht vorliegen. Denn dieser Schutz erfasst nur den konkreten Bestand an Rechten und Gütern; die hier durch die verordnete Beschränkung betroffenen bloßen Umsatz- und Gewinnchancen werden hingegen auch unter dem Gesichtspunkt des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs nicht von der Eigentumsgarantie erfasst (vgl. BVerfG, Urt. v. 6.12.2016 - 1 BvR 2821/11 -, BVerfGE 143, 246, 331 f. - juris Rn. 240; Beschl. v. 26.6.2002 - 1 BvR 558/91 -, BVerfGE 105, 252, 278 - juris Rn. 79 m.w.N.).
8
Der Antrag ist zutreffend gegen das Land Niedersachsen als normerlassende Körperschaft im Sinne des § 47 Abs. 2 Satz 2 VwGO gerichtet. Das Land Niedersachsen wird durch das Niedersächsische Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung vertreten (vgl. Nr. II. des Gemeinsamen Runderlasses der Staatskanzlei und sämtlicher Ministerien, Vertretung des Landes Niedersachsen, v. 12.7.2012 (Nds. MBl. S. 578), zuletzt geändert am 15.9.2017 (Nds. MBl. S. 1288), in Verbindung mit Nr. 4.22 des Beschlusses der Landesregierung, Geschäftsverteilung der Niedersächsischen Landesregierung, v. 17.7.2012 (Nds. MBl. S. 610), zuletzt geändert am 18.11.2019 (Nds. MBl. S. 1618)).
9
2. Der Antrag ist aber unbegründet.
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Nach § 47 Abs. 6 VwGO kann das Gericht in Normenkontrollverfahren auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist. Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind zunächst die Erfolgsaussichten eines Normenkontrollantrages im Hauptsacheverfahren, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen. Ergibt diese Prüfung, dass der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet sein wird, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht im Sinne von § 47 Abs. 6 VwGO zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Erweist sich dagegen, dass der Antrag voraussichtlich Erfolg haben wird, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache suspendiert werden muss. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist. Lassen sich die Erfolgsaussichten des Normenkontrollverfahrens nicht abschätzen, ist über den Erlass einer beantragten einstweiligen Anordnung im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden. Gegenüberzustellen sind im Rahmen der sog. "Doppelhypothese" die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Normenkontrollantrag aber Erfolg hätte, und die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Normenkontrollantrag aber erfolglos bliebe. Die für den Erlass der einstweiligen Anordnung sprechenden Gründe müssen die gegenläufigen Interessen deutlich überwiegen, mithin so schwer wiegen, dass der Erlass der einstweiligen Anordnung - trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache - dringend geboten ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 30.4.2019 - BVerwG 4 VR 3.19 -, juris Rn. 4 (zur Normenkontrolle eines Bebauungsplans); OVG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 22.10.2019 - 6 B 11533/19 -, juris Rn. 5 (zur Normenkontrolle einer Rechtsverordnung über die Freigabe eines verkaufsoffenen Sonntags); Sächsisches OVG, Beschl. v. 10.7.2019 - 4 B 170/19 -, juris Rn. 20 (zur Normenkontrolle einer Rechtsverordnung zur Bildung und Arbeit des Integrationsbeirats); Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 11.5.2018 - 12 MN 40/18 -, juris Rn. 24 ff. (zur Normenkontrolle gegen die Ausschlusswirkung im Flächennutzungsplan) jeweils m.w.N.).
11
Unter Anwendung dieser Grundsätze bleibt der Antrag auf vorläufige Außervollzugsetzung der in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordneten Schließung von Fitnessstudios für den Publikumsverkehr und Besuche ohne Erfolg. Der Senat vermag den Erfolg des in der Hauptsache gestellten bzw. noch zu stellenden Normenkontrollantrags derzeit nicht verlässlich abzuschätzen (a.). Die danach gebotene Folgenabwägung führt nicht dazu, dass die von der Antragstellerin geltend gemachten Gründe für die einstweilige Außervollzugsetzung die für den weiteren Vollzug der Verordnung sprechenden Gründe überwiegen (b.).
12
a. Derzeit ist offen, ob § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 der Niedersächsischen Corona-Verordnung in einem Hauptsacheverfahren für unwirksam zu erklären ist. Der Senat geht zwar davon aus, dass diese Verordnungsregelung auf einer tragfähigen Rechtsgrundlage beruht (1) und formell rechtmäßig ist (2). Zweifel an der materiellen Rechtmäßigkeit (3) bestehen auch nicht mit Blick auf das "Ob" eines staatlichen Handelns (a) und die Notwendigkeit der infektionsschutzrechtlichen Maßnahme als solcher (b). Derzeit ist aber nicht verlässlich abzuschätzen, ob die Verordnungsregelung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG zu vereinbaren ist (c).
13
(1) Rechtsgrundlage für den Erlass der Verordnung ist § 32 Satz 1 und 2 in Verbindung mit § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz - IfSG -) vom 20. Juli 2000 (BGBl. I S. 1045), in der hier maßgeblichen zuletzt durch das Gesetz zur Umsetzung steuerlicher Hilfsmaßnahmen zur Bewältigung der Corona-Krise (Corona-Steuerhilfegesetz) vom 19. Juni 2020 (BGBl. I S. 1385) geänderten Fassung.
14
Eine Verfassungswidrigkeit dieser Rechtsgrundlagen, insbesondere mit Blick auf die Bestimmtheit der getroffenen Regelungen und deren Vereinbarkeit mit dem Vorbehalt des Gesetzes, ist für den Senat - ebenso wie offenbar für das Bundesverfassungsgericht in seiner bisherigen Spruchpraxis betreffend die Corona-Pandemie (vgl. bspw. BVerfG, Beschl. v. 15.7.2020 - 1 BvR 1630/20 -; v. 9.6.2020 - 1 BvR 1230/20 -; v. 28.4.2020 - 1 BvR 899/20 -, alle veröffentlicht in juris) - jedenfalls nicht offensichtlich (vgl. hierzu im Einzelnen: Bayerischer VerfGH, Entsch. v. 21.10.2020 - Vf. 26-VII-20 -, juris Rn. 17 ff.; OVG Bremen, Beschl. v. 9.4.2020 - 1 B 97/20 -, juris Rn. 24 ff.; Hessischer VGH, Beschl. v. 7.4.2020 - 8 B 892/20.N -, juris Rn. 34 ff.; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 26.10.2020 - 13 B 1581/20.NE -, juris Rn. 32 ff.; Beschl. v. 6.4. 2020 - 13 B 398/20.NE -, juris Rn. 36 ff.; Bayerischer VGH, Beschl. v. 30.3.2020 - 20 NE 20.632 -, juris Rn. 39 ff.; Beschl. v. 30.3.2020 - 20 CS 20.611 -, juris 17 f.; offengelassen: VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 9.4.2020 - 1 S 925/20 -, juris Rn. 37 ff.).
15
Der Vorbehalt des Gesetzes verlangt im Hinblick auf Rechtsstaatsprinzip und Demokratiegebot, dass der Gesetzgeber in grundlegenden normativen Bereichen alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen hat und nicht dem Handeln und der Entscheidungsmacht der Exekutive überlassen darf. Dabei betrifft die Normierungspflicht nicht nur die Frage, ob ein bestimmter Gegenstand überhaupt gesetzlich geregelt sein muss, sondern auch, wie weit diese Regelungen im Einzelnen zu gehen haben (sog. "Wesentlichkeitsdoktrin", BVerfG, Urt. v. 19.9.2018 - 2 BvF 1/15 u.a. -, juris Rn. 199). Inwieweit es einer Regelung durch den parlamentarischen Gesetzgeber bedarf, hängt vom jeweiligen Sachbereich und der Eigenart des betroffenen Regelungsgegenstands ab (vgl. BVerfG, Urt. v. 24.9.2003 - 2 BvR 1436/02 -, juris Rn. 67 f. m.w.N.). Auch Gesetze, die zu Rechtsverordnungen und Satzungen ermächtigen, können den Voraussetzungen des Gesetzesvorbehalts genügen, die wesentlichen Entscheidungen müssen aber durch den parlamentarischen Gesetzgeber selbst erfolgen. Das Erfordernis der hinreichenden Bestimmtheit der Ermächtigungsgrundlage bei Delegation einer Entscheidung auf den Verordnungsgeber aus Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG, wonach Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung im Gesetz bestimmt werden müssen, stellt insoweit eine notwendige Ergänzung und Konkretisierung des Gesetzesvorbehalts und des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung dar. Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG führt als eine Ausprägung des allgemeinen Gesetzesvorbehalts den staatlichen Eingriff durch die Exekutive nachvollziehbar auf eine parlamentarische Willensäußerung zurück. Eine Ermächtigung darf daher nicht so unbestimmt sein, dass nicht mehr vorausgesehen werden kann, in welchen Fällen und mit welcher Tendenz von ihr Gebrauch gemacht werden wird und welchen Inhalt die auf Grund der Ermächtigung erlassenen Verordnungen haben können (vgl. BVerfG, Urt. v. 19.9.2018 - 2 BvF 1/15 u.a. -, juris Rn. 198 ff. m.w.N.). Die Ermächtigungsnorm muss in ihrem Wortlaut nicht so genau wie irgend möglich gefasst sein; sie hat von Verfassungs wegen nur hinreichend bestimmt zu sein. Dazu genügt es, dass sich die gesetzlichen Vorgaben mit Hilfe allgemeiner Auslegungsregeln erschließen lassen, insbesondere aus dem Zweck, dem Sinnzusammenhang und der Entstehungsgeschichte der Norm. Welche Anforderungen an das Maß der erforderlichen Bestimmtheit im Einzelnen zu stellen sind, lässt sich daher nicht allgemein festlegen. Zum einen kommt es auf die Intensität der Auswirkungen der Regelung für die Betroffenen an. Je schwerwiegender die grundrechtsrelevanten Auswirkungen für die von einer Rechtsverordnung potentiell Betroffenen sind, desto strengere Anforderungen gelten für das Maß der Bestimmtheit sowie für Inhalt und Zweck der erteilten Ermächtigung. Zum anderen hängen die Anforderungen an Inhalt, Zweck und Ausmaß der gesetzlichen Determinierung von der Eigenart des zu regelnden Sachverhalts ab, insbesondere davon, in welchem Umfang der zu regelnde Sachbereich einer genaueren begrifflichen Umschreibung überhaupt zugänglich ist. Dies kann es auch rechtfertigen, die nähere Ausgestaltung des zu regelnden Sachbereichs dem Verordnungsgeber zu überlassen, der die Regelungen rascher und einfacher auf dem neuesten Stand zu halten vermag als der Gesetzgeber (vgl. BVerfG, Beschl. v. 21.9.2016 - 2 BvL 1/15 -, juris Rn. 54 ff. m.w.N.).
16
Nach der im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen und auch nur gebotenen summarischen Prüfung ist für den Senat nicht offensichtlich, dass einerseits § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG und andererseits § 32 Satz 1 und 2 IfSG diesen Anforderungen nicht genügen könnten.
17
Mit § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG hat der Bundesgesetzgeber bewusst eine offene Generalklausel geschaffen (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.3.2012 - BVerwG 3 C 16.11 -, BVerwGE 142, 205, 213 - juris Rn. 26 unter Hinweis auf den Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Seuchengesetzes, BT-Drs. 8/2468, S. 27 f.), ohne aber den zuständigen Infektionsschutzbehörden eine unzulässige Globalermächtigung zu erteilen. Der Bundesgesetzgeber hat für den fraglos eingriffsintensiven Bereich infektionsschutzrechtlichen staatlichen Handelns selbst bestimmt, dass die zuständigen Behörden nur dann, wenn Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt werden oder sich ergibt, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, "die notwendigen Schutzmaßnahmen" treffen dürfen, und zwar insbesondere die in den §§ 29 bis 31 IfSG genannten, dies aber auch nur "soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist". Der Begriff der "Schutzmaßnahmen" ist dabei umfassend angelegt, um den Infektionsschutzbehörden insbesondere bei einem dynamischen, zügiges Eingreifen erfordernden Infektionsgeschehen ein möglichst breites Spektrum geeigneter Maßnahmen an die Hand zu geben (vgl. Senatsbeschl. v. 29.5.2020 - 13 MN 185/20 -, juris Rn. 27; OVG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 2.4.2020 - 3 MB 8/20 -, juris Rn. 35). Zugleich ist der Begriff der "Schutzmaßnahmen" nach Inhalt und Zweck der Rechtsgrundlage mit Hilfe allgemeiner Auslegungsregeln hinreichend zu begrenzen. Danach umfasst er auch Untersagungen oder Beschränkungen von unternehmerischen Tätigkeiten in den Bereichen Industrie, Gewerbe, Handel und Dienstleistungen (vgl. Senatsbeschl. v. 14.5.2020 - 13 MN 165/20 -, juris Rn. 38 (Untersagung der Erbringung von Dienstleistungen in Tattoo-Studios); Senatsbeschl. v. 14.5.2020 - 13 MN 156/20 -, juris Rn. 28 (Schließung von Fitness-Studios); VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 13.5.2020 - 1 S 1281/20 -, juris Rn. 17; Senatsbeschl. v. 5.5.2020 - 13 MN 124/20 -, juris Rn. 31 (jeweils zum Verbot des Präsenzbetriebs von Nachhilfeeinrichtungen); VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 7.5.2020 - 1 S 1244/20 -, juris Rn. 16 (Untersagung des Betriebs von Spielhallen); OVG Bremen, Beschl. v. 7.5.2020 - 1 B 129/20 -, juris Rn. 20; Senatsbeschl. v. 29.4.2020 - 13 MN 120/20 -, juris Rn. 33 (jeweils zur Beschränkung der Verkaufsfläche von Einzelhandelsgeschäften); Senatsbeschl. v. 24.4.2020 - 13 MN 104/20 -, juris Rn. 30 (Schließung von Zoos und Tierparks); Senatsbeschl. v. 16.4.2020 - 13 MN 67/20 -, juris Rn. 43 (Verbot des Verkaufs von Blumen und anderen Pflanzen auf Wochenmärkten); Senatsbeschl. v. 14.4.2020 - 13 MN 63/20 -, juris Rn. 53 (Schließung von Autowaschanlagen); Bayerischer VGH, Beschl. v. 30.3.2020 - 20 CS 20.611 -, juris Rn. 11 ff. (Schließung von Einzelhandelsgeschäften)). Darüber hinaus sind dem behördlichen Einschreiten durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Grenzen gesetzt (vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 9.4.2020 - 1 B 97/20 -, juris Rn. 30). Dass diese durch Auslegung bestimmten Grenzen nicht vom Willen des Bundesgesetzgebers gedeckt wären, vermag der Senat nicht zu erkennen. Vielmehr hat der Bundesgesetzgeber mit dem Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 27. März 2020 (BGBl. I S. 587) den Satz 1 des § 28 Abs. 1 IfSG um den zweiten Halbsatz "sie kann insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten" ergänzt und gleichzeitig den bis dahin geltenden Satz 2 Halbsatz 2 gestrichen. Unabhängig von der Frage, ob es sich bei dieser Änderung um eine bloße Anpassung aus Gründen der Normenklarheit handelt, besteht für den Senat kein vernünftiger Zweifel, dass damit der Gesetzgeber selbst hinreichend bestimmt zum Ausdruck gebracht hat, dass über punktuell wirkende Maßnahmen hinaus allgemeine oder gleichsam flächendeckende Verbote erlassen werden können. Dafür spricht nicht nur der Wortlaut von § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 IfSG. Auch der Umstand, dass es sich bei der Gesetzesänderung um eine Reaktion auf das aktuelle Bedürfnis zum Erlass von landesweit geltenden Schutzmaßnahmen handelt, trägt dieses Auslegungsergebnis, zumal der Gesetzgeber in Kenntnis der bereits erlassenen Länderverordnungen bei gleichzeitig bestehender Kritik an der ursprünglichen Gesetzesfassung gehandelt hat (so ausdrücklich OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 6.4.2020 - 13 B 398/20.NE -, juris Rn. 52 m.w.N.). Eine weitergehende Konkretisierung der Eingriffsgrundlagen erscheint angesichts der Besonderheiten des Infektionsschutzrechts, die bei Eintritt eines Pandemiegeschehens kurzfristige Reaktionen des Verordnungsgebers auf sich ändernde Gefährdungslagen erforderlich machen können, verfassungsrechtlich nicht geboten.
18
Genügt danach § 28 Abs. 1 IfSG den an eine gesetzliche Rechtsgrundlage für staatliche Eingriffe zu stellenden verfassungsrechtlichen Anforderungen an Inhalt, Zweck und Ausmaß, gilt dies auch für die Verordnungsermächtigung in § 32 Satz 1 und 2 IfSG. Denn diese Verordnungsermächtigung knüpft hinsichtlich der materiellen Voraussetzungen auch an § 28 Abs. 1 IfSG an und ermächtigt die Landesregierungen bzw. von ihr befugte Stellen nur dazu, "unter den Voraussetzungen, die für Maßnahmen nach den §§ 28 bis 31 maßgebend sind, auch durch Rechtsverordnungen entsprechende Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zu erlassen". Der Gesetzgeber gibt also nicht verordnungstypisch einen Regelungsbereich in bestimmten Grenzen aus der Hand, um diesen der Exekutive zur eigenverantwortlichen abstrakten Ausfüllung zu übertragen. Die Verordnungsermächtigung nach § 32 Satz 1 und 2 IfSG stellt lediglich ein anderes technisches Instrument zur Verfügung, um konkret notwendige Schutzmaßnahmen im Sinne des § 28 Abs. 1 IfSG zu erlassen und insbesondere bei flächendeckenden Infektionsgeschehen nicht auf Einzel- oder Allgemeinverfügungen angewiesen zu sein, denen aber durchaus eine vergleichbare flächenhafte Wirkung zukommen kann.
