id
stringlengths
6
14
date
stringlengths
10
18
summary
stringlengths
591
22.4k
judgement
stringlengths
3.1k
169k
court_name
stringclasses
6 values
bfh_047-20
22. Oktober 2020
Pflegegelder aus öffentlichen Mitteln für die intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung verhaltensauffälliger Kinder und Jugendlicher können steuerfreie Beihilfen sein 22. Oktober 2020 - Nummer 047/20 - Urteil vom 14.07.2020 VIII R 27/18 Pflegegeld, das aus öffentlichen Mitteln der Jugendhilfe für eine intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung verhaltensauffälliger Kinder bzw. Jugendlicher erbracht wird, kann beim Betreuer gem. § 3 Nr. 11 EStG zu steuerfreien Bezügen führen, wenn jeweils nur ein Kind bzw. ein Jugendlicher zeitlich unbefristet in den Haushalt des Betreuers aufgenommen und dort umfassend betreut wird. Das hat der Bundesfinanzhof (BFH) mit Urteil vom 14.07.2020 (VIII R 27/18) unter Hinweis auf die Vergleichbarkeit mit den Fällen einer Vollzeitpflege gem. § 33 SGB VIII entschieden. Der Kläger, ein ausgebildeter Erzieher, hatte in den Streitjahren 2012 und 2013 verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche in seinen Haushalt aufgenommen und dort intensiv sozialpädagogisch betreut. Er nahm immer nur ein Kind bzw. einen Jugendlichen bei sich auf. Für diese „Vollzeitbetreuung“ erhielt er auf der Grundlage jederzeit kündbarer vertraglicher Vereinbarungen aus öffentlichen Mitteln monatlich zwischen 3.000 € und 3.600 €. Finanzamt und Finanzgericht meinten, der Kläger habe erwerbsmäßig Pflegeleistungen erbracht. Das Pflegegeld sei nicht wie bei einer Vollzeitpflege gem. § 33 SGB VIII gemäß § 3 Nr. 11 EStG steuerfrei. Dies sah der BFH anders. Pflegegeld aus öffentlichen Mitteln, das im Rahmen einer Vollzeitpflege gem. § 33 SGB VIII gezahlt wird, beurteilt der BFH grundsätzlich als steuerfreie Beihilfe i.S.d. § 3 Nr. 11 EStG, da mit der Zahlung des Pflegegeldes weder der sachliche und zeitliche Aufwand der Pflegeeltern vollständig ersetzt noch die Pflegeleistung vergütet wird. Das vom Kläger vereinnahmte Pflegegeld sei damit vergleichbar. Maßgeblich für die steuerliche Einordnung seien Inhalt und Durchführung des Pflegeverhältnisses. Dieses sei vorliegend – wie bei einer Vollzeitpflege i.S.d. § 33 SGB VIII – dadurch geprägt, dass der Kläger die verhaltensauffälligen Jugendlichen und Kinder in seinen Haushalt aufgenommen und mit diesen in einer häuslichen Gemeinschaft gelebt habe. Dass der Kläger die Kinder und Jugendlichen entsprechend deren besonderen Bedürfnissen intensiv sozialpädagogisch betreut und hierfür ein über den Regelsätzen für die Vollzeitpflege von Kindern und Jugendlichen liegendes Pflegegeld bezogen habe, stehe der Steuerfreiheit der Bezüge nicht entgegen. Bundesfinanzhof Pressestelle       Tel. (089) 9231-400 Pressesprecher  Tel. (089) 9231-300 Siehe auch: VIII R 27/18
1. Für die Beantwortung der Frage, ob eine gemäß § 3 Nr. 11 EStG steuerfreie Beihilfe oder die steuerpflichtige Vergütung einer erwerbsmäßigen Tätigkeit vorliegt, sind Inhalt und Durchführung des jeweiligen Betreuungsverhältnisses maßgebend.2. Leistungen, die aus öffentlichen Mitteln der Jugendhilfe für eine intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung verhaltensauffälliger Kinder bzw. Jugendlicher erbracht werden, können gemäß § 3 Nr. 11 EStG steuerfreie Bezüge sein. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn jeweils nur ein Kind bzw. ein Jugendlicher zeitlich unbefristet in den Haushalt des Betreuers aufgenommen und dort umfassend betreut wird. Tenor Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 30.01.2018 - 9 K 9105/16 aufgehoben.Die Einkommensteuerfestsetzungen für die Jahre 2012 und 2013 in Gestalt der Einspruchsentscheidungen vom 02.05.2016 werden dahin geändert, dass die Einkommensteuer auf jeweils 0 € herabgesetzt wird.Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Beklagte zu tragen. Tatbestand I.Der Kläger und Revisionskläger (Kläger), der ausgebildeter Erzieher ist, nahm in den Streitjahren 2012 und 2013 verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche in seinen Haushalt auf und betreute diese dort. Die jüngste von ihm betreute Person war damals elf Jahre alt. Der Kläger nahm stets nur ein Kind bzw. einen Jugendlichen bei sich auf.Den Jugendlichen B betreute der Kläger vom 16.08.2010 bis zu dessen Volljährigkeit im Juli 2012. Hierfür erhielt er nach den Feststellungen des Finanzgerichts (FG) vom Verein C ein monatliches Honorar in Höhe von durchschnittlich rund 3.600 €. Der Betreuung lag ein "Vertrag über Freie Mitarbeit" vom 29.08.2010 zugrunde, dessen Bestandteil auch das pädagogische Konzept des Klägers war. Der Kläger übernahm die Tätigkeit "in einem Vollzeitumfang mit einem Betreuungsschlüssel von 1:1". Die Betreuungsleistungen waren in der Vereinbarung spezifiziert. Der Vertrag war jederzeit ohne Einhaltung einer Frist mit sofortiger Wirkung kündbar.Nach dem Ende der Betreuung des Jugendlichen B schloss sich bis September 2013 die Betreuung weiterer Kinder bzw. Jugendlicher im Auftrag des Vereins C an. Es galten entsprechende vertragliche Vereinbarungen. Der Kläger betreute von August 2012 bis April 2013 D, im Juni und Juli 2013 E und im September 2013, für zehn Tage, F.Der Kläger rechnete seine Vergütungsansprüche gegenüber dem Verein C monatlich ab. In den Rechnungen heißt es zu "Art und Umfang der Leistung": "Für die Betreuung im Rahmen einer stationären Jugendhilfemaßnahme nach § 35 SGB VII berechne ich ...".Der Verein C bescheinigte dem Kläger am 31.12.2012, "dass die von uns gezahlten Sachkosten und das ausgezahlte Honorar ausschließlich aus Mitteln der öffentlichen Hand stammen".In den Monaten November und Dezember 2013 übernahm der Kläger die Betreuung des Jugendlichen G im Rahmen eines Jugendhilfeprojektes. Grundlage war ein mit der H-GmbH in I geschlossener "projektbezogener Honorarvertrag", dessen Bestandteil wiederum das pädagogische Konzept des Klägers war. Auch hier verpflichtete sich der Kläger zur stationären Betreuung von Kindern und Jugendlichen. Hierfür erhielt er ein Honorar von monatlich 3.000 €. Der Vertrag, der jederzeit kündbar war, weist zudem auf den "Projektcharakter" und die damit verbundene Möglichkeit eines jederzeitigen, plötzlichen Abbruchs der Maßnahme hin.Gegenüber der H-GmbH rechnete der Kläger seine Vergütungsansprüche in gleicher Weise wie gegenüber dem Verein C monatlich ab.Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) schätzte zunächst die Besteuerungsgrundlagen und setzte die Einkommensteuer der Streitjahre mit Bescheiden vom 08.04.2015 unter dem Vorbehalt der Nachprüfung fest. Zur Begründung der hiergegen gerichteten Einsprüche reichte der Kläger Einkommensteuererklärungen ein, in denen er ausschließlich Einkünfte aus selbständiger Arbeit als Erzieher erklärte.Das FA setzte die Einkommensteuer für die Streitjahre mit Änderungsbescheiden vom 11.06.2015 (2012) und 25.02.2016 (2012 und 2013) herab. Dabei legte es der Besteuerung des Klägers Einkünfte aus selbständiger Arbeit in Höhe von 21.069 € (2012) bzw. 11.568 € (2013) zugrunde. Aus hier nicht streitgegenständlichen Gründen änderte das FA die Steuerfestsetzung 2013 am 02.05.2016 erneut. Im Übrigen blieben die Einsprüche des Klägers jedoch ohne Erfolg (Einspruchsentscheidungen vom 02.05.2016), ebenso die nachfolgende Klage. Das FG hat zur Begründung seines in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) veröffentlichten Urteils (EFG 2018, 1699) darauf abgestellt, dass eine unmittelbare Förderung der Erziehung i.S. des § 3 Nr. 11 des Einkommensteuergesetzes (EStG) nicht vorliege, wenn die Aufnahme eines Kindes oder Jugendlichen in den Haushalt der Pflegeperson als Erwerbstätigkeit anzusehen sei. Dies sei bei der Erbringung von --mit einer Vollzeitpflege gemäß § 33 des Achten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VIII) nicht vergleichbaren-- Leistungen gemäß § 35 SGB VIII der Fall.Seine hiergegen gerichtete Revision begründet der Kläger mit der Verletzung formellen und materiellen Rechts.Er beantragt,das angefochtene FG-Urteil aufzuheben, die Einkommensteuerfestsetzungen für die Jahre 2012 und 2013 vom 25.02.2016 in Gestalt der Einspruchsentscheidungen vom 02.05.2016 zu ändern und die Einkommensteuer jeweils auf 0 € herabzusetzen.Das FA beantragt,die Revision als unbegründet zurückzuweisen.Es meint, Leistungen des Jugendamtes für eine intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung i.S. des § 35 SGB VIII stellten steuerpflichtige Einnahmen dar. Gründe II.Die Revision ist begründet. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und der Klage stattzugeben (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).Das FG hat die Steuerfreiheit der Einnahmen, die der Kläger in den Streitjahren für die Betreuung verhaltensauffälliger Jugendlicher und Kinder in seinem Haushalt bezogen hat, zu Unrecht verneint. Es hat rechtsfehlerhaft angenommen, der Kläger habe erwerbsmäßig nicht mit einer Vollzeitpflege gemäß § 33 SGB VIII vergleichbare Leistungen gemäß § 35 SGB VIII erbracht, für die die Steuerfreiheit gemäß § 3 Nr. 11 EStG nicht gelte.1. Nach § 3 Nr. 11 Satz 1 EStG sind u.a. Bezüge aus öffentlichen Mitteln steuerfrei, die als Beihilfe zu dem Zweck bewilligt werden, die Erziehung unmittelbar zu fördern.a) Öffentliche Mittel sind solche, die aus einem öffentlichen Haushalt stammen, d.h. haushaltsmäßig als Ausgaben festgelegt und verausgabt werden. Diese Voraussetzung ist auch gewahrt, wenn die derart in einem Haushaltsplan ausgewiesenen Mittel nicht unmittelbar aus einer öffentlichen Kasse, sondern mittelbar über Dritte gezahlt werden, sofern über die Mittel nur nach Maßgabe der haushaltsrechtlichen Vorschriften verfügt werden kann und ihre Verwendung im Einzelnen gesetzlich geregelter Kontrolle unterliegt. Der Annahme von Zahlungen "aus öffentlichen Mitteln" steht nicht entgegen, wenn zur Begründung von Pflegeverhältnissen der Abschluss eines zivilrechtlichen Pflegevertrages erforderlich ist (vgl. Urteile des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 05.11.2014 - VIII R 29/11, BFHE 249, 1, BStBl II 2017, 432; VIII R 27/11, BFH/NV 2015, 960, und VIII R 9/12, BFH/NV 2015, 967; BFH-Beschluss vom 10.12.2019 - VIII S 12/19 (AdV), BFH/NV 2020, 357).b) Aus öffentlichen Mitteln an Pflegeeltern geleistete Erziehungsgelder sind regelmäßig dazu bestimmt, die Erziehung der in den Haushalt der Pflegeeltern dauerhaft aufgenommenen und wie leibliche Kinder betreuten Kinder und Jugendlichen unmittelbar zu fördern (vgl. BFH-Urteil in BFHE 249, 1, BStBl II 2017, 432). Ist mit den Zahlungen keine vollständige Ersetzung des sachlichen und zeitlichen Aufwands der Pflegeeltern beabsichtigt, sind sie als steuerfreie Beihilfe i.S. des § 3 Nr. 11 EStG anzusehen (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 28.06.1984 - IV R 49/83, BFHE 141, 154, BStBl II 1984, 571). Am Charakter einer Beihilfe i.S. des § 3 Nr. 11 EStG fehlt es hingegen, wenn die Zahlungen im Rahmen eines entgeltlichen Austauschgeschäfts erfolgen (vgl. BFH-Urteile in BFHE 249, 1, BStBl II 2017, 432; in BFH/NV 2015, 960, und in BFH/NV 2015, 967, m.w.N.), z.B. weil sie an Personen erbracht werden, die Kinder von Erwerbs wegen in ihren Haushalt aufgenommen haben (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 17.05.1990 -IV R 14/87, BFHE 161, 361, BStBl II 1990, 1018).c) Pflegegelder und anlassbezogene Beihilfen sowie Zuschüsse jeweils aus öffentlichen Mitteln, die im Rahmen einer Vollzeitpflege gemäß § 33 SGB VIII ausgezahlt werden, beurteilt die Rechtsprechung des BFH grundsätzlich als steuerfreie Beihilfe gemäß § 3 Nr. 11 EStG, die die Erziehung unmittelbar fördern, da mit der Zahlung der Pflegegelder keine vollständige Ersetzung des sachlichen und zeitlichen Aufwands der Pflegeeltern beabsichtigt ist (vgl. BFH-Urteile in BFHE 249, 1, BStBl II 2017, 432; in BFH/NV 2015, 960, und in BFH/NV 2015, 967; BFH-Beschluss in BFH/NV 2020, 357, m.w.N.; so auch Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen --BMF-- vom 22.10.2018 - IV C 3-S 2342/07/0001:138, BStBl I 2018, 1109, unter A). Weder die besondere Qualifikation der Pflegeperson noch ein in diesem Kontext für eine Familienpflege für besonders beeinträchtigte Kinder gezahltes bedarfsabhängiges, erhöhtes Pflegegeld schließt die Annahme einer Beihilfe zur Förderung der Erziehung i.S. des § 3 Nr. 11 EStG aus (vgl. BMF-Schreiben in BStBl I 2018, 1109, unter A). Die Voraussetzungen eines erwerbsmäßigen Bezugs von Pflegegeld nimmt die Rechtsprechung im Zusammenhang mit einer Vollzeitpflege gemäß § 33 SGB VIII erst an, wenn von der Pflegeperson mehr als sechs Kinder gleichzeitig in den Haushalt aufgenommen werden (vgl. BFH-Urteile in BFHE 249, 1, BStBl II 2017, 432; in BFH/NV 2015, 960; in BFH/NV 2015, 967; BFH-Beschluss in BFH/NV 2020, 357, m.w.N.; vgl. auch BMF-Schreiben in BStBl I 2018, 1109, unter A).2. Nach Maßgabe dieser Grundsätze hat das FG rechtsfehlerhaft angenommen, der Kläger habe erwerbsmäßig Leistungen gemäß § 35 SGB VIII erbracht, für die die Steuerfreiheit gemäß § 3 Nr. 11 EStG nicht gelte. Seine Würdigung, der Kläger habe keine Beihilfen erhalten, weil er Hilfeleistungen i.S. des § 35 SGB VIII erbracht habe, die insbesondere wegen des vertraglich vereinbarten voraussetzungslosen Kündigungsrechts nicht mit der Hilfe zur Erziehung in der Vollzeitpflege gemäß § 33 SGB VIII vergleichbar seien und für die er vollständig vergütet worden sei, hält der revisionsrechtlichen Prüfung nicht stand.a) Für die Beurteilung der Frage, ob die an Pflegeeltern gezahlten Erziehungsgelder als Beihilfe zu dem Zweck bewilligt werden, die Erziehung unmittelbar zu fördern, kommt es maßgeblich auf Inhalt und Durchführung des Pflegeverhältnisses an (vgl. BFH-Urteile in BFHE 249, 1, BStBl II 2017, 432; in BFH/NV 2015, 960, und in BFH/NV 2015, 967, m.w.N.).Dieses war im Streitfall in besonderer Weise dadurch geprägt, dass der Kläger die von ihm betreuten, verhaltensauffälligen Kinder und Jugendlichen in seinen Haushalt aufgenommen hat und mit diesen in einer häuslichen Gemeinschaft lebte. In diesem Umfeld betreute der Kläger jeweils lediglich ein Kind bzw. einen Jugendlichen, bei dem ein besonderer Unterstützungsbedarf bestand, wobei die Betreuung nicht nur individuell, sondern auch umfassend war. Die Betreuungsverhältnisse waren ausweislich der geschlossenen Verträge zeitlich nicht befristet. Das danach vorliegend prägende Element der vollzeitigen Betreuung von Kindern und Jugendlichen im eigenen Haushalt kennzeichnet auch die Vollzeitpflege gemäß § 33 SGB VIII.b) Da es maßgeblich auf Inhalt und Durchführung des Pflegeverhältnisses ankommt, ist es im Streitfall ohne Belang, ob der Kläger seine Leistungen in den von ihm erteilten Rechnungen als "Betreuung im Rahmen einer stationären Jugendhilfemaßnahme nach § 35 SGB VII" bezeichnet hat und diese sozialrechtliche Einordnung zutreffend ist. Letzteres ist --entgegen der Auffassung des FG-- zudem zweifelhaft, weil die intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung gemäß §§ 27 Abs. 2, 35 SGB VIII zum einen regelmäßig ambulante Leistungen betrifft und zum anderen Adressaten dieser Leistungen nach dem ausdrücklichen Wortlaut des Gesetzes allein Jugendliche, d.h. junge Menschen im Alter von 14 bis 18 Jahren, nicht aber Kinder --die der Kläger ebenfalls betreut hat-- sind (vgl. hierzu z.B. Nellissen in Schlegel/Voelzke, § 35 SGB VIII Rz 11; Stähr in Hauck/Noftz, § 35 SGB VIII Rz 1, 4).c) Dass der Kläger die in seinen Haushalt aufgenommenen Kinder und Jugendlichen entsprechend deren besonderen Bedürfnissen intensiv sozialpädagogisch betreut und hierfür ein über den Regelsätzen für die Vollzeitpflege von Kindern und Jugendlichen liegendes Pflegegeld bezogen hat, steht der Steuerfreiheit der Bezüge nicht entgegen.aa) Der Umstand, dass wegen der besonderen Situation der Kinder und Jugendlichen hohe Anforderungen an die persönliche und fachliche Qualifikation des Klägers bestanden und dementsprechend dessen pädagogisches Konzept Bestandteil des Betreuungsverhältnisses war, kann keine Erwerbsmäßigkeit der Tätigkeit begründen (anderer Ansicht BMF-Schreiben in BStBl I 2018, 1109, unter D; vgl. auch Bergkemper in Herrmann/Heuer/Raupach, § 3 Nr. 11 EStG Rz 7). Sowohl die besondere Qualifikation des Betreuers als auch ein in diesem Kontext gezahltes bedarfsabhängiges erhöhtes Pflegegeld (vgl. zu Leistungen im Rahmen der Vollzeitpflege gemäß § 33 SGV VIII BMF-Schreiben in BStBl I 2018, 1109, unter A) sind dem besonderen Bedarf des jeweils betreuten Jugendlichen bzw. Kindes geschuldet, ohne dass hieraus abgeleitet werden kann, dessen Aufnahme in den Haushalt des Klägers sei des Erwerbs wegen erfolgt. Gegen eine erwerbsmäßige Aufnahme spricht auch, dass der Senat nicht erkennen kann, dass die gezahlten Gelder den mit der vollzeitigen Betreuung der verhaltensauffälligen Kinder und Jugendlichen verbundenen sachlichen und zeitlichen Aufwand des Klägers tatsächlich abdecken konnten. Auch die Höhe des jeweils vereinbarten Tagessatzes lässt einen solchen Schluss nicht zu (vgl. z.B. BFH-Urteil in BFHE 249, 1, BStBl II 2017, 432: Tagessatzhöhe von 83,82 € im Fall einer Vollzeitpflege gemäß § 33 SGB VIII). Die Annahme einer erwerbsmäßigen Betreuung ist im Zusammenhang mit einer Aufnahme von Kindern und Jugendlichen in den eigenen Haushalt --wie in den Fällen der Vollzeitpflege gemäß § 33 SGB VIII-- nur dann gerechtfertigt, wenn andere Umstände, wie z.B. die Anzahl der durch die Pflegeperson betreuten Kinder bzw. Jugendlichen, für einen Vergütungscharakter der gezahlten Gelder sprechen.bb) Entgegen der Auffassung des FG führt schließlich auch die Tatsache, dass die vom Kläger mit den Trägern der freien Jugendhilfe geschlossenen Verträge jederzeit kündbar waren, nicht zur Annahme einer Erwerbstätigkeit. Die dem Schutz der Kinder und Jugendlichen dienende Möglichkeit einer kurzfristigen Beendigung des Betreuungsverhältnisses besagt nicht, dass dieses lediglich auf einen kurzen Zeitraum angelegt war. Die geschlossenen Verträge lassen ebenfalls nicht erkennen, dass eine nur kurzzeitige Betreuung durch den Kläger beabsichtigt war, zumal eine intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung --entgegen der Auffassung des FG-- gemäß § 35 Satz 2 SGB VIII grundsätzlich auf längere Zeit angelegt ist, während eine Vollzeitpflege nach § 33 SGB VIII auch in der Form einer zeitlich befristeten Erziehungshilfe erfolgen kann.3. Die Entscheidung des FG war daher aufzuheben. Die Sache ist spruchreif. Der Klage ist stattzugeben. Da es sich bei den Zahlungen an den Kläger um steuerfreie Bezüge gemäß § 3 Nr. 11 EStG handelt, ist die Einkommensteuer für die Streitjahre antragsgemäß auf 0 € festzusetzen.a) Die Einnahmen des Klägers stammen aus öffentlichen Mitteln i.S. des § 3 Nr. 11 EStG. Sie wurden nach den Feststellungen des FG konkret bezogen auf den jeweils vom Kläger betreuten Jugendlichen bzw. das von ihm betreute Kind aus Mitteln der öffentlichen Hand gezahlt. Es fehlt an Anhaltspunkten dafür, dass die Zahlungen nicht im Haushaltsplan der Stadt festgelegt gewesen sein und das Jugendamt nicht der öffentlichen Rechnungskontrolle unterlegen haben könnten. Der Umstand, dass diese Zahlungen über einen zwischengeschalteten Träger der freien Jugendhilfe an den Kläger als Erziehenden auf der Grundlage eines Vertrages zwischen ihm und dem Träger geleistet wurden, steht der Annahme öffentlicher Mittel nicht entgegen (vgl. BFH-Urteile in BFHE 249, 1, BStBl II 2017, 432; in BFH/NV 2015, 960; in BFH/NV 2015, 967; BFH-Beschluss in BFH/NV 2020, 357, m.w.N.).b) Die streitigen Gelder dienten --wie dargelegt-- auch der unmittelbaren Förderung der Erziehung i.S. des § 3 Nr. 11 EStG. Es handelte sich um Zahlungen mit Beihilfecharakter und nicht um Zahlungen im Zusammenhang mit einer erwerbsmäßigen Betreuungstätigkeit des Klägers.4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
bundesfinanzhof
bfh_054-22
10. November 2022
Unternehmereigenschaft bei planmäßigem An- und Verkauf von Waren über die Internetplattform „ebay“ 10. November 2022 - Nummer 054/22 - Urteil vom 12.05.2022 V R 19/20 Mit Urteil vom 12.05.2022 ‑ V R 19/20 hat der Bundesfinanzhof (BFH) entschieden, dass ein Verkäufer, der auf jährlich mehreren hundert Auktionen Waren über „ebay" veräußert, eine nachhaltige und damit umsatzsteuerrechtlich eine unternehmerische steuerpflichtige Tätigkeit i.S. des § 2 Abs. 1 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) ausübt. Die Klägerin erwarb bei Haushaltsauflösungen Gegenstände und verkaufte diese über einen Zeitraum von fünf Jahren auf der Internet-Auktions-Plattform "ebay" in ca. 3.000 Versteigerungen und erzielte daraus Einnahmen von ca. 380.000 €. Der BFH hat unter Hinweis auf sein Urteil vom 26.04.2012 - V R 2/11 entschieden, dass dies als nachhaltige Tätigkeit i.S. des § 2 Abs. 1 UStG zu beurteilen ist. Der BFH hat in seiner Zurückverweisung dem Finanzgericht aber aufgegeben, bisher fehlende Feststellungen zur Differenzbesteuerung nach § 25a UStG nachzuholen. Danach wird bei einem Wiederverkäufer, der gewerbsmäßig mit beweglichen körperlichen Gegenständen handelt oder solche Gegenstände im eigenen Namen öffentlich versteigert und an den diese Gegenstände – wie hier im Rahmen von privaten Haushaltsauflösungen – geliefert wurden, ohne dass dafür Umsatzsteuer geschuldet wurde, der Umsatz nicht nach dem Verkaufspreis, sondern nach dem Betrag bemessen, um den der Verkaufspreis den Einkaufspreis für den Gegenstand übersteigt. Fehlende Aufzeichnungen über Einkäufe stehen nach dem Urteil des BFH der Differenzbesteuerung nicht zwingend entgegen, so dass dann zu schätzen sein kann. Ist auf dieser Grundlage die Differenzbesteuerung anzuwenden, kommt es zu einer erheblichen Minderung des Steueranspruchs.  Bundesfinanzhof Pressestelle       Tel. (089) 9231-400 Pressesprecher  Tel. (089) 9231-300 Siehe auch: V R 19/20
1. Die Gegenleistung ist in Entgelt und Steuerbetrag aufzuteilen.2. Veräußert ein Verkäufer auf jährlich mehreren hundert Auktionen Waren über die Internetplattform "ebay", liegt eine nachhaltige und damit umsatzsteuerrechtlich unternehmerische Tätigkeit i.S. des § 2 Abs. 1 UStG vor.3. Die Aufzeichnungspflichten gemäß § 25a Abs. 6 Satz 1 UStG gehören nicht zu den materiellen Voraussetzungen der Differenzbesteuerung. Ein Verstoß gegen die Aufzeichnungspflichten führt deshalb nicht grundsätzlich zur Versagung der Differenzbesteuerung. Tenor Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Hessischen Finanzgerichts vom 19.07.2018 - 2 K 1835/16 aufgehoben.Die Sache wird an den zuständigen Vollsenat des Hessischen Finanzgerichts zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens übertragen. Tatbestand I.Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) kaufte in den Streitjahren (2009 bis 2013) Gegenstände aus Haushaltsauflösungen an und bot sie auf der Internet-Auktions-Plattform "ebay" (ebay) in Form von Versteigerungen zum Verkauf an. Dazu legte sie vier Konten auf ebay an und eröffnete zwei Girokonten. Die Klägerin verkaufte 2009 auf 577 Auktionen, 2010 auf 1 057 Auktionen, 2011 auf 628 Auktionen, 2012 auf 554 Auktionen und 2013 auf 260 Auktionen Waren über ebay. Steuererklärungen gab sie nicht ab. Eine Steuerfahndungsprüfung des Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt --FA--) ergab folgende Einnahmen:AuktionenEinnahmen200957740.000 €20101 05770.000 €201162890.000 €201255490.000 €201326080.000 €Das FA erließ entsprechende Einkommensteuer- und Gewerbesteuermessbescheide, in denen es die Betriebsausgaben und Vorsteuern in Höhe von 30 % der Einnahmen schätzte. In den Umsatzsteuerbescheiden für die Streitjahre jeweils vom 20.05.2016 setzte das FA Umsatzsteuer in Höhe von 19 % auf die festgestellten Einnahmen fest. Vorsteuerbeträge erkannte das FA nicht an.Die Klägerin erhob nach erfolglosem Vorverfahren Klage. Die Klage hatte teilweise Erfolg (Hessisches Finanzgericht --FG--, Urteil vom 19.07.2018 - 2 K 1835/16, Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 2019, 777). Das FG entschied, die Einnahmen seien zu Recht dem Grunde nach der Einkommen-, Gewerbe- und Umsatzsteuer unterworfen worden. Die Klägerin habe nicht nur privates Vermögen veräußert, sondern sei nach Würdigung der gesamten Umstände wie eine typische Einzelhändlerin aufgetreten. Dafür spreche u.a. die Anzahl der über viele Jahre getätigten Verkäufe und der Aufwand. Sie habe An- und Verkäufe mit auf Güterumschlag gerichteter Absicht getätigt und sei dauerhaft am Markt als Anbieter verschiedener Güter aufgetreten. In Anbetracht der Tatsache, dass die Rechtsprechung in vergleichbaren Fällen (FG Köln, Urteil vom 04.03.2015 - 14 K 188/13, EFG 2015, 1103, und Niedersächsisches FG, Beschluss vom 26.05.2010 - 4 V 210/09, juris) den Ansatz von Betriebsausgaben mit Werten von 40 % bzw. 80 % des Nettoumsatzes für angemessen befunden habe, sei eine Schätzung der Betriebsausgaben bei der Einkommensteuer- und Gewerbesteuerfestsetzung von 60 % des Nettoumsatzes gerechtfertigt. Im Übrigen wies das FG die Klage ab.In dem vor dem X. Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) geführten Revisionsverfahren X R 26/18 hat der X. Senat das Verfahren wegen Umsatzsteuer 2009 bis 2013 mit Beschluss vom 17.06.2020 abgetrennt und zuständigkeitshalber an den V. Senat abgegeben. Mit Urteil vom selben Tag hat der X. Senat das Urteil des FG aufgehoben und die Sache an das FG zurückverwiesen (BFH-Urteil vom 17.06.2020 - X R 26/18, BFH/NV 2021, 314).Mit ihrer Revision rügt die Klägerin insbesondere die Verletzung materiellen Rechts. Sie sei nicht als Händlerin anzusehen, da sie weder ein Konzept noch eine Organisation noch Vorkenntnisse im Handel habe. Sie kaufe gelegentlich aus Haushaltsauflösungen und verkaufe die Gegenstände wieder über ebay für ein Mindestgebot von 1 €. Es sei wie bei einer Lotterie unsicher, ob Gewinne entstünden. Zahlreiche Gegenstände verkaufe sie deutlich unter Einkaufswert, andere werfe sie einfach weg. Sie habe auch nichts dafür getan, die Gegenstände gewinnbringend zu veräußern (z.B. Mindestpreise, Werbung, besondere Darstellung der Gegenstände, Auswahl gutgehender Gegenstände) und jedenfalls per Saldo keinen Gewinn erzielt. Ihr Ziel sei der Nervenkitzel bzw. die Spannung gewesen, zu welchem Preis die Gegenstände gekauft würden. Für sie sei es Zeitvertreib bzw. Hobby bzw. Liebhaberei gewesen. Bei ebay sei sie nur private Kundin gewesen. Das FG habe auch nicht dargelegt, wann die Gewerblichkeit begonnen und geendet habe. Es müsse zunächst das Bestehen eines Gewerbebetriebs festgestellt werden, bevor mangels ordnungsgemäßer Buchführung zur Schätzung übergegangen werden könne. Zudem habe das FG keine anerkannte Schätzungsmethode gewählt. Eine Betriebsausgabenquote von 60 % des Nettoumsatzes sei willkürlich. Der Schätzungsbescheid sei nichtig.Die Klägerin beantragt sinngemäß,das angefochtene Urteil, die Einspruchsentscheidung vom 12.09.2016 sowie die Umsatzsteuerbescheide für die Jahre 2009 bis 2013 vom 20.05.2016 aufzuheben,hilfsweise die Zurückverweisung an einen anderen Senat des FG.Das FA beantragt,die Revision zurückzuweisen. Gründe II.Die Revision ist begründet; sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG-Urteil ist aufzuheben, weil es § 10 Abs. 1 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) verletzt, indem es zu Unrecht die Festsetzung von Umsatzsteuer auf die (Brutto-)Einnahmen bestätigt hat. Die Sache ist insbesondere im Hinblick auf die Differenzbesteuerung nach § 25a UStG nicht spruchreif.1. Gemäß § 12 Abs. 1 UStG beträgt die Steuer für jeden steuerpflichtigen Umsatz 19 % der Bemessungsgrundlage (§§ 10, 11, 25 Abs. 3 und 25a Abs. 3 und 4 UStG).a) Bemessungsgrundlage ist gemäß § 10 Abs. 1 Satz 1 UStG das Entgelt. Entgelt war gemäß § 10 Abs. 1 Satz 2 UStG nach der in den Streitjahren geltenden Fassung dieser Vorschrift alles, was der Leistungsempfänger aufwendet, um die Leistung zu erhalten, abzüglich der Umsatzsteuer. Deshalb hätte die festzusetzende Umsatzsteuer in den angefochtenen Bescheiden aus den sog. (Brutto-)Einnahmen herausgerechnet werden müssen. Das wird das FG bei seiner erneuten Entscheidung berücksichtigen müssen.Dass die Klägerin mit ihrer Revision nicht die Verletzung dieser Vorschrift rügt, ist ohne Bedeutung. Denn stützt ein Revisionskläger --wie im vorliegenden Fall-- sein Rechtsmittel in zulässiger Weise auf die Verletzung materiellen Rechts, prüft der BFH nach dem Grundsatz der Vollrevision das angefochtene Urteil in vollem Umfang auf die Verletzung revisiblen Rechts, ohne dabei an die vorgebrachten Revisionsgründe gebunden zu sein (§ 118 Abs. 3 Satz 2 FGO; vgl. BFH-Urteile vom 27.01.2016 - X R 2/14, BFHE 253, 89, BStBl II 2016, 534; vom 19.10.2011 - X R 65/09, BFHE 235, 304, BStBl II 2012, 345, und vom 23.10.2019 - V R 46/17, BFHE 267, 140).b) Diese Beurteilung entspricht auch der unionsrechtlichen Grundlage in Art. 73 und Art. 78 Buchst. a der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwStSystRL). Danach ist die Besteuerungsgrundlage die vom Steuerpflichtigen tatsächlich erhaltene Gegenleistung, wobei die Mehrwertsteuer nicht in die Steuerbemessungsgrundlage einzubeziehen ist. Die Gegenleistung beinhaltet somit im Gegensatz zur Bemessungsgrundlage den Steuerbetrag. Denn wird z.B. ein Kaufvertrag ohne Hinweis auf die Mehrwertsteuer abgeschlossen und kann der Lieferer die später von der Steuerbehörde verlangte Mehrwertsteuer vom Erwerber nicht wiedererlangen, hätte die Berücksichtigung des Gesamtpreises ohne Abzug der Mehrwertsteuer als Grundlage für die Erhebung der Mehrwertsteuer zur Folge, dass die Mehrwertsteuer diesen Lieferer belasten würde, und verstieße somit gegen den Grundsatz, dass es sich bei der Mehrwertsteuer um eine Verbrauchsteuer handelt, die vom Endverbraucher zu tragen ist (vgl. Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union --EuGH-- Tulică vom 07.11.2013 - C-249/12 und C-250/12, EU:C:2013:722, Rz 35). Dabei ist der vereinbarte Betrag auch dann in Entgelt und in die darauf entfallende Umsatzsteuer aufzuteilen, wenn die an der Leistung Beteiligten z.B. rechtsirrtümlich die Gegenleistung ohne Umsatzsteuer vereinbaren (vgl. BFH-Urteil vom 16.11.2016 - V R 1/16, BFHE 256, 542, BStBl II 2017, 1079, Leitsatz 2).2. Im Ergebnis zu Recht entschieden hat das FG, dass die streitigen Leistungen der Klägerin der Umsatzsteuer unterliegen.a) Nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG unterliegen der Umsatzsteuer die Lieferungen und sonstigen Leistungen, die ein Unternehmer im Inland gegen Entgelt im Rahmen seines Unternehmens ausführt. Unternehmer ist gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 UStG, wer eine gewerbliche oder berufliche Tätigkeit selbständig ausübt. Gewerblich oder beruflich ist nach § 2 Abs. 1 Satz 3 UStG jede nachhaltige Tätigkeit zur Erzielung von Einnahmen, auch wenn die Absicht, Gewinn zu erzielen, fehlt.b) Bei richtlinienkonformer Anwendung muss dabei eine wirtschaftliche Tätigkeit i.S. des Art. 9 Abs. 1 MwStSystRL ausgeübt werden (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 26.04.2012 - V R 2/11, BFHE 237, 286, BStBl II 2012, 634; vom 18.12.2008 - V R 80/07, BFHE 225, 163, BStBl II 2011, 292, unter II.1.; vom 11.04.2008 - V R 10/07, BFHE 221, 456, BStBl II 2009, 741, unter II.1. zu Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17.05.1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern --Richtlinie 77/388/EWG--). Dabei ist zu berücksichtigen, dass Art. 9 MwStSystRL der Mehrwertsteuer einen sehr breiten Anwendungsbereich zuweist (EuGH-Urteile Van Tiem vom 04.12.1990 - C-186/89, EU:C:1990:429, Rz 17; EDM vom 29.04.2004 - C-77/01, EU:C:2004:243, Rz 47 zu Art. 4 der Richtlinie 77/388/EWG).c) Hinsichtlich der weiteren Anforderungen an die Nachhaltigkeit von Verkäufen über ebay verweist der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen auf sein Urteil in BFHE 237, 286, BStBl II 2012, 634.Danach ist im vorliegenden Streitfall die Würdigung des FG, wonach es sich bei den Verkäufen um eine nachhaltige Tätigkeit i.S. des § 2 Abs. 1 UStG handelt, revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Das FG hat ausdrücklich auf das Gesamtbild der Verhältnisse und die Verkehrsanschauung abgestellt und berücksichtigt, dass die Klägerin ihre Verkaufstätigkeit über viele Jahre hinweg nachhaltig ausgeübt hat, weil auch die Anzahl der Verkäufe von beträchtlichem Umfang war. So hat die Klägerin 2009 auf 577 Auktionen, 2010 auf 1 057 Auktionen, 2011 auf 628 Auktionen, 2012 auf 554 Auktionen und 2013 auf 260 Auktionen Waren veräußert. Das FG hat weiter berücksichtigt, dass der Umfang dieser Tätigkeit eine Betriebsorganisation erforderte. Sie hat Verpackungsmaterial kaufen, Waren verpacken, Porto zahlen und digitale Bilder der angebotenen Gegenstände fertigen müssen. Das FG hat diesen Sachverhalt ohne Verstoß gegen Denkgesetze und ohne Vernachlässigung wesentlicher Umstände dahingehend gewürdigt, dass eine intensive und langfristige Verkaufstätigkeit unter Nutzung bewährter Vertriebsmaßnahmen ("ebay"-Plattform) vorliegt, die deshalb als nachhaltig i.S. des § 2 Abs. 1 UStG zu beurteilen ist. Es kommt auch nicht darauf an, ob die Klägerin einen privaten oder einen gewerblichen Zugang gewählt hat, weil die Merkmale der unternehmerischen Tätigkeit keinem Wahlrecht unterliegen.Auf das Vorliegen einer Gewinnerzielungsabsicht kommt es im Umsatzsteuerrecht gemäß § 2 Abs. 1 Satz 3 UStG nicht an.3. Die Sache ist gleichwohl nicht spruchreif, weil Feststellungen zur Differenzbesteuerung nach § 25a UStG fehlen.a) Angesichts der nachhaltigen selbständigen Tätigkeit ist davon auszugehen, dass die Klägerin Wiederverkäuferin i.S. des § 25a Abs. 1 Nr. 1 UStG ist, weil sie gewerbsmäßig mit beweglichen körperlichen Gegenständen handelt. Welche Anforderungen an die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 25a UStG, und zwar insbesondere dafür, dass der Vorlieferant die Voraussetzungen des § 25a Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 UStG erfüllt, zu stellen sind, ist zwar höchstrichterlich noch nicht entschieden (vgl. hierzu z.B. FG Düsseldorf, Urteil vom 24.03.2021 - 5 K 1414/18 U, EFG 2021, 1948 - Revision eingelegt, Az. des BFH: XI R 15/21). Da die Klägerin die von ihr weiter veräußerten Gegenstände nach den Feststellungen des FG "beim Stöbern bei Haushaltsauflösungen" erworben hat, kann aber nach den Verhältnissen des Streitfalls von einem Erwerb, für den keine Umsatzsteuer geschuldet wurde (§ 25a Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 Buchst. a UStG), auszugehen sein.b) Ob die Klägerin auch auf gewerblichen Haushaltsauflösungen Gegenstände erworben hat und ob es sich dabei um Edelsteine oder Edelmetalle gehandelt hat (§ 25a Abs. 1 Nr. 3 UStG), wird das FG feststellen müssen.c) In Bezug auf die Aufzeichnungspflichten gemäß § 25a Abs. 6 Satz 1 UStG weist der Senat vorsorglich darauf hin, dass diese --entgegen dem FG-Urteil-- nicht zu den materiellen Voraussetzungen der Differenzbesteuerung gehören, sodass ein Verstoß gegen die Aufzeichnungspflichten grundsätzlich nicht dazu führt, die Differenzbesteuerung zu versagen, sondern vielmehr --ggf. zu Lasten des Wiederverkäufers-- nach § 162 der Abgabenordnung (AO) zu schätzen sein kann (vgl. Grebe in Wäger, UStG, 2. Aufl., § 25a Rz 56; zur Zulässigkeit der Schätzung vgl. bereits FG Berlin, Urteil vom 21.12.1999 - 7 K 5176/98, EFG 2000, 521).Unionsrechtlich erklärt sich dies zum einen daraus, dass nur eine Pflicht zu (getrennten) Aufzeichnungen nach Art. 324 MwStSystRL besteht, wenn die Differenzbesteuerung neben der Regelbesteuerung angewendet wird. Zum anderen hat der EuGH zwar entschieden, dass sich die Bemessungsgrundlage, die nach der Differenzbesteuerung bestimmt wird, aus Aufzeichnungen ergeben muss, die es ermöglichen, zu überprüfen, ob sämtliche Voraussetzungen für die Anwendung dieser Regelung erfüllt sind (vgl. EuGH-Urteil Sjelle Autogenbrug vom 18.01.2017 - C-471/15, EU:C:2017:20, Rz 43). Danach müssen die Aufzeichnungen des steuerpflichtigen Wiederverkäufers und die damit in Zusammenhang stehenden Rechnungen --abgesehen von Ausnahmefällen-- objektive Informationen zu dem betreffenden Umsatz und den verkauften Gegenständen liefern können (vgl. EuGH-Urteil E LATS vom 11.07.2018 - C-154/17, EU:C:2018:560, Rz 38). Steht aber fest, dass die Voraussetzungen der Differenzbesteuerung vorliegen, kann ein Ausnahmefall in diesem Sinne vorliegen, bei dem aufgrund des Fehlens von Aufzeichnungen die Anwendung der Differenzbesteuerung nicht zwingend zu versagen ist. Es ist dann vielmehr zu prüfen, ob Einkaufspreise ggf. mit einem (erheblichen) Sicherheitsabschlag zu Lasten des Wiederverkäufers nach § 162 AO geschätzt werden können (so im Ergebnis auch Stadie in Rau/Dürrwächter, Umsatzsteuergesetz, § 25a Rz 176). Der Senat berücksichtigt dabei auch, dass im Rahmen der Differenzbesteuerung der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten ist (EuGH-Urteil Litdana vom 18.05.2017 - C-624/15, EU:C:2017:389, Rz 44) und danach eine derartige Schätzung --als milderes Mittel-- in Betracht zu ziehen sein kann.d) Soweit eine Differenzbesteuerung nach § 25a UStG nicht in Betracht kommen sollte, wird das FG noch Feststellungen zum Vorsteuerabzug und zum Steuersatz nachholen müssen.aa) Die Feststellungen des FG lassen keine Beurteilung zu, ob und ggf. in welcher Höhe die Voraussetzungen eines Vorsteuerabzugs vorgelegen haben. Die Feststellung des FG, dass die Klägerin die von ihr verkauften Gegenstände "beim Stöbern bei Haushaltsauflösungen" erworben hat, deutet darauf hin, dass es sich um Erwerbe von Nichtunternehmern gehandelt hat, die gemäß § 15 Abs. 1 UStG nicht zum Vorsteuerabzug berechtigen (s. oben unter II.3.a.). Hierzu wird das FG aber noch Feststellungen nachholen müssen. Dasselbe gilt für das Vorliegen von zum Vorsteuerabzug berechtigenden Rechnungen und den übrigen Voraussetzungen eines Vorsteuerabzugs nach § 15 Abs. 1 UStG.bb) Soweit die Voraussetzungen der Differenzbesteuerung nicht vorliegen sollten, wird das FG ferner zu prüfen haben, ob auf einzelne Umsätze der ermäßigte Steuersatz nach § 12 Abs. 2 UStG Anwendung findet. Dabei wird zu berücksichtigen sein, dass die Tatbestände des § 12 Abs. 2 UStG als Ausnahmeregelungen eng auszulegen sind (EuGH-Urteile Kommission/Frankreich vom 06.05.2010 - C-94/09, EU:C:2010:253; Erotic Center vom 18.03.2010 - C-3/09, EU:C:2010:149, m.w.N.) und dass der Steuerpflichtige die Feststellungslast für das Vorliegen der Merkmale der Steuerermäßigung trägt (BFH-Urteil in BFHE 237, 286, BStBl II 2012, 634).4. Vorsorglich weist der Senat darauf hin, dass die Voraussetzungen des § 19 UStG im Streitfall nicht vorliegen.a) Nach § 19 Abs. 1 Satz 1 UStG wird die für die Umsätze i.S. des § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG geschuldete Umsatzsteuer nicht erhoben, wenn der in Satz 2 bezeichnete Umsatz zuzüglich der darauf entfallenden Steuer im vorangegangenen Kalenderjahr 17.500 € nicht überstiegen hat und im laufenden Kalenderjahr 50.000 € voraussichtlich nicht übersteigen wird. Diese Voraussetzungen waren in den Streitjahren nicht erfüllt, weil der jeweils maßgebliche Vorjahresumsatz 17.500 € überstiegen hat. Die Umsatzgrenze von 50.000 € hat keine eigene Bedeutung, wenn der Vorjahresumsatz bereits die Grenze von 17.500 € übersteigt; Bedeutung hat die Umsatzgrenze nur für den Fall, dass die Umsätze des vorangegangenen Jahres geringer sind als 17.500 €, aber im laufenden Jahr voraussichtlich 50.000 € übersteigen (BFH-Urteil in BFHE 237, 286, BStBl II 2012, 634; BFH-Beschluss vom 18.10.2007 - V B 164/06, BFHE 219, 400, BStBl II 2008, 263, unter II.2.b, m.w.N.).b) Auch für das Erstjahr 2009 ist die Grenze der Kleinunternehmerbesteuerung überschritten. Denn in Kalenderjahren, in denen der Unternehmer sein Unternehmen beginnt, ist die Umsatzgrenze von 17.500 € für das laufende Kalenderjahr maßgeblich (BFH-Urteil vom 22.11.1984 - V R 170/83, BFHE 142, 316, BStBl II 1985, 142; BFH-Beschluss in BFHE 219, 400, BStBl II 2008, 263).c) Auch soweit die Anwendung der Differenzbesteuerung nach § 25a UStG in Betracht kommt (s. oben II.3.), führt dies zu keinem anderen Ergebnis. Denn bei der Ermittlung des Gesamtumsatzes nach der Kleinunternehmerregelung (§ 19 UStG) ist bei einem Händler, der der Differenzbesteuerung (§ 25a UStG) unterliegt, nicht auf die Differenz zwischen dem geforderten Verkaufspreis und dem Einkaufspreis (Handelsspanne), sondern auf die Gesamteinnahmen abzustellen (BFH-Urteil vom 23.10.2019 - XI R 17/19 (XI R 7/16), BFHE 267, 154).5. Die von der Klägerin beantragte Zurückverweisung an einen anderen Senat des FG ist im Streitfall nicht geboten, da ernstliche Zweifel an dessen Unvoreingenommenheit (vgl. zu den Voraussetzungen BFH-Urteil vom 04.09.2002 - XI R 67/00, BFHE 200, 1, BStBl II 2003, 142) nicht zu erkennen sind und auch von der Klägerin nicht vorgetragen worden sind. Allein die Fehlerhaftigkeit des FG-Urteils genügt hierfür nicht.Der vom FG dem Einzelrichter übertragene Rechtsstreit wird allerdings unter Aufhebung des Beschlusses betreffend die Übertragung des Streitfalls auf den Einzelrichter an den Vollsenat zurückverwiesen, da die Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 Nr. 1 FGO im Streitfall nicht gegeben sind (vgl. BFH-Urteile vom 13.12.2018 - III R 13/15, BFH/NV 2019, 1069; vom 30.11.2010 - VIII R 19/07, BFH/NV 2011, 449, und in BFH/NV 2021, 314).6. Der Senat hat die Entscheidung in einer Videokonferenz unter den hierfür von der BFH-Rechtsprechung aufgestellten Voraussetzungen getroffen (vgl. BFH-Urteil vom 10.02.2021 - IV R 35/19, BFHE 272, 152).7. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.
bundesfinanzhof
bfh_042-21
18. November 2021
Keine Kostenerstattung im Einspruchsverfahren wegen Hinterziehungszinsen 18. November 2021 - Nummer 042/21 - Urteil vom 01.09.2021 III R 18/21 Mit Urteil vom 01.09.2021 – III R 18/21 - hat der Bundesfinanzhof (BFH) entschieden, dass es bei einem erfolgreichen Einspruch gegen Hinterziehungszinsen auch im Kindergeldverfahren keine Kostenerstattung gibt.Die Klägerin hatte zu Unrecht Kindergeld bezogen. Deshalb setzte die Familienkasse gegen sie Hinterziehungszinsen fest. Der dagegen gerichtete Einspruch der Klägerin war zwar in der Sache erfolgreich. Die Familienkasse entschied aber, die im Einspruchsverfahren entstandenen Kosten der Klägerin nicht zu erstatten. Das Finanzgericht gab der daraufhin erhobene Klage statt und verpflichtete die Familienkasse zur Erstattung der Aufwendungen.Der BFH sah die Sache anders. Das Einspruchsverfahren nach der Abgabenordnung ist grundsätzlich für beide Seiten kostenfrei, d.h. Einspruchsführer und Behörde haben jeweils ihre eigenen Aufwendungen zu tragen. Abweichend von diesem Grundsatz werden nach § 77 des Einkommensteuergesetzes (EStG) im Einspruchsverfahren gegen Kindergeldfestsetzungsbescheide dem erfolgreichen Rechtsbehelfsführer die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen erstattet. Diese Vorschrift kann aber nach dem Urteil des BFH  nicht herangezogen werden, wenn der Einspruchsführer sich erfolgreich gegen die Festsetzung von Hinterziehungszinsen wegen unberechtigt erhaltener Kindergeldzahlungen gewandt hat. § 77 EStG ist seinem Wortlaut nach nur anwendbar,  soweit der Einspruch "gegen die Kindergeldfestsetzung" erfolgreich war. Als Ausnahme von Grundsatz der Kostenfreiheit des außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahrens kann die Kostenerstattungspflicht auch nicht durch eine entsprechende Anwendung des § 77 EStG begründet werden. Denn es fehlt für eine solche Analogie an einer planwidrigen Gesetzeslücke. Bundesfinanzhof Pressestelle       Tel. (089) 9231-400 Pressesprecher  Tel. (089) 9231-300 Siehe auch: III R 18/21
1. § 77 EStG ist bei einem erfolgreichen Einspruch gegen die Festsetzung von Hinterziehungszinsen wegen unberechtigt erhaltener Kindergeldzahlungen weder unmittelbar noch analog anwendbar.2. Es liegt keine Regelungslücke im Sinne einer planwidrigen Unvollständigkeit vor, soweit § 77 EStG seinem Wortlaut nach eine Kostenerstattung nur für Einspruchsverfahren wegen Kindergeldfestsetzungen vorsieht. Tenor Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts Bremen vom 25.03.2021 - 2 K 179/20 (3) aufgehoben.Die Klage wird abgewiesen.Die Kosten des gesamten Verfahrens hat die Klägerin zu tragen. Tatbestand I.Die Beteiligten streiten über die Kostenerstattung nach § 77 des Einkommensteuergesetzes (EStG).Mit Bescheid vom 14.05.2019 setzte die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) gegenüber der Klägerin und Revisionsbeklagten (Klägerin) Hinterziehungszinsen in Höhe von 2.163 € fest. Dieser Festsetzung lag eine zu Unrecht erfolgte Kindergeldzahlung in Höhe von 16.800 € zugrunde.Auf den am 18.06.2019 eingelegten Einspruch der Klägerin hob die Familienkasse den Bescheid vom 14.05.2019 mit Abhilfeentscheidung vom 16.09.2020 auf. Zugleich entschied sie, dass die im Einspruchsverfahren entstandenen Aufwendungen nicht zu erstatten seien. Gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 EStG sei eine Kostenerstattung ausschließlich in Einspruchsverfahren vorgesehen, die sich gegen die Aufhebung oder Ablehnung einer Kindergeldfestsetzung durch die Familienkasse gerichtet hätten.Den gegen die Kostenentscheidung eingelegten Einspruch vom 21.09.2020 wies die Familienkasse mit Einspruchsentscheidung vom 22.10.2020 als unbegründet zurück.Die anschließend erhobene Klage hatte Erfolg. Das Finanzgericht (FG) vertrat die Auffassung, § 77 Abs. 1 Satz 1 EStG sei auf den vorliegenden Fall analog anzuwenden.Mit der Revision rügt die Familienkasse die unzutreffende Auslegung des § 77 Abs. 1 Satz 1 EStG und damit die Verletzung von Bundesrecht.Die Familienkasse beantragt,das Urteil des FG Bremen vom 25.03.2021 - 2 K 179/20 (3) aufzuheben und die Klage abzuweisen.Die Klägerin beantragt,die Revision zurückzuweisen. Gründe II.Die Revision ist begründet und führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Klageabweisung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Die Vorentscheidung verletzt Bundesrecht (§ 118 Abs. 1 Satz 1 FGO). Das FG ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass ein Anspruch auf Kostenerstattung nach § 77 Abs. 1 Satz 1 EStG (analog) besteht.1. Nach § 77 Abs. 1 Satz 1 EStG hat die Familienkasse dem Einspruchsführer die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen zu erstatten, soweit der Einspruch gegen die Kindergeldfestsetzung erfolgreich ist.a) § 77 Abs. 1 Satz 1 EStG ist seinem Wortlaut nach nicht anwendbar, da es an einem erfolgreichen Einspruch gegen die Kindergeldfestsetzung fehlt. "Erfolgreich" i.S. des § 77 Abs. 1 Satz 1 EStG ist ein Einspruch nur dann, wenn die Familienkasse zugunsten des Einspruchsführers tatsächlich über den Streitgegenstand entscheidet (Senatsbeschluss vom 09.12.2010 - III B 115/09, BFH/NV 2011, 434; FG Düsseldorf, Urteil vom 07.08.2003 - 18 K 1088/03 Kg, Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 2003, 1802). Es muss daher grundsätzlich ein erfolgreicher Einspruch in einem das Kindergeld betreffenden Festsetzungsverfahren nach §§ 70, 72 EStG vorliegen. Dementsprechend ist § 77 EStG beispielsweise bei Billigkeitsentscheidungen in Kindergeldsachen nicht anwendbar (Senatsbeschluss in BFH/NV 2011, 434). Ebenso wird bei der Frage, ob Hinterziehungszinsen nach § 235 der Abgabenordnung (AO) festzusetzen sind, nicht über einen Streitgegenstand nach dem X. Abschnitt des EStG entschieden. Die Festsetzung von Hinterziehungszinsen nach § 235 AO erfordert das Vorliegen einer vollendeten Steuerhinterziehung (§§ 370, 373 AO). Nach § 370 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 1 AO werden zwar auch Steuervergütungen und damit das Kindergeld erfasst, welches gemäß § 31 Satz 3 EStG als Steuervergütung gezahlt wird. Für die Festsetzung von Hinterziehungszinsen ist aber allein maßgebend, ob der subjektive und objektive Tatbestand der Strafrechtsnorm sowie Rechtswidrigkeit und Schuld zu bejahen sind.b) Als Ausnahme vom Grundsatz der Kostenfreiheit des außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahrens kann die Kostenerstattungspflicht nach § 77 Abs. 1 Satz 1 EStG für die hier vorliegende Konstellation auch nicht extensiv (analog) ausgelegt werden. Es fehlt an einer für einen Analogieschluss erforderlichen planwidrigen Gesetzeslücke.aa) Eine solche Lücke liegt vor, wenn eine Regelung gemessen an ihrem Zweck unvollständig, d.h. ergänzungsbedürftig ist und wenn ihre Ergänzung nicht einer vom Gesetzgeber beabsichtigten Beschränkung auf bestimmte Tatbestände widerspricht. Hiervon zu unterscheiden ist der sog. rechtspolitische Fehler, der gegeben ist, wenn sich eine gesetzliche Regelung zwar als rechtspolitisch verbesserungsbedürftig, aber doch nicht --gemessen an der dem Gesetz immanenten Teleologie-- als planwidrig unvollständig und ergänzungsbedürftig erweist (vgl. Urteile des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 24.01.1974 - IV R 76/70, BFHE 111, 329, BStBl II 1974, 295, und vom 26.06.2002 - IV R 39/01, BFHE 199, 374, BStBl II 2002, 697; BFH-Beschluss vom 28.05.1993 - VIII B 11/92, BFHE 171, 300, BStBl II 1993, 665, m.w.N.). Ob eine Regelungslücke anzunehmen ist, ist unter Heranziehung des Gleichheitsgrundsatzes zu ermitteln, wobei für den danach erforderlichen Vergleich auf die Wertungen des Gesetzes, insbesondere die Entstehungsgeschichte des Gesetzes zurückzugreifen ist (BFH-Urteil vom 12.10.1999 - VIII R 21/97, BFHE 190, 343, BStBl II 2000, 220, m.w.N.).bb) Ob im Streitfall eine Gesetzeslücke vorliegt, kann offenbleiben. Jedenfalls lässt sich keine planwidrige Lücke feststellen.Bis zum 31.12.1995 galt hinsichtlich der Kostenerstattung für Widerspruchsverfahren gegen Entscheidungen der Kindergeldkasse § 63 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X). § 63 Abs. 1 Satz 1 SGB X bestimmt, dass --soweit der Widerspruch erfolgreich ist-- der Rechtsträger, dessen Behörde den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat, demjenigen, der Widerspruch erhoben hat, die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Auslagen zu erstatten hat. In § 63 Abs. 2 SGB X heißt es, dass die Gebühren und Auslagen eines Rechtsanwalts oder eines sonstigen Bevollmächtigten im Vorverfahren erstattungsfähig sind, wenn die Zuziehung eines Bevollmächtigten notwendig war. Der Anwendungsbereich dieser Vorschrift ist zwar auf das Widerspruchsverfahren (vgl. §§ 83 ff. des Sozialgerichtsgesetzes) beschränkt, nicht aber auf bestimmte Verfahrensgegenstände. Er erfasste daher auch Rechtsbehelfe im Zusammenhang mit der Abzweigung des Kindergelds nach § 48 Abs. 1 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch, einer dem § 74 Abs. 1 EStG entsprechenden Regelung (Senatsurteil vom 26.06.2014 - III R 39/12, BFHE 246, 410, BStBl II 2015, 148). Mit der Neuregelung der einkommensteuerrechtlichen Kindergeldvorschriften durch das Jahressteuergesetz 1996 wurde § 77 EStG in das EStG aufgenommen. Ausweislich der Gesetzesmaterialien zu § 77 EStG war beabsichtigt, eine dem § 63 SGB X entsprechende Vorschrift zu schaffen (BTDrucks 13/1558, S. 162).Gleichwohl regelt das Gesetz die Erstattungspflicht nicht allgemein für Einspruchsverfahren in Kindergeldangelegenheiten, sondern setzt einen erfolgreichen Einspruch gegen eine Kindergeldfestsetzung voraus (Senatsurteil in BFHE 246, 410, BStBl II 2015, 148). Insoweit kann die Kostenerstattungspflicht bei Kindergeldsachen grundsätzlich auch nicht extensiv ausgelegt werden (Senatsbeschluss in BFH/NV 2011, 434).Aus der Gesetzesbegründung wird vielmehr erkennbar, dass der Gesetzgeber nicht in sämtlichen das Kindergeld auch nur am Rande betreffenden Verfahren eine Kostenerstattungspflicht regeln wollte. Vielmehr wollte er in erster Linie eine Gleichstellung bei den bisher im SGB X verankerten Kostenerstattungsfällen erreichen, soweit es um erfolgreiche Einsprüche gegen Kindergeldfestsetzungen geht. Geht es hingegen nicht um Fragen der Leistungsgewährung im weitesten Sinne, war eine Gleichstellung auch im Hinblick auf die vor 1996 getroffenen Regelungen im Sozialrecht nicht erforderlich. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Kostenerstattung im sog. isolierten Vorverfahren im Rahmen der AO grundsätzlich in verfassungsrechtlich zulässiger Weise (BFH-Beschluss vom 23.07.1996 - VII B 42/96, BFHE 180, 529, BStBl II 1996, 501, m.w.N.) nicht vorgesehen ist, entspricht die Nichteinbeziehung von Einspruchsverfahren gegen Billigkeitsentscheidungen oder Hinterziehungszinsen auch dem Gleichheitsgrundsatz. In diesen Verfahren liegt der Schwerpunkt nicht auf der Feststellung eines Kindergeldanspruchs, sondern auf der Prüfung von Billigkeitserwägungen (unbillige Erhebung oder Einziehung, §§ 163, 227 AO) und der Feststellung, ob eine Steuerhinterziehung (hinterzogene Steuern, § 235 AO) vorliegt. Die entsprechend zu prüfenden Voraussetzungen unterscheiden sich aber in keiner Weise von Verfahren nach der AO, denen eine Steuerfestsetzung zugrunde liegt. Auch im Hinblick auf die Rechtsnatur der Kindergeldregelungen sind keine Gründe ersichtlich, die es gebieten, die Ausnahmeregelung des § 77 EStG entgegen dem Wortlaut auf Verfahren auszudehnen, die vergleichbaren Verwaltungsverfahren im Steuerrecht entsprechen. Eine unterschiedliche Behandlung der Kostenerstattungspflicht, je nachdem ob es um die Frage geht, ob eine Steuer oder eine Steuervergütung (§ 31 Satz 3 EStG) hinterzogen worden ist, ist zudem sachlich nicht zu rechtfertigen. Vor diesem Hintergrund kann jedenfalls nicht mit der gebotenen Gewissheit festgestellt werden, dass es der Gesetzgeber planwidrig unterlassen hat, die Kostenerstattungspflicht auch auf Fälle auszudehnen, die mit der Kindergeldfestsetzung an sich nichts zu tun haben. Ein Versehen des Gesetzgebers ist nicht erkennbar. Eine analoge Anwendung des § 77 EStG auf das erfolgreiche Einspruchsverfahren gegen die Festsetzung von Hinterziehungszinsen scheidet daher aus.cc) Soweit die Rechtsprechung der FG und des BFH die Ausnahmevorschrift des § 77 EStG erweiternd (analog) ausgelegt hat, umfasst dies grundsätzlich nur --mit dem Streitfall nicht vergleichbare-- Fälle, in denen der Verfahrensgegenstand mit einer (erfolgreichen) Kindergeldfestsetzung zusammenhing (BFH-Urteil vom 23.07.2002 - VIII R 73/00, BFH/NV 2003, 25; Hessisches FG vom 18.03.2015 - 12 K 1651/11, EFG 2015, 1616, rechtskräftig: Festsetzungs-, Ablehnungs-, Aufhebungsbescheide; BFH-Urteil vom 18.11.2015 - XI R 24-25/14, BFH/NV 2016, 418; ebenso Sächsisches FG vom 10.12.2008 - 5 K 2065/06, juris, rechtskräftig: Rückforderungsbescheide: Senatsurteil in BFHE 246, 410, BStBl II 2015, 148; BFH-Urteil in BFH/NV 2016, 418; (erfolgreiche) Untätigkeitseinsprüche, mit dem Ziel einer Kindergeldfestsetzung: FG München, Urteil vom 25.10.2017 - 7 K 2111/17, juris; FG Düsseldorf, Urteil vom 08.06.2011 - 7 K 3951/10 Kg, juris; FG Köln, Urteil vom 21.11.2012 - 14 K 1020/12, EFG 2013, 713; vgl. Senatsurteil vom 18.12.2019 - III R 46/17, BFH/NV 2020, 690; Abzweigungsbescheide nach § 74 EStG: Senatsurteil in BFHE 246, 410, BStBl II 2015, 148; BFH-Urteil in BFH/NV 2016, 418).Die ausnahmsweise angenommene analoge Anwendung des § 77 EStG bei der Anfechtung eines Abrechnungsbescheids nach § 218 AO hat der BFH damit begründet, dass die Auswirkungen einer Abzweigungsentscheidung der Familienkasse (§ 74 Abs. 1 EStG) und eines Abrechnungsbescheids wegen des Erstattungsanspruchs eines Trägers von Sozialleistungen (§ 74 Abs. 2 EStG) sich gleichen, da in beiden Fällen das zugunsten des Kindergeldberechtigten festgesetzte Kindergeld nicht an diesen, sondern an einen Dritten ausgezahlt wird (Senatsurteil vom 23.06.2015 - III R 31/14, BFHE 250, 28, BStBl II 2016, 26, Rz 19).2. Da das FG seiner Entscheidung eine abweichende Rechtsauffassung zugrunde gelegt hat, war das Urteil aufzuheben. Der Klägerin steht eine Kostenerstattung nicht zu, weshalb die Klage als unbegründet abzuweisen ist.3. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 143 Abs. 1, 135 Abs. 1 FGO.