19
(2) Anhaltspunkte für eine formelle Rechtswidrigkeit der Niedersächsischen Corona-Verordnung vom 30. Oktober 2020 bestehen derzeit nicht.
20
Anstelle der nach § 32 Satz 1 IfSG ermächtigten Landesregierung war aufgrund der nach § 32 Satz 2 IfSG gestatteten und durch § 3 Nr. 1 der Verordnung zur Übertragung von Ermächtigungen aufgrund bundesgesetzlicher Vorschriften (Subdelegationsverordnung) vom 9. Dezember 2011 (Nds. GVBl. S. 487), zuletzt geändert durch Verordnung vom 4. August 2020 (Nds. GVBl. S. 266), betätigten Subdelegation das Niedersächsische Ministerium für Gesundheit, Soziales und Gleichstellung zum Erlass der Verordnung zuständig.
21
Gemäß Art. 45 Abs. 1 Satz 2 NV ist die Verordnung von der das Ministerium vertretenden Ministerin ausgefertigt und im Niedersächsischen Gesetz- und Verordnungsblatt vom 30. Oktober 2020 (Nds. GVBl. S. 368) verkündet worden.
22
§ 20 Abs. 1 der Niedersächsischen Corona-Verordnung bestimmt, wie von Art. 45 Abs. 3 Satz 1 NV gefordert, den Tag des Inkrafttretens.
23
Auch dem Zitiergebot des Art. 43 Abs. 2 Satz 1 NV (vgl. zu den insoweit bestehenden Anforderungen: BVerfG, Urt. v. 6.7.1999 - 2 BvF 3/90 -, BVerfGE 101, 1 - juris Rn. 152 ff. (zu Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG); Steinbach, in: Epping/Butzer u.a., Hannoverscher Kommentar zur Niedersächsischen Verfassung, 2012, Art. 43 Rn. 20 m.w.N.) dürfte die Verordnung genügen.
24
Etwaige Verstöße des Antragsgegners gegen die Unterrichtungspflicht nach Art. 25 NV beeinflussen die Rechtmäßigkeit der Verordnung nicht (vgl. Niedersächsischer StGH, Beschl. v. 9.9.2020 - StGH 1/20 -, juris Rn. 9).
25
(3) Die in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Schließung von Fitnessstudios für den Publikumsverkehr und Besuche ist auch mit Blick auf das "Ob" eines staatlichen Handelns (a) und die Notwendigkeit der infektionsschutzrechtlichen Maßnahme als solcher (b) nicht zu beanstanden.
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(a) Die Voraussetzungen des § 32 Satz 1 in Verbindung mit § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG sind mit Blick auf das "Ob" eines staatlichen Handelns gegeben.
27
Nach § 32 Satz 1 IfSG dürfen unter den Voraussetzungen, die für Maßnahmen nach den §§ 28 bis 31 IfSG maßgebend sind, auch durch Rechtsverordnung entsprechende Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten erlassen werden. Die tatbestandlichen Voraussetzungen der Rechtsgrundlage des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG sind erfüllt.
28
Werden Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt oder ergibt sich, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, so trifft die zuständige Behörde nach § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in den §§ 29 bis 31 IfSG genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist; sie kann insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten.
29
Es wurden zahlreiche Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider (vgl. die Begriffsbestimmungen in § 2 Nrn. 3 ff. IfSG) im Sinne des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG festgestellt. Die weltweite Ausbreitung von COVID-19, die offizielle Bezeichnung der durch den neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 (Severe acute respiratory syndrome coronavirus type 2) als Krankheitserreger ausgelösten Erkrankung, wurde am 11. März 2020 von der WHO zu einer Pandemie erklärt. Weltweit sind derzeit mehr 47.300.000 Menschen mit dem Krankheitserreger infiziert und mehr als 1.210.000 Menschen im Zusammenhang mit der Erkrankung verstorben (vgl. WHO, Coronavirus disease (COVID-19) Pandemic, veröffentlicht unter: www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019, Stand: 5.11.2020). Derzeit sind im Bundesgebiet mehr als 597.000 Menschen infiziert und mehr als 10.900 Menschen im Zusammenhang mit der Erkrankung verstorben und in Niedersachsen mehr als 41.200 Menschen infiziert und mehr als 790 Menschen infolge der Erkrankung verstorben (vgl. Robert Koch-Institut (RKI), COVID-19: Fallzahlen in Deutschland und weltweit, veröffentlicht unter: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Fallzahlen.html, Stand: 5.11.2020). Es handelt sich weltweit und in Deutschland um eine sehr dynamische und ernst zu nehmende Situation. Weltweit nimmt die Anzahl der Fälle rasant zu. Nach einer vorübergehenden Stabilisierung der Fallzahlen auf einem erhöhten Niveau ist aktuell ein starker Anstieg der Übertragungen auch in der Bevölkerung in Deutschland zu beobachten. Es kommt bundesweit zu Ausbruchsgeschehen. Der Anstieg wird durch Ausbrüche, insbesondere im Zusammenhang mit privaten Treffen und Feiern sowie bei Gruppenveranstaltungen, verursacht. Bei einem zunehmenden Anteil der Fälle ist aber die Infektionsquelle unbekannt. Es werden wieder vermehrt COVID-19-bedingte Ausbrüche in Alten- und Pflegeheimen gemeldet und die Zahl der Patienten, die auf einer Intensivstation behandelt werden müssen, hat sich in den letzten zwei Wochen mehr als verdoppelt (vgl. RKI, Risikobewertung zu COVID-19, veröffentlicht unter: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html, Stand: 26.10.2020). Diese Gefährdungseinschätzung des RKI als nationaler Behörde nach § 4 Abs. 1 IfSG wird nach dem Dafürhalten des Senats durch vereinzelt geäußerte Zweifel an der Zuverlässigkeit der zum Nachweis von SARS-CoV-2 verwendeten sog. PCR-Tests nicht erschüttert (vgl. hierzu Bayerischer VGH, Beschl. v. 8.9.2020 - 20 NE 20.2001 -, juris Rn. 28).
30
COVID-19 ist eine übertragbare Krankheit im Sinne des § 2 Nr. 3 IfSG. Die Erkrankung manifestiert sich als Infektion der Atemwege, aber auch anderer Organsysteme mit den Symptomen Husten, Fieber, Schnupfen sowie Geruchs- und Geschmacksverlust. Der Krankheitsverlauf variiert in Symptomatik und Schwere. Es wird angenommen, dass etwa 81% der diagnostizierten Personen einen milden, etwa 14% einen schwereren und etwa 5% einen kritischen Krankheitsverlauf zeigen. Obwohl schwere Verläufe auch bei Personen ohne Vorerkrankung auftreten und auch bei jüngeren Patienten beobachtet wurden, haben ältere Personen (mit stetig steigendem Risiko für einen schweren Verlauf ab etwa 50 bis 60 Jahren), Männer, Raucher (bei schwacher Evidenz), stark adipöse Menschen, Personen mit bestimmten Vorerkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems (z.B. koronare Herzerkrankung und Bluthochdruck) und der Lunge (z.B. COPD) sowie Patienten mit chronischen Nieren- und Lebererkrankungen, mit Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit), mit einer Krebserkrankung oder mit geschwächtem Immunsystem (z.B. aufgrund einer Erkrankung, die mit einer Immunschwäche einhergeht oder durch Einnahme von Medikamenten, die die Immunabwehr schwächen, wie z.B. Cortison) ein erhöhtes Risiko für schwere Verläufe. Die Erkrankung ist sehr infektiös, und zwar nach Schätzungen beginnend etwa ein bis zwei Tage vor Symptombeginn und endend - bei mild-moderaten Erkrankungen - jedenfalls zehn Tage nach Symptombeginn. Die Übertragung erfolgt hauptsächlich durch die respiratorische Aufnahme virushaltiger Partikel (größere Tröpfchen und kleinere Aerosole), die beim Atmen, Husten, Sprechen und Niesen entstehen. Auch eine Übertragung durch kontaminierte Oberflächen kann nicht ausgeschlossen werden. Es ist zwar offen, wie viele Menschen sich insgesamt in Deutschland mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 infizieren werden. Schätzungen gehen aber von bis zu 70% der Bevölkerung aus, es ist lediglich unklar, über welchen Zeitraum dies geschehen wird. Grundlage dieser Schätzungen ist die so genannte Basisreproduktionszahl von COVID-19. Sie beträgt ohne die Ergreifung von Maßnahmen 3,3 bis 3,8. Dieser Wert kann so interpretiert werden, dass bei einer Basisreproduktionszahl von etwa 3 ungefähr zwei Drittel aller Übertragungen verhindert werden müssen, um die Epidemie unter Kontrolle zu bringen. Die Inkubationszeit beträgt im Mittel fünf bis sechs Tage bei einer Spannweite von einem bis zu 14 Tagen. Der Anteil der Infizierten, der auch tatsächlich erkrankt (Manifestationsindex), beträgt bis zu 85%. Laut der Daten aus dem deutschen Meldesystem werden etwa 14% der in Deutschland dem RKI übermittelten Fälle hospitalisiert. Unter hospitalisierten COVID-19-Patienten mit einer schweren akuten Atemwegserkrankung mussten 37% intensivmedizinisch behandelt und 17% beatmet werden. Die mediane Hospitalisierungsdauer von COVID-19-Patienten mit einer akuten respiratorischen Erkrankung beträgt 10 Tage und von COVID-19-Patienten mit einer Intensivbehandlung 16 Tage. Zur Aufnahme auf die Intensivstation führt im Regelfall Dyspnoe mit erhöhter Atemfrequenz (> 30/min), dabei steht eine Hypoxämie im Vordergrund. Mögliche Verlaufsformen sind die Entwicklung eines akuten Lungenversagens (Acute Respiratory Distress Syndrome - ARDS) sowie, bisher eher seltener, eine bakterielle Koinfektion mit septischem Schock. Weitere beschriebene Komplikationen sind zudem Rhythmusstörungen, eine myokardiale Schädigung sowie das Auftreten eines akuten Nierenversagens (vgl. zum Krankheitsbild im Einzelnen mit weiteren Nachweisen: Kluge/Janssens/Welte/Weber-Carstens/Marx/Karagiannidis, Empfehlungen zur intensivmedizinischen Therapie von Patienten mit COVID-19, in: Medizinische Klinik - Intensivmedizin und Notfallmedizin v. 12.3.2020, veröffentlicht unter: https://link.springer.com/content/pdf/10.1007/s00063-020-00674-3.pdf, Stand: 30.3.2020). Eine Impfung ist in Deutschland nicht verfügbar. Verschiedene spezifische Therapieansätze (direkt antiviral wirksam, immunmodulatorisch wirksam) wurden und werden im Verlauf der Pandemie in Studien untersucht. Zwei Arzneimittel erwiesen sich jeweils in einer bestimmten Gruppe von Patienten mit COVID-19 als wirksam. Als direkt antiviral wirksames Arzneimittel erhielt Remdesivir am 3. Juli 2020 eine bedingte Zulassung zur Anwendung bei schwer erkrankten Patienten durch die Europäische Kommission. Als immunmodulatorisch wirksames Arzneimittel erhielt Dexamethason eine positive Bewertung durch die Europäische Kommission für die Anwendung bei bestimmten Patientengruppen mit einer Infektion durch SARS-CoV-2. Aufgrund der Neuartigkeit des Krankheitsbildes lassen sich keine zuverlässigen Aussagen zu Langzeitauswirkungen und (irreversiblen) Folgeschäden durch die Erkrankung bzw. ihre Behandlung (z.B. in Folge einer Langzeitbeatmung) treffen. Allerdings deuten Studiendaten darauf hin, dass an COVID-19 Erkrankte auch Wochen bzw. Monate nach der akuten Erkrankung noch Symptome aufweisen können.
31
Während der Fall-Verstorbenen-Anteil bei Erkrankten bis etwa 50 Jahren unter 0,1% liegt, steigt er ab 50 zunehmend an und liegt bei Personen über 80 Jahren häufig über 10% (vgl. zu Vorstehendem im Einzelnen und mit weiteren Nachweisen: RKI, SARS-CoV-2 Steckbrief zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19), veröffentlicht unter: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html?nn=13490888, Stand: 2.10.2020; Antworten auf häufig gestellte Fragen zum Coronavirus SARS-CoV-2, veröffentlicht unter: www.rki.de/SharedDocs/FAQ/NCOV2019/gesamt.html, Stand: 6.10.2020).
32
Auch wenn nach diesen Erkenntnissen nur ein kleiner Teil der Erkrankungen schwer verläuft, kann das individuelle Risiko anhand der epidemiologischen und statistischen Daten nicht abgeleitet werden. So kann es auch ohne bekannte Vorerkrankungen und bei jungen Menschen zu schweren bis hin zu lebensbedrohlichen Krankheitsverläufen kommen. Langzeitfolgen, auch nach leichten Verläufen, sind derzeit noch nicht abschätzbar. Die Belastung des Gesundheitssystems hängt maßgeblich von der regionalen Verbreitung der Infektion, den hauptsächlich betroffenen Bevölkerungsgruppen, den vorhandenen Kapazitäten und den eingeleiteten Gegenmaßnahmen ab. Sie kann örtlich sehr schnell zunehmen und dann insbesondere das öffentliche Gesundheitswesen, aber auch die Einrichtungen für die ambulante und stationäre medizinische Versorgung stark belasten. Deshalb bleiben intensive gesamtgesellschaftliche Gegenmaßnahmen nötig, um die Folgen der COVID-19-Pandemie für Deutschland zu minimieren. Diese Maßnahmen verfolgen weiterhin das Ziel, die Infektionen in Deutschland so früh wie möglich zu erkennen und die weitere Ausbreitung des Virus einzudämmen. Hierdurch soll die Zeit für die Entwicklung von antiviralen Medikamenten und von Impfstoffen gewonnen werden. Auch sollen Belastungsspitzen im Gesundheitswesen vermieden werden (vgl. hierzu im Einzelnen und mit weiteren Nachweisen: RKI, Risikobewertung zu COVID-19, veröffentlicht unter: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html, Stand: 26.10.2020).
33
Die danach vorliegenden tatbestandlichen Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG verpflichten die zuständigen Behörden zum Handeln (gebundene Entscheidung, vgl. BVerwG, Urt. v. 22.3.2012 - BVerwG 3 C 16.11 -, BVerwGE 142, 205, 212 - juris Rn. 23).
34
Zugleich steht damit fest, dass die Maßnahmen nicht auf die Rechtsgrundlage des § 16 Abs. 1 IfSG gestützt werden können. Denn die Rechtsgrundlagen einerseits des § 16 Abs. 1 IfSG im Vierten Abschnitt des Infektionsschutzgesetzes "Verhütung übertragbarer Krankheiten" und andererseits des § 28 Abs. 1 IfSG im Fünften Abschnitt des Infektionsschutzgesetzes "Bekämpfung übertragbarer Krankheiten" stehen in einem Exklusivitätsverhältnis zueinander; der Anwendungsbereich des § 16 Abs. 1 IfSG ist nur eröffnet, solange eine übertragbare Krankheit noch nicht aufgetreten ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.12.1971 - BVerwG I C 60.67 -, BVerwGE 39, 190, 192 f. - juris Rn. 28 (zu §§ 10 Abs. 1, 34 Abs. 1 BSeuchG a.F.); Senatsurt. v. 3.2.2011 - 13 LC 198/08 -, juris Rn. 40).
35
(b) Nach summarischer Prüfung ist die in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Schließung von Fitnessstudios für den Publikumsverkehr und Besuche auch eine notwendige Schutzmaßnahme im Sinne des § 28 Abs. 1 IfSG.
36
(aa) Dies gilt zunächst für den durch die Regelung betroffenen Adressatenkreis. Wird ein Kranker, Krankheitsverdächtiger, Ansteckungsverdächtiger oder Ausscheider festgestellt, begrenzt § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG den Handlungsrahmen der Behörde nicht dahin, dass allein Schutzmaßnahmen gegenüber der festgestellten Person in Betracht kommen. Die Vorschrift ermöglicht Regelungen gegenüber einzelnen wie mehreren Personen. Vorrangige Adressaten sind zwar die in § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG benannten Personengruppen. Bei ihnen steht fest oder besteht der Verdacht, dass sie Träger von Krankheitserregern sind, die bei Menschen eine Infektion oder eine übertragbare Krankheit im Sinne von § 2 Nr. 1 bis Nr. 3 IfSG verursachen können. Wegen der von ihnen ausgehenden Gefahr, eine übertragbare Krankheit weiterzuverbreiten, sind sie schon nach den allgemeinen Grundsätzen des Gefahrenabwehr- und Polizeirechts als "Störer" anzusehen. Nach § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG können aber auch (sonstige) Dritte ("Nichtstörer") Adressat von Maßnahmen sein, beispielsweise um sie vor Ansteckung zu schützen (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.3.2012 - BVerwG 3 C 16.11 -, BVerwGE 142, 205, 212 f. - juris Rn. 25 f.; OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 3.4.2020 - OVG 11 S 14/20 -, juris Rn. 8 f.).