bundesfinanzhof
bfh_012-20
05. März 2020
Vorlage an das BVerfG: BFH hält rückwirkende Anwendung des § 40a Abs. 1 Satz 2 KAGG auf im Mai 2003 erfolgte Veräußerungen von Anteilscheinen aus einem Wertpapier-Sondervermögen für verfassungswidrig 05. März 2020 - Nummer 012/20 - Beschluss vom 23.10.2019 XI R 43/18 Der Bundesfinanzhof (BFH) hat dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Frage vorgelegt, ob § 43 Abs. 18 des Gesetzes über Kapitalanlagegesellschaften (KAGG), der die Anwendung des § 40a Abs. 1 Satz 2 KAGG i.d.F. des Gesetzes zur Umsetzung der Protokollerklärung der Bundesregierung zum Steuervergünstigungsabbaugesetz vom 22.12.2003 (sog. Korb II-Gesetz) auf alle noch nicht bestandskräftigen Festsetzungen des Veranlagungszeitraums 2003 anordnet, aufgrund eines Verstoßes gegen das Rückwirkungsverbot verfassungswidrig ist. Im Streitfall hat der Kläger, ein Versicherungsverein a.G., im Mai 2003 Anteilscheine an Spezialfonds veräußert und hierbei sog. negative (Anleger-) Aktiengewinne realisiert. Das Finanzamt rechnete bei der Körperschaftsteuerveranlagung diese negativen Gewinne dem zu versteuernden Einkommen des Klägers hinzu, wodurch sich dessen Steuerlast erhöhte. Es zog hierbei § 43 Abs. 18 KAGG heran, der die rückwirkende Anwendung der im Dezember 2003 eingeführten Hinzurechnungsvorschrift (§ 40a Abs. 1 Satz 2 KAGG) auf alle noch offenen Veranlagungen vorsieht. Das Finanzgericht wies die Klage ab. Es ging von der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit dieser Rückwirkung aus. Das sah der BFH anders. Er führte aus, dass das am 27.12.2003 im Bundesgesetzblatt verkündete sog. Korb II-Gesetz zu einer sog. unechten Rückwirkung führe, da seine belastenden Rechtsfolgen erst im Zeitpunkt des Entstehens der Körperschaftsteuer am 31.12.2003 eintreten. Die Anwendung des § 40a Abs. 1 Satz 2 KAGG auf den Veranlagungszeitraum 2003 verstoße gegen den Grundsatz rechtsstaatlichen Vertrauensschutzes, soweit Veräußerungen im Mai 2003 betroffen seien. Vor dem Gesetzeserlass getätigte verbindliche Dispositionen des Klägers verdienten dem Grundsatz nach Vertrauensschutz. Das Vertrauen in den Fortbestand der bisherigen Rechtslage sei im Streitfall erst mit dem öffentlich bekannt gewordenen Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 15.08.2003 (BRDrucks 560/03) erschüttert worden. Soweit § 40a Abs. 1 Satz 2 KAGG mit Wirkung für die Veranlagungszeiträume 2001 und 2002 eingeführt wurde, hat bereits das BVerfG mit Beschluss vom 17.12.2013 – 1 BvL 5/08 diese gesetzgeberische Maßnahme als verfassungswidrig angesehen und § 43 Abs. 18 KAGG insoweit für nichtig erklärt. Bundesfinanzhof Pressestelle          Tel. (089) 9231-400 Pressesprecher    Tel. (089) 9231-300 Siehe auch: XI R 43/18
Es wird die Entscheidung des BVerfG darüber eingeholt, ob § 43 Abs. 18 KAGG, der die Anwendung des § 40a Abs. 1 Satz 2 KAGG i.d.F. des sog. Korb II-Gesetzes auf alle noch nicht bestandskräftigen Festsetzungen auch des Veranlagungszeitraums 2003 anordnet, soweit Veräußerungen im Mai 2003 betroffen sind, infolge Verstoßes gegen das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot verfassungswidrig ist. Tenor Es wird die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts darüber eingeholt, ob § 43 Abs. 18 des Gesetzes über Kapitalanlagegesellschaften, der die Anwendung des § 40a Abs. 1 Satz 2 des Gesetzes über Kapitalanlagegesellschaften i.d.F. des sog. Korb II Gesetzes auf alle noch nicht bestandskräftigen Festsetzungen auch des Veranlagungszeitraums 2003 anordnet, soweit Veräußerungen im Mai 2003 betroffen sind, infolge Verstoßes gegen das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot verfassungswidrig ist. Tatbestand A.Streitig ist, ob sog. negative Aktiengewinne aus der Veräußerung von Sonder-Wertpapiervermögen bei der Einkommensermittlung nach § 8b Abs. 3 des Körperschaftsteuergesetzes in der im Jahr 2003 (Streitjahr) geltenden Fassung (KStG) i.V.m. § 40a Abs. 1 Satz 2 des Gesetzes über Kapitalanlagegesellschaften (KAGG) i.d.F. des Art. 6 des Gesetzes zur Umsetzung der Protokollerklärung der Bundesregierung zur Vermittlungsempfehlung zum Steuervergünstigungsabbaugesetz (sog. Korb II-Gesetz) vom 22.12.2003 (BGBl I 2003, 2840) im Streitjahr hinzuzurechnen sind.Der Kläger und Revisionskläger (Kläger), ein Versicherungsverein a.G., gehört zu einem ...konzern und betreibt für diesen (als Unternehmen in einem sog. Gleichordnungskonzern i.S. des § 18 Abs. 2 des Aktiengesetzes) das Versicherungsgeschäft. Im Jahr 2003 veräußerte er Anteilscheine an drei Spezialfonds und erzielte hieraus Buchgewinne:FondsAnzahl der AnteileVeräußerung amBuchgewinnFonds A ...  15.05.2003Fonds A ...  19.05.2003Fonds A ...  20.05.2003Fonds A ...  23.05.2003 ... €Fonds B ...  19.05.2003 ... €Fonds C ...  29.08.2003 ... €Gesamt... €Aus der Veräußerung der Anteilscheine an dem Fonds D erzielte er einen buchtechnischen Verlust in Höhe von ... €.Im Rahmen seiner Körperschaftsteuererklärung für das Streitjahr erklärte der Kläger die Buchgewinne (Fonds A, B, C) als nach § 8b Abs. 2 und 3 KStG steuerfrei ("Steuerfreie Erträge aus dem Abgang von Investmentfondsanteilen"). Einen Anleger-Aktiengewinn oder -verlust ermittelte er nicht.Mit Körperschaftsteuerbescheid vom 06.07.2005, der gemäß § 164 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO) unter dem Vorbehalt der Nachprüfung erging, und mit Bescheid vom 06.01.2009, der den Ausgangsbescheid aus anderen Gründen änderte, veranlagte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) den Kläger hinsichtlich der Buchgewinne aus der Veräußerung der Anteilscheine erklärungsgemäß. Der Vorbehalt der Nachprüfung blieb im Änderungsbescheid vom 06.01.2009, mit dem die Körperschaftsteuer auf ... € festgesetzt wurde, bestehen.Im Zuge einer Außenprüfung ermittelte man zu der Veräußerung der Anteilscheine an den Fonds A, B und C die folgenden Anleger-Aktienverluste, die der Höhe nach zwischen den Beteiligten unstreitig sind (Tz. 2.11.8 des Außenprüfungsberichts vom 09.03.2011):FondsAnleger-AktienverlustA... €B... €C... €Gesamt... €Das FA änderte den Körperschaftsteuerbescheid in der Weise, dass dieser Betrag (als sog. negativer Aktiengewinn) dem zu versteuernden Einkommen hinzugerechnet und zugleich die Steuerfreistellung der Buchgewinne rückgängig gemacht wurde; der Verlust aus dem Verkauf des Fonds D wurde nicht hinzugerechnet.Betrag der Einkommenskorrektur:Bisher ... €abzgl. bisher steuerfrei belassene Buchgewinne    ... €errechneter Anleger-Aktienverlust ... €Korrektur Verkauf Rentenfonds ... €... €Die Einkommenserhöhung betrug folglich ... € und der Betrag der nicht abziehbaren Kosten minderte sich um ... € (Änderungsbescheid vom 12.04.2011; Festsetzung der Steuer auf ... €).Mit seinem hiergegen erhobenen Einspruch wandte sich der Kläger gegen die Hinzurechnung der negativen Aktiengewinne aus der Veräußerung der Investmentfonds. § 40a Abs. 1 Satz 2 KAGG dürfe als Verweisungsnorm auf § 8b Abs. 3 KStG nicht herangezogen werden, da diese Regelung erst mit dem Korb II-Gesetz vom 22.12.2003 (Verkündung am 27.12.2003; Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 15.08.2003, Einbringung in den Bundestag am 08.09.2003) in Kraft getreten sei. Vor Einführung des § 40a Abs. 1 Satz 2 KAGG habe es keine dem § 8b Abs. 3 KStG entsprechende Regelung für Wertpapier-Sondervermögen gegeben. Die rückwirkende Einführung des § 40a Abs. 1 Satz 2 KAGG durch § 43 Abs. 18 KAGG sei unzulässig. Der Einspruch wurde zurückgewiesen (Einspruchsentscheidung vom 12.12.2016).Im Klageverfahren, das erfolglos blieb (Finanzgericht --FG-- Münster, Urteil vom 20.06.2018 - 10 K 3981/16 K, abgedruckt in Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 2018, 1478), hatte das FA den Körperschaftsteuerbescheid aus nicht das Klageverfahren betreffenden Gründen am 11.05.2018 geändert.Der Kläger rügt mit der Revision die Verletzung materiellen Rechts.Er beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils den Körperschaftsteuerbescheid 2003 vom 11.05.2018 dahingehend abzuändern, dass die außerbilanzielle Hinzurechnung der negativen Aktiengewinne in Höhe von ... € rückgängig gemacht und das zu versteuernde Einkommen entsprechend gemindert wird, und regt eine Normenkontrollvorlage an das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) an.Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen. Gründe B.Infolge der vom Senat angenommenen Verfassungswidrigkeit des § 43 Abs. 18 KAGG, der die Anwendung des § 40a Abs. 1 Satz 2 KAGG i.d.F. des sog. Korb II-Gesetzes auf alle noch nicht bestandskräftigen Festsetzungen auch des Veranlagungszeitraums 2003 anordnet, soweit Veräußerungen im Mai 2003 betroffen sind, war das Revisionsverfahren gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes (GG) i.V.m. § 80 Abs. 1 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht auszusetzen und die Entscheidung des BVerfG einzuholen.Nach Überzeugung des Senats ist § 43 Abs. 18 KAGG mit dem Grundsatz des Vertrauensschutzes unvereinbar und verstößt insoweit gegen Art. 20 Abs. 3 GG, als durch die Anwendung des § 40a Abs. 1 Satz 2 KAGG i.d.F. des sog. Korb II-Gesetzes auf alle noch nicht bestandskräftigen Festsetzungen auch des Veranlagungszeitraums 2003 Veräußerungen im Mai 2003 betroffen und dabei erzielte sog. negative Anleger-Aktiengewinne unter Anwendung von § 8b Abs. 3 KStG bei der Einkommensermittlung nicht zu berücksichtigen sind.I. Rechtsentwicklung der im Streitfall maßgeblichen Vorschrift1. Das Recht der inländischen Investmentgesellschaften war bis zum 31.12.2003 im Gesetz über Kapitalanlagegesellschaften geregelt (ursprüngliche Fassung vom 16.04.1957, BGBl I 1957, 378). Dieses Gesetz enthielt die aufsichts- und steuerrechtlichen Vorschriften für inländische Kapitalanlagegesellschaften. Es wurde im Rahmen des Gesetzes zur Modernisierung des Investmentwesens und zur Besteuerung von Investmentvermögen (Investmentmodernisierungsgesetz) vom 15.12.2003 (BGBl I 2003, 2676) mit Wirkung vom 01.01.2004 durch das Investmentgesetz für das Aufsichtsrecht und das Investmentsteuergesetz (InvStG 2004) für das Steuerrecht abgelöst. Das Investmentgesetz wurde inzwischen durch das am 22.07.2013 in Kraft getretene Kapitalanlagegesetzbuch ersetzt (BGBl I 2013, 1981), das Investmentsteuergesetz durch das Investmentsteuergesetz 2018 (Gesetz zur Reform der Investmentbesteuerung vom 19.07.2016, BGBl I 2016, 1730).In dem Gesetzgebungsverfahren zum Investmentmodernisierungsgesetz setzte sich der Gesetzgeber u.a. mit einem Auslegungsproblem zur ertragsteuerrechtlichen Berücksichtigungsfähigkeit von Teilwertabschreibungen auseinander (vgl. § 8 InvStG 2004). Es ging um die Frage, ob der in § 8b Abs. 3 KStG in der ab 01.01.2001 geltenden Fassung vorgesehene Ausschluss der Berücksichtigungsfähigkeit von Teilwertabschreibungen (vgl. BTDrucks 14/2683, 79) auch auf Kapitalanlagegesellschaften Anwendung findet, obwohl § 40a KAGG auf diese Vorschrift nicht verwies. Der Gesetzgeber erstreckte die seiner Auffassung nach im Vergleich zur bisherigen Rechtslage nur klarstellende Lösung, wonach § 8b Abs. 3 KStG auch auf Kapitalanlagegesellschaften Anwendung finde, durch eine Änderung des auslaufenden KAGG zugleich auf die Vergangenheit. Die dies anordnenden Regelungen des § 40a Abs. 1 Satz 2 und des § 43 Abs. 18 KAGG wurden in das sog. Korb II-Gesetz aufgenommen. Die Gesetzgebungsverfahren zum Korb II-Gesetz und zum Investmentmodernisierungsgesetz wurden in der zweiten Hälfte des Jahres 2003 durchgeführt (vgl. zu den Gesetzentwürfen der Bundesregierung BRDrucks 560/03 vom 15.08.2003 und BRDrucks 609/03 vom 28.08.2003; vgl. BTDrucks 15/1518 vom 08.09.2003 und BTDrucks 15/1553 vom 19.09.2003). Das Investmentmodernisierungsgesetz wurde am 19.12.2003, das Korb II-Gesetz am 27.12.2003 im Bundesgesetzblatt verkündet.2. Hintergrund der Einführung des § 40a Abs. 1 KAGG war der Systemwechsel im Körperschaftsteuerrecht vom Anrechnungs- zum Halbeinkünfteverfahren (später Teileinkünfteverfahren). Dieser Systemwechsel hatte u.a. zu Änderungen des KAGG geführt (vgl. BTDrucks 14/2683, 132). An den durch das Gesetz zur Senkung der Steuersätze und zur Reform der Unternehmensbesteuerung (Steuersenkungsgesetz --StSenkG--) vom 23.10.2000 (BGBl I 2000, 1433) eingeführten --zunächst nur aus einem Satz bestehenden-- § 40a Abs. 1 KAGG a.F. wurde durch das Korb II-Gesetz vom 22.12.2003 ein zweiter Satz angefügt, für den es in der vorherigen Fassung noch keine Entsprechung gegeben hatte:"(1) 1Auf die Einnahmen aus der Rückgabe oder Veräußerung von Anteilscheinen an einem Wertpapier-Sondervermögen, die zu einem Betriebsvermögen gehören, sind § 3 Nr. 40 des Einkommensteuergesetzes und § 8b Abs. 2 des Körperschaftsteuergesetzes anzuwenden, soweit sie dort genannte, dem Anteilscheininhaber noch nicht zugeflossene oder als zugeflossen geltende Einnahmen enthalten oder auf Beteiligungen des Wertpapier-Sondervermögens an Körperschaften, Personenvereinigungen oder Vermögensmassen entfallen, deren Leistungen beim Empfänger zu den Einnahmen im Sinne des § 20 Abs. 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes gehören. ²Auf Gewinnminderungen, die im Zusammenhang mit Anteilsscheinen an einem Wertpapier-Sondervermögen stehen, sind § 3c Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes und § 8b Abs. 3 des Körperschaftsteuergesetzes anzuwenden, soweit die Gewinnminderungen auf Beteiligungen des Wertpapier-Sondervermögens an Körperschaften, Personenvereinigungen oder Vermögensmassen entfallen, deren Leistungen beim Empfänger zu den Einnahmen im Sinne des § 20 Abs. 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes gehören."Die zeitliche Anwendung des § 40a Abs. 1 KAGG wurde durch das Korb II-Gesetz in § 43 Abs. 18 KAGG wie folgt festgelegt:"(18) § 40a Abs. 1 in der Fassung des Artikels 6 des Gesetzes vom 22. Dezember 2003 (BGBl. I S. 2840) ist für alle Veranlagungszeiträume anzuwenden, soweit Festsetzungen noch nicht bestandskräftig sind."Nach der Begründung des Regierungsentwurfs (vgl. BTDrucks 15/1518, 17) handelt es sich bei § 40a Abs. 1 Satz 2 KAGG um eine "redaktionelle Klarstellung, dass § 8b Abs. 3 KStG auch bei Investmentanteilen gilt, wenn Verluste aus der Veräußerung der Anteilsscheine oder Teilwertminderungen auf Wertminderungen der in dem Wertpapier-Sondervermögen befindlichen Beteiligungen beruhen". Zur Regelung ab Veranlagungszeitraum 2004 s. § 8 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 InvStG 2004 i.V.m. § 8b KStG.3. Nach dem Beschluss des BVerfG vom 17.12.2013 - 1 BvL 5/08 (BVerfGE 135, 1) ist § 43 Abs. 18 KAGG wegen Verletzung des rechtsstaatlichen Rückwirkungsverbots partiell (Veranlagungszeiträume 2002 und früher) nichtig; dazu heißt es in den Leitsätzen: "1. Den Inhalt geltenden Rechts kann der Gesetzgeber mit Wirkung für die Vergangenheit nur in den verfassungsrechtlichen Grenzen für eine rückwirkende Rechtsetzung feststellen oder klarstellend präzisieren. 2. Eine nachträgliche, klärende Feststellung des geltenden Rechts durch den Gesetzgeber ist grundsätzlich als konstitutiv rückwirkende Regelung anzusehen, wenn dadurch eine in der Fachgerichtsbarkeit offene Auslegungsfrage entschieden wird oder eine davon abweichende Auslegung ausgeschlossen werden soll." Das BVerfG hat in seinem Beschluss die auf den Veranlagungszeitraum 2002 abzielende Vorlagefrage auf den Veranlagungszeitraum 2001 erstreckt, da sich die nach der Vorlage für den im Ausgangsverfahren entscheidungserheblichen Veranlagungszeitraum 2002 erheblichen Verfassungsrechtsfragen in gleicher Weise für das Jahr 2001 stellen würden. Im Weiteren ist dort (zu B.I.5. [= Rz 37]  - Station "Zulässigkeit der Vorlage") ausgeführt: "... Eine Erstreckung der Vorlage auf den Veranlagungszeitraum 2003 kommt hingegen nicht in Betracht, weil die verfassungsrechtliche Beurteilung bezüglich dieses Veranlagungszeitraums (vgl. Finanzgericht Nürnberg, Urteil vom 21. Juli 2009 - 1 K 733/2007 -, EFG 2010, S. 163) schon im Hinblick auf die Einordnung der gesetzlichen Rückwirkung eigene Probleme und teilweise andere Fragen aufwirft."§ 43 Abs. 18 KAGG ist damit verfassungswidrig, soweit er für Gewinnminderungen, die im Zusammenhang mit Anteilscheinen an einem Wertpapier-Sondervermögen stehen, die rückwirkende Anwendung des § 40a Abs. 1 Satz 2 KAGG in den Veranlagungszeiträumen 2001 und 2002 anordnet. Insoweit entfaltet § 43 Abs. 18 KAGG schon in formaler Hinsicht echte Rückwirkung. Die rückwirkende Verweisung auf § 8b Abs. 3 KStG in § 40a Abs. 1 Satz 2 KAGG ist aus verfassungsrechtlicher Sicht als konstitutive Änderung der bisherigen Rechtslage zu behandeln und damit auch materiell an den Grundsätzen einer echten Rückwirkung zu messen. Die Voraussetzungen einer nur ausnahmsweise zulässigen echten Rückwirkung liegen nicht vor.4. Die Rechtsfrage, ob auf eine Anwendung von § 8b Abs. 3 KStG --ohne Berücksichtigung des § 43 Abs. 18 KAGG-- durch Auslegung "einfachen Rechts" für den Veranlagungszeitraum 2002 geschlossen werden kann, hat der Bundesfinanzhof (BFH) durch Urteil vom 25.06.2014 - I R 33/09 (BFHE 246, 310, BStBl II 2016, 699) abschlägig beantwortet: "Der in § 40a Abs. 1 KAGG i.d.F. des StSenkG vom 23. Oktober 2000 enthaltene Verweis auf § 8b Abs. 2 KStG 2002 umfasst nicht zugleich die Rechtsfolge des § 8b Abs. 3 KStG 2002 als Rechtsgrundlage für die Hinzurechnung eines sog. negativen Aktiengewinns aus der Rückgabe von Anteilsscheinen an einem Wertpapier-Sondervermögen zum Steuerbilanzgewinn." Diese Linie wurde durch Urteil vom 30.07.2014 - I R 74/12 (BFHE 249, 430, BStBl II 2016, 701) bestätigt. Insbesondere ist im BFH-Urteil in BFHE 246, 310, BStBl II 2016, 699 herausgestellt, dass das "Transparenzprinzip" (da nur als eingeschränktes zu verstehen, s. sogleich) nicht als teleologisches Leitprinzip geeignet ist, die Gesetzeslücke belastend und damit eingriffsrechtfertigend zu schließen.II. Einfachgesetzliche RechtslageDie Revision ist unbegründet, wenn § 43 Abs. 18 KAGG verfassungsgemäß ist. Sie hat jedoch Erfolg, wenn die Regelung (gegebenenfalls in bestimmten Fallsituationen, die im Streitfall "auch" vorliegen) gegen den verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz verstößt.Unter Anwendung des § 43 Abs. 18 KAGG ist der im Streitfall (Streitjahr 2003) im Zuge der Veräußerung der Anteilscheine realisierte sog. negative (Anleger-)Aktiengewinn bei der Ermittlung des zu versteuernden Einkommens hinzuzurechnen (§ 8b Abs. 3 KStG). Dem entspricht die --von der Vorinstanz als rechtmäßig bestätigte-- angefochtene Steuerfestsetzung (zur Verwaltungsauffassung [Anwendung der Regelung ab Veranlagungszeitraum 2003] s. Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 25.07.2016, BStBl I 2016, 763). Dies ist unter den Beteiligten nicht im Streit.Sollte allerdings § 43 Abs. 18 KAGG nicht oder jedenfalls in bestimmten Fallsituationen, die im Streitfall "auch" vorliegen, nicht anzuwenden sein, ist das im angefochtenen Steuerbescheid berücksichtigte zu versteuernde Einkommen des Klägers herabzusetzen. Denn der in § 40a Abs. 1 KAGG i.d.F. des StSenkG vom 23.10.2000 enthaltene Verweis auf § 8b Abs. 2 KStG erfasst nicht zugleich die Rechtsfolge des § 8b Abs. 3 KStG als Rechtsgrundlage für die Hinzurechnung eines sog. negativen Aktiengewinns aus der Veräußerung von Anteilscheinen an einem Wertpapier-Sondervermögen zum Steuerbilanzgewinn (s. die zu B.I.4. angeführte Rechtsprechung des BFH).III. Verfassungsrechtliche BeurteilungNach Überzeugung des vorlegenden Senats verletzt die bezogen auf das Streitjahr in § 43 Abs. 18 KAGG angeordnete und --(streitfallbezogen:) für Veräußerungen im Mai 2003-- rückwirkende Anwendung des § 8b Abs. 3 KStG den Grundsatz rechtsstaatlichen Vertrauensschutzes und verstößt insoweit gegen Art. 20 Abs. 3 GG.1. Das grundsätzliche Verbot rückwirkender belastender Gesetze beruht auf den Prinzipien der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes (vgl. z.B. BVerfG-Beschlüsse vom 08.06.1977 - 2 BvR 499/74, 2 BvR 1042/75, BVerfGE 45, 142, 167 f.; vom 10.10.2012 - 1 BvL 6/07, BVerfGE 132, 302, Rz 41). Es schützt das Vertrauen in die Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der unter der Geltung des Grundgesetzes geschaffenen Rechtsordnung und der auf ihrer Grundlage erworbenen Rechte (vgl. z.B. BVerfG-Urteil vom 23.11.1999 - 1 BvF 1/94, BVerfGE 101, 239, 262; BVerfG-Beschluss in BVerfGE 132, 302, Rz 41; BVerfG-Urteil vom 10.04.2018 - 1 BvR 1236/11, BVerfGE 148, 217, BStBl II 2018, 303, Rz 134). Wenn der Gesetzgeber die Rechtsfolge eines der Vergangenheit zugehörigen Verhaltens nachträglich belastend ändert, bedarf dies einer besonderen Rechtfertigung vor dem Rechtsstaatsprinzip und den Grundrechten des Grundgesetzes, unter deren Schutz Sachverhalte "ins Werk gesetzt" worden sind (vgl. z.B. BVerfG-Beschlüsse in BVerfGE 45, 142, 167 f.; vom 22.03.1983 - 2 BvR 475/78, BVerfGE 63, 343, 356 f.; vom 14.05.1986 - 2 BvL 2/83, BVerfGE 72, 200, 242; vom 03.12.1997 - 2 BvR 882/97, BVerfGE 97, 67, 78 f.; BVerfG-Urteil in BVerfGE 148, 217, BStBl II 2018, 303, Rz 134).a) Eine sog. unechte Rückwirkung liegt vor, wenn eine Norm auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft einwirkt und damit zugleich die betroffene Rechtsposition entwertet (vgl. BVerfG-Urteile in BVerfGE 101, 239, 263; vom 10.06.2009 - 1 BvR 706/08, 1 BvR 814/08, 1 BvR 819/08, 1 BvR 832/08, 1 BvR 837/08, BVerfGE 123, 186, 257), beispielsweise, wenn belastende Rechtsfolgen einer Norm erst nach ihrer Verkündung eintreten, tatbestandlich aber von einem bereits ins Werk gesetzten Sachverhalt ausgelöst werden ("tatbestandliche Rückanknüpfung"; vgl. z.B. BVerfG-Beschlüsse in BVerfGE 63, 343, 356; in BVerfGE 72, 200, 242; in BVerfGE 97, 67, 79; vom 05.02.2002 - 2 BvR 305/93, 2 BvR 348/93, BVerfGE 105, 17, 37 f.; vom 07.07.2010 - 2 BvL 14/02, 2 BvL 2/04, 2 BvL 13/05, BVerfGE 127, 1, 17). Sie ist grundsätzlich zulässig (so BVerfG-Beschlüsse in BVerfGE 132, 302, Rz 43; in BVerfGE 135, 1, Rz 40; BVerfG-Urteil in BVerfGE 148, 217, BStBl II 2018, 303, Rz 136). Allerdings können sich aus dem Grundsatz des Vertrauensschutzes und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip Grenzen der Zulässigkeit ergeben. Diese Grenzen sind überschritten, wenn die vom Gesetzgeber angeordnete unechte Rückwirkung zur Erreichung des Gesetzeszwecks nicht geeignet oder erforderlich ist oder wenn die Bestandsinteressen der Betroffenen die Veränderungsgründe des Gesetzgebers überwiegen (ständige Rechtsprechung, z.B. BVerfG-Beschluss in BVerfGE 132, 302, Rz 43, m.w.N.).b) Im Steuerrecht liegt eine unechte Rückwirkung vor, wenn der Gesetzgeber Normen mit Wirkung für den laufenden Veranlagungszeitraum ändert; denn nach § 38 AO i.V.m. § 36 Abs. 1, § 25 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes bzw. § 30 Nr. 3 KStG entsteht die Einkommensteuer bzw. die Körperschaftsteuer erst mit dem Ablauf des Veranlagungszeitraums, d.h. des Kalenderjahres (vgl. BVerfG-Beschlüsse in BVerfGE 72, 200, 252 f.; in BVerfGE 97, 67, 80; in BVerfGE 132, 302, Rz 44; in BVerfGE 135, 1, Rz 42; BVerfG-Urteil in BVerfGE 148, 217, BStBl II 2018, 303, Rz 142).Sofern eine Steuerrechtsnorm nach diesen Grundsätzen unechte Rückwirkung entfaltet, gelten für deren Vereinbarkeit mit der Verfassung nach der neueren Rechtsprechung des BVerfG im Verhältnis zu sonstigen Fällen unechter Rückwirkung gesteigerte Anforderungen (vgl. BVerfG-Beschluss in BVerfGE 132, 302, Rz 46; BVerfG-Urteil in BVerfGE 148, 217, BStBl II 2018, 303, Rz 139). Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass rückwirkende Regelungen innerhalb eines Veranlagungszeitraums, die danach der unechten Rückwirkung zugeordnet werden, in vielerlei Hinsicht den Fällen echter Rückwirkung nahestehen. Allerdings ist auch in diesem Fall eine unechte Rückwirkung nicht grundsätzlich unzulässig (vgl. BVerfG-Beschlüsse in BVerfGE 127, 1, 17 f.; vom 07.07.2010 - 2 BvL 1/03, 2 BvL 57/06, 2 BvL 58/06, BVerfGE 127, 31, 47 f.; vom 07.07.2010 - 2 BvR 748/05, 2 BvR 753/05, 2 BvR 1738/05, BVerfGE 127, 61, 76 f.; BVerfG-Urteil in BVerfGE 148, 217, BStBl II 2018, 303, Rz 138 f.). Der verfassungsrechtliche Vertrauensschutz geht aber insbesondere nicht so weit, den Regelungsadressaten vor jeder Enttäuschung zu bewahren (vgl. BVerfG-Beschlüsse vom 08.03.1983 - 2 BvL 27/81, BVerfGE 63, 312; vom 10.04.1984 - 2 BvL 19/82, BVerfGE 67, 1; vom 30.09.1987 - 2 BvR 933/82, BVerfGE 76, 256; vom 10.12.1985 - 2 BvL 18/83, BVerfGE 71, 255). Soweit nicht besondere Momente der Schutzwürdigkeit hinzutreten, genießt die bloße allgemeine Erwartung, das geltende Recht werde zukünftig unverändert fortbestehen, keinen besonderen verfassungsrechtlichen Schutz (vgl. z.B. BVerfG-Beschlüsse in BVerfGE 105, 17, 40; vom 08.12.2009 - 2 BvR 758/07, BVerfGE 125, 104, 135; in BVerfGE 132, 302, Rz 45; BVerfG-Urteil in BVerfGE 148, 217, BStBl II 2018, 303, Rz 138).c) Wenn der Gesetzgeber das Körperschaftsteuerrecht während des laufenden Veranlagungszeitraums umgestaltet und die Rechtsänderungen auf dessen Beginn bezieht, bedürfen die belastenden Wirkungen einer Enttäuschung schutzwürdigen Vertrauens deshalb stets einer hinreichenden Begründung nach den Maßstäben der Verhältnismäßigkeit. Hier muss der Normadressat eine Enttäuschung seines Vertrauens in die alte Rechtslage nur hinnehmen, soweit dies aufgrund besonderer, gerade die Rückanknüpfung rechtfertigender öffentlicher Interessen unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit gerechtfertigt ist (vgl. BVerfG-Beschlüsse in BVerfGE 127, 1, 20; in BVerfGE 127, 31, 48 f.; in BVerfGE 132, 302, Rz 46; BVerfG-Urteil in BVerfGE 148, 217, BStBl II 2018, 303, Rz 139).Wo danach jeweils die Grenzen verfassungsrechtlich zulässiger unechter Rückwirkung innerhalb eines Veranlagungs- oder Erhebungszeitraums liegen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalls ab. Vertrauen ist besonders schutzwürdig, wenn die Betroffenen zum Zeitpunkt der Verkündung der Neuregelung nach der alten Rechtslage eine verfestigte Erwartung auf Vermögenszuwächse erlangt und realisiert hatten oder hätten realisieren können (BVerfG-Beschlüsse in BVerfGE 127, 1, 21; in BVerfGE 127, 61, 79 f.; BVerfG-Urteil in BVerfGE 148, 217, BStBl II 2018, 303, Rz 140). Das gilt vor allem dann, wenn auf der Grundlage des geltenden Rechts vor Verkündung des rückwirkenden Gesetzes bereits Leistungen zugeflossen waren (vgl. BVerfG-Beschluss in BVerfGE 127, 31, 56 ff.; einschränkend insoweit BVerfG-Beschluss in BVerfGE 132, 302, Rz 64 ff.). Besonders schutzwürdig ist das Vertrauen der Betroffenen zudem dann, wenn diese vor der Einbringung des neuen Gesetzes in den Bundestag verbindliche Festlegungen getroffen hatten (vgl. BVerfG-Beschlüsse in BVerfGE 127, 31, 50; in BVerfGE 132, 302, Rz 54 ff.; BVerfG-Urteil in BVerfGE 148, 217, BStBl II 2018, 303, Rz 140). Umgekehrt werden grundsätzlich (allgemeine) Gegenfinanzierungsinteressen (s. BVerfG-Beschluss in BVerfGE 127, 31, 59; s. zur nicht ausreichenden Rechtfertigung durch das Argument der Erhöhung des Steueraufkommens auch BVerfG-Beschluss in BVerfGE 132, 302, Rz 73) und Vorhaben, die die Rechtslage verbessern oder Besteuerungslücken schließen sollen (BVerfG-Beschlüsse in BVerfGE 127, 1, 26; in BVerfGE 127, 31, 59), nicht als ausreichend angesehen.2. Nach diesen Maßstäben führt § 43 Abs. 18 KAGG im Streitjahr nach der Maßgabe dieser formalen ("tatbestandstechnischen") Unterscheidung zu einer unechten Rückwirkung. Denn das sog. Korb II-Gesetz wurde am 27.12.2003 im Bundesgesetzblatt verkündet, seine belastenden Rechtsfolgen (hier: Anwendung des § 8b Abs. 3 KStG) treten jedoch --unter Rückgriff auf einen bereits zuvor ins Werk gesetzten Sachverhalt (Veräußerung der Anteilscheine im Lauf des Jahres 2003)-- erst im Zeitpunkt der Entstehung der Körperschaftsteuer für das Streitjahr, also am 31.12.2003, ein (s.a. BVerfG-Beschluss in BVerfGE 135, 1, Rz 42; gl.A. --neben der Vorinstanz-- auch FG Nürnberg, Urteil vom 21.07.2009 - 1 K 733/2007, EFG 2010, 163; FG Baden-Württemberg, Urteil vom 29.11.2017 - 4 K 3397/15, EFG 2018, 401 [anhängige Revision IV R 19/17]; s.a. Maciejewski/Thelen, Die Öffentliche Verwaltung 2015, 271, 275; Wernsmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler --HHSp--, AO/FGO, § 4 AO Rz 733; ablehnend Drüen in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 4 AO Rz 16a, jeweils m.w.N.).3. Vor dem Gesetzeserlass getätigte verbindliche Dispositionen des Klägers (hier: Veräußerung/Rückgabe der Anteilscheine) verdienen nach Auffassung des vorlegenden Senats dem Grundsatz nach Vertrauensschutz.a) Allerdings hat die Vorinstanz auf ein Fehlen eines schutzwürdigen Vertrauens bei dem Kläger erkannt, und dies damit begründet, dass die Rechtslage von Anfang an umstritten gewesen sei (ebenso in der Sache FG Baden-Württemberg, Urteil in EFG 2018, 401; FG Nürnberg, Urteil vom 13.12.2016 - 1 K 1214/14, EFG 2017, 1606; Hinweis auf das Sondervotum von Masing zum BVerfG-Beschluss in BVerfGE 135, 1, BVerfGE 135, 29, Rz 85 ff.). Auch wenn der BFH in seinem Urteil in BFHE 246, 310, BStBl II 2016, 699 die Auffassung vertreten habe, dass § 40a Abs. 1 KAGG in der bis zum sog. Korb II-Gesetz geltenden Fassung keine Rechtsgrundlage für die Anwendung von § 8b Abs. 3 KStG "darstelle", ändere dies jedoch nichts daran, dass weder die eine noch die andere Auslegung "von Verfassungs wegen" zwingend geboten gewesen sei. Die Fachgerichte hätten ("von Verfassungs wegen") eine Auslegung von § 40a Abs. 1 KAGG in der bis zum sog. Korb II-Gesetz geltenden Fassung i.S. einer Anwendung von § 8b Abs. 3 KStG ohne Weiteres herbeiführen können, womit die betroffenen Steuerpflichtigen auch hätten rechnen müssen.b) Diese Deutung von "Vertrauen" wird jedoch sowohl der verfassungsrechtlichen Maßgabe einer "Kontinuitätsgewähr" des geltenden Rechts (s. allgemein Birk in Pezzer [Hrsg.], Vertrauensschutz im Steuerrecht, Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft --DStJG-- 27 [2004], 9, 13 ff.; Mellinghoff, ebenda, 25, 30 und 34 ff.) auf der Grundlage einer sog. Gewährleistungsfunktion der Rechtsordnung als auch der Grundstruktur der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung (als Vorbehalt des Gesetzes [z.B. Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Aufl., § 3 Rz 230]; Waldhoff, DStJG 27 [2004], 129, 143 f.; s.a. § 85 AO) nicht gerecht.Der BFH hat zwar erst im Jahr 2014 (BFH-Urteil in BFHE 246, 310, BStBl II 2016, 699) eine die Auslegungsfrage "einfachen Rechts" abschließend beantwortende Entscheidung getroffen; er hat dabei --in Kenntnis des BVerfG-Beschlusses in BVerfGE 135, 1 und der im Sondervotum von Masing konkret formulierten Rechtseinschätzung, der Gesetzeszweck erzwinge eine belastende Entscheidung-- auf das Fehlen eines allgemein auslegungsleitenden Gesetzesprinzips erkannt und dabei auch zugrunde gelegt, dass sich eine (etwaige) rechtspolitische Fehlerhaftigkeit nicht eingriffsrechtfertigend auswirken kann. Aber diese Entscheidung zum dortigen Streitjahr 2002 hat uneingeschränkt (rechtsbeschreibende) Wirkung auf den Folge-Veranlagungszeitraum 2003. Es kommt nicht in Betracht, für diesen Veranlagungszeitraum (das hier einschlägige Streitjahr 2003) relativierend zu berücksichtigen, dass "nur eine unechte Rückwirkung vorliegt, so dass die Erwägungen des BVerfG" (wohl gemeint: zur offenen Auslegungsfrage "einfachen Rechts", die eine "echte Rückwirkung" nicht rechtfertigt) "hier nicht in gleicher Schärfe gelten" (so Oellerich, EFG 2018, 406, 407; in der Sache aber ebenfalls FG Baden-Württemberg, Urteil in EFG 2018, 401). Wenn es dem Gesetzgeber nicht ohne weiteres zuzugestehen ist, durch rückwirkende "klarstellende" Gesetzgebung eine Gesetzesauslegung seines Verständnisses unabhängig von der zur Norminterpretation berufenen Fachgerichtsbarkeit zu installieren (so die Erkenntnis aus dem BVerfG-Beschluss in BVerfGE 135, 1; s.a. z.B. Birk, Finanz-Rundschau --FR-- 2014, 338, 339; differenzierend Osterloh, Steuer und Wirtschaft --StuW-- 2015, 201, 206 ff.), hat dies nichts damit zu tun, ob als Prüfungsmaßstab auf der Grundlage der rein formalen Begrifflichkeit eine "echte" oder eine "unechte Rückwirkung" heranzuziehen ist. Jedenfalls kann sich die einzelfallbezogene Vertrauensfrage nicht an den Maßgaben des jahresbezogenen Veranlagungszeitraums ausrichten, so dass etwa eine Disposition am 31.12.2002 "schützenswerter" wäre als eine solche am 01.01.2003 (s.a. Pelka, DStJG 27 [2004], 118 f., und Spindler, ebenda, 119 f. [Diskussionsbeiträge]), sondern wird allein durch die vertrauensbezogenen Umstände --die im Streitjahr (zunächst) gegenüber dem Vorjahr unverändert vorliegen-- bestimmt (so im Ergebnis auch z.B. Mellinghoff, DStJG 27 [2004], 25, 53 und 59 [Diskussionsbeitrag]; Spindler, DStJG 27 [2004], 69, 88; Drüen in Tipke/Kruse, a.a.O., § 4 AO Rz 28; wohl auch Osterloh, StuW 2015, 201, 206).Eine andere Deutung lässt sich abweichend zur Auffassung des FG Baden-Württemberg (im Urteil in EFG 2018, 401) auch nicht aus Rz 37 des BVerfG-Beschlusses in BVerfGE 135, 1 zur Zulässigkeit der dortigen Vorlage (bzw. der Frage der [weiteren] Erstreckung der Vorlage auf das Folgejahr mit der Situation einer "unechten Rückwirkung") schließen, indem dort für die verfassungsrechtliche Beurteilung (schon im Hinblick auf die Einordnung der gesetzlichen Rückwirkung) auf "eigene Probleme und teilweise andere Fragen" hingewiesen wird. Denn diese Passage erklärt sich ohne weiteres schon aus dem eigenständigen Prüfungspunkt einer etwaigen "Vertrauenszerstörung" im Änderungsjahr (hier: 2003), die auch Sachgegenstand der vom BVerfG (Beschluss in BVerfGE 135, 1, Rz 37) zitierten Entscheidung des FG Nürnberg (Urteil in EFG 2010, 163) ist. Jedenfalls kann der Senat nicht darin zustimmen, dass abgesehen von den (auch) eine "echte Rückwirkung" rechtfertigenden Situationen (s. BVerfG-Beschluss in BVerfGE 135, 1, Rz 65, m.w.N.; s.a. Hey in Tipke/Lang, a.a.O., § 3 Rz 269; Wernsmann in HHSp, § 4 AO Rz 752 ff.  - insbesondere: Beteiligte mussten mit einer belastenden Änderung rechnen; es lag eine "unklare/verworrene Rechtslage" vor; das Recht war systemwidrig/unbillig, so dass Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit bestanden) allein der Umstand einer offenen Auslegungsfrage --wenn bislang eine abschließende Entscheidung des zuständigen Fachgerichts zur Auslegung nicht vorliegt-- "vertrauenshindernd" ist. Denn eine Rechtslage ist nicht allein unter dem Aspekt "unklar", dass eine solche gerichtliche Entscheidung noch aussteht; und von einer "verworrenen Rechtslage" konnte mit Blick auf § 40a Abs. 1 KAGG nicht die Rede sein (s. BVerfG-Beschluss in BVerfGE 135, 1, Rz 67 ff.), ebenfalls nicht (s. die angeführte BFH-Rechtsprechung) von einer "systemwidrigen und unbilligen Regelung".Nach der Überzeugung des Senats vertraut der Steuerpflichtige, wenn der (steuerrechtliche) Eingriffstatbestand nicht ausdrücklich normiert ist, auch nicht "lediglich" auf seine eigene (im Zweifel ihm "günstige") Rechtsauslegung bzw. "die Chance einer für ... (ihn) günstigen Rechtsprechung" (so aber Masing, Sondervotum zu BVerfGE 135, 1, BVerfGE 135, 29, Rz 90). Vielmehr vertraut er auf den Grundsatz, nicht ohne klare Rechtsgrundlage mit einer Steuerpflicht belastet zu werden (so im Ergebnis auch BVerfG-Beschluss in BVerfGE 135, 1, Rz 69; s. insbesondere auch Hey, DStJG 27 [2004], 91, 101; Birk, FR 2014, 338, 339 f.). Und es ist bereits im Vorlagebeschluss des FG Münster vom 22.02.2008 - 9 K 5096/07 K (EFG 2008, 983, zum Verfahren 1 BvL 5/08 in BVerfGE 135, 1) ausgeführt, dass zeitlich vor der Gesetzesinitiative der Bundesregierung von einer ernsthaft umstrittenen Rechtsfrage nicht ausgegangen wurde (s. insoweit auch allgemein BFH-Beschluss vom 06.06.2013 - I R 38/11, BFHE 241, 530, BStBl II 2014, 398, Rz 54).Jedenfalls ist der Senat davon überzeugt, dass allein der abstrakte Umstand einer Möglichkeit belastender Rechtsauslegung nicht bereits vertrauenshindernd ist. "Vertrauen" wird man nicht dadurch begrenzen können, dass dem Steuerpflichtigen angemaßt wird, eine Auslegung "von Verfassung wegen" i.S. einer nicht zweifelsbefreiten Erkenntnis, dass im Zeitpunkt der Disposition eine Situation der "verfassungswidrigen Besserstellung" vorliegt, auf deren Fortbestand nicht zu vertrauen ist, vorzunehmen (s.a. Hey in DStJG 27 [2004], 91, 104 f.). Der Steuerpflichtige wäre "vorauseilend" gehalten, stets eine (nachteilige) Änderung der bestehenden Rechtslage zu antizipieren und sein Verhalten danach auszurichten. Dem kann nicht zugestimmt werden. Vielmehr muss es nach der Überzeugung des Senats auch ein "Vertrauen in das fehlerhafte Steuergesetz" geben (s. den Beitragstitel von Hey in DStJG 27 [2004], 91; s.a. dies. in Tipke/Lang, a.a.O., § 3 Rz 268).c) Vertrauensschutz ist allerdings nicht mehr zu gewähren, wenn der Vertrauenstatbestand entfallen ist. Ein solcher Umstand ist nach der Überzeugung des Senats jedenfalls vor der auf den 29.08.2003 datierenden Veräußerung der Anteile des Fonds C durch den Kläger eingetreten.aa) Die Veräußerung (oder Rückgabe) der Anteilscheine ist ein verbindlicher und willensgetragener Dispositionsakt; an ein solches "definitives" Ereignis (als abgeschlossener Lebensvorgang) ist für die vertrauensschutzbezogene Prüfung eines Besteuerungstatbestands zur Besteuerung von Veräußerungstatbeständen in zeitlicher Hinsicht anzuknüpfen (zur Diskussion einer differenzierten --unter möglicherweise zeitlich auf den Erwerb vorgezogenen-- Sicht je nach der Art der Dispositionsbezogenheit der Norm s. Spindler in DStJG 27 [2004], 69, 88 f.; Kirchhof in Isensee/Kirchhof [Hrsg.], Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl., § 118 Rz 114; Wernsmann in HHSp, § 4 AO Rz 772). Dabei ist nach der Überzeugung des Senats --entgegen der Ansicht des Klägers-- für die Frage, ob ein Vertrauensschutz gerechtfertigt ist, ohne Bedeutung, dass im Realisationszeitpunkt ein besitzzeitanteiliger Wert die Besteuerung (mit-)bestimmen soll, der je nach der (von der Vorinstanz nicht festgestellten) Behaltenszeit der Anteilscheine auch auf Vorjahre entfallen kann. Es handelt sich insoweit nicht um behaltenszeitzugehörige Komponenten eines Einkünftetatbestands, sondern um Komponenten, die den Veräußerungs- bzw. Rückgabepreis der Anteilscheine (die "Substanz") betreffen (s. die Darstellung der Funktionsweise z.B. bei FG Nürnberg, Urteil in EFG 2010, 163 Rz 39 f.). Insoweit kann allenfalls die Höhe der Besteuerung in Frage stehen, nicht aber die hier maßgebliche Entscheidung zur Besteuerung der Veräußerung/Rückgabe "dem Grunde nach".bb) Für die Frage, ab welchem Zeitpunkt bereits vor Verkündung einer Neuregelung nicht mehr auf den Bestand der noch geltenden Rechtslage vertraut werden kann, ist in erster Linie der Gang des Gesetzgebungsverfahrens bis zur Neuregelung entscheidend, und dabei vor allem die öffentliche Bekanntgabe entsprechender Entwurfstexte (BVerfG-Urteil in BVerfGE 148, 217, BStBl II 2018, 303, Rz 150). Dabei kann nicht nur die Einbringung eines Gesetzesvorhabens in den Bundestag (Art. 76 Abs. 1 GG), sondern bereits dessen Zuleitung zum Bundesrat (Art. 76 Abs. 2 GG) vertrauenszerstörende Wirkung haben (BVerfG-Urteil in BVerfGE 148, 217, BStBl II 2018, 303, Rz 152; wohl auch Maurer in Isensee/Kirchhof, a.a.O., § 79 Rz 72; Kirchhof in Kirchhof, EStG, 18. Aufl., Einleitung Rz 49 a.E.; ders., Deutsches Steuerrecht 2015, 717, 720 ["bei einer noch in der Entwicklung begriffenen Rechtslage"]; eher kritisch Hey in Tipke/Lang, a.a.O., § 3 Rz 270 [enge Grenzen]; ablehnend Schaumburg/Schaumburg in Mellinghoff/Schön/Viskorf [Hrsg.], Festschrift Spindler, 2011, 171, 185, m.w.N.). Denn in beiden Fällen hat sich ein nach dem Grundgesetz initiativberechtigtes Verfassungsorgan entschlossen, ein Gesetzgebungsverfahren förmlich einzuleiten. Hierzu muss ein ausformulierter Gesetzentwurf als Beschlussvorlage vorliegen. Mit einer Veröffentlichung haben die durch das Vorhaben Betroffenen die Möglichkeit, sich in ihrem Verhalten auf die etwaige Gesetzesänderung einzustellen. Es ist ihnen zumutbar, jedenfalls bei in die Zukunft wirkenden Dispositionen darauf Bedacht zu nehmen (BVerfG-Urteil in BVerfGE 148, 217, BStBl II 2018, 303; s.a. das --Veräußerungen nach dem Zeitpunkt der Einbringung des Gesetzentwurfs zum sog. Korb II-Gesetz in den Bundestag betreffende-- Urteil des FG Nürnberg in EFG 2010, 163). Dies gilt unbeschadet des zutreffenden Hinweises, dass "bis zur Verkündung (des Gesetzes) der maßgebliche Gesetzentwurf ein rechtliches Nullum ist" (Schaumburg/Schaumburg, a.a.O., Festschrift Spindler, 171, 185), da es hier nicht um Rechtswirkungen geht, sondern um die Frage, inwieweit ein individuelles Vertrauen in Abwägung zu (entgegenstehenden) öffentlichen Belangen "schutzwürdig" ist.Auch wenn der Gesetzentwurf der Bundesregierung nach den Bedingungen des Art. 76 Abs. 2 Satz 3 GG in den Bundestag (erst) am 08.09.2003 eingebracht wurde, ist der erkennende Senat davon überzeugt, dass sich die spätere Änderung des § 40a Abs. 1 Satz 2 KAGG nicht erst in diesem Zeitpunkt "vertrauenszerstörend" abzeichnete. Denn der Gesetzentwurf der Bundesregierung datiert vom 15.08.2003 (BRDrucks 560/03, 8 f. und 20). Das Vertrauen in den Fortbestand der Rechtslage im Streitfall wird nach der Überzeugung des Senats (schon) mit dem öffentlich gewordenen Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 15.08.2003 (BRDrucks 560/03) erschüttert. Ab diesem Zeitpunkt sind mögliche zukünftige Gesetzesänderungen in konkreten Umrissen ungeachtet der nicht prognostizierbaren Unwägbarkeiten betreffend Änderungsvorhaben im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens allgemein vorhersehbar (s. z.B. allgemein auch BFH-Beschluss in BFHE 241, 530, BStBl II 2014, 398 [Az. beim BVerfG: 2 BvL 7/13]). Denn Gegenstand dieses Gesetzentwurfs waren sowohl der Hinweis auf eine "redaktionelle Änderung" des § 40a Abs. 1 KAGG als auch die Anwendungsregelung auf alle noch nicht bestandskräftigen Steuerfestsetzungen. Für einen steuerrechtlich beratenen Marktteilnehmer bestand schon zu diesem Zeitpunkt ein erkennbares Risiko, dass der --bislang in der Situation negativer Aktiengewinne "günstige"-- Rechtszustand keinen Bestand mehr haben könnte (so auch FG Nürnberg, Urteil in EFG 2010, 163, Rz 49; s.a. die --wenn auch jeweils normspezifischen-- Erwägungen [dort zu § 2a EStG a.F.] zu Grenzen des Vertrauensschutzes im BFH-Urteil vom 22.02.2017 - I R 2/15, BFHE 257, 120, BStBl II 2017, 709). Auch wenn die Überlegungen zum (eingeschränkten) sog. Transparenzprinzip nicht dazu ausreichen konnten, als teleologisches Leitprinzip eine Auslegung der Ursprungsnorm i.S. der Anwendung des § 8b Abs. 3 KStG zu ermöglichen (s.o. zu der konkret das Jahr 2002 betreffenden BFH-Rechtsprechung), konnte eine situationsbezogene Konkretisierung des Prinzips bzw. (so das FG Nürnberg im Urteil in EFG 2010, 163) eine weitere Realisierung des Transparenzprinzips bei der Besteuerung der Anteilscheininhaber von Investmentfonds durch die klare gesetzliche Anordnung einer Anwendung der Abzugsbeschränkung in § 8b Abs. 3 KStG kraft ausdrücklicher und im Gesetzgebungsverfahren erfolgreich umgesetzter Initiative der gesetzgebenden Organe naheliegen.Immerhin wird ein schutzwürdiges Vertrauen in den Bestand der Steuerrechtslage für den davor liegenden Zeitraum (hier: Mai 2003) durch diese Vorgänge im Gesetzgebungsverfahren (s. dazu oben) nicht beseitigt.4. Der Kläger muss eine Enttäuschung seines in den Veräußerungszeitpunkten Mai 2003 bestehenden Vertrauens in die alte Rechtslage nur hinnehmen, soweit dies aufgrund besonderer, gerade die Rückanknüpfung rechtfertigender öffentlicher Interessen unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit gerechtfertigt ist. Diese Voraussetzung ist nach der Überzeugung des Senats im Streitfall nicht erfüllt.a) Allerdings hat die Vorinstanz insoweit abweichend erkannt (ebenfalls FG Nürnberg, Urteil in EFG 2017, 1606; FG Baden-Württemberg, Urteil in EFG 2018, 401 [anhängige Revision IV R 19/17]). Die Rechtslage vor der Gesetzesergänzung sei systemwidrig gewesen. Und die Beseitigung dieser Systemwidrigkeit und der damit verbundenen Besserstellung der Fondsanleger habe im Interesse der Allgemeinheit gelegen. Dem Vertrauen der Betroffenen in die Nichtanwendung von § 8b Abs. 3 KStG sei wegen der unsicheren Rechtslage kein besonderes Gewicht beizumessen, wohingegen die unbillige Begünstigung der Fondsanleger eklatant gewesen sei.b) Der Senat folgt dieser Auffassung nicht. In der BFH-Rechtsprechung wurde in ausreichender Deutlichkeit geklärt, dass das von der Vorinstanz bemühte sog. Transparenzprinzip, das zum Gegenstand hat, dass im Prinzip dieselben Besteuerungsfolgen eintreten sollen wie bei einer sog. Direktanlage, nicht als allgemeines teleologisches Leitprinzip für die Besteuerungsfolgen bei Besitz von Anteilscheinen herhalten kann, auch wenn es einzelnen KAGG-Strukturen --insbesondere den positiven Aktiengewinnen (s. z.B. Gosch, BFH-PR 2014, 422, 423)-- zugrunde lag (s. dazu die oben angeführte BFH-Rechtsprechung mit den dortigen Nachweisen, insbesondere das BFH-Urteil in BFHE 246, 310, BStBl II 2016, 699, Rz 14; s.a. ["eingeschränktes Transparenzprinzip"] FG Nürnberg in EFG 2010, 163, Rz 31 f.; FG München, Urteil vom 25.06.2019 - 6 K 1543/16, EFG 2019, 1608, Rz 29 [anhängige Revision I R 38/19]). Die Gesetzesänderung kann daher nicht als "systemlückenausfüllende" gesetzgeberische Maßnahme (zu einer solchen Situation z.B. BFH-Urteil in BFHE 257, 120, BStBl II 2017, 709, Rz 25) verstanden werden, weil keine "Systemlücke" bestand. Wenn auf dieser Grundlage aber allenfalls eine "rechtspolitische Fehlerhaftigkeit" der geltenden Rechtslage zu erkennen sein könnte (ausstehende Parallelbehandlung zur Steuerfreistellung positiver Aktiengewinne), wird die Gewährleistungsfunktion der Rechtsordnung zugunsten des Steuerpflichtigen aktiviert (wohl ablehnend Osterloh, StuW 2015, 201, 208 f.). Er vertraut --unabhängig davon, ob er einen besitzzeitanteiligen Anleger-Aktiengewinn, wenn ein solcher errechnet worden wäre, steuerfrei erzielt hätte-- darauf, dass der auf seine Anteile entfallende besitzzeitanteilige Anleger-Aktienverlust bei einem Anteilsverkauf bzw. einer Anteilsrückgabe (der den Rückgabepreis negativ beeinflusst --s. z.B. FG Nürnberg, Urteil in EFG 2010, 163, Rz 40) nicht zu einer Einkommenserhöhung (auf der Grundlage der typisierenden Überlegung, dass der Veräußerungs-/Rückgabepreis um diesen Betrag gemindert ist) führt. Diese (erwartete) Besteuerungsfolge kann als "Planungs- und Handlungsgrundlage" (Mellinghoff, DStJG 27 [2004], 25, 46) für den Deinvestitionsentschluss bestimmend sein.Der Senat weist auf dieser Grundlage und zur Vermeidung von "Vertrauensschutzlücken" (Hey in Drüen/Hey/Mellinghoff [Hrsg.], Festschrift BFH, 2018, 451, 475 f.) der "Enttäuschung" des Rechtsunterworfenen ein erhebliches Gewicht zu, da (auch) im Fall des Klägers nicht ersichtlich ist, dass dem Erwerb, dem Behalten und der Veräußerung der Anteilscheine eine Situation einer "gezielten und spekulativen Steuerplanung" (s. allgemein Mellinghoff, DStJG 27 [2004], 25, 51 f.) zugrunde liegt. Demgegenüber wird man dem allgemeinen Ziel der Weiterentwicklung oder Umgestaltung des Steuerrechts und der Erhöhung des Steueraufkommens --die schon nicht als Begründung des Änderungsvorhabens, das vermeintlich nur "klarstellend" sein sollte, angeführt waren-- jedenfalls nicht das ausschlaggebende Gewicht zuweisen können, eine rückwirkende Steuerbelastung zu rechtfertigen (s. allgemein z.B. BFH-Beschluss in BFHE 241, 530, BStBl II 2014, 398, Rz 55 und 57; BFH-Urteil in BFHE 257, 120, BStBl II 2017, 709, Rz 23; s.a. Hey in Tipke/Lang, a.a.O., § 3 Rz 272; Wernsmann in HHSp, § 4 AO Rz 773, m.w.N.). Nach der Überzeugung des Senats führt dann aber eine Gesamtabwägung zwischen dem Gewicht des enttäuschten Vertrauens und dem Gewicht sowie der Dringlichkeit der die Rechtsänderung rechtfertigenden Gründe im Streitfall dazu, dass das Vertrauen des Klägers im konkreten Fall ("Bestandsinteresse" - hier bezogen auf die Veräußerungen im Mai 2003) einen Vorrang vor dem (aus fiskalischen Interessen auch möglichst rückwirkenden) Änderungsinteresse des Gesetzgebers hat (in der Tendenz für vergleichbare Konstellationen wohl ablehnend Osterloh, StuW 2015, 201, 208). Damit wird vertrauensbezogenen Dispositionen des Steuerpflichtigen nicht durchgehend ein Vorrang zugewiesen; aber der Gesetzgeber ist zur Wahrung eines berechtigten individuellen Vertrauensschutzinteresses gehalten, sein Änderungsinteresse grundsätzlich auf solche Dispositionen zu beschränken, die zeitlich nach der erkennbaren Initiative zur Änderung des Gesetzes unternommen worden sind.Wenn man für den Zeitpunkt einer öffentlich erkennbaren Initiative zur Änderung des Gesetzes von einer "vertrauenszerstörenden Wirkung" bezogen auf die Gewährleistungsfunktion der (bestehenden) Rechtsordnung ausgeht, besteht nach der Überzeugung des Senats auch kein gesetzgeberischer Bedarf, zur gezielten Verhinderung eines sog. Ankündigungs- bzw. Mitnahmeeffekts eine Rückwirkung anzuordnen.5. Eine verfassungskonforme Auslegung von § 43 Abs. 18 i.V.m. § 40a Abs. 1 Satz 2 KAGG ist nicht möglich. Der Gesetzgeber hat durch seine Vorstellung, eine "klarstellende Regelung" für alle offenen Verfahren (sowohl für das Streitjahr als auch alle Vorjahre) zu schaffen, ausreichend deutlich gemacht, dass er einen Vertrauensschutz nicht vorsehen wollte. Es ist nicht ersichtlich, dass die zeitliche Anwendungsvorschrift eine verdeckte Regelungslücke (s. allgemein BFH-Beschluss in BFHE 241, 530, BStBl II 2014, 398, Rz 60) aufweist.6. Indem der Senat zunächst den Vertrauensbegriff auch bei der Prüfung der rechtsstaatlichen Grenzen einer unechten Rückwirkung im Grundsatz auf eine Weise versteht, die den Maßgaben der Prüfung bei der echten Rückwirkung nahekommt (s. z.B. auch Mellinghoff, DStJG 27 [2004], 25, 40 ff. und 53; Spindler, DStJG 27 [2004], 69, 75 und 88; Schaumburg/Schaumburg, a.a.O., Festschrift Spindler, 171, 184; Drüen in Tipke/Kruse, a.a.O., § 4 AO Rz 28; Kirchhof, FR 2016, 530, 531 f.), dabei aber gerade dem Korrektiv eines etwaigen "vertrauenszerstörenden Umstandes" im Zuge der belastenden Gesetzgebungsinitiative eine besondere Bedeutung beimisst, und der Senat im Streitfall bei der gebotenen Gesamtabwägung zwischen Bestandsinteresse des Steuerpflichtigen und Änderungsinteresse des Gesetzgebers dem Letzteren auch bei einem möglicherweise legitimen (rechtspolitischen) Änderungsgrund nicht zwangsläufig den Vorrang einräumt, behindert er die Gestaltungsbefugnis des Gesetzgebers des Jahres 2003 nicht unangemessen (wohl abweichend Masing, Sondervotum zum BVerfG-Beschluss in BVerfGE 135, 1, BVerfGE 135, 29, Rz 92). Er sieht vielmehr das verfassungsrechtlich gebotene Bedürfnis, Rechtssicherheit und Rechtsrichtigkeit durch spezifisch einzelfallbezogene Abwägung beider als zunächst gleichwertig anzusehender Gesichtspunkte zu einem Ausgleich zu bringen; nicht zuletzt ist die Möglichkeit des Gesetzgebers einzuberechnen, "Steuergleichheit ... unter Wahrung des Vertrauensschutzes (in der Zukunft) zu verwirklichen" (s. Hey, DStJG 27 [2004], 91, 110 f.; s.a. dies. in Tipke/Lang, a.a.O., § 3 Rz 268; Drüen, StuW 2015, 210, 220 f.). Dies lässt das "Anliegen, die notwendige Flexibilität der Rechtsordnung zu wahren", unberührt, und "zielt ... auf künftige Rechtsänderungen und relativiert nicht ohne Weiteres die Verlässlichkeit der Rechtsordnung innerhalb eines Veranlagungs- oder Erhebungszeitraums" (BVerfG-Beschlüsse in BVerfGE 132, 302, Rz 54 a.E.; in BVerfGE 135, 1, Rz 63).7. Im Rahmen des anhängigen Revisionsverfahrens ist eine abschließende Sachentscheidung zu treffen. Ist die Regelung in § 43 Abs. 18 i.V.m. § 40a Abs. 1 Satz 2 KAGG verfassungsgemäß, ist die Revision des Klägers unbegründet. Hält es das BVerfG hingegen für mit den Grundsätzen rechtsstaatlichen Vertrauensschutzes (Art. 20 Abs. 3 GG) unvereinbar, dass § 43 Abs. 18 KAGG die rückwirkende Anwendung von § 40a Abs. 1 Satz 2 KAGG auf alle noch nicht bestandskräftigen Festsetzungen auch des Veranlagungszeitraums 2003 anordnet, soweit Veräußerungen im Mai 2003 betroffen sind, führt die Revision zur Herabsetzung des Einkommens des Klägers. Das dem BVerfG vorgelegte Normenkontrollersuchen ist damit entscheidungserheblich.