37
Aus infektionsschutzrechtlicher Sicht maßgeblich ist insoweit allein der Bezug der durch die konkrete Maßnahme in Anspruch genommenen Person zur Infektionsgefahr. Dabei gilt für die Gefahrenwahrscheinlichkeit kein strikter, alle möglichen Fälle gleichermaßen erfassender Maßstab. Vielmehr ist der im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht geltende Grundsatz heranzuziehen, dass an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Dafür sprechen das Ziel des Infektionsschutzgesetzes, eine effektive Gefahrenabwehr zu ermöglichen (§§ 1 Abs. 1, 28 Abs. 1 IfSG), sowie der Umstand, dass die betroffenen Krankheiten nach ihrem Ansteckungsrisiko und ihren Auswirkungen auf die Gesundheit des Menschen unterschiedlich gefährlich sind. Im Falle eines hochansteckenden Krankheitserregers, der bei einer Infektion mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer tödlich verlaufenden Erkrankung führen würde, drängt sich angesichts der schwerwiegenden Folgen auf, dass die vergleichsweise geringe Wahrscheinlichkeit eines infektionsrelevanten Kontakts genügt (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.3.2012 - BVerwG 3 C 16.11 -, BVerwGE 142, 205, 216 - juris Rn. 32). Nach der Risikobewertung des gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Nr. 1 IfSG hierzu berufenen Robert Koch-Instituts im täglichen "Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19)" vom 5. November 2020 (veröffentlicht unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Gesamt.html?nn=13490888) besteht weltweit und in Deutschland eine sehr dynamische und ernst zu nehmende Situation. Weltweit und in angrenzenden Ländern Europas nimmt die Anzahl der Fälle rasant zu. Aufgrund dieser Bewertung besteht für die hier zu beurteilenden Betreiberinnen und Betreiber von Fitnessstudios, in denen sich eine Vielzahl von Mitgliedern und anderen trainierenden Personen unmittelbar persönlich begegnet oder zumindest begegnen kann und die auch deshalb eine das allgemeine Infektionsrisiko erhöhende Gefahrenlage herbeiführen, ein hinreichend konkreter Bezug zu einer Infektionsgefahr.
38
(bb) Auch Art und Umfang der vom Antragsgegner konkret gewählten Schutzmaßnahme sind nicht ersichtlich ermessensfehlerhaft.
39
"Schutzmaßnahmen" im Sinne des § 28 Abs. 1 IfSG können, wie dargestellt, auch Untersagungen oder Beschränkungen von unternehmerischen Tätigkeiten in den Bereichen Industrie, Gewerbe, Handel und Dienstleistungen sein (vgl. mit zahlreichen Beispielen und weiteren Nachweisen: Senatsbeschl. v. 29.5.2020 - 13 MN 185/20 -, juris Rn. 27), wie sie in § 10 Abs. 1 und 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung getroffen worden sind.
40
Dem steht nicht entgegen, dass § 31 IfSG eine Regelung für die Untersagung beruflicher Tätigkeiten gegenüber Kranken, Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen, Ausscheidern und sonstigen Personen trifft. Denn diese Regelung ist gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG ("insbesondere die in den §§ 29 bis 31 genannten") nicht abschließend. Auch die mangelnde Erwähnung der Grundrechte nach Art. 12 Abs. 1 und 14 Abs. 1 GG in § 28 Abs. 1 Satz 4 IfSG steht der dargestellten Auslegung nicht entgegen. Denn das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG, welches § 28 Abs. 1 Satz 4 IfSG zu erfüllen sucht, besteht nur, soweit im Sinne des Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG "ein Grundrecht durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann". Von derartigen Grundrechtseinschränkungen sind andersartige grundrechtsrelevante Regelungen zu unterscheiden, die der Gesetzgeber in Ausführung der ihm obliegenden, im Grundrecht vorgesehenen Regelungsaufträge, Inhaltsbestimmungen oder Schrankenziehungen vornimmt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 26.5.1970 - 1 BvR 657/68 -, BVerfGE 28, 282, 289 - juris Rn. 26 ff. (zu Art. 5 Abs. 2 GG); Beschl. v. 12.1.1967 - 1 BvR 168/64 -, BVerfGE 21, 92, 93 - juris Rn. 4 (zu Art. 14 GG); Urt. v. 29.7.1959 - 1 BvR 394/58 -, BVerfGE 10, 89, 99 - juris Rn. 41 (zu Art. 2 Abs. 1 GG)). Hierzu zählen auch die Grundrechte der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG, der Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG und des Eigentumsschutzes nach Art. 14 Abs. 1 GG.
41
Der weite Kreis möglicher Schutzmaßnahmen wird durch § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG aber dahin begrenzt, dass die Schutzmaßnahme im konkreten Einzelfall "notwendig" sein muss. Der Staat darf mithin nicht alle Maßnahmen und auch nicht solche Maßnahmen anordnen, die von Einzelnen in Wahrnehmung ihrer Verantwortung gegenüber sich selbst und Dritten bloß als nützlich angesehen werden. Vielmehr dürfen staatliche Behörden nur solche Maßnahmen verbindlich anordnen, die zur Erreichung infektionsschutzrechtlich legitimer Ziele objektiv notwendig sind (vgl. Senatsbeschl. v. 26.5.2020 - 13 MN 182/20 -, juris Rn. 38). Diese Notwendigkeit ist während der Dauer einer angeordneten Maßnahme von der zuständigen Behörde fortlaufend zu überprüfen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.4.2020 - 1 BvQ 31/20 -, juris Rn. 16).
42
Derzeit stellt sich die in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Schließung von Fitnessstudios für den Publikumsverkehr und Besuche in diesem Sinne als "notwendig" dar.
43
(α) Der Verordnungsgeber verfolgt mit der Verordnungsregelung das legitime Ziel, die Bevölkerung vor der Infektion mit dem SARS-CoV-2-Virus zu schützen, die Verbreitung der Krankheit COVID-19 zu verhindern und eine Überlastung des Gesundheitssystems infolge eines ungebremsten Anstiegs von Ansteckungen und Krankheitsfällen zu vermeiden. Zur Vorbeugung einer akuten nationalen Gesundheitsnotlage sollen die Kontakte in der Bevölkerung drastisch reduziert werden, um das Infektionsgeschehen insgesamt zu verlangsamen und die Zahl der Neuinfektionen wieder in durch den öffentlichen Gesundheitsdienst nachverfolgbare Größenordnungen zu senken.
44
(β) Zur Erreichung dieses legitimen Ziels ist die Verordnungsregelung auch geeignet, weil sie die Kontaktmöglichkeiten in den Fitnessstudios beschränkt und verhindert, dass sich wechselnde Mitglieder, Mitgliedergruppen oder andere trainierende Personen zu dieser Zeit in den Einrichtungen einfinden. Zudem werden die Kontaktmöglichkeiten auf dem Weg von und zum Fitnessstudios und die erhöhte Attraktivität des öffentlichen Raums durch die Schließung von Freizeiteinrichtungen wie Fitnessstudios reduziert (vgl. zur Gastronomie OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 26.10.2020 - 13 B 1581/20.NE -, juris Rn. 54 ff.; Bayerischer VGH, Beschl. v. 19.6.2020 - 20 NE 20.1127 -, juris Rn. 40).
45
(γ) Der Verordnungsgeber darf die getroffene Regelung unter Berücksichtigung des ihm zukommenden Einschätzungsspielraums auch für erforderlich halten.
46
(αα) Mildere Mittel im Hinblick auf das tätigkeitsbezogene Infektionsgeschehen drängen sich dem Senat nicht auf.
47
Für den Senat steht nach seiner bisherigen Rechtsprechung außer Zweifel, dass Zusammenkünfte in geschlossenen Räumen, mit einer Vielzahl regelmäßig einander unbekannter Personen und längerer Verweildauer ein signifikant erhöhtes Infektionsrisiko mit sich bringen (vgl. nur Senatsbeschl. v. 24.8.2020 - 13 MN 297/20 -, juris Rn. 30 ff. (Kinos); v. 14.8.2020 - 13 MN 283/20 -, juris Rn. 52 ff. (Feiern mit mehr als 50 Personen); v. 29.6.2020 - 13 MN 244/20 -, juris Rn. 35 (Clubs, Diskotheken und ähnliche Einrichtungen) und v. 29.10.2020 - 13 MN 393/20 -, juris Rn. 61 (Gastronomie)). Dies gilt verstärkt für den Aufenthalt zahlreicher Personen, die sich körperlich anstrengen, wie es in einem Fitnessstudio der Fall ist (vgl. Senatsbeschl. v. 14.5.2020 - 13 MN 156/20 -, juris Rn. 31; v. 28.10.2020 - 13 MN 390/20 -, juris Rn. 32).
48
Belastbare widerstreitende Erkenntnisse sind dem Bericht des RKI zum "Infektionsumfeld von COVID-19-Ausbrüchen in Deutschland" nicht zu entnehmen. Das RKI konnte in einer "Quellensuche" (Datenstand: 11. August 2020) von insgesamt 202.225 übermittelten Fällen nur 55.141 Fälle bestimmten Ausbruchsgeschehen zuordnen und feststellen, in welchen von 30 unterschiedlichen, verschiedenste Lebensbereiche erfassenden Infektionsumfeldern sich diese ereignet haben (vgl. RKI, Infektionsumfeld von COVID-19-Ausbrüchen in Deutschland, in: Epidemiologisches Bulletin v. 17.9.2020, S. 3 ff., veröffentlicht unter: https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2020/Ausgaben/38_20.pdf?__blob=publicationFile). Von diesen 55.141 Fällen sind bis zur 29. Meldewoche zwar lediglich 1.954 Fälle dem Infektionsumfeld der "Freizeit" (beinhaltet "Freizeit, unspezifisch", "Verein, oder ähnliches", "Picknick") zuzuordnen, d.h. 3,54%. Diese Zahlen finden als solche eine gewisse Bestätigung im Täglichen Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) vom 27. Oktober 2020 (dort S. 12 f.; veröffentlicht unter: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Okt_2020/2020-10-27-de.pdf?__blob=publicationFile), wonach dem Infektionsumfeld der "Freizeit" auch bis zur 43. Kalenderwoche keine signifikante Anzahl von COVID-19-Fällen zuzuordnen ist. Dass innerhalb dieses Umfelds Infektionen in Fitnessstudios einen relevanten Teil ausmachen, lassen die Daten nicht erkennen und ist auch wegen des überaus breiten Feldes der Freizeitaktivitäten nicht naheliegend. Hieraus kann aber nicht verlässlich geschlossen werden, dass in Fitnessstudios kein signifikantes Infektionsrisiko besteht. Hiergegen spricht die sehr hohe Zahl von Fällen, in denen ein Infektionsumfeld gerade nicht festgestellt werden konnte. Dies lässt zwar nicht den Schluss zu, dass - etwa wegen einer mangelhaften Erfüllung der Pflicht zur Kundenkontaktdatenerhebung (vgl. § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 der vorausgegangenen Niedersächsischen Corona-Verordnung v. 7.10.2020) - diese sehr hohe Zahl von Fällen den Fitnessstudios überwiegend oder gar ganz zuzurechnen wäre. Es mindert aber den Erkenntniswert der zahlenmäßig festgestellten Infektionsumfelder ganz erheblich.
49
Eine mitunter angeführte „SafeACTiVE Study“ zu Infektionsrisiken in Fitnessstudios (erwähnt auf Branchenseiten wie https://www.fitnessmanagement.de/corona/sicheres-fitness-training-infektionsrisiko-fitnessstudio-covid19) wurde dem Senat nicht mit einer Primärquelle vorgelegt und kann daher nicht bewertet werden. Die vorab mitgeteilten Daten, bei mehr als 62.000.000 analysierten Besuchen seien (nur) 487 positive Fälle festgestellt worden, führt ohne Kenntnis von der genauen Gestaltung der Studie zu keinem Erkenntnisgewinn.
50
Dahinstehen lassen kann der Senat, ob der Verordnungsgeber alles ihm Mögliche und Zumutbare unternommen hat, um bessere Erkenntnisse über die Verbreitungswege und Infektionsumfelder zu erlangen. Denn selbst verneinendenfalls führte dies nach dem Dafürhalten des Senats nicht dazu, dass infektionsschutzrechtliche Schutzmaßnahmen auf der seit Pandemiebeginn nahezu unverändert dürftigen Erkenntnislage gar nicht mehr getroffen werden dürften und die Infektionsschutzbehörden gehalten wären, dem Geschehen seinen Lauf zu lassen.
51
In Bezug auf das tätigkeitsbezogene Infektionsgeschehen mildere Mittel ergeben sich auch nicht aus bloßen Beschränkungen des Betriebs von Fitnessstudios, etwa auf der Grundlage von Hygienekonzepten und deren notfalls zwangsweiser behördlicher Durchsetzung. Der Senat verkennt nicht, dass die Betreiberinnen und Betreiber von Fitnessstudios in den vergangenen Monaten erhebliche Arbeitskraft und finanzielle Mittel in die Umsetzung dieser Konzepte investiert haben. Ein Vollzugsdefizit, dem - in gewissen Grenzen - durch verstärkte behördliche Kontrollen entgegengewirkt werden könnte (vgl. hierzu Senatsbeschl. v. 28.8.2020 - 13 MN 307/20 -, juris Rn. 32), ist nicht zu erkennen. Eine gewisse Wirksamkeit der Konzepte ist nicht zu leugnen, auch wenn diese mangels belastbarer tatsächlicher Erkenntnisse zum konkreten Infektionsumfeld nicht konkretisiert werden kann. Es ist angesichts der derzeitigen Infektionsdynamik aber nicht festzustellen, dass diese Konzepte infektionsschutzrechtlich eine vergleichbare Effektivität aufweisen, wie die Betriebsschließungen.
52
(ββ) Mildere Mittel sind auch im Hinblick auf das gebietsbezogene Infektionsgeschehen nicht ersichtlich.
53
Der Verordnungsgeber hat die Erforderlichkeit der Betriebsschließung - anders als bei den zuvor angeordneten Beherbergungsverboten (vgl. Senatsbeschl. v. 15.10.2020 - 13 MN 371/20 -, juris Rn. 59) und Sperrzeiten im Gastronomiebereich (vgl. Senatsbeschl. v. 29.10.2020 - 13 MN 393/20 -, juris Rn. 57) - ersichtlich nicht nur anhand der 7-Tage-Inzidenz, also der Zahl der Neuinfizierten im Verhältnis zur Bevölkerung je 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner kumulativ in den letzten sieben Tagen, beurteilt, sondern, wie in dem von der Niedersächsischen Landesregierung erstellten "Handlungskonzept zur Bekämpfung des Infektionsgeschehens in der COVID 19 Pandemie" (veröffentlicht unter: www.stk.niedersachsen.de/startseite/presseinformationen/vorsorgliches-handlungskonzept-zur-bekampfung-eines-gegebenenfalls-weiter-ansteigenden-infektionsgeschehens-in-der-covid-19-pandemie-193263.html, Stand: 5.10.2020) vorgesehen, auch alle anderen für das Infektionsgeschehen relevanten Umstände in seine Bewertung einbezogen (vgl. zu dieser Verpflichtung zuletzt: Senatsbeschl. v. 29.10.2020 - 13 MN 393/20 -, juris Rn. 57).
54
Diese Bewertung rechtfertigt es, landesweit einheitliche infektionsschützende Maßnahmen zu ergreifen. Landesweit beträgt die 7-Tage-Inzidenz mehr als 100. Der weit überwiegende Teil der Landkreise und kreisfreien Städte weist eine 7-Tage-Inzidenz von mehr als 50 auf, welche die Grenze markiert, bis zu der die öffentliche Gesundheitsverwaltung in Deutschland zu einer Rückverfolgung der Infektionsketten maximal in der Lage ist und so das wichtige und legitime Ziel der Verhinderung der weiteren Ausbreitung durch Fallfindung mit Absonderung von Erkrankten und engen Kontaktpersonen mit einem erhöhten Erkrankungsrisiko noch erreicht werden kann (vgl. Senatsbeschl. v 5.6.2020 - 13 MN 195/20 -, juris Rn. 33). Wird diese Grenze in einem bestimmten Gebiet überschritten, bestehen auch nach dem Dafürhalten des Senats durchaus tatsächliche Anhaltspunkte für ein dynamisches Infektionsgeschehen und eine erhöhte Infektionswahrscheinlichkeit. Hinzu kommt ein landesweit diffuses Infektionsgeschehen. Auch wenn es deutliche regionale Unterschiede in der Verteilung gibt, steigen die Zahlen von Neuinfektionen flächendeckend an und sind die Ausbruchsgeschehen weit überwiegend keinen bestimmten Ereignissen oder Örtlichkeiten mehr zuzuordnen. Die örtlichen Gesundheitsämter sind trotz personeller Verstärkung häufig nicht mehr in der Lage, Infektionsketten nachzuverfolgen. Die Verdoppelungsrate hat sich von weit über 30 Tagen im Sommer auf nun 7 Tage reduziert. Die Zahl infizierter und erkrankter Menschen, die älter als 60 Jahre sind und die ein höheres Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf haben, ist drastisch angestiegen. Auch die Sterbefallzahlen und die Auslastung medizinischer und insbesondere intensivmedizinischer Kapazitäten steigen stetig an, wobei der Antragsgegner seine Maßnahmen nicht erst dann treffen darf, wenn diese (nahezu) erschöpft sind (vgl. hierzu im Einzelnen die Angaben des Niedersächsischen Landesgesundheitsamtes unter https://www.niedersachsen.de/Coronavirus/aktuelle_lage_in_niedersachsen/ und des RKI im täglichen Lagebericht unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Gesamt.html?nn=13490888). Im Hinblick auf die aktuelle Entwicklung durfte der Antragsgegner den vollzogenen Strategiewechsel weg von bisherigen bloßen Betriebsbeschränkungen hin zu weitreichenden flächendeckenden Betriebsschließungen und ergänzenden Betriebsbeschränkungen als derzeit einzig verlässliches effektives Mittel und damit für erforderlich erachten.
55
In Bezug auf das gebietsbezogene Infektionsgeschehen mildere Mittel ergeben sich nicht daraus, dass neben den hier streitgegenständlichen Betriebsschließungen weitere, bisher nicht betroffene Bereiche von Industrie, Gewerbe, Handel und Dienstleistungen geschlossen oder weiter beschränkt werden könnten. Ungeachtet der Effektivität eines solchen Vorgehens handelt es sich gegenüber den von diesen Maßnahmen betroffenen Rechtsträgern jedenfalls nicht um mildere Mittel.
56
Auch eine Beschränkung der Schutzmaßnahmen auf besonders schutzbedürftige (Risiko-)Gruppen von Personen ist angesichts der Größe und nur begrenzt möglichen Konkretisierung dieser Gruppen und der jedenfalls nicht verlässlichen Effektivität einer solchen Beschränkung kein milderes Mittel.
57
(δ) Die getroffene Regelung ist voraussichtlich auch angemessen.
58
Dabei verkennt der Senat nicht, dass die Betriebsschließungen tiefgreifend und wiederholt in die Berufsausübungsfreiheit der Betreiberinnen und Betreiber von Fitnessstudios eingreifen und ihnen die Berufsausübung für einen erheblichen Zeitraum nahezu unmöglich machen, und dies nach einer Phase, in der sie erhebliche Arbeitskraft und finanzielle Mittel in die Umsetzung von infektionsschutzrechtlichen Hygienekonzepten investiert haben. Das Gewicht dieses "Sonderopfers" wird aber dadurch gemildert, dass ihnen staatlicherseits Kompensationen für die zu erwartenden Umsatzausfälle in durchaus erheblichem Umfang in Aussicht gestellt worden sind (vgl. Beschluss der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder v. 28.10.2020: "Für die von den temporären Schließungen erfassten Unternehmen, Betriebe, Selbständige, Vereine und Einrichtungen wird der Bund eine außerordentliche Wirtschaftshilfe gewähren, um sie für finanzielle Ausfälle zu entschädigen. Der Erstattungsbetrag beträgt 75% des entsprechenden Umsatzes des Vorjahresmonats für Unternehmen bis 50 Mitarbeiter, womit die Fixkosten des Unternehmens pauschaliert werden. Die Prozentsätze für größere Unternehmen werden nach Maßgabe der Obergrenzen der einschlägigen beihilferechtlichen Vorgaben ermittelt. Die Finanzhilfe wird ein Finanzvolumen von bis zu 10 Milliarden haben."; veröffentlicht unter:https://www.bundesregierung.de/resource/blob/997532/1805024/5353edede6c0125ebe5b5166504dfd79/2020-10-28-mpk-beschluss-corona-data.pdf?download=1, Stand: 4.11.2020). Mit Blick auf die gravierenden, teils irreversiblen Folgen eines weiteren Anstiegs der Zahl von Ansteckungen und Erkrankungen für die hochwertigen Rechtsgüter Leib und Leben einer Vielzahl Betroffener sowie einer Überlastung des Gesundheitswesens ist dieser Eingriff indes von ihnen hinzunehmen.
59
(c) Derzeit ist aber nicht verlässlich zu klären, ob die in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Schließung von Fitnessstudios für den Publikumsverkehr und Besuche mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG zu vereinbaren ist.
60
Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebietet dem Normgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln (vgl. BVerfG, Beschl. v. 7.2.2012 - 1 BvL 14/07 -, BVerfGE 130, 240, 252 - juris Rn. 40; Beschl. v. 15.7.1998 - 1 BvR 1554/89 u.a. -, BVerfGE 98, 365, 385 - juris Rn. 63). Es sind nicht jegliche Differenzierungen verwehrt, allerdings bedürfen sie der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Differenzierungsziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind. Je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen reichen die Grenzen für die Normsetzung vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse. Insoweit gilt ein stufenloser, am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab, dessen Inhalt und Grenzen sich nicht abstrakt, sondern nur nach den jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereichen bestimmen lassen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 18.7.2012 - 1 BvL 16/11 -, BVerfGE 132, 179, 188 - juris Rn. 30; Beschl. v. 21.6.2011 - 1 BvR 2035/07, BVerfGE 129, 49, 69 - juris Rn. 65; Beschl. v. 21.7.2010 - 1 BvR 611/07 u.a. -, BVerfGE 126, 400, 416 - juris Rn. 79).
61
Hiernach sind die sich aus dem Gleichheitssatz ergebenden Grenzen für die Infektionsschutzbehörde weniger streng (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 17.4.2020- OVG 11 S 22/20 -, juris Rn. 25). Auch kann die strikte Beachtung des Gebots innerer Folgerichtigkeit nicht eingefordert werden (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 26.3.2020 - 5 Bs 48/20 -, juris Rn. 13). Zudem ist die sachliche Rechtfertigung nicht allein anhand des infektionsschutzrechtlichen Gefahrengrades der betroffenen Tätigkeit zu beurteilen. Vielmehr sind auch alle sonstigen relevanten Belange zu berücksichtigen, etwa die Auswirkungen der Ge- und Verbote für die betroffenen Unternehmen und Dritte und auch öffentliche Interessen an der uneingeschränkten Aufrechterhaltung bestimmter unternehmerischer Tätigkeiten (vgl. Senatsbeschl. v. 14.4.2020 - 13 MN 63/20 -, juris Rn. 62). Auch die Überprüfbarkeit der Einhaltung von Ge- und Verboten kann berücksichtigt werden (vgl. Senatsbeschl. v. 9.6.2020 - 13 MN 211/20 -, juris Rn. 41).
62
Dies zugrunde gelegt vermag der Senat im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes nur einen Verstoß der Verordnungsregelung gegen das Willkürverbot zu verneinen. Die in § 10 Abs. 1 und 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordneten Betriebsverbote und -beschränkungen beruhen auf der jedenfalls nicht schlichtweg sachfremden Erwägung, dass ein ganz erheblicher Teil der für das Infektionsgeschehen relevanten sozialen Kontakte von vorneherein verhindert werden muss, und dass diese Verhinderung neben den ganz erheblichen Beschränkungen von Kontakten im privaten Bereich am gemeinwohlverträglichsten durch Verbote und Beschränkungen in den Bereichen Freizeit, Sport, Unterhaltung und körpernaher Dienstleistungen erreicht werden kann. Ausgenommen sind grundrechtlich besonders geschützte Bereiche wie die Religionsausübung und öffentliche Versammlungen.
63
Die vom Antragsgegner vorgenommene unterschiedliche Behandlung von Fitnessstudios gegenüber vergleichbaren Einrichtungen und Lebensbereichen ist nicht willkürlich, d.h. evident unsachlich (vgl. zu diesem Maßstab BVerfG, Beschl. v. 9.5.1961 - 2 BvR 49/60 -, juris Rn. 40, Urt. v. 2.3.1999 - 1 BvL 2/91 -, juris Rn. 84). Der Senat hat bereits mehrfach festgestellt, dass körperliche Anstrengung mit einem besonderen Risiko für die Virenübertragung einhergeht (vgl. Senatsbeschl. v. 14.5.2020 - 13 MN 156/20 -, juris Rn. 37; v. 28.10.2020 - 13 MN 390/20 -, juris Rn. 32), so dass eine Ungleichbehandlung gegenüber Gottesdiensten, dem Einzelhandel und dem Friseurhandwerk (§ 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 b) der Niedersächsischen Corona-Verordnung) daran anknüpfen darf. Gegenüber Praxen von Physiotherapeuten, welche nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 a) der Niedersächsischen Corona-Verordnung nicht geschlossen sind, ist der Besuch eines Fitnessstudios keine ärztlich verordnete Behandlung. Gegenüber dem gemäß § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 der Verordnung hinsichtlich der Teilnehmerzahl stark eingeschränkten, aber zulässigen Individualsport innerhalb von Gebäuden, etwa Turnen oder Kampfsport, finden sich in Fitnessstudios regelmäßig größere Personenzahlen zusammen und findet auch eine größere Durchmischung statt. Dass Schul- (§ 13 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung) und Profisport (§ 16 der Verordnung) weiterhin zulässig ist, kann darauf zurückgeführt werden, dass Sport für diese Personengruppen nicht als Freizeit, sondern als (quasi-)berufliche Tätigkeit anzusehen ist und nur eine geringe Fluktuation innerhalb der Gruppe auftritt. Soweit der körperlichen Fitness zuzuordnende Volkshochschulkurse als Vergleich herangezogen werden, ist für den Senat nicht ersichtlich, dass sich diese außerhalb des Regimes des § 10 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung bewegen.
64
Die danach gegebene schlichte Beachtung des Willkürverbots ist angesichts des Umfangs der angeordneten Betriebsverbote und -beschränkungen und der damit verbundenen erheblichen Eingriffe in Grundrechte der Betriebsinhaber aber nicht ausreichend, um eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes verneinen zu können. Die vielmehr erforderliche Beurteilung, ob der Verordnungsgeber mit der getroffenen Auswahl von zu schließenden oder zu beschränkenden Betrieben unter Berücksichtigung des infektionsschutzrechtlichen Gefahrengrades der betroffenen Tätigkeiten und aller sonstigen relevanten Belange eine auf hinreichenden Sachgründen beruhende und angemessene Differenzierung tatsächlich erreicht hat, ist schon angesichts der Vielzahl und Vielgestaltigkeit von Fallkonstellationen aber in einem Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes nicht zu leisten. Sie muss vielmehr an dieser Stelle offenbleiben.
65
Klarstellend weist der Senat darauf hin, dass eine rechtfertigungsbedürftige Ungleichbehandlung sich nicht daraus ergeben kann, dass andere Länder von den niedersächsischen Anordnungen abweichende Schutzmaßnahmen getroffen haben. Voraussetzung für eine Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG ist, dass die Vergleichsfälle der gleichen Stelle zuzurechnen sind. Daran fehlt es, wenn die beiden Sachverhalte von zwei verschiedenen Trägern öffentlicher Gewalt gestaltet werden; der Gleichheitssatz bindet jeden Träger öffentlicher Gewalt allein in dessen Zuständigkeitsbereich (vgl. BVerfG, Beschl. v. 12.5.1987 - 2 BvR 1226/83 -, BVerfGE 76, 1, 73 - juris Rn. 151 m.w.N.). Ein Land verletzt daher den Gleichheitssatz nicht deshalb, weil ein anderes Land den gleichen Sachverhalt anders behandelt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 8.5.2008 - 1 BvR 645/08 -, juris Rn. 22 m.w.N.).
66
b. Die wegen der danach offenen Erfolgsaussichten gebotene Folgenabwägung führt dazu, dass die von der Antragstellerin geltend gemachten Gründe für die vorläufige Außervollzugsetzung die für den weiteren Vollzug der Verordnung sprechenden Gründe nicht überwiegen.
67
Würde der Senat die in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Schließung von Fitnessstudios für den Publikumsverkehr und Besuche vollständig (vgl. zur Unzulässigkeit von Normergänzungen im Normenkontrollverfahren: Senatsbeschl. v. 14.5.2020 - 13 MN 156/20 -, juris Rn. 5 m.w.N.) außer Vollzug setzen, bliebe der Normenkontrollantrag in der Hauptsache aber ohne Erfolg, könnte die Antragstellerin zwar vorübergehend die mit der Schutzmaßnahme verbundene Schließung vermeiden. Ein durchaus wesentlicher Baustein der komplexen Pandemiebekämpfungsstrategie des Antragsgegners würde aber in seiner Wirkung deutlich reduziert (vgl. zur Berücksichtigung dieses Aspekts in der Folgenabwägung: BVerfG, Beschl. v. 1.5.2020 - 1 BvQ 42/20 -, juris Rn. 10), und dies in einem Zeitpunkt eines äußerst dynamischen Infektionsgeschehens. Die Möglichkeit, eine geeignete und erforderliche Schutzmaßnahme zu ergreifen und so die Verbreitung der Infektionskrankheit zum Schutze der Gesundheit der Bevölkerung, einem auch mit Blick auf Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG überragend wichtigen Gemeinwohlbelang (vgl. BVerfG, Urt. v. 30.7.2008 - 1 BvR 3262/07 u.a. -, BVerfGE 121, 317, 350 - juris Rn. 119 m.w.N.), effektiver zu verhindern, bliebe hingegen zumindest zeitweise bis zu einer Reaktion des Verordnungsgebers (irreversibel) ungenutzt.
68
Würde hingegen die in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Schließung von Fitnessstudios für den Publikumsverkehr und Besuche nicht vorläufig außer Vollzug gesetzt, hätte der Normenkontrollantrag aber in der Hauptsache Erfolg, wäre die Antragstellerin vorübergehend zu Unrecht zur Befolgung der - für den Fall der Nichtbefolgung bußgeldbewehrten - Schutzmaßnahme verpflichtet und müsste ihre Räumlichkeiten für ihre Mitglieder schließen. Der damit jedenfalls verbundene Eingriff in ihr Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG würde für die Dauer der Verpflichtung, längstens für die Dauer eines Hauptsacheverfahrens, verfestigt. Dieser Eingriff ist nach Einschätzung des Senats fraglos von erheblichem Gewicht. Dieses Gewicht wird aber dadurch abgemildert, dass staatlicherseits Kompensationen für die zu erwartenden Umsatzausfälle in durchaus erheblichem Umfang in Aussicht gestellt worden sind. Der hiernach verbleibende Eingriff hat hinter dem mit der Maßnahme verfolgten legitimen Ziel eines effektiven Infektionsschutzes zurückzustehen und ist von der Antragstellerin vorübergehend hinzunehmen. Denn ohne diesen würde sich die Gefahr der Ansteckung mit dem Virus, der erneuten Erkrankung vieler Personen, der Überlastung der gesundheitlichen Einrichtungen bei der Behandlung schwerwiegender Fälle und schlimmstenfalls des Todes von Menschen auch nach den derzeit nur vorliegenden Erkenntnissen erheblich erhöhen (vgl. zu dieser Gewichtung: BVerfG, Beschl. v 7.4.2020 - 1 BvR 755/20 -, juris Rn. 10; Beschl. v. 28.4.2020 - 1 BvR 899/20 -, juris Rn. 12 f.).
69
In diese Folgenabwägung wird insbesondere auch eingestellt, dass die Verordnung gemäß ihres § 20 Abs. 1 mit Ablauf des 30. November 2020 außer Kraft tritt. Damit ist sichergestellt, dass die Verordnung unter Berücksichtigung neuer Entwicklungen der Corona-Pandemie fortgeschrieben werden muss. Hierbei hat der Antragsgegner - wie auch bei jeder weiteren Fortschreibung der Verordnung - hinsichtlich der im vorliegenden Verfahren relevanten Schließung zu untersuchen, ob es angesichts neuer Erkenntnisse etwa zu den Verbreitungswegen des Virus oder zur Gefahr einer Überlastung des Gesundheitssystems verantwortet werden kann, die Schließung unter - gegebenenfalls strengen - Auflagen weiter zu lockern (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.4.2020 - 1 BvQ 28/20 -, juris Rn. 16).
70
II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
71
III. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG. Es entspricht der ständigen Praxis des Senats, in Normenkontrollverfahren in der Hauptsache nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO grundsätzlich den doppelten Auffangwert im Sinne des § 52 Abs. 2 GKG, mithin 10.000 EUR, als Streitwert anzusetzen (vgl. Senatsbeschl. v. 31.1.2019 - 13 KN 510/18 -, Nds. Rpfl. 2019, 130 f. - juris Rn. 29). Dieser Streitwert ist für das Verfahren auf sofortige Außervollzugsetzung der Verordnung nach § 47 Abs. 6 VwGO zu halbieren.
72
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5 in Verbindung mit 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Tenor
1. Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Grünstadt vom 17. März 2020 wird als unbegründet verworfen, da die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Rechtsbeschwerderechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Betroffenen ergeben hat.
2. Der Beschwerdeführer trägt die Kosten seines Rechtsmittels (§ 473 Abs. 1 StPO).
Gründe
I.
1
Das Amtsgericht hat folgenden Sachverhalt festgestellt:
2
„Am 18.09.2019 befuhr der Betroffene um 10:18 mit dem Pkw Skoda, amtliches Kennzeichen KH-..., die BAB 6 in der Gemarkung Neuleinigen in Fahrtrichtung Saarbrücken. Bei Autobahnkilometer 588,650 wurde die Geschwindigkeit des Betroffenen mit dem Messgerät Poliscan-Speed mit 132 km/h gemessen. Nach Abzug der Toleranz von 4 km/h hat der Betroffene an der genannten Stelle die wegen der im Streckenverlauf ca. 40 Meter davor liegenden Fahrbahnverengung von 3 auf 2 Fahrspuren auf 100 km/h beschränkte Höchstgeschwindigkeit um 28 km/h überschritten. Im Streckenverlauf vor dem o.g. Streckenabschnitt besteht seit Jahrzehnten eine stationäre Geschwindigkeitsbeschränkung und zwar wird die zulässige Höchstgeschwindigkeit ab km 584,0 wegen des steilen und kurvenreichen Anstiegs ohne Standspur am sog. Leininger Berg durch beidseitig der Fahrbahn aufgestellte Zeichen 274 stationär zunächst auf 130 km/h begrenzt, worauf etwa bei km 584,200 eine Begrenzung auf 100 km/h folgt, die im Bereich des Anstiegs und nach Erreichen der Kuppe noch mehrfach – zuletzt bei km 587,5 – wiederholt wird, bis schließlich etwa bei km 589,050 eine Aufhebung dieser stationären Geschwindigkeitsbegrenzung erfolgt. Bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt hätte der Betroffene die Geschwindigkeitsbeschränkung sowie den Umstand, dass er die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritt, ohne weiteres erkennen können.“ Der Bußgeldrichter des Amtsgerichts hat diesen Sachverhalt als fahrlässiges Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um 28 km/h und damit als Verstoß gegen §§ 24 StVG, 41 Abs. 1 i.V.m. Anlage 2, 49 StVO gewürdigt und deshalb im unter leichter Erhöhung des Bußgeldes nach Nr. 11.3.5 BKatV wegen einer einen Tag zuvor rechtskräftig gewordenen Ahndung wegen einer Abstandsunterschreitung ein Bußgeld von 100 Euro verhängt.“
3
Zu der vorausgehenden Ahndung hat das Amtsgericht festgestellt:
4
„Wegen einer am 20.05.2019 auf der BAB 6 in der Gemarkung Bruchmühlbach-Miesau begangenen Abstandsunterschreitung (von weniger als 4/10 des halben Tachowerts bei einer Geschwindigkeit von 99 km/h) setzte die Zentrale Bußgeldstelle Speyer am 30.07.2019 gegen ihn eine Geldbuße von 100,- Euro fest, Az. 1360027186. Der Bußgeldbescheid wurde am 17.09.2019 rechtskräftig.“
5
Hiergegen wendet sich der Betroffene mit seiner Rechtsbeschwerde, die er auf die Sachrüge stützt.