bundesfinanzhof
bfh_062-22
22. Dezember 2022
Kein Abzug von Mitgliedsbeiträgen an Vereine, die in erster Linie der Freizeitgestaltung dienen 22. Dezember 2022 - Nummer 062/22 - Urteil vom 28.09.2022 X R 7/21 Der Bundesfinanzhof (BFH) hat mit Urteil vom 28.09.2022 - X R 7/21 entschieden, dass Mitgliedsbeiträge an Vereine, die in erster Linie der Freizeitgestaltung dienen, nicht bei der Einkommensteuer abgezogen werden können. Im Grundsatz können sowohl Spenden als auch Mitgliedsbeiträge als Sonderausgaben geltend gemacht werden. Eine gesetzliche Sonderregelung (§ 10b Abs. 1 Satz 8 des Einkommensteuergesetzes) schließt jedoch u.a. bei Vereinen den Abzug von Mitgliedsbeiträgen aus, die kulturelle Betätigungen fördern, die in erster Linie der Freizeitgestaltung dienen. Dasselbe gilt z.B. für Sportvereine. Spenden an solche Vereine bleiben hingegen abziehbar. In dem vom BFH entschiedenen Fall ging es um einen gemeinnützigen Verein, der ein Blasorchester für Erwachsene und eines für Jugendliche unterhält. Das Finanzamt vertrat die Auffassung, der Kläger dürfe keine Zuwendungsbestätigungen („Spendenbescheinigungen“) für Mitgliedsbeiträge ausstellen. Das von dem Verein erstinstanzlich angerufene Finanzgericht (FG) Köln gab der Klage hingegen statt. Es hielt die dargestellte gesetzliche Einschränkung für Mitgliedsbeiträge nicht für anwendbar, weil der Verein nicht nur die Freizeitgestaltung, sondern auch die Erziehung und Ausbildung Jugendlicher fördere. Der BFH ist demgegenüber der Ansicht der Finanzverwaltung gefolgt und hat das Urteil des FG Köln aufgehoben. Nach dem klaren Wortlaut der gesetzlichen Regelung sind Mitgliedsbeträge schon dann nicht abziehbar, wenn der Verein auch kulturelle Betätigungen fördert, die in erster Linie der Freizeitgestaltung dienen. In einem solchen Fall kommt es nicht mehr darauf an, ob der Verein daneben auch noch andere Zwecke fördert. Gleiches folgt aus der Entstehungsgeschichte der Norm sowie aus ihrem Zweck. Damit kam es nicht darauf an, dass der klagende Verein --wovon das FG ausgegangen war-- neben den Freizeitbetätigungen noch andere Zwecke fördert.  Bundesfinanzhof Pressestelle       Tel. (089) 9231-400 Pressesprecher  Tel. (089) 9231-300 Siehe auch: X R 7/21
1. § 10b Abs. 1 Satz 8 Nr. 2 EStG ist dahin auszulegen, dass Mitgliedsbeiträge an eine gemeinnützige Körperschaft, die kulturelle Betätigungen fördert, die in erster Linie der Freizeitgestaltung dienen, auch dann nicht als Sonderausgaben abziehbar sind, wenn die Körperschaft daneben noch einen weiteren Zweck fördert, der nicht in § 10b Abs. 1 Satz 8 EStG genannt ist.2. Die Rechtmäßigkeit der --in Körperschaftsteuer-Freistellungsbescheiden für die unter § 5 Abs. 1 Nr. 9 KStG fallenden Körperschaften regelmäßig enthaltenen-- Hinweise zur Ausstellung von Zuwendungsbestätigungen kann im Wege der Feststellungsklage überprüft werden.3. Für die Beurteilung von Feststellungsklagen ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem FG maßgeblich. Tenor Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts Köln vom 25.02.2021 - 10 K 1622/18 aufgehoben.Die Klage wird abgewiesen.Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Kläger zu tragen. Tatbestand I.Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist ein gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 9 des Körperschaftsteuergesetzes (KStG) wegen Verfolgung gemeinnütziger Zwecke steuerbefreiter Verein. Satzungsmäßiger Zweck des Klägers ist seit 2009 die Förderung der Volksbildung, der Erziehung und Ausbildung sowie der Kunst im Bereich der Bläsermusik (§ 2 Abs. 2 der Vereinssatzung). Gemäß § 2 Abs. 3 der Satzung wird der Satzungszweck insbesondere durch Unterhaltung und Betrieb eines sinfonischen Blasorchesters, die Förderung der musikalischen Bildung und Ausbildung von Jugendlichen und Erwachsenen in praktischer und theoretischer Hinsicht sowie die Aufführung von und Mitwirkung an Konzerten, Platzmusiken, kulturellen und kirchenmusikalischen Veranstaltungen, Musikfesten und -wettbewerben verwirklicht. Aktive Mitglieder mit einer mindestens fünfjährigen Mitgliedschaft sind berechtigt, bei besonderen persönlichen Anlässen das Orchester in vereinsüblichem Umfang in Anspruch zu nehmen (§ 7 Abs. 2 Satz 2 der Satzung).Ausweislich der vom Finanzgericht (FG) in Bezug genommenen Geschäftsberichte sowie Einnahmen-Überschuss-Rechnungen hatte der Kläger in den Jahren 2017 bis 2019 die folgenden Mitgliederzahlen bzw. Beitrags- und Spendeneinnahmen:Jahr201720182019aktive Mitglieder       26 30 28Fördermitglieder 6 4 7Mitgliedsbeiträge      1.164,00 €      1.466,00 €      1.576,00 €Spenden 1.334,70 € 340,00 € 1.332,50 €Der jährliche Mitgliedsbeitrag für erwachsene, nicht in Ausbildung befindliche Mitglieder beläuft sich auf 36 €. Nach dem vom FG übernommenen, nicht mit konkreten Zahlenangaben unterlegten Sachvortrag des Klägers sind die Mitglieder des Klägers "überwiegend" musikalische Laien, "teilweise" Musikstudenten und "vereinzelt" Berufsmusiker.Der Kläger unterhält ein Blasorchester, seit 2017 auch ein Vororchester (Juniororchester mit Kindern und Jugendlichen), seit 2019 zudem ein Zwischenorchester, das ausweislich des Geschäftsberichts 2019 der vertieften Ausbildung für fortgeschrittene Mitglieder des Vororchesters und zur ergänzenden Probenarbeit für Mitglieder des Orchesters dient. Orchesterproben finden grundsätzlich wöchentlich statt.Ausweislich des Geschäftsberichts hat der Kläger im Jahr 2019 im ideellen Bereich (Veranstaltungen ohne Einnahmeerzielung) eine Kirchenmusik und eine Totenehrung musikalisch gestaltet; ferner ist er in Altenheimen und einem Blindenheim aufgetreten. Zur Einnahmeerzielung (Zweckbetriebe) hat er vier Konzerte durchgeführt sowie gegen Entgelt an vier Schützenfesten und drei Martinsumzügen die Marschmusik gespielt. Darüber hinaus hat er einen viertägigen Bigband-Workshop veranstaltet, für den ein Teilnehmerbeitrag von 115 € (für Mitglieder 65 €) erhoben wurde; Zielgruppe waren ausweislich der --vom Kläger für das Jahr 2017 vorgelegten-- Werbebroschüre "junge und junggebliebene Musikerinnen und Musiker". Der Workshop wurde im Rahmen der Kulturförderung des zuständigen Landkreises bezuschusst.Für Mitglieder, die Führungsaufgaben im Orchester innehaben (z.B. Dirigenten, Stimmführerschaft, Durchführung von Satzproben), übernimmt der Kläger die Kosten von Fortbildungen. Gelegentlich spielen Musikstudenten Solopartien oder dirigieren das Orchester.Am 31.05.2017 erließ der Beklagte und Revisionskläger (Finanzamt --FA--) einen Freistellungsbescheid für 2014 bis 2016 zur Körperschaftsteuer und Gewerbesteuer. Darin wurden für den Kläger die folgenden gemeinnützigen Zwecke aufgeführt:-Förderung von Kunst und Kultur (§ 52 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 der Abgabenordnung --AO--);-Förderung der Erziehung (aus § 52 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 AO).Unter der Überschrift "Hinweise zur Ausstellung von Zuwendungsbestätigungen" hieß es: "Die Körperschaft ist nicht berechtigt, für Mitgliedsbeiträge Zuwendungsbestätigungen nach amtlich vorgeschriebenem Vordruck (§ 50 Abs. 1 EStDV) auszustellen, weil Zwecke im Sinne des § 10b Abs. 1 Satz 8 EStG gefördert werden." In den Freistellungsbescheiden für die Vorjahre waren hingegen noch Hinweise dahingehend enthalten, dass der Kläger sowohl für Spenden als auch für Mitgliedsbeiträge Zuwendungsbestätigungen ausstellen dürfe.Am 16.06.2017 erging ein nach § 129 AO berichtigter Freistellungsbescheid, in dem als zusätzlicher gemeinnütziger Zweck die Förderung der Volks- und Berufsbildung einschließlich der Studentenhilfe (aus § 52 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 AO) aufgeführt wurde.Mit einem weiteren Bescheid vom 06.06.2017 stellte das FA gemäß § 60a Abs. 1 AO gegenüber dem Kläger die Einhaltung der satzungsmäßigen Voraussetzungen gesondert fest. Im Hinweisteil dieses Bescheids wurde hinsichtlich der Ausstellung von Zuwendungsbestätigungen auf den letzten Freistellungsbescheid verwiesen.Der Kläger legte gegen alle genannten Bescheide Einspruch ein und wandte sich gegen den Hinweis, dass für Mitgliedsbeiträge keine Zuwendungsbestätigungen erteilt werden dürften.Das FA entschied nur über den Einspruch gegen den Freistellungsbescheid, den es als unzulässig verwarf. Zur Begründung führte es aus, ein Einspruch sei nicht statthaft, da der Hinweis keinen Verwaltungsakt darstelle, sondern die unverbindliche Äußerung einer Rechtsauffassung des FA. In der Sache sei der Hinweis allerdings zutreffend. Gemäß § 10b Abs. 1 Satz 8 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) seien Mitgliedsbeiträge bei Körperschaften, die kulturelle Betätigungen förderten, die in erster Linie der Freizeitgestaltung dienten, nicht abziehbar. Das Musizieren der Mitglieder des Klägers bei Auftritten und Proben sei eine Form der Freizeitgestaltung.Der Kläger erhob Anfechtungsklage gegen den Freistellungsbescheid und Untätigkeitsklage wegen des nicht beschiedenen Einspruchs gegen den Feststellungsbescheid. Diese Begehren wurden im weiteren Verlauf des Klageverfahrens vom FG und den Beteiligten einvernehmlich als Feststellungsklage behandelt. Zur Begründung dieser Klage führte der Kläger aus, § 10b Abs. 1 Satz 8 Nr. 2 EStG enthalte eine gesetzliche Typisierung, die bei einem atypischen Fall nicht anwendbar sei. Der Kläger fördere nicht in erster Linie kulturelle Betätigungen, die der Freizeitgestaltung dienten. Vielmehr hätten zahlreiche Betätigungen des Klägers ausschließlich bildenden Charakter, insbesondere der Bigband-Workshop und das Vororchester. Letzteres sei Teil der Neustrukturierung der Nachwuchsarbeit des Vereins; hier seien Vereinsmitglieder mit erheblichem organisatorischen und musikpädagogischen Aufwand unterrichtend tätig. Auch bei der Gestaltung von Gottesdiensten spiele der Freizeitaspekt keine Rolle; diese Auftritte seien in erster Linie dem Umstand geschuldet, dass der Kläger kirchliche Räume für Proben nutzen könne. Die Auftritte in den Heimen seien durch eine soziale Komponente gekennzeichnet. Die Marschmusiken seien Zweckbetriebe zur Einnahmeerzielung; sie seien für die Vereinsmitglieder wegen des niedrigen musikalischen Niveaus und der erforderlichen Anreise unattraktiv. Soweit Musikstudenten und Berufsmusiker an den Orchesterproben und Konzerten teilnähmen, sei dies nicht Freizeitgestaltung, sondern Teil ihrer Ausbildung bzw. beruflichen Fortbildung. Die Aus- und Fortbildungsmaßnahmen seien im Interesse aller Mitglieder, weil sie für den Bestand und die Entwicklung des Orchesters unerlässlich seien. Die Ausgaben des Klägers seien zu mehr als 50 % unmittelbar für Zwecke der Ausbildung verwendet worden. Aufgrund der gegenwärtigen Pandemielage könne das Orchester derzeit nicht proben, die Ausbildungstätigkeiten würden allerdings über Videokonferenzen fortgeführt.Es verstoße gegen das Gebot der Folgerichtigkeit, wenn Mitgliedsbeiträge bei passiven Kulturvereinen (Fördervereine i.S. des § 10b Abs. 1 Satz 7 EStG) abziehbar seien, bei aktiven Kulturvereinen (Freizeitgestaltung i.S. des § 10b Abs. 1 Satz 8 Nr. 2 EStG) aber nicht. Große Vereine seien in der Lage, diese Beschränkung durch Aufspaltung in einen aktiven und einen passiven Teil zu umgehen, kleine Vereine hingegen nicht.Das FA brachte demgegenüber vor, die Wendung "in erster Linie" stehe im Gesetzeswortlaut nicht vor dem Begriff "kulturelle Betätigungen", sondern vor dem Begriff "der Freizeitgestaltung". Daraus folge, dass ein Abzug von Mitgliedsbeiträgen schon dann ausgeschlossen sei, wenn --unabhängig davon, welche Tätigkeiten der Verein ansonsten ausübe-- auch die in § 10b Abs. 1 Satz 8 Nr. 2 EStG genannten kulturellen Betätigungen gefördert würden. Dies sei hier der Fall. Zwar entfalte ein Laienorchester regelmäßig auch Nebenwirkungen wie die Jugendbildung. Im Wesentlichen handele es sich aber um Freizeitgestaltung, so dass in Bezug auf die Mitgliedsbeiträge der Gegenleistungsgedanke überwiege. Auch das Vor- und Zwischenorchester solle den Fortbestand des Vereins und seines Orchesters sichern; die Ausbildung der Mitglieder solle das kulturelle Niveau des Orchesters heben; daher seien diese Betätigungen ebenfalls als der Förderung von Kunst und Kultur dienend anzusehen. Aus den Bigband-Workshops habe der Kläger aufgrund von Einnahmen und Zuschüssen einen Überschuss erzielt, so dass hierfür keine Mitgliedsbeiträge verwendet worden sein könnten.Das FG stellte mit dem angegriffenen Urteil fest, der Kläger sei berechtigt, auch für Mitgliedsbeiträge Zuwendungsbestätigungen nach amtlich vorgeschriebenem Vordruck (§ 50 Abs. 1 der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung --EStDV--) auszustellen (Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 2021, 1167).Die Feststellungsklage sei zulässig, da eine andere Klageart nicht zur Verfügung stehe und der Kläger ein berechtigtes Interesse an der begehrten Feststellung habe. Die Klage sei auch begründet, da § 10b Abs. 1 Satz 8 Nr. 2 EStG nicht anwendbar sei, wenn die Körperschaft unterschiedliche Zwecke verfolge und einer der --nicht untergeordneten-- Zwecke nicht der Freizeitgestaltung diene. Dies zeige die Entstehungsgeschichte: In § 48 Abs. 4 Satz 2 EStDV in der von 2000 bis 2006 geltenden Fassung (EStDV 2000), der Vorläuferregelung des § 10b Abs. 1 Satz 8 EStG, sei ausdrücklich geregelt worden, dass Mitgliedsbeiträge an Körperschaften, die sowohl kulturelle als auch andere Zwecke förderten, nicht abziehbar seien. Diese Regelung sei indes nicht in das EStG übernommen worden. Dies müsse als bewusste Entscheidung des Gesetzgebers angesehen werden. Die vom Kläger betriebene musikalische Ausbildung und Anleitung junger Menschen erscheine in der heutigen Zeit überragend wichtig und förderungswürdig. Der Kläger beschränke sich nicht auf die Förderung von Kunst und Kultur, sondern fördere auch die Erziehung, Volks- und Berufsbildung. Exemplarisch seien die Bigband-Workshops und das Vororchester zu nennen. Insofern unterscheide sich der Kläger von einem klassischen Laienorchester, dessen Aktivitäten sich im Orchesterbetrieb erschöpften.Mit seiner Revision hält das FA --insbesondere unter Verweis auf den Gesetzeswortlaut-- an seiner Auffassung fest.Das FA beantragt sinngemäß,das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.Der Kläger beantragt,die Revision zurückzuweisen.Er hält die Revisionsbegründung des FA für unzureichend, da die erforderliche Auseinandersetzung mit den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils fehle. Der Gesetzeswortlaut sei gerade nicht eindeutig, sondern lasse auch die vom FG vertretene Auslegung zu. § 10b Abs. 1 Satz 8 Nr. 2 EStG gelte nur für Einkommensteuersubjekte, jedoch nicht für Körperschaften wie den Kläger. Die für den Kläger geltende Norm des § 50 Abs. 1 EStDV differenziere gerade nicht zwischen Spenden und Mitgliedsbeiträgen. Daher dürfe der Kläger für beide Arten der Zuwendungen Bestätigungen ausstellen.Das Bundesministerium der Finanzen (BMF) ist dem Revisionsverfahren beigetreten. Es hat keinen Antrag gestellt, unterstützt in der Sache jedoch die Position des FA. Die hier vorliegenden gemischten Mitgliedsbeiträge seien nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut vom Abzugsverbot umfasst. Der vom FG vermissten ausdrücklichen Kollisionsregelung (zuvor § 48 Abs. 4 Satz 2 EStDV 2000) habe es wegen der geänderten Gesetzessystematik nicht mehr bedurft. Der Normzweck spreche ebenfalls für die von der Finanzverwaltung vertretene Gesetzesauslegung, da Mitgliedsbeiträge sich nicht einzelnen Teilzwecken einer steuerbegünstigten Körperschaft, die mehrere Förderzwecke --darunter einen in § 10b Abs. 1 Satz 8 EStG genannten-- verfolge, zurechnen ließen, sondern stets die gesamte Körperschaft beträfen. Gründe II.Die Revision ist zulässig. Insbesondere erfüllt die Revisionsbegründung trotz ihrer Kürze noch die Darlegungsanforderungen des § 120 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. a der Finanzgerichtsordnung (FGO).1. Die Revisionsbegründung muss die Gründe tatsächlicher oder rechtlicher Art enthalten, die das FG-Urteil als unrichtig erscheinen lassen, sowie angeben, welche Punkte des angefochtenen Urteils änderungsbedürftig sind. Erforderlich ist ferner eine --wenn auch kurze-- Auseinandersetzung mit den Gründen des vorinstanzlichen Urteils (ständige höchstrichterliche Rechtsprechung; vgl. statt aller nur Entscheidungen des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 16.03.2000 - III R 21/99, BFHE 192, 169, BStBl II 2000, 700, unter II.1.; vom 20.04.2010 - VI R 44/09, BFHE 228, 407, BStBl II 2010, 691, und vom 18.06.2015 - IV R 5/12, BFHE 250, 121, BStBl II 2015, 935, Rz 25). Die Revisionsbegründung muss erkennen lassen, dass der Revisionskläger sein eigenes bisheriges Vorbringen anhand der Begründung des FG-Urteils überprüft hat (BFH-Entscheidungen vom 08.03.1967 - I R 185/66, BFHE 88, 230, BStBl III 1967, 342; vom 01.06.2006 - I R 12/05, BFH/NV 2006, 2088, unter II.2., und vom 11.01.2017 - VI R 26/15, BFH/NV 2017, 473, Rz 20). Dabei ist allerdings keine vollständige und umfassende Auseinandersetzung mit dem FG-Urteil erforderlich; auch ist nicht geboten, dass die Revisionsbegründung die Argumentation des FG widerlegt (BFH-Urteil vom 03.02.2010 - IV R 26/07, BFHE 228, 365, BStBl II 2010, 751, unter II.1.).2. Diese Anforderungen sind vorliegend noch erfüllt. Die erforderliche Auseinandersetzung mit den Gründen des angefochtenen Urteils ist schon darin zu sehen, dass das FA auf den Gesetzeswortlaut verweist, den das FG bei seiner Auslegung gerade nicht berücksichtigt hat (vgl. dazu noch unten III.3.a). Außerdem hat das FA in der Revisionsbegründung erstmals eine Auswertung von Teilen der einschlägigen Literatur vorgenommen.III.Die Revision ist auch begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FGO).Zwar hat das FG die vom Kläger erhobene Feststellungsklage zu Recht als zulässig angesehen (dazu unten 1.) und seiner Beurteilung --wenn auch unausgesprochen-- zutreffend die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der tatrichterlichen mündlichen Verhandlung zugrunde gelegt (unten 2.). Die entscheidungserhebliche Norm des § 10b Abs. 1 Satz 8 Nr. 2 EStG ist aber gegenteilig zur Auffassung des FG auszulegen (unten 3.). Zudem dürfen Beträge, die keine Zuwendungen i.S. des § 10b EStG sind, entgegen der Ansicht des Klägers nicht in förmliche Zuwendungsbestätigungen nach § 50 EStDV aufgenommen werden (unten 4.). Da das FG alle maßgebenden Tatsachen festgestellt hat, kann der Senat selbst über die Klage entscheiden. Sie ist abzuweisen (unten 5.).1. Die vom Kläger erhobene Feststellungsklage ist zulässig.Gemäß § 41 Abs. 1 FGO kann durch Klage u.a. die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses (dazu unten a) begehrt werden, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung hat (unten b). Dies gilt jedoch nicht, soweit der Kläger seine Rechte durch Gestaltungs- oder Leistungsklage verfolgen kann oder hätte verfolgen können (§ 41 Abs. 2 Satz 1 FGO; unten c).a) "Rechtsverhältnis" i.S. des § 41 Abs. 1 FGO ist jede auf eine bestimmte, aus einem konkreten Sachverhalt resultierende, aufgrund von Rechtsnormen geordnete rechtliche Beziehung zwischen Personen oder zwischen Personen und Sachen, sofern es sich um ein abgabenrechtliches Verhältnis handelt, für das der Finanzrechtsweg eröffnet ist (BFH-Urteile vom 29.07.2003 - VII R 39, 43/02, BFHE 202, 411, BStBl II 2003, 828, unter 2.b, und vom 30.03.2011 - XI R 12/08, BFHE 233, 304, BStBl II 2011, 819, Rz 18 f.).Ob der Kläger im Verhältnis zur Finanzverwaltung zur Ausstellung von Zuwendungsbestätigungen auch für Mitgliedsbeiträge berechtigt ist, ist eine Frage, die --schon wegen ihrer Normierung in § 10b Abs. 1 Satz 8 EStG-- ein "Rechtsverhältnis" i.S. des § 41 Abs. 1 FGO darstellt (ebenso für die Rechtslage vor Schaffung des § 10b Abs. 1 Satz 8 EStG in Bezug auf die Frage, ob die Befugnis zur Ausstellung von Spendenbescheinigungen nach früherem Recht besteht, BFH-Urteil vom 23.09.1999 - XI R 66/98, BFHE 190, 278, BStBl II 2000, 533, unter II.1.).b) Für das erforderliche berechtigte Interesse an der baldigen Feststellung genügt nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung jedes konkrete, vernünftigerweise anzuerkennende schutzwürdige Interesse rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Art, sofern die begehrte Feststellung geeignet ist, in einem der genannten Bereiche zu einer Verbesserung der Position des Klägers zu führen (vgl. auch insoweit BFH-Urteil in BFHE 202, 411, BStBl II 2003, 828, unter 2.b, m.w.N.).Dieses Interesse ergibt sich hier aus dem Umstand, dass der Kläger gemäß § 10b Abs. 4 Sätze 2 und 3 EStG für zumindest grob fahrlässig ausgestellte unrichtige Zuwendungsbestätigungen haftet. Darüber hinaus führt der Kläger zu Recht an, dass auch die Möglichkeit, mit der steuerlichen Abziehbarkeit von Mitgliedsbeiträgen werben --oder eben nicht werben-- zu können, ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung begründet (vgl. auch BFH-Urteil in BFHE 190, 278, BStBl II 2000, 533, unter II.1.).c) Die Anforderungen der Subsidiaritätsklausel des § 41 Abs. 2 Satz 1 FGO sind ebenfalls gewahrt.aa) Eine Anfechtungsklage kommt vorliegend nicht in Betracht, da es sich bei dem im Freistellungsbescheid enthaltenen bloßen Hinweis auf die vom FA vorgenommene Subsumtion unter § 10b Abs. 1 Satz 8 Nr. 2 EStG nicht um einen Verwaltungsakt (§ 118 AO) handelt. Schon nach seinem objektiven Gehalt fehlt dem Hinweis der für die Annahme eines Verwaltungsakts erforderliche Regelungscharakter. Darüber hinaus hat das FA auch keinen Anschein eines Verwaltungsakts gesetzt, denn der Hinweis ist optisch deutlich vom Regelungsteil des Feststellungsbescheids getrennt und die Rechtsbehelfsbelehrung bezieht sich ausdrücklich nicht auf den Hinweis.bb) Die Verpflichtungsklage ist ebenfalls nicht eröffnet.Zwar dürfen mit einer (vorbeugenden) Feststellungsklage die gesetzlichen Regelungen über die Erteilung verbindlicher Auskünfte durch die Finanzbehörden (§ 89 Abs. 2 bis 7 AO) nicht unterlaufen werden (FG Münster, Urteil vom 27.07.2016 - 10 K 584/16, Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst 2018, 312, unter 3.); ein Anspruch auf Erteilung einer verbindlichen Auskunft wäre im Wege der Verpflichtungsklage geltend zu machen (Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler --HHSp--, § 89 AO Rz 307, 308, m.w.N.).Allerdings setzt die Erteilung einer verbindlichen Auskunft voraus, dass der maßgebliche Sachverhalt noch nicht verwirklicht worden ist (§ 89 Abs. 2 Satz 1 AO). Vorliegend geht es im Kern nicht um die Klärung des künftigen gemeinnützigkeits- und zuwendungsrechtlichen Status des Klägers, sondern um dessen gegenwärtigen Status. Der Rechtsstreit beruht auf einer vergangenheitsbezogenen Überprüfung der Tätigkeiten des Klägers durch das FA in Bezug auf frühere Veranlagungszeiträume. Damit könnte der Kläger im Streitfall keine verbindliche Auskunft für die streitgegenständliche Frage erhalten, so dass kein Konkurrenzverhältnis zu § 89 Abs. 2 AO besteht und eine Verpflichtungsklage ausscheidet.cc) Auch im Wege einer allgemeinen Leistungsklage könnte vorliegend kein vorrangiger Rechtsschutz erlangt werden. Denn außerhalb des --hier nicht einschlägigen-- § 89 Abs. 2 AO besteht kein Anspruch auf Leistungen der Finanzverwaltung in Gestalt der Erteilung unverbindlicher Hinweise oder Rechtsauskünfte. Etwas anderes folgt auch nicht daraus, dass die Finanzverwaltung in Freistellungsbescheide regelmäßig Hinweise hinsichtlich der Befugnis zur Ausstellung von Zuwendungsbestätigungen aufnimmt; die früher gegenteilige Auffassung des FG Köln (Urteil vom 23.08.1991 - 13 K 3592/89, EFG 1992, 159, unter I., rkr.) ist jedenfalls durch die BFH-Urteile vom 10.06.1992 - I R 107/91 (BFH/NV 1993, 13) und in BFHE 190, 278, BStBl II 2000, 533 überholt (wie hier im Ergebnis auch FG Berlin, Urteile vom 06.10.2003 - 8 K 8844/99, EFG 2004, 316, rkr., und vom 23.03.2004 - 7 K 7175/02, EFG 2004, 1338, rkr.; FG Münster, Urteil vom 16.02.2007 - 9 K 4907/02, EFG 2007, 1434, unter II.1., rkr.).2. Auch bei einer Feststellungsklage ist --wie bei Anfechtungsklagen (dazu BFH-Urteil vom 28.07.2005 - III R 68/04, BFHE 211, 107, BStBl II 2008, 350, unter II.2.)-- die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem FG maßgeblich. Es kommt damit weder auf die Sach- und Rechtslage zum Schluss des Zeitraums, auf den sich der Freistellungsbescheid bezieht, an (hier: Ende 2016) noch auf den Zeitpunkt des Ergehens des beanstandeten Hinweises des FA (hier: Juni 2017).a) Für das maßgebliche anwendbare Recht ist dies bereits entschieden (vgl. Urteil des Bundessozialgerichts vom 17.02.2009 - B 2 U 35/07 R, Neue Zeitschrift für Sozialrecht 2010, 49; Steinhauff in HHSp, § 41 FGO Rz 544). Hinsichtlich der Sachlage, die der Entscheidung zugrunde zu legen ist, kann indes nichts anderes gelten. Wäre auf einen früheren Zeitpunkt abzustellen und entschiede das FG auf dieser Tatsachengrundlage über den Feststellungsantrag, hätte sich die Sachlage aber bis zur Entscheidung des FG geändert, so bestünde sogleich ein Anspruch auf eine erneute --abweichende-- Entscheidung über den Feststellungsantrag. Dies wäre mit dem Gebot prozessökonomischen Handelns nicht vereinbar.b) Das FG hat seiner Betrachtung daher zutreffend die vom Kläger in den Jahren 2017 bis 2019 entfalteten Aktivitäten zugrunde gelegt. Die gravierenden Einschränkungen der Tätigkeit des Klägers infolge der --insbesondere für Blasorchester geltenden-- gesetzlichen Beschränkungen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie seit März 2020, die noch bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem FG im Februar 2021 andauerten, hat es demgegenüber in vertretbarer Weise außer Betracht gelassen, weil diese temporären Beschränkungen für die Beurteilung der Tätigkeit des Klägers nicht typisch sind.3. Zu Unrecht hat das FG die streitentscheidende Norm des § 10b Abs. 1 Satz 8 Nr. 2 EStG indes dahin ausgelegt, dass diese dann nicht anwendbar sein soll, wenn die Körperschaft unterschiedliche Zwecke verfolgt und einer der --nicht untergeordneten-- Zwecke nicht der Freizeitgestaltung diene. Vielmehr tritt die Rechtsfolge der genannten Norm bereits dann ein, wenn die Körperschaft auch kulturelle Betätigungen fördert, die in erster Linie der Freizeitgestaltung dienen. Dies folgt sowohl aus dem klaren Wortlaut der Regelung (dazu unten a) als auch aus ihrer Entstehungsgeschichte (unten b) sowie aus dem Normzweck (unten c). Dieses Auslegungsergebnis ist nicht verfassungswidrig (unten d).a) Das FG hat eine Betrachtung des Gesetzeswortlauts unterlassen. Wie das FA und das BMF zu Recht vorbringen, ist der Wortlaut des § 10b Abs. 1 Satz 8 Nr. 2 EStG eindeutig in dem dort formulierten Sinne, dass Mitgliedsbeiträge an Körperschaften, die kulturelle Betätigungen fördern, die in erster Linie der Freizeitgestaltung dienen, nicht abziehbar sind. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Körperschaft neben den beschriebenen kulturellen Betätigungen auch andere Zwecke fördert, da die im Gesetzeswortlaut für die Versagung des Abzugs von Mitgliedsbeiträgen genannte Voraussetzung schon erfüllt ist, wenn überhaupt derartige kulturelle Betätigungen gefördert werden.Der Kläger und ihm folgend das FG lesen die Norm hingegen so, als ob darin formuliert wäre: "Mitgliedsbeiträge an Körperschaften, die in erster Linie kulturelle Betätigungen fördern, die der Freizeitgestaltung dienen." Auf dieser --vom tatsächlichen Gesetzeswortlaut abweichenden-- Grundlage gelangen sie zu ihrer Auffassung, dass eine Abwägung zwischen dem Gewicht der kulturellen Freizeitbetätigungen und anderen Betätigungen vorzunehmen sei. Richtigerweise ist die Wendung "in erster Linie" aber kraft ihrer Stellung im Wortlaut des § 10b Abs. 1 Satz 8 Nr. 2 EStG --eindeutig-- dahingehend zu verstehen, dass eine quantitative oder qualitative Gewichtung bzw. Abwägung nur insoweit zu erfolgen hat, als zu beurteilen ist, ob eine kulturelle Betätigung in erster Linie der Freizeitgestaltung (dann tritt die Rechtsfolge des § 10b Abs. 1 Satz 8 Nr. 2 EStG ein) oder in erster Linie Nicht-Freizeitzwecken dient (dann fällt die Körperschaft unter die Komplementärregelung des § 10b Abs. 1 Satz 7 EStG). Für eine Abwägung mit weiteren Zwecken, die die Körperschaft neben den kulturellen Freizeitbetätigungen verfolgt, lässt der Wortlaut hingegen keinen Raum.Dies entspricht nicht nur der Auffassung der Finanzverwaltung (vgl. R 10b.1 Abs. 1 Satz 1 der Einkommensteuer-Richtlinien --EStR-- 2005 in der Fassung der Einkommensteuer-Änderungsrichtlinien --EStÄR-- 2008 [BStBl I 2008, 1017] und der EStÄR 2012 [BStBl I 2013, 276]), sondern auch des überwiegenden Teils der Literatur (vgl. Schauhoff/Kirchhain, Deutsches Steuerrecht --DStR-- 2007, 1985, 1987; Fritz, Betriebs-Berater 2007, 2546, 2547; Brandl in Brandis/Heuermann, § 10b EStG Rz 25; KKB/Eckardt, § 10b EStG, 7. Aufl., Rz 17; Pust in Littmann/Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, Kommentar, § 10b Rz 169; offengelassen von Drüen/Liedtke, Finanz-Rundschau 2008, 1, 4; andeutungsweise wie das FG hingegen Hüttemann, Gemeinnützigkeits- und Spendenrecht, 5. Aufl. 2021, Rz 8.101; für eine Aufteilung in einen abziehbaren und einen nicht abziehbaren Anteil Strahl/Stahl/Demuth in Korn, § 10b EStG Rz 28.7; differenzierend BeckOK EStG/Unger, 13. Ed. [01.07.2022], EStG § 10b Rz 107). Ganz einhellig wird diese Ansicht zudem zur --wortlautidentischen-- Parallelvorschrift des § 9 Abs. 1 Nr. 2 Satz 8 KStG vertreten, soweit sich in der Kommentarliteratur überhaupt Aussagen zu der vorliegend zu beurteilenden Problematik finden (vgl. Märtens in Gosch KStG, 4. Aufl., § 9 Rz 39; Kirchhain in Rödder/Herlinghaus/Neumann, KStG, 1. Aufl. 2015, § 9 Rz 225; Schulte in Erle/Sauter, KStG, 3. Aufl. 2010, § 9 Rz 53; Krämer in Dötsch/Pung/Möhlenbrock, Kommentar zum KStG, § 9 Rz 125).b) Das FG hat seine Gesetzesauslegung allein auf die Entstehungsgeschichte des § 10b Abs. 1 Satz 8 Nr. 2 EStG gestützt, diese jedoch nicht vollständig ausgewertet und ist so zu fehlerhaften Ergebnissen gelangt.aa) Die genannte Norm geht auf eine lange Tradition zunächst außer-, später untergesetzlicher Regelungen zurück.(1) Bis einschließlich des Veranlagungszeitraums 1999 mussten gemeinnützige Zwecke durch allgemeine Verwaltungsvorschrift der Bundesregierung, die der Zustimmung des Bundesrates bedurfte, allgemein als besonders förderungswürdig anerkannt sein (§ 48 Abs. 2 EStDV 1955/1990). Damit verwies die EStDV auf die Anlage 7 zu R 111 Abs. 1 EStR (zuletzt EStR 1999). Nach Anlage 7 Nr. 4 zu R 111 Abs. 1 EStR 1999 war u.a. die Förderung kultureller Zwecke als besonders förderungswürdig anerkannt; jedoch nur, wenn der Empfänger der Zuwendung eine juristische Person des öffentlichen Rechts oder eine öffentliche Dienststelle war. Das für derartige Zuwendungen damit angeordnete Durchlaufspendenverfahren schloss nach damaliger Verwaltungsauffassung Mitgliedsbeiträge aus (R 111 Abs. 3 Satz 1 EStR 1999), so dass die Mitglieder von Körperschaften, die kulturelle Zwecke förderten, ihre Pflichtbeiträge --anders als Spenden-- nicht als Sonderausgaben abziehen konnten.In Bezug auf Körperschaften, die mehrere --rechtlich unterschiedlich zu behandelnde-- Förderzwecke verfolgten, hatte der BFH seinerzeit die Auffassung vertreten, dass alle Zuwendungen einheitlich zu beurteilen seien und es nicht auf den tatsächlichen Verwendungszweck der einzelnen Zuwendung ankomme (BFH-Urteil vom 18.11.1966 - VI R 167/66, BFHE 88, 282, BStBl III 1967, 365: für Zuwendungen an eine kirchliche Körperschaft sollten stets die --geringeren-- Abzugsmöglichkeiten gelten, auch wenn die Zuwendung im Einzelfall zur Förderung --steuerlich günstiger behandelter-- wissenschaftlicher Zwecke gegeben und tatsächlich verwendet wurde; später als "Überlagerungs- und Abfärbetheorie" bezeichnet).(2) Da die Delegation der Abgrenzung des Anwendungsbereichs des § 10b EStG an die Finanzverwaltung in Rechtsprechung und Literatur zudem zunehmend kritisch gesehen wurde (vgl. statt aller Senatsurteil vom 24.11.1993 - X R 5/91, BFHE 173, 519, BStBl II 1994, 683, unter IV.), wurde mit Wirkung ab dem Veranlagungszeitraum 2000 die Bestimmung der als besonders förderungswürdig geltenden Zwecke nicht mehr der Finanzverwaltung überlassen, sondern erstmals (unter)gesetzlich --§ 48 Abs. 2 i.V.m. Anlage 1 EStDV 2000-- geregelt (Verordnung zur Änderung der EStDV vom 10.12.1999, BGBl I 1999, 2413). Für die in Anlage 1 Abschn. A zu § 48 Abs. 2 EStDV 2000 bezeichneten Zwecke waren sowohl Spenden als auch Mitgliedsbeiträge abziehbar; für die in Anlage 1 Abschn. B zu § 48 Abs. 2 EStDV 2000 bezeichneten Zwecke hingegen nur Spenden (§ 48 Abs. 4 Satz 1 EStDV 2000). Mitgliedsbeiträge an Körperschaften, die Zwecke förderten, die sowohl in Abschn. A als auch in Abschn. B der Anlage 1 bezeichnet waren, durften nach der ausdrücklichen Regelung des § 48 Abs. 4 Satz 2 EStDV 2000 nicht abgezogen werden.Hinsichtlich aller in Anlage 1 Abschn. B zu § 48 Abs. 2 EStDV 2000 genannten Zwecke (u.a. kulturelle Betätigungen, die in erster Linie der Freizeitgestaltung dienen, vgl. Nr. 2 des Abschn. B) war ein Abzug von Mitgliedsbeiträgen auch schon nach den früheren Regelungen der Anlage 7 zu R 111 Abs. 1 EStR ausgeschlossen gewesen. Für die Zuordnung zu den Abschn. A oder B war maßgeblich, ob die Mitgliedsbeiträge bei typisierender Betrachtung in der Regel aus altruistischen Motiven geleistet werden oder ob sie überwiegend der Finanzierung von Leistungen an Mitglieder dienen bzw. in erster Linie der eigenen Freizeitgestaltung förderlich sind (Begründung zum Entwurf der Verordnung zur Änderung der EStDV, BRDrucks 418/99, S. 11, 15). Das in § 48 Abs. 4 Satz 2 EStDV 2000 angeordnete Aufteilungsverbot wurde damit begründet, dass Mitgliedsbeiträge den Gesamtverein beträfen und nicht seinen einzelnen Zwecken zugeordnet werden könnten (BRDrucks 418/99, S. 15).Nahezu zeitgleich gab der BFH --in Entscheidungen, die noch zur Rechtslage vor der EStDV 2000 ergangen waren-- die Rechtsprechung zur Überlagerungs- und Abfärbetheorie auf. Zuwendungen an Körperschaften, die mehrere Zwecke verfolgten, die hinsichtlich des Abzugs von Zuwendungen unterschiedlich behandelt wurden, waren nunmehr (außerhalb des zeitlichen Anwendungsbereichs des § 48 Abs. 4 Satz 2 EStDV 2000) nach Maßgabe derjenigen einkommensteuerrechtlichen Regelungen abziehbar, die für den Zweck galten, der durch die Verwendung der Spende tatsächlich gefördert wurde (BFH-Urteile in BFHE 190, 278, BStBl II 2000, 533, unter II.2.c, und vom 15.12.1999 - XI R 93/97, BFHE 190, 478, BStBl II 2000, 608, unter II.2.b).(3) Mit dem Gesetz zur weiteren Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements (GSbE) vom 10.10.2007 (BGBl I 2007, 2332) wurden ab dem Veranlagungszeitraum 2007 die §§ 48, 49 EStDV 2000 sowie die Anlage 1 zu § 48 Abs. 2 EStDV 2000 aufgehoben. Die steuerbegünstigten Zwecke wurden fortan im Katalog des § 52 Abs. 2 AO --und damit in einem formellen Gesetz-- abschließend aufgeführt. § 10b Abs. 1 EStG wurde neu gefasst und enthielt in Satz 2 die Regelung, die heute in § 10b Abs. 1 Satz 8 EStG zu finden ist. Eine Norm, die dem Aufteilungsverbot des früheren § 48 Abs. 4 Satz 2 EStDV 2000 entspricht, wurde hingegen nicht in das EStG aufgenommen.(4) Das Jahressteuergesetz (JStG) 2009 vom 19.12.2008 (BGBl I 2008, 2794) hat in § 10b Abs. 1 EStG den heutigen Satz 7 (damals Satz 2) eingefügt. Danach sind Mitgliedsbeiträge an Körperschaften, die Kunst und Kultur gemäß § 52 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AO fördern, abziehbar, soweit es sich nicht um Mitgliedsbeiträge nach Satz 8 Nr. 2 handelt, auch wenn den Mitgliedern Vergünstigungen gewährt werden. Diese begünstigende Änderung sollte rückwirkend ab dem Veranlagungszeitraum 2007 --dem Inkrafttreten des GSbE-- gelten (§ 52 Abs. 24b EStG i.d.F. des JStG 2009). Sie diente der "Klarstellung", dass aufgrund des Wegfalls des § 48 Abs. 4 Satz 2 EStDV 2000 Mitgliedsbeiträge an Kulturfördervereine selbst bei Gewährung von Vergünstigungen abziehbar sein sollten (Begründung zum Regierungsentwurf des JStG 2009 vom 02.09.2008, BTDrucks 16/10189, S. 49).bb) Aus dieser Gesetzeshistorie kann --entgegen der Auffassung des FG-- nicht abgeleitet werden, dass Mitgliedsbeiträge an Körperschaften, die neben kulturellen Betätigungen, die in erster Linie der Freizeitgestaltung dienen, noch einen anderen --nicht von § 10b Abs. 1 Satz 8 EStG erfassten-- Zweck fördern, abziehbar sein sollen, obwohl aus dem Gesetzeswortlaut das gegenteilige Ergebnis folgt.(1) Das FG hat für seine abweichende Auffassung in erster Linie auf den Umstand hingewiesen, dass durch das GSbE die --für "Mehr-Zweck-Körperschaften" geltende-- Regelung des damaligen § 48 Abs. 4 Satz 2 EStDV 2000 aufgehoben worden ist, ohne zugleich eine identische Regelung in § 10b EStG zu schaffen. Es hat hierin eine "bewusste Entscheidung des Gesetzgebers" gesehen.Damit lässt das FG jedoch außer Acht, dass sich die Regelungstechniken in § 48 Abs. 4 Satz 1 EStDV 2000 i.V.m. der Anlage 1 zu § 48 Abs. 2 EStDV 2000 einerseits und in § 10b Abs. 1 Sätze 7 und 8 EStG andererseits grundlegend voneinander unterscheiden. Für die bis 2006 geltende Rechtslage ergab sich allein aus der Anlage 1 zu § 48 Abs. 2 EStDV 2000 noch keine Antwort auf die Frage, wie Mitgliedsbeiträge an Körperschaften zu behandeln waren, die sowohl Zwecke nach Abschn. A als auch nach Abschn. B der Anlage 1 förderten. Beide Abschnitte waren gesetzestechnisch gleichrangig; ein Vorrang des Abschn. B konnte aus der Gesetzesfassung jedenfalls nicht herausgelesen werden. Es bedurfte daher --insbesondere nach der Aufgabe der Überlagerungs- und Abfärbetheorie durch den BFH-- der ausdrücklichen Kollisionsregelung des § 48 Abs. 4 Satz 2 EStDV 2000, um das vom Normgeber gewünschte Ergebnis zu erreichen, dass bei "Mehr-Zweck-Körperschaften" ein Abzug von Mitgliedsbeiträgen schon dann ausgeschlossen sein sollte, wenn die Körperschaft auch Zwecke nach Abschn. B der Anlage 1 förderte.Die ab 2007 geltenden Normen sind demgegenüber grundlegend anders formuliert. § 10b Abs. 1 Satz 8 Nr. 2 EStG schließt den Abzug von Mitgliedsbeiträgen an Körperschaften, die kulturelle Betätigungen fördern, die in erster Linie der Freizeitgestaltung dienen, generell aus (vgl. ausführlich oben a). Ein Konkurrenzverhältnis zu einer anderen Norm, die den Abzug von Mitgliedsbeiträgen zulässt, kann bei dieser Regelungstechnik --anders als beim Konkurrenzverhältnis zwischen den gleichrangigen Abschn. A und B der Anlage 1 zu § 48 Abs. 2 EStDV 2000-- von vornherein nicht entstehen, so dass es einer besonderen gesetzlichen Regelung, die ein solches Konkurrenzverhältnis auflöst (seinerzeit § 48 Abs. 4 Satz 2 EStDV 2000), nicht mehr bedurfte.Dies wird durch § 10b Abs. 1 Satz 7 EStG bestätigt, der für Körperschaften, die Kunst und Kultur fördern, ausdrücklich den Vorrang des § 10b Abs. 1 Satz 8 Nr. 2 EStG anordnet und seine begünstigende Rechtsfolge nur auf die nicht von der zuletzt genannten Norm erfassten Körperschaften beschränkt.(2) Darüber hinaus hat das FG sich entscheidend auf eine Passage in der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zum GSbE gestützt, in der es heißt, der Sonderausgabenabzug für Mitgliedsbeiträge an Vereine zur Förderung kultureller Einrichtungen solle verbessert werden (BTDrucks 16/5200, S. 12). Aus dieser --sehr allgemein gehaltenen-- Formulierung hat es gefolgert, der heutige § 10b Abs. 1 Satz 8 Nr. 2 EStG sei in besonderer Weise zugunsten kulturfördernder Vereine auszulegen. Dabei übersieht das FG jedoch, dass diese Formulierung in den Gesetzesmaterialien sich nicht auf jede Körperschaft bezieht, die auch die Kultur fördert, sondern nur auf die --heute durch § 10b Abs. 1 Satz 7 EStG begünstigten-- "passiven" Kulturfördervereine ("Förderung kultureller Einrichtungen"), worauf in den Gesetzesmaterialien nur zwei Absätze nach der vom FG herangezogenen Formulierung hingewiesen wird. Darüber hinaus heißt es in der Begründung des Gesetzentwurfs ausdrücklich, Mitgliedsbeiträge an Körperschaften, die "insbesondere die aktiv ausgeführten eigenen kulturellen Betätigungen der Mitglieder (z.B. im Laientheater, Laienchor, Laienorchester)" fördern, seien weiterhin vom Abzug ausgeschlossen; demgegenüber seien Mitgliedsbeiträge an Körperschaften zur Förderung kultureller Einrichtungen künftig als Sonderausgaben abziehbar (BTDrucks 16/5200, S. 16). Die vom FG vorgenommene Gleichsetzung der Förderung kultureller Einrichtungen mit der Förderung eigener kultureller Betätigungen der Mitglieder wird daher der vom Gesetzgeber gewollten und unmissverständlich in den Gesetzesmaterialien vorgenommenen Differenzierung zwischen diesen Betätigungen nicht gerecht.c) Auch der erkennbare Normzweck spricht gegen die vom FG vorgenommene Auslegung des § 10b Abs. 1 Satz 8 Nr. 2 EStG.aa) Die mit dieser Regelung für bestimmte Körperschaften angeordnete Differenzierung zwischen Spenden und Mitgliedsbeiträgen nimmt die erheblichen rechtlichen und tatsächlichen Unterschiede zwischen diesen beiden Unterfällen der "Zuwendung" (§ 10b Abs. 1 Satz 1 EStG) auf. Spenden sind begrifflich entscheidend durch ihre Freiwilligkeit und Unentgeltlichkeit --d.h. das Fehlen einer Gegenleistung-- gekennzeichnet (Senatsurteil vom 15.01.2019 - X R 6/17, BFHE 263, 325, BStBl II 2019, 318, Rz 40, m.w.N.). Demgegenüber fehlt es Mitgliedsbeiträgen infolge der rechtlichen Verpflichtung zu ihrer Zahlung zumindest an der Freiwilligkeit. Darüber hinaus wird in vielen Fällen ein Mitgliedsbeitrag auch in Erwartung einer Gegenleistung --zumindest im wirtschaftlichen Sinne-- gezahlt werden (vgl. zu Mitgliedsbeiträgen an Sportvereine BFH-Urteil vom 28.04.1987 - IX R 7/83, BFHE 150, 406, BStBl II 1987, 814, m.w.N. auf die Literatur; zur umsatzsteuerrechtlichen Beurteilung BFH-Urteil vom 09.08.2007 - V R 27/04, BFHE 217, 314, unter II.4.).Der Katalog des § 10b Abs. 1 Satz 8 EStG will erkennbar aus den zahlreichen in § 52 Abs. 2 AO genannten begünstigten Förderzwecken diejenigen herausgreifen, in denen bei typisierender Betrachtung die Wertung, Mitgliedsbeiträge seien zumindest im wirtschaftlichen Sinne als Gegenleistung anzusehen, naheliegt. Dies wird --hinsichtlich der Vorläuferregelung-- schon aus der Begründung der Verordnung zur Änderung der EStDV deutlich (vgl. ausführlich oben III.3.b aa (2); ebenso zur aktuellen Gesetzesfassung nochmals die Antwort der Bundesregierung vom 08.09.2021 auf eine Kleine Anfrage von Bundestagsabgeordneten, BTDrucks 19/32370, S. 2).Die in § 10b Abs. 1 Satz 8 EStG getroffene Abgrenzung ist auch sachgerecht und bildet den Normzweck zutreffend ab. Alle dort genannten Förderzwecke zeichnen sich durch eine große Nähe zum Freizeit- bzw. Hobbybereich aus. Es wäre --auch verfassungsrechtlich-- kaum zu rechtfertigen, wenn Steuerpflichtige ihre Aufwendungen für die Freizeitgestaltung nur deshalb einkommensteuerlich geltend machen könnten, weil die Freizeitgestaltung mittels Zusammenschlusses zu einer Körperschaft erfolgt, während alle anderen Steuerpflichtigen ihre Freizeitaufwendungen aus versteuertem Einkommen decken müssten.Der Abzug von (echten) Spenden bleibt demgegenüber auch im Anwendungsbereich des § 10b Abs. 1 Satz 8 EStG im Rahmen der allgemeinen Höchstbeträge möglich. Bei Spenden geht der Gesetzgeber, auch wenn diese an einen --im Übrigen Mitgliedsbeiträge erhebenden-- Freizeitverein geleistet werden, in typisierender Weise davon aus, dass sie nicht in erster Linie für die eigene Freizeitgestaltung geleistet werden, deren Kosten schon durch die nicht abziehbaren Mitgliedsbeiträge abgedeckt sein sollten.bb) Vor diesem Hintergrund stützt der Normzweck die bereits aus dem Gesetzeswortlaut und der Entstehungsgeschichte folgende Auslegung, dass die Rechtsfolge des § 10b Abs. 1 Satz 8 Nr. 2 EStG bereits dann eintritt, wenn die Körperschaft neben einem der dort genannten Zwecke auch noch einen anderen Zweck verfolgt. Denn wenn der gegenteiligen Auffassung des FG zu folgen wäre, könnten Mitgliedsbeiträge, die der Finanzierung eigener Freizeitaktivitäten des Steuerpflichtigen dienen, allein deshalb abgezogen werden, weil die Körperschaft neben dem Freizeitzweck noch einen anderen Zweck verfolgt. Dies stünde dem erkennbaren Bestreben des Gesetzgebers, die Finanzierung eigener Freizeitaktivitäten von der einkommensteuerlichen Begünstigung auszuschließen, gerade entgegen.cc) Die gesetzliche Differenzierung zwischen den in § 10b Abs. 1 Satz 8 EStG genannten Körperschaften einerseits und den übrigen Körperschaften andererseits lässt damit eine klare Entscheidung des Gesetzgebers erkennen. Diese darf nicht --so aber das FG-- mit der Erwägung überlagert werden, die vom Kläger betriebene musikalische Ausbildung und Anleitung junger Menschen erscheine "in der heutigen Zeit" überragend wichtig und förderungswürdig.d) Entgegen der Auffassung des Klägers ist weder die gesetzliche Regelung als solche noch die vom Senat vorgenommene Gesetzesauslegung verfassungswidrig.aa) Der Kläger sieht --im Anschluss an Nacke, Deutsche Steuerzeitung 2008, 445, 447 f.-- einen Verstoß gegen das aus Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) abzuleitende Gebot folgerichtiger Normausgestaltung darin, dass passive Kulturvereine Mitgliedsbeiträge abziehen können (§ 10b Abs. 1 Satz 7 EStG), aktive Kulturvereine aber nicht (§ 10b Abs. 1 Satz 8 Nr. 2 EStG).bb) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG; grundlegend zum Folgenden Urteil vom 09.12.2008 - 2 BvL 1/07, BVerfGE 122, 210, unter C.I.2., m.w.N.) wird der bei der Auswahl des Steuergegenstands und der Bestimmung des Steuersatzes grundsätzlich weitreichende Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers im Bereich des EStG vor allem durch zwei eng miteinander verbundene Leitlinien begrenzt, nämlich das Gebot der Ausrichtung der Steuerlast am Prinzip der finanziellen Leistungsfähigkeit und das Gebot der Folgerichtigkeit. Letzteres bedeutet, dass die einmal getroffene Belastungsentscheidung bei der Ausgestaltung des steuerrechtlichen Ausgangstatbestands folgerichtig im Sinne der Belastungsgleichheit umgesetzt werden muss. Ausnahmen von einer solchen folgerichtigen Umsetzung bedürfen eines besonderen sachlichen Grundes; insoweit sind außerfiskalische Förderungs- und Lenkungszwecke sowie Typisierungs- und Vereinfachungserfordernisse anerkannt. Der Gesetzgeber darf grundsätzlich generalisierende, typisierende und pauschalierende Regelungen treffen, ohne allein schon wegen der damit unvermeidlich verbundenen Härten gegen den allgemeinen Gleichheitssatz zu verstoßen. Er darf sich grundsätzlich am Regelfall orientieren und ist nicht gehalten, allen Besonderheiten jeweils durch Sonderregelungen Rechnung zu tragen. Die gesetzlichen Verallgemeinerungen müssen allerdings auf eine möglichst breite, alle betroffenen Gruppen und Regelungsgegenstände einschließende Beobachtung aufbauen. Insbesondere darf der Gesetzgeber für eine gesetzliche Typisierung keinen atypischen Fall als Leitbild wählen, sondern muss realitätsgerecht den typischen Fall als Maßstab zugrunde legen.Im Übrigen geht das Gebot folgerichtiger Ausgestaltung der Normen über die allgemeinen Anforderungen aus Art. 3 Abs. 1 GG nicht hinaus (BVerfG-Beschluss vom 06.06.2018 - 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14, BVerfGE 149, 126, Rz 70).cc) Nach diesen Maßstäben ist Art. 3 Abs. 1 GG in Gestalt des Gebots folgerichtiger Normausgestaltung vorliegend nicht verletzt, da die Grenzen zulässiger Typisierung gewahrt sind. Es ist nicht sachwidrig, dass der Gesetzgeber davon ausgeht, durch die aktive Mitwirkung in Laienorchestern usw. werde auch ein Freizeitbedürfnis des Mitglieds verfolgt, so dass gezahlte Mitgliedsbeiträge bei typisierender Betrachtung auch der Finanzierung eigener Freizeitaktivitäten dienten. Umgekehrt ist es noch vertretbar, in den Fällen des § 10b Abs. 1 Satz 7 EStG einen Abzug von Mitgliedsbeiträgen zuzulassen, wenn zwar ein kultureller Zweck gefördert wird, aber eben keine selbst ausgeübte laienkulturelle Freizeittätigkeit. Der Gesetzgeber ist hier in typisierender Weise davon ausgegangen, dass das altruistische Handeln einen eventuellen eigenen Vorteil des Mitglieds aus der kulturfördernden Tätigkeit der Einrichtung überwiegt. Es kann dahinstehen, ob die vorgenommene Differenzierung zwingend ist, sie stellt sich aber nicht als evident sachwidrig dar (kritisch aber wesentliche Teile der Literatur; vgl. Hüttemann, Der Betrieb 2007, 2053, 2058: "rechtspolitisch wenig einleuchtend"; Hüttemann, Gemeinnützigkeits- und Spendenrecht, 5. Aufl. 2021, Rz 8.99: "inhaltlich nicht befriedigende Regelung"; Schauhoff/Kirchhain, DStR 2007, 1985, 1987: "Wertungsentscheidung des Gesetzgebers bleibt ungewiss"; Strahl/Stahl/Demuth in Korn, § 10b EStG Rz 28.6: "kein vernünftiger Grund ersichtlich").dd) Auch ist darauf hinzuweisen, dass die "Eingriffsintensität" des § 10b Abs. 1 Satz 8 Nr. 2 EStG --tatsächlich bewegt sich diese Norm im Bereich der Einschränkung einer Begünstigung und ist daher für die verfassungsrechtliche Betrachtung eher dem Subventions- als dem Eingriffsrecht zuzuordnen-- sich als vergleichsweise gering darstellt. Zum einen betrifft die Regelung nur den Abzug von Mitgliedsbeiträgen; demgegenüber können Spenden --also freiwillige und unentgeltliche Zuwendungen-- auch bei aktiven Kulturvereinen in dem für alle steuerbegünstigten Körperschaften geltenden Umfang abgezogen werden. Zum anderen sind gerade im Fall des Klägers die vom Abzug ausgeschlossenen Mitgliedsbeiträge sowohl aus Sicht der Mitglieder des Klägers (36 € jährlich) als auch aus Sicht des Klägers absolut und relativ geringfügig. Beim Kläger belaufen sich die Mitgliedsbeiträge in den drei Jahren, zu denen das FG Feststellungen getroffen hat (2017 bis 2019), auf durchschnittlich weniger als 1.400 € jährlich und deutlich weniger als 10 % seiner Gesamteinnahmen.ee) Einen weiteren Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz sieht der Kläger darin, dass große Vereine die durch § 10b Abs. 1 Satz 8 Nr. 2 EStG angeordnete Beschränkung --seiner Auffassung nach-- dadurch umgehen könnten, dass sie sich in einen aktiven und einen passiven Kulturverein aufspalten, während kleine Vereine --wie der Kläger-- diese Möglichkeit nicht hätten.Jedoch würde es sich wertungsmäßig um einen mit dem Streitfall nicht vergleichbaren Sachverhalt handeln, wenn das Ergebnis einer solchen "Aufspaltung" wäre, dass die aktiven Mitglieder weiterhin unter § 10b Abs. 1 Satz 8 Nr. 2 EStG fallende Mitgliedsbeiträge zahlen, während andere --nicht aktiv im Bereich der Laienmusik tätige-- Personen dem Förderverein beitreten und ihre dortigen Mitgliedsbeiträge gemäß § 10b Abs. 1 Satz 7 EStG abziehen könnten. Denn diese Personen würden dann gerade nicht ihre eigene Freizeitgestaltung fördern, sondern die Freizeitgestaltung Dritter. Ein solches --im Kern altruistisches-- Verhalten durfte der Gesetzgeber in auch verfassungsrechtlich vertretbarer Weise vom Anwendungsbereich des § 10b Abs. 1 Satz 8 Nr. 2 EStG ausnehmen.Sollte das --nicht näher erläuterte-- Beispiel des Klägers hingegen dahingehend zu verstehen sein, dass ein bisher einheitlicher Verein in zwei Vereine aufgespalten wird, der aktive Kulturverein fortan auf die Erhebung von Mitgliedsbeiträgen verzichtet, die aktiv im Bereich der Freizeitmusik tätigen Mitglieder zugleich Mitglieder des Fördervereins werden und dort ihre bisherigen Mitgliedsbeiträge leisten, die der Förderverein verabredungsgemäß dem aktiv tätigen Kulturverein zur Verfügung stellt, könnte die Annahme eines Gestaltungsmissbrauchs (§ 42 AO) naheliegen. Mit der theoretischen Möglichkeit der Gesetzesumgehung durch eine missbräuchliche Gestaltung kann aber ein Verfassungsverstoß der allgemein geltenden gesetzlichen Regelung nicht begründet werden.4. Der vom Kläger sowohl während des Klage- als auch während des Revisionsverfahrens --wohl hilfsweise-- geäußerten Auffassung, § 50 EStDV enthalte keine Regelung, die die Ausstellung von Zuwendungsbestätigungen für Mitgliedsbeiträge untersage, vermag der Senat nicht zu folgen.Einer derartigen ausdrücklichen Regelung bedarf es angesichts der klaren Gesetzessystematik nicht. Zum einen nimmt § 50 Abs. 1 EStDV auf "Zuwendungen im Sinne der §§ 10b, 34g des Gesetzes" Bezug und bezieht damit auch die Regelung des § 10b Abs. 1 Satz 8 EStG ein, wonach Mitgliedsbeiträge an bestimmte Körperschaften nicht nach § 10b EStG abziehbar sind. Hieraus ergibt sich denklogisch, dass derartige Beiträge in einer Zuwendungsbestätigung nicht als "Zuwendung i.S. des § 10b EStG" bescheinigt werden dürfen. Entgegen der Auffassung des Klägers folgt aus dem Umstand, dass § 10b Abs. 1 Satz 8 EStG unmittelbar nur für Einkommensteuersubjekte gilt, nichts anderes, da diese Regelung durch § 50 Abs. 1 EStDV in Bezug genommen wird und die Vorschriften über die Ausstellung von Zuwendungsbestätigungen gerade für steuerbegünstigte Körperschaften wie den Kläger gelten.Zum anderen zeigt § 10b Abs. 4 Satz 2 EStG, dass der Gesetzgeber das mindestens grob fahrlässige Ausstellen einer unrichtigen Zuwendungsbestätigung durch eine Haftungsfolge sanktioniert.5. Die Sache ist entscheidungsreif.Der Kläger fördert --was auch das FG im Ausgangspunkt nicht anders sieht-- durch den Betrieb des Laienorchesters kulturelle Betätigungen, die in erster Linie der Freizeitgestaltung dienen. Denn die tatsächliche Geschäftsführung des Klägers wird ausweislich der vorgelegten und vom FG in Bezug genommenen --und damit i.S. des § 118 Abs. 2 FGO festgestellten-- Unterlagen durch das Unterhalten von Laien-Blasorchestern, die gemeinsamen Proben der Mitglieder sowie die Auftritte der Blasorchester bei Konzerten und Marschmusiken geprägt. Damit erfüllt der Kläger die Voraussetzungen des § 10b Abs. 1 Satz 8 Nr. 2 EStG, so dass Mitgliedsbeiträge nicht als Sonderausgaben abziehbar sind.Hierfür kommt es nach den Rechtsausführungen unter 3. nicht darauf an, ob der Kläger zusätzlich auch noch andere Zwecke fördert, so dass es für die Entscheidung über die Klage und die Revision unerheblich ist, ob bzw. in welchem Umfang derartige Zweckverfolgungen beim Kläger überhaupt feststellbar sind. Damit steht der begehrte Feststellungsausspruch dem Kläger nicht zu, weil der von ihm beanstandete Hinweis des FA in den Freistellungsbescheiden für die Jahre 2014 bis 2016 und 2017 bis 2019 zutreffend ist; die Feststellungsklage ist abzuweisen.6. Der Senat entscheidet mit Einverständnis des Klägers und des FA --auf das (hier nicht erklärte) Einverständnis des beigetretenen BMF soll es nicht ankommen (BFH-Urteile vom 06.10.2005 - V R 64/00, BFHE 212, 132, BStBl II 2006, 212, unter II.5., und vom 11.11.2010 - VI R 17/09, BFHE 232, 40, BStBl II 2011, 969, Rz 11)-- ohne mündliche Verhandlung (§ 90 Abs. 2, § 121 Satz 1 FGO).7. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
bundesfinanzhof
bfh_011-22
17. März 2022
Vorsteuerabzug für den Bau einer Hängeseilbrücke 17. März 2022 - Nummer 011/22 - Urteil vom 20.10.2021 XI R 10/21 Mit Urteil vom 20.10.2021 – XI R 10/21 hat der Bundesfinanzhof (BFH) entschieden, dass der sog. Vorsteuerabzug aus Eingangsrechnungen für Leistungen im Zuge der Erstellung einer kostenlos nutzbaren Touristenattraktion (hier: Hängeseilbrücke) dann in Betracht kommen kann, wenn die Eingangsleistungen in einem unmittelbaren Zusammenhang mit einer entgeltlichen Leistung (hier: Parkraumbewirtschaftung) stehen. Für die Gemeinde bedeutet das im Ergebnis, dass sich ihre Baukosten für die Hängeseilbrücke deutlich reduzieren.Eine Gemeinde ließ im Jahr 2015 eine Hängeseilbrücke bauen. Zugleich wurde für die zu erwartenden Besucher ein Parkplatz hergestellt. Die Gemeinde bewirtschaftete den Parkplatz in der Weise, dass sie Parkgebühren erhob. Das Finanzamt war der Auffassung, dass zwischen der Parkplatzvermietung und den in Anspruch genommenen Leistungen zur Errichtung der Brücke kein unmittelbarer Zusammenhang bestehe. Deshalb dürfe die Gemeinde die sog. Vorsteuer, also die in den ihr erteilten Rechnungen der Bauunternehmen ausgewiesene Umsatzsteuer, nicht abziehen.Das sah der BFH anders. Für das Erfordernis einer entgeltlichen Leistung muss zwischen dem Leistenden (hier: der Gemeinde) und dem Leistungsempfänger (hier: den Nutzern der Hängeseilbrücke) ein Rechtsverhältnis bestehen, in dessen Rahmen gegenseitige Leistungen ausgetauscht werden, wobei die vom Leistenden empfangene Vergütung den tatsächlichen Gegenwert für die dem Leistungsempfänger erbrachte bestimmbare Dienstleistung bildet. Dies hat der BFH bejaht. Er sah in der Vereinnahmung von Parkgebühren einen unmittelbaren Zusammenhang zur Bereitstellung der Hängeseilbrücke. Bundesfinanzhof Pressestelle       Tel. (089) 9231-400 Pressesprecher  Tel. (089) 9231-300 Siehe auch: XI R 10/21
Der Vorsteuerabzug aus Eingangsrechnungen für Leistungen im Zuge der Erstellung einer kostenlos nutzbaren Touristenattraktion (hier: Hängeseilbrücke) kann dann in Betracht kommen, wenn die Eingangsleistungen in einem unmittelbaren Zusammenhang mit einer entgeltlichen Leistung (hier: Parkraumbewirtschaftung) stehen. Tenor Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts Rheinland-Pfalz vom 23.02.2021 - 3 K 1311/19 aufgehoben.Die Sache wird an das Finanzgericht Rheinland-Pfalz zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens übertragen. Tatbestand I.Streitig ist der Vorsteuerabzug aus Eingangsumsätzen einer Ortsgemeinde im Zusammenhang mit dem Betrieb von Besucherparkplätzen im räumlichen Zusammenhang mit einer ebenfalls neu errichteten Hängeseilbrücke als Touristenattraktion (Brücke).Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist als Ortsgemeinde eine Körperschaft des öffentlichen Rechts. In ihren Umsatzsteuererklärungen der Jahre 2013 bis 2016 (Streitjahre) erklärte sie zunächst nur Umsätze land- und forstwirtschaftlicher Betriebe nach § 24 des Umsatzsteuergesetzes (UStG).Im April 2010 fasste der Gemeinderat der Ortsgemeinde einen Grundsatzbeschluss zum Bau einer Brücke als Touristenattraktion. Die Klägerin gab eine Machbarkeitsstudie in Auftrag. Mit der Brücke sollte der Tourismus in der Ortsgemeinde und deren Umgebung gefördert werden. Mit Antrag vom 20.09.2013 ersuchte die Klägerin um Fördermittel aus dem europäischen Landwirtschaftsfonds (ELER) zur Förderung des ländlichen Raumes (Antrag auf Förderung von Maßnahmen im Programm LEADER). Am 22.12.2014 stellte sie einen Bauantrag.In der Gemeinderatssitzung vom xx.xx.2015 informierte der Ortsbürgermeister die Gemeinderatsmitglieder, dass mittlerweile eine Bewilligung des ersten LEADER-Antrages zur "Machbarkeitsstudie und Sicherungsmaßnahmen Besucherzentrum" sowie "Herstellen eines Busparkplatzes" vorliege. Der Gemeinderat fasste den Beschluss, einen Besucherparkplatz zu bauen. Nach der Beschlussvorlage der Verbandsgemeindeverwaltung sollte der Parkplatz dem geplanten Besucherzentrum, welches auf dem gleichen Grundstück errichtet werden sollte, dienen. Den Parkplatz könnten die Besucher der geplanten Brücke nutzen. Nicht zuletzt solle "wildes Parken" innerhalb der Ortslage vermieden werden, um die Beeinträchtigung der Einwohnerinnen und Einwohner möglichst gering zu halten.Im Mai 2015 wurde mit dem Bau der Brücke begonnen und diese innerhalb eines halben Jahres fertiggestellt. In einem Schreiben vom xx.xx.2015 an die Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion sah der Rechnungshof die "Gesamtfinanzierung" der Brücke als nicht "gesichert" an. Die Touristenattraktion stelle keine notwendige und wichtige Verbindung zwischen touristischen Zielen dar.Am xx.xx.2015 gab der Ortsbürgermeister in der Gemeinderatssitzung einen Rückblick auf das Eröffnungswochenende. Danach habe "insbesondere der große Ansturm der Autofahrer am letzten Wochenende" der Klägerin "die Schwachstellen gezeigt". "Obwohl" die Klägerin "über fast 450 Parkplätze" verfüge, sei sie "überrannt" worden. "Gleichzeitig" sei der "Busparkplatz deutlich stärker genutzt" worden, "dort allerdings" könne die Klägerin "keine Gebühr erheben". Wenn die Klägerin "die Besucher und diejenigen, die im Ort falsch geparkt haben, abgefangen und auf einen gebührenpflichtigen Platz geleitet hätte, wäre die Einnahme sicherlich deutlich höher ausgefallen". Man habe "übrigens dennoch" bis zum Vorabend "6.000 € an Parkgebühren eingenommen".In der Gemeinderatssitzung am xx.xx.2016 beschloss der Gemeinderat, "wegen hohen Bedarfs den LEADER-geförderten Busparkplatz künftig als gebührenpflichtigen Parkplatz zu nutzen und falls erforderlich, die gewährten Fördermittel zurückzuerstatten". In der Gemeinderatssitzung am xx.xx.2016 beschloss der Gemeinderat eine Gebührenordnung über Parkgebühren. Die "Gebührenordnung vom xx.xx.2016 über die Festsetzung von Parkgebühren für die Ortsgemeinde ..." wurde am xx.xx.2016 im Amtsblatt der Verbandsgemeinde veröffentlicht und trat am 01.06.2016 in Kraft.In der Gemeinderatssitzung vom xx.xx.2017 beschloss der Gemeinderat die Beauftragung des Prozessbevollmächtigten, da "durch die vielfältigen Aktivitäten der Gemeinde (...) eine Umsatzbesteuerung der Einnahmen und Ausgaben abzusehen" sei. Dies betreffe "vor allem die Einnahmen der Parkplätze, die sich ohne Gegenrechnung der in den Investitionen [enthaltenen] Umsatzsteuer um 19 % reduzieren würden". Für diese "Gegenrechnung" sei "ein Aufarbeiten aller Ausgaben und Einnahmen der letzten drei Jahre, die in Bezug [zu der Brücke]" stünden, "erforderlich, damit eine Umsatzsteuererklärung erstellt werden" könne.Am 22.08.2017 reichte die Klägerin berichtigte Umsatzsteuererklärungen für die Jahre 2013 bis 2015 und die Umsatzsteuererklärung 2016 beim Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt --FA--) ein und machte den Vorsteuerabzug aus den Eingangsumsätzen im Zusammenhang mit dem Bau der Brücke, insbesondere aus den Bau- und Planungskosten der Brücke selbst, sowie teilweise aus den Baukosten für ein Besucherzentrum und Kosten für die Erstellung und den Betrieb einer Internetseite geltend. Umsätze mit Parkgebühren erklärte die Klägerin erstmalig im Streitjahr 2015. Die Umsatzsteuererklärung 2015 korrigierte die Klägerin mit berichtigter Umsatzsteuererklärung vom 09.10.2017.Daraufhin fand im Januar 2018 eine Umsatzsteuersonderprüfung bei der Klägerin statt. Der Prüfer war der Auffassung, dass der Vorsteuerabzug aus sämtlichen Eingangsleistungen im Zusammenhang mit der Brücke nicht abziehbar sei, da sie ohne Einnahmeerzielungsabsicht betrieben werde und bei der Ortsgemeinde folglich eine nichtwirtschaftliche Tätigkeit im eigentlichen Sinne darstelle, die zu einem Vorsteuerabzugsverbot führe. Da die Errichtung des Besucherzentrums und aller Parkplatzanlagen nur infrastrukturelle Folge der Errichtung der Brücke sei und diese der Allgemeinheit ausdrücklich frei und kostenlos zur Verfügung gestellt werde, sei ein direkter und unmittelbarer Zusammenhang zwischen den erzielten steuerpflichtigen Vermietungsumsätzen und den in Anspruch genommenen Eingangsleistungen zur Errichtung der Brücke nicht gegeben. Die Vorsteuern aus den Aufwendungen für die Errichtung des Besucherzentrums ließ der Prüfer im Wege der Schätzung nur zu 90 % zum Vorsteuerabzug zu, da ein größerer Raum im Eingangsbereich nicht für gewerbliche Zwecke vermietet werde, sondern ganztägig allen Besuchern als wettergeschützte Unterstellmöglichkeit zur Verfügung stehe. In gleicher Weise ließ der Prüfer die Vorsteuern aus den Aufwendungen für die Beschilderung der Wanderwege, die Einweihung der Brücke, für den Internetauftritt sowie die Öffentlichkeitsarbeit nur zur Hälfte zum Abzug zu, da die Klägerin diese sowohl im Hinblick auf die nichtwirtschaftliche Tätigkeit --die kostenlose Bereitstellung der Brücke-- als auch auf die steuerpflichtigen Vermietungen getätigt habe.Das FA folgte der Auffassung des Prüfers und setzte die Umsatzsteuer für die Streitjahre mit Bescheiden vom 27.07.2018 entsprechend fest.Hiergegen legte die Klägerin Einspruch ein. Das FA wies mit Einspruchsentscheidung vom 11.03.2019, die als "Teil-Einspruchsentscheidung" bezeichnet wurde, die Einsprüche hinsichtlich des geltend gemachten Vorsteuerabzugs zurück, da die Aufwendungen für den Bau der Brücke in keinem direkten und unmittelbaren Zusammenhang zu den Ausgangsumsätzen der wirtschaftlichen Tätigkeit der Vermietung von Parkplätzen und des Besucherzentrums stünden. Die Klägerin habe weder zum Zeitpunkt des Bezugs der Leistungen für den Bau der Brücke noch später beabsichtigt, mit der Brücke steuerbare Umsätze zu erzielen. Die Klägerin habe nicht den Nachweis führen können, dass sie zum Zeitpunkt der ersten Investitionen die Absicht gehabt habe, durch diese Investitionen zukünftig wirtschaftlich tätig zu werden bzw. dass derartige Kosten direkt und unmittelbar mit der wirtschaftlichen Gesamttätigkeit zusammenhingen.Das Finanzgericht (FG) Rheinland-Pfalz gab der Klage statt (Urteil vom 23.02.2021 - 3 K 1311/19, abgedruckt in Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 2021, 1155). Die Klägerin sei mit der Erhebung von Parkgebühren unternehmerisch --und nicht hoheitlich-- tätig geworden und somit Unternehmerin i.S. des § 2 Abs. 1 UStG bzw. Steuerpflichtige i.S. des Art. 168 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwStSystRL). Auch habe die Klägerin die Leistungen zur Errichtung der Brücke für ihr Unternehmen der Parkraumbewirtschaftung bezogen. Dies ergebe sich insbesondere aus der Willensbildung des Gemeinderates und der Machbarkeitsstudie. Der direkte und unmittelbare Zusammenhang zwischen den Aufwendungen zur Errichtung der Brücke und den Einnahmen aus der Parkraumbewirtschaftung ergebe sich jedenfalls auch daraus, dass die Brücke der Anlass sei, die Ausgangsleistungen überhaupt in Anspruch zu nehmen.Mit seiner Revision rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts. Es trägt vor, dass die Zuordnung der Brücke zum unternehmerischen Bereich nicht möglich sei. Sie sei dem Allgemeingebrauch gewidmet.Dazu ergebe sich aus dem Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 18.01.2021 (BStBl I 2021, 121), dass für dem Allgemeingebrauch zugewiesene Kureinrichtungen kein Vorsteuerabzug möglich sei. Sollte eine Zuordnung zum Unternehmen allerdings möglich sein, komme nur ein anteiliger Vorsteuerabzug in Betracht.Auch seien die Leistungen zur Errichtung der Brücke nicht für das Unternehmen der Klägerin bezogen worden.Die Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Union --EuGH-- Sveda vom 22.10.2015 - C-126/14 (EU:C:2015:712) und Mitteldeutsche Hartstein-Industrie vom 16.09.2020 - C-528/19 (EU:C:2020:712) könnten nicht auf den Streitfall übertragen werden, da sie eine juristische Person des privaten Rechts und nicht des öffentlichen Rechts --wie im Streitfall-- betroffen hätten. Der Sachverhalt in der Rechtssache "Sveda" sei auch insoweit nicht vergleichbar, als die Steuerpflichtige dort (bereits) steuerbare Leistungen im Bereich des Tourismus erbracht habe. Der Freizeitweg sei insofern als ein Mittel angesehen worden, Besucher anzuziehen, um ihnen u.a. den Verkauf von Souvenirs, Verpflegung und Getränken anzubieten. Würde man diese Sichtweise auf den Streitfall übertragen, würde das bedeuten, dass eine Brücke gebaut worden wäre, damit Gäste zum Parken kämen. Dieser Veranlassungszusammenhang sei nicht nachvollziehbar.Das FA beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen.Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.Sie trägt vor, dass zweifelhaft sei, dass die Brücke eine öffentliche Einrichtung sei. Selbst wenn es sich um eine solche handeln würde, komme ein umsatzsteuerrechtlicher unternehmerischer Verwendungszusammenhang in Betracht, wie sich auch aus der Entscheidung des EuGH zur Rechtssache "Sveda" (EU:C:2015:712) ergebe. Es fehle überdies an einer untergeordneten Bedeutung der Brücke für den Betrieb gewerblicher Art; denn sie sei von entscheidender Bedeutung für die Parkplatznutzung.Im Gegensatz zu Kurbeiträgen im Zusammenhang mit Kureinrichtungen finde die Parkplatznutzung auch ausschließlich wegen des Besuchs der Brücke statt. Die Webcam-Zählung am Brückenkopf habe ergeben, dass die Brücke nahezu ausschließlich von Personen besucht würde, die ihren PKW auf einem der kostenpflichtigen Parkplätze abgestellt hätten.Wie das FG entschieden habe, würden die Parkplatzeinnahmen ohne die Brücke nicht erzielt werden. Die Umsatzsteuer aus den Parkplatzgebühren würde, wenn die Besucherzahlen weiterhin auf einem ähnlichen Niveau gehalten werden könnten, nach ca. 10 Jahren die in Abzug gebrachten Vorsteuern übersteigen. Die technische Lebensdauer der Brücke übersteige diesen Zeitraum deutlich.Es sei --wie das FG entschieden habe-- von Beginn an ab der Machbarkeitsstudie ein umfassendes Konzept erstellt worden, welches Brückenbau und Parkraumbewirtschaftung miteinander wirtschaftlich kombiniert habe. Brücke und Parkplätze seien daher auch zeitgleich errichtet worden.Die Gleichbehandlung von juristischen Personen des Privatrechts und des Öffentlichen Rechts ergebe sich aus Art. 13 Abs. 1 MwStSystRL, der besage, dass Gemeinden als Steuerpflichtige gelten, sofern eine Behandlung als Nichtsteuerpflichtige zu größeren Wettbewerbsverzerrungen führen würde. Gründe II.Die Revision ist --wenn auch aus anderen Gründen, als vom FA geltend gemacht-- begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).Das FG hat in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise entschieden, dass die geltend gemachten Vorsteuern aus den Eingangsrechnungen dem Grunde nach anzuerkennen sind. Denn die streitigen Eingangsleistungen stehen in einem direkten und unmittelbaren Zusammenhang mit einer entgeltlichen Leistung (unter 1.) und die Klägerin ist durch die Erhebung der Parkgebühren unternehmerisch tätig geworden (unter 2.). Jedoch sind die Vorsteuern der Höhe nach nicht im vollen Umfang abzugsfähig, weil die Klägerin zumindest bis zur Umwidmung des Busparkplatzes auch nicht wirtschaftlich tätig war. Insoweit bedarf es weiterer Feststellungen des FG (unter 3.).1. Die tatsächliche Würdigung des FG, dass die streitigen Eingangsleistungen im Zusammenhang mit einer entgeltlichen Leistung stehen, hält einer revisionsrechtlichen Überprüfung stand.a) Nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG kann der Unternehmer die gesetzlich geschuldete Steuer für Leistungen, die von einem anderen Unternehmer für sein Unternehmen ausgeführt worden sind, als Vorsteuer abziehen. Ausgeschlossen ist der Vorsteuerabzug nach § 15 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 UStG für Leistungen, die der Unternehmer für steuerfreie Umsätze verwendet.aa) Diese Vorschriften beruhen unionsrechtlich auf Art. 168 Buchst. a MwStSystRL. Danach ist der Steuerpflichtige, der "Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet", zum Vorsteuerabzug berechtigt. Hierfür muss ein direkter und unmittelbarer Zusammenhang zwischen Eingangs- und Ausgangsleistung bestehen. Ein Recht auf Vorsteuerabzug wird zugunsten des Steuerpflichtigen allerdings auch bei Fehlen eines direkten und unmittelbaren Zusammenhangs zwischen einem bestimmten Eingangsumsatz und einem oder mehreren zum Abzug berechtigenden Ausgangsumsätzen dann angenommen, wenn die Kosten für die fraglichen Dienstleistungen zu den allgemeinen Aufwendungen des Steuerpflichtigen gehören und als solche Kostenelemente der von ihm gelieferten Gegenstände oder erbrachten Dienstleistungen sind. Derartige Kosten hängen nämlich direkt und unmittelbar mit der gesamten wirtschaftlichen Tätigkeit des Steuerpflichtigen zusammen (vgl. z.B. EuGH-Urteile Portugal Telecom vom 06.09.2012 - C-496/11, EU:C:2012:557, Rz 37; Iberdrola Inmobiliaria Real Estate Investments vom 14.09.2017 - C-132/16, EU:C:2017:683, Rz 29; Vos Aannemingen vom 01.10.2020 - C-405/19, EU:C:2020:785, Rz 26; Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 16.12.2020 - XI R 13/19, BFHE 272, 185, Rz 60).Bei richtlinienkonformer Auslegung setzt § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG somit voraus, dass der Unternehmer Leistungen für sein Unternehmen (§ 2 Abs. 1 UStG, Art. 9 MwStSystRL) und damit für seine wirtschaftlichen Tätigkeiten zur Erbringung entgeltlicher Leistungen (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG, Art. 2 Abs. 1 Buchst. a und c MwStSystRL) zu verwenden beabsichtigt (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Urteile vom 09.02.2012 - V R 40/10, BFHE 236, 258, BStBl II 2012, 844, Rz 19 ff., m.w.N. zur EuGH-Rechtsprechung; vom 15.04.2015 - V R 44/14, BFHE 250, 263, BStBl II 2015, 679, Rz 10; vom 21.10.2015 - XI R 28/14, BFHE 252, 460, BStBl II 2016, 550, Rz 28; vom 02.12.2015 - V R 15/15, BFHE 252, 472, BStBl II 2016, 486, Rz 14; vom 18.09.2019 - XI R 19/17, BFHE 267, 98, BStBl II 2020, 172, Rz 15).bb) Für das Erfordernis einer entgeltlichen Leistung muss zwischen dem Leistenden und dem Leistungsempfänger ein Rechtsverhältnis bestehen, in dessen Rahmen gegenseitige Leistungen ausgetauscht werden, wobei die vom Leistenden empfangene Vergütung den tatsächlichen Gegenwert für die dem Leistungsempfänger erbrachte bestimmbare Dienstleistung bildet (vgl. z.B. EuGH-Urteile Société thermale d'Eugénie-les-Bains vom 18.07.2007 - C-277/05, EU:C:2007:440, Rz 19; Air France-KLM und Hop!-Brit Air vom 23.12.2015 - C-250/14 und C-289/14, EU:C:2015:841, Rz 22; Cesky rozhlas vom 22.06.2016 - C-11/15, EU:C:2016:470, Rz 21; SAWP vom 18.01.2017 - C-37/16, EU:C:2017:22, Rz 25; Meo - Serviços de Comunicações e Multimédia vom 22.11.2018 - C-295/17, EU:C:2018:942, Rz 39; BFH-Urteile vom 21.12.2016 - XI R 27/14, BFHE 257, 154, BStBl II 2021, 779, Rz 16; vom 13.02.2019 - XI R 1/17, BFHE 263, 560, BStBl II 2021, 785, Rz 16; vom 22.05.2019 - XI R 20/17, BFH/NV 2019, 1256, Rz 15).cc) Ob die Voraussetzungen für einen Leistungsaustausch vorliegen, ist dabei nicht nach zivilrechtlichen, sondern ausschließlich nach den vom Unionsrecht geprägten umsatzsteuerrechtlichen Maßstäben zu beurteilen (vgl. BFH-Urteile vom 17.12.2009 - V R 1/09, BFH/NV 2010, 1869, Rz 17; vom 16.01.2014 - V R 22/13, BFH/NV 2014, 736, Rz 22; Urteil des Bundesgerichtshofs vom 18.05.2011 - VIII ZR 260/10, Umsatzsteuer-Rundschau --UR-- 2011, 813, Rz 11; jeweils m.w.N.; BFH-Urteil in BFH/NV 2019, 1256, Rz 18). Es stellt eine unionsrechtliche --unabhängig von der Beurteilung nach nationalem Recht zu entscheidende-- Frage dar, ob die Zahlung eines Entgelts als Gegenleistung für die Erbringung von Dienstleistungen erfolgt (vgl. EuGH-Urteil Meo - Serviços de Comunicações e Multimédia, EU:C:2018:942, Rz 68; BFH-Urteile in BFHE 257, 154, Rz 29, jeweils m.w.N.; in BFHE 263, 560, Rz 18; in BFH/NV 2019, 1256, Rz 18).b) Die Leistungen im Streitfall (Bereitstellung der Brücke und Teile des Besucherzentrums --Unterstellmöglichkeit für die Besucher--, Beschilderung der Wanderwege, Einweihung der Brücke, Internetauftritt und Öffentlichkeitsarbeit) sind zwar im Streitfall nach diesen Grundsätzen nicht an eine Gegenleistung gebunden, so dass die Parkgebühren danach kein Entgelt für diese Bereitstellung darstellen. Die Einrichtungen stehen unstreitig der Allgemeinheit kostenlos zur Verfügung und die Parkgebühren werden nicht zur Benutzung der Brücke und der Unterstellmöglichkeit sowie zur Nutzung der Wanderwege erhoben. Der Parkplatzbenutzer hat insoweit keinen Vorteil erhalten, den nicht jeder andere Besucher, der nicht dort parkt, auch erhält.c) Allerdings besteht ein Zusammenhang der streitigen Eingangsleistungen mit einer entgeltlichen Leistung wie im Sachverhalt zu der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache "Sveda" (vgl. EuGH-Urteil Sveda, EU:C:2015:712), was das FG in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise (§ 118 Abs. 2 FGO) festgestellt hat.aa) Die Würdigung des FG, ob ein unmittelbarer Zusammenhang im Sinne eines Leistungsaustauschs besteht, liegt auf tatsächlichem Gebiet (vgl. BFH-Urteil vom 22.02.2017 - XI R 17/15, BFHE 257, 169, BStBl II 2017, 812, Rz 28; BFH-Beschluss vom 18.12.2019 - XI R 31/17, BFH/NV 2020, 565, Rz 16) und bindet --wie die Auslegung von Verträgen-- das Revisionsgericht gemäß § 118 Abs. 2 FGO. Das Revisionsgericht prüft, ob das FG die gesetzlichen Auslegungsregeln sowie die Denkgesetze und Erfahrungssätze beachtet hat, d.h. die Auslegung jedenfalls möglich ist; ferner prüft das Revisionsgericht, ob die Vorinstanz die für die Auslegung bedeutsamen Begleitumstände erforscht und rechtlich zutreffend gewürdigt hat (vgl. BFH-Urteile in BFHE 255, 300, BStBl II 2017, 590, Rz 38; vom 14.11.2018 - XI R 16/17, BFHE 263, 71, BStBl II 2021, 461, Rz 25; vom 14.02.2019 - V R 22/17, BFHE 264, 83, BStBl II 2019, 350, Rz 27, jeweils m.w.N.; BFH-Beschlüsse vom 21.03.2018 - XI B 113/17, BFH/NV 2018, 739, Rz 17; in BFH/NV 2020, 565, Rz 16).bb) Das FG ist von den vorstehend dargelegten Rechtsgrundsätzen zum Vorliegen eines Leistungsaustauschs ausgegangen und hat den Streitfall dahingehend gewürdigt, dass die Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug nach der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache "Sveda" (EU:C:2015:712) vorliegen.Das FG hat dabei insbesondere darauf hingewiesen, dass bereits in der Willensbildung des Gemeinderates seit 2011 und vor dem Baubeginn der Brücke sichtbar geworden sei, dass die Erzielung von Einnahmen durch Parkgebühren bei der Finanzierung der Brücke eine Rolle gespielt habe. Die Aufwendungen insbesondere für die Brücke würden daher in einem direkten und unmittelbaren Zusammenhang mit den Umsätzen der Klägerin aus den Parkgebühren stehen. Des Weiteren bestehe auch deshalb ein direkter und unmittelbarer Zusammenhang zwischen den Aufwendungen zur Errichtung der Brücke und den Einnahmen aus der Parkraumbewirtschaftung, weil die Brücke Anlass sei, die Ausgangsleistungen überhaupt in Anspruch zu nehmen. Ohne den Besuch der Brücke bestünde in der örtlich eher abgelegenen Gemeinde keinerlei Anlass, gebührenpflichtige Parkplätze zu nutzen, und ohne die Brücke sei es nicht möglich gewesen, mit den Parkplätzen nennenswerte Gebühren zu erzielen. Diese Würdigung ist aufgrund der vom FG festgestellten Tatsachen möglich, sie ist weder durch Denkfehler noch durch die Verletzung von Erfahrungssätzen beeinflusst und bindet somit den Senat (§ 118 Abs. 2 FGO).cc) Soweit das FA demgegenüber der Ansicht ist, dass die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache "Sveda" (EU:C:2015:712) wegen fehlender Zweckgerichtetheit der Eingangsleistungen auf die Ausgangsleistungen nicht auf den Streitfall übertragbar sei, wird nicht ausreichend gewichtet, dass es sich bei der Investition nach der EuGH-Rechtsprechung nicht um eine auf den Ausgangsumsatz zweckgerichtete Investition handeln muss. Entscheidend ist allein, dass ein direkter und unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Investition und dem Ausgangsumsatz unabhängig vom verfolgten Zweck der wirtschaftlichen Tätigkeit und ihres Erfolges auf der Eingangsstufe besteht (vgl. EuGH-Urteile The Chancellor, Masters and Scholars of the University of Cambridge vom 03.07.2019 - C-316/18, EU:C:2019:559, Rz 22, m.w.N.; Vos Aannemingen, EU:C:2020:785, Rz 24).2. Das FG hat auch ohne Rechtsfehler dahin erkannt, dass die Klägerin als Unternehmerin i.S. des § 2 Abs. 1 UStG, Art. 9 Abs. 1 MwStSystRL die Parkgebühren erhoben hat.a) Im Rahmen einer unionskonformen Auslegung des § 2 Abs. 3 Satz 1 UStG (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 01.12.2011 - V R 1/11, BFHE 236, 235, BStBl II 2017, 834, Rz 14; vom 14.03.2012 - XI R 8/10, BFH/NV 2012, 1667, Rz 27; vom 03.08.2017 - V R 62/16, BFHE 259, 380, BStBl II 2021, 109, Rz 23) ist eine juristische Person des öffentlichen Rechts Unternehmer, wenn sie eine wirtschaftliche und damit eine nachhaltige Tätigkeit zur Erbringung entgeltlicher Leistungen (wirtschaftliche Tätigkeit) ausübt. Handelt sie dabei auf privatrechtlicher Grundlage durch Vertrag, kommt es auf weitere Voraussetzungen nicht an. Erfolgt ihre Tätigkeit dagegen auf öffentlich-rechtlicher Grundlage, ist sie nur Unternehmer, wenn eine Behandlung als Nichtunternehmer zu größeren Wettbewerbsverzerrungen führen würde (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 15.04.2010 - V R 10/09, BFHE 229, 416, BStBl II 2017, 863, Rz 14 bis 48, m.w.N. zur EuGH-Rechtsprechung; vom 03.03.2011 - V R 23/10, BFHE 233, 274, BStBl II 2012, 74, Rz 21; in BFHE 236, 235, BStBl II 2017, 834, Rz 15; in BFH/NV 2012, 1667, Rz 28; vom 13.02.2014 - V R 5/13, BFHE 245, 92, BStBl II 2017, 846, Rz 15; in BFHE 259, 380, BStBl II 2021, 109, Rz 23; s.a. § 2b Abs. 1 UStG - anwendbar auf Umsätze, die nach dem 31.12.2016 ausgeführt wurden).Entscheidend ist insofern, ob die juristische Person (Einrichtung) des öffentlichen Rechts im Rahmen einer öffentlich-rechtlichen Sonderregelung oder unter den gleichen rechtlichen Bedingungen wie private Wirtschaftsteilnehmer tätig war (vgl. EuGH-Urteile Fazenda Pública vom 14.12.2000 - C-446/98, EU:C:2000:691, Rz 17, m.w.N.; Saudacor vom 29.10.2015 - C-174/14, EU:C:2015:733, Rz 33, 69; BFH-Urteile vom 22.09.2005 - V R 28/03, BFHE 211, 566, BStBl II 2006, 280, unter II.2.; in BFHE 229, 416, BStBl II 2017, 863, Rz 36; vom 10.02.2016 - XI R 26/13, BFHE 252, 538, BStBl II 2017, 857, Rz 33 ff.).b) Die Klägerin hat ab 01.06.2016 auf öffentlich-rechtlicher Grundlage gehandelt (Gebührenordnung vom xx.xx.2016 über die Festsetzung von Parkgebühren für die Ortsgemeinde ..., Amtsblatt der Verbandsgemeinde vom xx.xx.2016; sie trat am 01.06.2016 in Kraft). Im Zeitraum vor dem 01.06.2016 erfolgte die Erhebung der Parkgebühren noch auf privatrechtlicher Ebene, so dass insoweit ohne weitere Voraussetzungen für diesen Zeitraum die Unternehmereigenschaft der Klägerin vorlag.c) Das FG hat auf der Grundlage der von ihm getroffenen tatsächlichen Feststellungen in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise ebenfalls entschieden, dass die Qualifizierung der Klägerin als Nichtunternehmerin (Zeitraum ab 01.06.2016) zu größeren Wettbewerbsverzerrungen führen würde.aa) Nach dem EuGH-Urteil Isle of Wight Council u.a. vom 16.09.2008 - C-288/07 (EU:C:2008:505, Leitsatz 3, Rz 76) ist der Begriff "größere" Wettbewerbsverzerrungen i.S. des Art. 4 Abs. 5 Unterabs. 2 und 3 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17.05.1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern dahin zu verstehen, dass die Wettbewerbsverzerrungen "mehr als unbedeutend" sein müssen (vgl. auch BFH-Urteil in BFHE 236, 235, BStBl II 2017, 834, Rz 19). Darüber hinaus ist insoweit nicht nur der gegenwärtige, sondern auch der potenzielle Wettbewerb zu berücksichtigen. Im Übrigen kommt es nicht auf die Verhältnisse im jeweiligen "lokalen Markt" an. Denn die Frage der Wettbewerbsverzerrungen ist "in Bezug auf die fragliche Tätigkeit als solche zu beurteilen (...), ohne dass sich diese Beurteilung auf einen lokalen Markt im Besonderen bezieht" (EuGH-Urteile Isle of Wight Council u.a., EU:C:2008:505, Rz 53; Saudacor, EU:C:2015:733, Rz 74; BFH-Urteil in BFHE 236, 235, BStBl II 2017, 834, Rz 19), so dass die Art der Tätigkeit maßgeblich ist. Jedoch kann die rein theoretische, durch keine Tatsache, kein objektives Indiz und keine Marktanalyse untermauerte Möglichkeit für einen privaten Wirtschaftsteilnehmer, in den relevanten Markt einzutreten, nicht mit dem Vorliegen eines potenziellen Wettbewerbs gleichgesetzt werden. Eine solche Gleichsetzung setzt vielmehr voraus, dass sie real und nicht rein hypothetisch ist (vgl. EuGH-Urteile Isle of Wight Council u.a., EU:C:2008:505, Leitsatz 2; Saudacor, EU:C:2015:733, Rz 33, 74; National Roads Authority vom 19.01.2017 - C-344/15, EU:C:2017:28, Rz 44; BFH-Urteil in BFHE 236, 235, BStBl II 2017, 834, Rz 19).bb) Dabei ist höchstrichterlich bereits entschieden, dass größere Wettbewerbsverzerrungen durch den Betrieb von selbständigen Parkplatzflächen durch die öffentlich-rechtliche Körperschaft entstehen. Das FG weist insoweit zu Recht darauf hin, dass es für die maßgebliche Art der Tätigkeit (Parkraumüberlassung) ohne Belang ist, ob die Zufahrt zu den dort überlassenen Einzelparkplätzen ebenso wie diese selbst öffentlich-rechtlich als Straße gewidmet ist (vgl. BFH-Urteil in BFHE 236, 235, BStBl II 2017, 834, Rz 22 f.). Die Wettbewerbssituation der Klägerin zeigt sich auch darin --und darauf bezieht sich die Vorinstanz zu Recht--, dass im gesamten Ortsgebiet flankierende Maßnahmen zur Erzielung und Sicherung ihrer Parkgebühren ergriffen wurden und Parken innerhalb des Ortsgebiets für Besucher der Brücke nur auf den gebührenpflichtigen Parkflächen möglich ist. Auch diese Würdigung des FG verstößt nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze. Diese Auslegung ist möglich.3. Die Sache ist nicht spruchreif. Das FG hat nicht beachtet, dass der Busparkplatz bis zum 01.06.2016 ohne Entgelt (und damit "nichtwirtschaftlich") genutzt wurde. In Bezug auf die Vorsteuern bzgl. des Busparkplatzes selbst kommt daher ein Vorsteuerabzug vollumfänglich nicht in Betracht. Des Weiteren ist der Vorsteuerabzug der Jahre 2013 bis 2015 bzgl. der anderen Investitionen anteilig zu kürzen (vgl. allgemein EuGH-Urteil Balgarska natsionalna televizia vom 16.09.2021 - C-21/20, EU:C:2021:743, Rz 53, m.w.N.).a) Das FG hat (für den erkennenden Senat auch insoweit gemäß § 118 Abs. 2 FGO bindend) festgestellt, dass die Klägerin ab einem nicht genau festgestellten Zeitpunkt plante, einen Busparkplatz zu errichten, um ihn unentgeltlich (und damit nichtwirtschaftlich) für das Abstellen von Touristen-Bussen bereitzustellen. Diese Absicht wurde auch tatsächlich so umgesetzt; der Busparkplatz wurde in den Jahren 2015 und 2016 zunächst unentgeltlich, und damit nichtwirtschaftlich von der Klägerin verwendet.b) Für diese nichtwirtschaftliche Tätigkeit (unentgeltliche Busparkplatz-Überlassung für Brückenbesucher) ist die Klägerin in allen Streitjahren nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt (vgl. dazu allgemein EuGH-Urteil Balgarska natsionalna televizia, EU:C:2021:743, Rz 51; BFH-Urteile in BFHE 233, 274, BStBl II 2012, 74, Rz 16; in BFHE 252, 460, BStBl II 2016, 550, Rz 29).c) Daher wurde in allen Streitjahren von der Klägerin sowohl eine zum Vorsteuerabzug berechtigende, wirtschaftliche Tätigkeit (entgeltliche PKW-Parkplatz-Überlassung für Brückenbesucher) als auch eine den Vorsteuerabzug ausschließende, nichtwirtschaftliche Tätigkeit (unentgeltliche Busparkplatz-Überlassung für Brückenbesucher) beabsichtigt bzw. ausgeübt. Aus diesem Grund ist bei Leistungsbezug jeweils eine Vorsteueraufteilung vorzunehmen (vgl. BFH-Urteile vom 06.04.2016 - V R 6/14, BFHE 253, 456, BStBl II 2017, 577, Rz 38; in BFHE 252, 460, BStBl II 2016, 550, Rz 29). Gegenstand dieser Vorsteueraufteilung sind nach den bisherigen tatsächlichen Feststellungen des FG z.B. auch die Vorsteuern für die Brücke, das Besucherzentrum und den Internet-Auftritt der Klägerin; denn diese sollten nach den bisherigen tatsächlichen Feststellungen des FG Touristen (unabhängig von ihrer Anreise per PKW oder Bus) anziehen (bzw. von diesen tatsächlich genutzt werden).d) Die Wahl der Methode der Vorsteueraufteilung steht unionsrechtlich im Ermessen der Mitgliedstaaten (vgl. EuGH-Urteil Balgarska natsionalna televizia, EU:C:2021:743, Rz 55, m.w.N.). Die Mitgliedstaaten dürfen ggf. einen Investitionsschlüssel, einen Umsatzschlüssel oder jeden anderen geeigneten Schlüssel verwenden und sind nicht verpflichtet, sich auf eine einzige dieser Methoden zu beschränken (vgl. EuGH-Urteil Larentia+Minerva und Marenave Schiffahrt vom 16.07.2015 - C-108/14 und C-109/14, EU:C:2015:496, Rz 30 ff.). Eine derartige Regelung hat der deutsche Gesetzgeber indes nicht erlassen (vgl. BFH-Beschluss vom 11.12.2013 - XI R 38/12, BFHE 244, 94, BStBl II 2014, 428, Rz 41), so dass nach der Rechtsprechung des BFH zur Ausfüllung der bestehenden Regelungslücke § 15 Abs. 4 UStG analog anzuwenden ist (vgl. BFH-Urteile in BFHE 233, 274, BStBl II 2012, 74, Rz 31; vom 19.07.2011 - XI R 29/10, BFHE 234, 564, BStBl II 2012, 438, Rz 38).e) Da die Klägerin bislang davon ausgegangen ist, dass die geltend gemachten Vorsteuerbeträge in voller Höhe abziehbar seien, indes allenfalls ein anteiliger Vorsteuerabzug in Betracht kommt, hat sie analog § 15 Abs. 4 Satz 2 UStG im zweiten Rechtsgang für jedes Streitjahr auf Basis ihrer zum jeweils maßgeblichen Zeitpunkt vorhandenen Absicht bzw. tatsächlichen Verwendung eine sachgerechte Schätzung des abziehbaren Teils der Vorsteuerbeträge vorzunehmen. Dem FG obliegt sodann die Überprüfung der Schätzung der Klägerin auf ihre Sachgerechtigkeit (vgl. BFH-Urteile in BFHE 259, 380, BStBl II 2021, 109, Rz 28; vom 23.10.2019 - XI R 18/17, BFHE 267, 146, Rz 22).f) Sollte die Klägerin im Rahmen ihrer Schätzung (oder das FG im Rahmen seiner Überprüfung) zu der Auffassung gelangen, dass aus ihrer jeweiligen Sicht ein Umsatzschlüssel sachgerecht sei, weist der Senat darauf hin, dass bei einer Vorsteueraufteilung analog § 15 Abs. 4 UStG auf Basis eines Umsatzschlüssels zu dem im Rahmen der Schätzung maßgeblichen "Gesamtumsatz" auch Zuschüsse gehören können, soweit sie den Umfang der nicht steuerbaren (nichtwirtschaftlichen) Tätigkeit des Unternehmers widerspiegeln (vgl. EuGH-Urteil Balgarska natsionalna televizia, EU:C:2021:743; BFH-Urteile vom 24.09.2014 - V R 54/13, BFH/NV 2015, 364, Rz 35 ff.; vom 16.09.2015 - XI R 27/13, BFH/NV 2016, 252, Rz 38). Die Klägerin bzw. das FG werden, sofern sie diesen Schlüssel für sachgerecht erachten sollten, daher ggf. die Höhe der von der Klägerin erhaltenen Zuschüsse für das Gesamtprojekt ermitteln müssen. Soweit Zuschüsse in den Streitjahren zurückgezahlt wurden, könnte auch dies ggf. zu berücksichtigen sein.4. Allerdings wird das FG auch zu prüfen haben, inwieweit bereits im Streitjahr 2016 eine Vorsteuerberichtigung gemäß § 15a UStG zugunsten der Klägerin vorzunehmen ist.a) Da die Klägerin den Busparkplatz vollständig und die übrigen Eingangsleistungen anteilig für eine nichtwirtschaftliche Tätigkeit genutzt (bzw. dies zuvor schon so beabsichtigt) hat, konnte sie diese nach der bisherigen Rechtsprechung des BFH bei Leistungsbezug nicht ihrem Unternehmensvermögen zuordnen (vgl. BFH-Urteil in BFHE 259, 380, BStBl II 2021, 109, Rz 18 f., m.w.N.; zu sonstigen Leistungen s.a. BFH-Urteil vom 14.10.2015 - V R 10/14, BFHE 251, 461, BStBl II 2016, 717, Rz 17, m.w.N.).b) Allerdings ergibt sich aus den tatsächlichen Feststellungen des FG, dass im Laufe des Jahres 2016 (zu einem vom FG noch genau festzustellenden Zeitpunkt) auch der frühere Busparkplatz für die wirtschaftliche Tätigkeit der Klägerin (entgeltliche PKW-Parkplatz-Überlassung für Brückenbesucher) genutzt worden ist. Die nichtwirtschaftliche Tätigkeit "unentgeltliche Busparkplatz-Überlassung für Brückenbesucher" wurde durch die Umwidmung beendet, ohne dass das FG bisher festgestellt hätte, dass an deren Stelle eine andere nichtwirtschaftliche Tätigkeit (durch Bereitstellung unentgeltlicher Parkplätze irgendwelcher Art) getreten wäre. Damit dürfte sich, vorbehaltlich einer abschließenden Prüfung durch das FG, u.a. der Anteil der Nutzung der Brücke und des Besucherzentrums für die wirtschaftliche Tätigkeit erhöht haben.c) Die Finanzverwaltung gewährt für den Fall, dass ein Unternehmer für einen sowohl unternehmerisch als auch nichtwirtschaftlich im eigentlichen Sinne verwendeten einheitlichen Gegenstand nach § 15 Abs. 1 UStG nur für den unternehmerisch genutzten Anteil zum Vorsteuerabzug berechtigt gewesen ist und sich die unternehmerische Nutzung dieses Gegenstands innerhalb des Berichtigungszeitraums erhöht, zwar eine Vorsteuerberichtigung nach den Grundsätzen des § 15a UStG zugunsten des Unternehmers, die aber nur aus Billigkeitsgründen vorgenommen wird, sofern die Bagatellgrenzen des § 44 der Umsatzsteuer-Durchführungsverordnung überschritten sind (Abschn. 15a.1 Abs. 7 des Umsatzsteuer-Anwendungserlasses). Ein solches Billigkeitsverfahren ist vorliegend jedoch nicht Verfahrensgegenstand.d) Allerdings wird das FG zu prüfen haben, ob --ungeachtet der unter II.4.a genannten Rechtsprechung-- im Streitjahr 2016 im Festsetzungsverfahren eine Vorsteuerberichtigung nach den Grundsätzen des EuGH-Urteils Gmina Ryjewo vom 25.07.2018 - C-140/17 (EU:C:2018:595; s. dazu auch EuGH-Urteil Finanzamt N [Communication de l'affectation] vom 14.10.2021 - C-45/20 und C-46/20, EU:C:2021:852, Rz 34, 42 ff.) durchzuführen ist, falls die Klägerin sowohl bei Bezug der Eingangsleistungen für die Errichtung des Busparkplatzes als auch beim anteiligen Bezug der übrigen Eingangsleistungen in ihrer Eigenschaft als Steuerpflichtige gehandelt hat. Auf die vom EuGH dazu erteilten Hinweise (a.a.O.) wird zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen.e) Soweit eine weitere Nutzungsänderung erstmals in vom FG nicht zu beurteilenden Folgejahren des Berichtigungszeitraums erfolgt sein sollte, kommt es hierauf für den Vorsteuerabzug und die Vorsteuerberichtigung in den Streitjahren nicht an.5. Der Senat weist des Weiteren darauf hin, dass die als "Teil-Einspruchsentscheidung" bezeichnete Einspruchsentscheidung keine Teil-Einspruchsentscheidung i.S. des § 367 Abs. 2a der Abgabenordnung (AO) ist. Das FA hat über mehrere selbständige Verwaltungsakte (die Umsatzsteuerbescheide 2013 bis 2016) im Rahmen eines Einspruchs gegen die Umsatzsteuerbescheide 2013 bis 2016 und die Bescheide über Zinsen zur Umsatzsteuer für die Jahre 2013 bis 2016 entschieden, so dass kein Raum für eine Teil-Einspruchsentscheidung i.S. des § 367 Abs. 2a AO verbleibt (vgl. allgemein Michl, UR 2017, 826, 828; Birkenfeld in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 367 AO Rz 285 f.). Aus der Einspruchsentscheidung des FA ergibt sich, dass es über die Umsatzsteuerbescheide im vollen Umfang entschieden hat, so dass keine weiteren Streitfragen diesbezüglich offen geblieben sind.6. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.