6
Insbesondere führt er aus, die „neue StVO“ sei wegen eines Zitierfehlers des Gesetzgebers „nicht in Kraft getreten“, was sich wegen § 4 Abs. 3 OWiG auch auf Tatzeitpunkte vor dem 28. April 2020 auswirke. Da nach dem 28. April 2020 die Androhung von Geldbußen für die betroffene Handlung ganz weggefallen sei, sei dieser Rechtszustand als das mildere Gesetz im Sinne des § 4 Abs. 3 OWiG anzusehen, weswegen das Verfahren nach § 46 Abs. 1 OWiG iVm. § 206 b StPO einzustellen sei. Die Gesetzesänderung sei auch noch im Rechtsbeschwerdeverfahren zu berücksichtigen.
7
Der Einzelrichter des Senats hat die Rechtsbeschwerde mit Beschluss vom 13. Oktober 2020 zur Fortbildung des materiellen Rechts zugelassen und die Sache zur Entscheidung auf den Senat mit drei Richtern übertragen, § 80 a Abs. 3 OWiG.
II.
8
Die zulässige Rechtsbeschwerde hat in der Sache keinen Erfolg.
9
Eine Betrachtung der Rechtslage nach der Verkündung der 54. Verordnung zur Änderung verkehrsrechtlicher Vorschriften (BGBl. I vom 27. April 2020, S. 814 ff.) führt nicht zu einer günstigeren Gesetzeslage für den Betroffenen hinsichtlich der Geschwindigkeitsüberschreitung vom 18. September 2019. Das angefochtene Urteil beruht – auch bei Berücksichtigung der nach dem 28. April 2020 bestehenden Rechtslage im Rechtsbeschwerdeverfahren – nicht auf einer Verletzung des materiellen Rechts.
10
1. Zutreffend verweist die Rechtsbeschwerde im Ausgangspunkt allerdings darauf, dass auch noch im Rechtsbeschwerdeverfahren auf die Sachrüge hin zu überprüfen ist, ob sich die materielle Rechtslage zu Gunsten des Betroffenen geändert hat, § 4 Abs. 3 OWiG (sog. lex mitior-Regel; vgl. zu den Grundlagen KK-OWiG/Rogall, 5. Aufl. 2018, OWiG § 4 Rn. 20). Ebenfalls zutreffend nimmt die Rechtsbeschwerde dabei an, dass als „milderes Gesetz“ auch ein zwischenzeitlich eingetretener Rechtszustand anzusehen ist, in dem eine Strafbarkeit (im Falle des gleichlautenden § 2 Abs. 3 StGB) oder eine Ahndungsfähigkeit als Ordnungswidrigkeit (im Falle des § 4 Abs. 3 OWiG) ganz weggefallen ist (vgl. v.a. aus dem Gebiet des Wirtschaftsstraf- und bußgeldrechts BGH, NStZ-RR 2019, 49, 50; NJW 2017, 966 Rn. 4; NStZ 1992, 535, 536; Reckmann, NZWiSt 2020, 293; Esser in: Esser/Rübenstahl/Saliger/Tsambikakis, Wirtschaftsstrafrecht, § 2 StGB Rn. 4 ff.; Krenberger, in: Haus/Krumm/Quarch, Gesamtes Verkehrsrecht, 2. Aufl. 2017, § 4 OWiG Rn. 4).
11
2. Nach vorherrschender Auffassung, der der Senat beitritt, ist dem Verordnungsgeber der 54. Verordnung zur Änderung verkehrsrechtlicher Vorschriften (a.a.O.; StVRÄndV; verkürzend sog. StVO-Novelle 2020) durch die unterlassene Nennung der gesetzlichen Ermächtigung aus § 26 a Abs. 1 Nr. 3 StVG ein Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Zitiergebot aus § 80 Abs. 1 Satz 3 GG unterlaufen, da trotz der unterlassenen Zitierung auch Regeln der Bußgeldkatalogverordnung geändert wurden, die mit der Verhängung von Fahrverboten im Zusammenhang stehen (BeckOK StVR/Friedrich, 8. Ed. 1.7.2020, StVO § 39 Rn. 92 a ff.; Koehl, NJ 2000, 394; Krumm, DAR 2020, 476; Fromm, DAR 2020, 527, 528; siehe zusätzlich zum Ablauf des Verordnungsgebungsverfahrens Ipsen, NVwZ 2020, 1326, 1327 ff.). Damit hat der Verordnungsgeber seine Rechtssetzungsbefugnis nur unvollständig nachgewiesen. Bei einer Verordnung, die auf mehreren gleichstufigen Ermächtigungsnormen beruht (sog. horizontale Ermächtigungsmehrheit) ist dies nur dann der Fall, wenn sämtliche Ermächtigungsnormen genannt werden (so BVerfG, Urteil vom 6. Juli 1999 – 2 BvF 3/90, BVerfGE 101, 1 Ls 1 a; Beschluss vom 01. April 2014 – 2 BvF 1/12 –, BVerfGE 136, 69 Rn. 99 – Gigaliner; Beschluss vom 18. Juni 2019 – 1 BvR 587/17 –, BVerfGE 151, 173 Rn. 17-19 – Subdelegierte Verordnung; Maunz/Dürig/Remmert, 91. EL April 2020, GG Art. 80 Rn. 127, 130). Das Zitiergebot hat Vergewisserungsfunktion und Begrenzungsfunktion für den Verordnungsgeber und dient der Nachprüfbarkeit der Verordnungsgebung für den Adressaten (vgl. zum Vorstehenden zusätzlich Leibholz/Rinck/Hesselberger in: Leibholz/Rinck, Grundgesetz, 80. Lieferung 03.2020, Art. 80 GG Rn. 256).
3. a.
12
Die nach der am 27. April 2020 erfolgten Verkündung eingetretene Rechtslage betreffend die im geschilderten Rahmen fehlerhaften 54. Verordnung zur Änderung verkehrsrechtlicher Vorschriften hat für den hier zu beurteilenden Fall jedoch – anders als die Rechtsbeschwerde meint – nicht zu einer Situation geführt, in der das verfahrensgegenständliche Verhalten des Betroffenen nicht oder nicht mehr in gleicher Höhe mit einem Bußgeld zu ahnden wäre. Deshalb kommt eine Einstellung nach § 46 Abs. 1 OWiG iVm. § 206 b StPO nicht in Betracht. Auch eine Zurückverweisung an das Amtsgericht zur Neubemessung der Rechtsfolge ist nicht angezeigt. Dies erklärt sich aus den Rechtsfolgen des Verstoßes gegen das Zitiergebot.
b.
13
Zu den Folgen des Verstoßes gegen das Zitiergebot werden verschiedene Ansichten vertreten, wobei weitgehend (vgl. Sandherr, DRiZ 2020, 386; BeckOK StVR/Friedrich, 8. Ed. 1.7.2020, StVO § 39 Rn. 92 a ff.) eine Teilnichtigkeit für die die Fahrverbote betreffenden Änderungen der BKatV angenommen wird: In der populären Diskussion wird z.T. angenommen, durch den Zitierfehler sei die Verordnung insgesamt nichtig und es trete ein Zustand ohne Regelung ein, ggf. so weitgehend dass neben der Bußgeldkatalogverordnung (BKatV) z.B. auch die Straßenverkehrsordnung (StVO) nicht mehr wirksam seien (Sandherr, DRiZ 2020, 386, 387 spricht von sich „überschlagenden Expertenmeinungen“). Auf diesen Standpunkt stellt sich die Rechtsbeschwerde. Hierfür lässt sich indes nur auf den ersten Blick die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Hennenhaltungsverordnung, BVerfG, Urteil vom 6. Juli 1999 – 2 BvF 3/90, BVerfGE 101, 1, anführen, aus der sich ergibt, dass ein Verstoß gegen das Zitiergebot des § 80 Abs. 1 Satz 3 GG die Nichtigkeit einer Verordnung zur Folge hat. Dies führte im dortigen Fall dazu, dass keine Verordnungsregelung mehr eingriff. Allerdings lag dieser Entscheidung der erstmalige Erlass einer Verordnung zugrunde, eine Vorgängerregelung war nicht existent. Anders liegt der Fall indes bei den verkehrsrechtlichen Vorschriften. Sowohl die StVO als auch die BKatV wurden lediglich geändert, nicht aber ersetzt oder erstmals erlassen. Die (Teil-)Nichtigkeit der Änderungsverordnung führt deshalb im Umfang der Nichtigkeit zur Fortgeltung des Rechts in der bisherigen Fassung, wovon auch die Bundesregierung – abgestimmt mit den Ländern – ausgeht, wenn sie von einer Nichtigkeit von Art. 3 der StVRÄndV und einer Nichtanwendung der Änderungen der BKatV spricht (vgl. die Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage von Abgeordneten der Fraktion B.´90/Die Grünen, BT-Drs. 19/23215 vom 8. Oktober 2020, S. 5, https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/232/1923215.pdf). Insofern folgt die Nichtanwendung der neuen Regeln und das Wiederaufleben der bisherigen Regeln aber nicht aus der Übereinkunft der exekutiven Stellen, sondern aus der ipso iure eintretenden (Teil-)Nichtigkeit der Änderungsverordnung, die auch zur Nichtigkeit der darin enthaltenen Aufhebung der Vorgängervorschrift führt (vgl. BVerfGE 102, 197 juris-Rn. 85 – Spielbank-Gesetz BW; BVerfGE 104, 126 juris-Rn. 67 – Dienstbeschädigungsteilrenten; Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge/Hömig, 60. EL Juli 2020, BVerfGG, § 95 Rn. 39; Paulus, NJW 2011, 3686, 3689; konkret z.B. zu Mindeslohnanpassungsverordnungen Riechert/Nimmerjahn, MiLoG, 2. Auflage 2017, MiLoG § 11 Rechtsverordnungen, Rn. 37; nicht zutreffend insoweit die Ansicht von Fromm, DAR 2020, 527, 528).
14
Das OLG Oldenburg hat folgerichtig für die vorangegangene größere Novelle der StVO aus dem Jahr 2013 entschieden, gegen die ebenfalls Einwände betreffend die Einhaltung des Zitiergebots erhoben wurden, dass selbst eine hypothetische Gesamtnichtigkeit dieser Verordnung – von der das Oberlandesgericht in diesem Fall nicht ausging – automatisch den davor bestehenden Rechtsstand wiederherstellen würde, so dass es bei den vorher gültigen Regeln bliebe (OLG Oldenburg, Beschluss vom 8. Oktober 2020 – 2 Ss (OWi) 230/20, juris Rn. 10 ff.).
15
4. Das angefochtene Urteil leidet auch im Übrigen nicht an einem mit der Sachrüge angreifbaren Rechtsfehler, insbesondere ist das zugrunde gelegte Messergebnis entgegen der Rechtsprechung des Saarländischen Verfassungsgerichtshofs, Urteil vom 5. Juli 2019 – Lv 7/17, verwertbar (vgl. Senatsbeschluss vom 11. Februar 2020 – 1 OWi 2 SsBs 122/19, juris Rn. 8). Die Erhöhung der Geldbuße im Hinblick auf die hinreichend dargestellte Voreintragung des Betroffenen bewegt sich im Rahmen der tatrichterlichen Befugnisse und ist nicht zu beanstanden. Die in der Bußgeldkatalogverordnung vorgesehenen Regelahndungen gehen nämlich von fahrlässiger Begehung, gewöhnlichen Tatumständen und fehlenden Vorahndungen eines Betroffenen aus (vgl. BayObLG Beschluss vom 1. Oktober 2019 – 202 ObOWi 1797/19, BeckRS 2019, 28174 Rn. 6 unter Verweis auf die §§ 1 Abs. 2, 3 Abs. 1 BKatV). Angesichts der Höhe des verhängten Bußgeldes war eine ausdrückliche Erörterung der wirtschaftlichen und persönlichen Verhältnisse nicht angezeigt (vgl. KG Berlin, NZV 2019, 360 mit jedenfalls im Ergebnis zust. Anm. Krenberger).
16
5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 46 OWiG, § 473 Absatz 1 StPO. Eine Ermäßigung der Gebühr oder teilweise Auferlegung der notwendigen Auslagen auf die Staatskasse aus Gründen der Billigkeit (§ 473 Abs. 4 StPO) ist nicht angezeigt.
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Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das am 20.05.2020 verkündete Urteil der 3. Zivilkammer des Landgerichts Paderborn (3 O 612/19) wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens werden dem Kläger auferlegt.
Dieser Beschluss und das angefochtene Urteil sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger kann die Zwangsvollstreckung aus diesem Beschluss und dem angefochtenen Urteil durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % der aufgrund des Beschlusses bzw. des Urteils vollstreckbaren Beträge abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Der Wert des Streitgegenstandes für die Berufungsinstanz wird auf bis zu 22.000,00 EUR festgesetzt.
1Gründe
2Die zulässige Berufung hat aus den zutreffenden Gründen der angefochtenen Entscheidung, die durch das Berufungsvorbringen nicht entkräftet werden, keine Aussicht auf Erfolg. Die Rechtssache hat auch keine grundsätzliche Bedeutung und eine Entscheidung aufgrund mündlicher Verhandlung ist zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung ebenfalls nicht erforderlich ( § 522 Abs. 2 S. 1 ZPO).
3Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die Gründe des Senatsbeschlusses vom 21.09.2020 Bezug genommen.
4Das Vorbringen des Klägers im Schriftsatz vom 15.10.2020 rechtfertigt keine andere Entscheidung in der Sache.
5Soweit der Kläger sein Schadensersatzbegehren darauf stützt, dass eine (weitere) unzulässige Abschalteinrichtung in Form eines Thermofensters in das streitgegenständliche Fahrzeug implementiert worden und auch nach dem Aufspielen des Software-Updates immer noch vorhanden gewesen sei, vermag der Vortrag einen Anspruch des Klägers aus § 826 BGB nicht zu begründen. Es fehlt an einem vorsätzlichen sittenwidrigen Verhalten der Beklagten.
6Ein sittenwidriges Verhalten käme bei dem Einsatz eines Thermofensters nur dann in Betracht, wenn über die bloße Kenntnis von dem Einbau einer Einrichtung mit der in Rede stehenden Funktionsweise in den streitgegenständlichen Motor hinaus zugleich auch Anhaltspunkte dafür erkennbar wären, dass dies von Seiten der Beklagten in dem Bewusstsein geschah, hiermit möglicherweise gegen die gesetzlichen Vorschriften zu verstoßen und dieser Gesetzesverstoß zumindest billigend in Kauf genommen wurde (OLG München, Urteil vom 20.01.2020, 21 U 5072/19, zitiert nach juris; OLG Köln, Beschluss vom 04.07.2019, 3 U 148/18, zitiert nach juris). Dies lässt sich im Streitfall nicht feststellen. Anders als in den Fällen einer Umschaltlogik betreffend den Fahrzeugtestbetrieb, in denen sich aufdrängt, dass eine solche gesetzeswidrig ist, kann dies für ein Thermofenster nicht ohne weiteres vermutet werden. Der insoweit maßgebliche Art. 5 Abs. 2 S. 2 a) VO (EG) 715/2007 ist im Hinblick auf die Zulässigkeit von Thermofenstern keineswegs eindeutig und lässt divergierende Auslegungen zu. So weist die vom Bundesverkehrsministerium eingesetzte Untersuchungskommission „X“ in ihrem Bericht zur Auslegung der Ausnahmevorschrift des Art. 5 Abs. 2 S. 2 a) VO (EG) 715/2007 darauf hin, dass die Verwendung von Abschalteinrichtungen mit der Begründung, dass eine Abschaltung erforderlich sei, um den Motor vor Beschädigungen zu schützen und um den sicheren Betrieb des Fahrzeugs zu gewährleisten, angesichts der Unschärfe der Bestimmung, die auch weite Interpretationen zulasse, nicht zu beanstanden sei und damit möglicherweise ein Verstoß gegen die Verordnung nicht vorliege (BMVI, Bericht der Untersuchungskommission Volkswagen, Stand April 2016, Seite 123). Vor diesem Hintergrund fehlen greifbare Anhaltspunkte für ein „Erschleichen“ der EG- Typengenehmigung mittels des Thermofensters durch die Beklagte (so im Ergebnis auch OLG Hamm, Urteil vom 28.09.2020, 8 U 17/20; OLG Hamm, Urteil vom 12.08.2020, 30 U 192/19; OLG Düsseldorf, Urteil vom 12.03.2020, 5 U 110/19, zitiert nach juris; OLG Hamm, Urteil vom 18.02.2020, 19 U 29/19; OLG Stuttgart, Urteil vom 30.07.2019, 10 U 134/19; OLG Dresden, Urteil vom 16.07.2019, 9 U 567/19, zitiert nach juris; OLG Koblenz, Urteil vom 18.06.2019, 3 U 416/19 zitiert nach juris; OLG).