bundesfinanzhof
bfh_002-23
12. Januar 2023
Wirksame förmliche Zustellung setzt auch während der Covid-19-Pandemie den Versuch einer Übergabe des Schriftstücks voraus 12. Januar 2023 - Nummer 002/23 - Urteil vom 19.10.2022 X R 14/21 Der Bundesfinanzhof (BFH) hat mit Urteil vom 19.10.2022 – X R 14/21 entschieden, dass eine Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten unwirksam ist, wenn der Zusteller nicht zuvor versucht, die Postsendung mit dem Schriftstück persönlich zu übergeben. Dies gilt auch während der Covid-19-Pandemie.Für förmliche Zustellungen –etwa von Gerichtsentscheidungen oder besonders wichtigen Verwaltungsakten– hat der Gesetzgeber ein klares Regelwerk aufgestellt (§§ 166 ff. der Zivilprozessordnung –ZPO–). Wenn diese Regeln bei der Zustellung nicht beachtet werden, ist die Zustellung unwirksam. Eine „Heilung“ des Mangels tritt erst in dem Zeitpunkt ein, in dem der Empfänger das Schriftstück tatsächlich in die Hand bekommt.In dem nun vom BFH entschiedenen Fall hatte der Postzusteller die Sendung mit einem Gerichtsurteil an einem Samstag in den Briefkasten der von den Klägern bevollmächtigten Steuerbera-tungskanzlei eingelegt. Wäre dieser Samstag das Zustellungsdatum gewesen, wäre die von den Klägern eingelegte Revision zu spät erhoben worden. Die Kläger machten allerdings geltend, die Zustellung sei unwirksam, weil der Zusteller während der Covid-19-Pandemie niemals versucht habe, in den Kanzleiräumen zu klingeln und das Schriftstück dort zu übergeben.Der X. Senat des BFH hat Beweis erhoben durch Einholung einer Auskunft der Deutschen Post AG und durch Vernehmung des zuständigen Postzustellers als Zeugen. Die Beweisaufnahme hat er-geben, dass es im Bereich der Deutschen Post AG zwar keine generellen Anweisungen gab, während der Covid-19-Pandemie auf ein Klingeln beim Empfänger und den Versuch einer persönlichen Übergabe zu verzichten, der Amtsleiter des Zustellers aber eine solche Anweisung erteilt hatte.Auf dieser Grundlage hat der BFH die Zustellung als unwirksam angesehen. Im Gegensatz zu anderen Rechtsgebieten, in denen der Gesetzgeber pandemiebedingte Erleichterungen in Bezug auf bestimmte Förmlichkeiten vorgesehen hat, sind zu den Zustellungsvorschriften der ZPO keine gesetzlichen Sonderregeln geschaffen worden. Auch das für den Streitfall maßgebende Landesrecht ordnete nicht an, dass bei Zustellungen ein Kontaktverbot bestehe. Dies hat der BFH für die in Bayern im Juni 2021 geltenden Infektionsschutzregeln, die vergleichbar mit denen anderer Bundesländer gewesen sein dürften, entschieden. Daher konnte offen bleiben, ob der Landesgesetzgeber überhaupt die bundesrechtlichen Zustellungsregelungen modifizieren konnte.Der damit gegebene Zustellungsmangel wurde erst am darauffolgenden Montag geheilt, als eine Mitarbeiterin des Steuerberaters den Kanzleibriefkasten geleert hat. Daher hatten die Kläger die Revisionsfrist gewahrt.Bundesfinanzhof Pressestelle         Tel. (089) 9231-400 Pressesprecher    Tel. (089) 9231-300 Siehe auch: X R 14/21
1. Eine wirksame Ersatzzustellung durch Einlegen in einen Briefkasten (§ 180 ZPO) setzt voraus, dass zuvor ein erfolgloser Versuch der Ersatzzustellung in der Wohnung oder den Geschäftsräumen des Adressaten (§ 178 Abs. 1 Nr. 1, 2 ZPO) unternommen wurde.2. Allein aus den allgemeinen während der Covid-19-Pandemie geltenden Kontaktbeschränkungen kann nicht abgeleitet werden, dass in dieser Zeit eine Ersatzzustellung durch Einlegen in einen Briefkasten ohne vorherigen Versuch der Ersatzzustellung in der Wohnung oder den Geschäftsräumen als wirksam anzusehen wäre. Tenor Es wird festgestellt, dass die Revision in zulässiger Weise erhoben ist.Die Kostenentscheidung bleibt dem Endurteil vorbehalten. Tatbestand I.Das angefochtene Urteil des Finanzgerichts wurde am 19.06.2021, einem Samstag, im Wege der förmlichen Zustellung mittels Zustellungsurkunde in den Briefkasten der Kanzlei der Prozessbevollmächtigten der Kläger und Revisionskläger (Kläger), einer Steuerberatungs-GmbH, eingelegt. Auf dem Briefumschlag ist als Zustellungsdatum der 19.06.2021 vermerkt. Der Zusteller hat die Zustellungsurkunde wie folgt ausgefüllt:"Das mit umseitiger Anschrift und Aktenzeichen versehene Schriftstück (verschlossener Umschlag) habe ich in meiner Eigenschaft als2 [X]- Postbediensteter...9 [X]- zu übergeben versucht. (10.1 bis 12.3)Weil die Übergabe des Schriftstücks in der Wohnung/in dem Geschäftsraum nicht möglich war, habe ich das Schriftstück in den10.1 [  ]- zur Wohnung10.2 [X]- zum Geschäftsraumgehörenden Briefkasten oder in eine ähnliche Vorrichtung eingelegt....13Den Tag der Zustellung - ggf. mit Uhrzeit - habe ich auf dem Umschlag des Schriftstücks vermerkt.13.1 Datum: 19062113.3 Unterschrift des Zustellers: ...13.4 Postunternehmen/Behörde: Deutsche Post13.5 Name, Vorname des Zustellers (in Druckbuchstaben): ..."Die Revision der Kläger ging am 20.07.2021 beim Bundesfinanzhof (BFH) ein. Auf einen Hinweis der Senatsgeschäftsstelle, dass die für die Einlegung der Revision geltende Monatsfrist versäumt sei, wandten die Kläger ein, die Zustellungsurkunde sei unrichtig. Während der Covid-19-Pandemie hätten die jeweiligen Postzusteller bei keiner einzigen förmlichen Zustellung eine persönliche Übergabe des Schriftstücks in den Geschäftsräumen der Kanzlei der Prozessbevollmächtigten versucht. Dies sei auch am 19.06.2021 nicht der Fall gewesen. Gleichwohl sei in den Zustellungsurkunden stets --objektiv unzutreffend-- angekreuzt worden, eine Übergabe des Schriftstücks in den Geschäftsräumen sei nicht möglich gewesen. Damit sei die Zustellung unter Verstoß gegen zwingende Zustellungsvorschriften erfolgt; eine Heilung nach § 189 der Zivilprozessordnung (ZPO) sei erst mit der am Montag, 21.06.2021 vorgenommenen Leerung des Kanzleibriefkastens eingetreten.Die Kläger haben weiter vorgetragen, der Zusteller habe in Gesprächen mit der für den Posteingang zuständigen Mitarbeiterin und dem Geschäftsführer ihrer Prozessbevollmächtigten am 03. und 04.08.2021 erklärt, er sei aufgrund der gesetzlichen Vorgaben zur Pandemiebekämpfung gehalten, keine persönlichen Zustellungen vorzunehmen. Im Übrigen müsse er dies auch nicht, weil er die Sendungen jederzeit in den Briefkasten einlegen könne.Die Kanzleiräume befänden sich im dritten Obergeschoss eines Geschäftshauses, der Kanzleibriefkasten liege im Erdgeschoss hinter der verschlossenen Hauseingangstür. Klingeln für die Kanzleiräume seien sowohl außen am Hauseingang als auch im dritten Obergeschoss vor der Eingangstür zu den Kanzleiräumen angebracht. Der Postzusteller habe einen eigenen Schlüssel für die Hauseingangstür und damit jederzeit Zutritt zum Gebäude.Die Senatsvorsitzende hat die Deutsche Post AG --Großannahmestelle Brief Stadt X-- um Auskunft zu der Frage gebeten, ob es in deren Bereich die generelle Anweisung gebe, während der Covid-19-Pandemie vom Versuch einer persönlichen Übergabe des zuzustellenden Schriftstücks abzusehen und statt dessen sogleich eine Ersatzzustellung durch Einlegen in den zur Wohnung oder zum Geschäftsraum gehörenden Briefkasten vorzunehmen. Die Deutsche Post AG --Kundenservice-- hat diese Frage mit Schreiben vom 04.05.2022 verneint und darüber hinaus --ohne hierzu befragt worden zu sein-- ausgeführt, dass für den betroffenen Zustellungsauftrag am 19.06.2021 ein Zustellversuch unternommen worden sei. Der Geschäftsraum sei geschlossen gewesen, so dass eine Übergabe nicht möglich gewesen sei und der Auftrag in den Briefkasten des Adressaten eingelegt worden sei. Postzustellungsaufträge würden immer nach den Vorgaben der ZPO zugestellt.Der Senat hat in der mündlichen Verhandlung Beweis erhoben durch Vernehmung des Postzustellers (Z). Dieser hat erklärt, es habe in dem Zeitraum, in den die hier maßgebliche Zustellung fällt, die mündliche Anweisung seines Amtsleiters gegeben, aufgrund der Covid-19-Pandemie auch förmliche Zustellungen kontaktlos vorzunehmen. Die Zusteller hätten die Sendungen ohne Kundenkontakt und ohne Klingeln sogleich in den Briefkasten einlegen und dies durch Datum und Namenszeichen beurkunden sollen. Diese Anweisung sei erstmals ungefähr im Mai oder Juni 2021 erteilt worden und habe etwa bis März 2022 gegolten. Demgegenüber werde heute bei förmlichen Zustellungen zunächst wieder der Versuch einer persönlichen Übergabe an den Adressaten unternommen.Die Kläger beantragen,festzustellen, dass die Revision zulässig ist.Der Beklagte und Revisionsbeklagte (Finanzamt --FA--) beantragt,die Revision als unzulässig zu verwerfen.Er ist der Auffassung, entsprechend der zu § 130 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) allgemein vertretenen Auslegung sei die Zustellung in dem Zeitpunkt wirksam, in dem das Schriftstück in den Machtbereich des Empfängers gelangt sei. Dies sei hier bereits mit Einlegen in den Briefkasten am 19.06.2021 der Fall gewesen. Gründe II.Der Senat entscheidet über die Frage der Zulässigkeit der Revision durch Zwischenurteil gemäß § 121 Satz 1, § 97 der Finanzgerichtsordnung (FGO).Nach § 97 FGO kann über die Zulässigkeit der Klage durch Zwischenurteil vorab entschieden werden. Diese Regelung ist gemäß § 121 Satz 1 FGO auch in Bezug auf die Zulässigkeit der Revision anzuwenden, sofern die Revision nicht unzulässig ist und daher gemäß § 126 Abs. 1 FGO zwingend durch Beschluss verworfen werden muss (Senatsurteil vom 05.11.2019 - X R 15/18, BFH/NV 2020, 526, Rz 14, m.w.N.).Der Erlass eines Zwischenurteils ist im vorliegenden Verfahren sachgerecht. Hierdurch wird die zwischen den Beteiligten bestehende Ungewissheit über die Zulässigkeit der Revision beseitigt, so dass sich der Rechtsstreit im weiteren Verlauf auf die materiell-rechtlichen Fragen konzentrieren kann. Der Senat hat die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung auf die Möglichkeit der Entscheidung durch Zwischenurteil hingewiesen.III.Die Revision ist zulässig. Insbesondere haben die Kläger die einmonatige Frist für die Einlegung der Revision gewahrt.Aufgrund des Ergebnisses der Beweisaufnahme ist der Senat davon überzeugt, dass der Zeuge Z in seiner Eigenschaft als Postzusteller am 19.06.2021 vor der Einlegung der förmlich zuzustellenden Sendung mit dem vorinstanzlichen Urteil in den Briefkasten der Kanzlei der Prozessbevollmächtigten der Kläger keinen Versuch einer persönlichen Übergabe in den Geschäftsräumen der Kanzlei unternommen hat (dazu unten 1.). Ohne einen solchen Übergabeversuch ist die Zustellung wegen Verstoßes gegen § 180 Satz 1 ZPO unwirksam (unten 2.). Die zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie erlassenen gesetzlichen Regelungen bewirken keine Suspendierung der in § 180 ZPO für die Ersatzzustellung vorgesehenen Anordnungen (unten 3.). Der Zustellungsmangel ist erst am 21.06.2021 geheilt worden, so dass mit dem Eingang der Revisionsschrift beim BFH am 20.07.2021 die hierfür geltende einmonatige Frist gewahrt worden ist (unten 4.).1. Der Zeuge Z hat nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme vor der Einlegung der Sendung in den Kanzleibriefkasten keinen Versuch der persönlichen Übergabe unternommen.a) Wenn es um das Vorliegen der Zulässigkeitsvoraussetzungen der Revision (§ 124 FGO) geht, ist auch das Revisionsgericht zu eigenen Tatsachenfeststellungen einschließlich einer Beweisaufnahme berechtigt und ggf. verpflichtet, wobei das Freibeweisverfahren ausreichen kann (BFH-Beschluss vom 22.07.2002 - V R 55/00, BFH/NV 2002, 1601, unter II.1., m.w.N.).b) Eine Zustellungsurkunde begründet gemäß § 182 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 418 Abs. 1 ZPO wie eine öffentliche Urkunde --weiterhin-- den vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen, obwohl die Postdienstleistungen mittlerweile durch private Unternehmen erbracht werden und Zustellungsurkunden lediglich aus vorgedruckten und anzukreuzenden Textbausteinen bestehen.Der Beweis der Unrichtigkeit der in der Urkunde bezeugten Tatsachen ist allerdings zulässig (§ 418 Abs. 2 ZPO). Dieser Gegenbeweis erfordert die volle Überzeugung des Gerichts von einem anderen als dem beurkundeten Sachverhalt (Urteil des Bundesgerichtshofs -BGH- vom 31.05.2017 - VIII ZR 224/16, Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 2017, 2285, Rz 18, m.w.N.). Ein solcher Gegenbeweis ist hier erbracht.c) Der Senat ist davon überzeugt, dass der Zeuge Z am 19.06.2021 nicht versucht hat, die Sendung mit dem vorinstanzlichen Urteil vor dem Einlegen in den Kanzleibriefkasten persönlich zu übergeben, insbesondere nicht die zu den Kanzleiräumen gehörende Klingel betätigt hat.aa) Der Zeuge hat ausgesagt, von seinem Amtsleiter mündlich angewiesen worden zu sein, infolge der Covid-19-Pandemie kontaktlos zuzustellen und insbesondere auf ein Betätigen der zu den Räumen des Adressaten gehörenden Klingel vor dem Einlegen der Sendung in den Briefkasten des Adressaten zu verzichten. So habe er es auch an dem hier fraglichen Tag gehandhabt.Der Senat ist von der Glaubwürdigkeit des Zeugen ebenso wie von der Glaubhaftigkeit seiner Aussage überzeugt. Der Zeuge --ein langjähriger beamteter Zusteller-- hat den Ablauf einer Zustellung vom Beginn seines Arbeitstages bis zum Einlegen in den Briefkasten im Zusammenhang geschildert und alle von der Richterbank gestellten Fragen in spontaner und natürlicher Weise beantwortet. In seiner Aussage und den Antworten auf die ihm gestellten Fragen waren keine inhaltlichen Widersprüche erkennbar. Auch die Vertreter der Beteiligten haben in der mündlichen Verhandlung über das Ergebnis der Beweisaufnahme keine Bedenken gegen die Glaubwürdigkeit des Zeugen und die Glaubhaftigkeit seiner Aussage geäußert.bb) Demgegenüber misst der Senat der schriftlichen Auskunft der Deutschen Post AG vom 04.05.2022 keinen hohen Beweiswert zu.Die Deutsche Post AG ist nur gefragt worden, ob es generelle Anweisungen für das Absehen von persönlichen Übergabeversuchen zu Zeiten der Covid-19-Pandemie gibt. Diese Frage wurde verneint. Dies schließt allerdings nicht aus, dass der für den Zeugen Z zuständige Vorgesetzte für seinen Arbeitsbereich mündlich eine hiervon abweichende individuelle Anweisung erteilt hat, wie es der Zeuge bekundet hat.Soweit die Deutsche Post AG in ihrer schriftlichen Auskunft darüber hinaus erklärt, am 19.06.2021 sei ein Zustellversuch unternommen worden, aber wegen eines geschlossenen Geschäftsraums gescheitert, ist ihr diese Frage zum einen nicht gestellt worden. Zum anderen ist diese Angabe --gerade angesichts des sehr substantiierten abweichenden Sachvortrags der Kläger sowie der abweichenden und inhaltlich vollkommen klaren und eindeutigen Aussage des Zeugen-- zu allgemein gehalten; insbesondere wird der Name des Zustellers nicht genannt.Vor allem aber wird der Inhalt der schriftlichen Auskunft der Deutschen Post AG durch den darin nachfolgenden Satz ("Postzustellungsaufträge werden und wurden immer nach den Vorgaben der Zivilprozessordnung zugestellt.") relativiert: Eine derart generelle Aussage ist unrealistisch und entspricht nicht den Tatsachen. Dem Senat sind in seiner gerichtlichen Praxis immer wieder Fälle bekannt geworden, in denen die Zusteller gerade nicht nach den Vorgaben der ZPO zugestellt haben; auch die juristischen Fachzeitschriften berichten nicht nur vereinzelt von solchen Fällen. Die schriftliche Erklärung der Deutschen Post AG wird vom Senat daher eher als Beschreibung eines Idealzustands gewertet denn als belastbare Auskunft zu einer konkreten Weisungs- und Zustellsituation im hier aufklärungsbedürftigen Einzelfall. Sie kann damit den hohen Beweiswert der individuellen und glaubhaften Aussage des Zeugen Z nicht erschüttern.2. Eine Ersatzzustellung gemäß § 180 Satz 1 ZPO durch Einlegen in den Briefkasten, bei der nicht zuvor der Versuch einer persönlichen Übergabe des Schriftstücks vorgenommen wird, ist unwirksam.a) Finanzgerichtliche Urteile werden von Amts wegen nach den Vorschriften der ZPO zugestellt (§ 53 Abs. 2 FGO). Der Gesetzgeber hat daran festgehalten, dass eine Zustellung in ihrer Grundform durch körperliche Übergabe stattfindet (Beschluss des Großen Senats des BFH vom 06.05.2014 - GrS 2/13, BFHE 244, 536, BStBl II 2014, 645, Rz 68; BGH-Beschluss vom 29.07.2022 - AnwZ (Brfg) 28/20, NJW 2022, 3081, Rz 19). Nach dem Wortlaut des § 180 Satz 1 ZPO setzt die Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten voraus, dass die Zustellung nach § 178 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 ZPO nicht ausführbar ist. Daher ist nach allgemeiner Meinung eine Ersatzzustellung nach § 180 ZPO erst dann zulässig, wenn eine --vorrangige-- Ersatzzustellung in der Wohnung oder im Geschäftsraum (§ 178 Abs. 1 Nr. 1, 2 ZPO) nicht erfolgen konnte, insbesondere weil dort keiner der in diesen Vorschriften bezeichneten Ersatzempfänger persönlich angetroffen wurde (vgl. statt aller Zöller/Schultzky, ZPO, 34. Aufl., § 180 Rz 2).b) Zwar ist eine Ersatzzustellung nach § 180 ZPO auch dann zulässig, wenn der Geschäftsraum beim Zustellungsversuch nach § 178 Abs. 1 Nr. 2 ZPO geschlossen und diese Art der Ersatzzustellung damit nicht ausführbar war (Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 02.08.2007 - 2 B 20/07, NJW 2007, 3222; vgl. --ebenfalls zu einer Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten eines an Samstagen geschlossenen Geschäftslokals-- Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 09.05.2018 - 22 ZB 18.105, Deutsches Verwaltungsblatt 2019, 63, Rz 12, wo allerdings kein Zweifel an der Richtigkeit der beurkundeten Angabe des Zustellers bestand, er habe zuvor eine Übergabe in den Geschäftsräumen versucht).Wenn der Zusteller jedoch förmlich beurkundet, er habe zunächst den Versuch unternommen, das Schriftstück persönlich zu übergeben, obwohl diese von ihm abgegebene Erklärung nicht der Wahrheit entspricht, ist die Zustellung unwirksam. Obwohl eine Zustellungsurkunde als öffentliche Urkunde den vollen Beweis der von ihr bezeugten Tatsachen begründet (§ 182 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 418 Abs. 1 ZPO), ist der in § 418 Abs. 2 ZPO zugelassene Gegenbeweis der Unrichtigkeit der in der Urkunde bezeugten Tatsachen geführt, wenn der als Zeuge vernommene Zusteller wie im Streitfall aussagt, er habe in dem betreffenden Zeitraum grundsätzlich nicht den Versuch unternommen, zuzustellende Schriftstücke persönlich zu übergeben, sondern habe sie regelmäßig in den Briefkasten eingelegt und dies in der Urkunde entsprechend dokumentiert. Eine solche Zustellung ist unwirksam (vgl. zum Ganzen BFH-Beschluss vom 14.02.2007 - XI B 108/05, BFH/NV 2007, 1158, unter II.1.b; zu einer Beweiswürdigung jüngst auch Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 15.03.2022 - 4 A 1326/20.Z, NJW 2022, 2426, Rz 14 ff.).c) Hierfür kommt es auch nicht darauf an, ob am 19.06.2021 in der Kanzlei der Prozessbevollmächtigten der Kläger tatsächlich eine Person anwesend war, die das Schriftstück persönlich hätte entgegennehmen können. Entscheidend ist nicht, ob eine persönliche Übergabe objektiv möglich gewesen wäre, sondern dass der Zusteller einen Sachverhalt (vorheriger Versuch einer persönlichen Übergabe vor dem Einlegen in den Briefkasten) beurkundet hat, der nicht dem tatsächlichen Geschehensablauf entspricht. Dem kann auch nicht entgegnet werden, es wäre eine bloße Förmelei, an einem Samstag in einem Geschäftshaus die Klingel der Kanzleiräume betätigen zu müssen. Denn gerade bei Freiberuflern ist es durchaus nicht ausgeschlossen, dass sie und/oder ihre Beschäftigten in Zeiten hoher Arbeitsbelastung auch an Samstagen arbeiten und sich zu diesem Zweck in ihren Geschäftsräumen aufhalten, also die persönliche Übergabe des Schriftstücks (§ 177 ZPO) oder eine Ersatzzustellung an einen Beschäftigten (§ 178 Abs. 1 Nr. 2 ZPO) durchführbar wäre.d) Soweit sich das FA darauf beruft, dass die Sendung bereits mit dem Einlegen in den Briefkasten in den Machtbereich der Prozessbevollmächtigten der Kläger gelangt sei, wird diese allgemeine Regel über den Zugang von Erklärungen (§ 130 BGB) für Fälle der förmlichen Zustellung durch die hierfür geltenden differenzierten gesetzlichen Vorschriften (§§ 166 ff. ZPO) gerade verdrängt.3. Weder das Bundesrecht noch das --hier maßgebliche-- bayerische Landesrecht hat am 19.06.2021 Regelungen enthalten, die die gesetzlichen Vorgaben des § 180 Satz 1 ZPO aus Gründen des Infektionsschutzes modifiziert hätten.a) Der --hierfür zuständige-- Bundesgesetzgeber hat für förmliche Zustellungen keine pandemiebedingten Erleichterungen vorgesehen.Zwar hat er solche Erleichterungen in zahlreichen anderen Rechtsbereichen geschaffen (vgl. z.B. das Gesetz zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht vom 27.03.2020, BGBl I 2020, 569; das Gesetz zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Pauschalreisevertragsrecht und zur Sicherstellung der Funktionsfähigkeit der Kammern im Bereich der Bundesrechtsanwaltsordnung, der Bundesnotarordnung, der Wirtschaftsprüferordnung und des Steuerberatungsgesetzes während der COVID-19-Pandemie vom 10.07.2020, BGBl I 2020, 1643, und das Gesetz zur weiteren Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Anpassung pandemiebedingter Vorschriften im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins- und Stiftungsrecht sowie im Miet- und Pachtrecht vom 22.12.2020, BGBl I 2020, 3328). Zu §§ 178, 180 ZPO fehlt aber eine entsprechende Ausnahmeregelung.b) Auch die in Bayern geltenden landesrechtlichen Regelungen zum Infektionsschutz konnten am 19.06.2021 nicht bewirken, dass eine Zustellung nach § 178 Abs. 1 Nr. 1, 2 ZPO "nicht ausführbar" war, wie es § 180 Satz 1 ZPO für die Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten voraussetzt.Abgesehen davon, dass der Bundesgesetzgeber mit der Zivilprozessordnung von seiner konkurrierenden Gesetzgebung gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 Alternative 4 des Grundgesetzes (GG) zur Regelung des gerichtlichen Verfahrens abschließend Gebrauch gemacht hat (Uhle in Dürig/Herzog/Scholz, Komm. z. GG, Art. 74 Rz 119; F. Wittreck, in H. Dreier (Hrsg.) Grundgesetz-Kommentar, Bd. II 3. Aufl., Art. 74 Rz 23), so dass nach Art. 72 Abs. 1 GG für landesrechtliche Regelungen grundsätzlich eine Sperrwirkung gegeben wäre, fehlt es an einer entsprechenden inhaltlichen bayerischen Landesregelung. Allein das Gebot zur allgemeinen Kontaktreduzierung zwecks Infektionsschutzes könnte die klare gesetzliche Rangfolge der in den § 178 und § 180 ZPO vorgesehenen Ersatzzustellungen nicht in ihr Gegenteil verkehren. Hierfür wäre vielmehr --wie in zahlreichen anderen Rechtsbereichen geschehen-- eine eindeutige gesetzliche Regelung erforderlich gewesen. Im Übrigen waren berufliche Tätigkeiten von den zum Zeitpunkt des Zustellungsversuchs in Bayern geltenden Kontaktbeschränkungen ausdrücklich ausgenommen (§ 6 Abs. 3 der Dreizehnten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung --13. BayIfSMV-- vom 05.06.2021, BayMBl 2021 Nr. 384). Die allgemeine Empfehlung eines Mindestabstands von 1,5 m (§ 2 Satz 1 der 13. BayIfSMV) --bei der es sich ohnehin nicht um eine rechtlich zwingende Regelung handelt-- kann auch bei einer persönlichen Übergabe des zuzustellenden Schriftstücks eingehalten werden.4. Verstößt eine Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten gegen zwingende Zustellungsvorschriften, tritt eine Heilung nach § 189 ZPO erst in dem Zeitpunkt ein, in dem der Empfänger das Schriftstück tatsächlich in die Hand bekommt (BFH-Beschluss in BFHE 244, 536, BStBl II 2014, 645, Rz 65 ff.). Dies war hier mit der Leerung des Briefkastens am Morgen des 21.06.2021 der Fall. Die dadurch ausgelöste einmonatige Frist für die Einlegung der Revision (§ 120 Abs. 1 Satz 1 FGO) endete am 21.07.2021. Mit dem Eingang der Revisionsschrift beim BFH am 20.07.2021 ist diese Frist gewahrt worden.5. Da der Senat lediglich ein Zwischenurteil erlässt, bleibt die Kostenentscheidung dem Endurteil vorbehalten.
bundesfinanzhof
bfh_050-22
03. November 2022
Abzug von Taxikosten für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsplatz lediglich in Höhe der Entfernungspauschale 03. November 2022 - Nummer 050/22 - Urteil vom 09.06.2022 VI R 26/20 Mit Urteil vom 09.06.2022 hat der Bundesfinanzhof (BFH) entschieden, dass ein Arbeitnehmer für seine Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsplatz auch bei Nutzung eines Taxis lediglich in Höhe der Entfernungspauschale Aufwendungen als Werbungskosten von der Steuer absetzen kann.Aufwendungen eines Arbeitnehmers für Wege zwischen Wohnung und der sog. ersten Tätigkeitsstätte (zumeist dessen üblicher Arbeitsplatz) sind grundsätzlich pauschal in Höhe von 0,30 € für jeden Entfernungskilometer anzusetzen, unabhängig davon, welches Verkehrsmittel genutzt wird. Eine Ausnahme gilt nach § 9 Abs. 2 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) jedoch bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln. In diesem Fall darf der Arbeitnehmer anstatt der Entfernungspauschale auch höhere tatsächliche Kosten ansetzen.Der BFH hatte nun die Frage zu klären, ob es sich bei einem Taxi um ein solch begünstigtes öffentliches Verkehrsmittel handelt, dies aber verneint. Zur Begründung hat der BFH darauf abgestellt, dass der Gesetzgeber bei Einführung der Ausnahmeregelung in § 9 Abs. 2 Satz 2 EStG eine Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln im Linienverkehr –insbesondere Bus und Bahn– und damit ein enges Verständnis des Begriffs des öffentlichen Verkehrsmittels vor Augen hatte. Ein Arbeitnehmer, der die Wege zwischen seiner Wohnung und seiner ersten Tätigkeitsstätte mit einem „öffentlichen“ Taxi zurücklegt, kann seine Aufwendungen daher nur in Höhe der Entfernungspauschale geltend machen.  Bundesfinanzhof Pressestelle         Tel. (089) 9231-400 Pressesprecher    Tel. (089) 9231-300 Siehe auch: VI R 26/20
1. Ein im Gelegenheitsverkehr genutztes Taxi zählt nicht zu den "öffentlichen Verkehrsmitteln" i.S. des § 9 Abs. 2 Satz 2 EStG.2. Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte mit einem Taxi können daher lediglich in Höhe der Entfernungspauschale gemäß § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 Satz 2 EStG als Werbungskosten in Ansatz gebracht werden. Tenor Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Thüringer Finanzgerichts vom 22.10.2019 - 3 K 490/19 aufgehoben.Die Klage wird abgewiesen.Die Kosten des gesamten Verfahrens haben die Kläger zu tragen. Tatbestand I.Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) sind Eheleute, die für die Streitjahre (2016 und 2017) zur Einkommensteuer zusammen veranlagt wurden. Seit dem Jahr 2007 ist der Kläger krankheitsbedingt nicht mehr in der Lage, selbst ein Kfz sicher zu führen. Sein Grad der Behinderung (GdB) betrug in den Streitjahren 60 ohne besondere Merkzeichen. Er legte daher in den Streitjahren die Wege zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte in der Regel mit einem Taxi zurück. Für die Taxifahrten entstanden dem Kläger Kosten in Höhe von 6.402 € (2016) bzw. 2.670 € (2017), die er als Werbungskosten bei seinen Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit geltend machte.Der Beklagte und Revisionskläger (Finanzamt --FA--) erkannte hingegen lediglich Aufwendungen in Höhe der Entfernungspauschale als Werbungskosten an.Der nach erfolglosem Vorverfahren erhobenen Klage gab das Finanzgericht (FG) mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2020, 348 veröffentlichten Gründen statt.Mit der Revision rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts.Es beantragt,das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.Die Kläger beantragen,die Revision zurückzuweisen. Gründe II.Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Die Vorinstanz hat die Aufwendungen des Klägers für seine Fahrten zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte zu Unrecht in tatsächlicher Höhe als Werbungskosten berücksichtigt.1. Nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) sind Werbungskosten auch die Aufwendungen des Arbeitnehmers für die Wege zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte. Zur Abgeltung dieser Aufwendungen ist gemäß § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 Satz 2 EStG in der in den Streitjahren geltenden Fassung für jeden Arbeitstag, an dem der Arbeitnehmer die erste Tätigkeitsstätte aufsucht, eine Entfernungspauschale für jeden vollen Kilometer der Entfernung zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte von 0,30 € anzusetzen, höchstens jedoch 4.500 € im Kalenderjahr, soweit der Arbeitnehmer nicht einen eigenen oder ihm zur Nutzung überlassenen Kraftwagen nutzt. Nach § 9 Abs. 2 Satz 2 EStG können Aufwendungen für die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel auch angesetzt werden, soweit sie den im Kalenderjahr insgesamt als Entfernungspauschale abziehbaren Betrag übersteigen. Der Ansatz von Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte, die den als Entfernungspauschale abziehbaren Betrag übersteigen, ist zudem möglich, wenn der Steuerpflichtige einen GdB von mindestens 70 nachweist oder einen GdB von mindestens 50 und seine Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist (§ 9 Abs. 2 Satz 3 und Satz 4 EStG).a) Der Begriff des "öffentlichen Verkehrsmittels" ist im Einkommensteuergesetz gesetzlich nicht definiert. Der Wortlaut des § 9 Abs. 2 Satz 2 EStG lässt sich sowohl dahingehend verstehen, dass es sich um ein Verkehrsmittel handelt, das --wie u.a. ein Taxi-- allgemein der Öffentlichkeit zur Verfügung steht, als auch so auslegen, dass lediglich regelmäßig verkehrende öffentliche Verkehrsmittel (im Linienverkehr) erfasst sind (vgl. Senatsbeschluss vom 15.11.2016 - VI R 4/15, BFHE 256, 86, BStBl II 2017, 228, Rz 22). Insbesondere zwingt der Umstand, dass die Beförderung von Personen mit Kfz im Gelegenheitsverkehr etwa mit einem Taxi nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4, § 47 des Personenbeförderungsgesetzes i.d.F. vom 08.08.1990 (PBefG) i.V.m. § 46 Abs. 2 Nr. 1 PBefG genehmigungspflichtig ist, nicht dazu, das Taxi auch als öffentliches Verkehrsmittel i.S. des § 9 Abs. 2 Satz 2 EStG anzusehen (Senatsbeschluss in BFHE 256, 86, BStBl II 2017, 228, Rz 22). Aus der Entstehungsgeschichte des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 und Abs. 2 Satz 2 EStG sowie dem Sinn und Zweck der Vorschriften ergibt sich vielmehr, dass unter die Bezeichnung im Rahmen des § 9 Abs. 2 Satz 2 EStG lediglich öffentliche Verkehrsmittel im Linienverkehr fallen (ebenso Niedersächsisches FG, Urteil vom 05.12.2018 - 3 K 15/18, EFG 2019, 344; Schmidt/Krüger, EStG, 41. Aufl., § 9 Rz 293; BeckOK EStG/Straßburger, 13. Ed., EStG § 9 Rz 392; Brandis/Heuermann/Thürmer, § 9 EStG Rz 521; a.A. FG Düsseldorf, Urteil vom 08.04.2014 - 13 K 339/12 E; Thüringer FG, Urteil vom 25.09.2018 - 3 K 233/18, EFG 2018, 1944; Kreft/Bergkemper in Herrmann/Heuer/Raupach --HHR--, § 9 EStG Rz 540; Oertel in Kirchhof/Seer, EStG, 21. Aufl., § 9 Rz 74; Fuhrmann in Korn, § 9 EStG Rz 222; Stahlschmidt, Finanz-Rundschau 2005, 1183, 1186).b) Mit dem Gesetz zur Einführung einer Entfernungspauschale (BGBl I 2000, 1918) hat der Gesetzgeber mit Wirkung ab dem 01.01.2001 aus umwelt- und verkehrspolitischen Gründen erstmals die verkehrsmittelunabhängige pauschale steuerliche Berücksichtigung von Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte (seit dem Veranlagungszeitraum 2014 erste Tätigkeitsstätte) angeordnet. Die Umwandlung der bis dahin geltenden verkehrsmittelabhängigen Kilometer-Pauschbeträge in eine verkehrsmittelunabhängige Entfernungspauschale sah der Gesetzgeber aus umwelt- und verkehrspolitischen Gründen als geboten an, um "das Verkehrsmittel Kraftfahrzeug" nicht zu bevorzugen, wenn die Kosten für die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel niedriger sind (BTDrucks 14/4435, S. 7). Die Umstellung auf die verkehrsmittelunabhängige Entfernungspauschale sollte hinsichtlich der steuerlichen Entlastungswirkung Wettbewerbsgleichheit zwischen den Verkehrsträgern schaffen und die Ausgangslage für den öffentlichen Personennahverkehr verbessern. Letzteres zeigt sich insbesondere in der Abzugsmöglichkeit der die Entfernungspauschale gegebenenfalls übersteigenden tatsächlichen Kosten im Falle der Benutzung eines öffentlichen Verkehrsmittels nach § 9 Abs. 2 Satz 2 EStG.Soweit der Gesetzgeber von der Anwendung des verkehrsmittelunabhängigen Pauschsatzes je Entfernungskilometer bei der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel in § 9 Abs. 2 Satz 2 EStG eine Ausnahme normiert hat, hatte er folglich insbesondere den öffentlichen Personennahverkehr --und damit eine Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln im Linienverkehr-- vor Augen, bei welchem typischerweise eine Vielzahl von Fahrgästen gleichzeitig und ohne Gestaltungsmöglichkeit des Fahrtablaufs fahrplanmäßig befördert wird. Den Abzug von Aufwendungen, die durch die Nutzung des eigenen PKW entstehen, hat er demgegenüber aus verkehrs- und umweltpolitischen Erwägungen u.a. deshalb beschränkt, weil er bei der Nutzung eines PKW Anreize zur Bildung von Fahrgemeinschaften setzen wollte (vgl. BTDrucks 14/4435, S. 9). Dieser Lenkungszweck spricht für eine Beschränkung des Abzugs der Fahrtkosten auf die Entfernungspauschale auch bei Nutzung eines Taxis. Denn hier wird --wie bei der Nutzung eines eigenen PKW-- der Fahrtablauf individuell gestaltet, d.h. Fahrtzeit und -ziel sind frei bestimmbar und häufig wird --wie auch im Streitfall-- lediglich ein Einzelfahrgast befördert. Zudem steht auch im Fall der Bildung von Fahrgemeinschaften unter Benutzung eines Taxis jedem Fahrgast für seine Fahrten zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte die Entfernungspauschale zu. Die Fahrtkosten bei der Nutzung eines Taxis werden damit ebenso behandelt wie Fahrtkosten für die Nutzung eines sonstigen (privaten) PKW. Der vom Gesetzgeber verfolgte Lenkungszweck gebietet es daher nicht, Aufwendungen für die mit einem Taxi zurückgelegten Fahrten zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte wie bei der Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln im Linienverkehr in voller Höhe ohne Begrenzung auf die Entfernungspauschale zum Werbungskostenabzug zuzulassen.Dass der Gesetzgeber eine Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln im Linienverkehr im Auge hatte, wird schließlich auch durch die Begründung für den lediglich einmaligen Ansatz der Entfernungspauschale je Arbeitstag verdeutlicht. Dies sieht der Gesetzgeber neben der Vereinfachung auch deshalb als gerechtfertigt an, weil zusätzliche Kosten nicht zwangsläufig anfallen, so z.B. bei Zeitkarten für die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel (vgl. BTDrucks 14/4435, S. 9). Zeitkarten werden aber typischerweise nur für die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel im Linienverkehr erworben.c) Gegen eine solche Auslegung von § 9 Abs. 2 Satz 2 EStG spricht nicht der Umstand, dass der Gesetzgeber bei der Schaffung des § 3 Nr. 15 EStG durch das Gesetz zur Vermeidung von Umsatzsteuerausfällen beim Handel mit Waren im Internet und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften vom 11.12.2018 (BGBl I 2018, 2338) in dieser Vorschrift den Begriff des öffentlichen Verkehrsmittels mit dem Zusatz "im Linienverkehr" verwendet, § 9 Abs. 2 Satz 2 EStG jedoch nicht um einen entsprechenden Zusatz ergänzt hat. Denn der Gesetzgeber hat diesen Zusatz in § 3 Nr. 15 EStG nach Auffassung des erkennenden Senats lediglich zur Klarstellung des von ihm ohnehin sowohl in § 9 Abs. 2 Satz 2 EStG als auch in § 3 Nr. 15 EStG zu Grunde gelegten Verständnisses des Begriffs "öffentliche Verkehrsmittel" als solche des Linienverkehrs eingefügt.d) Auch die von den Klägern und Teilen der Literatur vorgebrachten Erwägungen, nach denen die Nutzung eines Taxis zur Förderung von umwelt- und verkehrspolitischen Zielen im gleichen Maße geeignet sei wie die Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln im Linienverkehr --z.B. durch Entlastung des ruhenden Verkehrs (vgl. Oertel in Kirchhof/Seer, a.a.O., § 9 Rz 74; FG Thüringen, Urteil vom 25.09.2018 - 3 K 233/18, EFG 2018, 1944, Rz 18) oder als Ergänzung im Anschluss an eine Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln im Linienverkehr--, stehen einer solchen Auslegung nicht entgegen. Denn bei diesen umwelt- und verkehrspolitischen Erwägungen handelt es sich um Gesichtspunkte, die sich mit den gesetzgeberischen Erwägungen --insbesondere mit der Entscheidung des Gesetzgebers, Anreize zur Bildung von Fahrgemeinschaften bei der Nutzung eines PKW zu setzen (s. II.1.b)-- nicht decken.e) Die Senatsentscheidung vom 20.05.1980 - VI R 241/77 (BFHE 130, 457, BStBl II 1980, 582), nach der Taxikosten für Fahrten zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte in vollem Umfang abziehbar waren, soweit der Abzug nicht ausnahmsweise wegen Unangemessenheit zu versagen war, beruht auf einer anderen Rechtsgrundlage, die seit der Einführung der verkehrsmittelunabhängigen Entfernungspauschale überholt ist.2. Bei Anwendung dieser Rechtsgrundsätze ist das FG zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Aufwendungen des Klägers für seine Fahrten zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte nicht nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 Satz 2 EStG durch den Ansatz der Entfernungspauschale abgegolten sind.a) Nach den vorstehenden Ausführungen handelt es sich bei dem vom Kläger als Transportmittel für die Fahrten zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte gewählten Taxi nicht um ein öffentliches Verkehrsmittel i.S. des § 9 Abs. 2 Satz 2 EStG.b) Auch die Ausnahmevorschrift des § 9 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 EStG war in den Streitjahren nicht erfüllt.Der Kläger hatte nach den bindenden Feststellungen des FG in den Streitjahren (lediglich) einen GdB von 60 ohne besondere Merkzeichen. Eine erhebliche Beeinträchtigung in der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr, die nach § 9 Abs. 2 Satz 4 EStG durch amtliche Unterlagen nachzuweisen ist, lag beim Kläger nicht allein deshalb vor, weil er nach den Feststellungen der Vorinstanz in den Streitjahren nicht in der Lage war, selbst ein Kfz sicher zu führen. Die Vorschrift des § 9 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 EStG orientiert sich an § 229 Abs. 1 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) --früher § 145 Abs. 1 und § 146 Abs. 1 SGB IX--, wonach derjenige in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist, der infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden (FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 12.04.2005 - 2 K 2028/03, Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst --DStRE-- 2005, 929, Rz 25; Fuhrmann in Korn, § 9 EStG Rz 241; HHR/Kreft/Bergkemper, § 9 EStG Rz 541; von Bornhaupt in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 9 Rz F97; s.a. Vogl in Schlegel/Voelzke, juris PraxisKommentar SGB IX, 3. Aufl., § 229 SGB IX [Stand: 15.01.2018] Rz 15 ff.). Bei Sehbehinderungen --wie nach den Ausführungen des FA beim Kläger der Fall-- liegt eine Störung der Orientierungsfähigkeit, die zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit führt, erst bei einem GdB von mindestens 70 vor; bei Sehbehinderungen, die einen GdB von 50 oder 60 bedingen, muss eine erhebliche Störung der Ausgleichsfunktionen vorliegen (Vogl in Schlegel/Voelzke, a.a.O., § 229 SGB IX [Stand: 15.01.2018] Rz 22). Dass Letzteres vorliegend der Fall gewesen wäre, hat das FG nicht festgestellt. Solches haben die Beteiligten auch weder vorgetragen noch ist hierfür aus den Akten etwas ersichtlich. Den nach § 9 Abs. 2 Satz 4 EStG erforderlichen Nachweis haben die Kläger nicht erbracht.3. Dieses Ergebnis führt auch nicht zu einer behinderungsbedingten Benachteiligung des Klägers nach Art. 3 Abs. 1 und Abs. 3 Satz 2 des Grundgesetzes --GG-- (ebenso im Ergebnis: FG Rheinland-Pfalz, Urteil in DStRE 2005, 929).a) Das Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG erschöpft sich allerdings nicht in der Anordnung, Behinderte und Nichtbehinderte rechtlich gleich zu behandeln. Vielmehr kann eine Benachteiligung auch bei einem Ausschluss von Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten durch die öffentliche Gewalt gegeben sein, wenn diese nicht durch eine auf die Behinderung bezogene Fördermaßnahme kompensiert wird (Beschluss des Bundesverfassungsgerichts --BVerfG-- vom 11.01.2011 - 1 BvR 3588/08, 1 BvR 555/09, BVerfGE 128, 138, Rz 54). Allerdings folgt aus einer grundrechtlichen Schutzpflicht in der Regel keine bestimmte Handlungsvorgabe (BVerfG-Urteil vom 01.12.2009 - 1 BvR 2857/07, BVerfGE 125, 39, Rz 135). Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers kann sich nur unter besonderen Umständen so verengen, dass allein durch eine bestimmte Maßnahme dem Schutzgebot Genüge getan werden kann (vgl. BVerfG-Urteil vom 28.05.1993 - 2 BvF 2/90, BVerfGE 88, 203, Rz 166 f.).b) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat der Gesetzgeber dem Schutzgebot von Menschen mit Behinderung durch die Regelungen in § 9 Abs. 2 Satz 3 und Satz 4 EStG in ausreichendem Maße Genüge getan. Denn er hat mit diesen Vorschriften eine Ausnahmeregelung für Menschen mit Behinderung geschaffen, die durch die beschränkte Abzugsfähigkeit der Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte typischerweise in einem höheren Maße betroffen sind. Es liegt im gesetzgeberischen Regelungsermessen, in Anlehnung an die sozialrechtlichen Vorschriften nur bei Personen, die in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, die tatsächlichen Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte zum Abzug zuzulassen. Denn diese Aufwendungen übersteigen bei dieser Personengruppe typischerweise in einem besonders hohen Maße einen Ansatz nach der Entfernungspauschale. Die Abgeltungswirkung der Entfernungspauschale kann bei diesen daher eine besondere, über die normale mit einer Typisierung verbundene Härte hinausgehende behinderungsbedingte Benachteiligung bewirken.4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
bundesfinanzhof
bfh_048-22
27. Oktober 2022
Gewerbesteuerliche Folgen der Überlassung von Gewerberäumen durch eine Wohnungsbaugenossenschaft an eine Genossin 27. Oktober 2022 - Nummer 048/22 - Urteil vom 29.06.2022 III R 19/21 Der Bundesfinanzhof (BFH) hat mit Urteil vom 29.06.2022 - III R 19/21 entschieden, dass die Überlassung relativ unwesentlichen Grundbesitzes --eines Ladengeschäftes-- an eine mit nur etwa 1/6000 beteiligte Genossin, den diese für ihren Gewerbebetrieb nutzt, auch dann der erweiterten Kürzung bei der Genossenschaft entgegen steht, wenn der vom Betrieb der Genossin erzielte Gewerbeertrag den Freibetrag des § 11 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 GewStG nicht erreicht. Der Gewinn von Unternehmen, die u.a. ausschließlich eigenen Grundbesitz verwalten, wird für Zwecke der Gewerbesteuer um den auf die Verwaltung des eigenen Grundbesitzes entfallenden Teil gekürzt. Diese Kürzung wird jedoch versagt, wenn der Grundbesitz dem Gewerbebetrieb eines Gesellschafters oder Genossen dient. Die Klägerin ist eine Genossenschaft, die ausschließlich Wohnungen und gewerblich genutzte Flächen vermietet. Eine ihrer gewerblichen Mieterinnen betrieb darin ein Einzelhandelsgeschäft, dessen Gewinne unter dem gewerbesteuerlichen Freibetrag i.H. von 24.500 € lagen. Um auch eine Wohnung anmieten zu können, erwarb sie einen Genossenschaftsanteil. Das Finanzgericht hatte als Vorinstanz entschieden, dass die erweiterte Kürzung zu gewähren sei, weil die Genossin nur geringfügig beteiligt und ihr Unternehmen selbst keiner Gewerbesteuerbelastung ausgesetzt sei. Der BFH hat demgegenüber die erweiterte Kürzung abgelehnt und ausgeführt, dass eine Gesamtbetrachtung, wonach das Zusammenkommen mehrerer "Bagatellaspekte" die Nichtanwendung des § 9 Nr. 1 Satz 5 Nr. 1 GewStG rechtfertigt, obwohl diese für sich --einzeln genommen-- die Nichtanwendung der Vorschrift nicht rechtfertigen würden, im Gesetz keine Stütze finde. Es sei Sache des Gesetzgebers, derartige unbillig erscheinende Ergebnisse zu vermeiden, wie dies kürzlich hinsichtlich des Ausschließlichkeitsgebots des § 9 Abs. 1 Satz 2 GewStG geschehen ist (vgl. § 9 Nr. 1 Satz 3 GewStG n.F.).  Bundesfinanzhof Pressestelle       Tel. (089) 9231-400 Pressesprecher  Tel. (089) 9231-300 Siehe auch: III R 19/21
1. Die Überlassung relativ unwesentlichen Grundbesitzes an eine mit nur etwa 1/6000 beteiligte Genossin, den diese für ihren Gewerbebetrieb nutzt, steht auch dann der erweiterten Kürzung bei der Genossenschaft entgegen, wenn der von ihrem Betrieb erzielte Gewerbeertrag den Freibetrag des § 11 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 GewStG nicht erreicht.2. Eine Gesamtbetrachtung, wonach das Zusammenkommen mehrerer "Bagatellaspekte" die Nichtanwendung des § 9 Nr. 1 Satz 5 Nr. 1 GewStG rechtfertigt, obwohl diese für sich --einzeln genommen-- die Nichtanwendung der Vorschrift nicht rechtfertigen würden, scheidet aus. Tenor Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts Düsseldorf vom 22.04.2021 - 9 K 2652/19 G,F aufgehoben.Die Klage wird abgewiesen.Die Kosten des gesamten Verfahrens hat die Klägerin zu tragen. Tatbestand I.Streitig ist die erweiterte Kürzung des Gewerbeertrags (§ 9 Nr. 1 Satz 2 des Gewerbesteuergesetzes --GewStG--) der Klägerin und Revisionsbeklagten (Klägerin), einer eingetragenen Genossenschaft.Die Klägerin war in den Streitjahren (2014 bis 2016) ausschließlich mit der Vermietung von Grundstücken befasst, und zwar sowohl von Wohnungen als auch gewerblich genutzten Flächen. Einer ihrer gewerblichen Mieter (B) hatte seit dem Sommer 2012 von der Klägerin Räume gemietet, in denen sie ein Einzelhandelsgeschäft betrieb. Mit diesem Gewerbe erzielte B Gewinne, die den gewerbesteuerlichen Freibetrag des § 11 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 GewStG nicht erreichten.Im Jahre 2014 trat B an die Klägerin mit dem Wunsch heran, eine Wohnung für sich zu mieten. Sie wurde darauf verwiesen, dass die Klägerin nach ihrer Satzung Wohnungen "in erster Linie" an ihre Genossenschaftsmitglieder vermiete. B erwarb daraufhin am ...12.2014 (Datum der Zustimmung zur Beitrittserklärung) einen Geschäftsanteil von ... €. Am ...01.2015 wurde ihr von der Klägerin eine Wohnung überlassen.Die Klägerin hatte am 31.12.2016 fast 6 000 Mitglieder; in den Jahren davor waren es ähnlich viele. Der Anteil der Mieterin B an der Genossenschaft betrug am 31.12.2016, beruhend auf ihrer für ... € erworbenen Mitgliedschaft, lediglich 0,0168 %. Außer B waren keine weiteren gewerblichen Mieter als Genossen beteiligt.Die Klägerin hatte laufend Anträge auf die sog. erweiterte Kürzung ihres Gewerbeertrags nach § 9 Nr. 1 Satz 2 GewStG gestellt. Der Beklagte und Revisionskläger (Finanzamt --FA--) vertrat im Anschluss an eine Betriebsprüfung unter Verweis auf das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 07.04.2005 - IV R 34/03 (BFHE 209, 133, BStBl II 2005, 576) die Auffassung, das gesetzliche Merkmal des "Dienens" des Grundbesitzes für Zwecke des Gewerbebetriebes einer Genossin sei objektiv erfüllt worden. Auch ein sog. Zwergenanteil wie im Falle der Mieterin B stehe der erweiterten Kürzung des Gewerbeertrags nach § 9 Nr. 1 Satz 2 GewStG wegen § 9 Nr. 1 Satz 5 Nr. 1 GewStG entgegen.Die Einsprüche der Klägerin gegen die aufgrund der Betriebsprüfung am 19.02.2019 ergangenen Gewerbesteuer-Messbescheide für 2014 bis 2016 und die gesonderten Feststellungen der vortragsfähigen Gewerbeverluste auf den 31.12.2014 bis 31.12.2016 wurden als unbegründet zurückgewiesen.Zur Begründung ihrer dagegen gerichteten Klage trug die Klägerin vor, der Genossenschaftsanteil der B habe allein mit der Wohnungsüberlassung in Zusammenhang gestanden. Eine Verweigerung der Mitgliedschaft wie auch der Wohnungsvermietung zwecks Vermeidung etwaiger gewerbesteuerlicher Nachteile sei wegen des aus § 2 Abs. 1 Nr. 8 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes folgenden Diskriminierungsverbots nicht möglich gewesen. Der Genossenschaftsanteil habe nicht dem Gewerbe der Mieterin gedient und sei deshalb von ihr auch nicht als Betriebsvermögen behandelt worden. Als Genossin sei B auch keine Mitunternehmerin gewesen. Außerdem habe sie wegen ihrer geringfügigen Beteiligung keinen Einfluss auf ihren --der Klägerin-- Betrieb nehmen können; es habe sich um eine einflusslose "Mini-Beteiligung" gehandelt. Da B ein Kleingewerbe betreibe, bei dem keine Gewerbesteuer angefallen sei, sei der Sinn und Zweck der Einschränkung des § 9 Nr. 1 Satz 5 Nr. 1 GewStG nicht erfüllt.Die Klage hatte Erfolg. Das Finanzgericht (FG) entschied, bei einer Genossenschaft, die neben Wohnungen auch gewerblich genutzte Flächen vermiete, sei eine erweiterte Kürzung des Gewerbeertrags auch dann vorzunehmen, wenn deren Grundbesitz zu einem Teil dem Gewerbebetrieb einer Genossin diene, die zu weniger als 1 % an der Genossenschaft beteiligt sei, dieser Beteiligung nur geringe Bedeutung zukomme und die Genossin selbst keiner Gewerbesteuerbelastung ausgesetzt sei. § 9 Nr. 1 Satz 5 GewStG bedürfe bei einer derartigen Bagatellbeteiligung einer Einschränkung.Das FA rügt die Verletzung materiellen Bundesrechts.Das FA beantragt,unter Aufhebung des Urteils vom 22.04.2021 die Klage als unbegründet abzuweisen.Die Klägerin beantragt,die Revision als unbegründet zurückzuweisen. Gründe II.Die Revision des FA ist begründet; sie führt zur Aufhebung des FG-Urteils und Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG hat zu Unrecht angenommen, dass der Klägerin die erweiterte Kürzung nach § 9 Nr. 1 Satz 2 i.V.m. Satz 5 GewStG zu gewähren ist.1. Die Klägerin erfüllt unstreitig die in § 9 Nr. 1 Satz 2 GewStG normierten Voraussetzungen der sog. erweiterten Kürzung, da sie ausschließlich eigenen Grundbesitz oder neben eigenem Grundbesitz eigenes Kapitalvermögen verwaltet und nutzt. Daher wäre nach dieser Vorschrift die Summe ihres Gewinns und der Hinzurechnungen aufgrund ihrer Anträge nicht lediglich gemäß § 9 Nr. 1 Satz 1 GewStG um einen Hundertsatz vom Einheitswert, sondern um den Teil des Gewerbeertrags zu kürzen, der auf die Verwaltung und Nutzung des eigenen Grundbesitzes entfällt (BFH-Urteil vom 18.04.2000 - VIII R 68/98, BFHE 192, 100, BStBl II 2001, 359).2. Der erweiterten Kürzung steht jedoch § 9 Nr. 1 Satz 5 Nr. 1 GewStG entgegen, da die Klägerin einen Teil ihres Grundbesitzes an eine ihrer Genossinnen vermietet, den diese für ihren Gewerbebetrieb nutzt.a) Die Inanspruchnahme der erweiterten Kürzung ist nach § 9 Nr. 1 Satz 5 Nr. 1 GewStG ausgeschlossen, wenn der Grundbesitz ganz oder zum Teil dem Gewerbebetrieb eines Gesellschafters oder Genossen dient. Die Vorschrift stellt eine Ausnahme von der Begünstigungsvorschrift des § 9 Nr. 1 Satz 2 GewStG dar. Sie beruht darauf, dass der Gesetzgeber in der Überlassung von Grundbesitz an einen Gesellschafter oder Genossen zu dessen gewerblichen Zwecken keine reine Vermögensverwaltung mehr sieht, weil bei einer Nutzung des Grundstücks im Gewerbebetrieb des Gesellschafters oder Genossen ohne Zwischenschaltung eines weiteren Rechtsträgers die Grundstückserträge in den Gewerbeertrag einfließen und damit der Gewerbesteuer unterliegen würden (BFH-Urteile vom 17.01.2006 - VIII R 60/02, BFHE 213, 5, BStBl II 2006, 434, unter II.2.a; vom 15.04.1999 - IV R 11/98, BFHE 188, 412, BStBl II 1999, 532, und vom 26.10.1995 - IV R 35/94, BFHE 178, 572, BStBl II 1996, 76).b) An dieser Einschränkung scheitert das Begehren der Klägerin.aa) Die Genossin B hatte zum Grundbesitz der Klägerin gehörende Räume zur Erzielung gewerblicher Einkünfte gemietet. Der Grundbesitz diente mithin ihrem Gewerbebetrieb (vgl. BFH-Urteil vom 18.12.2014 - IV R 50/11, BFHE 248, 346, BStBl II 2015, 597, Rz 27; Güroff in Glanegger/Güroff, GewStG, 10. Aufl., § 9 Rz 33d).bb) Der Versagung der erweiterten Kürzung steht nicht entgegen, dass die Klägerin etwa 6 000 Genossen hat und die betragsmäßige Beteiligung und der Stimmenanteil der B äußerst geringfügig sind. Denn es ist ohne Bedeutung, in welchem Umfang der Gesellschafter oder Genosse an der Grundstücksgesellschaft beteiligt ist (BFH-Urteile vom 07.08.2008 - IV R 36/07, BFHE 223, 251, BStBl II 2010, 988, betreffend am Vermögen und Gewinn nicht beteiligten persönlich haftenden Gesellschafter, und in BFHE 209, 133, BStBl II 2005, 576, betreffend mit 5 % beteiligte Kommanditistin).Zwar zeigt sich, wie der BFH im Urteil in BFHE 209, 133, BStBl II 2005, 576 (unter II.2.c) ausgeführt hat, die Berechtigung des § 9 Nr. 1 Satz 5 Nr. 1 GewStG umso mehr, je größer der Anteil des Gesellschafters oder Genossen ist, der das Grundstück in seinem Gewerbebetrieb nutzt. Dem Gesetzgeber kann allerdings nicht verborgen geblieben sein, dass von der Versagung der erweiterten Kürzung auch Gesellschaften und Genossenschaften betroffen sind, an denen der das Grundstück nutzende Unternehmer nur einen geringen Anteil hält und/oder die einem Gesellschafter oder Genossen für dessen Gewerbebetrieb nur einen geringen Teil ihres Grundbesitzes überlassen. Der Gesetzgeber hat dies --offenbar zur Vermeidung von Abgrenzungsschwierigkeiten-- in Kauf genommen (im Ergebnis ebenso Roser in Lenski/Steinberg, Gewerbesteuergesetz, § 9 Nr. 1 Rz 195). Das BFH-Urteil in BFHE 209, 133, BStBl II 2005, 576 zieht insoweit eine Parallele zu dem seinerzeitigen strikten Ausschließlichkeitsgebot in § 9 Nr. 1 Satz 2 GewStG.Eine Geringfügigkeitsgrenze ist im Hinblick auf die geringe Beteiligung und den geringen Einfluss der B auf die Klägerin auch nicht aufgrund des verfassungsrechtlich gewährleisteten Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes) geboten. Auch ein Zwergenanteil erfüllt den Ausschlusstatbestand des § 9 Nr. 1 Satz 5 GewStG (Wagner in Wendt/Suchanek/Möllmann/Heinemann, GewStG, 2. Aufl., § 9 Nr. 1 Rz 123). Soweit erwogen wurde, eine Bagatellgrenze bei einer 1 %-Beteiligung zu ziehen (z.B. BFH-Urteil in BFHE 209, 133, BStBl II 2005, 576, unter II.; vgl. dazu --ablehnend-- Güroff in Glanegger/Güroff, a.a.O., § 9 Nr. 1 Rz 33), folgt der Senat dem nicht.cc) Die Nichtanwendbarkeit des § 9 Nr. 1 Satz 5 Nr. 1 EStG lässt sich auch nicht daraus herleiten, dass die Klägerin nur einen äußerst geringen Teil ihres Grundbesitzes an B vermietet hat.(1) Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 9 Nr. 1 Satz 5 Nr. 1 GewStG entfällt die erweiterte Kürzung insgesamt auch dann, wenn nur ein Teil des Grundbesitzes im Gewerbebetrieb des Gesellschafters genutzt wird. Der Gesetzgeber hat klar und eindeutig zum Ausdruck gebracht, dass er dem Einwand, der Grundbesitz diene nur zum Teil dem Gewerbebetrieb eines Gesellschafters oder Genossen, keine Bedeutung beimessen wollte (BFH-Urteil vom 26.06.2007 - IV R 9/05, BFHE 219, 173, BStBl II 2007, 893, unter II.4.b). Das bedeutet zugleich, dass es auf die Größe des vermieteten Grundstücksteils nicht ankommen kann, vielmehr ist "jede" (auch noch so geringe) Nutzung des Grundbesitzes im Gesellschafterinteresse schädlich (Herlinghaus, Entscheidungen der Finanzgerichte 2005, 1149). Die erweiterte Kürzung wurde dementsprechend auch versagt, wenn der Grundbesitz dem Gewerbebetrieb eines Gesellschafters nur für zwei Tage diente (BFH-Urteil vom 08.06.1978 - I R 68/75, BFHE 125, 187, BStBl II 1978, 505).Hiermit überschreitet der Gesetzgeber nicht die Grenzen seiner Gestaltungsfreiheit. Er vermeidet vielmehr eine Auseinandersetzung über den richtigen Maßstab für eine etwaige Unerheblichkeit des dem Gewerbebetrieb des Gesellschafters der Vermietungsgesellschaft dienenden Grundbesitzes (BFH-Urteile in BFHE 219, 173, BStBl II 2007, 893, unter II.4.b, und vom 05.03.2008 - I R 56/07, BFH/NV 2008, 1359, unter II.4.). Er darf bei der Ausgestaltung der Steuertatbestände dem Umstand Rechnung tragen, dass Steuergesetze in der Regel Massenvorgänge des Wirtschaftslebens betreffen, die daher, um praktikabel zu sein, Sachverhalte, an die sie dieselben steuerrechtlichen Folgen knüpfen, typisieren und dabei in weitem Umfang die Besonderheiten des Einzelfalls vernachlässigen müssen (Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 15.01.2008 - 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1, unter C.I.2.a aa und C.I.2.c, betreffend Gewerbesteuerfreiheit der Landwirte und Freiberufler).(2) Nichts anderes würde sich aus § 8 der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung (EStDV) ergeben, dessen Voraussetzungen --u.a. ein Wert des überlassenen Grundstücksteils von nicht mehr als 20.500 €-- das FG nicht festgestellt hat. § 8 EStDV regelt lediglich, dass die Behandlung als Betriebsvermögen im Ermessen des Gewerbetreibenden liegt, wenn ein eigenbetrieblich genutzter Grundstücksteil "von untergeordneter Bedeutung" ist. Die hieraus erzielten Pachterlöse wären indessen ungeachtet einer Anwendung des § 8 EStDV beim nutzenden Gewerbetreibenden Einkünfte aus Gewerbebetrieb und in dessen Gewerbeertrag einzubeziehen (Schmidt/Wacker, EStG, 41. Aufl., § 15 EStG Rz 593); daher besteht kein Anlass für eine erweiterte Kürzung (BFH-Urteil in BFHE 213, 5, BStBl II 2006, 434, unter II.2.b aa (1); Wendt, Finanz-Rundschau 2006, 556).dd) Das BFH-Urteil in BFHE 219, 173, BStBl II 2007, 893, unter II.4.b hat erwogen, ob der Wortlaut des § 9 Nr. 1 Satz 5 Nr. 1 GewStG eine Auslegung dahin erlaubt, dass das Grundstück bei einer äußerst geringen Beteiligung des Gesellschafters oder Genossen an der mietenden Gesellschaft nicht "dem Gewerbebetrieb eines Gesellschafters dient". Der Senat lässt dahingestellt, ob er dem folgen könnte, denn eine derartige Bagatell-Betrachtung würde der Klägerin nichts nützen, da B als Einzelunternehmerin tätig war.ee) Von der Anwendung des § 9 Nr. 1 Satz 5 GewStG ist auch nicht abzusehen, weil der von B erzielte Gewerbeertrag den Freibetrag des § 11 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 GewStG nicht erreichte.(1) § 9 Nr. 1 Satz 5 GewStG ist zwar im Wege der teleologischen Reduktion in der Weise einzuschränken, dass dem Grundstücksunternehmen die erweiterte Kürzung des Gewerbeertrags nach § 9 Nr. 1 Satz 2 GewStG auch dann zu gewähren ist, wenn das überlassene Grundstück dem Gewerbebetrieb eines Gesellschafters oder Genossen dient, der mit den gesamten (positiven wie negativen) Einkünften von der Gewerbesteuer befreit ist (BFH-Urteil in BFHE 219, 173, BStBl II 2007, 893). Das trifft auf den Gewerbebetrieb der B indessen nicht zu.(2) Diese Ausnahme kann aber nicht auf den Fall erstreckt werden, dass der mietende Gewerbebetrieb zwar nicht von der Gewerbesteuer befreit ist, aber einen Gewerbeertrag von weniger als 24.500 € erwirtschaftet und daher als Personenunternehmen keine Gewerbesteuer schuldet (§ 11 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 GewStG).Angemerkt sei zunächst, dass aufgrund des Zwecks der erweiterten Kürzung dann nicht auf den tatsächlichen Gewerbeertrag des nutzenden Unternehmens abzustellen wäre, sondern darauf, ob dieser auch ohne den Abzug der Miet- oder Pachtaufwendungen als Betriebsausgabe unter dem Freibetrag läge. Feststellungen dazu liegen nicht vor.Eine derartige Ausnahme verbietet sich aber, weil der Grundbesitz dann bei ansonsten gleichbleibenden Verhältnissen infolge zufällig schwankender Gewinne des mietenden Unternehmens in einigen Jahren i.S. von § 9 Nr. 1 Satz 5 Nr. 1 GewStG dem Gewerbebetrieb eines Gesellschafters oder Genossen dienen würde, in anderen aber nicht. Mit dem Begriff des "Dienens" ließe sich das nicht vereinbaren.Die weitere --für die Praxis kaum handhabbare-- Folge einer derartigen Ausnahme bestünde darin, dass Änderungen der Gewerbesteuer-Messbescheide des mietenden Unternehmens zu Folgeänderungen bei dem Grundstücksunternehmen führen müssten; Erhöhungen oder Minderungen des Gewerbeertrags z.B. infolge einer Gewinnverlagerung bei dem nutzenden Unternehmen --etwa infolge einer Betriebsprüfung-- könnten die Änderung der Gewährung oder Versagung der erweiterten Kürzung des Grundstücksunternehmens nach sich ziehen.ff) Der Senat verkennt nicht, dass die am Gesetzeswortlaut orientierte Rechtsprechung zur erweiterten Kürzung zu mitunter als unbillig empfundenen Ergebnissen führt. Dies gilt insbesondere im Streitfall, der durch die Überlassung relativ unwesentlichen Grundbesitzes an eine mit nur etwa 1/6000 beteiligte Genossin sowie dadurch geprägt ist, dass die Klägerin den Sachverhalt nach ihrer plausiblen Darlegung nicht ohne Weiteres "reparieren" kann. Die gewerbesteuerlichen Nachteile der Klägerin stehen auch ersichtlich in einem groben Missverhältnis zur wirtschaftlichen Bedeutung der Überlassung der Geschäftsräume an B.Der Senat sieht indessen keine rechtliche Grundlage für die vom FG angestellte Gesamtbetrachtung, wonach das Zusammenkommen mehrerer "Bagatellaspekte" die Nichtanwendung des § 9 Nr. 1 Satz 5 Nr. 1 GewStG rechtfertigt, obwohl diese für sich --einzeln genommen-- die Nichtanwendung der Vorschrift nicht rechtfertigen würden.Eine Abhilfe könnte letztlich nur durch den Gesetzgeber bewirkt werden, wie dies z.B. bereits im Hinblick auf das Ausschließlichkeitsgebot des § 9 Abs. 1 Satz 2 GewStG durch das Fondsstandortgesetz geschehen ist (vgl. § 9 Nr. 1 Satz 3 GewStG n.F.).3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 142 Abs. 1, § 135 Abs. 2 FGO.