7Dem Kläger steht auch kein Schadensersatzanspruch gegen die Beklagte aus §§ 311 Abs. 2, 3, 280 BGB zu. Die Beklagte hat an den Vertragsverhandlungen zwischen dem Kläger und der U GmbH weder als Vertreter, Vermittler oder sog. Sachwalter teilgenommen (vgl. Palandt- Grüneberg, BGB, 79. Aufl., § 311 Rdnr. 60), so dass es auf die Frage, ob der Beklagten am Abschluss des hiesigen Kaufvertrages ein eigenes wirtschaftliches Interesse zukommt oder sie hierbei ein besonderes persönliches Vertrauen in Anspruch genommen und dadurch die Vertragsverhandlungen oder den Vertragsschluss erheblich beeinflusst hat, nicht (mehr) ankommt.
8Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711 S. 1 ZPO.
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Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar. Der Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 v.H. des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Vollstreckungsgläubigerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 v.H. des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
1T a t b e s t a n d
2Die Beteiligten streiten um die Erteilung einer Baugenehmigung für eine Plakatwerbetafel.
3Die Klägerin, ein Unternehmen der Außenwerbung, beantragte am 25. August 2016 eine Baugenehmigung für eine Plakatwerbetafel mit den Maßen 3,75 m x 2,75 m. Die Plakatfläche soll beleuchtet werden. Der geplante Standort der Anlage ist ein an der R straße in B. , gelegenes Hausgrundstück. Dort soll die Werbetafel an die westliche Giebelwand des Mehrfamilienwohnhauses mit der Anschrift R straße 62, B. , angebracht werden.
4Ein Bebauungsplan besteht nicht.
5Östlich des Vorhabengrundstücks schließt sich auf der nördlichen Seite der R straße eine Häuserzeile ( R straße 62 bis 54) an, in der neben Wohnnutzungen eine Postfiliale, ein Imbiss und ein Nagelstudio vorhanden ist. Auf dem benachbarten Grundstück ( R straße 48) befindet sich ein freistehendes Gebäude (früheres Bankgebäude), das als Eiscafé mit vorgelagerter Terrasse genutzt wird.
6Vom Vorhabengrundstück aus in Richtung Westen liegt auf der nördlichen Seite der R straße (68 bis 84) eine Bäckerei/Café, ein Steuerberaterbüro und ein Fachhandel für Bürobedarf. An der Giebelwand des Hauses R straße 70 befindet sich eine mit dem Vorhaben vergleichbare Werbetafel, die von der Beklagten nach ihren Angaben genehmigt wurde.
7Südlich der R straße (Hausnummern 33 bis 45) befinden sich zwischen der Einmündung der V. Straße und der T. Straße eine Kirche und eine Kindertagesstätte sowie Wohnhäuser. In den Wohnhäusern R straße 41 und 39 wird im Erdgeschoss und auf den zur Straße gelegenen Freiflächen ein Handel mit Kraftfahrzeugen betrieben, den die Beklagte mit Bescheid vom 26. März 2020 baurechtlich genehmigt hat.
8Mit Bescheid vom 11. Januar 2017 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin ab und führte im Wesentlichen aus, dass die nähere Umgebung des Vorhabens einem allgemeinen Wohngebiet entspreche. Dort seien Anlagen der Fremdwerbung unzulässig.
9Die Klägerin hat am 13. Februar 2017 Klage erhoben und macht im Wesentlichen geltend: Das geplante Vorhaben sei bauplanungs- und bauordnungsrechtlich zulässig. Die nähere Umgebung des Vorhabengrundstücks sei als ein faktisches Mischgebiet bzw. als atypisches Gebiet zu qualifizieren, in welchem Anlagen der Fremdwerbung ohne Weiteres zulässig seien. Die nähere Umgebung sei gewerblich eingeprägt. Das ergebe sich insbesondere aus dem an der R straße betriebenen Autohandel, dem Büromaschinenbetrieb sowie der bereits vorhandenen Werbetafel eines Mitbewerbers an der Fassade des Hauses R straße 70.
10Die Klägerin beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
11die Beklagte unter Aufhebung ihres Versagungsbescheides vom 11. Januar 2017 zu verpflichten, die nachgesuchte Baugenehmigung zur Anbringung einer Plakatwerbetafel auf dem Grundstück B. , Gemarkung B. , Flur, Flurstück, zu erteilen.
12Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
13die Klage abzuweisen.
14Zur Begründung verweist sie auf die Gründe des angegriffenen Versagungsbescheids.
15Der Berichterstatter hat am 19. September 2019 und am 22. Oktober 2020 Ortstermine durchgeführt. Auf die jeweilige Protokollniederschrift wird verwiesen. Die Beteiligten haben auf mündliche Verhandlung verzichtet und ihr Einverständnis mit der Entscheidung durch den Vorsitzenden erklärt.
16Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten ergänzend Bezug genommen.
17E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
18Die Klage, über die das Gericht im Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch den Vorsitzenden entscheidet, §§ 101 Abs. 2, 87a Abs. 2 VwGO hat keinen Erfolg.
19Der Versagungsbescheid des Beklagten vom 11. Januar 2017 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
20Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erteilung der nachgesuchten Baugenehmigung für eine Plakatwerbetafel.
21Heranzuziehen sind die Vorschriften der Bauordnung NRW alter Fassung (BauO NRW a.F.).
22Die Klägerin hat ihren Bauantrag mit bescheidungsfähigen Bauvorlagen bis zum 31. Dezember 2018 bei der Beklagten eingereicht. In diesem Fall ordnet die Übergangsvorschrift in § 90 Abs. 4 Satz 1 der Bauordnung NRW 2018 (BauO NRW 2018) an, dass Bauanträge entsprechend den Anforderungen der BauO NRW a.F. zu bescheiden sind. Der allgemeine Grundsatz, wonach es für die Beurteilung von streitigen Ansprüchen auf Erteilung einer Baugenehmigung regelmäßig auf die Rechtslage zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ankommt, wird hier durch die speziellere Zeitpunktregelung in § 90 Abs. 4 BauO NRW 2018 verdrängt.
23Nach § 75 Abs. 1 Satz 1 der BauO NRW a.F. ist die beantragte Baugenehmigung zu versagen, wenn einem genehmigungsbedürftigen Vorhaben (dazu unter 1.) öffentlich rechtliche Vorschriften entgegenstehen (dazu unter 2.), wie es hier der Fall ist.
241. Das geplante Vorhaben ist genehmigungsbedürftig.
25Gemäß § 63 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW a.F. bedarf es für die Errichtung, die Änderung, die Nutzungsänderung, und den Abbruch baulicher Anlagen sowie anderer Anlagen und Einrichtungen im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW a.F. der Baugenehmigung. Genehmigungsbedürftige "andere Anlagen bzw. Einrichtungen" zeichnen sich dadurch aus, dass sie Anforderungen unterliegen, die in den Vorschriften der Bauordnung NRW geregelt sind. Die Vorschrift des § 13 BauO NRW a.F. regelt Anforderungen an Werbeanlagen. Werbeanlagen sind nach § 13 Abs. 1 S. 1 BauO NRW a.F. Anlagen der Außenwerbung. Darunter versteht die Vorschrift alle ortsfesten Einrichtungen, die der Ankündigung oder Anpreisung oder als Hinweis auf Gewerbe oder Beruf dienen und vom öffentlichen Verkehrsraum sichtbar sind.
26Gemessen daran ist das Vorhaben schon deswegen nach Maßgabe der Bauordnung NRW a.F. zu beurteilen, weil es die Anforderung aus § 13 BauO NRW a.F. zu erfüllen hat. Die geplante Plakatanschlagtafel ist nämlich eine Werbeanlage im Sinne dieser Vorschrift. Die Tafel dient der Anpreisung von Produkten, soll durch die Verbindung mit der Hauswand auf dem Vorhabengrundstück ortsfest ausgeführt werden und wird vom öffentlichen Verkehrsraum aus sichtbar sein. Damit ist das Vorhaben auch grundsätzlich genehmigungsbedürftig.
27Die geplante Werbetafel ist nicht etwa ausnahmsweise genehmigungsfrei.
28Nach § 63 Abs. 1 Satz 1, 2 Halbsatz BauO NRW a.F. gilt die Genehmigungsbedürftigkeit von Vorhaben nur, soweit in den §§ 65 bis 66, 79 und 80 BauO NRW a.F. nichts anderes bestimmt ist. Die Genehmigungsfreistellung von Werbeanlagen ist in den Nrn. 33 bis 35 des § 65 Abs. 1 BauO NRW a.F. geregelt. Nach der hier allein in Betracht kommenden Nr. 33 der Vorschrift sind Werbeanlagen "bis zu einer Größe von 1 m²" genehmigungsfrei. Dieses Maß wird von der streitbefangenen Werbeanlage erkennbar überschritten (Größe rund 10 m²).
292. Das geplante Vorhaben verstößt gegen öffentlich-rechtliche Vorschriften.
30Dem Vorhaben der Errichtung einer Plakatwerbetafel steht entgegen, dass der gewählte Standort in einem allgemeinen Wohngebiet liegt. Damit ist ein Verstoß gegen § 13 Abs. 4 Satz 1 BauO NRW a.F. gegeben. Nach dem 1. Halbsatz dieser Vorschrift sind - im Umkehrschluss - Werbeanlagen in allgemeinen Wohngebieten in aller Regel als baurechtlich unzulässig anzusehen.
31Zulässig sind nach der dort geregelten Ausnahme neben Werbeanlagen für amtliche Mitteilungen und zur Unterrichtung der Bevölkerung über kirchliche, kulturelle, politische, sportliche oder ähnliche Veranstaltungen allein solche Werbeanlagen, die ihren Standort "an der Stätte der Leistung" besitzen. Eine Stätte der Leistung muss dort angenommen werden, wo eine beworbene Ware bzw. Dienstleistung nicht nur hergestellt, erbracht, angeboten, gelagert oder verwaltet, sondern auch direkt von einem potenziellen Abnehmer nachgefragt wird,
32Vgl. dazu Johlen, in: Gädkte/Czepuck/Johlen/Plietz/
33Wenzel, BauO NRW Kommentar, 12. Auflage 2011, § 13 Rn. 111 m.w.N.
34Diese Qualität besitzt das Vorhabengrundstück nicht. Die geplante Plakatwerbetafel zielt nicht auf Eigenwerbung, sondern ausschließlich auf eine Fremdwerbung ab.
35Die zwischen den Beteiligten strittige Frage, ob der gewählte Standort der Werbeanlage in einem "allgemeinen Wohngebiet" im Sinne des § 13 Abs. 4 Satz 1 BauO NRW a.F. liegt, hat die Beklagte zutreffend bejaht.
36Für die Feststellung, ob eine Werbeanlage in einem derartigen Gebietstypus liegt, gelten die nachfolgenden Grundsätze.
37Zunächst ist klarzustellen, dass auch im - hier gegebenen - unbeplanten Innenbereich die Bezugnahme des § 13 Abs. 4 Satz 1 BauO NRW a.F. auf den planungsrechtlichen Gebietstypus "allgemeines Wohngebiet" (vgl. dazu § 4 der Baunutzungsverordnung - BauNVO - ) anwendbar ist. In einem solchem Bereich, in dem es an einer planungsrechtlichen Baugebietsfestsetzung fehlt, ist die Eigenart der tatsächlichen Bebauung und Nutzung in der näheren Umgebung für den (faktischen) Gebietstypus maßgeblich.
38Vgl. Boeddinghaus/Hahn/Schulte, Bauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen, Kommentar, Stand: März 2016, § 13 Rn. 130 ff.
39Die nähere Umgebung ist dabei jedoch nicht unbesehen anhand der Kriterien des § 34 Abs. 1 BauGB zu bestimmen. Dort kommt es ‑ wegen des planungsrechtlichen Zieles der Vorschrift ‑ zur Bestimmung der näheren Umgebung im Wesentlichen darauf an, wie sich das Vorhaben auf die Umgebung auswirkt und wie die Umgebung auf das Vorhaben einwirkt bzw. die Umgebung den bodenrechtlichen Charakter des Baugrundstücks prägt oder doch beeinflusst.
40Vgl. schon: Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 26. Mai 1978 – 4 C 9.77 –, juris Rn. 33.
41Demgegenüber verfolgt § 13 BauO NRW a.F. gerade keine bauplanungsrechtliche Zielsetzung, sondern als Ausdruck der insoweit bestehenden landesrechtlichen Regelungskompetenz eine baugestalterische Zielsetzung. Daraus folgt wiederum, dass bei der Bestimmung der maßgeblichen näheren Umgebung im Sinne des § 13 Abs. 4 BauO NRW a.F. nicht allein auf den Standort abgestellt werden darf. Es kommt hier stärker auf die Auswirkungen der Werbeanlage auf die Umgebung als auf die Prägung des Standortes durch die Umgebung an.
42Vgl. Johlen in: Gädtke/Czepuck/Johlen/Plietz/ Wenzel, BauO NRW Kommentar, 12. Auflage 2011, § 13 Rn. 120 f.
43Insbesondere muss das Baugestaltungsrecht nicht notwendig dem Bauplanungsrecht folgen, wenn Wohngebiete unmittelbar an Gewerbegebiete oder ähnliche Gebietstypen angrenzen und eine Beeinträchtigung des Wohngebietes bauordnungsrechtlich nicht vermeidbar ist. Denn es bleibt auch dann noch sinnvoll, Wohngebiete vor gestalterischen Auswirkungen der Wirtschaftswerbung zu schützen, wenn eine bauplanungsrechtliche Beeinträchtigung des Wohngebietes durch ein Gewerbegebiet oder ähnliche Gebiete nicht auszuschließen ist.
44Vgl. OVG NRW, Urteil vom 24. November 1983 ‑ 11 A 581/82 – Baurechtssammlung (BRS) Bd. 40 Nr. 158.
45Die nähere Umgebung ist bei Anwendung des § 13 Abs. 4 BauO NRW a.F. regelmäßig enger zu fassen als bei der nach § 34 BauGB erforderlichen Beurteilung. Nach Maßgabe des § 13 Abs. 4 BauO NRW a.F. ist nämlich in besonderer Weise auf den optischen Einwirkungsbereich der Werbeanlage abzustellen.
46Vgl. OVG NRW, Urteil vom 24. November 1983 ‑ 11 A 581/82 – BRS Bd. 40 Nr. 158; Johlen in: Gädtke/Czepuck/Johlen/Plietz/Wenzel, BauO NRW a. F.Kommentar, 12. Auflage 2011, § 13 Rn. 120 f.
47Gemessen an diesen Grundsätzen ist die Beklagte bei der Anwendung des § 13 Abs. 4 BauO NRW a.F. zutreffend davon ausgegangen, dass die nähere Umgebung des Vorhabens einem allgemeinen Wohngebiet entspricht.
48Zur Bestimmung des hier maßgeblichen Gebietstypus zieht das Gericht im Wesentlichen einen westlich des Vorhabens gelegenen Abschnitt der R straße und ihrer beidseitigen Bebauung heran, der sich vom Vorhaben bis zur ca. 100 m entfernten Einmündung der T. Straße erstreckt. Die Plakatanschlagtafel soll an der westlichen Hauswand des Hauses R straße 64 angebracht werden. Sie ist also nur für diejenigen optisch wirksam, die von Westen kommend in Richtung Ortsteilzentrum Atsch gehen oder fahren. Die Tafel entfaltet ihre optische Wirkung nur in westliche Richtung.
49Der westlich gelegene Bereich – bis zur Einmündung T. Straße – ist trotz der gewerblichen Nutzungen als allgemeines Wohngebiet zu qualifizieren, weil er vorwiegend durch Wohnbebauung geprägt ist, vgl. § 4 Abs. 1 BauNVO. Die in diesem Bereich in Wohnhäusern untergebrachten gewerblichen Nutzungen (Bäckerei/Café, Kfz-Handel, Fachhandel für Bürobedarf) ändern an dem Charakter als allgemeines Wohngebiet nichts. Sie sind, wie im Übrigen auch das Steuerberaterbüro (§ 13 BauNVO), in allgemeinen Wohngebieten zulässig und damit gebietstypisch. Die Bäckerei/Café ist nach Maßgabe des § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO als wohngebietstypisch zu qualifizieren und damit allgemein zulässig. Der Fachhandel für Bürobedarf ist in einem Wohngebiet nicht ausgeschlossen, vgl. § 4 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO. Auch der vor und in den Wohnhäusern R straße 39 und 41 vorhandene Kraftfahrzeughandel ist aufgrund seines geringen Betriebsumfanges (Ausstellungsfläche zur Straße für nur 8 Fahrzeuge, keine Fahrzeugreparatur) als ein Betrieb anzusehen, der nach § 4 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO im allgemeinen Wohngebiet ausnahmsweise als sonstiger nicht störender Gewerbebetrieb zugelassen werden kann, vgl. § 4 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO. Dies ist durch die zwischenzeitlich erteilte Baugenehmigung der Beklagten vom 26. März 2020 auch geschehen. Die vorhandene Werbetafel an der Fassade des Hauses R straße 70 ist bei einer rein planungsrechtlichen Beurteilung als gewerbliche Hauptnutzung ebenfalls nach § 4 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO ausnahmsweise zulässig.
50Der Einwand der Klägerin, mit dieser Werbetafel an der Fassade des Hauses R straße 70 sei eine mit dem Vorhaben vergleichbare Werbetafel genehmigt und errichtet worden, wird von der Beklagten eingeräumt. Allerdings verstößt die in Bezug genommene Werbetafel ebenso wie das Vorhaben der Klägerin in bauordnungsrechtlicher Hinsicht gegen § 13 Abs. 4 BauO NRW a.F. Ein Anspruch auf Erteilung einer Baugenehmigung kann aber nicht darauf gestützt werden, dass er in einem vergleichbaren Fall zu Unrecht bejaht wurde, vgl. Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes ("keine Gleichbehandlung im Unrecht").
51Nach alledem war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.
52Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11 Alt. 2, 709 Satz 2, 711 ZPO.
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Tenor
Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen vom 17.7.2020 wird abgelehnt.
Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 15.000,00 Euro festgesetzt.