bundesfinanzhof
bfh_001-21
07. Januar 2021
Das steuerliche Abzugsverbot für die sog. Bankenabgabe ist verfassungsmäßig 07. Januar 2021 - Nummer 001/21 - Urteil vom 01.07.2020 XI R 20/18 Der Bundesfinanzhof (BFH) hat durch Urteil vom 01.07.2020 - XI R 20/18 entschieden, dass das die Jahresbeiträge nach § 12 Abs. 2 des Restrukturierungsfondsgesetzes (RStruktFG) a.F. (sog. Bankenabgabe) betreffende Betriebsausgabenabzugsverbot in § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 13 des Einkommensteuergesetzes (EStG) jedenfalls für Beitragsjahre bis einschließlich 2014 verfassungsgemäß und mit Unionsrecht vereinbar ist. Nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 13 EStG sind die Jahresbeiträge nach § 12 Abs. 2 RStruktFG solche Be-triebsausgaben, die den Gewinn nicht mindern dürfen. Mit dem RStruktFG verfolgte der Gesetzgeber die Absicht, den Bankenbereich nach der Finanzmarktkrise des Jahres 2009 zu stabilisieren. Es sah die Einrichtung eines die Restrukturierungsmaßnahmen finanziell abstützenden Restrukturierungsfonds vor, dessen finanzielle Grundlage durch eine jährliche Abgabe der Banken geschaffen werden sollte. Die Höhe der Jahresbeiträge richtete sich nach den sog. systemischen Risiken der bankspezifischen Tätigkeit des einzelnen Kreditinstituts. Das zugleich eingeführte Betriebsausgabenabzugsverbot sollte die Wirkung der sog. Bankenabgabe, die ab dem Jahr 2015 unionsrechtlich verankert ist, verstärken. Im Streitfall setzte die Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung gegenüber der Bank einen Jahresbeitrag nach § 12 Abs. 2 RStruktFG a.F. für die Zeit vom 01.01.2014 bis 31.12.2014 bestandskräftig fest. Das Finanzamt behandelte diesen Aufwand nicht als gewinnmindernd. Weder Einspruch noch Klage hatten Erfolg. Der BFH wies die Revision der Klägerin als unbegründet zurück. Das Betriebsausgabenabzugsverbot in § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 13 EStG sei nicht verfassungswidrig. Es verstoße insbesondere nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes. Zwar schränke das Betriebsausgabenabzugsverbot das sog. objektive Nettoprinzip - die steuersystematische Grundentscheidung des Gesetzgebers, dass betrieblich veranlasste Aufwendungen bei der Einkommensermittlung abzugsfähig sein müssen - ein. Diese Einschränkung sei jedoch sachlich hinreichend begründet. Denn das Betriebsausgabenabzugsverbot sei von der erkennbaren gesetzgeberischen Entscheidung getragen, eine steuerliche Zusatzbelastung für risikobehaftete Geschäftsmodelle der Banken zu schaffen. Die Jahresbeiträge i.S. des § 12 Abs. 2 Satz 1 RStruktFG a.F. hätten auch dazu gedient, risikobehaftete Geschäftsmodelle zu minimieren. Der Lenkungsdruck wäre allerdings entschärft worden, hätten die Kreditinstitute die Jahresbeiträge durch eine steuerliche Entlastung teilweise gegenfinanzieren können. Nach dem Urteil des BFH ist der mit dem Betriebsausgabenabzugsverbot verfolgte Lenkungszweck auch gleichheitsgerecht und verhältnismäßig ausgestaltet. Bundesfinanzhof Pressestelle         Tel. (089) 9231-400 Pressesprecher    Tel. (089) 9231-300 Siehe auch: XI R 20/18
1. Die Organgesellschaft einer körperschaftsteuerrechtlichen Organschaft ist als Adressatin des Bescheides über die gesonderte und einheitliche Feststellung des dem Organträger zuzurechnenden Einkommens beschwert und (ebenfalls) klagebefugt.2. Das die Jahresbeiträge nach § 12 Abs. 2 RStruktFG a.F. (sog. Bankenabgabe) betreffende Betriebsausgabenabzugsverbot in § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 13 EStG ist --jedenfalls für Beitragsjahre bis einschließlich 2014-- verfassungsgemäß und mit Unionsrecht vereinbar. Tenor Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Finanzgerichts Münster vom 21.03.2018 - 9 K 3187/16 F wird als unbegründet zurückgewiesen.Die Kosten des Revisionsverfahrens hat die Klägerin zu tragen. Tatbestand A.Streitig ist, ob das die Jahresbeiträge nach § 12 Abs. 2 des Gesetzes zur Errichtung eines Restrukturierungsfonds für Kreditinstitute (Restrukturierungsfondsgesetz --RStruktFG--) --sog. Bankenabgabe-- betreffende Betriebsausgabenabzugsverbot in § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 13 des Einkommensteuergesetzes in der im Jahr 2014 (Streitjahr) geltenden Fassung (EStG) verfassungsgemäß ist.Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), eine AG, ist infolge Verschmelzung (Stichtag 01.01.2018) Rechtsnachfolgerin der X-Bank. Zwischen der X-Bank als Organgesellschaft und der Z-Bank als Organträgerin bestand im Streitjahr eine ertragsteuerrechtliche Organschaft. Die Z-Bank ist zwischenzeitlich auf ihre Rechtsnachfolgerin, die "..." (Beigeladene) verschmolzen worden.Am 07.08.2014 setzte die Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung gegenüber der X-Bank den Jahresbeitrag nach § 12 Abs. 2 des im Rahmen des Gesetzes zur Restrukturierung und geordneten Abwicklung von Kreditinstituten, zur Errichtung eines Restrukturierungsfonds für Kreditinstitute und zur Verlängerung der Verjährungsfrist der aktienrechtlichen Organhaftung (Restrukturierungsgesetz) vom 09.12.2010 (BGBl I 2010, 1900) ergangenen RStruktFG in der hier maßgeblichen Fassung des Dritten Gesetzes zur Umsetzung eines Maßnahmenpakets zur Stabilisierung des Finanzmarktes (Drittes Finanzmarktstabilisierungsgesetz) vom 20.12.2012 (BGBl I 2012, 2777; --RStruktFG a.F.--) für die Zeit vom 01.01.2014 bis 31.12.2014 unter Berücksichtigung der Zumutbarkeitsgrenze i.S. des § 3 Abs. 1 der Verordnung über die Erhebung der Beiträge zum Restrukturierungsfonds für Kreditinstitute (Restrukturierungsfonds-Verordnung) i.d.F. vom 26.06.2012 (RStruktFV a.F.) auf ... € fest. Dieser Bescheid wurde bestandskräftig.Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) stellte im Bescheid vom 11.03.2016 über die gesonderte und einheitliche Feststellung des dem Organträger zuzurechnenden Einkommens der Organgesellschaft und damit zusammenhängender anderer Besteuerungsgrundlagen nach § 14 Abs. 5 des Körperschaftsteuergesetzes (KStG) für 2014 das dem Organträger für das Streitjahr zuzurechnende Einkommen der Organgesellschaft gesondert und einheitlich fest. Der Feststellungsbescheid wurde sowohl der X-Bank als auch der Z-Bank bekannt gegeben. Der Jahresbeitrag nach § 12 Abs. 2 RStruktFG a.F. wurde bei der Einkommensermittlung als gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 13 EStG nicht abzugsfähiger Aufwand behandelt.Der Einspruch der X-Bank hatte keinen Erfolg (Teil-Einspruchsentscheidung vom 09.09.2016). Über den zugleich eingelegten Einspruch der Beigeladenen hat das FA bisher nicht entschieden.Das Finanzgericht (FG) Münster wies die Klage mit seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2018, 1350 veröffentlichten Urteil vom 21.03.2018 - 9 K 3187/16 F als unbegründet ab. Das Betriebsausgabenabzugsverbot in § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 13 EStG sei verfassungsgemäß. Es verstoße weder gegen den Gleichheitssatz i.S. des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) noch gegen Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 14 GG oder das Übermaßverbot und verletze ebenso wenig das unionsrechtliche Beihilfeverbot i.S. des Art. 107 Abs. 1 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Die Durchbrechung des objektiven Nettoprinzips werde durch den spezifischen Lenkungszweck, systemische Risiken im Finanzsektor zu reduzieren, in einem verfassungsrechtlich ausreichenden Maße getragen.Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung sowohl materiellen als auch formellen Rechts.Sie macht im Wesentlichen geltend, das Abzugsverbot verstoße gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Die Durchbrechung des sog. objektiven Nettoprinzips sei nicht durch sachliche Gründe, insbesondere nicht durch außerfiskalische Lenkungsziele, gerechtfertigt. Das Abzugsverbot entfalte jedenfalls insoweit keine Lenkungswirkung, als die betroffene Bank --wie sie, die Klägerin, als Pfandbriefbank-- ihr Geschäftsmodell nicht grundlegend anpassen könne. Es verstoße gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wenn durch die sog. Bankenabgabe nur eine minimale Lenkung bewirkt werden könne. Zudem sei eine Lenkung in den Fällen ausgeschlossen, in denen die Zumutbarkeitsgrenze i.S. des § 3 Abs. 1 RStruktFV a.F. zu einer Kappung der sog. Bankenabgabe führe.Die Klägerin rügt ferner, das FG habe den Sachverhalt unzureichend ermittelt und es unterlassen, die entscheidungserheblichen Gesichtspunkte im Zusammenhang mit der Lenkungswirkung der sog. Bankenabgabe sachverständig aufzuklären.Die Klägerin beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und den Bescheid für 2014 vom 11.03.2016 über die gesonderte und einheitliche Feststellung des dem Organträger zuzurechnenden Einkommens der Organgesellschaft und damit zusammenhängender anderer Besteuerungsgrundlagen nach § 14 Abs. 5 KStG in Gestalt der Teil-Einspruchsentscheidung vom 09.09.2016 dahingehend zu ändern, dass die Jahresbeiträge i.S. des § 12 Abs. 2 RStruktFG a.F. in Höhe von ... € als abzugsfähige Betriebsausgaben bei der Ermittlung des dem Organträger zuzurechnenden Einkommens berücksichtigt werden.Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.Das Bundesministerium der Finanzen ist gemäß § 122 Abs. 2 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) dem Revisionsverfahren beigetreten. Einen eigenen Antrag hat es nicht gestellt.Die Beigeladene hat im Revisionsverfahren weder eine Stellungnahme abgegeben noch Anträge gestellt. Gründe B.Die Revision ist unbegründet und deshalb gemäß § 126 Abs. 2 FGO zurückzuweisen.Das FG hat die zulässige Klage zu Recht als unbegründet abgewiesen. Die Einkommensermittlung im angefochtenen Feststellungsbescheid entspricht --was auch die Klägerin nicht anders sieht-- den gesetzlichen Vorgaben. Wie schon die Vorinstanz ist auch der erkennende Senat nicht davon überzeugt, dass die im Streitfall über § 8 Abs. 1 Satz 1 KStG zur Anwendung kommende Regelung des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 13 EStG, nach der die Jahresbeiträge gemäß § 12 Abs. 2 RStruktFG das steuerliche Einkommen nicht mindern dürfen, verfassungswidrig ist. Die Voraussetzungen für eine Aussetzung des Verfahrens und die Einholung einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) gemäß Art. 100 Abs. 1 GG sind daher nicht gegeben.I. Das FG ist ohne Rechtsfehler davon ausgegangen, dass die Klage zulässig ist. Denn die Organgesellschaft einer körperschaftsteuerrechtlichen Organschaft ist als Adressatin des Bescheides nach § 14 Abs. 5 KStG beschwert i.S. des § 40 Abs. 2 FGO.1. Nach § 14 Abs. 5 Satz 1 KStG werden das dem Organträger zuzurechnende Einkommen der Organgesellschaft und damit zusammenhängende andere Besteuerungsgrundlagen gegenüber dem Organträger und der Organgesellschaft gesondert und einheitlich festgestellt. Die Feststellungen sind für die Besteuerung des Einkommens des Organträgers und der Organgesellschaft bindend (§ 14 Abs. 5 Satz 2 KStG).2. Zwar wirkt sich die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Regelung des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 13 EStG im Ergebnis allein bei der Rechtsvorgängerin der Beigeladenen, der Organträgerin, aus. Dieser wurde das Einkommen der Klägerin für das Streitjahr zugerechnet. Es besteht jedoch --wie das FG zutreffend erkannt hat-- eine parallele Rechtsschutzbefugnis von Organgesellschaft und Organträgerin.a) § 14 Abs. 5 Satz 2 KStG legt ausdrücklich fest, dass die Feststellungen für die Besteuerung auch der Organgesellschaft bindend sind, ohne nach dem Inhalt der Feststellungen zu differenzieren. Die Organgesellschaft ist Adressatin des Feststellungsbescheids. Sie ist infolge der Feststellungswirkung selbst durch den Feststellungsbescheid beschwert und somit berechtigt, Einspruch einzulegen (vgl. R 14.6 Abs. 6 Satz 2 der Körperschaftsteuer-Richtlinien 2015) und Klage zu erheben (vgl. Dötsch in Dötsch/Pung/Möhlenbrock, KStG, § 14 Rz 1143; Dorenkamp in Herrmann/Heuer/Raupach --HHR--, § 14 KStG Rz 380; Drüen in Prinz/Witt, Steuerliche Organschaft, 2. Aufl., Rz 4.54; Müller in Mössner/Seeger/Oellerich, KStG, 4. Aufl., § 14 Rz 765; Streck/Olbing, KStG, 9. Aufl., § 14 Rz 173; Rödder/Liekenbrock in Rödder/Herlinghaus/ Neumann, KStG, § 14 Rz 769; Brinkmann, Die steuerliche Betriebsprüfung, 2016, 189, 198; Seer in Tipke/Kruse, § 350 AO Rz 12, m.w.N.; Frotscher in Frotscher/Drüen, Kommentar zum KStG/GewStG/UmwStG, § 14 KStG Rz 946; a.A. Bartone in Gosch, AO § 350 Rz 15; Gosch/Neumann, KStG, 4. Aufl., § 14 Rz 529g; Teiche, Deutsches Steuerrecht --DStR-- 2013, 2197).b) Eine Rechtsschutzkonzentration auf den Organträger ist § 14 Abs. 5 KStG nicht zu entnehmen; sie bedürfte zudem der besonderen gesetzlichen Anordnung durch Erweiterung von § 352 der Abgabenordnung (AO) und § 48 FGO, um § 350 AO und § 40 Abs. 1 FGO einzuschränken (vgl. Drüen in Prinz/Witt, a.a.O., Rz 4.54). Daran fehlt es. Vielmehr steht nach der Begründung des Gesetzentwurfs (BTDrucks 17/10774, 20) die Möglichkeit, den gesonderten und einheitlichen Feststellungsbescheid i.S. des § 14 Abs. 5 Satz 1 KStG anzufechten, sowohl dem Organträger als auch der Organgesellschaft zu. Aus den dort durch den Klammerzusatz "(vgl. im Übrigen § 352 AO und § 48 [FGO])" in Bezug genommenen Regelungen über die Einspruchs- bzw. Klagebefugnis gegen Bescheide über die einheitliche und gesonderte Feststellung von Besteuerungsgrundlagen ergibt sich nichts Abweichendes. Denn die Voraussetzungen, die eine Einschränkung der Rechtsbehelfsbefugnis bei gesonderter und einheitlicher Feststellung von Besteuerungsgrundlagen auslösen, sind in einem Fall wie dem vorliegenden jedenfalls nicht erfüllt; dies gilt auch hinsichtlich der Einschränkungen im Falle eines gemeinsamen Empfangsbevollmächtigten.II. Die Revision ist jedoch unbegründet. Das FG hat zu Recht entschieden, dass der von der Klägerin angefochtene Feststellungsbescheid i.S. des § 14 Abs. 5 Satz 1 KStG rechtmäßig ist.1. Nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 13 EStG sind die Jahresbeiträge nach § 12 Abs. 2 RStruktFG Betriebsausgaben, die den Gewinn nicht mindern dürfen.a) Mit dem im Rahmen des Restrukturierungsgesetzes ergangenen RStruktFG verfolgte der Gesetzgeber die Absicht, den Bankenbereich nach der Finanzmarktkrise der Jahre 2009 und 2010 zu stabilisieren.Das RStruktFG sah dabei die Einrichtung eines die Restrukturierungsmaßnahmen finanziell abstützenden Restrukturierungsfonds vor, dessen finanzielle Grundlage durch eine jährliche Abgabe der Banken geschaffen werden sollte (vgl. auch Kube, DStR 2016, 572). Die Kreditwirtschaft hatte daher zur Bekämpfung künftiger Krisen und zur Restrukturierung systemrelevanter Banken finanzielle Mittel bereitzustellen (vgl. BTDrucks 17/3024, 42). Mit den Beiträgen sollten ferner Bankgeschäfte gezielt verteuert werden, die systemische Risiken bergen, um Banken einen Anreiz zu geben, dieses Risiko zu senken (vgl. BTDrucks 17/3024, 73 f.). Die beitragspflichtigen Kreditinstitute waren nach § 12 Abs. 2 Satz 1 RStruktFG a.F. verpflichtet, jeweils zum 30.09. eines Kalenderjahres Jahresbeiträge, erstmalig zum 30.09.2011, an den Restrukturierungsfonds zu entrichten. Diese Beiträge sind --verfassungsgemäße-- Sonderabgaben mit Finanzierungsfunktion (vgl. Hessischer Verwaltungsgerichtshof --Hess. VGH--, Urteile vom 30.07.2014 - 6 A 1079/13, juris, Rz 57; vom 19.11.2014 - 6 A 2180/13, Wertpapier-Mitteilungen/Zeitschrift für Wirtschafts- und Bankrecht --WM-- 2015, 434, Rz 62). Sie knüpften an die volkswirtschaftliche Relevanz der Finanzinstitute für ein geordnetes und allen Wirtschaftssubjekten zu Gute kommendes Finanzsystem an und beabsichtigen dessen Stabilität (vgl. Hess. VGH, Urteil in WM 2015, 434, Rz 62).Die Jahresbeiträge i.S. des § 12 Abs. 2 Satz 1 RStruktFG a.F. sollten sich nach den systemischen Risiken des einzelnen Kreditinstituts bemessen. Ihre Höhe richtete sich gemäß § 12 Abs. 10 Satz 3 RStruktFG a.F. nach dem Geschäftsvolumen, der Größe und der Vernetzung des beitragspflichtigen Kreditinstituts im Finanzmarkt; hierbei war die Summe der eingegangenen Verbindlichkeiten und der Umfang der noch nicht abgewickelten Termingeschäfte maßgebend. Diese sog. Bankenabgabe ermittelte sich nach § 12 Abs. 10 Satz 2 RStruktFG a.F. i.V.m. § 1 Abs. 2 Satz 1 RStruktFV a.F. auf der Grundlage des zuletzt festgestellten Jahresabschlusses des Kreditinstituts aus der Kombination der um einige risikoarme Posten bereinigten Passivseite der Institutsbilanz und der Summe der gehaltenen Derivate (vgl. auch Haarmann, Jahrbuch der Fachanwälte für Steuerrecht --JbFSt-- 2016/2017, 300).b) Das zugleich (mit Wirkung für nach dem 30.09.2010 beginnende Wirtschaftsjahre) eingeführte Betriebsausgabenabzugsverbot in § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 13 EStG, das die Wirkung der sog. Bankenabgabe verstärken sollte (vgl. BTDrucks 17/3024, 83; Schön/Hellgardt/Osterloh-Konrad, WM 2010, 2193; s.a. HHR/Stapperfend, § 4 EStG Rz 1895; Blümich/Drüen, § 4 EStG Rz 924a), erfasste die Jahresbeiträge nach § 12 Abs. 2 RStruktFG a.F. Die nur anlassbezogen zu entrichtenden Sonderbeiträge i.S. des § 12 Abs. 3 RStruktFG a.F. fielen dagegen nicht unter dieses Abzugsverbot; diese Beiträge konnten als Betriebsausgaben abgezogen werden (vgl. z.B. Schmidt/Loschelder, EStG, 39. Aufl., § 4 Rz 615; Blümich/Drüen, § 4 EStG Rz 924b).c) Der Streitfall betrifft § 12 Abs. 2 RStruktFG a.F. und damit die inzwischen überholte Rechtslage einer ausschließlich nationalrechtlich ausgestalteten sog. Bankenabgabe. Das Abzugsverbot in § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 13 EStG gilt nach Wortlaut und Systematik aber auch für die --den Streitfall nicht betreffende und ab dem Jahr 2015 nunmehr unionsrechtlich determinierte-- sog. Bankenabgabe i.S. des § 12 Abs. 2 RStruktFG n.F. (vgl. nur Schmidt/Loschelder, a.a.O., § 4 Rz 615; Blümich/Drüen, § 4 EStG Rz 924a; Haarmann, JbFSt 2016/2017, 300; Kube, DStR 2016, 572; Oellerich, EFG 2018, 1355).2. Das Betriebsausgabenabzugsverbot in § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 13 EStG ist nicht verfassungswidrig. Es verstößt insbesondere nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG.a) Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebietet dem Gesetzgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln; er gilt für ungleiche Belastungen wie auch für ungleiche Begünstigungen (vgl. z.B. BVerfG-Beschlüsse vom 15.01.2008 - 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1, Rz 81; vom 08.05.2013 - 1 BvL 1/08, BVerfGE 134, 1, Rz 55; vom 19.11.2019 - 2 BvL 22/14, 2 BvL 23/14, 2 BvL 24/14, 2 BvL 25/14, 2 BvL 26/14, 2 BvL 27/14, BVerfGE 152, 274, Rz 95; jeweils m.w.N.).aa) Zwar ist es grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, diejenigen Sachverhalte auszuwählen, an die er dieselben Rechtsfolgen knüpft und die er so als rechtlich gleich qualifiziert. Diese Auswahl muss er jedoch sachgerecht treffen (vgl. z.B. BVerfG-Beschluss in BVerfGE 152, 274, Rz 95, m.w.N.). Genauere Maßstäbe und Kriterien dafür, unter welchen Voraussetzungen der Gesetzgeber den Gleichheitssatz verletzt, lassen sich nicht abstrakt und allgemein, sondern nur in Bezug auf die jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereiche bestimmen (vgl. z.B. BVerfG-Beschluss in BVerfGE 152, 274, Rz 96, m.w.N.). Dabei ergeben sich je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen aus dem allgemeinen Gleichheitssatz im Sinne eines stufenlosen am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierten Prüfungsmaßstabs unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen (vgl. z.B. BVerfG-Beschluss in BVerfGE 152, 274, Rz 96, m.w.N.). Differenzierungen bedürfen stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Differenzierungsziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind (vgl. z.B. BVerfG-Beschluss in BVerfGE 152, 274, Rz 96, m.w.N.).bb) Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG hat der Gesetzgeber im Bereich des Steuerrechts bei der Auswahl des Steuergegenstandes und bei der Bestimmung des Steuersatzes einen weitreichenden Entscheidungsspielraum (vgl. z.B. BVerfG-Beschlüsse vom 04.02.2009 - 1 BvL 8/05, BVerfGE 123, 1, Rz 55; vom 18.07.2012 - 1 BvL 16/11, BVerfGE 132, 179, Rz 32; in BVerfGE 152, 274, Rz 100; jeweils m.w.N.). Die grundsätzliche Freiheit des Gesetzgebers, diejenigen Sachverhalte zu bestimmen, an die das Gesetz dieselben Rechtsfolgen knüpft und die es so als rechtlich gleich qualifiziert, wird vor allem durch zwei eng miteinander verbundene Leitlinien begrenzt: Durch das Gebot der Ausrichtung der Steuerlast am Prinzip der finanziellen Leistungsfähigkeit und durch das Gebot der Folgerichtigkeit. Danach muss im Interesse verfassungsrechtlich gebotener steuerlicher Lastengleichheit darauf abgezielt werden, Steuerpflichtige bei gleicher Leistungsfähigkeit auch gleich hoch zu besteuern (horizontale Steuergerechtigkeit; vgl. z.B. BVerfG-Beschluss in BVerfGE 152, 274, Rz 99; Urteile des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 18.12.2019 - I R 29/17, BFHE 268, 21, BStBl II 2020, 690, Rz 12; jeweils m.w.N.; vom 27.05.2020 - XI R 9/19, BFHE 269, 138, DStR 2020, 2063, Rz 35).cc) Die für die Lastengleichheit im Einkommensteuerrecht maßgebliche finanzielle Leistungsfähigkeit bemisst der Gesetzgeber nach dem objektiven und dem subjektiven Nettoprinzip (vgl. z.B. BVerfG-Urteil vom 09.12.2008 - 2 BvL 1/07, 2 BvL 2/07, 2 BvL 1/08, 2 BvL 2/08, BVerfGE 122, 210, Rz 57, m.w.N.). Die Grundsätze der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit und damit das objektive Nettoprinzip gelten gleichermaßen im Bereich der Körperschaftsteuer (vgl. z.B. BVerfG-Beschluss vom 12.10.2010 - 1 BvL 12/07, BVerfGE 127, 224, Rz 57, m.w.N.; BFH-Urteile vom 22.08.2012 - I R 9/11, BFHE 238, 419, BStBl II 2013, 512, Rz 14; in BFHE 268, 21, BStBl II 2020, 690, Rz 12). Bei der Ausgestaltung des steuerrechtlichen Ausgangstatbestands muss die einmal getroffene Belastungsentscheidung folgerichtig im Sinne der Belastungsgleichheit umgesetzt werden. Ausnahmen von einer solchen folgerichtigen Umsetzung bedürfen eines besonderen sachlichen Grundes (vgl. z.B. BVerfG-Beschlüsse vom 21.06.2006 - 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164, Rz 70; in BVerfGE 123, 1, Rz 55; BVerfG-Urteil vom 10.04.2018 - 1 BvR 1236/11, BVerfGE 148, 217, BStBl II 2018, 303, Rz 105; BFH-Urteil in DStR 2020, 2063, Rz 35). Als besondere sachliche Gründe für Ausnahmen von einer folgerichtigen Umsetzung und Konkretisierung steuergesetzlicher Belastungsentscheidungen erkennt das BVerfG in ständiger Rechtsprechung neben außerfiskalischen Förderungs- und Lenkungszwecken (vgl. dazu BFH-Urteil in DStR 2020, 2063, Rz 36, m.w.N.) auch Typisierungs- und Vereinfachungserfordernisse an, nicht jedoch den rein fiskalischen Zweck staatlicher Einnahmenerhöhung (vgl. z.B. BVerfG-Urteil in BVerfGE 122, 210, Rz 58 ff.; BFH-Urteil in BFHE 268, 21, BStBl II 2020, 690, Rz 12; jeweils m.w.N.).dd) Der Steuergesetzgeber ist grundsätzlich nicht gehindert, außerfiskalische Förderungs- und Lenkungsziele aus Gründen des Gemeinwohls zu verfolgen (vgl. BVerfG-Urteil in BVerfGE 122, 210, Rz 59, m.w.N.). Er darf nicht nur durch Ge- und Verbote, sondern ebenso durch mittelbare Verhaltenssteuerung auf Wirtschaft und Gesellschaft gestaltend Einfluss nehmen. Der Bürger wird dann nicht rechtsverbindlich zu einem bestimmten Verhalten verpflichtet, erhält aber durch Sonderbelastung eines unerwünschten Verhaltens oder durch steuerliche Verschonung eines erwünschten Verhaltens ein finanzwirtschaftliches Motiv, sich für ein bestimmtes Tun oder Unterlassen zu entscheiden (vgl. BVerfG-Urteil in BVerfGE 122, 210, Rz 59, m.w.N.). Förderungs- und Lenkungsziele sind jedoch nur dann geeignet, rechtfertigende Gründe für steuerliche Belastungen oder Entlastungen zu liefern, wenn solche Förderungs- und Lenkungsziele von erkennbaren gesetzgeberischen Entscheidungen getragen werden (vgl. BVerfG-Urteil in BVerfGE 122, 210, Rz 59, m.w.N.). Weiterhin muss der Förderungs- und Lenkungszweck gleichheitsgerecht ausgestaltet sein (vgl. BVerfG-Urteil in BVerfGE 122, 210, Rz 59, m.w.N.).b) Das Betriebsausgabenabzugsverbot des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 13 EStG schränkt das objektive Nettoprinzip ein. Denn der systematischen Grundentscheidung des Gesetzgebers, dass betrieblich veranlasste Aufwendungen steuerlich abzugsfähig sein müssen (vgl. z.B. BVerfG-Beschluss in BVerfGE 127, 224, Rz 57; BFH-Beschluss vom 14.10.2015 - I R 20/15, BFHE 252, 44, BStBl II 2017, 1240, Rz 15; jeweils m.w.N.), entspricht es nicht, wenn aufgrund des Betriebsausgabenabzugsverbots in § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 13 EStG betrieblicher Aufwand --die an die betriebliche Tätigkeit eines Kreditinstituts anknüpfende sog. Bankenabgabe-- als zur Einkommensermittlung nicht abziehbar qualifiziert und damit insoweit nicht das Nettoeinkommen des Unternehmens besteuert wird.c) Das FG hat aber zu Recht dahin erkannt, dass diese Einschränkung des objektiven Nettoprinzips (als Abweichung vom steuerrechtlichen Grundsatz der Folgerichtigkeit) sachlich hinreichend begründet ist (so im Ergebnis auch HHR/ Stapperfend, § 4 EStG Rz 1895; Watrin in Frotscher/Geurts, EStG, § 4 Rz 879a; Meurer in Lademann, EStG, § 4 EStG Rz 770k; Spilker in Kirchhof/ Söhn/Mellinghoff, EStG, § 4 Rz T 4; Kirchhof/Kulosa/Ratschow/Meyer, EStG, § 4 Rz 2833; Nacke in Littmann/Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, Kommentar, § 4 Rz 2063; Oellerich, EFG 2018, 1355; Vortmann, Entscheidungsanmerkungen zum Wirtschafts- und Bankrecht --WuB-- 2018, 645; eher unentschieden Schmidt/Loschelder, a.a.O., § 4 Rz 615; Maetz in Bordewin/Brandt, § 4 EStG Rz 3080; Bode in Kirchhof, EStG, 19. Aufl., § 4 Rz 234a; zweifelnd bis ablehnend Blümich/Drüen, § 4 EStG Rz 924a; Schön/Hellgardt/Osterloh-Konrad, WM 2010, 2193; Feyerabend/Behnes/Helios, Der Betrieb, Beilage 4/2011, 38, 44; Haarmann, JbFSt 2016/2017, 300; Kube, DStR 2016, 572, 575). Jedenfalls liegt eine rein fiskalisch begründete Einschränkung des objektiven Nettoprinzips, die keinen verfassungsrechtlich zulässigen Rechtfertigungsgrund darstellt (vgl. z.B. BVerfG-Urteil in BVerfGE 122, 210, Rz 58), nicht vor.aa) Der Begründung des Gesetzentwurfs zu § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 13 EStG (vgl. BTDrucks 17/3024, 83) ist ausdrücklich zu entnehmen, dass das Betriebsausgabenabzugsverbot in § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 13 EStG dazu beitragen soll, "systemische Risiken im Finanzsektor zu reduzieren". Es würden "Bankgeschäfte, von denen systemische Risiken ausgehen können, [...] gezielt belastet und damit verteuert (Internalisierung externer Effekte). Die Abgabe erhöht den Anteil der Refinanzierungskosten, der in besonderem Maße von der Bonitätseinschätzung der Marktteilnehmer abhängig ist. Dadurch wird die tatsächliche Risikotragfähigkeit des Kreditinstituts realistischer eingepreist und die Möglichkeit zur Geschäftsausweitung begrenzt. Diese Begrenzung der Möglichkeit zur Ausweitung des Geschäfts internalisiert einen Teil der Kosten der Risikovorsorge für das systemische Risiko. Durch eine Änderung der Geschäftspolitik können Kreditinstitute ihre Abgabenlast reduzieren. Damit wird durch die Beiträge eine vorsichtigere Geschäftspolitik gefördert. Die Jahresbeiträge können nur dann diese Lenkungswirkung, die über eine reine Finanzierungsfunktion hinausgeht, in vollem Umfang erreichen, wenn sie den Gewinn nicht als Betriebsausgaben mindern (Abzugsverbot). Die Sonderbeiträge nach § 12 Absatz 3 des Restrukturierungsfondsgesetzes haben hingegen vorrangig Finanzierungsfunktion."bb) Danach wird das Betriebsausgabenabzugsverbot in § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 13 EStG von der erkennbaren gesetzgeberischen Entscheidung getragen, eine steuerliche Zusatzbelastung für Geschäftsmodelle der Banken zu schaffen, die vom Gesetzgeber als risikobehaftet angesehen werden und die die Wahrscheinlichkeit einer "für den Steuerzahler teuren Bankenrettung" erhöhen. Der Gesetzgeber differenziert hinsichtlich des Betriebsausgabenabzugs außerdem zwischen den Sonderbeiträgen, die nach § 12 Abs. 3 Satz 2 RStruktFG a.F. nur erhoben werden sollten, soweit die in dem Restrukturierungsfonds angesammelten Mittel nicht zur Deckung der Kosten für die vorgesehenen Maßnahmen, Ausgleichsverpflichtungen und zu erstattenden Kosten ausreichten --die daher vorrangig Finanzierungsfunktion hatten, und den Gewinn als Betriebsausgaben mindern konnten--, sowie den Jahresbeiträgen, die i.S. des § 12 Abs. 2 Satz 1 RStruktFG a.F. als jährliche Abgabe nicht allein eine Finanzierungsfunktion zum Aufbau des Restrukturierungsfonds hatten, sondern auch dazu dienten, risikobehaftete Geschäftsmodelle zu minimieren. Hätten die Kreditinstitute die Jahresbeiträge i.S. des § 12 Abs. 2 Satz 1 RStruktFG a.F. durch eine steuerliche Entlastung teilweise gegenfinanzieren können, wäre hierdurch der Lenkungsdruck entschärft worden. Dieser dem Lenkungszweck entgegenwirkende Ausgleich wäre umso höher ausgefallen, je höher diese Beiträge und damit das systemische Risiko der Bank gewesen wären. Der Gesetzgeber ist damit davon ausgegangen, dass das außerfiskalische Lenkungsanliegen nur in vollem Umfang erreicht werden kann, wenn die sog. Bankenabgabe den steuerlichen Gewinn nicht mindert. Soweit dieser dem Betriebsausgabenabzug in § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 13 EStG zugrunde liegende Lenkungszweck in der Literatur als "vorgeschoben", in sich "widersprüchlich" und "unglaubwürdig" gesehen wird (vgl. Haarmann, JbFSt 2016/2017, 300, 311), vermag der Senat keine Anhaltspunkte zu erkennen, die diese Einordnung rechtfertigen würde.cc) Der mit dem Betriebsausgabenabzugsverbot verfolgte Lenkungszweck ist außerdem gleichheitsgerecht und verhältnismäßig ausgestaltet; § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 13 EStG ist zur Erreichung des verfolgten Zwecks geeignet, erforderlich und angemessen.(1) Das Betriebsausgabenabzugsverbot ist geeignet, die vom Gesetzgeber intendierte Lenkungswirkung zu entfalten (a.A. Kube, DStR 2016, 572; Haarmann, JbFSt 2016/2017, 300).(aa) Die Jahresbeiträge i.S. des § 12 Abs. 2 Satz 1 RStruktFG a.F. waren für das jeweilige Kreditinstitut nicht unausweichlich. Ihre Bemessungsgrundlage knüpfte an die Passivpositionen in den Bilanzen der Banken an (§ 12 Abs. 10 Satz 3 RStruktFG a.F.), nahm aber bestimmte Positionen, u.a. Verbindlichkeiten gegenüber Kunden und Eigenkapital (§ 12 Abs. 10 Satz 4 Nr. 1 und Nr. 4 RStruktFG a.F.), wieder aus. Das FG hat zutreffend erkannt, dass eine Bank durch Ausweitung der abgabenunschädlichen Positionen die Jahresbeiträge i.S. des § 12 Abs. 2 Satz 1 RStruktFG a.F. reduzieren konnte. Der Umstand, dass Kreditinstitute nach ihrem konkreten Zuschnitt nicht in der Lage waren oder aus wirtschaftlichen Gründen kein Interesse daran hatten, ihr Geschäftsmodell wegen der Jahresbeiträge i.S. des § 12 Abs. 2 Satz 1 RStruktFG a.F. umzugestalten, ändert daran nichts. Denn eine Lenkung mit Hilfe des Steuerrechts nimmt in Kauf, dass das Lenkungsziel nicht in jedem Fall erreicht wird; sie ist ein Instrument zur Annäherung an ein Ziel (vgl. BVerfG-Beschluss vom 07.11.2006 - 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1, Rz 99, m.w.N.). Daher kommt es auf die in der Praxis tatsächlich erreichte Lenkungswirkung nicht an, selbst wenn sie nur marginal gewesen wäre. Der Gesetzgeber wirkte zumindest auf die einzelnen Kreditinstitute ein, im Sinne einer Kosten-Nutzenrechnung zu erwägen, inwieweit als problematisch betrachtete Geschäftsfelder weiter betrieben oder ausgebaut werden sollten. Die durch das Betriebsausgabenabzugsverbot in ihrer Lenkungswirkung verstärkten Jahresbeiträge i.S. des § 12 Abs. 2 Satz 1 RStruktFG a.F. veranlassten die Banken entweder zu einer Modifikation ihres Geschäftsmodells und hierdurch zu einer Risikominimierung, oder sie mussten durch die Erhöhung der eigenen Steuerlast selbst wirtschaftlich für Risiken einstehen, falls ihr Geschäftsmodell unverändert fortgeführt wurde. Jedenfalls ist es für die grundsätzliche Geeignetheit der Maßnahme, durch die intendierte Lenkungswirkung systemische Risiken zu minimieren, unerheblich, ob die tatsächliche Lenkungswirkung eingetreten ist oder die betroffenen Kreditinstitute die höhere Abgabenlast in Kauf nahmen.(bb) Der vom Gesetzgeber mit dem Betriebsausgabenabzugsverbot in § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 13 EStG bezweckten Lenkungswirkung steht auch nicht entgegen, dass nach § 5 RStruktFV i.d.F. vom 20.07.2011 die Möglichkeit bestand, die Höhe der zu erhebenden Jahresbeiträge i.S. des § 12 Abs. 2 Satz 1 RStruktFG a.F. anzupassen, soweit der Restrukturierungsfonds Mittel in Höhe von mehr als 70 Mrd. € angesammelt hatte. Wären danach keine Jahresbeiträge i.S. des § 12 Abs. 2 Satz 1 RStruktFG a.F. mehr zu entrichten gewesen, weil genügend Mittel zur Absicherung systemischer Risiken angesammelt worden wären, wäre das Bedürfnis, systemische Risiken zu vermeiden, entfallen. Zugleich hätte in einem solchen Fall das Betriebsausgabenabzugsverbot in § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 13 EStG mangels grundsätzlich abziehbarer Betriebsausgaben in Gestalt der sog. Bankenabgabe i.S. des § 12 Abs. 2 Satz 1 RStruktFG a.F. ohnehin keine Lenkungswirkung mehr entfalten können. Im Übrigen spricht die vom Gesetzgeber hiernach eröffnete Möglichkeit der Beitragsanpassung nicht --wie es in der Literatur vertreten wird (vgl. Haarmann, JbFSt 2016/2017, 300)-- für eine vorrangige Finanzierungsfunktion der Jahresbeiträge i.S. des § 12 Abs. 2 Satz 1 RStruktFG a.F.(cc) Ebenfalls schadet nicht, dass --wie hier bei der bestandskräftig gewordenen Festsetzung der vom Betriebsausgabenabzugsverbot erfassten Jahresbeiträge i.S. des § 12 Abs. 2 Satz 1 RStruktFG a.F.-- unter näher bezeichneten Voraussetzungen die Zumutbarkeitsgrenze i.S. des § 3 Abs. 1 RStruktFV a.F., die der Verordnungsgeber mit Zustimmung des Bundesrates unter Orientierung an der Rechtsprechung des BVerfG zur Verhältnismäßigkeit von Grundrechtseingriffen im Kontext der Erhebung von Sonderabgaben eingeführt hatte (vgl. BTDrucks 18/2130, 3), zu einer Kappung der sog. Bankenabgabe führte. Die dahingehende Lenkungswirkung, bei der betroffenen Bank systemische Risiken zu minimieren, war auch bei einer solchen Kappung nicht gemindert. Denn nach § 3 Abs. 3 Satz 1 RStruktFV a.F. war für diesen Fall sowie für den Fall, dass nur der Mindestbeitrag nach § 3 Abs. 2 RStruktFV a.F. festgesetzt worden war, die rechnerische Differenz zwischen dem festgesetzten Beitrag und dem errechneten Jahresbeitrag in den folgenden fünf Beitragsjahren nachzuerheben und dem Jahresbeitrag hinzuzurechnen.(dd) Das Betriebsausgabenabzugsverbot entfaltete auch in Verlustfällen die intendierte Lenkungswirkung. Es ist nicht deshalb fehlerhaft ausgestaltet, weil es sich in einem konkreten Veranlagungszeitraum nur bei denjenigen Kreditinstituten auswirken konnte, die einen Gewinn erzielt hatten, nicht jedoch bei solchen, die einen Verlust erwirtschafteten, und bei denen das Verbot, Jahresbeiträge i.S. des § 12 Abs. 2 Satz 1 RStruktFG a.F. gewinnmindernd abziehen zu können, mit keiner zusätzlichen Belastung verbunden war (a.A. Schön/ Hellgardt/Osterloh-Konrad, WM 2010, 2193, 2203; Haarmann, JbFSt 2016/2017, 300, 310). Im Verlustfall mindert das Abzugsverbot den steuerlichen Verlust, der damit über Vor- und Rückträge nicht genutzt werden kann, und erhöht folglich jahresübergreifend die Steuerlast. Soweit sich die Konstellation ergeben konnte, in der das Abzugsverbot aufgrund des Wegfalls der Verlustvorträge in der Totalperiode nicht mehr zur Auswirkung kam, liegen diese Ausnahmefälle im Rahmen der zulässigen Typisierung durch den Gesetzgeber. Denn dieser darf keinen atypischen Fall als Leitbild wählen, sondern muss realitätsgerecht den typischen Fall als Maßstab zugrunde legen (vgl. z.B. BVerfG-Beschluss in BVerfGE 152, 274, Rz 102, m.w.N.).(ee) Der Lenkungswirkung stand auch nicht entgegen, dass durch das Betriebsausgabenabzugsverbot den Kreditinstituten zusätzlich Liquidität entzogen wurde. Dieser Umstand führte nicht dazu, dass der Lenkungszweck von vornherein in sich widersprüchlich und unschlüssig gewesen wäre (a.A. Haarmann, JbFSt 2016/2017, 300, 310 f.). Denn das Betriebsausgabenabzugsverbot sollte dazu beitragen, systemische Risiken im Finanzsektor zu reduzieren, indem die Banken zu einer Änderung risikobehafteter Geschäftsmodelle veranlasst werden sollten. Der steuerbedingte Kapitalabzug wurde im Umfang der Änderung des Geschäftsmodells reduziert.(ff) Aus dem Vergleich mit Forderungsausfallversicherungsbeiträgen, die als Betriebsausgaben i.S. des § 4 Abs. 4 EStG einkommensmindernd anzusetzen sind, folgt schließlich nichts anderes. Mit diesen Beiträgen sichert sich ein Unternehmen für den Fall ab, dass es bei Kunden zu Zahlungsausfällen kommt; es handelt sich hierbei ausschließlich um die Gegenleistung zur Erlangung von Versicherungsschutz. Dagegen ist der von den Kreditinstituten jeweils erhobene Jahresbeitrag für den Restrukturierungsfonds i.S. des § 12 Abs. 2 Satz 1 RStruktFG a.F., der nach den systemischen Risiken der betreffenden Bank bemessen wurde, eine Sonderabgabe mit Finanzierungsfunktion (vgl. Hess. VGH, Urteile vom 30.07.2014 - 6 A 1079/13, juris, Rz 57; in WM 2015, 434, Rz 62). Danach ist es folgerichtig, dass zwar Forderungsausfallversicherungsbeiträge, nicht jedoch die Jahresbeiträge i.S. des § 12 Abs. 2 Satz 1 RStruktFG a.F. von der steuerrechtlichen Bemessungsgrundlage abgezogen werden können.(2) Das Betriebsausgabenabzugsverbot war auch zur Erreichung des verfolgten Zwecks erforderlich. Anderenfalls hätten die Kreditinstitute die Jahresbeiträge i.S. des § 12 Abs. 2 Satz 1 RStruktFG a.F. durch eine steuerliche Entlastung teilweise gegenfinanzieren können. Dies hätte den Lenkungsdruck entschärft.(3) Außerdem kam dem Betriebsausgabenabzugsverbot in § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 13 EStG keine überschießende und damit unverhältnismäßige Wirkung zu; es war auch angemessen (a.A. Haarmann, JbFSt 2016/2017, 300, 309 f.). Eine Doppelbelastung durch die Jahresbeiträge i.S. des § 12 Abs. 2 Satz 1 RStruktFG a.F. einerseits und das Abzugsverbot andererseits vermag der Senat --wie auch schon die Vorinstanz-- nicht zu erkennen. Die finanzielle Belastung auf der Ebene der Kreditinstitute trat nur einmal ein. Nur mithilfe des Abzugsverbots für die Jahresbeiträge i.S. des § 12 Abs. 2 Satz 1 RStruktFG a.F., deren Verhältnismäßigkeit als solche vorliegend nicht zu beurteilen ist, konnte eine einmalige vollständige wirtschaftliche Belastung der Kreditinstitute mit dem Bruttobetrag der sog. Bankenabgabe erreicht werden. Das Abzugsverbot sollte verhindern, dass die Belastungswirkung auf den Nettobetrag steuerlich abgemildert und dadurch für die Kreditinstitute "erträglicher gestaltet" werden konnte. Diese Belastungswirkung hätte im Übrigen auch durch eine entsprechende Erhöhung der sog. Bankenabgabe bei gleichzeitigem Betriebsausgabenabzug erreicht werden können. Am wirtschaftlichen Ergebnis hätte dies jedoch nichts geändert.d) Der Senat vermag keinen Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) darin zu erkennen, dass alle Banken im Hinblick auf die Banken- und Finanzmarktkrise mit der Nichtabzugsfähigkeit der Jahresbeiträge i.S. des § 12 Abs. 2 Satz 1 RStruktFG a.F. belastet wurden (a.A. Haarmann, JbFSt 2016/2017, 300, 310 f.). Darin liegt keine dem Steuerrecht fremde Sanktionierung im Sinne einer "Branchenbestrafung", wie ebenfalls nicht maßgebend sein kann, dass es rechtsfolgenbetroffene Banken gab, die in keiner Weise für die Bankenkrise verantwortlich gemacht werden konnten. Denn das in Rede stehende Abzugsverbot stellt nicht auf die Sanktionierung eines schädlichen Verhaltens in der Vergangenheit ab, sondern trägt als spezifische Lenkungsnorm dazu bei, Bankgeschäfte, von denen bezogen auf das jeweilige Beitragsjahr systemische Risiken ausgehen können, gezielt zu belasten und damit zu verteuern. Soweit Banken nicht risikobehaftete Geschäfte tätigen, wird dem im Rahmen der Bemessung der Jahresbeiträge Rechnung getragen.e) Einer verfassungskonformen Reduktion des Betriebsausgabenabzugsverbots in § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 13 EStG bedarf es auch in Fällen nicht, in denen die betroffene Bank im jeweiligen Beitragsjahr aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht in der Lage war, ihr schädliches Geschäftsmodell zur Reduzierung der Jahresbeiträge i.S. des § 12 Abs. 2 Satz 1 RStruktFG a.F. umzustellen. Denn die Kreditinstitute sollten die Mittel, die sie in den Restrukturierungsfonds eingezahlt hatten, um ihrer Gruppenverantwortung nachzukommen, nicht durch eine steuerliche Entlastung teilweise gegenfinanzieren können. Anderes hätte den Lenkungsdruck reduziert und wäre dem Lenkungsziel zuwidergelaufen. Insofern besteht kein verfassungsrechtlich geschützter Anspruch darauf, ein Geschäftsmodell ohne finanzielle Zusatzbelastung unverändert fortführen zu dürfen.3. Soweit die Klägerin rügt, das Betriebsausgabenabzugsverbot verstoße auch gegen Art. 12 Abs. 1 GG (Berufsfreiheit), Art. 14 Abs. 1 GG (Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb) und Art. 2 Abs. 1 GG (Freiheit im wirtschaftlichen Verkehr als Ausfluss der allgemeinen Handlungsfreiheit), ist dem nicht zu folgen. Denn ein etwaiger Eingriff in das jeweilige Recht wäre --wie schon das FG zu Recht erkannt hat-- jedenfalls durch den mit ihm verfolgten Lenkungszweck insoweit ebenfalls gerechtfertigt.4. Das Betriebsausgabenabzugsverbot begegnet auch keinen unionsrechtlichen Bedenken. Eine Verletzung des unionsrechtlichen Beihilfeverbots nach Art. 107 Abs. 1 AEUV liegt nicht vor, weil das Abzugsverbot keine Beihilfe ist (s. Vortmann, WuB 2018, 645, 646).5. Das angefochtene Urteil ist schließlich nicht wegen eines Verfahrensfehlers aufzuheben. Der erkennende Senat hat den von der Klägerin gerügten Verfahrensverstoß wegen Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§ 76 Abs. 1 FGO) geprüft. Er erachtet diese Rüge indes nicht für durchgreifend; sie ist jedenfalls unbegründet. Der Senat sieht insoweit von einer Begründung ab (§ 126 Abs. 6 Satz 1 FGO; vgl. allgemein und zur Rüge der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör z.B. BFH-Urteile vom 15.01.2015 - I R 69/12, BFHE 249, 99, Rz 44; vom 10.11.2016 - VI R 55/08, BFHE 256, 280, BStBl II 2017, 715, Rz 29).III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 und § 135 Abs. 3, § 139 Abs. 4 FGO.
bundesfinanzhof
bfh_032-2021
16. September 2021
Zweckgebundene Spende kann anzuerkennen sein 16. September 2021 - Nummer 032/2021 - Urteil vom 16.03.2021 X R 37/19 Der Bundesfinanzhof (BFH) hat mit Urteil vom 16.03.2021 - X R 37/19 entschieden, dass ein Spendenabzug auch dann möglich ist, wenn die Spende  einer konkreten Zweckbindung unterliegt und z.B. in konkreter Weise einem bestimmten Tier zugutekommen soll.Im Streitfall hatte die Klägerin einen im Tierheim lebenden „Problemhund“ in ihr Herz geschlossen. Dem kaum mehr vermittelbaren Tier wollte sie durch die dauerhafte Unterbringung in einer gewerblichen Tierpension helfen. Zu diesem Zweck übergab sie bei einem Treffen mit einer Vertreterin eines gemeinnützigen Tierschutzvereins und der Tierpension einen Geldbetrag von 5.000 €. Der Tierschutzverein stellte der Klägerin eine Zuwendungsbestätigung („Spendenbescheinigung“) über diesen Betrag aus. Nachfolgend lehnten das Finanzamt und das Finanzgericht (FG) einen Spendenabzug aber ab.Der BFH hat die vorinstanzliche Entscheidung aufgehoben und die Sache an das FG zurückverwiesen. Die Bestimmung eines konkreten Verwendungszwecks der Spende durch die Klägerin stehe dem steuerlichen Abzug nicht entgegen. Voraussetzung sei allerdings, dass sich die Zweckbindung im Rahmen der vom Tierschutzverein verfolgten steuerbegünstigten Zwecke halte. Ob die Unterbringung des Hundes in einer Tierpension der Förderung des Tierwohles diene, müsse das FG daher noch prüfen. Die für den Spendenabzug ebenfalls erforderliche Unentgeltlichkeit der Zuwendung fehle zwar, wenn eine Spende einer konkret benannten Person zugutekommen solle und hierdurch letztlich verdeckt Unterhalt geleistet oder eine Zusage erfüllt werde. Hiervon sei vorliegend aber nicht auszugehen, zumal der Problemhund nicht der Klägerin gehört habe. BundesfinanzhofPressestelle          Tel. (089) 9231-400 Pressesprecher    Tel. (089) 9231-300  Siehe auch: X R 37/19
16.09.2021 · IWW-Abrufnummer 224728 Bundesfinanzhof: Urteil vom 16.03.2021 – X R 37/19 1. Eine Zuwendung mit der Zweckbindung, ein bestimmtes, einzelnes Tier in konkreter Art und Weise zu unterstützen, kann als Sonderausgabe abzugsfähig sein, da das Letztentscheidungsrecht darüber, ob und wie der begünstigte Empfänger seine steuerbegünstigten Zwecke fördert, bei diesem verbleibt; er muss die Zuwendung nicht annehmen. 2. Bei zweckgebundenen Spenden ist die Unentgeltlichkeit zwar besonders sorgfältig zu prüfen. Diese fehlt aber nicht schon dann, wenn der Spender sich nur gewisse immaterielle Vorteile (wie z.B. eine Ansehensmehrung) erhofft. 3. Allein der Umstand, dass in einer Zuwendungsbestätigung für eine Geldzuwendung irrig angegeben wird, es handele sich um eine Sachzuwendung, steht dem Abzug der Zuwendung nicht entgegen. Tenor:Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Finanzgerichts Köln vom 11.12.2018 ‒ 10 K 1568/17 aufgehoben.Die Sache wird an das Finanzgericht Köln —Vollsenat— zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens übertragen.GründeI.1Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) begehrte in ihrer Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 2015 einen Spendenabzug aufgrund einer Zahlung von 5.000 € an einen Tierschutzverein (V).2Nach den Feststellungen des Finanzgerichts (FG) war die Klägerin ehrenamtlich für V tätig und kümmerte sich um die dort untergebrachten Hunde. Dabei war ihr der Schäferhund (B) besonders ans Herz gewachsen. Bei B handelte es sich um ein sog. Problemtier, das unter dem Leben im Zwinger litt, aber nach einigen gescheiterten Vermittlungsversuchen nicht mehr ohne Weiteres vermittelbar war. Die Klägerin hielt es daher für sinnvoll, B auf Dauer in einer gewerblichen Tierpension (P) unterzubringen. Allerdings waren die Verantwortlichen des V weder bereit noch in der Lage, die für die Unterbringung eines einzelnen Hundes erforderlichen Mittel von 5.000 € aufzubringen. Deshalb erklärte sich die Klägerin bereit, die Kosten für die Unterbringung zu übernehmen.3Die Klägerin begab sich mit einer Verantwortlichen des V zu P. Die Verantwortliche des V unterschrieb den Tierpflegevertrag. Ob die Klägerin den von ihr mitgebrachten Bargeldbetrag von 5.000 € unmittelbar an den anwesenden Vertreter der P übergeben hat oder aber an die Verantwortliche des V mit der Maßgabe, das Geld an den Vertreter der P weiterzugeben, ist zwischen den Beteiligten streitig.4V erteilte der Klägerin eine Zuwendungsbestätigung über eine Sachzuwendung im Wert von 5.000 €.5Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt —FA—) lehnte im angefochtenen Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2015 den begehrten Spendenabzug ab.6Die nach erfolglosem Vorverfahren erhobene Klage hatte keinen Erfolg (Entscheidungen der Finanzgerichte 2020, 1003). Die Zahlung der Klägerin sei nicht in den Verfügungsbereich des steuerlich begünstigten V gelangt; dieser habe gerade keine Verfügungsmacht über das Geld erhalten sollen. Die Klägerin habe keine "Zuwendung zur Förderung steuerbegünstigter Zwecke" in das Vereinsvermögen, sondern eine gezielte Zuwendung zur Versorgung eines ganz bestimmten, ihr besonders wichtigen Tieres gemacht, unabhängig davon, wie der Geldbetrag letztlich an die Tierpension übergeben worden sei. V sei letztlich nur als Durchlaufstelle aufgetreten und habe kein eigenes Entscheidungsrecht hinsichtlich der Verwendung des Geldbetrags gehabt. Ein Vertrauensschutz aufgrund der Zuwendungsbestätigung komme nicht in Betracht, da die im Streitfall gewählte Gestaltung zeige, dass der Klägerin klar gewesen sei, die bloße Sicherstellung des Unterhalts und der Unterbringung für einen bestimmten Hund rechtfertige keinen Spendenabzug.7Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die unzutreffende Anwendung des § 10b Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG). Dem Spendenabzug stehe nicht entgegen, dass der Zuwendende die konkrete Verwendung des gespendeten Betrags vorgebe, z.B. durch Benennung eines einzelnen Lebewesens. Der begünstigten Empfängerkörperschaft müsse in einem solchen Fall kein Entscheidungsspielraum verbleiben.8Es sei nur schädlich, wenn eine konkrete natürliche Person begünstigt werden solle, weil es sich dann um eine verdeckte Unterhaltszahlung oder personenbezogene Schenkung handele. Werde die natürliche Person oder ein Tier nur benannt, um ein bestimmtes (steuerbegünstigtes) Projekt zu fördern, sei dies anders zu beurteilen. Ein solches Projekt sei z.B. vorliegend die Hilfeleistung für notleidende Tiere (Tierschutz).9Regelmäßig werde von Tierschutzvereinen mit einzelnen gemeinnützigen Projekten oder konkreten Schicksalen und Lebewesen geworben (z.B. individuelle Projektspenden oder Einzelpatenschaften). Dies stehe nicht im Widerspruch zur Förderung steuerbegünstigter Zwecke i.S. des § 10b Abs. 1 EStG; vielmehr fülle die Vorgabe des Zuwendenden lediglich den konkretisierungsbedürftigen gemeinnützigen Satzungszweck der jeweiligen Einrichtung aus. Die Konkretisierung erhöhe auch das Vertrauen der Spender in die Transparenz der gemeinnützigen Einrichtung und sei in einem zunehmend von Wettbewerb und Kommerzialisierung geprägten "Spendenmarkt" wichtig.10Die Klägerin habe mit ihrer konkretisierten Zuwendung —die weder eine verdeckte Unterhaltszahlung noch eine personenbezogene Schenkung gewesen sei— die steuerbegünstigten Satzungszwecke des V (Förderung des Tierschutzes) unterstützt. V habe den Hund an P übergeben und so Hilfe für ein krankes Tier geleistet.11Die Klägerin beantragt sinngemäß, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Einspruchsentscheidung vom 22.05.2017 den Einkommensteuerbescheid 2015 vom 16.09.2016 dahingehend zu ändern, dass eine weitere Zuwendung in Höhe von 5.000 € bei den Sonderausgaben berücksichtigt wird. 12Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen. 13Es fehle bereits an einem begünstigten Empfänger der Zuwendung. Der Geldbetrag sei nicht in die wirtschaftliche Verfügungsgewalt des V gelangt. Zudem werde nicht die Allgemeinheit gefördert, sondern nur ein bestimmter Hund.14Möglich sei es, bestimmte Personen/Tiere/Bauten zu benennen, soweit ein Projekt gefördert werde und ein gewisser Entscheidungsspielraum beim begünstigten Empfänger verbleibe. Dementsprechend gebe es bei anderen Organisationen keine Auflagen, die dazu verpflichten würden, die Zuwendung in voller Höhe und ausschließlich für ein Patenkind bzw. -tier auszugeben.15Vorliegend habe V weder über die Auswahl des Tieres noch die Unterbringung einen Entscheidungsspielraum gehabt. Die Kostenübernahme für die Unterbringung in einer Tierpension sei auch nicht im Interesse des Tierschutzes. Der Hund habe bereits eine Unterkunft im Tierheim gehabt und sei dort versorgt worden.II.16Die Revision ist begründet. Das angefochtene Urteil wird aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den zuständigen Vollsenat des FG zurückverwiesen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung —FGO—).17Dass die Spende zur konkreten Unterstützung eines einzelnen Hundes —nämlich B— bestimmt war, hindert einen Spendenabzug an sich nicht (dazu unten 1.). Diese ist V auch zugeflossen (dazu unten 2.). Es ist unschädlich, dass entgegen der Angabe in der Zuwendungsbestätigung nicht eine Sach-, sondern eine Geldzuwendung vorliegt (dazu unten 3.). Ungeklärt ist jedoch, ob die Spende satzungsmäßig verwendet worden ist, indem V den Hund auf Dauer in einer gewerblichen Tierpension untergebracht hat. Die Sache wird deshalb an die Tatsacheninstanz —den Vollsenat— zurückverwiesen (dazu unten 4.).181. Zuwendungen (Spenden und Mitgliedsbeiträge) zur Förderung steuerbegünstigter Zwecke i.S. der §§ 52 bis 54 der Abgabenordnung (AO) können nach § 10b Abs. 1 EStG im Rahmen der dort genannten Höchstbeträge als Sonderausgaben abgezogen werden. Voraussetzung für den Abzug ist, dass sie an einen begünstigten Empfänger i.S. des § 10b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 3 EStG geleistet werden.19Dass die Klägerin bestimmt hat, die Spende in konkreter Art und Weise zur Unterstützung des B zu verwenden, steht einem Spendenabzug an sich nicht entgegen.20Eine Zweckbindung als solche ist nicht schädlich; der begünstigte Empfänger muss die Spende nicht annehmen, so dass bei V das Letztentscheidungsrecht verblieb (dazu unten a). Der Unentgeltlichkeit steht eine Zweckbindung nicht per se entgegen. Diese kann auch bei einer Verpflichtung zur konkreten Unterstützung eines einzelnen Tieres gegeben sein. Im Streitfall sind keine Gründe erkennbar, die dem entgegenstehen könnten (dazu unten b).21a) Die Bestimmung eines konkreten Verwendungszwecks durch den Zuwendenden ist —jedenfalls im Grundsatz— nicht spendenschädlich (vgl. bereits Senatsurteil vom 20.03.2017 ‒ X R 13/15, BFHE 257, 486, BStBl II 2017, 1110, Rz 59; ebenso die ganz herrschende Literatur: Kulosa in Herrmann/ Heuer/Raupach —HHR—, § 10b EStG Rz 23; Schmidt/Heinicke, EStG, 40. Aufl., § 10b Rz 5; Pust in Littmann/Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, Kommentar, § 10b Rz 54; Tiedtke, Betriebs‒Berater —BB— 1985, 985; Hüttemann, Gemeinnützigkeits- und Spendenrecht, 4. Aufl. 2018, Rz 8.83; vgl. auch Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 15.12.2017, BStBl I 2018, 246 zu der spendenrechtlichen Beurteilung von "Crowdfunding", wonach anlassbezogene Spendensammlungen organisiert werden können und der steuerliche Spendenabzug grundsätzlich zulässig ist). Etwas anderes ergibt sich —und zwar unabhängig davon, wie konkret der Zweck vorgegeben wird— weder aus § 10b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 3 EStG (dazu unten aa) noch aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu den sog. Durchlaufspenden (dazu unten bb).22aa) Der begünstigte Empfänger muss nicht frei —ohne Zweckbindung— über die Verwendung des Spendenbetrags entscheiden können.23(1) Der Grund für die Voraussetzung "Leistung an einen begünstigten Empfänger" ist, dass der Gesetzgeber nur bei diesen in besonderer Weise von einer tatsächlichen Verwendung der Spende zu den steuerbegünstigten Zwecken ausgeht (vgl. HHR/Kulosa, § 10b EStG Rz 45) bzw. dessen körperschaftliche Verfasstheit die Aufgaben- und Zweckbindung des begünstigten Empfängers verstetigt und nachprüfbar macht (vgl. Geserich in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 10b Rz B 282). Diesen Auftrag kann der begünstigte Empfänger auch erfüllen, wenn die Spende mit einer Zweckbindung versehen ist. Denn eine tatsächliche Verwendung im Rahmen seiner steuerbegünstigten Zwecke (vgl. zur Voraussetzung der tatsächlichen Verwendung: Urteile des Bundesfinanzhofs —BFH— vom 19.03.1976 ‒ VI R 72/73, BFHE 118, 224, BStBl II 1976, 338, und vom 05.02.1992 ‒ I R 63/91, BFHE 168, 35, BStBl II 1992, 748, unter II.3.a) kann der begünstigte Empfänger unabhängig davon sicherstellen, ob er den genauen Einsatz der Spende selbst bestimmt oder einer Vorgabe des Spenders folgt, da er eine zweckgebundene Spende nicht annehmen muss. Bei ihm verbleibt das Letztentscheidungsrecht darüber, ob und wie er im konkreten Einzelfall seine steuerbegünstigten Zwecke fördern möchte.24(2) Ist die durch den Spender vorgesehene Zweckbindung so ausgestaltet, dass der begünstigte Empfänger damit nicht seine steuerbegünstigten Zwecke erfüllen könnte, muss er schon aus eigenem Interesse die Spende ablehnen. Denn nimmt er diese an und stellt vorsätzlich oder grob fahrlässig eine unrichtige Bestätigung dahingehend aus, dass die Spende für seine steuerbegünstigten Zwecke verwendet worden sei, obwohl dies —entsprechend der Zweckbindung— nicht geschehen ist, haftet er nach § 10b Abs. 4 Satz 2 EStG für die entgangene Steuer. Zudem liefe der begünstigte Empfänger Gefahr, die Steuerbefreiung nach § 5 Abs. 1 Nr. 9 des Körperschaftsteuergesetzes zu verlieren (vgl. zur Ausschließlichkeit: § 56, § 63 Abs. 1 AO). Nimmt er hingegen die Spende an, ohne den durch den Spender vorgegebenen Zweck zu fördern, hätte dies zivilrechtliche Folgen im Verhältnis zum Spender (vgl. hierzu auch Senatsurteil in BFHE 257, 486, BStBl II 2017, 1110, Rz 59).25(3) Im Streitfall kann der Spendenabzug daher nicht mit der Begründung verwehrt werden, V habe kein eigenes Entscheidungsrecht hinsichtlich der Verwendung des gespendeten Betrags gehabt, denn er hätte die zweckgebundene Spende der Klägerin nicht annehmen müssen. Entscheidend ist dabei nicht, ob die Klägerin die Initiative zur Unterbringung des Hundes bei P ergriffen hatte oder nicht (vgl. Tiedtke, BB 1985, 985), sondern nur, dass V den ihm gehörenden B nicht bei P unterbringen bzw. den Tierpflegevertrag nicht abschließen musste. Das Letztentscheidungsrecht lag bei V.26bb) Der Rechtsprechung zu den sog. Durchlaufspenden (vgl. z.B. Senatsurteil vom 24.11.1993 ‒ X R 5/91, BFHE 173, 519, BStBl II 1994, 683, und BFH-Urteil vom 18.07.1980 ‒ VI R 167/77, BFHE 131, 345, BStBl II 1981, 52) ist nicht —anders als das FG meint— zu entnehmen, dass der begünstigte Empfänger ohne Zweckbindung über die Spende verfügen können muss. Bei Durchlaufspenden muss die (begünstigte) öffentliche Hand gerade nicht frei über die Verwendung der Spende entscheiden können. Nach früherer Rechtslage sind z.B. Spenden zur Förderung des Sports nur dann steuerlich abziehbar gewesen, wenn der Spendenempfänger eine juristische Person des öffentlichen Rechts oder eine öffentliche Dienststelle war. Diese Voraussetzung war erfüllt, wenn der gespendete Betrag in den Verfügungsbereich einer der genannten Stellen überging. Der Spendenabzug hing aber nicht davon ab, dass die empfangende Stelle den erhaltenen Betrag unmittelbar für begünstigte Zwecke verwendete oder zumindest selbst über dessen Verwendung entscheiden konnte; es war vielmehr unschädlich, wenn ihr der Spender die Weiterleitung des Betrags an eine andere gemeinnützige Organisation aufgab und sie dieser Vorgabe entsprechend verfuhr (vgl. dazu zuletzt BFH-Urteil vom 05.04.2006 ‒ I R 20/05, BFHE 215, 78, BStBl II 2007, 450, unter II.2.). Im Senatsurteil in BFHE 173, 519, BStBl II 1994, 683 wird ausgeführt, dass es in der Praxis üblich geworden sei, Spenden in diesen Bereichen an eine der genannten Stellen mit der Auflage zu leiten, dass diese den Betrag an eine bestimmte, genau bezeichnete Organisation weiterzuleiten habe. Ein Spendenabzug sei aber nicht deshalb ausgeschlossen, weil die empfangende Stelle an der freien Verfügbarkeit über die Spende gehindert sei.27Im Übrigen könnte im Streitfall keine Durchlaufspende angenommen werden, da P den Geldbetrag aufgrund der Vereinbarung im Tierpflegevertrag als Gegenleistung für die Dauerunterbringung des Hundes erhalten hat und nicht etwa als begünstigte (woran es bereits aufgrund der Gewerblichkeit fehlen würde) Empfängerin einer "weitergeleiteten" Zuwendung.28b) Dass der Spender seine Zuwendung mit einer Zweckbindung verknüpft, führt nicht per se dazu, dass die Unentgeltlichkeit zu verneinen ist (vgl. Pust in Littmann/Bitz/Pust, a.a.O., § 10b Rz 54; HHR/Kulosa, § 10b EStG Rz 23, der darauf hinweist, dass durch die Auswahl der Einrichtung, an die die Spende geleistet wird, bei kleinen Einrichtungen schon naturgemäß ein sehr enger Verwendungszweck bestimmt werden kann, so dass allein die Bestimmung eines konkreten Zwecks noch keinen "sonstigen Vorteil" darstellen könne). Zwar mag es bei zweckgebundenen Spenden häufiger als bei nicht zweckgebundenen Spenden vorkommen, dass es an der Unentgeltlichkeit fehlt; jedoch muss sich dies —wie bei einer nicht zweckgebundenen Spende— aus weiteren Gründen ergeben (so z.B. bei der Unterstützung bestimmter Personen, wenn damit im Grunde der Unterhalt gegenüber einem Familienangehörigen getragen oder eine gegebene Zusage an eine Person erfüllt werden soll, vgl. HHR/Kulosa, § 10b EStG Rz 31; Blümich/Brandl, § 10b EStG Rz 16; bei einer Zusage der Tragung der Kosten für ein Pferd: Urteil des Niedersächsischen FG vom 16.06.2009 ‒ 15 K 30331/06, Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst 2010, 592). Im Streitfall —das FG hat die Frage der Unentgeltlichkeit nicht gewürdigt (vgl. zur Tatsachenwürdigung: Senatsurteile vom 22.03.2018 ‒ X R 5/16, BFHE 261, 132, BStBl II 2018, 651, Rz 34, und vom 09.12.2014 ‒ X R 4/11, BFH/NV 2015, 853, Rz 42)— kann der Senat nicht erkennen, weshalb die Klägerin die Spende nicht unentgeltlich im Sinne von fremdnützig gegeben haben sollte, auch wenn sie vorgegeben hat, dass die Spende zur konkreten Versorgung eines ihr besonders wichtigen Tieres —nämlich B— verwendet werden soll.29aa) Unentgeltlichkeit setzt voraus, dass die Spende ohne die Erwartung eines besonderen Vorteils gegeben wird; die Spendenmotivation muss im Vordergrund stehen. Die Unentgeltlichkeit ist für die Spende und damit für den Spendenabzug konstitutives Merkmal. Die steuerliche Entlastung der Spende ist nur gerechtfertigt, wenn sie weder privat- noch gruppennützig, sondern ausschließlich fremdnützig, d.h. zur Förderung des Gemeinwohls verwendet wird. Ein Spendenabzug ist daher nicht nur ausgeschlossen, wenn die Ausgaben zur Erlangung einer Gegenleistung des Empfängers erbracht werden, sondern schon dann, wenn die Zuwendungen an den Empfänger unmittelbar und ursächlich mit einem von diesem oder einem Dritten gewährten Vorteil zusammenhängen, ohne dass der Vorteil unmittelbar wirtschaftlicher Natur sein muss (Senatsurteile in BFHE 261, 132, BStBl II 2018, 651, Rz 33, und in BFH/NV 2015, 853, Rz 40). Die subjektiven Beweggründe für eine Spende können einen besonderen Vorteil hingegen nicht begründen und nicht in Frage stellen, dass die Spendenmotivation im Vordergrund steht (vgl. Schmidt/ Heinicke, a.a.O., § 10b Rz 5). Es reicht daher für eine Entgeltlichkeit nicht, dass sich der Spender auch gewisse persönliche Vorteile erhofft, z.B. ein "gutes Gefühl", eine Mehrung des gesellschaftlichen Ansehens oder einen näheren persönlichen Kontakt zu den Verantwortlichen der geförderten Einrichtung (Hüttemann, a.a.O., Rz 8.46). Es genügt ebenfalls nicht, wenn der Spender lediglich als Ausfluss der gemeinnützigen Mittelvergabe "Vorteile" erhält, wie z.B. die Gravur des Namens in den Altar, die Nennung in Fürbitten oder eine Einladung zum Weihefest (Senatsurteil in BFHE 261, 132, BStBl II 2018, 651, Rz 35).30bb) Der Klägerin ging es nicht um die Versorgung eines ihr gehörenden Tieres, sondern um die des nicht in ihrem Eigentum stehenden Hundes B. Mag ihr der Hund im Rahmen ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit auch ans Herz gewachsen und es ihr besonders wichtig gewesen sein (z.B. aus Mitleid), gerade ihm zu helfen, so kann darin nur ein emotionaler Beweggrund gesehen werden. Darüber hinaus gehende Gründe, weshalb die Unterbringung des Hundes in der Tierpension P für sie vorteilhaft sein könnte, hat das FG nicht festgestellt.312. Die Spende ist V in beiden Sachverhaltsvarianten zugeflossen. Ein Zufluss wäre bei der Übergabe des Geldes an die Verantwortliche des V schon deshalb zu bejahen, da diese darüber hätte verfügen können. Erst in einem zweiten Schritt hätte diese die Forderung der P gegen V aus dem (durch V eigenverantwortlich abgeschlossenen) Tierpflegevertrag beglichen.32Ein Zufluss läge auch in der anderen Variante vor, bei der die Klägerin das Geld unmittelbar an die anwesende Person der Tierpension übergeben und damit die Forderung der P gegen V aus dem Tierpflegevertrag beglichen hätte; sie hätte eine Zahlung für den Tierschutzverein erbracht und dessen Schuld erfüllt. Ein Ersatzanspruch der Klägerin sollte nicht entstehen; V hätte in dieser Variante Ausgaben erspart (vgl. ergänzend die Rechtsprechung zum unmittelbaren Zufluss bei Sachspenden: BFH-Urteil vom 24.09.1985 ‒ IX R 8/81, BFHE 144, 439, BStBl II 1986, 726, und HHR/Kulosa, § 10b EStG Rz 134).333. Eine Zuwendungsbestätigung wird für den Spendenabzug vorausgesetzt (dazu unten a). Entgegen der Angabe in der Zuwendungsbestätigung handelt es sich vorliegend nicht um eine Sachzuwendung, sondern um eine Geldzuwendung (dazu unten b). Diese unzutreffende Angabe hindert einen Spendenabzug jedoch nicht (dazu unten c).34a) Nach § 50 Abs. 1 der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung (EStDV) dürfen Zuwendungen i.S. der §§ 10b und 34g EStG grundsätzlich nur abgezogen werden, wenn sie durch eine Zuwendungsbestätigung nachgewiesen werden, die der Empfänger nach amtlich vorgeschriebenem Vordruck ausgestellt hat. Eine Zuwendungsbestätigung stellt daher nicht lediglich ein bloßes Mittel der Glaubhaftmachung einer einkommensteuerrechtlichen Abzugsposition dar, sondern ist eine unverzichtbare materiell-rechtliche Voraussetzung für den Sonderausgabenabzug von Zuwendungen (Senatsurteil vom 12.12.2017 ‒ X R 46/16, BFH/NV 2018, 717, Rz 27).35b) In beiden Sachverhaltsvarianten liegt eine Geldzuwendung vor. Bei der Übergabe des Geldes an V bestehen daran keine Zweifel. Um eine solche handelt es sich aber auch in der Variante "Übergabe des Geldes unmittelbar an die P". V war durch den Tierpflegevertrag eine Geldschuld gegenüber P eingegangen. Die Klägerin erfüllte diese mit befreiender Wirkung (ohne Ersatzanspruch); an dem Schuldverhältnis änderte sich nichts. Gegenstand der Spende ist somit das Erlöschen einer in Geld zu erfüllenden Forderung; dabei handelt es sich nicht um eine Sachzuwendung, sondern um eine Geldzuwendung.36c) Infolgedessen hätte in der Zuwendungsbestätigung angegeben werden müssen, dass eine Geldzuwendung vorliegt. Den Spendenabzug hindert dies jedoch nicht. Inhaltlich muss die Bestätigung Angaben enthalten, die für den Abzug wesentlich sind, insbesondere also die Höhe des zugewendeten Betrags, den beabsichtigten Verwendungszweck, den steuerbegünstigten Status der spendenempfangenden Körperschaft und den Zeitpunkt der Zuwendung (vgl. Senatsurteil in BFH/NV 2018, 717, Rz 28, 29, m.w.N.). Diesen Anforderungen genügt die von V der Klägerin erteilte Zuwendungsbestätigung. Diese enthält alle Angaben, die für den Abzug einer Geldspende wesentlich sind. Zweck der Unterscheidung zwischen Geld- und Sachzuwendungsbestätigungen ist, dass die bei einer Sachzuwendung geltenden besonderen Anforderungen nach § 10b Abs. 3 Sätze 1 bis 4 EStG überprüft werden können. Bei einer Geldspende kommt es hierauf nicht an.374. Das FG hat rechtsfehlerhaft offengelassen, ob die von der Klägerin gegebene Spende tatsächlich für steuerbegünstigte (§ 10b Abs. 1 Satz 1 EStG) satzungsmäßige Zwecke verwendet worden ist (vgl. § 55 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 AO), indem V den B auf Dauer in einer gewerblichen Tierpension —hier P— untergebracht hat. Auch wenn die Förderung des Tierschutzes i.S. des § 52 Abs. 2 Satz 1 Nr. 14 AO grundsätzlich die Unterstützung für einzelne Tiere umfasst, wird das FG unter Heranziehung der im Zeitpunkt der Spende gültigen Satzung und weiterer geeigneter Unterlagen (wie z.B. Tierheimordnung, Nachfrage beim Deutschen Tierschutzbund e.V.) feststellen müssen, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen die Dauerunterbringung eines Hundes in einer gewerblichen Tierpension zur Förderung des Tierschutzes in Erwägung zu ziehen ist und ob eine solche im Streitfall angezeigt war. Bislang hat es nur festgestellt, dass B verhaltensauffällig und "nicht mehr ohne weiteres vermittelbar" gewesen war.38Mangels ausreichender Feststellungen kann der Senat dies nicht selbst beurteilen. Die Sache wird an die Tatsacheninstanz —das FG— zurückverwiesen.395. Die Zurückverweisung erfolgt —unter Aufhebung des Beschlusses betreffend die Übertragung des Streitfalls auf den Einzelrichter— an den Vollsenat, da die Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 Nr. 1 FGO im Streitfall nicht gegeben sind (vgl. BFH‒Urteile vom 13.12.2018 ‒ III R 13/15, BFH/NV 2019, 1069, und vom 30.11.2010 ‒ VIII R 19/07, BFH/NV 2011, 449).406. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO. Vorschriften
bundesfinanzhof
bfh_028-22
07. Juli 2022
Erbschaftsteuerbefreiung für ein Familienheim 07. Juli 2022 - Nummer 028/22 - Urteil vom 01.12.2021 II R 18/20 Ein Erbe verliert nicht die Erbschaftsteuerbefreiung für ein Familienheim, wenn ihm die eigene Nutzung des Familienheims aus gesundheitlichen Gründen unmöglich oder unzumutbar ist. Dies hat der Bundesfinanzhof (BFH) mit Urteil vom 01.12.2021 - II R 18/20 entschieden.   Die Klägerin hatte das von ihrem Vater ererbte Einfamilienhaus zunächst selbst bewohnt, war aber bereits nach sieben Jahren ausgezogen. Im Anschluss wurde das Haus abgerissen. Die Klägerin machte gegenüber dem Finanzamt und dem Finanzgericht (FG) erfolglos geltend, sie habe sich angesichts ihres Gesundheitszustands kaum noch in dem Haus bewegen und deshalb ohne fremde Hilfe dort nicht mehr leben können. Das FG war der Ansicht, das sei kein zwingender Grund für den Auszug, da sich die Klägerin fremder Hilfe hätte bedienen können. Der BFH hat das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Sache an das FG zurückverwiesen. Grundsätzlich setzt die Steuerbefreiung gemäß § 13 Abs. 1 Nr. 4c des Erbschaft- und Schenkungsteuergesetzes voraus, dass der Erbe für zehn Jahre das geerbte Familienheim selbst nutzt, es sei denn, er ist aus „zwingenden Gründen“ daran gehindert. „Zwingend“, so der BFH, erfasse nicht nur den Fall der Unmöglichkeit, sondern auch die Unzumutbarkeit der Selbstnutzung des Familienheims. Reine Zweckmäßigkeitserwägungen, wie etwa die Unwirtschaftlichkeit einer Sanierung, genügten zwar nicht. Anders liege es, wenn der Erbe aus gesundheitlichen Gründen für eine Fortnutzung des Familienheims so erheblicher Unterstützung bedürfe, dass nicht mehr von einer selbständigen Haushaltsführung zu sprechen sei. Das FG hat deshalb unter Mitwirkung der Klägerin das Ausmaß ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu prüfen.  Bundesfinanzhof Pressestelle       Tel. (089) 9231-400 Pressesprecher  Tel. (089) 9231-300 Siehe auch: II R 18/20
1. Der Erwerber eines erbschaftsteuerrechtlich begünstigten Familienheims ist aus zwingenden Gründen an dessen Nutzung zu eigenen Wohnzwecken gehindert, wenn die Selbstnutzung objektiv unmöglich oder aus objektiven Gründen unzumutbar ist. Zweckmäßigkeitserwägungen reichen nicht aus.2. Gesundheitliche Beeinträchtigungen können zwingende Gründe darstellen, wenn sie dem Erwerber eine selbständige Haushaltsführung in dem erworbenen Familienheim unmöglich machen. Tenor Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Finanzgerichts Düsseldorf vom 08.01.2020 - 4 K 3120/18 Erb aufgehoben.Die Sache wird an das Finanzgericht Düsseldorf zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens übertragen. Tatbestand I.Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist Alleinerbin ihres im März 2009 verstorbenen Vaters. Zum Nachlass gehörte u.a. ein Grundstück mit einem 1951 erbauten Einfamilienhaus. Die Klägerin hatte dieses Haus gemeinsam mit ihrem Vater bewohnt und wohnte zunächst weiterhin im Obergeschoss. Demzufolge berücksichtigte der Beklagte und Revisionsbeklagte (Finanzamt --FA--) bei der Erbschaftsteuerfestsetzung die Steuerbefreiung nach § 13 Abs. 1 Nr. 4c Satz 1 des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes (ErbStG).Die Klägerin zog am 04.08.2016 aus. Am 05.08.2016 wurde das Haus abgerissen.Im Juni 2018 erfuhr das FA, dass die Klägerin nicht mehr unter der bisherigen Anschrift gemeldet war. Die Klägerin teilte mit, das Haus sei aufgrund vieler Mängel nicht mehr bewohnbar gewesen. Sie habe auf einem Nachbargrundstück eine Wohnung angemietet. Mit einem auf § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO) gestützten Bescheid vom 20.07.2018 setzte das FA die Erbschaftsteuer ohne die Steuerbefreiung fest.Mit Einspruch und Klage machte die Klägerin geltend, sie sei aus zwingenden Gründen an der Selbstnutzung gehindert gewesen. Zum einen sei das Haus wegen seines baulichen Zustands überhaupt nicht mehr nutzbar gewesen. Zum anderen habe sie sich angesichts ihres Gesundheitszustands (Bandscheibenvorfälle, ein Hüftleiden, das wegen einer Angststörung nicht operabel sei) kaum mehr allein in dem Haus bewegen können und sei daher in eine Erdgeschosswohnung umgezogen. Das FA sah die gesundheitlichen Probleme nicht als nachgewiesen an und war zudem der Auffassung, diese hätten eine eigene Haushaltsführung nicht schlechthin ausgeschlossen.Das Finanzgericht (FG) hat die Klage abgewiesen. Zwingende Gründe, die einer Selbstnutzung des Familienheims entgegenstehen, müssten objektive Gründe sein, die das selbständige Führen eines Haushalts in dem erworbenen Familienheim unmöglich machen, etwa Pflegebedürftigkeit oder Tod. Gebäudemängel und eine etwaige Unwirtschaftlichkeit der Sanierung genügten nicht. Etwaige gesundheitliche Beeinträchtigungen, die die Klägerin zunächst auch nicht als Grund ihres Auszugs benannt habe, hätten die Klägerin nicht gehindert, mit Hilfe eines Bekannten auch weiterhin das Obergeschoss zu nutzen. Das FG-Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2021, 288 veröffentlicht.Mit der Revision macht die Klägerin sinngemäß eine Verletzung von § 13 Abs. 1 Nr. 4c Satz 5 ErbStG geltend. Der Gesetzgeber habe u.a. Pflegebedürftigkeit und Tod erfassen wollen. Darin dürften sich zwingende Gründe aber nicht erschöpfen. Würde aufgrund der Möglichkeit, Pflege zu Hause in Anspruch nehmen zu können, die Steuerbefreiung nach § 13 Abs. 1 Nr. 4c Satz 5 ErbStG nicht zur Anwendung kommen, wäre dies ein inkonsistentes Ergebnis. Ihr Gesundheitszustand habe sie ohne fremde Hilfe in der Wohnung gefangen gehalten und komme einer Pflegebedürftigkeit gleich. Schließlich müsse auch eine wirtschaftliche Unzumutbarkeit berücksichtigt werden.Die Klägerin beantragt sinngemäß,die Vorentscheidung, den Bescheid vom 20.07.2018 sowie die Einspruchsentscheidung vom 10.10.2018 aufzuheben.Das FA beantragt,die Revision zurückzuweisen. Gründe II.Die Revision ist begründet mit der Maßgabe, dass die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen ist (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Der Senat vermag auf Grundlage der Feststellungen des FG nicht abschließend zu entscheiden, ob die Steuerbefreiung nach § 13 Abs. 1 Nr. 4c Satz 5 ErbStG rückwirkend weggefallen ist.1. Nach § 13 Abs. 1 Nr. 4c Satz 1 ErbStG bleibt steuerfrei u.a. der Erwerb von Todes wegen des Eigentums an einem im Inland belegenen bebauten Grundstück i.S. des § 181 Abs. 1 Nr. 1 bis 5 des Bewertungsgesetzes durch Kinder im Sinne der Steuerklasse I Nr. 2, soweit der Erblasser darin bis zum Erbfall eine Wohnung zu eigenen Wohnzwecken genutzt hat oder bei der er aus zwingenden Gründen an einer Selbstnutzung zu eigenen Wohnzwecken gehindert war, die beim Erwerber unverzüglich zur Selbstnutzung zu eigenen Wohnzwecken bestimmt ist (Familienheim) und soweit die Wohnfläche der Wohnung 200 m² nicht übersteigt. Dies gilt vorbehaltlich der Einschränkungen in § 13 Abs. 1 Nr. 4c Sätze 2 bis 4 ErbStG (zur Grundstücksdefinition Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 23.02.2021 - II R 29/19, BFHE 272, 497; zur Bestimmung zur Selbstnutzung BFH-Urteil vom 06.05.2021 - II R 46/19, BFHE 273, 554).a) Nach § 13 Abs. 1 Nr. 4c Satz 5 ErbStG fällt die Steuerbefreiung mit Wirkung für die Vergangenheit weg, wenn der Erwerber das Familienheim innerhalb von zehn Jahren nach dem Erwerb nicht mehr zu Wohnzwecken selbst nutzt, es sei denn, er ist aus zwingenden Gründen an einer Selbstnutzung zu eigenen Wohnzwecken gehindert (sog. Nachversteuerungstatbestand, vgl. BFH-Urteil vom 11.07.2019 - II R 38/16, BFHE 265, 437, BStBl II 2020, 314, Rz 11).b) Die Steuerbefreiungsvorschrift ist eng auszulegen. Damit begegnet sie keinen verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl. BFH-Urteil vom 29.11.2017 - II R 14/16, BFHE 260, 372, BStBl II 2018, 362, Rz 27, m.w.N.). Entsprechendes gilt für die in § 13 Abs. 1 Nr. 4c Satz 5 Halbsatz 2 ErbStG geregelte Rückausnahme von der Nachversteuerung.c) Tritt der Nachversteuerungstatbestand ein, ist der Steuerbescheid nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO zu ändern. Nach § 175 Abs. 1 Satz 2 AO beginnt in diesen Fällen die Festsetzungsfrist mit Ablauf des Kalenderjahrs, in dem das Ereignis eintritt.2. In dem Merkmal "aus zwingenden Gründen an einer Selbstnutzung zu eigenen Wohnzwecken gehindert" müssen sich die Hinderungsgründe auf die Selbstnutzung des betreffenden Familienheims beziehen. Ob der Erwerber an einem anderen Ort einen Haushalt führen kann, ist nicht entscheidend. Der Senat teilt nicht die Auffassung, die Unmöglichkeit, selbständig einen Haushalt zu führen, müsse sich auf das Führen eines eigenen Haushalts schlechthin --d.h. auch an einem anderen Ort als in dem erworbenen Familienheim-- beziehen (so die Urteile des FG Münster vom 31.01.2013 - 3 K 1321/11 Erb, EFG 2013, 715, Rz 42, und vom 10.12.2020 - 3 K 420/20 Erb, EFG 2021, 385, Revision II R 1/21; offengelassen im Urteil des Hessischen FG vom 10.05.2016 - 1 K 877/15, juris, Rz 19 f.; kritisch auch Jülicher in Troll/Gebel/Jülicher/Gottschalk, ErbStG, § 13 Rz 72a; Curdt in Kapp/Ebeling, § 13 ErbStG, Rz 39.5).a) Die Nachversteuerung setzt nach dem Gesetzeswortlaut zunächst voraus, dass "der Erwerber das Familienheim ... nicht mehr zu Wohnzwecken selbst nutzt". Die unmittelbar folgende Wendung "an einer Selbstnutzung zu eigenen Wohnzwecken gehindert" kann nur die Selbstnutzung des betreffenden Familienheims meinen. Sie bezieht sich nicht auf die Führung jeglichen Haushalts auch andern Orts.b) Eine solche (ungeschriebene) Voraussetzung verfehlte zudem die Zielrichtung der Vorschrift. Die Begünstigung des Familienheims in § 13 Abs. 1 Nr. 4c ErbStG soll u.a. das Familiengebrauchsvermögen erhalten und den gemeinsamen familiären Lebensraum schützen (vgl. BTDrucks 16/11107, S. 9). Bei Aufgabe der Selbstnutzung fällt dieses Schutzziel fort. Soweit das Gesetz aus Billigkeitsgründen zugunsten eines Erwerbers den Nachversteuerungstatbestand mit einer Rückausnahme wegen einer Zwangslage versieht, kann diese sinnvoll nur so verstanden werden, dass sich die Zwangslage gerade auf das nicht mehr erfüllte Tatbestandsmerkmal mit dem entsprechenden Schutzziel bezieht. Das ist die Selbstnutzung des Familienheims mit dem familiären Lebensraum. Das verfassungsrechtliche Gebot enger Auslegung vermag keine zweckwidrige Auslegung zu rechtfertigen. Dem entsprechend ging das Vorstellungsbild bereits im Gesetzgebungsverfahren dahin, die Steuerbefreiung zu belassen, wenn zwingende Gründe das selbständige Führen eines Haushalts "in dem erworbenen Familienheim" unmöglich machen (BTDrucks 16/11107, S. 9).3. Der Erwerber muss aus zwingenden Gründen an einer Selbstnutzung des Familienheims zu eigenen Wohnzwecken gehindert sein. Es reicht nicht aus, wenn sich der Erwerber nur aufgrund persönlicher oder wirtschaftlicher Zweckmäßigkeitserwägungen an der Selbstnutzung gehindert fühlt.a) Das Merkmal "zwingend" schließt Gründe aus, kraft derer die Beendigung der Selbstnutzung aus Sicht des Erwerbers nachvollziehbar und auch verständig scheint, jedoch Gegenstand seiner freien Entscheidung ist. Es gehört dann zur privaten Lebensgestaltung des Erwerbers, ob und wie er das Familienheim nutzen möchte. Das ist insbesondere der Fall, wenn es nach Art und Gestaltung nicht den persönlichen Vorstellungen des Erwerbers entspricht.b) Der Erwerber ist hingegen aus zwingenden Gründen an einer Selbstnutzung des Familienheims zu eigenen Wohnzwecken gehindert, wenn diese ihm unter den konkreten Umständen objektiv unmöglich oder unzumutbar wird. Das entspricht dem Billigkeitscharakter der Vorschrift.aa) Zwingende Gründe liegen vor, wenn dem Erwerber die Selbstnutzung des Familienheims objektiv unmöglich wird, sie sind jedoch nicht auf diese Fälle beschränkt. Andernfalls erschöpfte sich der Anwendungsbereich der Rückausnahme praktisch im Tod des Erwerbers. Eine solche Regelung war ersichtlich nicht gesetzgeberisches Ziel. Selbst der Fall der Pflegebedürftigkeit, der im Gesetzgebungsverfahren als Beispiel diente (BTDrucks 16/11107, S. 9) und auch von der Finanzverwaltung übernommen wurde (R E 13.4 Abs. 6 Satz 9 sowohl der Erbschaftsteuer-Richtlinien 2011 vom 19.12.2011, BStBl I 2011, Sondernummer 1/2011, S. 2, als auch der Erbschaftsteuer-Richtlinien 2019 vom 16.12.2019, BStBl I 2019, Sondernummer 1/2019, S. 2), begründet regelmäßig keine objektive Unmöglichkeit. Die Pflege kann im Allgemeinen auch mit Hilfe entsprechender Dienste im eigenen Heim durchgeführt werden. Ob dies wirtschaftlich sinnvoll ist, ist eine Frage der Zweckmäßigkeit.bb) Vielmehr ist es erforderlich, aber auch ausreichend, wenn dem Erwerber aus objektiven Gründen die Selbstnutzung des Familienheims nicht mehr zuzumuten ist. Dabei ist ein strenger Maßstab anzulegen, um eine verfassungswidrige Begünstigung zu vermeiden. Ein abgeschlossener Katalog von Gründen besteht jedoch nicht.cc) Wann mit dieser Maßgabe von zwingenden Gründen auszugehen ist, ist nach § 118 Abs. 2 FGO Gegenstand der tatsächlichen Würdigung durch das FG. Maßgeblich ist die Gesamtwürdigung aller Tatsachen. Das gilt auch für die Frage, welche Rückschlüsse aus der Lebensführung des Erwerbers nach Verlassen des Familienheims gezogen werden können, insbesondere aus dem Umzug in einen anderen selbst geführten Haushalt oder in eine Wohnform mit Betreuung und Pflege.dd) Die Feststellungslast für diejenigen Umstände, die eine Selbstnutzung des Familienheims objektiv unmöglich machen oder aus objektiven Gründen unzumutbar erscheinen lassen, trägt der Erwerber (vgl. BFH-Urteil in BFHE 273, 554, Rz 23).c) Nach diesen Kriterien kann ein zwingender Grund i.S. von § 13 Abs. 1 Nr. 4c Satz 5 Halbsatz 2 ErbStG auch vorliegen, wenn der Erwerber zwar unter Zuhilfenahme externer Hilfe- und Pflegeleistungen in der Lage ist, weiter in dem erworbenen Familienheim zu leben, diese jedoch ein solches Ausmaß annehmen, dass nicht mehr von einer selbständigen Haushaltsführung des Erwerbers in dem betreffenden Familienheim gesprochen werden kann. Allein die regelmäßige Inanspruchnahme der üblichen Unterstützungsleistungen genügt dafür allerdings nicht. Bereits den Gesetzgebungsmaterialien ist zu entnehmen, dass zwingende Gründe solche sind, die das "selbständige Führen" eines Haushalts in dem erworbenen Familienheim unmöglich machen (BTDrucks 16/11107, S. 9). Dieses Abgrenzungskriterium entspricht der Zielsetzung der Vorschrift, den gemeinsamen familiären Lebensraum zu schützen. Vermag der Erwerber diesen Lebensraum nicht mehr aus im Wesentlichen eigener Kraft auszufüllen, ist das Familienheim zur äußeren Hülle entwertet.d) Ist der Erwerber aus zwingenden Gründen an einer Selbstnutzung zu eigenen Wohnzwecken gehindert, führt weder die Aufgabe des Eigentums an dem Familienheim (dazu BFH-Urteil in BFHE 265, 437, BStBl II 2020, 314) noch der Abriss des Gebäudes zur Nachversteuerung. Ist die Beendigung der Selbstnutzung des Familienheims aus den oben dargestellten zwingenden Gründen erbschaftsteuerrechtlich unschädlich, muss dies auch --als Annex-- für eine spätere Veräußerung oder einen späteren Abriss gelten. Wenn der Schutzzweck des § 13 Abs. 1 Nr. 4c Satz 1 ErbStG aus zwingenden Gründen nicht mehr erfüllt werden kann, hat die Entäußerung des Familienheims keine Bedeutung mehr.4. Das FG ist von anderen Maßstäben ausgegangen. Die Vorentscheidung war aufzuheben und an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen. Das FG hat --von seiner Rechtsauffassung ausgehend zu Recht-- nicht alle erforderlichen tatsächlichen Feststellungen getroffen, um abschließend beurteilen zu können, ob sich das Urteil im Ergebnis (§ 126 Abs. 4 FGO) dennoch als richtig erweist.a) Zutreffend ist, dass allein der bauliche Zustand des Gebäudes keinen zwingenden Grund für die Aufgabe der Selbstnutzung darstellen konnte. Es handelte sich um Wirtschaftlichkeits- und damit Zweckmäßigkeitserwägungen, denn der bauliche Zustand kann grundsätzlich veränderten Lebensumständen angepasst werden.b) Der Klage kann aber aus den Gründen unter II.2. der Erfolg nicht bereits deshalb versagt werden, weil der Klägerin die selbständige Haushaltsführung an einem anderen Ort als dem ererbten Familienheim möglich war. Ob nach den Maßstäben unter II.3. die geltend gemachten gesundheitlichen Beeinträchtigungen einen zwingenden Grund für die Beendigung der Selbstnutzung des Familienheims darstellten, steht nicht fest und hängt davon ab, ob die Klägerin tatsächlich in dem unter II.3.c dargestellten Maße auf Hilfe Dritter angewiesen war.Das FG hat die notwendigen Feststellungen dazu, ob die behaupteten gesundheitlichen Beeinträchtigungen tatsächlich bestanden und so beschaffen waren, dass sie der Klägerin unter Anlegung des gebotenen strengen Maßstabs die weitere Selbstnutzung des Familienheims unzumutbar machten, unter Mitwirkung der Klägerin (§ 90 Abs. 1 Satz 1 AO) nachzuholen. Ihm ist die abschließende Würdigung des Sachverhalts vorbehalten.5. Die Übertragung der Kostenentscheidung folgt aus § 143 Abs. 2 FGO.6. Der Senat entscheidet nach § 121 Satz 1 i.V.m. § 90 Abs. 2 FGO ohne mündliche Verhandlung.
bundesfinanzhof
bfh_034-21
30. September 2021
Schadensersatz wegen Prospekthaftung bei Beteiligung an gewerblich tätiger Fonds-KG steuerpflichtig 30. September 2021 - Nummer 034/21 - Urteil vom 17.03.2021 IV R 20/18 Mit Urteil vom 17.03.2021 hat der Bundesfinanzhof (BFH) entschieden, dass der Schadensersatzanspruch, der einem Kommanditisten einer gewerblich tätigen Fonds-KG wegen fehlerhafter Angaben im Beteiligungsprospekt zusteht, steuerpflichtig ist.Nach ständiger Rechtsprechung des BFH gehören zu den gewerblichen Einkünften des Gesellschafters einer Personengesellschaft alle Einnahmen und Ausgaben, die ihre Veranlassung in der Beteiligung an der Gesellschaft haben. Erhält danach der Gesellschafter Schadensersatz, so ist dieser als Sonderbetriebseinnahme bei den gewerblichen Einkünften zu erfassen, wenn das schadensstiftende Ereignis mit der Stellung des Gesellschafters als Mitunternehmer zusammenhängt.Der Kläger hatte vor dem Zivilgericht ein Urteil erstritten, durch das ihm gegen den Ersteller des Beteiligungsprospekts für einen gewerblich tätigen Filmfonds, dem der Kläger als Kommanditist beigetreten war, Schadensersatz wegen fehlerhafter Angaben in dem Prospekt zugesprochen worden war. Anders als das Finanzamt war der Kläger der Meinung, dass dieser Anspruch nicht der Besteuerung unterliege.Der BFH entschied nun, dass auch Ansprüche aus zivilrechtlicher Prospekthaftung, die dem Mitunternehmer einer KG gegen einen Vermittler oder Berater zustehen, weil unzureichende Informationen über eine eingegangene Beteiligung erteilt wurden, der Besteuerung unterliegen. Dies gilt nicht nur für den Schadensersatz aus Prospekthaftung selbst, sondern auch für den Zinsanspruch, den der Kläger für die Dauer seines zivilgerichtlichen Schadensersatzprozesses erstritten hat.  Bundesfinanzhof Pressestelle       Tel. (089) 9231-400 Pressesprecher  Tel. (089) 9231-300 Siehe auch: IV R 20/18
30.09.2021 · IWW-Abrufnummer 224947 Bundesfinanzhof: Urteil vom 17.03.2021 – IV R 20/18 1. Der Schadensersatzanspruch eines Mitunternehmers wegen Prospekthaftung unterliegt der Einkommensteuer. 2. Besteht die Verpflichtung zur Leistung von Schadensersatz Zug um Zug gegen Übertragung der Kommanditbeteiligung selbst, führt die Übertragung des wirtschaftlichen Eigentums an der Kommanditbeteiligung zu einem Veräußerungsgewinn nach § 16 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG . Besteht die Verpflichtung Zug um Zug gegen Abtretung von Ansprüchen, die nicht der Übertragung der Beteiligung selbst entsprechen, führt die Abtretung zu einem laufenden Sonderbetriebsgewinn nach § 15 EStG . 3. Zinsen im Zusammenhang mit einem Schadensersatzanspruch aus Prospekthaftung sind Bestandteil derjenigen betrieblichen Einkünfte, die aus dem Schadensersatz selbst erzielt werden. Tenor:Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 05.06.2018 ‒ 5 K 5280/16 aufgehoben.Die Sache wird an das Finanzgericht Berlin-Brandenburg zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens übertragen.GründeI.1Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) war als Kommanditist an der gewerblich tätigen A‒GmbH & Co. KG (A‒KG) beteiligt. Diese Beteiligung hatte die B‒AG dem Kläger vermittelt. Dabei war ein Fondsprospekt verwendet worden, den die C‒GmbH erstellt hatte.2Der Kläger erstritt in der Folgezeit vor dem Zivilgericht Schadensersatzleistungen nebst Rechtshängigkeitszinsen gegen die C‒GmbH wegen fehlerhafter Angaben in dem Fondsprospekt. Der Schadensersatz wurde dem Kläger Zug um Zug gegen Abtretung seiner sämtlichen Ansprüche aus der Beteiligung an der A‒KG zugesprochen. Daraufhin fertigte der Kläger den Feststellungen des Finanzgerichts (FG) zufolge eine Abtretungsanzeige hinsichtlich seiner Anteile an der A‒KG und sandte diese an die C‒GmbH. Am …2011 wurde die Löschung der A‒KG in das Handelsregister eingetragen.3Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt —FA—) erließ unter dem 17.04.2014 für die A‒KG einen Bescheid über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Einkünften aus Gewerbebetrieb für das Streitjahr (2010). Für den Kläger stellte das FA dabei einen Sonderbetriebsgewinn von … € fest. Dabei ging es von Sonderbetriebseinnahmen in Höhe der Schadensersatzleistung nebst Zinsen (… €) und Sonderbetriebsausgaben in Höhe von … € aus.4In dem hiergegen gerichteten Einspruchsverfahren machte der Kläger geltend, dass die Schadensersatzleistung, abzüglich des an die C‒GmbH ausgekehrten Liquidationserlöses, einen Veräußerungsgewinn nach §§ 16 , 34 des Einkommensteuergesetzes in der für das Streitjahr geltenden Fassung (EStG) darstelle. Die ihm zustehenden Prozesszinsen seien nicht Teil von Einkünften aus Gewerbebetrieb, sondern stellten Einkünfte aus Kapitalvermögen nach § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG dar.5Das FA wies den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 10.10.2016 als unbegründet zurück, soweit der Kläger hiervon betroffen ist. Die Schadensersatzleistungen, die der Kläger erhalten habe, seien Teil seiner laufenden Einkünfte aus der Beteiligung an der A‒KG.6Mit der hiergegen erhobenen Klage berief sich der Kläger auf das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 06.09.2016 ‒ IX R 44/14 (BFHE 255, 148, BStBl II 2018, 323) und machte geltend, dass der erhaltene Schadensersatz nebst Zinsen schon nicht einkommensteuerbar sei. Das FG gab der Klage mit Urteil vom 05.06.2018 ‒ 5 K 5280/16 statt. Es sei zwar ein Mitunternehmeranteil veräußert, aber das an den Kläger gezahlte Entgelt sei nicht hierfür gezahlt worden. Denn seine Beteiligung an der A‒KG sei zum Stichtag objektiv wertlos gewesen. Die Leistung sei vielmehr auf Grundlage einer Schädigung gezahlt worden, die noch vor Begründung der Mitunternehmerstellung erfolgt sei. Ursächlich für den zivilgerichtlich anerkannten Schadensersatz seien unzutreffende Angaben in dem Beteiligungsprospekt gewesen. Diese Falschinformationen hätten den Kläger veranlasst, die Mitunternehmerstellung an der A‒KG zu erwerben. Der gezahlte Zins als Nebenleistung teile das Schicksal der Hauptleistung. Die Schadensersatzleistung sei jedoch nicht steuerbar, da sie unter keine der Einkunftsarten des EStG falle.7Mit seiner Revision rügt das FA die Verletzung von § 2 Abs. 1 , § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 Halbsatz 2 EStG . Die durch den Kläger erlangte Schadensersatzleistung sei betrieblich veranlasst und als Sonderbetriebsgewinn zu erfassen. Es sei zu berücksichtigen, dass der Kläger den Wertverlust seiner Beteiligung in der Vergangenheit steuerrechtlich habe geltend machen können. Dieser Vorteil werde nach der zivilgerichtlichen Rechtsprechung bei der Berechnung der Schadenshöhe deshalb nicht angerechnet, weil die Schadensersatzzahlung als steuerbar behandelt werde. Es sei nicht sachgerecht, einen Wertverlust steuerrechtlich zu berücksichtigen, dessen Entschädigung dann aber der Besteuerung vorzuenthalten.8Das FA beantragt sinngemäß, das Urteil des FG vom 05.06.2018 ‒ 5 K 5280/16 aufzuheben und die Klage abzuweisen. 9Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen. 10Er verteidigt das angefochtene Urteil. Ursächlich für den Schadensersatzanspruch seien die falschen Informationen im Vorfeld des Beteiligungserwerbs gewesen. Der Anspruch auf Schadensersatz wegen eines im Privatvermögen erlittenen Vermögensnachteils entstehe weder innerhalb des Gesamthandsvermögens noch im Bereich des Sonderbetriebsvermögens.II.11Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angegriffenen FG-Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung ( § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung —FGO—).12Gegenstand des Verfahrens ist die Feststellung eines Sonderbetriebsgewinns des Klägers bei der A‒KG (dazu unter 1.). Das FG hat zwar zutreffend die Zulässigkeit der Klage bejaht und die Vornahme von Beiladungen unterlassen (dazu unter 2.). Es ist aber rechtsfehlerhaft davon ausgegangen, dass der dem Kläger gewährte Schadensersatz einschließlich der Zinsen außerhalb des einkommensteuerbaren Bereichs liege, und hat der Klage auf dieser Grundlage zu Unrecht stattgegeben. Dabei reichen die bisherigen Feststellungen des FG nicht aus, um zu beurteilen, ob und ggf. in welcher Höhe dem Kläger im Streitjahr ein Sonderbetriebsgewinn aus der Schadensersatzleistung entstanden ist (dazu unter 3.).131. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die Feststellung eines Sonderbetriebsgewinns des Klägers.14Nach ständiger Rechtsprechung des BFH kann ein Bescheid über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen nach §§ 179 , 180 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a der Abgabenordnung (AO) eine Vielzahl selbständiger und damit auch selbständig anfechtbarer Feststellungen enthalten, die eigenständig in Bestandskraft erwachsen. Solche selbständigen Feststellungen sind auch die Feststellung eines Sonderbetriebsgewinns —verstanden als Saldo von Sonderbetriebseinnahmen und ‒ausgaben— bzw. einer Sondervergütung i.S. von § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 Halbsatz 2 EStG (vgl. BFH-Urteile vom 20.08.2015 ‒ IV R 12/12 , Rz 8 f.; vom 30.11.2017 ‒ IV R 33/14 , Rz 22; vom 01.03.2018 ‒ IV R 38/15 , BFHE 260, 543, BStBl II 2018, 587, Rz 24; vom 23.01.2020 ‒ IV R 48/16 , Rz 17).15Vorliegend wendet sich der Kläger ausschließlich gegen die Feststellung des für ihn bei der A‒KG festgestellten Sonderbetriebsgewinns in Höhe von … €. Auch wenn der angefochtene Feststellungsbescheid insoweit gesondert Sonderbetriebseinnahmen und ‒ausgaben ausweist, ist als selbständige Feststellung allein der sich daraus als Saldo ergebende Sonderbetriebsgewinn zu verstehen.162. Zu Recht hat das FG die Zulässigkeit der Klage bejaht und keine Beiladungen vorgenommen.17a) Die Klagebefugnis des Klägers folgt aus § 48 Abs. 1 Nr. 5 FGO . Bei einem Streit um die Rechtmäßigkeit der Feststellung eines Sonderbetriebsgewinns ist jedenfalls derjenige klagebefugt, für den dieser festgestellt worden ist. Denn gegen einen Bescheid über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Einkünften kann nach § 48 Abs. 1 Nr. 5 FGO jeder Beteiligte im eigenen Namen wegen einer Frage klagen, die ihn persönlich angeht (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Urteil vom 19.12.2019 ‒ IV R 53/16 , BFHE 267, 299, BStBl II 2020, 534, Rz 29).18b) Zutreffend hat das FG die Vornahme von Beiladungen unterlassen. Nach § 60 Abs. 3 FGO sind Dritte notwendig beizuladen, die i.S. von § 48 FGO klagebefugt sind ( BFH-Urteil vom 30.08.2012 ‒ IV R 44/10 , Rz 19). Solche sind im Streitfall jedoch nicht vorhanden.19aa) Die A‒KG war wegen ihrer bereits vor Klageerhebung eingetretenen Vollbeendigung nicht mehr beizuladen (vgl. BFH-Urteil vom 30.03.2017 ‒ IV R 3/15 , Rz 27 f.).20bb) Auch weitere ehemalige Gesellschafter der A‒KG waren nicht notwendig zu dem Klageverfahren beizuladen. Denn vorliegend steht nur der Sonderbetriebsgewinn des Klägers bei der A‒KG im Streit. Davon sind die anderen ehemaligen Gesellschafter der A‒KG unter keinem denkbaren Gesichtspunkt betroffen und haben deshalb keine eigene Klagebefugnis gemäß § 48 Abs. 1 Nrn. 2 bis 5 i.V.m. § 40 Abs. 2 FGO (vgl. BFH-Urteil vom 21.12.2017 ‒ IV R 44/14 , Rz 20).213. Das Urteil des FG ist aufzuheben, weil es nach den bisher getroffenen Feststellungen nicht ausgeschlossen ist, dass ein Sonderbetriebsgewinn des Klägers bis zur Höhe des mit dem angefochtenen Bescheid festgestellten Betrags entstanden ist.22Schadensersatzleistungen, die ein Mitunternehmer aus Prospekthaftung erhält, sind durch seine Mitunternehmerstellung und damit betrieblich veranlasst (a). Sie können zu einem laufenden Sonderbetriebsgewinn führen, sofern nicht das wirtschaftliche Eigentum an dem Mitunternehmeranteil Zug um Zug gegen die Schadensersatzleistung zu übertragen ist (b). Verzugs‒ und Rechtshängigkeitszinsen teilen das Schicksal der Schadensersatzleistung (c). Die Feststellungen des FG reichen nicht aus, um zu beurteilen, ob und ggf. in welcher Höhe dem Kläger im Streitjahr ein Sonderbetriebsgewinn aus der Schadensersatzleistung entstanden ist (d).23a) Schadensersatzleistungen, die ein Mitunternehmer aus Prospekthaftung erhält, sind durch seine Mitunternehmerstellung und damit betrieblich veranlasst.24aa) Zu den gewerblichen Einkünften des Gesellschafters (Mitunternehmers) einer gewerblich tätigen Personengesellschaft i.S. des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG (Mitunternehmerschaft) gehören alle Einnahmen und Ausgaben, die ihre Veranlassung in der Beteiligung des Steuerpflichtigen an der Personengesellschaft haben. Sie sind bei ihm als Sonderbetriebseinnahmen oder Sonderbetriebsausgaben zu erfassen (z.B. BFH-Urteil vom 07.11.2018 ‒ IV R 20/16 , BFHE 262, 435, BStBl II 2019, 224, Rz 46, m.w.N.).25Erhält ein Mitunternehmer eine Leistung zum Ersatz eines Schadens, ist die erhaltene Leistung als Sonderbetriebseinnahme zu behandeln, wenn das schadenstiftende Ereignis mit der Stellung als Mitunternehmer zusammenhängt. Für Sonderbetriebseinnahmen gelten insoweit die gleichen Grundsätze wie für Betriebseinnahmen (vgl. zur Abgrenzung zwischen betrieblicher und außerbetrieblicher Veranlassung von Schadensersatz BFH-Urteil vom 18.06.1998 ‒ IV R 61/97 , BFHE 186, 363, BStBl II 1998, 621, unter 1.). Danach sind auch Schadensersatzleistungen, die ein Mitunternehmer auf Grundlage einer Prospekthaftung erhält, durch seine Beteiligung an der Mitunternehmerschaft veranlasst.26(1) Zivilrechtlich dient die Prospekthaftung dem Ausgleich eines Schadens, der durch unzureichende Informationen über eine eingegangene Beteiligung verursacht wurde.27Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) zur bürgerlich-rechtlichen Prospekthaftung muss ein Prospekt über ein Beteiligungsangebot den Anleger über alle Umstände, die für seine Entschließung von wesentlicher Bedeutung sind oder sein können, sachlich richtig und vollständig unterrichten. Eine Haftung für den Inhalt des Prospekts kommt für die Gründer, Initiatoren und Gestalter der Beteiligungsgesellschaft sowie für diejenigen Personen in Betracht, die hinter der Gesellschaft stehen und auf deren Geschäftsgebaren oder die Gestaltung des konkreten Modells Einfluss ausüben und deshalb Mitverantwortung tragen (z.B. BGH-Urteil vom 06.03.2008 ‒ III ZR 89/06 in dem Prospekthaftungsverfahren betreffend die C‒GmbH; grundlegend zur Prospekthaftung bei Publikums-KG BGH-Urteil vom 06.10.1980 ‒ II ZR 60/80 , BGHZ 79, 337 ; s.a. Palandt/Grüneberg, Bürgerliches Gesetzbuch, 80. Aufl., § 311 Rz 67 ff.).28Rechtsfolge einer Prospekthaftung ist der Ersatz des Schadens, den der Geschädigte erlitten hat, weil er den unzureichenden Angaben in dem Prospekt vertraut hat und deshalb eine Wertminderung seiner Beteiligung nicht erkennen oder vorhersehen konnte. Der Kapitalanleger ist danach so zu stellen, wie er stehen würde, wenn der Haftende seiner Aufklärungspflicht nachgekommen wäre. Wenn der Geschädigte dann der Beteiligungsgesellschaft nicht beigetreten wäre, besteht der zu ersetzende Schaden in dem —vollen oder teilweisen— Verlust der geleisteten Einlagen und eines etwaigen Agios (s. BGH-Urteil in BGHZ 79, 337 , unter I.6. [Rz 31]). Der Schadensersatzanspruch ist regelmäßig auf eine Rückzahlung des aufgewandten Betrags und den Ersatz etwaiger Folgeschäden gerichtet. Dies erfolgt Zug um Zug gegen die Übertragung der Anlage, um dem Umstand Rechnung zu tragen, dass eine Beteiligung noch werthaltig ist und damit bestehende Vorteile bei dem Geschädigten abgeschöpft werden ( BGH-Urteil vom 26.09.1991 ‒ VII ZR 376/89 , BGHZ 115, 213 , unter II.3.b aa, II.4.b aa [Rz 40, 57]). Der Vorteilsausgleich des Schadensersatzrechts verlangt zudem die Anrechnung von Ausschüttungen und Zinsvorteilen, die der Geschädigte aus der Anlage erzielt hat ( BGH-Urteil vom 06.02.2006 ‒ II ZR 329/04 , Neue Juristische Wochenschrift —NJW— 2006, 2042, unter II.3.b [Rz 18]).29Auch die steuerrechtlichen Verhältnisse des Geschädigten können nach der Rechtsprechung des BGH die Bemessung seines Schadensersatzanspruchs beeinflussen. So können erlittene steuerrechtliche Nachteile seinen Anspruch erhöhen, aus der Anlage erzielte steuerrechtliche Vorteile können auf seinen Schadensersatzanspruch anzurechnen sein (z.B. BGH-Urteil in NJW 2006, 2042 [BGH 06.02.2006 - II ZR 329/04] , unter II.3.a und II.3.c [Rz 17, 19]; zur Anrechnung lediglich außergewöhnlich hoher Steuervorteile BGH-Urteile vom 15.07.2010 ‒ III ZR 336/08 , BGHZ 186, 205 , und vom 28.01.2014 ‒ XI ZR 495/12 , BGHZ 200, 110 ).30Eine Anrechnung ersparter Steuern auf die Schadensersatzleistung unterbleibt jedoch nach der Rechtsprechung des BGH dann, wenn die Schadensersatzleistung ihrerseits zu einer Besteuerung führt, die dem Geschädigten die erzielten Steuervorteile wieder nimmt (BGH-Urteile in BGHZ 186, 205, Rz 36; vom 23.09.2014 ‒ XI ZR 215/13 , Rz 26). Der BGH nimmt bei der Bemessung des Umfangs des Schadensersatzanspruchs aus bürgerlich-rechtlicher Prospekthaftung eine Einkommensteuerbarkeit der dem Geschädigten gewährten Leistungen nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 oder § 16 EStG an. Der Geschädigte muss sich deshalb eine in der Vergangenheit durch Nutzung von Verlustzuweisungen aus der Beteiligung geminderte Steuerlast auch nicht als Vorteilsausgleich auf den Schadensersatzanspruch anrechnen lassen (BGH-Urteile in BGHZ 186, 205 , Rz 55, und in BGHZ 200, 110, Rz 14 ff. ).31(2) Die danach von einem Mitunternehmer erlangte Schadensersatzleistung ist aus einkommensteuerrechtlicher Sicht durch dessen Beteiligung veranlasst. Schadenstiftende Ursache ist der unzureichende Prospekt, weil der Mitunternehmer unzureichend über seine eingegangene Beteiligung informiert wurde und deshalb der Gesellschaft beigetreten ist. Sinkt der Wert der Beteiligung des Mitunternehmers, gewährt der Anspruch aus Prospekthaftung einen Ausgleich für die geleisteten Einlagen und sonstigen betrieblichen Aufwendungen des Mitunternehmers. Zwischen der schadenstiftenden Ursache und der mitunternehmerischen Beteiligung besteht deshalb ein sachlicher und wirtschaftlicher Zusammenhang und der Anspruch aus der Prospekthaftung wirkt sich auf die Einkünfte des Mitunternehmers aus (so im Ergebnis auch Weber-Grellet, Der Betrieb 2007, 2740, 2741; Podewils, Deutsches Steuerrecht —DStR— 2009, 752, 754; Knebel/Schmidt, Betriebs-Berater 2010, 1316, 1317 f.; Brendle-Weith, Zeitschrift zum Immobilien-Steuerrecht 2011, 106, 107; Jooß, DStR 2014, 6, 8 f.; Martini, DStR 2014, 2160, 2162; Schmidt/Wacker, EStG, 40. Aufl., § 16 Rz 145).32Dem steht nicht entgegen, dass das schadenstiftende Ereignis vor dem Erwerb der Beteiligung eingetreten ist. Denn einkommensteuerrechtlich stehen auch Vorbereitungshandlungen für die Aufnahme einer betrieblichen Tätigkeit in einem ausreichend engen Zusammenhang mit der betrieblichen Einkunftserzielung. Deshalb sind etwa Ausgaben gewinnmindernd zu berücksichtigen, die vor der Aufnahme der werbenden betrieblichen Tätigkeit entstanden und auf die Erzielung von betrieblichen Einkünften gerichtet sind (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Urteil vom 07.02.2018 ‒ X R 10/16 , BFHE 260, 490 [BFH 06.02.2018 - IX R 33/17] , BStBl II 2018, 630, Rz 49 f.).33bb) Die Grundsätze des BFH-Urteils in BFHE 255, 148, BStBl II 2018, 323 [BFH 06.09.2016 - IX R 44/14] sind entgegen der Auffassung des Klägers und des FG auf Schadensersatz aus Prospekthaftung für die Beteiligung an einer Mitunternehmerschaft nicht anwendbar.34Das Urteil betrifft die Beteiligung an einer grundbesitzenden und rein vermögensverwaltend tätigen Personengesellschaft. Diese unterscheidet sich grundlegend von einer Mitunternehmerschaft, weil dem Gesellschafter dort nur Anteile an den Einkünften aus der Vermögensverwaltung und bestimmten steuerbaren privaten Veräußerungsgeschäften der Personengesellschaft zuzurechnen sind. Anders als bei mitunternehmerischen Beteiligungen werden Vermögenszuwächse und ‒minderungen bei Gesellschaftern vermögensverwaltender Personengesellschaften nicht umfassend ertragsteuerrechtlich erfasst.35b) Ob die dem Kläger im Streitjahr zugeflossenen Schadensersatzleistungen aus Prospekthaftung zu einem laufenden Sonderbetriebsgewinn des Klägers geführt haben, hängt davon ab, ob der zur Leistung von Schadensersatz Verpflichtete durch das zivilgerichtliche Urteil zur Leistung Zug um Zug gegen Übertragung der Kommanditbeteiligung selbst verpflichtet wurde oder Zug um Zug gegen Abtretung von Ansprüchen, die nicht dem Erwerb der Beteiligung entsprechen.36aa) Enthält das zivilgerichtliche Urteil eine Verurteilung zur Leistung von Schadensersatz Zug um Zug gegen Übertragung der Kommanditbeteiligung selbst, kann dies im Streitjahr nur zu einem (im Gewinnfeststellungsbescheid nicht festgestellten) Veräußerungsgewinn des Klägers nach § 16 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG führen, nicht aber zu einem laufenden Sonderbetriebsgewinn.37Zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb gehört nach § 16 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG der Gewinn aus der Veräußerung des gesamten Anteils eines Gesellschafters, der als Mitunternehmer i.S. des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG anzusehen ist. Veräußerung ist die entgeltliche Übertragung des gesamten Mitunternehmeranteils. Die Übertragung des Mitunternehmeranteils Zug um Zug gegen Erhalt von Schadensersatzleistungen erfüllt diese Voraussetzungen. Welcher Rechtsgrund der Übertragung zugrunde liegt, ist ohne Bedeutung. Maßgebend ist allein, dass die Übertragung nicht unentgeltlich erfolgen soll und der Übertragende im wirtschaftlichen Zusammenhang mit der Übertragung vom Übertragungsempfänger oder einem Dritten Leistungen erhält. Demgegenüber setzt eine unentgeltliche Übertragung voraus, dass der Übertragende beabsichtigt, den Empfänger unentgeltlich zu bereichern ( BFH-Urteil vom 26.06.2002 ‒ IV R 3/01 , BFHE 199, 482, BStBl II 2003, 112, unter 4.a).38Erhält der Mitunternehmer eine Schadensersatzleistung aus Prospekthaftung Zug um Zug gegen Übertragung der Beteiligung an der Personengesellschaft, stehen der Anspruch des Mitunternehmers auf Schadensersatzleistung und der Anspruch des Schadensersatzverpflichteten auf Übertragung der Gesellschaftsanteile wirtschaftlich in einem vergleichbar engen Zusammenhang wie im Fall einer Veräußerung der Anteile durch den Mitunternehmer an den Schadensersatzverpflichteten. Deshalb ist der Vorgang ebenso zu behandeln wie die Veräußerung eines Mitunternehmeranteils. Eine Absicht des Übertragenden, den Übertragungsempfänger zu bereichern, kann ausgeschlossen werden. Dem Übertragenden geht es um den Erhalt der Schadensersatzleistung, der durch das zivilgerichtliche Urteil notwendig mit der Übertragung der Beteiligung auf den Schadensersatzverpflichteten verbunden ist. Grundlage der Verpflichtung zur Übertragung des Anteils ist das zivilrechtliche Schadensersatzrecht, das die Anrechnung gezogener Vorteile beinhaltet (Vorteilsausgleich, dazu oben unter II.3.a aa (1)), kein Wille zur Vornahme einer unentgeltlichen Zuwendung.39bb) Erhält der Mitunternehmer die Schadensersatzleistung aus Prospekthaftung Zug um Zug gegen die Abtretung von Ansprüchen, die nicht der Übertragung der Beteiligung selbst entsprechen, kann dadurch ein laufender Sonderbetriebsgewinn entstehen. Auch in diesem Fall liegt ein Veräußerungsgeschäft vor, denn die Übertragung (Abtretung) soll nicht unentgeltlich erfolgen und der Übertragende erhält mit der Übertragung vom Übertragungsempfänger Leistungen. Aus diesem Vorgang entsteht allerdings ein laufender Sonderbetriebsgewinn nach § 15 EStG und kein Veräußerungsgewinn nach § 16 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG , da Gegenstand der Übertragung kein Mitunternehmeranteil ist.40Ermittelt die Personengesellschaft —wie die A‒KG— ihren Gewinn nach § 4 Abs. 1 , § 5 EStG , entsteht der Gewinn (erst) mit der wirksamen Abtretung der Ansprüche. Auf den Zeitpunkt des Zuflusses der Schadensersatzzahlung kommt es nicht an.41cc) Unerheblich ist im Streitfall, ob die Gewinnrealisierung noch während der fortlaufenden werbenden Tätigkeit der A‒KG erfolgte oder erst nach Beginn der Betriebsaufgabe. Bestand die Verpflichtung zur Schadensersatzzahlung Zug um Zug gegen Übertragung der Kommanditbeteiligung selbst, wäre der daraus entstehende Gewinn auch im Fall einer Betriebsaufgabe nicht als ein laufender Sonderbetriebsgewinn festzustellen. Bestand die Verpflichtung zur Schadensersatzzahlung hingegen Zug um Zug gegen die Abtretung von Ansprüchen, die nicht der Übertragung der Beteiligung selbst entsprechen, wäre der daraus entstehende Gewinn auch im Fall einer Betriebsaufgabe als ein laufender Sonderbetriebsgewinn festzustellen, denn er stünde nicht im wirtschaftlichen Zusammenhang mit der Betriebsaufgabe, sondern fiele lediglich zufällig zeitlich mit ihr zusammen.42c) Zinsen im Zusammenhang mit einem Schadensersatzanspruch aus Prospekthaftung sind der betrieblichen Einkunftserzielung zuzuordnen, wenn der Schadensersatzanspruch betrieblich veranlasst ist. Sie sind Bestandteil derjenigen betrieblichen Einkünfte, die aus dem Schadensersatz selbst erzielt werden.43aa) Zinsen wegen Verzugs oder für die Dauer der Rechtshängigkeit einer Zivilklage nach §§ 286 , 291 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) stellen einen Ausgleich dafür dar, dass dem säumigen Schuldner Kapital auf Zeit überlassen wird, bzw. bei dem Rechtshängigkeitszins auch dafür, dass der Schuldner den Gläubiger zur Klageerhebung zwingt und ihn damit einem Prozessrisiko aussetzt (vgl. BGH-Beschluss vom 28.05.2008 ‒ XII ZB 34/05 , unter III.3.). Ertragsteuerrechtlich gehören diese Zinsen nach § 20 Abs. 8 EStG vorrangig zu der Einkunftsart, zu der die verzinsliche Forderung gehört (vgl. BFH-Urteil vom 24.05.2011 ‒ VIII R 3/09 , BFHE 235, 197, BStBl II 2012, 254, Rz 13). Ist die Hauptforderung Bestandteil eines Betriebsvermögens, ist deshalb auch der Zinsanspruch aus dieser Forderung Bestandteil des Betriebsvermögens.44bb) Verzugs‒ und Rechtshängigkeitszinsen, die der Geschädigte im Zusammenhang mit dem Schadensersatzanspruch aus Prospekthaftung erhält, sind nach Auffassung des Senats dem Gewinn aus der Veräußerung des Mitunternehmeranteils zuzuordnen, wenn ein solcher erzielt wird (s. vorstehend unter II.3.b aa). Führt der Schadensersatz zu einem laufenden Sonderbetriebsgewinn des Mitunternehmers, gehören auch die Zinsen zu den Sonderbetriebseinnahmen.45d) Die bisher getroffenen Feststellungen lassen keine abschließende Beurteilung der Frage zu, ob dem Kläger im Streitjahr ein Sonderbetriebsgewinn aus der Schadensersatzleistung einschließlich der Zinsen entstanden ist.46Die angefochtene Feststellung eines laufenden Sonderbetriebsgewinns im Streitjahr (2010) kann nach den vorstehenden Erwägungen nur dann rechtmäßig sein, wenn der Kläger nach dem zivilgerichtlichen Urteil die Schadensersatzleistung aus Prospekthaftung Zug um Zug gegen Abtretung von Ansprüchen erhalten sollte, die nicht der Übertragung der Beteiligung selbst entsprechen, und wenn der Kläger diese Leistung im Streitjahr erbracht hat. Die bisherigen Feststellungen des FG reichen jedoch nicht aus, um zu entscheiden, ob Gegenstand des zivilgerichtlichen Urteils die Verpflichtung zur Zahlung von Schadensersatz Zug um Zug gegen Übertragung der Kommanditbeteiligung selbst war oder zur Zahlung Zug um Zug gegen die Abtretung von Ansprüchen, die nicht der Übertragung der Beteiligung selbst entsprechen, und ob der Kläger die entsprechende Leistung im Streitjahr bereits tatsächlich erbracht hat.47Nach der Rechtsprechung des Senats erfordert die Veräußerung des Mitunternehmeranteils jedenfalls eine Verpflichtung zur Übertragung von Mitunternehmerrisiko und Mitunternehmerinitiative auf den Erwerber (vgl. BFH-Urteil vom 22.06.2017 ‒ IV R 42/13 , BFHE 259, 258, Rz 34). Das FG hat indes im Tatbestand seines Urteils bisher nur festgestellt, dass nach dem zivilgerichtlichen Urteil der Kläger "sämtliche Ansprüche aus seiner Beteiligung" an die C‒GmbH abzutreten hat. Es hat indes nicht festgestellt, ob es sich bei diesen "Ansprüchen aus der Beteiligung" lediglich um ohne Weiteres übertragbare Ansprüche auf Gewinnbeteiligung oder auf einen Liquidationserlös handelt, oder ob die Abtretung auch die Verwaltungsrechte aus der Inhaberschaft des Kommanditanteils selbst umfasst. Für den Kommanditisten bestehen diese insbesondere aus seinem Informations- und Kontrollrecht nach § 166 des Handelsgesetzbuchs (HGB) und seinem Widerspruchsrecht nach § 164 HGB . Fehlt es an der Einräumung jeglicher Verwaltungsrechte an den Erwerber, so ist keine Übertragung von Mitunternehmerinitiative erkennbar.48An den erforderlichen tatsächlichen Feststellungen nach § 118 Abs. 2 FGO fehlt es auch für die in den Entscheidungsgründen des FG-Urteils geäußerte Annahme, der Kläger habe seinen Kommanditanteil bereits vollständig auf die C‒GmbH übertragen, die Veräußerung sei mithin bereits erfolgt. Denn für eine wirksame Abtretung des Kommanditanteils nach §§ 413 , 389 ff. BGB bedarf es der Zustimmung der anderen Gesellschafter bzw. der durch den Gesellschaftsvertrag für einen solchen Vorgang bestimmten Personen, sofern die Übertragung nicht bereits im Gesellschaftsvertrag zugelassen ist (vgl. BGH-Urteil vom 08.07.1957 ‒ II ZR 54/56 , BGHZ 25, 115 , unter IV.2.a; BFH-Urteil vom 22.06.2017 ‒ IV R 42/13 , Rz 39; auch Baumbach/Hopt/Roth, HGB, 40. Aufl., § 161 Rz 8, § 105 Rz 70; MüKoHGB/Schmidt, 4. Aufl., § 105 Rz 214 ff., und MüKoHGB/Grunewald, a.a.O., § 161 Rz 43). Allein aufgrund der vom FG festgestellten Erklärung, in der der Kläger die Abtretung seiner Beteiligung mitgeteilt haben soll, lässt sich deshalb noch nicht auf eine wirksame Übertragung des Mitunternehmeranteils des Klägers schließen. Es fehlt insoweit insbesondere an Feststellungen zu der Frage, welche Anforderungen der Gesellschaftsvertrag der A‒KG an eine wirksame Abtretung der Beteiligung des Kommanditisten gestellt hat.49Mit der Zurückverweisung erhält das FG die Gelegenheit, die noch fehlenden Feststellungen nachzuholen. Das FG-Urteil ist danach aufzuheben und die Sache mangels Spruchreife nach § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.504. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO .515. Die Entscheidung ergeht nach § 121 Satz 1 i.V.m. § 90 Abs. 2 FGO im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung. Sie erfolgt im allseitigen Einverständnis der mitwirkenden Richter aufgrund einer Beratung und Abstimmung im Rahmen einer Videokonferenz (zur Zulässigkeit einer Entscheidung aufgrund einer solchen Beratung s. BFH-Urteil vom 10.02.2021 ‒ IV R 35/19 , BFHE 272, 152). Vorschriften§§ 16, 34 des Einkommensteuergesetzes, § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG, § 2 Abs. 1, § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 Halbsatz 2 EStG, § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung, §§ 179, 180 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a der Abgabenordnung (AO), § 48 Abs. 1 Nr. 5 FGO, § 60 Abs. 3 FGO, § 48 FGO, § 40 Abs. 2 FGO, § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG, § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, § 16 EStG, § 16 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG, § 15 EStG, § 4 Abs. 1, § 5 EStG, §§ 286, 291 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB), § 20 Abs. 8 EStG, § 166 des Handelsgesetzbuchs (HGB), § 164 HGB, § 118 Abs. 2 FGO, §§ 413, 389 ff. BGB, § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO, § 143 Abs. 2 FGO, § 90 Abs. 2 FGO