Gründe:
1Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
2Das Zulassungsvorbringen der Klägerin begründet keine ernstlichen Zweifel an der (Ergebnis-)Richtigkeit des angefochtenen Urteils nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Zweifel in diesem Sinn sind anzunehmen, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Verwaltungsgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt werden.
3Vgl. BVerfG, Beschluss vom 16.4.2020 – 1 BvR 2705/16 –, NVwZ-RR 2020, 905 = juris, Rn. 21, m. w. N.
4Die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Klägerin habe die Klagefrist gemäß § 74 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 VwGO nicht gewahrt, wird durch die Antragsbegründung nicht schlüssig in Frage gestellt.
5Das Verwaltungsgericht hat festgestellt, dass der die Erteilung einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis für die „Halle rechts“, I. Straße 000 in E. , ablehnende Bescheid der Beklagten vom 12.12.2018 den Bevollmächtigten der Klägerin im Wege der Ersatzzustellung gemäß § 3 LZG NRW i. V. m. § 180 ZPO durch Einlegen in den Briefkasten am 4.1.2019 förmlich zugestellt, die Klage aber erst am 6.2.2019 verspätet erhoben worden sei. Die Zustellung am 4.1.2019 sei durch die Zustellungsurkunde belegt, die als öffentliche Urkunde gemäß § 3 Abs. 2 LZG NRW i. V. m. § 182 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. § 418 Abs. 1 ZPO den vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen erbringe, hier also für das Einlegen des Schriftstücks in den Briefkasten zu dem angegebenen Zeitpunkt. Einen nach § 418 Abs. 2 ZPO zulässigen Beweis der Unrichtigkeit der bezeugten Tatsachen habe die Klägerin weder erbracht noch angetreten. Die Darstellung in der vorgelegten eidesstattlichen Erklärung der in der Kanzlei der Prozessbevollmächtigten der Klägerin beschäftigten Rechtsanwaltsfachangestellten sei nicht geeignet, die Beweiswirkung der Zustellungsurkunde vollständig zu entkräften. Sie lasse nicht den sicheren Schluss zu, dass sich der Zustellungsvorgang in Wahrheit anders zugetragen habe und der Zusteller somit die Zustellung falsch beurkundet habe.
6Der geltend gemachte Umstand, dass die Rechtsmittelfrist ausgehend von dem Datum des Auffindens des zugestellten Schriftstücks im Briefkasten der Geschäftsräume der Prozessbevollmächtigten der Klägerin, nämlich dem 8.1.2019, an dem auch der Eingangsstempel der Kanzlei angebracht worden ist, notiert worden ist, stellt die Annahme des Verwaltungsgerichts, der Gegenbeweis für die beurkundete Zustellung am 4.1.2019 sei weder erbracht noch angetreten, nicht schlüssig in Frage. Die angeführte Dauerkontrolle des Briefkastens der früheren Kanzleiräume nach dem Mitte November 2018 erfolgten Umzug in neue Geschäftsräume bis Ende des Jahres 2018 und die Übergabe der Briefkastenschlüssel an die Verwaltergesellschaft zum Jahresende sind für die beurkundete Zustellung unter der neuen Anschrift zu Beginn des Jahres 2019 ohnehin unerheblich. Die Würdigung des Verwaltungsgerichts, wonach ein Fehler in der Organisation der Kanzlei den mit dem Posteingang und der Fristenkontrolle befassten Bediensteten unterlaufen sein könne, wird aber auch durch die auf die aktenkundige eidesstattliche Erklärung einer Beschäftigten gestützte Schilderung der üblichen Abläufe zur regelmäßigen Briefkastenleerung von montags bis freitags jeweils gegen 10.00 Uhr sowie zur Handhabung bei der Berechnung der Rechtsmittelfrist nicht widerlegt. Die keinem Beweis zugängliche bloße Behauptung, es sei ausgeschlossen, dass ein Schriftstück von freitags bis dienstags unbemerkt im Briefkasten gelegen habe, entkräftet nicht die Ausführungen des Verwaltungsgerichts, wonach denkbar sei, dass im fraglichen Zeitraum, zumal zum Ende der Weihnachtsferien, die beschriebenen regelmäßigen Abläufe aus irgendwelchen Gründen gestört gewesen seien bzw. das Schriftstück versehentlich zu spät erfasst und mit einem unzutreffenden Eingangsstempel versehen worden sei.
7Die von den Prozessbevollmächtigten der Klägerin geäußerten Zweifel an der Zuverlässigkeit der Q. lassen den nach geltendem Recht zu führenden Gegenbeweis nicht entbehrlich werden. Es ergibt sich unmittelbar aus dem Gesetz und ist überdies höchstrichterlich geklärt, dass eine (private) Zustellungsurkunde gemäß § 182 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. § 418 Abs. 1 ZPO wie eine öffentliche Urkunde den vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen begründet.
8Vgl. BFH, Urteil vom 17.11.2015 – X R 3/14 –, BFH/NV 2016, 922 = juris, Rn. 12.
9Der danach erforderliche Beweis einer Falschbeurkundung wird nicht durch den Hinweis darauf erbracht oder auch nur angetreten, dass es in Einzelfällen zu Fehlern bei der Zustellung insbesondere durch private Postdienstleistungsunternehmen gekommen sei. Grundsätzlich kann man darauf vertrauen, werktags im Bundesgebiet aufgegebene Postsendungen würden unabhängig davon, ob sie bei der Deutschen Post AG oder bei privaten lizenzierten Postdienstleistungsunternehmen aufgegeben werden, nach der üblichen Postlaufzeit grundsätzlich am folgenden Werktag im Bundesgebiet ausgeliefert.
10Vgl. BFH, Beschluss vom 15.5.2019 – XI R 14/17 –, BFH/NV 2019, 924 = juris, Rn. 11, m. w. N.; zu den rechtlichen Vorgaben durch § 2 Nr. 3 Satz 1 Post-Universaldienstleistungsverordnung OVG NRW, Beschluss vom 25.7.2019 – 4 A 349/18.A –, NJW 2019, 3738 = juris, Rn. 5, m. w. N.
11Gemessen daran ist eine Zustellung des Ablehnungsbescheids vom 12.12.2019 am 4.1.2019 hier auch unter Berücksichtigung des Vorbringens der Klägerin nicht denklogisch ausgeschlossen, zumal dieser Bescheid ausweislich einer Aktennotiz der Beklagten nach einem gescheiterten Zustellversuch unter der alten Kanzleianschrift „mit Datum vom 02.01.19“ erneut an die neuen Geschäftsräume der Prozessbevollmächtigten der Klägerin versandt worden war. Die Behauptung, die Q. stelle freitags niemals Post zu, die gesamte Wochenpost werde grundsätzlich samstags zugestellt, wenn keine Mitarbeiter im Büro seien, erschüttert nicht die Beweiskraft der Beurkundung der in Rede stehenden konkreten Zustellung am Freitag, dem 4.1.2019. Das gilt umso mehr, weil das eigene Vorbringen der Klägerin, die Zustellung sei am 8.1.2019, einem Dienstag, erfolgt, hierzu im Widerspruch steht.
12Die weitere Annahme des Verwaltungsgerichts, der Klägerin sei keine Wiedereinsetzung in die versäumte Klagefrist nach § 60 VwGO zu gewähren, weil nicht dargetan sei, dass ihre Prozessbevollmächtigten bei der Fristenkontrolle die übliche Sorgfalt eines ordentlichen Anwalts angewandt hätten, wird durch die bloße Behauptung, ein Verschulden auf Seiten der Kanzlei gebe es nicht, nicht schlüssig in Zweifel gezogen. Insoweit ist das Verwaltungsgericht in Einklang mit höchstrichterlicher Rechtsprechung davon ausgegangen, dass die übliche Sorgfalt eines ordentlichen Anwalts es bei Fehlen des Zustellungsdatums auf dem Umschlag des zugestellten Schriftstücks erfordert, im Rahmen der Fristenkontrolle durch Nachfrage bei der Behörde nach dem Datum der auf der Postzustellungsurkunde vermerkten Zustellung den Zeitpunkt der Zustellung zu ermitteln.
13Vgl. BFH, Beschluss vom 1.9.2008 – IV B 137/07 –, BFH/NV 2009, 200 = juris, Rn. 19.
14Dass dies geschehen sein könnte, ist weder vorgetragen noch ersichtlich.
15Die Berufung ist auch nicht wegen der geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen. Die aufgeworfene Frage,
16welcher Beweiswert (Zustellungs‑) Urkunden der Q. zukommt,
17lässt sich unmittelbar aus dem Gesetz (§ 182 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. § 418 Abs. 1 ZPO) beantworten und ist überdies, wie ausgeführt, höchstrichterlich bereits geklärt.
18Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
19Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 GKG.
20Dieser Beschluss ist nach § 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG unanfechtbar.
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Tenor
Das Verfahren wird eingestellt.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 15.000,00 Euro festgesetzt.
1Gründe:
2Nachdem die Beteiligten den Rechtsstreit übereinstimmend für in der Hauptsache erledigt erklärt haben, ist das Verfahren gemäß § 87a Abs. 1 und 3 VwGO in entsprechender Anwendung von § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen.
3Die Kostenentscheidung beruht auf § 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO. Es entspricht der Billigkeit, der Antragsgegnerin die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen. Sie wäre ohne erledigendes Ereignis (Aufhebung der Ordnungsbehördlichen Verordnung vom 31.8.2020 über die Freigabe verkaufsoffener Sonntage im Jahr 2020) voraussichtlich unterlegen. Wie der Senat bereits in seinem Beschluss vom 4.9.2020 – 4 B 1329/20.NE – ausgeführt hat, ist die in Rede stehende Verordnung dem verfassungsrechtlichen Schutzauftrag aus Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV zweifelsfrei nicht gerecht geworden.
4Für die Kostenentscheidung ist unerheblich, dass sich die Antragstellerin erst nach der von der Antragsgegnerin bis zum 26.8.2020 gesetzten Anhörungsfrist mit Schreiben vom 3.9.2020 gegen die verkaufsoffenen Sonntage am 6.9.2020 und 25.10.2020 – zur Freigabe des 29.11.2020 aus anderen als ursprünglich geplanten Gründen hatte die Antragsgegnerin schon nicht angehört – gewandt hat. Es liegt auch nicht auf der Hand, dass die Antragstellerin schon durch fristgerecht erhobene Einwände den Erlass der Verordnung und damit das Entstehen der Verfahrenskosten hätte vermeiden können. Die ablehnende Rechtsposition der Antragstellerin zu den geplanten Sonntagsfreigaben war der Antragsgegnerin am Donnerstag, den 3.9.2020, um 15.03 Uhr, per Fax mitgeteilt worden, ohne dass die Antragsgegnerin dies zum Anlass genommen hatte, von der Verordnung bereits zum damaligen Zeitpunkt Abstand zu nehmen. Vielmehr sah sie sich zur Aufhebung erst nach der stattgebenden Entscheidung des Senats vom 4.9.2020 – 4 B 1329/20.NE – und der darin enthaltenen Hinweise auf die hierfür maßgeblichen verfassungsrechtlichen Maßstäbe veranlasst.
5Vgl. hierzu: OVG NRW, Beschluss vom 28.8.2020 – 4 B 1261/20.NE –, juris, Rn. 38.
6Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1 GKG. Für die Freigabe der Ladenöffnung an Sonntagen zieht der Senat in ständiger Praxis je Sonntag den Auffangstreitwert heran.
7Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 25.4.2019 – 4 B 480/19.NE –, StGR 2019, Nr. 6, 34 = juris, Rn. 78, und vom 10.6.2016 – 4 B 504/16 –, NVwZ-RR 2016, 868 = juris, Rn. 48 ff., m. w. N.
8Dieser Beschluss ist gemäß § 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG unanfechtbar.
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Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Beklagte zu 85% und der Kläger zu 15%.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
1Tatbestand:
2Der Kläger buchte am 9. Januar 2020 einen Hin- und Rückflug von Frankfurt am Main nach Venedig für sich, seine Ehefrau und seine zwei minderjährigen Kinder. Die Flüge sollten jeweils am 06. April 2020 und am 14. April 2020 durchgeführt werden. Sie wurden dann annulliert, was der Kläger am 14. März 2020 über einen Blick auf die Internetseite der Beklagten feststellte. Der Kläger stornierte seine Buchung am 16 März 2020. Der Erhalt der Stornierung wurde ihm auch bestätigt. Nachdem er keine Rückzahlung erhalten hatte, forderte er die Beklagte am 24. März 2020 und am 18 Mai 2020 schriftlich zur Zahlung auf. Bevor er die zweite Zahlungsaufforderung versendete, wurde ihm in einem Gespräch mit der Kundenhotline der Beklagten versichert, dass die Erstattung im System der Beklagten verbucht sei und auf dem ursprünglichen Zahlungsweg erfolgen werde.
3Der Kläger hat wegen einer Forderung in Höhe von 517,14 Euro den Erlass eines Mahnbescheids beantragt. Dieser ist am 19.06.2020 erlassen worden. Die Beklagte hat gegen den Mahnbescheid Widerspruch erhoben, der am 03.07.2020 am Amtsgericht Hünfeld eingegangen ist. Am 21.07.2020 ist das Verfahren an das Amtsgericht Köln abgegeben worden. Nachdem die Beklagte am 28. Juli 2020 einen Betrag von 477,24 Euro gezahlt hat, haben die Parteien den Rechtsstreit in Höhe von 477,24 Euro übereinstimmend für erledigt erklärt. Die Beklagte hat für den erledigten Teil des Rechtsstreits die Kostentragungspflicht anerkannt.
4Nunmehr beantragt der Kläger,
5die Beklagte zu verurteilen, an ihn 40,00 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der EZB seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
6Die Beklagte beantragt,
7die Klage abzuweisen.
8Die Beklagte ist der Ansicht, dass es sich bei dem ursprünglich geltend gemachten Forderung nicht um eine Entgeltforderung handele.
9Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.
10Entscheidungsgründe:
11I.
12Die Klage ist zulässig, aber nicht begründet.
13Der Kläger hat keinen Anspruch aus §§ 280 Abs. 1, 2, 286 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 288 Abs. 5 S. 1 BGB auf die Zahlung einer Pauschale in Höhe von 40,00 Euro gegen die Beklagte. Die Beklagte ist nicht mit einer Entgeltforderung im Sinne des § 288 Abs. 5 BGB in den Verzug geraten. Der Begriff der Entgeltforderung in § 288 Abs. 2 und 5 BGB stammt aus der Richtlinie 2011/7/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 zur Bekämpfung der Zahlung im Geschäftsverkehr, bzw. der vorigen Richtlinie 2000/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. Juni 2000 (EU-Zahlungsverzugsrichtlinie), und ist genauso auszulegen wie in § 286 Abs. 3 BGB (BGH, Urteil vom 16. 6. 2010 - VIII ZR 259/09 -, Rn. 10-12 = NJW 2010, 3226, 3226; Palandt/Grüneberg, 79. Auflage 2020, § 288 Rn. 8, 15). Der Gesetzgeber wollte bei der Umsetzung der EU-Zahlungsverzugsrichtlinie die Beschränkung auf Entgeltforderungen, die diese in den Erwägungsgründen 8, 11 sowie Art. 1 Abs. 2 vornimmt, übernehmen (Stellungnahme des BR zu dem von der BReg. vorgelegten Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts, BT-Dr 14/6857, S. 1; Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses des BT, BT-Dr 14/7052, S. 187). Eine Entgeltforderung ist eine Geldforderung, die die Gegenleistung für eine vom Gläubiger erbrachte oder zu erbringende Leistung ist, die in der Lieferung von Gütern oder der Erbringung von Dienstleistungen besteht (BGH, Urteil vom 21. 4. 2010 - XII ZR 10/08-, Rn. 23 = NJW 2010, 1872, 1873; BGH, Urteil vom 16. 6. 2010 - VIII ZR 259/09 -, Rn. 12 = NJW 2010, 3226, 3226; Palandt/Grüneberg, 79. Auflage 2020, § 286 Rn. 27). Entgeltlichkeit ist nicht identisch mit einer gegenseitigen Verknüpfung von Leistung und Gegenleistung, sondern liegt immer dann vor, wenn die Leistung des einen Teils Bedingung für die Entstehung der Verpflichtung des anderen Teils ist (BGH, Urteil vom 16.06.2010 -VIII ZR 259/09-, Rn. 13 = NJW 2010, 3226, 3227). Die Zahlung ist das dann das wirtschaftliche Gegenüber zu der erbrachten oder noch zu erbringenden Leistung. Kaufpreisforderungen, Miete sowie Pacht sind demnach Entgeltforderungen (BeckOK/Lorenz, 55. Edition 2020, § 286 BGB Rn. 40), genauso wie der handelsrechtliche Ausgleichanspruch nach § 89b HGB (BGH, Urteil vom 16. 6. 2010 -VIII ZR 259/09-, Rn. 14 = NJW 2010, 3226, 3227; Palandt/Grüneberg, 79. Auflage 2020, § 286 Rn. 27). Demgegenüber sind Schadensersatzforderungen, Ansprüche aus Rücktritt (§ 346 BGB) oder der Rückgewähranspruch nach der Ausübung eines Widerrufsrechts aus dem Verbraucherschutz (§ 357 BGB) keine Entgeltforderungen (OLG Nürnberg, Endurteil vom 26.7.2017 – 2 U 17/17 Rn. 40 = NJW-RR 2017, 1263, 1266; Palandt/Grüneberg, 79. Auflage 2020, § 286 Rn. 27; MüKo/Ernst, 8. Auflage 2019, § 286 BGB Rn. 82; für § 357 Abs. 1 BGB: Korch NJW 2015, 2212, 2213-2215; a.A. Emde NJW 2019, 2270). Hier kommt es nicht darauf an, ob der ursprüngliche Anspruch auf eine Entgeltforderung gerichtet war. Deswegen kann auch die zu dem ursprünglichen Verweis auf § 286 Abs. 3 BGB in der bis 13.6.2014 geltenden Fassung des § 357 Abs. 1 Satz 2 BGB vertretene Ansicht, dieser sei nur deklaratorisch gewesen, nicht überzeugen (OLG Nürnberg, Endurteil vom 26.7.2017 – 2 U 17/17 Rn. 40 = NJW-RR 2017, 1263, 1266). Der mit der Klage ursprünglich geltend gemachte Anspruch auf Rückzahlung aus dem Vertrag zwischen den Parteien bzw. aus Art. 5 Abs. 1 lit. a der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91, ist vergleichbar mit einem verbraucherrechtlichen Anspruch nach dem Ausüben eines Widerrufsrechts. Die Rückzahlung des Flugpreises ist nicht darauf ausgerichtet, dass der Fluggast eine Gegenleistung in Form einer Dienstleistung oder der Lieferung von Gütern erbringt. Die Fluggesellschaft kommt mit der Rückzahlung lediglich ihren gesetzlichen Pflichten nach. Auch wenn die Beklagte aus dem ursprünglichen Beförderungsvertrag eine Entgeltforderung geltend machen konnte, da sie selbst als Gegenleistung die Beförderungsleistung erbringen sollte, gilt dies nicht umgekehrt für die Rückforderung des Flugpreises nach Annullierung. Diese beiden Ansprüche sind getrennt zu betrachten.