bundesfinanzhof
bgh_230-2021
22.12.2021
Beschwerde betreffend die Aufhebung des Geheimhaltungsgrades von Beweismitteln eines Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages ("Wirecard") nach Ende des Ausschusses unzulässig Ausgabejahr 2021 Erscheinungsdatum 22.12.2021 Nr. 230/2021 Beschluss vom 16. Dezember 2021 - StB 34/21 Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat die namens sowie "in Rechtsnachfolge" des 3. Untersuchungsausschusses der 19. Wahlperiode des Deutschen Bundestages ("Wirecard-Untersuchungsausschuss") eingelegte Beschwerde gegen einen Beschluss des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs verworfen. Der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs hatte einen Antrag des Untersuchungsausschusses abgelehnt, die Aufhebung des Geheimhaltungsgrades GEHEIM für zulässig zu erklären in Bezug auf dem Ausschuss übergebene, in den Berichten der Ermittlungsbeauftragten des Ausschusses ("Wambach-Berichte") verwertete Beweismittel. Der 3. Strafsenat hat die Beschwerde als unzulässig angesehen und daher nicht in der Sache über die Aufhebung des Geheimhaltungsgrades entschieden. Dafür war maßgeblich, dass der Untersuchungsausschuss bei Einlegung des Rechtsmittels nicht mehr beteiligungsfähig war; denn er hatte zuvor mit der Entgegennahme seines Berichtes durch den Bundestag geendet. Soweit die Beschwerde durch den Präsidenten des Deutschen Bundestages oder diesen selbst als "Rechtsnachfolger" des Untersuchungsausschusses erhoben worden ist, sind diese nicht Rechtsnachfolger des Ausschusses und auch sonst nicht befugt, dessen Rechte als Beschwerdeführer wahrzunehmen. Eigene originäre Rechte haben sie nicht geltend gemacht. Der Beschluss wird in Kürze auch in der Entscheidungsdatenbank auf der Website des Bundesgerichtshofs (www.bundesgerichtshof.de) abrufbar sein. Vorinstanz: Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs - Beschluss vom 6. August 2021 - 1 BGs 340/21 Karlsruhe, den 22. Dezember 2021 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Beschluss des 3. Strafsenats vom 16.12.2021 - StB 34/21 -
Tenor Die Beschwerde gegen den Beschluss des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 6. August 2021 wird verworfen. Gründe Die Beschwerde gegen den Beschluss des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 6. August 2021 (1 BGs 340/21), mit dem dieser den Antrag auf Aufhebung des Geheimhaltungsgrades in Bezug auf die einem Untersuchungsausschuss übergebenen Beweismittel verworfen hat, hat keinen Erfolg.I.Der ursprüngliche Antragsteller und Beschwerdeführer zu 1. wurde durch den Deutschen Bundestag, den Beschwerdeführer zu 2., am 1. Oktober 2020 als Untersuchungsausschuss mit dem Auftrag eingesetzt, das Verhalten der Bundesregierung und ihrer Geschäftsbereichsbehörden im Zusammenhang mit Vorkommnissen um den Wirecard-Konzern auch im Zusammenwirken mit anderen öffentlichen sowie privaten Stellen umfassend zu untersuchen (BT-Drucks. 19/22996 S. 2; BT-PlPr. 19/180 S. 22669). Der Antragsteller beschloss am 29. Oktober 2020, Beweis durch das Ersuchen um Herausgabe im Gewahrsam der E.          GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft - der weiteren Beteiligten - befindlicher, näher bezeichneter Akten, Dokumente und Daten zu erheben. Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft übergab Dokumente am 18. Dezember 2020 unter Hinweis auf Verschwiegenheitspflichten in versiegelten Kisten. Die Unterlagen wurden bei dem Antragsteller als GEHEIM eingestuft. Nachdem der Bundesgerichtshof in anderem Zusammenhang mit Beschlüssen vom 27. Januar 2021 über Einzelfragen der Verschwiegenheitspflicht entschieden hatte (StB 43/20, StB 44/20, StB 48/20), gestattete die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft die Öffnung der Kisten und übermittelte weitere Dokumente, die ebenso als GEHEIM eingestuft wurden.Der Antragsteller beschloss am 4. März 2021, zur Unterstützung Ermittlungsbeauftragte einzusetzen. Diese erstatteten am 16. April 2021 (vom Antragsteller als "Wambach I" bezeichnet) und durch zwei Nachträge vom 19. April ("Wambach II") sowie 19. Mai 2021 ("Wambach III") Bericht. Die Berichte, die Inhalte aus den als GEHEIM eingestuften Unterlagen zitierten, wurden gleichfalls - "gemäß § 15 Abs. 1 Satz 2 PUAG" - als GEHEIM eingestuft. Der Antragsteller bat die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft erfolglos, der Aufhebung der Einstufung der in den Berichten wiedergegebenen Dokumentinhalte zuzustimmen. Darauf schwärzte er die betreffenden Passagen und hob die GEHEIM-Einstufung für diese Fassungen auf. Er entschied am 21. Juni 2021, seinem eigenen Ausschussbericht die Berichte der Ermittlungsbeauftragten zunächst in ihrer ausgestuften, umfänglich geschwärzten Fassung als Anlage beizufügen, und des Weiteren: "Sobald und soweit die Ermittlungsrichterin oder der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs auf Antrag des Ausschusses gemäß § 30 Abs. 4 Satz 2 PUAG die Aufhebung des Geheimhaltungsgrades GEHEIM für die darin verwerteten Beweismittel für zulässig erklärt hat, werden die Berichte ungeschwärzt als Anlage bzw. Ergänzung des Ausschussberichts veröffentlicht. Der Ausschuss beschließt für diesen Fall vorsorglich die Ausstufung der Berichte in dem gerichtlich für zulässig erklärtem Umfang." Ebenfalls am 21. Juni 2021 beschloss der Antragsteller, dem Bundestag zu empfehlen, seinen Bericht nach Art. 44 GG zur Kenntnis zu nehmen (BT-Drucks. 19/30900).Am 24. Juni 2021 hat der Antragsteller beim Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs beantragt,die Aufhebung des Geheimhaltungsgrades GEHEIM für zulässig zu erklären in Bezug auf die von der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft dem Ausschuss übergebenen Beweismittel, soweit sie in den Berichten der Ermittlungsbeauftragten verwertet worden sind, mit Ausnahme von Namen darin genannter natürlicher Personen, die im Abschlussbericht des Ausschusses nicht namentlich genannt sind.Nachdem der Deutsche Bundestag in seiner Sitzung am 25. Juni 2021 der Beschlussempfehlung des Antragstellers einstimmig zugestimmt hatte (s. BT-PlPr. 19/237 S. 30960 f.), hat der Ermittlungsrichter beim Bundesgerichtshof den Antrag durch Beschluss vom 6. August 2021 verworfen. Zur Begründung hat er ausgeführt, der Antrag sei bereits unzulässig. Der Antragsteller sei nicht (mehr) antragsberechtigt, da er mit dem Beschluss des Plenums, den Abschlussbericht zur Kenntnis zu nehmen, aufgehört habe zu existieren. Zwar habe er bei Eingang der Antragsschrift noch bestanden. Allerdings müssten die Zulässigkeitsvoraussetzungen im Zeitpunkt der Entscheidung vorliegen. Das Parlament sei auch nicht als Rechtsnachfolger in die Antragsberechtigung des Untersuchungsausschusses eingetreten.Hiergegen wenden sich der Antragsteller und hilfsweise "der Deutsche Bundestag als Träger des Untersuchungsrechts als Rechtsnachfolger des Untersuchungsausschusses" mit ihrer Beschwerde. Dieser hat der Ermittlungsrichter durch ausführlich begründeten Beschluss vom 4. Oktober 2021 (1 BGs 485/21) nicht abgeholfen.II.Die Beschwerde ist unzulässig. Der Antragsteller und Beschwerdeführer zu 1. ist nicht mehr beteiligungsfähig. Der Beschwerdeführer zu 2. ist nicht dessen Rechtsnachfolger; eigene originäre Rechte macht er nicht geltend.1. Die nach § 36 Abs. 3 PUAG gegen Entscheidungen des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs statthafte Beschwerde ist nicht wirksam vom Antragsteller erhoben worden, weil dieser bei Einlegung der Beschwerde - wie bereits im Zeitpunkt des angegriffenen Beschlusses - nicht mehr bestanden hat.Der Untersuchungsausschuss selbst existiert nicht mehr. Unabhängig von dem zwischenzeitlich eingetretenen Ende der Wahlperiode (vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 2. August 1978 - 2 BvK 1/77, BVerfGE 49, 70, 86; BVerwG, Beschluss vom 13. August 1999 - 2 VR 1.99, BVerwGE 109, 258, 263) war das Untersuchungsverfahren bereits mit dem - einstimmig angenommenen - Beschluss des Bundestages beendet, den Bericht des Untersuchungsausschusses zur Kenntnis zu nehmen (vgl. Dürig/Herzog/Scholz/Klein, GG, Stand: 954. EL, Art. 44 Rn. 98; Kahl/Waldhoff/Walter/Glauben, Bonner Kommentar zum GG, Stand: 213. EL, Art. 44 Rn. 138; Dreier/Morlok, GG, 3. Aufl., Art. 44 Rn. 55; Waldhoff/Gärditz/Heyer, PUAG, § 33 Rn. 13; Glauben/Brocker, Das Recht der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern, 3. Aufl., Teil 5 Rn. 16; Peters, Untersuchungsausschussrecht, 2. Aufl., Rn. 961). Folglich ist er nicht mehr in der Lage, ein Beschwerdeverfahren nach § 36 Abs. 3 PUAG zu führen.Da der Ausschuss bereits bei Einlegung der Beschwerde geendet hatte, bedarf es keiner näheren Erörterung, ob auf diesen Zeitpunkt oder den der gerichtlichen Entscheidung abzustellen ist (vgl. einerseits etwa zu Verfassungsstreitverfahren BVerfG, Urteile vom 22. September 2015 - 2 BvE 1/11, BVerfGE 140, 115 Rn. 55 mwN; vom 18. April 1989 - 2 BvF 1/82, BVerfGE 79, 311, 327; Staatsgerichtshof des Landes Hessen, Beschluss vom 13. Juli 2016 - P.St. 2431, LVerfGE 27, 311 Rn. 60 ff. mwN; Bayerischer Verfassungsgerichtshof, Entscheidung vom 11. September 2014 - Vf. 67-IVa-13, VerfGHE BY 67, 216 Rn. 30; andererseits OVG NRW, Beschluss vom 12. Juni 2003 - 8 B 640/03, NWVBl. 2004, 23). Insofern ist gleichfalls unerheblich, dass der Ausschuss quasi im Vorgriff eine Ausstufung im gerichtlich für zulässig erklärten Umfang angeordnet hatte. Weil er hierbei ausdrücklich auf die Entscheidung des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs abstellte, sind damit ersichtlich keine Erwägungen in Bezug auf ein anschließendes Rechtsmittelverfahren verbunden. Davon unabhängig kann ein Rechtsmittel grundsätzlich erst nach Erlass der angefochtenen Entscheidung eingelegt werden (s. allgemein etwa BGH, Beschluss vom 16. Mai 1973 - 2 StR 497/72, BGHSt 25, 187, 189; BVerwG, Beschluss vom 26. September 2003 - 2 WDB 3.03, Buchholz 235.01 § 115 WDO 2002 Nr. 1).2. Der Deutsche Bundestag oder dessen Präsident ist nicht allgemeiner Rechtsnachfolger des Untersuchungsausschusses und auch sonst nicht befugt, dessen Rechte als Beschwerdeführer im Verfahren nach § 36 Abs. 3 PUAG wahrzunehmen. Eine solche generelle oder auf die Beschwerdeeinlegung bezogene Aufgabenübernahme ist weder im Grundgesetz noch im Untersuchungsausschussgesetz geregelt. Dass sie sich aus allgemeinen Grundsätzen ergäbe, ist ebenfalls nicht ersichtlich. Vielmehr spricht das spezifische Regelungsgefüge dagegen.a) Der Untersuchungsausschuss ist ein gemäß Art. 44 GG mit besonderen Rechten ausgestattetes Hilfsorgan des Bundestages, der von Verfassungs wegen als Plenum diese besonderen Befugnisse nicht selbst wahrnehmen kann (s. BVerfG, Urteile vom 17. Juli 1984 - 2 BvE 11, 15/83, BVerfGE 67, 100, 124; vom 8. April 2002 - 2 BvE 2/01, BVerfGE 105, 197, 220). Der Ausschuss erhält zwar nicht die Stellung eines selbständigen, unabhängig von der vorhandenen demokratischen Legitimation des Bundestages und seiner Mitglieder erst eigens demokratisch zu legitimierenden Organs, hat aber hoheitliche Befugnisse inne, die dem Plenum nicht zukommen (s. BVerfG, Beschluss vom 1. Oktober 1987 - 2 BvR 1178/86 u.a., BVerfGE 77, 1, 40 f.). Dementsprechend kann er insbesondere Beweise erheben (s. § 17 Abs. 1 PUAG). Geht es um die Aufhebung der Einstufung von Beweismitteln in den Geheimhaltungsgrad GEHEIM, sind gemäß § 30 Abs. 4 Satz 2 PUAG der Ausschuss oder ein Viertel seiner Mitglieder in der Lage, eine Entscheidung des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs zu beantragen.b) Hiervon ausgehend kommt nicht in Betracht, dass nach der Beendigung der Ausschusstätigkeit der Präsident des Bundestages oder das Plenum Rechte wahrnimmt, die zuvor dem Ausschuss gerade aufgrund seiner besonderen Rolle und Befugnisse zugestanden haben. Ansonsten träte das Plenum oder der Präsident letztlich entgegen der vorgegebenen Aufgabenverteilung an Stelle des Ausschusses (vgl. grundsätzlich zur Rechtsnachfolge im Verfassungsbeschwerdeverfahren BVerfG, Beschluss vom 15. Oktober 2015 - 2 BvR 624/12, FamRZ 2016, 114 Rn. 4 f.; zu höchstpersönlichen Rechten im Verwaltungsverfahren Gärditz/Krausnick, VwGO, 2. Aufl., § 61 Rn. 28; Schoch/Schneider/Bier/Steinbeiß-Winkelmann, VwGO, Stand: 41. EL, § 61 Rn. 10 f.).Gegen eine solche Möglichkeit spricht zudem, dass die verfahrensrechtlichen Regelungen, wie sie sich etwa aus §§ 8 ff. PUAG ergeben, für den Untersuchungsausschuss, nicht aber für den Bundestag insgesamt gelten. Danach bleibt offen, nach welchen Maßstäben der Bundestag als Plenum bei der Fortführung der Geschäfte des Untersuchungsausschusses seinen Willen bilden und im Einzelnen tätig werden oder der Bundestagspräsident über die Wahrnehmung etwaiger Rechte befinden soll.Außerdem besteht für eine Weiterführung von Ausschussaufgaben durch den Bundestag regelmäßig kein Anlass. Ist die Tätigkeit des Untersuchungsausschusses nach Ansicht des Plenums trotz Vorlage eines Berichts noch nicht abgeschlossen, kommt in Betracht, den Ausschuss mit weiteren Untersuchungen zu betrauen (vgl. dazu BT-PlPr. IV/37 S. 1581, 1584; Kahl/Waldhoff/Walter/Glauben, Bonner Kommentar zum GG, Stand: 213. EL, Art. 44 Rn. 138) oder gegebenenfalls, insbesondere nach Zusammentreten eines neuen Bundestages, einen weiteren Ausschuss einzusetzen.c) Bei der Zuständigkeit des Präsidenten des Bundestages gemäß § 16 Abs. 2 Satz 2 PUAG für Aussagegenehmigungen "auch nach Auflösung des Ausschusses" handelt es sich um eine Einzelfallregelung, die für die Beschwerdemöglichkeit in der hier gegebenen Konstellation nicht maßgeblich ist. Ihr ist keine Entscheidung des Gesetzgebers zu entnehmen, der Präsident führe die Geschäfte des Ausschusses allgemein fort. Dies gilt zumal vor dem Hintergrund, dass es nach § 16 Abs. 2 Satz 2 PUAG stets - also bereits bei Bestehen des Untersuchungsausschusses - Sache des Präsidenten ist, über die Aussagegenehmigung zu entscheiden (vgl. Waldhoff/Gärditz/Sacksofsky, PUAG, § 16 Rn. 6). Dagegen obliegt der Geheimnisschutz im Übrigen dem Ausschuss (s. §§ 15, 30 PUAG).d) Etwas anderes ergibt sich nicht daraus, dass sonstigen Betroffenen nach Beendigung der Ausschusstätigkeit unter Umständen noch eine Rechtsmittelmöglichkeit zustehen kann oder Verpflichtungen aus dem Untersuchungsverfahren zu erfüllen sind (vgl. allgemein BVerfG, Beschluss vom 1. Oktober 1987 - 2 BvR 1178/86 u.a., BVerfGE 77, 1, 38; OVG NRW, Urteil vom 24. März 1998 - 5 A 216/95, NJW 1999, 80; LG Frankfurt am Main, Beschluss vom 6. Dezember 1988 - 5/28 Qs 16/86, NVwZ 1989, 997; Waldhoff/Gärditz, PUAG, § 36 Rn. 52; weitergehend für den Parlamentspräsidenten als "Nachlassverwalter eines jeden Untersuchungsausschusses" Peters, Untersuchungsausschussrecht, 2. Aufl., Rn. 967). Hierbei handelt es sich gegebenenfalls um nachwirkende Pflichten, denen nachzukommen ist. Eine Aktivlegitimation, um zuvor dem Ausschuss zustehende Rechte geltend zu machen, folgt daraus nicht.e) Soweit nach landesrechtlichen Vorschriften für die Zeit nach abschließender Behandlung des Ausschussberichtes unterschiedliche Regelungen zu einer Rechtsnachfolge oder zu Beteiligungsmöglichkeiten in gerichtlichen Verfahren getroffen sind (vgl. etwa § 34 HmbUAG; § 30 Abs. 2 Satz 1 BbgUAG; § 42 Abs. 2 Satz 1 UAG M-V; § 26 Abs. 2 UAG NRW; § 30 Abs. 1 UAG RP; § 30 Abs. 1 Satz 1 ThürUAG; LT-Drucks. M-V 3/1990 S. 40), ist dies in Bezug auf Untersuchungsausschüsse des Deutschen Bundestages mangels entsprechender Regelung angesichts der dargelegten Befugnisverteilung ohne Belang. Die landesrechtlichen Normen zeigen vielmehr, dass die Rechtsfrage bekannt ist, der Bundesgesetzgeber indes - wie auch verschiedene Landesgesetzgeber - von entsprechenden Regelungen abgesehen hat.3. Schließlich hat die Beschwerde mit Blick auf etwaige eigene Rechte des Bundestages unter den gegebenen Umständen ebenfalls keinen Erfolg. Ungeachtet der Frage, ob dem Bundestag selbst unabhängig vom Untersuchungsausschuss ein eigenes Beschwerderecht zustehen könnte, soweit er durch die angegriffene Entscheidung betroffen wäre (vgl. § 304 Abs. 2 StPO, Art. 44 Abs. 2 Satz 1 GG), ist die Beschwerde ausdrücklich "namens, jedenfalls in Rechtsnachfolge des 3. Parlamentarischen Untersuchungsausschusses", nicht für den Bundestag insgesamt eingelegt. Eine anderslautende Beschlussfassung des Plenums, das im Übrigen den Ausschussbericht mit den teilgeschwärzten Anlagen einstimmig ohne Vorbehalte zur Kenntnis genommen hat, ist nicht vorgebracht.4. Da die Beschwerde bereits aus den dargelegten Gründen unzulässig ist, bedarf der zwischenzeitliche Zusammentritt eines neuen Bundestages keiner weiteren Erörterung. Ebenso wenig ist zu entscheiden, ob für die Ausstufung das Verfahren nach § 30 Abs. 3 und 4 PUAG auch dann einschlägig ist, wenn gegebenenfalls lediglich eine vorläufige Einstufung gemäß § 15 Abs. 1 Satz 2 PUAG vorgenommen wurde und nicht der Ausschuss den Geheimhaltungsgrad beschloss.III.Eine Kosten- und Auslagenentscheidung ist nicht veranlasst (vgl. BGH, Beschluss vom 6. Februar 2019 - 3 ARs 10/18, juris Rn. 36 mwN).SchäferPaulAnstötzKreickerVoigt
bundesgerichtshof
bgh_043-2022
31.03.2022
Bundesgerichtshof bestätigt Unterbindungsgewahrsam wegen der Gefahr eines fortgesetzten Verstoßes gegen die Pflicht, einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen Ausgabejahr 2022 Erscheinungsdatum 31.03.2022 Nr. 043/2022 Beschluss vom 8. Februar 2022 – 3 ZB 4/21 Der nach dem Geschäftsverteilungsplan des Bundesgerichtshofs bundesweit für Verfahren der vorbeugenden Kriminalitätsbekämpfung zuständige 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat die Rechtsbeschwerde eines von einer Freiheitsentziehung nach dem Polizeirecht Betroffenen verworfen. Der Beschwerdeführer hatte im Dezember 2020 an einer Versammlung von Gegnern der staatlichen Maßnahmen zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus teilgenommen und sich geweigert, einen Mund-Nasen-Schutz anzulegen, obwohl die Pflicht zum Tragen eines solchen am Versammlungsort in der Kölner Altstadt angeordnet war. Nachdem er außerdem massiven körperlichen Widerstand gegenüber den eingesetzten Ordnungskräften geleistet hatte, als diese seine Identität feststellen wollten, nahm ihn die Polizei in Gewahrsam. Das Amtsgericht hat dies für zulässig erklärt und die Fortdauer des Freiheitsentzugs für weitere zwei Stunden bis zum Ende der Versammlung angeordnet. Die hiergegen erhobene Beschwerde des Betroffenen hat das Landgericht zurückgewiesen. Mit seiner Rechtsbeschwerde hat er die Feststellung beantragt, dass er durch die Entscheidungen von Amts- und Landgericht in seinen Rechten verletzt worden sei. Die durch das Rechtsmittel veranlasste Überprüfung des landgerichtlichen Beschlusses hat keinen Rechtsfehler ergeben. Nach § 3 Abs. 2 Nr. 8 der Coronaschutzverordnung des Landes Nordrhein-Westfalen vom 30. November 2020 in der ab dem 16. Dezember 2020 gültigen Fassung war damals – bußgeldbewehrt nach § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2, §§ 32, 73 Abs. 1a Nr. 6 IfSG, § 18 Abs. 2 Nr. 2 CoronaSchVO NRW – eine Maske an Orten mit hohem Publikumsverkehr zu tragen, soweit die zuständige Behörde eine entsprechende Anordnung getroffen hatte. Dies hatte die Stadt Köln unter anderem für das gesamte Gebiet der Altstadt, in dem die Versammlung stattfand, getan. Der Senat hat entschieden, dass die genannten Rechtsvorschriften und die konkrete bußgeldbewehrte Anordnung der Verpflichtung zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes in dem hoch frequentierten Gebiet der Kölner Altstadt kein Verfassungsrecht verletzen. Er hat die Bewertung des Landgerichts, dass die Freiheitsentziehung nach § 35 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW dem Grunde und der Dauer nach unerlässlich war, um einen weiteren Aufenthalt des Betroffenen ohne Mund-Nasen-Bedeckung auf der Versammlung und damit die Fortsetzung einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit zu unterbinden, nicht beanstandet. Vorinstanz: LG Köln – 34 T 27/21 – Beschluss vom 31. Mai 2021 Maßgebliche Vorschriften lauten: § 35 PolG NRW – Gewahrsam (1) Die Polizei kann eine Person in Gewahrsam nehmen, wenn 1.... 2.das unerlässlich ist, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit zu verhindern, ... § 3 CoronaSchVO NRW vom 30. November 2020 – Alltagsmaske (1) … (2) Die Verpflichtung zum Tragen einer Alltagsmaske besteht unabhängig von der Einhaltung eines Mindestabstands ... 8.an weiteren Orten unter freiem Himmel, für die die zuständige Behörde eine entsprechende Anordnung trifft oder bereits getroffen hat, wenn gemessen an der verfügbaren Fläche mit dem Zusammentreffen einer so großen Anzahl von Menschen zu rechnen ist, dass Mindestabstände nicht sichergestellt werden können. § 18 CoronaSchVO NRW vom 30. November 2020 – Ordnungswidrigkeiten (1) Ordnungswidrigkeiten werden gemäß § 73 Absatz 2 des Infektionsschutzgesetzes mit einer Geldbuße bis zu 25.000 Euro geahndet. (2) Ordnungswidrig im Sinne des § 73 Absatz 1a Nummer 24 in Verbindung mit §§ 32, 28 Absatz 1 Satz 1 und 2 des Infektionsschutzgesetzes handelt, wer vorsätzlich oder fahrlässig ... 2. entgegen § 3 Absatz 2 trotz bestehender Verpflichtung keine Alltagsmaske trägt, ... § 1 Nr. 2 der Allgemeinverfügung der Stadt Köln vom 2. Oktober 2020 zur regionalen Anpassung der Coronaschutzverordnung an das Infektionsgeschehen in der ab dem 5. Dezember 2020 gültigen Fassung – Mund-Nase-Bedeckung in öffentlichen Bereichen des Kölner Stadtgebiets In folgenden öffentlichen Bereichen des Kölner Stadtgebiets ist eine Mund-Nase-Bedeckung zu tragen: ... c) in der Altstadt (s. Lageplan 1) von 10.00 bis 22.00 Uhr, ... Die Pflicht zum Tragen der Mund-Nase-Bedeckung gilt nicht für Parks und Grünanlagen, für Personen in oder auf Kraftfahrzeugen, Fahrrad- und Rollerfahrende, Joggende an Orten, an denen üblicherweise gejoggt wird, sowie für Kinder bis zum Schuleintritt und Personen, die aus medizinischen Gründen keine Mund-Nase-Bedeckung tragen können; die medizinischen Gründe sind durch ein ärztliches Zeugnis nachzuweisen, welches auf Verlangen vorzuzeigen ist. Karlsruhe, den 31. März 2022 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Beschluss des 3. Strafsenats vom 8.2.2022 - 3 ZB 4/21 -
Tenor 1. Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen den Beschluss des Landgerichts Köln vom 31. Mai 2021 wird zurückgewiesen.2. Der Betroffene hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.3. Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 7.500 €. Gründe I.1. Für den 20. Dezember 2020 war von Gegnern der staatlichen Maßnahmen zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus eine Versammlung auf dem         in K.   angekündigt. An diesem Tag hielten sich dort um 12.30 Uhr zahlreiche Personen ohne ausreichenden Abstand zueinander auf. Unter ihnen war der Betroffene. Er trug keinen Mund-Nase-Schutz, obwohl eine Pflicht zum Tragen eines solchen in der gesamten K.    Altstadt und damit auch auf dem         angeordnet war. Gegenüber Mitarbeitern des Ordnungsamts gab der Betroffene auf Nachfrage an, dass er weder eine Maske bei sich habe noch über ein ärztliches Attest verfüge, welches ihn von der Pflicht zur Mund-Nase-Bedeckung entbinde. Er verweigerte es, sich gegenüber den hinzugerufenen Polizeibeamten auszuweisen, und folgte ihnen nicht zur nächsten Hauswand, wo sie ihn nach Ausweispapieren durchsuchen wollten. Schließlich übten die Einsatzkräfte zur Feststellung seiner Personalien nach entsprechender Androhung unmittelbaren Zwang aus, gegen den er massiven körperlichen Widerstand leistete. Die Beamten fanden bei der anschließenden Durchsuchung seinen Personalausweis und ein verbotenes Einhandmesser. Danach befragt, wie er sich im Hinblick auf die Infektionsvorschriften weiter verhalten werde, verweigerte er die Auskunft.Um 12.40 Uhr wurde der Betroffene in Gewahrsam genommen und der Bereitschaftsrichterin des Amtsgerichts K.   zugeführt. Sie hörte ihn um 14.55 Uhr an, erklärte die polizeiliche Ingewahrsamnahme für zulässig und ordnete deren Fortdauer bis längstens um 17 Uhr desselben Tages an. Bis zu diesem Zeitpunkt sollte sich die Versammlung auf dem        fortsetzen. Um 17 Uhr wurde der Betroffene aus dem Gewahrsam entlassen.2. Mit Schreiben vom 18. Januar 2021 hat der Betroffene gegen den Beschluss des Amtsgerichts Beschwerde eingelegt. Er hat die Feststellung begehrt, dass die polizeiliche Ingewahrsamnahme nicht zulässig und die gerichtliche Anordnung von deren Fortdauer rechtswidrig gewesen sei. Das Amtsgericht hat dem Rechtsmittel nicht abgeholfen.Mit Beschluss vom 31. Mai 2021 hat das Landgericht K.  die Beschwerde zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass die Voraussetzungen sowohl der polizeilichen als auch der richterlichen Freiheitsentziehung vorgelegen hätten und die angeordnete Dauer verhältnismäßig gewesen sei; die Bedenken des Betroffenen hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der Anordnung zum Tragen eines Mund-Nase-Schutzes an Orten mit hohem Publikumsverkehr teile es nicht.3. Mit seiner Rechtsbeschwerde wendet sich der Betroffene gegen den Beschluss des Landgerichts. Er beantragt, diesen aufzuheben und festzustellen, dass er durch die Entscheidungen von Amts- und Landgericht in seinen Rechten verletzt worden sei.II.1. Die Rechtsbeschwerde ist nach § 36 Abs. 2 Satz 2 des Polizeigesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen (PolG NRW) i.V.m. § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 FamFG statthaft und auch im Übrigen zulässig (vgl. BGH, Beschluss vom 11. August 2021 - 3 ZB 2/21, juris Rn. 8 mwN), soweit sie die Rechtmäßigkeit des richterlich angeordneten Gewahrsams zum Gegenstand hat, mithin die Freiheitsentziehung des Betroffenen aufgrund der amtsgerichtlichen Entscheidung bis zum darin festgelegten Endzeitpunkt.Soweit der Betroffene, der den gesamten Beschluss des Landgerichts angreift, zudem die Feststellung der Rechtswidrigkeit des davor vollzogenen behördlichen Gewahrsams begehrt, ist die Rechtsbeschwerde analog § 70 Abs. 4 FamFG nicht eröffnet (BGH, Beschluss vom 10. Juni 2020 - StB 23/18, juris Rn. 11 ff.) und deshalb bereits unzulässig.2. In der Sache hat die Rechtsbeschwerde den richterlich angeordneten Gewahrsam betreffend keinen Erfolg (zum eingeschränkten Prüfungsmaßstab s. § 72 Abs. 1 Satz 2, § 74 Abs. 2, 3 Satz 3 FamFG). Die angegriffene Beschwerdeentscheidung weist insoweit keinen Rechtsfehler auf.Alleiniger Prüfungsgegenstand ist der Beschluss des Landgerichts, weil die Erledigung der Hauptsache vor dessen Erlass eingetreten ist. Ob die amtsgerichtliche Anordnung des Gewahrsams zu Recht ergangen ist, ist dabei - anders als im Fall der Erledigung nach Erlass der Beschwerdeentscheidung - lediglich inzident zu untersuchen (BGH, Beschlüsse vom 12. Februar 2020 - StB 36/18, NStZ-RR 2020, 230, 231; vom 17. Dezember 2020 - 3 ZB 7/19, NStZ-RR 2021, 226, 227 mwN).a) In jeder Lage des Verfahrens und damit auch in der Beschwerdeinstanz unterliegt der (inzidenten) Prüfung, ob die formalen Voraussetzungen für den Erlass einer Haftanordnung vorgelegen haben, insbesondere, ob die zuständige Behörde einen den Anforderungen des § 417 FamFG entsprechenden Haftantrag gestellt hat (BGH, Beschluss vom 11. August 2021 - 3 ZB 2/21, juris Rn. 14). Denn nach Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG darf die in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistete Freiheit der Person nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden (BGH, Beschluss vom 28. April 2011 - V ZB 140/10, juris Rn. 7 mwN).Insoweit deckt die Beschwerdeschrift keinen durchgreifenden Rechtsfehler auf. Aus den Akten geht zwar nicht ausdrücklich hervor, dass die Strafanzeige vom 20. Dezember 2020, die bereits um 12.58 Uhr gefertigt wurde, in der detailliert das Erfordernis sowie die notwendige Dauer des Freiheitsentzugs begründet sind und die den Anforderungen des § 417 Abs. 2 FamFG ohne Weiteres genügt, dem Betroffenen vor der gerichtlichen Anhörung übergeben wurde (§ 23 Abs. 2 FamFG). In einfach gelagerten, überschaubaren Sachverhalten, zu denen der Betroffene wie hier geradewegs auskunftsfähig ist, reicht jedoch die Eröffnung des Haftantrags zu Beginn der Anhörung aus (vgl. BGH, Beschluss vom 4. März 2010 - V ZB 222/09, BGHZ 184, 323 Rn. 16). Die unterbliebene Aushändigung einer schriftlichen Abfassung hat in solchen Fällen allenfalls dann die Rechtswidrigkeit der Haftanordnung zur Folge, wenn das Verfahren ohne diesen Fehler zu einem anderen Ergebnis hätte führen können (vgl. BGH, Beschluss vom 16. Juli 2014 - V ZB 80/13, juris Rn. 9 ff.; Dutta/Jacoby/Schwab/Heinze/Roffael, FamFG, 4. Aufl., § 420 Rn. 2 mwN; zum nicht zwingenden Schriftformerfordernis für den Haftantrag in besonders eilbedürftigen Fällen s. auch BVerfG, Beschluss vom 13. Dezember 2005 - 2 BvR 447/05, BVerfGK 7, 87, 99 f.; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27. September 2004 - 1 S 2206/03, DÖV 2005, 165, 168; LG Karlsruhe, Beschluss vom 24. April 2017 - 11 T 78/17, juris Rn. 16). Dies ist vorliegend auszuschließen. Die Entscheidung ist nach dem Wortlaut des Beschlusses "antragsgemäß" ergangen. Das Amtsgericht hat den Sachverhalt ausführlich dargelegt und dabei zum Teil die Formulierungen aus der Strafanzeige übernommen. Diese muss der Richterin also vorgelegen haben und damit zumindest inhaltlich Bestandteil der Anhörung gewesen sein. Dass sich der Sachverhalt anders zugetragen habe, als darin niedergelegt ist, macht der Beschwerdeführer im Übrigen nicht geltend.b) Zutreffend hat das Landgericht die vom Amtsgericht angeordnete Freiheitsentziehung materiell am Maßstab des § 35 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW gemessen. Ohne Rechtsfehler hat es angenommen, dass die Ingewahrsamnahme dem Grunde und der Dauer nach der Sach- und Rechtslage entsprach. Auch sonst begegnet die Beschwerdeentscheidung keinen rechtlichen Bedenken, die dem Rechtsmittel zum Erfolg verhelfen könnten. Im Einzelnen:aa) Das Landgericht hat die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Freiheitsentziehung als gegeben erachtet. Das ist von Rechts wegen nicht zu beanstanden.Nach § 35 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW kann eine Person in Gewahrsam genommen werden, wenn dies unerlässlich ist, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit zu verhindern.(1) Das Landgericht hat darin, dass der Betroffene bei seinem Aufenthalt auf dem         keine Mund-Nase-Bedeckung trug, zutreffend eine Ordnungswidrigkeit gemäß § 73 Abs. 1a Nr. 6 IfSG erblickt. Nach der genannten Norm begeht eine solche, wer vorsätzlich oder fahrlässig einer vollziehbaren Anordnung nach § 28 IfSG, auch in Verbindung mit einer Rechtsverordnung nach § 32 IfSG, zuwiderhandelt.Eine derartige Rechtsverordnung nach § 32 IfSG war die Coronaschutzverordnung des Landes Nordrhein-Westfalen (CoronaSchVO) vom 30. November 2020 in der ab dem 16. Dezember 2020 gültigen Fassung. Diese bestimmte in § 3 Abs. 2, dass "unter freiem Himmel" eine Maske zu tragen ist bei Versammlungen von mehr als 25 Personen (Nr. 6) oder an weiteren Orten, "für die die zuständige Behörde eine entsprechende Anordnung trifft oder getroffen hat, wenn gemessen an der verfügbaren Fläche mit dem Zusammentreffen einer so großen Anzahl von Menschen zu rechnen ist, dass Mindestabstände nicht sichergestellt werden können" (Nr. 8). In § 18 Abs. 2 Nr. 2 CoronaSchVO war geregelt, dass der Verstoß gegen die Maskenpflicht nach § 3 Abs. 2 eine Ordnungswidrigkeit im Sinne der § 73a Abs. 1a Nr. 6, §§ 32, 28 Abs. 1 Satz 1, 2 IfSG darstellt.Die Stadt K.   hatte auf der Grundlage von § 2 Abs. 4, § 15a CoronaSchVO in der Fassung vom 30. September 2020 am 9. Oktober 2020 eine solche Anordnung erlassen. In § 1 Nr. 2 Buchst. c der Allgemeinverfügung Nr. 289 hatte sie angeordnet, dass in der Altstadt eine Mund-Nase-Bedeckung zu tragen ist. Gemäß dem als Anlage beigefügten Lageplan 1 gehörte der gesamte         zum Gebiet der Altstadt. Die Verfügung war ausführlich begründet; sie wies ebenfalls darauf hin, dass der Verstoß gegen die Maskenpflicht eine Ordnungswidrigkeit im Sinne des § 73 Abs. 1a Nr. 6 IfSG darstellt. Mit der hier maßgeblichen Allgemeinverfügung Nr. 358 vom 5. Dezember 2020, gültig bis zum Ablauf des 21. Dezember 2020, hatte die Stadt K.   die Anordnung dahin modifiziert, dass sie auf die Zeit von 10 bis 22 Uhr beschränkt ist.(2) Die genannten Rechtsvorschriften und die konkrete bußgeldbewehrte Anordnung der Verpflichtung zum Tragen eines Mund-Nase-Schutzes in dem hoch frequentierten Gebiet der K.    Altstadt verletzen kein Verfassungsrecht. Insoweit wird Bezug genommen auf die Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen (u.a. Beschlüsse vom 30. April 2020 - 13 B 539/20.NE, juris; vom 28. Juli 2020 - 13 B 675/20.NE, juris; vom 29. Juli 2020 - 13 B 792/20.NE, juris; vom 18. August 2020 - 13 B 847/20.NE, juris; s. auch vom 15. Dezember 2020 - 13 B 1731/20.NE, juris; vom 10. Februar 2021 - 13 B 1932/20.NE, juris; vom 12. Februar 2021 - 13 B 1750/20.NE, juris, zur Rechtslage nach Einführung des § 28a IfSG) und des Oberlandesgerichts Hamm (Beschluss vom 16. Dezember 2021 - 4 RBs 387/21, juris Rn. 17 ff.) zur Verfassungsmäßigkeit der Maskenpflicht nach der Coronaschutzverordnung des Landes Nordrhein-Westfalen in ihren verschiedenen Fassungen sowie des Bundesverfassungsgerichts zur Grundgesetzkonformität der Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen im Rahmen der sogenannten Bundesnotbremse (BVerfG, Beschluss vom 19. November 2021 - 1 BvR 781/21 u.a., NJW 2022, 139). Tragend für diese Beurteilung sind die folgenden Erwägungen:Ziel der Coronaschutzverordnung und der Allgemeinverfügung war es, die Verbreitung des Virus zu verlangsamen. Sowohl der damit angestrebte Lebens- und Gesundheitsschutz als auch die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems sind überragend wichtige Gemeinwohlbelange und daher verfassungsrechtlich legitime Regelungszwecke. Die Annahme, es habe eine Gefahrenlage für Leben und Gesundheit sowie für die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems bestanden, beruhte auf tragfähigen Erkenntnissen. Gleiches gilt für die Beurteilung, dass eine Mund-Nase-Bedeckung geeignet ist, die Verbreitung des Virus zu verhindern oder zu verlangsamen. Insoweit genügt angesichts der gegebenen Gefährdung überragend wichtiger verfassungsrechtlicher Güter bereits die Möglichkeit, durch die Regelung ihren Schutz zu erreichen (vgl. im Einzelnen BVerfG, Beschluss vom 19. November 2021 - 1 BvR 781/21 u.a., NJW 2022, 139 Rn. 167 ff.).Die der Coronaschutzverordnung des Landes Nordrhein-Westfalen zugrundeliegenden §§ 28, 32 IfSG stellen entgegen den Ausführungen des Beschwerdeführers eine taugliche Ermächtigungsgrundlage für die hier in Rede stehende Anordnung der Maskenpflicht im öffentlichen Raum dar. Die Normen des Infektionsschutzgesetzes waren bereits vor ihrer fortlaufenden Präzisierung und Ergänzung durch den Gesetzgeber anlässlich der Pandemie hinreichend bestimmt und tragen die in der Coronaschutzverordnung vorgesehenen Eingriffe in die Grundrechte der Bürger. Ein Verstoß gegen den Parlamentsvorbehalt liegt ebenfalls nicht vor.Bei der hier konkret maßgeblichen Verpflichtung zum Tragen eines Mund-Nase-Schutzes in der K.    Altstadt handelte es sich um ein im Vergleich zu Kontaktbeschränkungen und Ausgangssperren milderes Mittel. Die Anordnung bezog sich zudem nur auf wenige Straßenzüge mit hohem Publikumsverkehr - den meisten Normadressaten stand es frei, die entsprechenden Gebiete zu meiden -, sie war zuletzt zeitlich beschränkt, und sie sah zahlreiche Ausnahmen vor. So waren etwa Radfahrer, Jogger, Kinder sowie Personen, die aus medizinischen Gründen keine Mund-Nase-Bedeckung tragen können, von der Maskenpflicht befreit. Vor diesem Hintergrund besteht an der Verhältnismäßigkeit der Anordnung kein Zweifel.(3) Die Einschätzung des Landgerichts, dass sich aus dem Verhalten des Betroffenen die hinreichende Erwartung der Begehung weiterer Ordnungswidrigkeiten durch ihn ergab, ist ebenfalls nicht zu beanstanden (zum Maßstab vgl. BGH, Beschluss vom 11. August 2021 - 3 ZB 2/21, juris Rn. 21). Die Prognose, er werde sich ohne die Ingewahrsamnahme erneut ohne Mund-Nase-Bedeckung am Versammlungsort auf dem       aufhalten, gründete sich auf seine gänzlich fehlende Bereitschaft zur Kooperation mit den staatlichen Ordnungskräften. Der Betroffene stellte durch die Zuwiderhandlung gegen die Maskenpflicht von vornherein deren Ablehnung zur Schau. Gegenüber den eingesetzten Polizisten leistete er einen strafrechtlich relevanten körperlichen Widerstand. Überdies verweigerte er die Auskunft auf die Frage, wie er sich fortan zu verhalten gedenke. Die ganze Situation spielte sich schließlich vor den Augen einer größeren Menschenmenge ab, was nahelegt, dass der Betroffene gerade die Versammlung weiterhin nutzen wollte, um seinen politischen Protest gegen die staatlichen "Corona-Maßnahmen" zu demonstrieren. Damit gab es eine durch Tatsachen belegte Gefahr vergleichbarer Handlungen.(4) Das zu besorgende Verhalten des Betroffenen stellte eine Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit im Sinne des § 35 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW dar. Auch diese Würdigung des Landgerichts weist keinen Rechtsfehler auf. Die Maskenpflicht diente, wie ausgeführt, dem Schutz von Leben und Gesundheit der Bevölkerung.bb) Ebenfalls rechtsfehlerfrei hat das Landgericht angenommen, dass die Freiheitsentziehung zur Gefahrenabwehr erforderlich war. Gegen seine nachvollziehbar begründete Beurteilung, der Betroffene werde sich im Fall seiner Freilassung wieder ohne Mund-Nase-Bedeckung zum Versammlungsort auf dem Heumarkt begeben, ist nichts zu erinnern. Weniger eingriffsintensive Maßnahmen, durch die dies gleichermaßen hätte verhindert werden können, sind nicht ersichtlich gewesen. Es ist angesichts der Beharrlichkeit des Betroffenen nicht damit zu rechnen gewesen, dass er freiwillig eine Maske angelegt oder einen Platzverweis befolgt hätte.cc) Der vom Amtsgericht für notwendig gehaltene Zeitraum der Freiheitsentziehung von etwa zwei (weiteren) Stunden begegnet ebenso wenig rechtlichen Bedenken. Nachvollziehbar hat das Beschwerdegericht den Gewahrsam bis zum Ende der Versammlung für angemessen gehalten. Dass der Betroffene - wie er nunmehr vortragen lässt - nicht gewusst haben will, dass diese bis um 17 Uhr andauern würde, ist kein Umstand, der geeignet ist, die bis zu diesem Zeitpunkt fortwährende Gefahr in Frage zu stellen. Denn er hätte sich die entsprechende Information im Fall seiner Freilassung jederzeit beschaffen können. Besondere Ermittlungen von Amts wegen im Sinne des § 26 FamFG, die über die Anhörung des Betroffenen hinausgehen, waren entgegen dem Beschwerdevorbringen insoweit nicht veranlasst.dd) Die angeordnete Freiheitsentziehung war überdies verhältnismäßig. Dies gilt auch bei Heranziehung eines besonders strengen Verhältnismäßigkeitsmaßstabs, was bei präventiven Freiheitsbeschränkungen, die nicht dem Schuldausgleich dienen, regelmäßig geboten ist (vgl. BVerfG, Urteil vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2365/09 u.a., BVerfGE 128, 326, 372 f.; Beschluss vom 18. April 2016 - 2 BvR 1833/12 u.a., NVwZ 2016, 1079 Rn. 25).III.Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 FamFG.Die Festsetzung des Gegenstandswerts des Verfahrens folgt aus § 35 Abs. 1, § 36 Abs. 2 und 3, § 62 analog GNotKG. Die Rechtsbeschwerde betrifft zwei Verfahrensgegenstände, deren Werte zu addieren sind: Soweit sie sich gegen die Rechtmäßigkeit der vorläufigen behördlichen Ingewahrsamnahme richtet, beträgt der Wert 2.500 €, soweit sie die Feststellung der Rechtswidrigkeit der amtsgerichtlichen Entscheidung über den Gewahrsam begehrt, 5.000 €.BergWimmerPaulAnstötzErbguth
bundesgerichtshof
bgh_125-2020
02.10.2020
Verurteilung eines Pfarrers wegen versuchter sexueller Nötigung in zwei Fällen rechtskräftig Ausgabejahr 2020 Erscheinungsdatum 02.10.2020 Nr. 125/2020 Beschluss vom 8. September 2020 – 4 StR 44/20 Das Landgericht Stendal hat den Angeklagten wegen versuchter sexueller Nötigung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen tauschte der Angeklagte, ein mittlerweile in den Ruhestand getretener Pfarrer, im Sommer 2016 unter anderem mit zwei Männern über ein "Erotik-Datingportal" umfangreiche, sexuell betonte Nachrichten aus. Er gab sich dabei als seine frühere Geliebte aus. Im Verlaufe dieser Chats veranlasste der Angeklagte die beiden Männer in der irrigen Annahme, mit ihrer vermeintlichen Gesprächspartnerin ein Treffen zu einem "Vergewaltigungsrollenspiel" vereinbart zu haben, dazu, die Geschädigte zu Hause aufzusuchen und an dieser gewaltsam sexuelle Handlungen vorzunehmen. Die beiden Männer kamen dem in dem Glauben an ein einvernehmliches Handeln mit der Geschädigten nach. Die Geschädigte, die von alledem nichts wusste, konnte in beiden Fällen nach dem Eintreffen der Männer die Tatausführung verhindern. Der Angeklagte hat mit seiner Revision Verfahrensfehler sowie sachlich-rechtliche Mängel des angegriffenen Urteils geltend gemacht. Die hierauf veranlasste Überprüfung des Urteils und des Verfahrens durch den 4. Strafsenat des Bundegerichtshofs hat keinen Rechtsfehler ergeben. Das Urteil ist damit rechtskräftig. Vorinstanz: Landgericht Stendal – Urteil vom 30. Oktober 2019 – 502 KLs 4/19, 307 Js 16625/16 Karlsruhe, den 2. Oktober 2020 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Beschluss des 4. Strafsenats vom 8.9.2020 - 4 StR 44/20 -
Tenor Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Stendal vom 30. Oktober 2019 wird als unbegründet verworfen, da die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 StPO).Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.Ergänzend bemerkt der Senat:Die Feststellungen tragen auch im Fall II.2 der Urteilsgründe den Schuldspruch wegen in mittelbarer Täterschaft begangener versuchter sexueller Nötigung im Sinne des § 177 Abs. 1 StGB (a.F).Dabei kann der Senat offen lassen, ob die Feststellungen die tatgerichtliche Annahme tragen, dass der Tatmittler die Schwelle zum Versuch überschritt, indem er an der Haustür des Mehrfamilienhauses klingelte, um das Tatopfer nach Betreten der Wohnung in der irrigen Vorstellung einvernehmlichen Handelns im Rahmen eines "Vergewaltigungsrollenspiels" sexuell zu nötigen. Es bleibt unklar, ob nach dem insoweit maßgeblichen Vorstellungbild des Tatmittlers mit der Betätigung der Klingel bereits die Schwelle zum "jetzt geht es los" überschritten und ein weiterer Willensimpuls zur Umsetzung des Tatentschlusses nicht mehr erforderlich war (vgl. BGH, Urteile vom 10. August 2016 . 2 StR 493/15, StV 2017, 441, 442; vom 9. August 2011 . 1 StR 194/11, NStZ 2012, 85, und vom 22. April 1999 . 4 StR 76/99, NStZ 1999, 395).Die Feststellungen belegen jedoch, dass der als mittelbarer Täter im Sinne des § 25 Abs. 1 StGB handelnde Angeklagte die Schwelle zum Versuch bereits überschritten hatte.Will der Täter die Tat nicht selbst, sondern durch einen Dritten begehen (§ 25 Abs. 1 StGB), so liegt ein unmittelbares Ansetzen zur Tat im Sinne des § 22 StGB regelmäßig vor, wenn der Täter seine Einwirkung auf den Tatmittler abgeschlossen hat und dieser die Tathandlung nach den insoweit maßgeblichen Vorstellungen des Täters in engem Zusammenhang mit dem Abschluss der Einwirkung vornehmen soll, das geschützte Rechtsgut daher aus Sicht des Täters bereits in diesem Zeitpunkt gefährdet ist (vgl. BGH, Urteile vom 23. Oktober 2019 - 2 StR 139/19, NJW 2020, 559, 560; vom 12. Juli 2000 - 2 StR 43/00; vom 13. September 1994 - 1 StR 357/94, BGHSt 40, 257, 268 f.; vom 26. Januar 1982 - 4 StR 631/81, BGHSt 30, 363, 365; Beschluss vom 6. Februar 2014 - 1 StR 577/13, wistra 2015, 29, 32).Gemessen hieran belegen die Feststellungen ein unmittelbares Ansetzen des Angeklagten zur Tatbestandsverwirklichung. Der Angeklagte hatte seine Einwirkung auf den Tatmittler abgeschlossen, indem er am Vortag . sich als das Tatopfer ausgebend . mit dem Tatmittler ein konkretes Treffen für die Umsetzung des vermeintlichen sexuellen Rollenspiels für den Folgetag verabredete. Am folgenden Tag führte der Angeklagte den Chatverkehr mit dem Tatmittler fort und war sich dabei bewusst, dass der Tatmittler das Tatopfer aufgrund der bereits am Vortag getroffenen Verabredung nunmehr zeitnah aufsuchen und die vermeintlich einvernehmliche "Vergewaltigung" vollziehen werde. Nach der Vorstellung des Angeklagten sollte die Tathandlung daher in engem zeitlichen Zusammenhang mit dem Abschluss seiner Einwirkung auf den Tatmittler durchgeführt werden; hierin lag . auch nach der Vorstellung des Angeklagten . bereits eine unmittelbare Gefährdung des geschützten Rechtsguts.Sost-Scheible Quentin Bartel Sturm Lutz Vorinstanz:Stendal, LG, 30.10.2019 . 307 Js 16625/16 502 KLs 4/
bundesgerichtshof
bgh_020-2023
31.01.2023
Bundesgerichtshof entscheidet über Sonderbeiträge eines ehrenamtlichen Bürgermeisters an seine Partei Ausgabejahr 2023 Erscheinungsdatum 31.01.2023 Nr. 020/2023 Urteil vom 31. Januar 2023 - II ZR 144/21 Der für das Gesellschaftsrecht einschließlich des Vereinsrechts zuständige II. Zivilsenat hat entschieden, dass eine politische Partei einen parteiangehörigen ehrenamtlichen Bürgermeister auf Grundlage ihrer Satzung auf Zahlung eines Teils seiner Aufwandsentschädigung als Sonderbeitrag (sog. Amts- bzw. Mandatsträgerbeitrag) gerichtlich in Anspruch nehmen kann. Sachverhalt und bisheriger Prozessverlauf: Der Kläger ist ein rechtlich selbständiger Kreisverband der Christlich Demokratischen Union Deutschlands (CDU). Der Beklagte war von 1972 bis zu seinem Parteiaustritt im November 2019 Mitglied des Klägers. Im Jahr 2015 wurde er zum ehrenamtlichen Bürgermeister einer Gemeinde in Sachsen-Anhalt gewählt. Zur Bürgermeisterwahl war er nicht als Kandidat des Klägers angetreten, sondern als Einzelkandidat ohne finanzielle oder personelle Unterstützung durch den Kläger. Für seine ehrenamtliche Tätigkeit erhielt er eine monatliche Aufwandsentschädigung in Höhe von 765 €. Der Kläger hat den Beklagten gestützt auf § 6 Abs. 4 der Finanz- und Beitragsordnung der Satzung des CDU-Landesverbandes auf Zahlung von Sonderbeiträgen in Höhe von insgesamt 740,46 € für die Zeit von Januar 2018 bis November 2019 in Anspruch genommen. Er ist der Auffassung, die in der Satzung geregelten Sonderbeiträge könnten vor den ordentlichen Gerichten eingeklagt werden und der Beklagte sei zur Zahlung der geltend gemachten Beträge unabhängig davon, ob er bei der Wahl als Kandidat der Partei angetreten oder von dieser unterstützt worden sei, verpflichtet. Das Amtsgericht hat den Beklagten antragsgemäß verurteilt. Die Berufung des Beklagten hatte keinen Erfolg. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Beklagte seinen Antrag auf Klageabweisung weiter. Entscheidung des Bundesgerichtshofs: Der Bundesgerichtshof hat die Entscheidung des Berufungsgerichts bestätigt. § 6 Abs. 4 der Finanz- und Beitragsordnung der Landessatzung der CDU Sachsen-Anhalt (im Folgenden: FBO CDU-LSA) begründet einen gerichtlich durchsetzbaren zivilrechtlichen Anspruch des Klägers gegen den Beklagten auf Leistung der geltend gemachten Sonderbeiträge. Die Regelung ist als Satzungsbestimmung mit körperschaftsrechtlichem Charakter nach objektiven Gesichtspunkten auszulegen. Danach handelt es sich bei den dort geregelten Sonderbeiträgen um keine freiwilligen Leistungen oder nicht einklagbare unvollkommene Verbindlichkeiten der Amts- und Mandatsträger, sondern um gerichtlich durchsetzbare Zahlungspflichten. Die Pflicht des Beklagten zur Leistung der Sonderbeiträge nach § 6 Abs. 4 FBO CDU-LSA ist nicht an eine konkrete vorangegangene Unterstützung durch den Kläger/seine Partei bei der Bürgermeisterwahl geknüpft. Nach dem Wortlaut der Regelung setzt die Pflicht zur Entrichtung der Sonderbeiträge keine konkrete Unterstützungshandlung der Partei voraus, sondern folgt allein aus der Amts- oder Mandatsträgerstellung des Parteimitglieds. Sinn und Zweck der Regelung gebieten keine andere Auslegung. Die Erhebung von Amts- und Mandatsträgerbeiträgen dient der Gewinnung von Einnahmen unter Berücksichtigung der durch die Parteimitgliedschaft vermittelten Vorteile. Diese Vorteile können aber nicht nur in einer konkreten finanziellen oder personellen Unterstützung durch die Partei bei der jeweiligen Kandidatur bestehen. Vielmehr können auch ohne unmittelbaren Zusammenhang mit einer konkreten Wahl ggf. richtungsweisende Unterstützungshandlungen durch die Partei erfolgt sein. Darüber hinaus kann auch ein Kandidat, der sein Amt ohne konkrete Unterstützung durch die Partei erlangt hat, gleichwohl als langjähriges Parteimitglied von wahlberechtigten Bürgern als solches wahrgenommen worden sein oder aufgrund seiner bekannten Parteizugehörigkeit bestimmte Stammwähler angesprochen haben, ohne dass diese Förderung und ihre (Mit-) Ursächlichkeit für seine Wahl quantifizierbar wären. Verfassungsrechtlich begegnet die Erhebung eines Sonderbeitrags nach § 6 Abs. 4 FBO CDU-LSA von einem ehrenamtlichen Bürgermeister gemäß § 96 Abs. 3 Satz 1 Kommunalverfassungsgesetz des Landes Sachsen-Anhalt (im Folgenden: KVG LSA) keinen Bedenken. Der in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verankerte Grundsatz des freien Mandats ist auf kommunale Mandatsträger nicht uneingeschränkt übertragbar. Für Angehörige kommunaler Vertretungskörperschaften wird die Freiheit des Mandats verfassungsrechtlich vielmehr aus Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG abgeleitet und ist für ehrenamtliche Mitglieder der Kommunalvertretung in § 43 Abs. 1 KVG LSA einfachgesetzlich geregelt. Unabhängig davon, ob und inwieweit diese Mandatsfreiheit überhaupt für einen ehrenamtlichen Bürgermeister (ggf. für seine Tätigkeit im Gemeinderat) gilt, würde sie jedenfalls durch die Erhebung des Sonderbeitrags nicht verletzt. Da § 6 Abs. 4 CDU-LSA nicht an die inhaltliche Ausübung des jeweiligen Amts oder Mandats anknüpft, hat er keine die Freiheit des Mandats beeinträchtigende "Steuerungsfunktion". Der Rechtsgedanke des in Art. 48 Abs. 3 Satz 1 GG verankerten Gebots einer angemessenen Entschädigung der Abgeordneten zur Sicherung ihrer finanziellen Unabhängigkeit steht der Sonderbeitragsregelung ebenfalls nicht entgegen, weil ehrenamtlich Tätige nach § 35 Abs. 1 und 2 KVG LSA anders als Abgeordnete des Deutschen Bundestages keine Alimentation zur Sicherung ihres Lebensunterhalts erhalten, sondern nur Ersatz ihres Verdienstausfalls und ihrer Auslagen bzw. eine pauschalierte Aufwandsentschädigung. Da die Aufwandsentschädigung mit ihrer Leistung in das private Vermögen des Amts- oder Mandatsträgers übergeht, liegt in der Entrichtung eines Teils dieser Entschädigung als Sonderbeitrag an die Partei auch keine verfassungswidrige indirekte staatliche Parteienfinanzierung. Schließlich ist die Erhebung von Sonderbeiträgen von ehrenamtlichen kommunalen Amts- und Mandatsträgern nach § 6 Abs. 4 FBO CDU-LSA auch mit dem aus Art. 21 Abs. 1 Satz 3 GG folgenden innerparteilichen Gleichbehandlungsgrundsatz vereinbar, weil sie durch die oben dargelegte Möglichkeit der Unterstützung des Amts- und Mandatsträgers durch dessen Partei sachlich gerechtfertigt ist. Die Höhe der in § 6 Abs. 4 FBO CDU-LSA festgelegten Sonderbeiträge für ehrenamtliche kommunale Amts- und Mandatsträger ist unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten ebenfalls nicht zu beanstanden. Ein Verstoß gegen das in § 35 Abs. 3 KVG LSA enthaltene Übertragungs- und Verzichtsverbot liegt nicht vor. Die Regelung betrifft nur das Verhältnis der Kommune zum Empfänger der Entschädigung. Ist die Entschädigung mit ihrer Leistung durch die Kommune in das Vermögen des Empfängers übergegangen, steht diesem die weitere Verwendung der Mittel frei. Vorinstanzen: AG Naumburg - Urteil vom 11. Januar 2021 - 12 C 261/20 LG Halle - Urteil vom 6. August 2021 - 1 S 16/21 Die maßgeblichen Regelungen bzw. Vorschriften lauten: § 6 Anlage B Finanz- und Beitragsordnung der Landessatzung der CDU-Sachsen-Anhalt in der bis zum 31. Mai 2019 geltenden Fassung: § 6 weitere Beiträge (Sonderbeiträge) […] (4) Kommunale Amtsträger entrichten monatlich neben ihrem satzungsmäßigen persönlichen Mitgliedbeitrag mindestens 3 % ihres Grundgehaltes sowie 15 % ihrer Aufwandsentschädigung als Sonderbeitrag an ihren Kreisverband; kommunale Mandatsträger entrichten in gleicher Weise 15 % ihrer Aufwandsentschädigung an ihren Kreisverband. […] (7) Persönlichkeiten, die auf Vorschlag der CDU in eine politische Aufgabe gewählt bzw. berufen werden, für die eine Aufwandsentschädigung gezahlt wird, entrichten für die Zeitdauer dieser Aufgabe einen Sonderbeitrag, dessen Höhe der Landesvorstand der CDU im Einzelfall festlegt, soweit dies nicht bereits in den Absätzen 2 bis 4 geschehen ist. in der ab dem ab dem 1. Juni 2019 geltenden Fassung: § 6 Sonderbeiträge […] (4) […] Ehrenamtliche Bürgermeister entrichten monatlich, neben ihrem satzungsmäßigen persönlichen Mitgliedbeitrag, 7,5% ihrer pauschalen Aufwandsentschädigung, gemäß Aufwandsentschädigungssatzung der zuständigen Gemeinde, als Sonderbeitrag an ihren Kreisverband. […] (7) Von Persönlichkeiten, die auf Vorschlag der CDU ein Mandat oder Amt erhalten haben, werden Sonderbeiträge entsprechend den Regelungen in Absatz 2 bis 4 durch persönliche Vereinbarung erhoben. Abweichende Regelungen bedürfen eines Beschlusses des Kreis- oder Landesverbandes. Artikel 21 GG (1) Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei. Ihre innere Ordnung muß demokratischen Grundsätzen entsprechen. Sie müssen über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft geben. […] Artikel 38 GG (1) Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. […] Artikel 48 GG […] (3) Die Abgeordneten haben Anspruch auf eine angemessene, ihre Unabhängigkeit sichernde Entschädigung. Sie haben das Recht der freien Benutzung aller staatlichen Verkehrsmittel. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz. Kommunalverfassungsgesetz des Landes Sachsen-Anhalt (KVG LSA) § 35 Entschädigung (1) Wer ein Ehrenamt oder eine sonstige ehrenamtliche Tätigkeit ausübt, hat Anspruch auf Ersatz seiner Auslagen und seines Verdienstausfalls. Bei Personen, die keinen Verdienst haben oder die Höhe des Verdienstausfalls nicht nachweisen können, wird als Ersatz für die aufgewendete Zeit eine angemessene Pauschale gewährt. Einzelheiten sind durch Satzung zu regeln. (2) Den in ein Ehrenamt oder zu sonstiger ehrenamtlicher Tätigkeit Berufenen können angemessene Aufwandsentschädigungen nach Maßgabe einer Satzung gewährt werden. […] Die Aufwandsentschädigung soll in Form einer monatlichen Pauschale gewährt werden. […] Soweit es dem Wesen des Ehrenamtes oder der sonstigen ehrenamtlichen Tätigkeit entspricht, kann neben oder anstelle einer monatlichen Pauschale auch eine anlassbezogene Pauschale gewährt werden. […] (3) Die Ansprüche auf Leistungen nach den Absätzen 1 und 2 sind nicht übertragbar; auf sie kann nicht verzichtet werden. […] § 43 Rechtsstellung der Mitglieder der Vertretung (1) Die ehrenamtlichen Mitglieder der Vertretung üben ihr Ehrenamt im Rahmen der Gesetze nach ihrer freien, dem Gemeinwohl verpflichteten Überzeugung aus. Sie sind an Aufträge und Weisungen nicht gebunden. […] § 96 Bürgermeister (1) Der Bürgermeister wird von den wahlberechtigten Bürgern nach den Vorschriften des Kommunalwahlgesetzes für das Land Sachsen-Anhalt gewählt. […] […] (3) Der Bürgermeister ist in das Ehrenbeamtenverhältnis auf Zeit zu berufen. […] Die besonderen Dienstpflichten nach den §§ 32 und 33 gelten für den Bürgermeister entsprechend. (4) Der Bürgermeister ist Organ der Mitgliedsgemeinde. Er vertritt und repräsentiert die Mitgliedsgemeinde und ist Vorsitzender des Gemeinderates. […] Der Bürgermeister ist in der Regel Vorsitzender der Ausschüsse. […] Für die Rechtsstellung des Bürgermeisters im Gemeinderat und in den Ausschüssen gelten § 65 Abs. 2, 3 Satz 1 bis 7 und Abs. 4 entsprechend sowie § 65 Abs. 3 Satz 8 unter der Maßgabe von § 34. (5) Der Bürgermeister kann an den Sitzungen des Verbandsgemeinderates und seiner Ausschüsse, in denen Belange seiner Mitgliedsgemeinde berührt sind, mit beratender Stimme teilnehmen. Die Pflichten nach § 33 gelten entsprechend; […]. Karlsruhe, den 31. Januar 2023 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Urteil des II. Zivilsenats vom 31.1.2023 - II ZR 144/21 -