14II.
15Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO. Soweit die Parteien den Rechtsstreit übereinstimmend in Höhe von 477,24 Euro für erledigt erklärt haben, sind der Beklagten nach § 91a Abs. 1 BGB die Kosten des Rechtsstreits gemäß ihrem Kostenanerkenntnis aufzuerlegen. Im Übrigen, also für die nach der Erledigung noch verlangten 40,00 Euro trägt der Kläger die Kosten. Eine Kostenbeteiligung ist diesbezüglich in Höhe von 15% angemessen. Zwar machen die 40,00 Euro weniger als 10% der Hauptforderung aus. Jedoch hat ihre Weiterverfolgung zu deutlich höheren Verfahrenskosten geführt, weil erst dadurch die vollen Gerichtsgebühren angefallen sind. Überschlägig sind es 15% (=70,00 Euro weitere Gerichtskosten / ca. 420,00 Euro Verfahrenskosten insgesamt).
16III.
17Die sonstigen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 708 Nr. 11, 711, 713 ZPO.
18Streitwert bis zum 01.09.2020: 517,24 Euro
19Streitwert ab dem 02.09.2020: 40,00 Euro
20Rechtsbehelfsbelehrung (die Ausführungen zu C) gelten nur insoweit, wie die Kostenentscheidung auf § 91a ZPO beruht):
21A) Gegen dieses Urteil ist das Rechtsmittel der Berufung für jeden zulässig, der durch dieses Urteil in seinen Rechten benachteiligt ist,
221. wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 600,00 EUR übersteigt oder
232. wenn die Berufung in dem Urteil durch das Amtsgericht zugelassen worden ist.
24Die Berufung muss innerhalb einer Notfrist von einem Monat nach Zustellung dieses Urteils schriftlich bei dem Landgericht Köln, Luxemburger Str. 101, 50939 Köln, eingegangen sein. Die Berufungsschrift muss die Bezeichnung des Urteils, gegen das die Berufung gerichtet wird, sowie die Erklärung, dass gegen dieses Urteil Berufung eingelegt werde, enthalten.
25Die Berufung ist, sofern nicht bereits in der Berufungsschrift erfolgt, binnen zwei Monaten nach Zustellung dieses Urteils schriftlich gegenüber dem Landgericht Köln zu begründen.
26Die Parteien müssen sich vor dem Landgericht Köln durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen, insbesondere müssen die Berufungs- und die Berufungsbegründungsschrift von einem solchen unterzeichnet sein.
27Mit der Berufungsschrift soll eine Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift des angefochtenen Urteils vorgelegt werden.
28B) Gegen die Streitwertfestsetzung ist die Beschwerde an das Amtsgericht Köln statthaft, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200,00 EUR übersteigt oder das Amtsgericht die Beschwerde zugelassen hat. Die Beschwerde ist spätestens innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, bei dem Amtsgericht Köln, Luxemburger Str. 101, 50939 Köln, schriftlich in deutscher Sprache oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. Die Beschwerde kann auch zur Niederschrift der Geschäftsstelle eines jeden Amtsgerichtes abgegeben werden.
29Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann die Beschwerde noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
30C) Gegen die Kostengrundentscheidung ist das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde zulässig, wenn der Wert der Hauptsache 600,00 EUR und der Wert des Beschwerdegegenstandes 200,00 EUR übersteigt. Die sofortige Beschwerde ist bei dem Amtsgericht Köln, Luxemburger Str. 101, 50939 Köln oder dem Landgericht Köln, Luxemburger Str. 101, 50939 Köln schriftlich in deutscher Sprache oder zur Niederschrift der Geschäftsstelle eines jeden Amtsgerichts einzulegen.
31Die sofortige Beschwerde muss die Bezeichnung des angefochtenen Beschlusses sowie die Erklärung enthalten, dass sofortige Beschwerde gegen diesen Beschluss eingelegt wird. Sie ist zu unterzeichnen und soll begründet werden.
32Die sofortige Beschwerde muss spätestens innerhalb einer Notfrist von zwei Wochen bei dem Amtsgericht Köln oder dem Landgericht Köln eingegangen sein. Dies gilt auch dann, wenn die sofortige Beschwerde zur Niederschrift der Geschäftsstelle eines anderen Amtsgerichts abgegeben wurde. Die Frist beginnt mit der Zustellung des Beschlusses, spätestens mit Ablauf von fünf Monaten nach Erlass des Beschlusses.
33Hinweis zum elektronischen Rechtsverkehr:
34Die Einlegung ist auch durch Übertragung eines elektronischen Dokuments an die elektronische Poststelle des Gerichts möglich. Das elektronische Dokument muss für die Bearbeitung durch das Gericht geeignet und mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der verantwortenden Person versehen sein oder von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg gemäß § 130a ZPO nach näherer Maßgabe der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (BGBl. 2017 I, S. 3803) eingereicht werden. Weitere Informationen erhalten Sie auf der Internetseite www.justiz.de.
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt.
Der Streitwert wird für das Zulassungsverfahren auf 12.000 Euro festgesetzt.
Gründe:
1Der zulässige Antrag ist unbegründet.
2Aus den innerhalb der Frist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO dargelegten Gründen ergeben sich weder ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (Zulassungsgrund gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) noch ein der Beurteilung des Senats unterliegender Verfahrensmangel, auf dem die Entscheidung des Verwaltungsgerichts beruhen kann (Zulassungsgrund gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO).
3Stützt der Rechtsmittelführer seinen Zulassungsantrag auf den Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, muss er sich mit den entscheidungstragenden Annahmen des Verwaltungsgerichts auseinandersetzen. Dabei muss er den tragenden Rechtssatz oder die Feststellungen tatsächlicher Art, die er mit seinem Antrag angreifen will, bezeichnen und mit schlüssigen Gegenargumenten infrage stellen. Daran fehlt es hier.
4Das Verwaltungsgericht hat die Klage des Klägers mit dem Antrag, den Beklagten zu verpflichten, ihm unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 23. Mai 2019 den beantragten Vorbescheid für die Errichtung von zwei Garagen auf dem Grundstück in B., Gemarkung B., Flur 37, Flurstücke 193, 333/197 und 385 (im Folgenden: Vorhaben) zu erteilen, abgewiesen. Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens sei nach § 35 BauGB zu beurteilen. Die zur Bebauung vorgesehenen Teile des besagten Grundstücks (im Folgenden: Vorhabengrundstück) seien nicht Bestandteil eines Bebauungszusammenhangs im Sinne des § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB, wie sich aus den zutreffenden Entscheidungsgründen des Urteils der 8. Kammer des Verwaltungsgerichts vom 19. Oktober 2010 – 8 K 2707/10 – ergebe, auf die insoweit zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen werde. An der Grundstückssituation habe sich, wie aus den vor Ort getroffenen Feststellungen folge, gegenüber dem Jahr 2010 nichts geändert. Das Vorhaben sei als sonstiges Vorhaben nach § 35 Abs. 2 BauGB unzulässig, weil es öffentliche Belange im Sinne des § 35 Abs. 3 BauGB beeinträchtige, was sich aus den Ausführungen in dem Urteil vom 19. Oktober 2010 ergebe, auf die insoweit ebenfalls verwiesen werde. Dass der Kläger seinerzeit einen Vorbescheid für ein Wohnhaus und nicht – wie nunmehr – für zwei Garagen begehrt habe, führe zu keiner anderen Beurteilung.
5Ohne Erfolg rügt der Kläger, das Vorhabengrundstück sei Teil eines von der Bebauung entlang der Straße T. gebildeten Bebauungszusammenhangs. In der verfahrensfehlerfrei – hierzu unten – in Bezug genommenen Begründung des Urteils vom 19. Oktober 2010 hat die 8. Kammer des Verwaltungsgerichts demgegenüber ausgeführt, der Bebauungszusammenhang ende südöstlich des T1. mit der Bebauung auf dem Flurstück 386 (T. 61) und umfasse nicht die von dort bis zur Bebauung auf dem Flurstück 450 (T. 97) reichende Freifläche, zu der auch das Vorhabengrundstück gehöre. Das Haus T. 97 stehe isoliert im Außenbereich.
6Diese Bewertung des Verwaltungsgerichts ist angesichts der abgesetzten Lage des Hauses T. 97 anhand der vorliegenden Karten und Luftbilder nachvollziehbar. Der Kläger setzt dem allein entgegen, dass die Freifläche wegen ihrer vergleichsweise geringen Ausdehnung als „Baulücke“ anzusehen sei. Tatsächlich spricht jedoch gerade die auch von ihm angesprochene Kompaktheit der Bebauung entlang des T1. bis zu der Bebauung auf dem Flurstück 386, an die sich die besagte Freifläche anschließt, gegen die Annahme eines Bebauungszusammenhangs über diese Bebauung hinaus, denn maßgeblich für einen solchen Bebauungszusammenhang ist der Eindruck der Geschlossenheit, den das Verwaltungsgericht aber hinsichtlich des Hauses T. 97, gestützt auf eine Ortsbesichtigung, verneint hat.
7Die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass das Vorhaben als sonstiges Vorhaben nach § 35 Abs. 2 BauGB unzulässig sei, weil es öffentliche Belange im Sinne des § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 7 BauGB beeinträchtige, zieht der Kläger mit seinem Zulassungsantrag nicht in Zweifel. Das Vorhaben stellt sich – hiervon ist das Verwaltungsgericht zutreffend ausgegangen – als Anschlussbebauung in den Außenbereich dar. Dies genügt bereits an sich, um es als siedlungsstrukturell unerwünscht zu qualifizieren. In § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 7 BauGB sind mit dem Entstehen, der Verfestigung und der Erweiterung einer Splittersiedlung lediglich typische Fälle einer solchen zu missbilligenden Siedlungsentwicklung genannt.
8Vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 24. Februar 1994 – 4 B 15.94 –, juris, Rn. 4, und Urteil vom 25. Januar 1985 – 4 C 29.81 –, juris, Rn. 9 f.; OVG NRW, Beschluss vom 24. Februar 2014 – 2 A 741/13 –, juris, Rn. 26, mit weiteren Nachweisen.
9Dass es sich bei dem Vorhaben nicht um eine Wohnzwecken dienende bauliche Anlage handelt, schließt eine Beeinträchtigung öffentlicher Belange unter dem Aspekt der unerwünschten Erweiterung einer Splittersiedlung nicht aus. Nicht nur Wohnhäuser tragen zur Zersiedlung des Außenbereichs bei, sondern auch Gebäude, die anderen Zwecken dienen sollen und selbst keinen Bebauungszusammenhang vermitteln können. Hierzu zählen beispielsweise Garagen, Carports oder Stellplätze.
10Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 27. November 2018 – 2 A 1560/17 –, juris, Rn. 28, mit weiteren Nachweisen.
11Ob das Vorhaben zudem den Darstellungen des Flächennutzungsplans widerspricht, ist demnach nicht ausschlaggebend.
12Ein der Beurteilung des Senats unterliegender Verfahrensmangel gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO, auf dem das angegriffene erstinstanzliche Urteil beruhen kann, ergibt sich aus dem Zulassungsvorbringen nicht.
13Der Kläger rügt, das Verwaltungsgericht habe zur Begründung seiner Entscheidung lediglich pauschal auf das Urteil der 8. Kammer des Verwaltungsgerichts vom 19. Oktober 2010 – 8 K 2707/10 – Bezug genommen. Ein damit etwaig sinngemäß geltend gemachter Begründungsmangel liegt nicht vor.
14Nicht mit Gründen versehen im Sinne des § 138 Nr. 6 VwGO ist eine gerichtliche Entscheidung nur dann, wenn die Entscheidungsgründe ihre Funktion, die Beteiligten über die ihr zugrunde liegenden tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen zu unterrichten und gegebenenfalls dem Rechtsmittelgericht die Nachprüfung der Entscheidung auf ihre inhaltliche Richtigkeit in prozessrechtlicher und materiell-rechtlicher Hinsicht zu ermöglichen, nicht mehr erfüllen. Auch eine Bezugnahme beispielsweise auf den Inhalt von Schriftstücken oder den anderer gerichtlicher Entscheidungen kann diesen Zweck erfüllen, sofern die Beteiligten das in Bezug genommene Schriftstück oder die gerichtliche Entscheidung kennen oder von deren jeweiligem Inhalt ohne Schwierigkeiten Kenntnis nehmen können und sofern sich für sie und gegebenenfalls das Rechtsmittelgericht aus einer Zusammenschau der Ausführungen in der Bezug nehmenden Entscheidung und dem in Bezug genommenen Schriftstück beziehungsweise der in Bezug genommenen anderen gerichtlichen Entscheidung die für die richterliche Überzeugung maßgeblichen Gründe mit hinreichender Klarheit ergeben.
15Vgl. BVerwG, Beschluss vom 3. Dezember 2008 – 4 BN 25.08 –, juris, Rn. 9, mit weiteren Nachweisen.
16Das von dem Verwaltungsgericht zur Begründung seiner Entscheidung in Bezug genommene Urteil der 8. Kammer des Verwaltungsgerichts vom 19. Oktober 2010 in dem Verfahren 8 K 2707/10, das den seinerzeit von dem Kläger geltend gemachten Anspruch, den Beklagten zu verpflichten, ihm einen Vorbescheid für die Errichtung eines Wohngebäudes auf dem Vorhabengrundstück zu erteilen, zum Gegenstand hatte, ist den Beteiligten bekannt. Es ist etwa auch in dem von dem Verwaltungsgericht beigezogenen Verwaltungsvorgang des Beklagten enthalten, der dem Prozessbevollmächtigten des Klägers zur Einsichtnahme übersandt worden ist. Der Beklagte hatte bereits in seinem Klageerwiderungsschriftsatz vom 11. November 2019 auf das Urteil vom 19. Oktober 2010 verwiesen. Die Bezugnahmen hierauf in dem angegriffenen Urteil sind entgegen der Auffassung des Klägers auch hinreichend klar. Die Textpassagen in dem Urteil vom 19. Oktober 2010, in denen die 8. Kammer des Verwaltungsgerichts seinerzeit die Zuordnung des Grundstücks zum Außenbereich begründet hat, sind eindeutig identifizierbar. Nichts anderes gilt für die Ausführungen zur Beeinträchtigung öffentlicher Belange im Sinne des § 35 Abs. 3 BauGB durch das seinerzeit in Rede stehende Bauvorhaben.
17Ohne Erfolg rügt der Kläger zudem, das Verwaltungsgericht habe seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, indem es ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entschieden habe. Einen unbedingten Verzicht auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung habe er nicht erklärt. Aufgrund der Beweiskraft der über den Ortstermin vom 29. Juni 2020 angefertigten Niederschrift (§ 98 VwGO, § 415 ZPO), deren Korrektur der Kläger nicht auf dem dafür vorgeschriebenen Weg der Protokollberichtigung zu erreichen versucht hat, ist jedoch davon auszugehen, dass die Beteiligten und damit auch der anwaltlich vertretene Kläger die Erklärung, auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu verzichten – so wie vorgelesen und genehmigt – unbedingt abgegeben haben.
18Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 VwGO.
19Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 40, 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 GKG. Gemäß § 52 Abs. 1 GKG ist der Streitwert in Verfahren vor den Gerichten der Verwaltungsgerichtsbarkeit nach der sich aus dem Antrag des Klägers für ihn ergebenden Bedeutung der Sache nach Ermessen zu bestimmen. Der Senat orientiert sich bei der Ausübung seines Ermessens in ständiger Praxis an dem Streitwertkatalog der Bausenate des Oberverwaltungsgerichts vom 22. Januar 2019 (BauR 2019, 619), der unter Nr. 2 Buchstabe d für Klagen, die die Erteilung einer Baugenehmigung für die Errichtung von Garagen zum Gegenstand haben, einen Streitwert von 4.000 Euro je Pkw vorsieht und unter Nr. 5 für Klagen auf Erteilung eines Vorbescheids einen Rahmen von 50 bis 100 Prozent des Genehmigungsstreitwerts vorschlägt. Legt man zugrunde, dass hier in den beiden zur Genehmigung gestellten Garagen jeweils zwei Pkw Platz finden können und mit der Entscheidung über den beantragten Vorbescheid die Frage der Zulässigkeit des Vorhabens im Wesentlichen geklärt sein dürfte, hält der Senat einen Streitwert in Höhe von 12.000 Euro (75 Prozent von vier mal 4.000 Euro) für angemessen.
20Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Sätze 1 und 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
21Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags ist das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).
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