Der Anspruch einer Partei gegen ihr Mitglied auf Zahlung eines Teils seiner Aufwandsentschädigung als Sonderbeitrag ist als zivilrechtlicher Anspruch gerichtlich durchsetzbar. Tenor Die Revision des Beklagten gegen das Urteil der 1. Zivilkammer des Landgerichts Halle vom 6. August 2021 wird auf seine Kosten zurückgewiesen.Von Rechts wegen Tatbestand Der Kläger ist ein rechtlich selbständiger Kreisverband der Christlich Demokratischen Union Deutschlands (CDU). Der Beklagte war von 1972 bis zu seinem Parteiaustritt im November 2019 Mitglied des Klägers. Im Jahr 2015 wurde er zum ehrenamtlichen Bürgermeister der in Sachsen-Anhalt gelegenen Gemeinde F.       gewählt. Als solcher erhielt er eine monatliche Aufwandsentschädigung in Höhe von 765 €. Zur Bürgermeisterwahl war er nicht als Kandidat der CDU angetreten, sondern als Einzelkandidat ohne finanzielle oder personelle Unterstützung durch den Kläger.Die Finanz- und Beitragsordnung der Landessatzung der CDUSachsen-Anhalt (Anlage B der Landessatzung, im Folgenden: FBO CDU-LSA) enthielt im streitgegenständlichen Zeitraum in der bis zum 31. Mai 2019 geltenden Fassung folgende Regelung:§ 6 weitere Beiträge (Sonderbeiträge)[...](4)Kommunale Amtsträger entrichten monatlich neben ihrem satzungsmäßigen persönlichen Mitgliedsbeitrag mindestens 3 % ihres Grundgehalts sowie 15 % ihrer Aufwandsentschädigung als Sonderbeitrag an ihren Kreisverband; kommunale Mandatsträger entrichten in gleicher Weise 15 % ihrer Aufwandsentschädigung an ihren Kreisverband.[...](7)Persönlichkeiten, die auf Vorschlag der CDU in eine politische Aufgabe gewählt bzw. berufen werden, für die eine Aufwandsentschädigung gezahlt wird, entrichten für die Zeitdauer der Wahrnehmung dieser Aufgabe einen Sonderbeitrag, dessen Höhe der Landesvorstand der CDU im Einzelfall festlegt, soweit dies nicht bereits in den Absätzen 2 bis 4 geschehen ist.Nach der ab dem 1. Juni 2019 geltenden Fassung des § 6 Abs. 4 der Regelung betrug der monatlich an den Kreisverband zu leistende Sonderbeitrag für kommunale Wahlbeamte neben ihrem satzungsgemäßen Mitgliedsbeitrag 3 % ihres Grundgehalts (brutto), für kommunale Mandatsträger ab der Gemeindeebene aufwärts 15 % ihrer pauschalen Aufwandsentschädigung und für ehrenamtliche Bürgermeister 7,5 % ihrer pauschalen Aufwandsentschädigung.Im Jahr 2019 nahm der Kläger den Beklagten erstmals auf Leistung von Sonderbeiträgen aufgrund dieser Regelungen in Anspruch. Seiner Aufforderung, für den Zeitraum von Januar 2018 bis Oktober 2019 Sonderbeiträge in Höhe von insgesamt 740,46 € nebst Zinsen zu zahlen, kam der Beklagte nicht nach.Das Amtsgericht hat den Beklagten antragsgemäß zur Zahlung dieser Sonderbeiträge nebst Zinsen verurteilt. Die Berufung des Beklagten hatte bis auf eine Änderung der Zinsentscheidung keinen Erfolg. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Beklagte seinen Antrag auf Klageabweisung weiter. Gründe Die Revision des Beklagten hat keinen Erfolg.I. Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt:Die in § 6 Abs. 4 FBO CDU-LSA in der jeweiligen Fassung festgelegten Amts- und Mandatsträgerbeiträge seien keine freiwilligen Leistungen sondern zivilrechtlich durchsetzbare Zahlungsansprüche des jeweiligen Kreisverbands. Die streitgegenständlichen Satzungsregelungen verstießen nicht gegen § 35 Abs. 3 Kommunalverfassungsgesetz des Landes Sachsen-Anhalt (KVG LSA) und die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 6 Abs. 4 FBO CDU-LSA für eine Inanspruchnahme des Beklagten seien im maßgeblichen Zeitraum erfüllt. Dass der Beklagte sein Amt ohne Unterstützung des Klägers erlangt habe, sei unschädlich, weil die generelle Regelung der Beitragspflicht in der Satzung nicht an eine vorangegangene Unterstützung durch die Partei geknüpft sei.II. Diese Ausführungen halten rechtlicher Nachprüfung stand.1. Die Revision ist unbeschränkt zulässig. Entgegen der Auffassung des Klägers hat das Berufungsgericht die Zulassung nicht auf die Frage der Eröffnung des ordentlichen Rechtswegs für die Durchsetzung von Mandats- bzw. Amtsträgerbeiträgen beschränkt.a) Zwar kann sich eine Beschränkung der Revisionszulassung, die, wie hier, nicht schon in der Entscheidungsformel des Berufungsurteils enthalten ist, auch aus den Entscheidungsgründen ergeben. Das ist regelmäßig dann anzunehmen, wenn sich die vom Berufungsgericht als zulassungsrelevant angesehene Frage nur für einen eindeutig abgrenzbaren selbständigen Teil des Streitstoffs stellt, der Gegenstand eines Teilurteils oder eines eingeschränkt eingelegten Rechtsmittels sein kann. Unzureichend ist jedoch die bloße Angabe einer Begründung für die Zulassung der Revision, ohne dass klar erkennbar ist, dass die Zulassung auf den durch die Rechtsfrage betroffenen Teil des Streitgegenstands beschränkt sein soll (vgl. BGH, Beschluss vom 16. Oktober 2018 - II ZR 70/16, NZG 2019, 466 Rn. 13 mwN).b) Nach diesem Maßstab ist die Revision unbeschränkt zugelassen.Das Berufungsgericht hat seine Zulassungsentscheidung einleitend damit begründet, dass der Rechtsstreit "entscheidungserhebliche Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung" aufwerfe. Daraus ergibt sich, dass es mehrere Rechtsfragen als grundsätzlich klärungsbedürftig angesehen und die von ihm konkret benannte Frage der Durchsetzbarkeit von Mandats- bzw. Amtsträgerbeiträgen vor den ordentlichen Gerichten lediglich als Beispiel für eine dieser Fragen angeführt hat. Jedenfalls kann seiner Begründung keine hinreichend klare Beschränkung auf diese Frage entnommen werden.2. Die Revision ist unbegründet. Das Berufungsgericht hat zu Recht angenommen, dass dem Kläger gegen den Beklagten für den Zeitraum von Januar 2018 bis Oktober 2019 aus § 6 Abs. 4 FBO CDU-LSA in der jeweils geltenden Fassung ein einklagbarer Anspruch auf Zahlung von 740,46 € nebst Zinsen zusteht. Die dem zugrunde liegende Auslegung von § 6 Abs. 4 FBO CDU-LSA durch das Berufungsgericht lässt keine revisiblen Rechtsfehler erkennen.a) Die Revision wendet sich ohne Erfolg dagegen, dass das Berufungsgericht § 6 Abs. 4 FBO CDU-LSA einen vor den ordentlichen Gerichten durchsetzbaren Anspruch des Klägers gegen den Beklagten auf Zahlung eines Teils seiner Aufwandsentschädigung als Sonderbeitrag entnommen hat.aa) § 6 Abs. 4 FBO CDU-LSA ist als Satzungsbestimmung mit körperschaftsrechtlichem Charakter nach objektiven Gesichtspunkten auszulegen.Die in Anlage B der Landessatzung der CDU Sachsen-Anhalt enthaltene FBO CDU-LSA regelt gemäß § 7 Abs. 1 der Landessatzung das Nähere zu den von den Parteimitgliedern zu entrichtenden Beiträgen und ist gemäß § 49 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Satz 1 der Landessatzung vom 20. März 2010 bzw. § 52 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Satz 1 der Landessatzungen vom 17. November 2018 und vom 4. Mai 2019 in ihrer jeweils geltenden Fassung Bestandteil der Satzung. Der Beitragsregelung in § 6 Abs. 4 FBO CDU-LSA kommt körperschaftsrechtlicher Charakter zu, da sie nicht nur die derzeitigen, bei Inkrafttreten der Regelung vorhandenen, sondern auch künftig beitretende Parteimitglieder erfasst (vgl. BGH, Urteil vom 11. Oktober 1993 - II ZR 155/92, BGHZ 123, 350; Urteil vom 27. September 2011 - II ZR 279/09, ZIP 2011, 2357 Rn. 8). Satzungsbestimmungen, denen körperschaftsrechtlicher Charakter zukommt, sind grundsätzlich nach objektiven Gesichtspunkten einheitlich aus sich heraus auszulegen (vgl. BGH, Urteil vom 28. November 1988 - II ZR 96/88, BGHZ 106, 67, 71; Urteil vom 11. Oktober 1993 - II ZR 155/92, BGHZ 123, 347, 350; jeweils mwN). Dabei kommen Wortlaut, Sinn und Zweck der Regelung ebenso maßgebende Bedeutung zu wie dem systematischen Bezug der Klausel zu anderen Satzungsvorschriften. Die Auslegung des Berufungsgerichts unterliegt der freien Nachprüfung durch das Revisionsgericht (st. Rspr.; z.B. BGH, Urteil vom 16. Dezember 1991 - II ZR 58/91, BGHZ 116, 359, 364; Urteil vom 11. Oktober 1993 - II ZR 155/92, BGHZ 123, 347, 350; Urteil vom 27. September 2011 - II ZR 279/09, ZIP 2011, 2357 Rn. 8; Urteil vom 29. Juli 2014 - II ZR 243/13, BGHZ 202, 202 Rn. 14).bb) Der Wortlaut des § 6 Abs. 4 FBO CDU-LSA, wonach die Amts- und Mandatsträger die Sonderbeiträge in der festgelegten Höhe "entrichten", gibt für eine Einordnung als nicht einklagbare unvollkommene Verbindlichkeit keinen Anhalt. Gleiches gilt für Sinn und Zweck der Regelung, der darin liegt, Amts- und Mandatsträger zu einer zusätzlichen finanziellen Unterstützung der Partei heranzuziehen. Anderes ergibt sich auch nicht aus dem systematischen Bezug der Regelung zu anderen Vorschriften der Satzung. § 4 Abs. 2 Satz 1 FBO CDU-LSA bestimmt für Mitgliedsbeiträge zwar ausdrücklich, dass diese zu den angegebenen Terminen "unaufgefordert zu zahlen" sind, während eine entsprechende Formulierung für die Leistung von Sonderbeiträgen fehlt. Dass auch dafür eine durchsetzbare Leistungspflicht des Mitglieds besteht, zeigt aber § 4 Abs. 2 Satz 3, § 7 FBO CDU-LSA, wonach ein Mitglied auch mit der Leistung von Sonderbeiträgen in Zahlungsverzug geraten kann und in diesem Fall Verzugszinsen berechnet werden können. Dass die Verweigerung der Zahlung von Mitglieds- und Sonderbeiträgen nach § 4 Abs. 2 Satz 3 und 4 FBO CDU-LSA unter bestimmten Voraussetzungen auch die Beendigung der Mitgliedschaft in der Partei zur Folge haben kann, lässt entgegen der Revision nicht den Rückschluss zu, dass damit lediglich parteiinterne Konsequenzen unter Verzicht auf eine gerichtliche Durchsetzung der rückständigen Beiträge gezogen werden sollten.cc) Der Anspruch einer Partei gegen ihr Mitglied auf Zahlung eines Teils seiner Aufwandsentschädigung als Sonderbeitrag ist als zivilrechtlicher Anspruch gerichtlich durchsetzbar. Die dagegen erhobenen Einwände der Revision rechtfertigen keine andere Betrachtung.(1) Dass Mitgliedsbeiträge nach ihrer Definition in § 27 Abs. 1 Satz 1 PartG "auf Grund satzungsrechtlicher Vorschriften entrichtet" werden, während die Definition von Mandatsträgerbeiträgen in § 27 Abs. 1 Satz 2 PartG auf deren Leistung durch den Mandatsträger abstellt, besagt nichts über die rechtliche Qualität dieser Leistung im Verhältnis zwischen der Partei und ihrem Mitglied. Auch den Gesetzesmaterialien (Fraktionsentwurf eines Achten Gesetzes zur Änderung des Parteiengesetzes, BT-Drucks. 14/8778) ist nicht zu entnehmen, dass den unterschiedlichen Formulierungen in § 27 PartG eine entsprechende Bedeutung zukommen sollte. Gleiches gilt für Systematik sowie Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung. § 27 Abs. 1 PartG enthält eine Legaldefinition der verschiedenen Einnahmequellen der Parteien für deren entsprechende Unterscheidung und Ausweisung in den Rechenschaftsberichten (§ 24 Abs. 4, § 25 Abs. 3 Satz 1 PartG) sowie als Grundlage für die Berechnung des staatlichen Finanzierungsanteils (§ 18 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 PartG). Ein weitergehender Regelungsgehalt dahingehend, welche rechtliche Qualität Sonderbeiträge im mitgliedschaftlichen Verhältnis der Partei haben, kommt der Vorschrift nicht zu.Anderes folgt auch nicht daraus, dass Mandatsträgerbeiträge nach § 25 Abs. 3 PartG in der vom 1. Juli 2002 bis zum 31. Dezember 2015 geltenden Fassung des Gesetzes vom 28. Juni 2002 (BGBl. I S. 2268) in Bezug auf Publizitätspflichten wie (freiwillige) Spenden und nicht wie Mitgliedsbeiträge zu behandeln waren. Diese Unterscheidung ist mit der Erstreckung der Publizitätspflicht auch auf Mitgliedsbeiträge durch § 25 Abs. 3 PartG in der seit 1. Januar 2016 geltenden Fassung (Gesetz vom 22. Dezember 2015, BGBl. I S. 2563; Fraktionsentwurf eines Gesetzes zur Änderung des Parteiengesetzes, BT-Drucks. 18/6879, S. 6, 9, 15) entfallen.Soweit die Revision außerdem darauf verweist, dass Mandatsträgerbeiträge nach einem Schreiben des Bundesfinanzministeriums vom 10. April 2003 (IV C 4 S 2223 - 48/03, BStBl. I 2003 S. 286) steuerlich wie Spenden im Sinne von § 50 EStDV zu behandeln sind, "da es keine gesetzliche oder parlamentsordnungsgeschäftliche Verpflichtung zur Zahlung dieser Beiträge gibt", ist diese steuerliche Einordnung der Beitragsleistung für ihre zivilrechtliche Qualifizierung aufgrund einer Regelung in der Parteisatzung oder individuellen Vereinbarung ohne Relevanz.(2) Keinen Anlass zu einer anderen Beurteilung gibt auch der Einwand der Revision, gegen eine Einklagbarkeit von Mandatsträgerbeiträgen spreche eine potentielle finanzielle Abhängigkeit der Amts- und Mandatsträger von der Partei, die nach Belieben ausstehende Sonderbeiträge im Einzelfall einklagen oder bewusst nicht geltend machen und dies auch von dem parlamentarischen oder sonstigen politischen Verhalten des Mandatsträgers abhängig machen könne.Die Revision verweist insoweit auf die entsprechenden Ausführungen in der Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages vom 6. Dezember 2005 (2. WF III G - 348/05, S. 15), in der u.a. wegen dieser möglichen Beeinflussung des politischen Verhaltens Zweifel an der gerichtlichen Durchsetzbarkeit von in Parteisatzungen geregelten Amts- und Mandatsträgerbeiträgen geäußert wurden. Diese Auffassung wurde allerdings in einer neueren Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste vom 17. Juni 2016(WD 3 - 3000 - 155/16, S. 12) aufgegeben und im Anschluss an eine entsprechende Meinung in der Literatur (Kühr, Legalität und Legitimität von Mandatsträgerbeiträgen, 2014, S. 138 ff.) ein zivilrechtlich durchsetzbarer Zahlungsanspruch der Partei bei parteiinternen Regelungen oder aufgrund einer individuellen Vereinbarung zwischen Partei und Mandatsträgern bejaht.Diese Auffassung trifft zu. Die von der Revision angeführte Gefahr der Beliebigkeit der Beitragseinforderung und deren Instrumentalisierung zur Beeinflussung des Mandatsträgerverhaltens rechtfertigt keinen generellen Ausschluss der Einklagbarkeit der Beitragsforderung, da ihr durch eine rechtliche Kontrolle der Einforderung im jeweiligen Einzelfall hinreichend begegnet werden kann. Einer beliebigen Einforderung der Beiträge steht der aus Art. 21 Abs. 1 Satz 3 GG abgeleitete innerparteiliche Gleichbehandlungsgrundsatz entgegen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts schützt Art. 21 Abs. 1 Satz 3 GG als Bestandteil der demokratischen Ordnung u.a. die grundsätzliche Gleichwertigkeit der Mitglieder einer Partei, deren Grundsätze im Einzelnen eine Ausdifferenzierung im Parteiengesetz erfahren (so bereits BVerfGE 2, 1, 40). Während die politische Partizipation und wesentliche mitgliedschaftliche Rechte der einzelnen Parteimitglieder im zweiten Abschnitt des Parteiengesetzes (§§ 6 bis 16 PartG) eine entsprechende Regelung erfahren haben, kann für das Gebot der Gleichbehandlung der Parteimitglieder auf allgemeine vereinsrechtliche Grundsätze zurückgegriffen werden (MünchHdb GesR V/Knof, 5. Aufl., § 6 Rn. 20; Reichert/Wagner, Vereinsrecht, Kap 2 Rn. 6207; Seifert, Die politischen Parteien im Recht der Bundesrepublik Deutschland, 1975, S. 219; Streinz inv. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl., Art. 21 Rn. 157; Bonner Kommentar zum Grundgesetz/Towfigh/Ulrich, Stand: Juli 2020, Art. 21 Rn. 446 f.). Der dort geltende Grundsatz der Gleichbehandlung aller Vereinsmitglieder gewinnt besondere Bedeutung bei der Erhebung der Mitgliedsbeiträge und verbietet, ein einzelnes Mitglied oder eine Gruppe von Mitgliedern willkürlich oder in sachfremder Weise besonders zu belasten (vgl. BGH, Urteil vom 24. März 1954 - II ZR 33/53, juris Rn. 7; Urteil vom 19. Juli 2010 - II ZR 23/09, ZIP 2010, 1793 Rn. 17). Dementsprechend kann auch ein einzelner Amts- und Mandatsträger der sachfremden Durchsetzung der Ansprüche durch die Partei zur Bewirkung eines bestimmten politischen Verhaltens im konkreten Einzelfall entgegentreten.b) Die Voraussetzungen für einen Anspruch des Klägers gegen den Beklagten auf Zahlung der geltend gemachten Sonderbeiträge gemäß § 6 Abs. 4 FBO CDU-LSA in der jeweiligen Fassung sind erfüllt.aa) Der Beklagte war im streitgegenständlichen Zeitraum Mitglied der CDU im klagenden Kreisverband und als ehrenamtlicher Bürgermeister gemäß § 96 Abs. 1, Abs. 3 KVG LSA direkt gewählter kommunaler Amtsträger in einem Ehrenbeamtenverhältnis auf Zeit.bb) Das Berufungsgericht hat zu Recht angenommen, dass die Pflicht des Beklagten zur Leistung eines Sonderbeitrags nach § 6 Abs. 4 FBO CDU-LSA nicht an eine vorangegangene Unterstützung des Beklagten bei der Erlangung seines Amtes geknüpft ist. Auch insoweit lässt die Auslegung der Satzungsregelung durch das Berufungsgericht entgegen der Ansicht der Revision keine revisiblen Rechtsfehler erkennen.(1) § 6 Abs. 4 FBO CDU-LSA stellt seinem Wortlaut nach für die Pflicht zur Entrichtung des Sonderbeitrags in der jeweiligen Fassung einzig auf die Amts- oder Mandatsträgerstellung des Parteimitglieds ab.(2) Dass die Erhebung des Beitrags gleichwohl eine konkrete vorangegangene oder aktuelle Unterstützung des Amts- oder Mandatsträgers durch die Partei voraussetzt, folgt entgegen der Ansicht der Revision auch nicht aus der Regelung von Sonderbeiträgen für Persönlichkeiten, die auf Vorschlag der Partei ein Amt oder ein Mandat erhalten haben, in § 6 Abs. 7 FBO CDU-LSA.Mit der dortigen Anknüpfung der Sonderbeitragspflicht an den Wahlvorschlag der Partei wird (auch) der Fall erfasst, dass die Partei eine nicht parteiangehörige Persönlichkeit unterstützt, für die sich die Pflicht zur Leistung des Sonderbeitrags nicht aus den für Parteimitglieder geltenden Regelungen in § 6 Abs. 2 bis 4 FBO CDU-LSA ergibt. In einem solchen Fall erklärt sich die Anknüpfung der Beitragspflicht an die konkrete Unterstützung in Form des Wahlvorschlags der Partei daraus, dass die oben aufgezeigten anderweitigen Möglichkeiten einer Förderung oder Unterstützung der Kandidatur durch die Partei mangels Parteizugehörigkeit nicht ohne Weiteres vorausgesetzt werden können. Das erlaubt indes keinen Rückschluss auf eine entsprechende Voraussetzung auch für die Erhebung von Sonderbeiträgen von parteiangehörigen Amts- und Mandatsträgern. Im Gegenteil spricht gerade die ausdrückliche Anknüpfung an den Wahlvorschlag der Partei bei nicht parteiangehörigen Persönlichkeiten im Umkehrschluss dafür, dass eine solche oder eine vergleichbare Unterstützung bei Parteimitgliedern nicht vorausgesetzt wird.(3) Die Abhängigkeit des Sonderbeitrags von einer Unterstützung des Amts- oder Mandatsträgers bei der Wahl durch die Partei ergibt sich schließlich nicht aus Sinn und Zweck des § 6 Abs. 4 FBO CDU-LSA. Eine dahingehend einschränkende Auslegung der Regelung ist entgegen der Ansicht der Revision nicht geboten.Sinn und Zweck der Erhebung von Amts- und Mandatsträgerbeiträgen ist die Gewinnung von Einnahmen unter Berücksichtigung der durch die Mitgliedschaft vermittelten Vorteile. Diese Vorteile mögen, wie die Revision geltend macht, zwar im "Normalfall" in einer konkreten personellen, sachlichen oderfinanziellen Unterstützung durch die Partei bei der jeweiligen Kandidatur liegen. Die Partei kann dem Einzelnen aber auch nach Erlangung des Amtes oder Mandats Beistand leisten, beispielsweise durch Unterhaltung eines Parteisekretariats, die Förderung von Austausch oder die Bildung von Netzwerken. Daneben können für ein Parteimitglied ggf. richtungsweisende Unterstützungshandlungen durch die Partei auch ohne unmittelbaren Zusammenhang zu einer konkreten Amts- oder Mandatsübernahme erfolgt sein oder noch erfolgen. Schließlich kann auch ein Kandidat, der sein Amt ohne finanzielle oder personelle Unterstützung seiner Partei erhalten hat, gleichwohl als langjähriges Parteimitglied von wahlberechtigten Bürgern als solches wahrgenommen worden sein oder aufgrund seiner bekannten Parteizugehörigkeit bestimmte Stammwähler angesprochen haben, ohne dass diese Förderung und ihre (Mit-)Ursächlichkeit für seine Wahl quantifizierbar wäre. Auch in diesen Fällen kommt daher die Erhebung eines Sonderbeitrags zum Ausgleich für die Möglichkeit der parteilichen Unterstützung oder Förderung des Amts- oder Mandatsträgers in Betracht. Danach und im Hinblick auf die mit einer abstrakt-generellen Regelung auf Satzungsebene zwangsläufig verbundene typisierende Betrachtung entspricht auch die Erhebung eines Sonderbeitrags unabhängig von einer konkreten Unterstützung des Amts- oder Mandatsträgers bei der Wahl Sinn und Zweck des § 6 Abs. 4 FBO CDU-LSA.c) Diese Sonderbeitragsregelung für ehrenamtliche Bürgermeisters in § 6 Abs. 4 FBO CDU-LSA in der jeweils geltenden Fassung verstößt entgegen der Auffassung der Revision nicht gegen höherrangiges Recht.aa) Nach allgemeiner, auch von der Revision nicht in Frage gestellter Auffassung ist die CDU als politische Partei im Sinne des Parteiengesetzes im Rahmen der ihr als Verein gemäß §§ 21 ff. BGB zustehenden Satzungsautonomie grundsätzlich befugt, die Erhebung von Beiträgen und die dafür geltenden Voraussetzungen verbindlich zu regeln. Die innerparteilichen Rechtsbeziehungen zwischen den politischen Parteien und ihren Mitgliedern bestimmen sich, auch wenn sie als nicht rechtsfähiger Verein organisiert sind (vgl. BGH, Urteil vom 11. Juli 1968 - VII ZR 63/66, BGHZ 50, 325, 328 ff. [zu Gewerkschaften]; Urteil vom 2. April 1979 - II ZR 141/78, WM 1979, 969, 970; Beschluss vom 21. Mai 2019 - II ZR 157/18, NZA 2020, 134 Rn. 16), nach den vereinsrechtlichen Vorschriften der §§ 21 ff. BGB, sofern nicht das Parteiengesetz vorrangige Sonderregelungen enthält oder verfassungsmäßige Vorgaben eine abweichende Regelung gebieten (vgl. Lontzek, Die Sonderbeiträge von Abgeordneten an Partei und Fraktion, 2012, S. 59 f.; MünchHdb GesR V/Knof, 5. Aufl., § 6 Rn. 20; Stöber/Otto, Handbuch zum Vereinsrecht, 12. Aufl., Rn. 20; Reichert/Wagner, Vereins- und Verbandsrecht, 14. Aufl., Kap 2 Rn. 6206 ff.; Grüneberg/Ellenberger, BGB, 81. Aufl., Einf v § 21 Rn. 17).bb) Die verfassungsrechtlichen Einwände der Revision greifen jedenfalls im Fall der Erhebung von Sonderbeiträgen nach § 6 Abs. 4 FBO CDU-LSA in der hier jeweils geltenden Fassung von einem gemäß § 96 Abs. 3 Satz 1 KVG LSA ehrenamtlich tätigen Bürgermeister einer verbandsangehörigen Mitgliedsgemeinde nicht durch.(1) Soweit die Revision hierzu auf die Diskussion in der Literatur über die Verfassungsmäßigkeit von Mandatsträgerbeiträgen verweist, betrifft diese vor allem Parlamentsabgeordnete und ist daher nicht ohne Weiteres auf die hier in Rede stehenden Sonderbeiträge für Angehörige kommunaler Vertretungskörperschaften übertragbar. Kommunale Vertretungskörperschaften sind keine Parlamente im staatsrechtlichen Sinne, sondern Organ einer Selbstverwaltungskörperschaft (vgl. BVerfGE 78, 344, 348; 120, 82, 112; BVerwGE 97, 223, 225; Kühr, Legalität und Legitimität von Mandatsträgerbeiträgen, 2014, S. 181). Davon abgesehen hat das Bundesverfassungsgericht auch Sonderbeiträge von Parlamentsabgeordneten in seinen Entscheidungen zur Parteienfinanzierung nicht beanstandet, sondern vielmehr als im Parteiengesetz geregelte Einnahmeform der Parteien vorausgesetzt (BVerfG, NVwZ 1982, 613, 614; BVerfGE 85, 264, 311). In der Literatur werden zwar auch nach diesen Entscheidungen weiterhin verfassungsrechtliche Zweifel im Hinblick auf den Grundsatz des freien Mandats (Art. 38 Abs. 1 GG), der angemessenen Alimentierung der Abgeordneten (Art. 48 Abs. 3 Satz 1 GG) und das Verbot versteckter staatlicher Parteienfinanzierung (Art. 21 Abs. 1 GG) geäußert (so etwa von Arnim/Drysch in Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand: Juli 2019, Art. 48 Rn. 338 ff.; Streinz in von Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, 6. Aufl., Art. 21 Rn. 124). Wie auch die Revision einräumt, hält die überwiegende Meinung jedoch Mandatsträgerbeiträge von Parlamentsabgeordneten grundsätzlich für verfassungsrechtlich zulässig (siehe etwa Klein in Dürig/Herzog/Scholz, GG-Kommentar; Stand: Dezember 2014, Art. 21 Rn. 411 f.; Dreier/Schultze-Fielitz, GG, 3. Aufl., Art. 48 Rn. 27; Bonner Kommentar zum Grundgesetz/Henke, Stand: Juli 2020, Art. 21 Rn. 550 ff.; weitere Nachweise zum Meinungsstand siehe die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages vom 17. Juni 2016, Zulässigkeit und Durchsetzbarkeit von Mandatsträgerbeiträgen, WD 3 - 3000 - 155/16, S. 5 bis 9).(2) Unabhängig davon begegnet jedenfalls die hier zu beurteilende Festlegung eines Sonderbeitrags nach § 6 Abs. 4 FBO CDU-LSA in der hier jeweils geltenden Fassung von einem gemäß § 96 Abs. 3 Satz 1 KVG LSA ehrenamtlich tätigen Bürgermeister einer verbandsangehörigen Mitgliedsgemeinde keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.(a) § 6 Abs. 4 FBO CDU-LSA in der jeweiligen Fassung verstößt nicht gegen den in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verankerten Grundsatz des freien Mandats.(aa) Der Grundsatz des freien Mandats gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ist nicht uneingeschränkt auf kommunale Mandatsträger übertragbar.Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG bezieht sich nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur auf die Abgeordneten des Deutschen Bundestages (BVerfGE 6, 445, 447 mwN; Burghart in Leibholz/Rink, GG, Stand: April 2022, Art. 38 Rn. 486). Für Angehörige kommunaler Vertretungskörperschaften wird die Freiheit des Mandats verfassungsrechtlich aus Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG abgeleitet. Danach haben Gemeindevertreter nach Maßgabe der Eigenverantwortlichkeit, wie sie dem verfassungsrechtlich geformten Bild der in den staatlichen Aufbau integrierten kommunalen Selbstverwaltung entspricht, ein "freies Mandat" (BVerwGE 90, 104, 105 mwN; Lontzek, Die Sonderbeiträge von Abgeordneten an Partei und Fraktion, 2012, S. 23 ff.). Die konkrete Ausgestaltung der Rechtsstellung der Mitglieder der kommunalen Vertretungen ist Aufgabe des staatlichen Gesetzgebers (BVerfGE 78, 344, 348). Eine solche einfachgesetzliche Regelung findet sich hier in § 43 Abs. 1 KVG LSA für die ehrenamtlichen Mitglieder der Kommunalvertretung. Danach üben die ehrenamtlichen Mitglieder der Vertretung ihr Ehrenamt im Rahmen der Gesetze nach ihrer freien, dem Gemeinwohl verpflichteten Überzeugung aus und sind an Aufträge und Weisungen nicht gebunden. Auch insoweit ist allerdings zu berücksichtigen, dass den Gemeindevertretungen als Organ der Verwaltung in erster Linie verwaltende Tätigkeiten anvertraut sind, die der Ausübung von Staatsgewalt durch die Parlamente nicht zu vergleichen sind (BVerfGE 120, 82, 112).Das gilt erst recht für den Bürgermeister einer verbandsangehörigen Mitgliedsgemeinde gemäß §§ 95, 96 KVG LSA, für den § 43 Abs. 1 KVG LSA jedenfalls nicht ausdrücklich anwendbar ist. Dieser wird zwar direkt gewählt, ist ehren(be)amtlich tätig (§ 96 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 KVG LSA) und gehört neben seinen Vertretungs- und Repräsentationsaufgaben auch dem Gemeinderat als dessen Vorsitzender an (§ 95 Abs. 1 Satz 1, § 96 Abs. 4 Satz 2 KVG LSA). Nach § 95 Abs. 1 Satz 1 KVG wird er aber nicht zu den ehrenamtlichen Mitgliedern des Gemeinderats gerechnet und damit vom Wortlaut des § 43 Abs. 1 KVG LSA nicht erfasst. Zudem wird in § 96 Abs. 2 Satz 3 KVG LSA im Zusammenhang mit der Regelung der Wählbarkeit zum Bürgermeister ausdrücklich nur das in § 43 Abs. 2 KVG LSA enthaltene Hinderungsverbot für entsprechend anwendbar erklärt. Ein vergleichbarer Verweis auf § 43 Abs. 1 KVG LSA ist in § 96 KVG LSA nicht enthalten, sondern "nur" ein Verweis auf die besonderen Dienstpflichten ehrenamtlich Tätiger (§ 96 Abs. 3 Satz 4 i.V.m. §§ 32, 33 KVG LSA).(bb) Sollte dem ehrenamtlichen Bürgermeister danach ggf. für seine Tätigkeit im Gemeinderat eine Mandatsfreiheit gemäß § 43 Abs. 1 KVG LSA verbleiben (vgl. dazu Reich in Schmid u.a., KVSA, 2. Aufl., § 96 Rn. 115, 119), würde diese durch § 6 Abs. 4 FBO CDU-LSA nicht verletzt.Da § 6 Abs. 4 FBO CDU-LSA die Erhebung des Sonderbeitrags nicht an die inhaltliche Ausübung des jeweiligen Amts oder Mandats anknüpft, sondern allein an die Parteimitgliedschaft und Amts- oder Mandatsinhaberschaft als solche, kommt ihr keine die Freiheit des Mandats evtl. beeinträchtigende inhaltliche "Steuerungsfunktion" zu (vgl. Kühr, Legalität und Legitimität von Mandatsträgerbeiträgen, 2014, S. 135, 139, 301 zu Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG). Da sich das Mitglied mit seinem Parteibeitritt freiwillig der Parteisatzung und damit der darin geregelten Beitragspflicht unterworfen hat, wird die Mandatsfreiheit insoweit nicht berührt (vgl. Kühr, Legalität und Legitimität von Mandatsträgerbeiträgen, 2014, S. 135 f., 301). Daran ändert der Einwand nichts, der Mandatsträger sei faktisch gezwungen, diese Verpflichtung einzugehen und den Sonderbeitrag zu entrichten, weil er andernfalls Gefahr laufe, von der Partei nicht mehr aufgestellt zu werden. Die Gewährleistung des § 43 Abs. 1 KVG LSA bezieht sich ebenso wie diejenige des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG lediglich auf das konkrete Mandat und gibt keinen Anspruch auf Wiederwahl oder Wiederkandidatur (vgl. Miller/Gundlach in Bücken-Thielmeyer u.a., KVG LSA, Stand: Mai 2021, § 43 S. 3; Dreier/Morlok, GG, 3. Aufl., Art. 38 Rn. 167; Kühr, Legalität und Legitimität von Mandatsträgerbeiträgen, 2014, S. 141).(b) Der Rechtsgedanke des in Art. 48 Abs. 3 Satz 1 GG verankerten verfassungsrechtlichen Gebots einer angemessenen Entschädigung der Abgeordneten zur Sicherung ihrer finanziellen Unabhängigkeit steht dem in § 6 Abs. 4 FBO CDU-LSA geregelten Sonderbeitrag für ehrenamtliche Amts- und Mandatsträger ebenfalls nicht entgegen.Ehrenamtlich Tätige erhalten nach § 35 Abs. 1 und 2 KVG LSA nur Ersatz ihres Verdienstausfalls und ihrer Auslagen bzw. eine pauschalierte Aufwandsentschädigung. Damit erfolgt, anders als bei Abgeordneten des Deutschen Bundestags, keine Alimentation zur Sicherung ihres Lebensunterhalts, sondern nur ein Ausgleich für die mit der ehrenamtlichen, d.h. grundsätzlich unentgeltlichen Dienstleistung verbundenen Beschwernisse und finanziellen Einbußen (vgl. Miller/Gundlach in Bücken-Thielmeyer u.a., KVG LSA, Stand: Mai 2021, § 35 S. 2 und 5; Reich in Schmid u.a., KVSA, 2. Aufl., § 35 Rn. 1; BVerwGE 95, 208, 210, 212 zur Tätigkeit eines ehrenamtlichen Schulvorstehers). Überdies geht auch die Alimentation von Parlamentsabgeordneten mit ihrer Leistung in die private Verfügungsgewalt eines jeden Abgeordneten über und kann von diesem infolgedessen auch für Beiträge oder Spenden an eine Partei verwendet werden (BVerfG, NVwZ 1982, 613, 614; siehe auch Jochum in Ipsen, Parteiengesetz, 2. Aufl., § 27 Rn. 6; Henkel, DÖV 1975, 819, 821; Henkel, DÖV 1977, 350, 354; Müller/Albrecht, DVBl 2000, 1315, 1321; Welti, DÖV 2001, 705, 711; Wefelmeier, NdsVBl. 2003, 286, 289). Das gilt auch für die Aufwandsentschädigung der kommunal ehrenamtlich Tätigen.(c) Infolge dieses Übergangs der Aufwandsentschädigung in das private Vermögen des Amts- oder Mandatsinhabers greift auch der weitere Einwand nicht, die Erhebung von Sonderbeiträgen stelle eine verfassungswidrige indirekte staatliche Parteienfinanzierung dar.Soweit die Revision geltend macht, der Charakter einer staatlichen Leistung ergebe sich daraus, dass die zu leistenden Sonderbeiträge in die jeweilige (staatliche) Aufwandsentschädigung eingerechnet würden, sind Anhaltspunkte dafür weder allgemein noch konkret für die hier zu beurteilende Aufwandsentschädigung nach § 35 KVG LSA festgestellt oder sonst ersichtlich. Zudem würde sich dieser Einwand nur gegen die Höhe der jeweiligen Aufwandsentschädigung richten, nicht aber gegen die Erhebung des Sonderbeitrags als solche. Das gilt auch für den in der Literatur erhobenen Einwand, Mandatsträgerbeiträge bewirkten im Hinblick auf die Anknüpfung der staatlichen Teilfinanzierung von Parteien an die erhaltenen Mandatsträgerbeiträge (§ 18 Abs. 3 Nr. 3 PartG) und die Begünstigungen für Mandatsträgerbeiträge bei der Einkommensteuer (§ 10b Abs. 2, § 34g EStG) eine mittelbare staatliche Parteienfinanzierung (so z.B. von Arnim, DVBl 2002, 1065, 1071, 1073; Drysch, DStR 2008, 1217, 1219; Bonner Kommentar zum Grundgesetz/von Arnim/Drysch, Stand: Juli 2019, Art. 48 Rn. 340; Sachs/Ipsen/Koch, GG, 9. Aufl., Art. 21 Rn. 137; Dreier/Morlok, GG, 3. Aufl., Art. 21 Rn. 101). Danach wäre ggf. die gesetzliche Anknüpfung der Gewährung staatlicher Mittel oder der Steuerbegünstigungen an die von den Parteien erhobenen Sonderbeiträge unzulässig, nicht aber die Erhebung dieser Beiträge durch die Parteien.(d) Die Regelung in § 6 Abs. 4 FBO CDU-LSA über die Erhebung von Sonderbeiträgen von ehrenamtlichen kommunalen Amts- und Mandatsträgern ist mit dem aus Art. 21 Abs. 1 Satz 3 GG abgeleiteten innerparteilichen Gleichbehandlungsgrundsatz vereinbar.Die besondere Belastung parteiangehöriger Amts- oder Mandatsträger mit der Leistung von Sonderbeiträgen und ihre darin liegende Ungleichbehandlung mit "einfachen" Parteimitgliedern ist weder willkürlich noch sachfremd. Sie hat ihren sachlichen Grund in der Möglichkeit der Unterstützung des Amts- oder Mandatsträgers durch seine Partei (vgl. Breitling, Festschrift für Wildenmann, 1986, S. 292, 298; Ipsen/Jochum, Parteiengesetz, 2. Aufl., § 27 Rn. 5; Klatt, ZParl 1976, 61, 63; Olzog/Liese, Die politischen Parteien in Deutschland, 25. Aufl., S. 39; Seifert, Die politischen Parteien im Recht der Bundesrepublik Deutschland, 1975, S. 295; a.A. Wefelmeier, NdsVBl. 2003, 286, 291 f.: allenfalls in verhältnismäßig beschränktem Umfang zulässig). Diese Unterstützung kann, wie oben ausgeführt, nicht allein in einer konkreten personellen, sachlichen oder finanziellen Unterstützung eines potentiellen Amts- oder Mandatsträgers im Wahlkampf bestehen, sondern auch durch eine Unterstützung nach Erlangung des Amts oder Mandats, ohne unmittelbaren Zusammenhang mit einer konkreten Amts- oder Mandatsübernahme erfolgen oder auch bereits darin liegen, dass ein Kandidat als langjähriges Parteimitglied wahrgenommen wird oder Stammwähler der Partei angesprochen hat. Infolgedessen ist die Erhebung eines Sonderbeitrags, der in angemessener Höhe zu dieser möglichen Unterstützung durch die Partei bzw. Parteimitgliedschaft steht, auch ohne Anknüpfung an eine konkrete Unterstützungshandlung der Partei sachlich gerechtfertigt. Damit steht es der Partei im Rahmen ihrer satzungsautonomen Gestaltung der Erhebung von Sonderbeiträgen grundsätzlich frei, ob sie für die Erhebung von Sonderbeiträgen eine konkrete oder generelle Unterstützungshandlung/-haltung gegenüber dem einzelnen Mitglied voraussetzt.Dagegen macht die Revision ohne Erfolg geltend, die Partei könne damit willkürlich darüber entscheiden, ob sie ein Mitglied bei einer Kandidatur oder Amts-/Mandatsübernahme unterstütze, ohne dass ihre Entscheidung gegen eine solche Unterstützung und den damit verbundenen Aufwand für sie finanzielle Konsequenzen hätte. Einer Partei steht es grundsätzlich frei, ob sie ein Parteimitglied bei einer Kandidatur vorschlägt oder unterstützt; die Parteizugehörigkeit als solche begründet für sich genommen noch keinen entsprechenden Anspruch des Parteimitglieds. Umgekehrt ist auch ein Amts- oder Mandatsträger nicht gehindert, unmittelbar nach der Erlangung des Amts oder Mandats aus der Partei auszutreten und ihr damit die andernfalls geschuldeten Sonderbeiträge zu entziehen.(e) Schließlich ist auch die Höhe der in § 6 Abs. 4 FBO CDU-LSA festgesetzten Sonderbeiträge für ehrenamtliche kommunale Amts- und Mandatsträger unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten nicht zu beanstanden. Insbesondere überschreiten die festgesetzten Sätze nicht die Grenze dessen, was auch ohne Anknüpfung an eine konkrete Unterstützungshandlung noch als angemessene und damit sachlich gerechtfertigte Sonderbelastung für die aus der Parteimitgliedschaft vermittelten Vorteile angesehen werden kann.cc) § 6 Abs. 4 FBO CDU-LSA in der jeweils geltenden Fassung verstößt nicht gegen § 35 Abs. 3 KVG LSA.Mit dem in § 35 Abs. 3 KVG LSA enthaltenen Verbot der Übertragung und des Verzichts auf Entschädigung nach § 35 Abs. 1 und 2 KVG LSA soll verhindert werden, dass ein Kandidat einen besonderen Anreiz setzt, von der Kommune ein Ehrenamt zu erhalten. Zu diesem Zweck wird die Verpflichtung zur Zahlung von Auslagen, Verdienstausfall und Aufwandsentschädigung im Verhältnis der Kommune zum Empfänger der Entschädigung verbindlich festgelegt. Außerhalb dieses Verhältnisses entfaltet § 35 Abs. 3 KVG LSA aber keine Wirkung. Wie oben ausgeführt, gehen die öffentlichen Mittel mit der Erbringung der Leistung in die private Verfügungsgewalt des Empfängers über, der darüber frei disponieren kann. Der Empfänger der Entschädigung ist daher auch frei, die Mittel zu spenden oder sie unmittelbar abzuführen (Miller/Gundlach in Bücken-Thielmeyer u.a., KVG LSA, Stand: Mai 2021, § 35 S. 7; Reich in Schmid u.a., KVG LSA, 2. Aufl., § 35 Rn. 20). Ebenso kann er sich schuld- oder satzungsrechtlich verpflichten, eine ihm zustehende Aufwandsentschädigung nach dem Erhalt in bestimmter Weise zu verwenden. Eine solche Verpflichtung ist entgegen der Ansicht der Revision mangels Anspruchsübergangs nicht mit einer Generalabtretung zu vergleichen und mangels Einziehungsberechtigung auch keiner, nach § 1274 Abs. 2 BGB ebenfalls ausgeschlossenen, Pfändung gleichzusetzen.BornB. GrünebergV. Sandervon SelleAdams
bundesgerichtshof
bgh_101-2019
31.07.2019
Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart gegen Betreiber der Internetplattform "Altermedia Deutschland" durch Bundesgerichtshof weitgehend bestätigt Ausgabejahr 2019 Erscheinungsdatum 31.07.2019 Nr. 101/2019 Beschlüsse vom 5. Juni 2019 – 3 StR 337/18 Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart weitgehend verworfen, durch das ein Angeklagter wegen Rädelsführerschaft in einer kriminellen Vereinigung und Volksverhetzung, die übrigen jeweils wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung und Volksverhetzung bzw. Beihilfe hierzu zu einer Vollzugs- bzw. Bewährungsstrafen verurteilt worden sind. Nach den Feststellungen des Oberlandesgerichts waren die Angeklagten Rädelsführer bzw. Mitglieder einer kriminellen Vereinigung, die spätestens seit Juni 2012 die Internetplattform "Altermedia Deutschland" betrieb. Ziel der Angeklagten war es, dem sogenannten "Nationalen Widerstand" dauerhaft eine Internetseite zur Verfügung zu stellen, auf der Äußerungen, die dieser Grundhaltung entsprachen, ohne Einschränkung kundgetan werden durften, unabhängig davon, ob diese strafrechtlich relevante Inhalte hatten. Die Angeklagten nahmen dabei insbesondere billigend in Kauf, dass in die Plattform auch Beiträge zur Leugnung des Holocaust und zur Verunglimpfung von Juden, Muslimen, Ausländern und Flüchtlingen eingestellt wurden, die den Straftatbestand der Volksverhetzung erfüllen. Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat die auf die jeweils erhobene Rüge der Verletzung materiellen Rechts sowie auf eine Verfahrensbeanstandung gestützten Revisionen der Angeklagten weitgehend verworfen. Lediglich die Verurteilung einer Angeklagten wegen des Vorwurfs der Beihilfe zur Volksverhetzung hielt rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Insoweit wurde das Verfahren wegen eines nicht behebbaren Verfahrenshindernisses eingestellt. Soweit die Angeklagte darüber hinaus wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung verurteilt wurde, hat das Urteil – wie auch betreffend die übrigen Angeklagten – Bestand und ist rechtskräftig. Vorinstanz: OLG Stuttgart – 5 – 2 StE 21/16 – Urteil vom 8. Februar 2018 Karlsruhe, den 31. Juli 2019 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Beschluss des 3. Strafsenats vom 5.6.2019 - 3 StR 337/18 -
Tenor 1. Auf die Revision der Angeklagten gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 8. Februar 2018 wird a) das Verfahren eingestellt, soweit die Angeklagte im Fall II. B. 20 der Urteilsgründe wegen Beihilfe zur Volksverhetzung verurteilt worden ist; im Umfang der Einstellung fallen die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen der Angeklagten der Staatskasse zur Last; b) das vorbezeichnete Urteil dahin geändert, dass die Angeklagte wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt wird, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird.2. Die weitergehende Revision wird verworfen. Gründe Das Oberlandesgericht hat die Angeklagte wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung und Beihilfe zur Volksverhetzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Das auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Rechtsmittel der Angeklagten hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.1. Soweit das Oberlandesgericht die Angeklagte im Fall II. B. 20 der Urteilsgründe wegen Beihilfe zur Volksverhetzung verurteilt hat, fehlt es an den Verfahrensvoraussetzungen einer Anklageerhebung und eines Eröffnungsbeschlusses, sodass das Verfahren gemäß § 354 Abs. 1, § 206a Abs. 1 StPO einzustellen ist.a) Mit der unverändert zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklageschrift vom 20. Dezember 2016 war der Angeklagten zur Last gelegt worden, seit dem 14. Januar 2014 Teil einer Personenvereinigung gewesen zu sein, deren Zweck darauf gerichtet gewesen sei, die Internetplattform "A. " zu betreiben. Diese Internetseite sei nach dem Willen ihrer Betreiber darauf angelegt gewesen, unter Ausnutzung ihrer Reichweite und Themenvielfalt mittels aggressiver nationalsozialistischer Propaganda eine ideologisch geprägte Berichterstattung zu tagesaktuellen Ereignissen im Sinne einer rechtsextremistischen "Gegenöffentlichkeit" zu schaffen. Wesentlicher Bestandteil der auf diese Weise betriebenen Verbreitung einer verfassungs- und fremdenfeindlich, antisemitisch und nationalsozialistisch geprägten Weltanschauung sei die uneingeschränkte Veröffentlichung nach § 130 StGB strafbewehrter Artikel, Nutzeräußerungen und sonstiger Inhalte gewesen. Durch die Ausübung der ihr am 14. Januar 2014 von dem Mitangeklagten K. in Übereinstimmung mit der Mitangeklagten V. verliehenen Moderatorenrechte habe die Angeklagte wesentlich zur Aufrechterhaltung der Internetplattform "A. "beigetragen und so gemeinschaftlich handelnd mit den Mitangeklagten V. , K. , P. und T. die Veröffentlichung einer Vielzahl strafrechtlich relevanter Beiträge ermöglicht. In der Anklageschrift wird dieser Sachverhalt rechtlich als zwei tatmehrheitliche Fälle der mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung, in einem Fall in Tateinheit mit gemeinschaftlich begangener Volksverhetzung (§ 129 Abs. 1, § 130 StGB aF, § 130 StGB, § 25 Abs. 2, §§ 52, 53 StGB) gewürdigt.b) Nach den Feststellungen des Oberlandesgerichts (Fall II. B. 20 der Urteilsgründe) überwies die zu diesem Zeitpunkt lediglich als Nutzerin der Plattform registrierte Angeklagte am 28. Mai 2013 auf Bitte des Mitangeklagten K. insgesamt 40 € an den Betreiber des für den Betrieb der Internetplattform genutzten Servers, um eine drohende Abschaltung desselben zu vermeiden. Dabei war der Angeklagten die Zwecksetzung von "A. " wie auch der Umstand bekannt, dass dort auch strafrechtlich relevante Inhalte veröffentlicht werden. Das Oberlandesgericht hat diesen Sachverhalt als Beihilfe (§ 27 StGB) zu dem uneigentlichen Organisationsdelikt der Mitangeklagten V. und K. gewertet, deren Verantwortlichkeit für die durch die Nutzer der Platt- form eingestellten strafrechtlich relevanten Beiträge sich aus der Zurverfügungstellung und Aufrechterhaltung der Internetplattform ergebe. Entgegen der rechtlichen Bewertung der Anklageschrift hat der Strafsenat indes in den Moderatorenhandlungen der Angeklagten keine wesentlichen, auf die Aufrechterhaltung der Plattform und damit der Verbreitung strafrechtlich relevanter Beiträge gerichteten Beteiligungshandlungen gesehen. Das Oberlandesgericht hat diesen Sachverhalt vielmehr ausschließlich als mitgliedschaftliche Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung gewürdigt.c) Die auf die Überweisung von Serverkosten gestützte Verurteilung der Angeklagten wegen Beihilfe zur Volksverhetzung hat keinen Bestand; das Verfahren ist insoweit einzustellen. Dieser Sachverhalt ist von der Anklageschrift nicht umfasst.Zwar muss das Tatgericht seine Untersuchung auch auf Teile der Tat erstrecken, die erst in der Hauptverhandlung bekannt werden. Die angeklagte Tat im verfahrensrechtlichen Sinne ist erschöpfend abzuurteilen. Das Tatgericht ist dabei an die rechtliche Beurteilung, wie sie der Anklage und dem Eröffnungsbeschluss zugrunde liegt, nicht gebunden. Der verfahrensrechtliche Tatbegriff umfasst den von der zugelassenen Anklage betroffenen geschichtlichen Sachverhalt, innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll; zu dieser Tat gehört deshalb das gesamte Verhalten, soweit es mit dem durch die Anklage bezeichneten geschichtlichen Vorkommnis nach der Auffassung des Lebens einen einheitlichen Vorgang darstellt (BGH, Beschluss vom 10. November 2011 - 3 StR 314/11, juris Rn. 7 mwN).An diesen Maßstäben gemessen sind die Überweisungen vom 28. Mai 2013 jedoch nicht Gegenstand der Anklage. Das Geschehen liegt zeitlich deutlich vor der Verleihung der Moderatorenrechte an die Angeklagte. Es findet in der Anklageschrift, die der Angeklagten ausschließlich Handlungen im Zusammenhang mit "A. " nach dem 14. Januar 2014 zur Last legt, keine Erwähnung.Die Überweisung der Serverkosten und die von der Anklage umfasste Ausübung der Moderatorenrechte stellen damit unterschiedliche prozessuale Taten nach § 264 StPO dar, weshalb auch der gerichtliche Hinweis vom 28. September 2017 auf eine mögliche Verurteilung wegen Beihilfe zur Volksverhetzung durch Überweisung der Serverkosten und die pauschale Wiedereinbeziehung von in der Anklage nach § 154a StPO ausgeschiedenen Tatteilen die fehlende Anklageerhebung nicht ersetzen konnten (vgl. BGH, Urteil vom 11. Juli 1985 - 4 StR 274/85, NStZ 1985, 515).Das Fehlen des Eröffnungsbeschlusses stellt ein in der Revisionsinstanz nicht mehr behebbares Verfahrenshindernis dar, das die Einstellung des gerichtlichen Verfahrens hinsichtlich der Beihilfe zur Volksverhetzung auf Kosten der Staatskasse (§ 467 Abs. 1 StPO) zur Folge hat (vgl. BGH, Beschluss vom 29. September 2011 - 3 StR 280/11, juris Rn. 9 mwN).Die Einstellung des Verfahrens im Fall II. B. 20 der Urteilsgründe führt zur Änderung des Schuldspruchs und zum Wegfall der insoweit verhängten Einzelstrafe. Entgegen der Ansicht des Generalbundesanwalts ist die Einzelstrafe, die für den einzustellenden Verfahrensteil ausgeurteilt worden ist, hier nicht mit Blick auf eine abweichende rechtliche Bewertung des anhängig bleibenden, eine andere Tat im materiellen und prozessualen Sinne darstellenden Sachverhaltes aufrechtzuerhalten.2. Im Übrigen hat die Nachprüfung des angefochtenen Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO). Offen bleiben kann dabei, ob die durch das Oberlandesgericht festgestellte Moderatorentätigkeit (Urteilsgründe S. 73, 74) rechtlich auch als Beihilfe zur Volksverhetzung zu werten ist, denn insoweit ist die Angeklagte jedenfalls nicht beschwert.Schäfer Richterin am Bundesgerichtshof Wimmer Dr. Spaniol befindet sich im Urlaub und ist deshalb gehindert zu unterschreiben.Schäfer Berg Hoch
bundesgerichtshof
bgh_117-2023
20.07.2023
Hawala-Banking-Organisation: Verurteilungen wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung in zwei Verfahren bestätigt Ausgabejahr 2023 Erscheinungsdatum 20.07.2023 Nr. 117/2023 Beschlüsse vom 1. Juni 2023 - 3 StR 414/22 und vom 28. Juni 2023 - 3 StR 108/23 Das Landgericht Köln hat in einem ersten Verfahren mit Urteil vom 23. Mai 2022 drei Angeklagte des vorsätzlichen unerlaubten Erbringens von Zahlungsdiensten in Tateinheit mit mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung sowie teilweise zudem der Unterschlagung schuldig gesprochen. Es hat gegen sie Gesamtfreiheitsstrafen von drei Jahren sowie zwei Jahren und acht Monaten sowie eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten verhängt; außerdem hat es Einziehungsentscheidungen getroffen. In einem weiteren Verfahren hat das Landgericht Köln einen Angeklagten mit Urteil vom 6. Dezember 2022 wegen vorsätzlichen unerlaubten Erbringens von Zahlungsdiensten in Tateinheit mit mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung sowie Geldwäsche zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt und Einziehungsanordnungen getroffen. Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat die hiergegen gerichteten Revisionen der Angeklagten im Wesentlichen verworfen; lediglich in dem ersten Verfahren hat er bezüglich einer Angeklagten die Einziehungsentscheidung korrigiert. Nach den vom Landgericht in beiden Verfahren getroffenen Feststellungen schlossen sich die Angeklagten sowie zwei nicht revidierende Mitangeklagte zu unterschiedlichen Zeitpunkten ab dem Jahr 2016 mit weiteren Personen zu einer konspirativ vorgehenden und arbeitsteilig organisierten Gruppierung unter der Führung eines gesondert Verfolgten zusammen. Die Organisation war darauf ausgerichtet, unter Gewährung absoluter Anonymität außerhalb des staatlich beaufsichtigten Finanzsektors provisionspflichtige Finanzdienstleistungen in Form von Geldtransfers nach Art des sog. Hawala-Bankings durchzuführen. Sie transferierte im Tatzeitraum von Februar 2018 bis zum 19. November 2019 Vermögenswerte im Gesamtwert von über 356 Millionen Euro von Deutschland in die Türkei. Das zweite Verfahren betraf den Tatzeitraum von April 2018 bis 29. Januar 2019. Die Angeklagten haben mit ihren Revisionen in beiden Verfahren die Verletzung materiellen Rechts gerügt. Die Rechtsmittel hatten - mit Ausnahme einer Einziehungsentscheidung, die der Senat korrigiert hat - keinen Erfolg, da die durch sie veranlasste Überprüfung des Urteils keinen sonstigen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben hat. Der Senat hat damit erneut die rechtliche Qualifizierung einer ein Hawala-Banking-System betreibenden Organisation als kriminelle Vereinigung im Sinne von § 129 Abs. 2 StGB - wie bereits in seinen Entscheidungen vom 2. Juni 2021 (3 StR 61/21) und vom 28. Juni 2022 (3 StR 403/20) - bestätigt. Die Urteile des Landgerichts sind nunmehr rechtskräftig. Vorinstanz: LG Köln - Urteil vom 23. Mai 2022 - 109 KLs 5/21 - 115 Js 295/21 - 115 Js 500/21 sowie LG Köln - Urteil vom 6. Dezember 2022 - 109 KLs 7/22 - 115 Js 897/18 Die maßgebliche Vorschrift lautet: § 129 Abs. 1, Abs. 2 und Abs. 3 StGB lauten: (1) 1Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer eine Vereinigung gründet oder sich an einer Vereinigung als Mitglied beteiligt, deren Zweck oder Tätigkeit auf die Begehung von Straftaten gerichtet ist, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren bedroht sind. 2Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer eine solche Vereinigung unterstützt oder für sie um Mitglieder oder Unterstützer wirbt. (2) Eine Vereinigung ist ein auf längere Dauer angelegter, von einer Festlegung von Rollen der Mitglieder, der Kontinuität der Mitgliedschaft und der Ausprägung der Struktur unabhängiger organisierter Zusammenschluss von mehr als zwei Personen zur Verfolgung eines übergeordneten gemeinsamen Interesses. (3) Absatz 1 ist nicht anzuwenden, 1. wenn die Vereinigung eine politische Partei ist, die das Bundesverfassungsgericht nicht für verfassungswidrig erklärt hat, 2. wenn die Begehung von Straftaten nur ein Zweck oder eine Tätigkeit von untergeordneter Bedeutung ist oder 3. soweit die Zwecke oder die Tätigkeit der Vereinigung Straftaten nach den §§ 84 bis 87 betreffen. Karlsruhe, den 20. Juli 2023 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Beschluss des 3. Strafsenats vom 1.6.2023 - 3 StR 414/22 -
Tenor 1. Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Köln vom 23. Mai 2022 im Ausspruch über die Einziehung des Wertes von Taterträgen dahin ergänzt, dass die Angeklagte in Höhe von 1.340.000 € als Gesamtschuldnerin haftet.2. Die weitergehende Revision wird verworfen.3. Die Beschwerdeführerin hat die Kosten ihres Rechtsmittels zu tragen. Gründe Das Landgericht hat die Angeklagte wegen vorsätzlichen unerlaubten Erbringens von Zahlungsdiensten in Tateinheit mit mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung und wegen Unterschlagung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten verurteilt und die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 1.384.000 €, davon in Höhe von 750.000 € als Gesamtschuldnerin, angeordnet. Die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision der Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen geringen Teilerfolg (§ 349 Abs. 4 StPO). Im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.I. Die Einziehungsanordnung bedarf hinsichtlich der gesamtschuldnerischen Haftung der Korrektur, weist im Übrigen aber keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten auf.Der Generalbundesanwalt hat in seiner Antragsschrift Folgendes ausgeführt:"1. Die Angeklagte hat , durch‘ die Unterschlagung im Fall B.lll. der Urteilsgründe Geld und Edelmetall im Umfang von 1.340.000 Euro erlangt. Dieser Betrag ergibt sich aus einer zugunsten der Beteiligten vorgenommenen Berechnung (UA S. 141); dass der vom Mitangeklagten C.   tatsächlich erhaltene Anteil - ausgehend von dessen dezidierter Angabe - etwas über dem rechnerischen Teilungsverhältnis liegt, ist nicht zu beanstanden. Danach wurde zu Recht die Einziehung des Wertes dieser Taterträge angeordnet (§§ 73, 73c StGB).a) Dabei belegt oder begründet alleine eine mittäterschaftliche Tatbeteiligung für sich betrachtet keine tatsächliche Verfügungsgewalt im Sinne von § 73 StGB. Einem Tatbeteiligten kann die Gesamtheit des aus der Tat Erlangten mit der Folge einer gesamtschuldnerischen Haftung nur dann zugerechnet werden, wenn sich die Beteiligten einig sind, dass jedem die Mitverfügungsgewalt hierüber zukommen soll, und er diese auch tatsächlich hatte. Dabei genügt es, dass der Tatbeteiligte zumindest faktische oder wirtschaftliche Mitverfügungsgewalt über den Vermögensgegenstand erlangte. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn er im Sinne eines rein tatsächlichen Herrschaftsverhältnisses ungehinderten Zugriff darauf nehmen konnte (BGH, Beschluss vom 6. Juli 2021 - 2 StR 3/20, juris Rn. 3). Dies kann selbst dann zu bejahen sein, wenn die unmittelbare Tatausführung und Inbesitznahme der Beute nur einem Tatbeteiligten obliegt, sich jedoch alle Tatbeteiligten schon zu Beginn der Taten darüber einig sind, dass jedem der Mittäter die Mitverfügungsgewalt über die Beute zukommen soll. Eine faktische oder wirtschaftliche Mitverfügungsmacht über den Vermögensgegenstand bei mehreren Beteiligten kann nämlich - jedenfalls bei dem vor Ort anwesenden, die Beute oder Teile davon in den Händen haltenden Mittäter - auch dann vorliegen, wenn sich diese in einer Abrede über die Beuteteilung widerspiegelt. Denn damit , verfügt‘ der Mittäter zu seinen oder der anderen Beteiligten Gunsten über die Beute, indem er in Absprache mit diesen Teile des gemeinsam Erlangten sich selbst oder den anderen zuordnet (BGH, Urteil vom 20. November 2019 - 2 StR 54/19, juris Rn. 11).Gegenstände die als Mittel für die Tatausführung oder gelegentlich der Tatausführung kurzfristig in Besitz genommen werden (sog. transitorischer Besitz) gelten indes noch nicht als im Sinne des § 73 Abs. 1 StGB erlangt, weil es insoweit an einem rechtserheblichen Vermögenszufluss fehlt. Auch aus der Überlassung von Tatbeute zum Transport und einer zeitlich nicht näher eingegrenzten Aufbewahrung folgt noch nicht ohne weiteres, dass der Täter deshalb auch schon faktische Mitverfügungsgewalt hat (vgl. BGH, Urteil vom 13. September 2018 - 4 StR 174/18, juris Rn. 22).b) Gemessen daran kann vorliegend dahingestellt bleiben, ob die Anordnung allein davon getragen wird, dass die Angeklagte , über ihren Sohn D.    tatsächliche Verfügungsgewalt über die gesamte Tatbeute in Höhe von 1.340.000,00 EUR‘ hatte (UA S. 178). Insoweit ist fraglich, ob im Hinblick auf die zu diesem Zeitpunkt womöglich bereits eingetretene materielle Beendigung der Tat (vgl. zur Frage der materiellen Beendigung bei § 246 StGB Lotz/Reschke, JR 2013, 59 ff.) die Erlangung noch ,in irgendeiner Phase des Tatablaufs‘ (s. BGH, Urteil vom 15. Juli 2020 - 2 StR 46/20, juris Rn. 14) erfolgt ist (vgl. BGH, Beschluss vom 27. März 2019 - 2 StR 561/18, juris Rn. 11; aber auch Beschluss vom 12. Januar 2021 - 3 StR 428/20, juris Rn. 1 f.; Köhler/Burkhard, NStZ 2017, 665, 669 sowie Schönke/Schröder/Eser/Schuster, StGB, 30. Aufl. 2019, § 73 Rn. 11, wonach eine derartige Beschränkung in zeitlicher Hinsicht zu eng erscheint). Indes wurde bereits während der Tatbegehung der Angeklagten Mitverfügungsgewalt vermittelt, indem der Mitangeklagte De.   die Gegenstände aufgrund des zuvor gefassten gemeinsamen Tatplanes (UA S. 46) in Empfang genommen hat (UA S. 46 f.). Danach kommt es nicht mehr darauf an, ob der gesondert verfolgte         S.        im Zuge der anschließenden Verbringung mehr als lediglich , transitorischen Besitz‘ hatte.c) Nach alledem bedarf der Ausspruch der Ergänzung dahin, dass die Angeklagte im Umfang von 1.340.000,00 Euro als Gesamtschuldnerin haftet, wobei die individuelle Benennung weiterer Gesamtschuldner nicht erforderlich ist (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Juli 2022 - 3 StR 141/22, Rn. 11). Dem steht nicht entgegen, dass beim Mitangeklagten De.   keine entsprechende Einziehungsanordnung ergangen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 29. Juni 2021 - 3 StR 126/21, juris Rn. 4). Ohnehin soll der Innenausgleich den Betroffenen überlassen werden (vgl. SSW-StGB/Heine, 5. Aufl. 2021, § 73 Rn. 57), zumal die gegen die Angeklagte ergangene Anordnung nicht auf deren ‚Anteil‘ beschränkt wurde (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 6. November 2018 - 5 StR 223/18, juris). Überdies erscheint nicht ausgeschlossen, dass in gesonderten Strafverfahren Mitverfügungsgewalt des Ehemannes der Angeklagten - oder deren Sohnes - festgestellt wird (vgl. auch BGH, Beschluss vom 26. Juli 2022 - 3 StR 141/22, juris Rn. 11; Beschluss vom 18. Juli 2018 - 2 StR 245/18, juris Rn. 10). Um eine doppelte Inanspruchnahme zu vermeiden, ist daher die gesamtschuldnerische Haftung in der Entscheidungsformel zu kennzeichnen (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Januar 2021 - 3 StR 428/20, juris Rn. 2).2. Bei dem rechtsfehlerfrei errechneten Tatlohn in Höhe von 44.000,00 Euro (UA S. 31) handelt es sich um ‚für‘ die Tat Erlangtes im Sinne des § 73 Abs. 1 StGB. Eine gesamtschuldnerische Haftung war insoweit nicht anzuordnen (vgl. SSW-StGB/Heine, 5. Aufl. 2021, § 73 Rn. 57)."Dem schließt sich der Senat an.II. Im Übrigen hat die auf die Sachrüge veranlasste Nachprüfung des Urteils keinen der Angeklagten nachteiligen Rechtsfehler ergeben.III. Angesichts des nur geringen Teilerfolgs der Revision ist es nicht unbillig, die Angeklagte mit den gesamten durch ihr Rechtsmittel entstandenen Kosten und Auslagen zu belasten (§ 473 Abs. 1 und 4 StPO).SchäferPaulHohoffAnstötzVoigt
bundesgerichtshof
bgh_082-2023
17.05.2023
Urteil zum Tod einer in der Weser versenkten 19-jährigen Frau weitgehend rechtskräftig Ausgabejahr 2023 Erscheinungsdatum 17.05.2023 Nr. 082/2023 Urteil vom 17. Mai 2023 – 6 StR 275/22 Das Landgericht Verden hat den Angeklagten Ko. wegen schwerer Zwangsprostitution, Vergewaltigung, versuchter Vergewaltigung, versuchter sexueller Nötigung und gefährlicher Körperverletzung durch Unterlassen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt. Die Mitangeklagten Kr. und H. hat es jeweils wegen gefährlicher Körperverletzung durch Unterlassen sowie Beihilfe zu den genannten Sexualstraftaten, die Angeklagte H. darüber hinaus wegen eines Betäubungsmitteldelikts verurteilt und gegen sie Gesamtfreiheitsstrafen von drei Jahren und neun Monaten bzw. von zwei Jahren und neun Monaten ausgesprochen. Vom Anklagevorwurf eines gemeinschaftlich begangenen Mordes hat es die Angeklagten freigesprochen. Nach den Urteilsfeststellungen "übernahm" der Angeklagte Ko. Anfang April 2020 von einem Zuhälter gegen Zahlung von 2.000 Euro und den Erlass von Drogenschulden eine psychisch schwer erkrankte 19-jährige Frau, um ihre Prostitution zu intensivieren und dadurch erhebliche Einkünfte für sich zu erwirtschaften. Die hiervon unterrichteten Mitangeklagten Kr. und H., seine Lebensgefährtin, erklärten sich ohne finanzielle Beteiligung bereit, das Vorhaben zu unterstützen. Obgleich sich die Geschädigte zu keinem Zeitpunkt mit der Erbringung sexueller Dienstleistungen einverstanden erklärt hatte, bot Ko. diese auf einer Internetplattform an. H. unterstützte ihn bei den Verhandlungen mit Interessenten, Kr. nahm die Geschädigte zeitweise in seine Wohnung auf und begleitete sie zusammen mit Ko. zu vereinbarten Treffpunkten. Es kam zu mindestens drei Treffen mit Freiern, wobei in einem Fall nicht aufgeklärt werden konnte, ob es zu sexuellen Dienstleistungen kam, und in einem weiteren Fall der Freier die Geschädigte wegen ihres auffälligen Verhaltens alsbald zurückbrachte. Spätestens seit dem Abend des 7. April 2020 befand sich die inzwischen schwer psychotische Geschädigte zunächst im Wohnhaus von Ko. und H. und dann bis zu ihrem Tod in der dortigen Garage. In der Hoffnung, die "Einnahmequelle" für Ko. erhalten zu können, entschieden die Angeklagten gemeinsam, die dringend erforderliche fachärztliche Hilfe nicht zu holen, sondern sich selbst um die Geschädigte zu kümmern. Dabei nahmen sie eine Verlängerung ihres Leidens in Kauf. H. überließ der Geschädigten zur Beruhigung einen "Joint". Später reichte sie ihr ein Wasserglas mit einer darin aufgelösten, unbekannt gebliebenen Menge Salz. Bei jedenfalls einer Gelegenheit wurde die Geschädigte gewürgt und ihr der Mund zugehalten. Sie verstarb schließlich in der Nacht auf den 9. April 2020, wobei todesursächlich entweder ein Würgen oder die Einwirkung einer zu großen Menge Salz auf den Organismus war. Wer den Tod verursacht hatte, vermochte das Landgericht nicht festzustellen. Um die Leiche zu beseitigen, fesselte jedenfalls Ko. diese an eine Waschbetonplatte und warf sie von einer Brücke in einen Schleusenkanal der Weser. Die auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft, der Angeklagten und des Nebenklägers erfolgte rechtliche Überprüfung durch den 6. Strafsenat hat hinsichtlich der ergangenen Schuldsprüche nur Änderungen bezüglich der konkurrenzrechtlichen Bewertung ergeben, was teilweise zur Aufhebung der Strafaussprüche geführt hat. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft hat der Senat die Sache insoweit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen. Im Übrigen hat er die Revisionen verworfen. Das Urteil des Landgerichts Verden ist damit weitgehend rechtskräftig, insbesondere hinsichtlich des Freispruchs vom Vorwurf des Mordes. Vorinstanz: Landgericht Verden - Urteil vom 21. Oktober 2021 – 1 Ks 147 Js 20912/20 (113/20) Die maßgeblichen rechtlichen Vorschriften des StGB lauten: § 13 Begehen durch Unterlassen Wer es unterläßt, einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört, ist nach diesem Gesetz nur dann strafbar, wenn er rechtlich dafür einzustehen hat, daß der Erfolg nicht eintritt, und wenn das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun entspricht. […] § 177 Sexueller Übergriff; sexuelle Nötigung; Vergewaltigung Wer gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person sexuelle Handlungen an dieser Person vornimmt oder von ihr vornehmen lässt oder diese Person zur Vornahme oder Duldung sexueller Handlungen an oder von einem Dritten bestimmt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. Ebenso wird bestraft, wer sexuelle Handlungen an einer anderen Person vornimmt oder von ihr vornehmen lässt oder diese Person zur Vornahme oder Duldung sexueller Handlungen an oder von einem Dritten bestimmt, wenn […] 2. der Täter ausnutzt, dass die Person auf Grund ihres körperlichen oder psychischen Zustands in der Bildung oder Äußerung des Willens erheblich eingeschränkt ist, es sei denn, er hat sich der Zustimmung dieser Person versichert, […] Der Versuch ist strafbar. […] Auf Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr ist zu erkennen, wenn der Täter […] 3. eine Lage ausnutzt, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist. In besonders schweren Fällen ist auf Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren zu erkennen. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn 1. der Täter mit dem Opfer den Beischlaf vollzieht oder vollziehen lässt oder ähnliche sexuelle Handlungen an dem Opfer vornimmt oder von ihm vornehmen lässt, die dieses besonders erniedrigen, insbesondere wenn sie mit einem Eindringen in den Körper verbunden sind (Vergewaltigung), oder […] § 211 Mord Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft. Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet. § 224 Gefährliche Körperverletzung Wer die Körperverletzung […] 4. mit einem anderen Beteiligten gemeinschaftlich oder […] begeht, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren, in minder schweren Fällen mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. […] § 232 StGB (Menschenhandel) […] In den Fällen des Absatzes 1 ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren zu erkennen, wenn […] 3. der Täter gewerbsmäßig handelt oder als Mitglied einer Bande, die sich zur fortgesetzten Begehung solcher Taten verbunden hat. […] § 232a Zwangsprostitution Mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren wird bestraft, wer eine andere Person unter Ausnutzung ihrer persönlichen oder wirtschaftlichen Zwangslage oder ihrer Hilflosigkeit, die mit dem Aufenthalt in einem fremden Land verbunden ist, oder wer eine andere Person unter einundzwanzig Jahren veranlasst, 1. die Prostitution aufzunehmen oder fortzusetzen oder […] In den Fällen des Absatzes 1 ist auf Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren und in den Fällen des Absatzes 3 auf Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr zu erkennen, wenn einer der in § 232 Absatz 3 Satz 1 Nummer 1 bis 3 bezeichneten Umstände vorliegt. […] Karlsruhe, den 17. Mai 2023 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Urteil des 6. Strafsenats vom 17.5.2023 - 6 StR 275/22 -
Der Qualifikationstatbestand des § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB kann auch durch Unterlassen verwirklicht werden. Die hierfür erforderliche höhere Gefährlichkeit ist regelmäßig gegeben, wenn sich die zur Hilfeleistung verpflichteten Garanten ausdrücklich oder konkludent zu einem Nichtstun verabreden und mindestens zwei von ihnen zumindest zeitweilig am Tatort anwesend sind. Tenor 1. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Verden vom 21. Oktober 2021 dahin geändert, dass schuldig ista) der Angeklagte K.         der schweren Zwangsprostitution in Tateinheit mit Vergewaltigung, der versuchten Vergewaltigung, der versuchten sexuellen Nötigung und der gefährlichen Körperverletzung durch Unterlassen;b) der Angeklagte Kr.   der Beihilfe zur schweren Zwangsprostitution in Tateinheit mit Beihilfe zur Vergewaltigung und zur versuchten sexuellen Nötigung, der Beihilfe zur versuchten Vergewaltigung sowie der gefährlichen Körperverletzung durch Unterlassen;c) die Angeklagte H.      der Beihilfe zur schweren Zwangsprostitution in Tateinheit mit Beihilfe zur Vergewaltigung und zur versuchten sexuellen Nötigung, der Beihilfe zur versuchten Vergewaltigung, des Überlassens von Betäubungsmitteln zum unmittelbaren Verbrauch sowie der gefährlichen Körperverletzung durch Unterlassen.2. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft wird das vorgenannte Urteil aufgehoben hinsichtlicha) des Angeklagten K.        in den Aussprüchen über die Strafen für die schwere Zwangsprostitution und die Vergewaltigung sowie die Gesamtstrafe;b) der Angeklagten Kr.   und H.     jeweils im Strafausspruch, mit Ausnahme der Strafen für das Überlassen von Betäubungsmitteln zum unmittelbaren Verbrauch und die gefährliche Körperverletzung durch Unterlassen.Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft, an eine allgemeine Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.3. Auf die Revisionena) des Angeklagten K.         wird die Strafe für die Vergewaltigung,b) der Angeklagten Kr.    und H.     werden die Strafen für die Beihilfe zur Vergewaltigung und für die Beihilfe zur versuchten sexuellen Nötigungaufgehoben.4. Die weitergehenden Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Angeklagten sowie die Revisionen des Nebenklägers werden verworfen.5. Die Angeklagten und der Nebenkläger haben die Kosten ihres jeweiligen Rechtsmittels zu tragen. Eine Auslagenerstattung findet nicht statt.- Von Rechts wegen - Gründe Das Landgericht hat den Angeklagten K.         wegen schwerer Zwangsprostitution, Vergewaltigung, versuchter Vergewaltigung, versuchter sexueller Nötigung und gefährlicher Körperverletzung durch Unterlassen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt. Die Angeklagten Kr.    und H.     hat es jeweils wegen Beihilfe zur Zwangsprostitution, Beihilfe zur Vergewaltigung, Beihilfe zur versuchten Vergewaltigung, Beihilfe zur versuchten sexuellen Nötigung und gefährlicher Körperverletzung durch Unterlassen, die Angeklagte H.      darüber hinaus wegen unerlaubter Abgabe von Betäubungsmitteln schuldig gesprochen. Gegen den Angeklagten Kr.    hat es eine Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten, gegen die Angeklagte H.    eine solche von zwei Jahren und neun Monaten verhängt. Vom Vorwurf eines gemeinschaftlich begangenen Mordes hat es die Angeklagten freigesprochen, die Angeklagten K.          und Kr.    zudem vom Vorwurf eines weiteren gemeinschaftlich begangenen sexuellen Übergriffs.Die hiergegen gerichteten, auf die Rügen der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten, vom Generalbundesanwalt nur teilweise vertretenen Revisionen der Staatsanwaltschaft haben ebenso wie die auf die Sachrüge gestützten Revisionen der Angeklagten den aus der Urteilsformel ersichtlichen Erfolg. Ihre weitergehenden Rechtsmittel sowie die Revisionen des Nebenklägers sind unbegründet.I.1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:Die zur Tatzeit 19-jährige, an einer paranoiden Schizophrenie erkrankte und unter Betreuung stehende Geschädigte ging der Prostitution nach. Ihr Zuhälter war ab 2020 der gesondert verfolgte D.      .a) Ende März 2020 nahmen der Angeklagte K.          und ein unbekannt gebliebener Dritter entgeltlich sexuelle Dienstleistungen der Geschädigten in Anspruch (Tat 1).b) Kurze Zeit später informierte D.      K.          über das Alter und den aktuell psychotischen Zustand der Geschädigten und erklärte, dass er sie wegen dieser Probleme an einen anderen Zuhälter "veräußern" wolle. K.         zeigte Interesse und übernahm die Geschädigte zunächst "probehalber" für das Wochenende vom 4. bis 5. April 2020. Er beabsichtigte, die Geschädigte "anzukaufen" und durch eine intensivierte Prostitutionsausübung regelmäßig nicht unerhebliche Einkünfte für sich zu erwirtschaften. Von diesem Vorhaben sowie dem Gesundheitszustand und dem Alter der Geschädigten unterrichtete er den Angeklagten Kr.   und seine Lebensgefährtin, die Angeklagte H.     , die sich beide zur Unterstützung des Vorhabens bereiterklärten, ohne dass ihnen hierfür ein finanzieller Vorteil gewährt oder versprochen wurde.Obgleich sich die Geschädigte zu keinem Zeitpunkt ausdrücklich oder konkludent damit einverstanden erklärte, sexuelle Handlungen an anderen Personen vorzunehmen oder an sich zu dulden, mietete K.          ein Hotelzimmer und bot ihre Dienste auf einer Internetplattform an. Krankheitsbedingt reagierte die Geschädigte nicht auf Ansprachen und verhielt sich häufig nicht situationsadäquat, lachte und weinte scheinbar grundlos. Die Verhandlungen mit interessierten Freiern führten daher K.          und - jedenfalls am Abend des 4. Aprils 2020 - H.     . Der in der Wohnung des Kr.   wartenden Geschädigten teilte K.         mit, dass sie sich mit dem Zeugen Ka.    in dessen Auto treffen und Oralverkehr bei diesem durchführen solle. Sodann begleiteten beide Angeklagten sie zum vereinbarten Treffpunkt und nahmen sie nach erbrachter Dienstleistung wieder in Empfang (Taten 2 und 3).c) Bis zum Abend des 5. April 2020 kam es zu einem weiteren Treffen mit einem unbekannt gebliebenen Freier in dem Hotel. Auch insoweit hatte K.           die Geschädigte unmittelbar zuvor zur Erbringung im Einzelnen unbekannt gebliebener sexueller Dienstleistungen für den Interessenten aufgefordert. Ob es zu solchen tatsächlich kam, konnte das Landgericht nicht feststellen (Tat 4).d) Trotz der desolaten psychischen Verfassung der Geschädigten einigten sich K.         und D.       auf eine "endgültige Übernahme" gegen eine Zahlung von 2.000 Euro und den Erlass von Verbindlichkeiten in Höhe von 900 Euro. Hierüber setzte K.         die Mitangeklagten in Kenntnis und ließ sich von Kr.   bei der Übergabe der Geschädigten in der Nacht auf den 6. April 2020 begleiten.Jedenfalls am Abend des 6. April 2020 hielten sich die Geschädigte und alle Angeklagten in Kr.   s Wohnung auf. Dort führte K.           mit Unterstützung von H.     , die sich in einem Telefonat als die Geschädigte ausgab, Verhandlungen mit dem Zeugen B.     . Er informierte die Geschädigte über die Vereinbarung, dass sie ungeschützten Geschlechtsverkehr mit diesem auszuüben habe. Weisungsgemäß wartete sie auf den Freier und stieg in sein Auto. B.      , der alsbald bemerkte, dass der verwirrt wirkenden Geschädigten ein situationsadäquates Verhalten nicht möglich war, fuhr diese ohne die Inanspruchnahme sexueller Dienstleistungen zurück (Tat 5).e) Spätestens seit dem Abend des 7. April 2020 befand sich die Geschädigte erneut im Haus von K.          und H.     . Zu ihrer Beruhigung überließ ihr H.     , die auf sie "aufpassen" sollte, einen "Joint" (Tat 6).f) Nachdem es zu einer körperlichen Auseinandersetzung zwischen beiden gekommen war, rief die Angeklagte am frühen Morgen des 8. April 2020 ihren Lebensgefährten zu Hilfe. Gemeinsam verbrachten sie die Geschädigte in die Garage, wo sie bis zu ihrem Tod verblieb. K.          verließ die Garage mehrmals, um zu rauchen; H.     begab sich häufiger in das Wohnhaus; der hinzugekommene Kr.    kehrte nach stundenlanger Abwesenheit einige Male zurück. Alle erkannten, dass sich die Geschädigte aufgrund ihrer akut psychotischen Symptomatik in Not befand und fachärztlicher Hilfe bedurfte. In der Hoffnung, die "Einnahmequelle" für K.           erhalten zu können, entschieden sie sich jedoch gemeinsam dazu, keine fachärztliche Hilfe zu organisieren, sondern sich selbst um deren Zustand zu kümmern. Dabei nahmen sie eine Verlängerung des Leidens der Geschädigten in Kauf, das durch die Gabe von Medikamenten nach kurzer Zeit hätte gelindert werden können. Aufgrund ihrer akuten Psychose schrie die Geschädigte wiederholt laut auf, nässte sich ein, übergab sich und krampfte, was H.     auf Vorschlag von Kr.   dazu bewog, eine unbekannt gebliebene Menge Salz in einem Glas Wasser zu lösen, welches die Geschädigte sodann trank. Ferner wurden ihr erneut Cannabisprodukte angeboten. Bei jedenfalls einer Gelegenheit wurde sie gewürgt und ihr wurde der Mund zugehalten. Durch wen und in wessen Anwesenheit diese Handlungen erfolgten, konnte nicht festgestellt werden. Die Geschädigte verstarb zu einem nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt in der Nacht zum 9. April 2020 in der Garage. Todesursächlich war entweder ein Würgen oder die Einwirkung einer zu großen Menge Salz auf den Organismus. Wer ihren Tod verursacht hatte, vermochte die Strafkammer nicht festzustellen (Tat 7).g) Um den Leichnam zu beseitigen, band jedenfalls K.          diesen mit einem Kabel an eine etwa 20 Kilogramm schwere Waschbetonplatte, brachte ihn mit seinem Pkw zu einem Schleusenkanal der Weser und warf ihn von einer Brücke ins Wasser (Tat 8).2. Das Landgericht hat die Angeklagten K.          und Kr.    bezüglich Tat 1 vom Vorwurf des gemeinschaftlichen sexuellen Übergriffs freigesprochen.Das Tatgeschehen zu Tat 2 hat es hinsichtlich K.           als schwere Zwangsprostitution gemäß § 232a Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2, Abs. 4 StGB i.V.m. § 232 Abs. 3 Nr. 3 Alt. 1 StGB gewertet. Soweit er die Geschädigte zur Vornahme sexueller Handlungen an den Freiern bestimmt und hierdurch die Tatbestandsverwirklichung des § 177 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 5 Nr. 3 StGB zumindest versucht habe, stünden diese Taten (Taten 3 bis 5) in Tatmehrheit dazu. Das Verhalten von Kr.    und H.     bewertete das Landgericht - abweichend vom Anklagevorwurf - als vier tatmehrheitliche Beihilfehandlungen.Bezüglich des Geschehens im Wohnhaus und in der Garage hat es die Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung durch Unterlassen gemäß § 223 Abs. 1, § 224 Abs. 1 Nr. 4, § 13 StGB (Tat 7) schuldig gesprochen, H.     darüber hinaus wegen unerlaubter Abgabe von Betäubungsmitteln gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG (Tat 6). Soweit den Angeklagten der Vorwurf einer tateinheitlich begangenen Freiheitsberaubung und eines versuchten Tötungsdelikts durch Unterlassen gemacht wurde, hat sich das Landgericht von der Verwirklichung dieser Tatbestände nicht zu überzeugen vermocht.Vom tatmehrheitlich erhobenen Vorwurf, die Angeklagten hätten sich des gemeinschaftlichen Mordes schuldig gemacht, indem sie die Geschädigte in der Weser ertränkten, um sich ihrer zu entledigen und eine Verfolgung wegen der bis dahin begangenen Straftaten zu verhindern (Tat 8), hat das Landgericht die Angeklagten freigesprochen.II. Revisionen der Staatsanwaltschaft1. Den Verfahrensrügen bleibt aus den in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts ausgeführten Gründen der Erfolg versagt.2. Die aufgrund der Sachrüge veranlasste materiell-rechtliche Überprüfung des Urteils führt zur Änderung der Schuldsprüche und zur Aufhebung einiger Strafen sowie sämtlicher Gesamtstrafenaussprüche. Der Erörterung bedarf nur Folgendes:a) Taten 2 und 3 (Angeklagter K.          )aa) Die von der Strafkammer rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen tragen die rechtliche Wertung des Verhaltens als Zwangsprostitution nach § 232a Abs. 1 Nr. 1 StGB. Im Ergebnis zutreffend ist auch die Annahme gewerbsmäßigen Handelns (§ 232a Abs. 4 i.V.m. § 232 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 Alt. 1 StGB).Entgegen den Ausführungen des Landgerichts genügt es hierfür allerdings nicht, dass sich der Täter durch die Veranlassung der Prostitution eine dauerhafte Einnahmequelle erschließt. Gewerbsmäßigkeit verlangt darüber hinaus die Absicht, durch wiederholte Tatbegehung fortlaufend Einnahmen zu erzielen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 1. Juni 2022 - 1 StR 65/22; vom 14. September 2022 - 4 StR 55/22), wobei allein das Zuführen weiterer Kunden für eine neuerliche Verwirklichung des auf Wiederholung angelegten Tatbestandes regelmäßig nicht ausreicht; anders verhält es sich, wenn die Prostituierte zwischenzeitlich den Willen entwickelt hat, die Prostitution zu beenden (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Juni 2000 - 3 StR 178/00, NStZ-RR 2001, 170 [zu § 180b StGB aF]; Schönke/Schröder/Eisele, Strafgesetzbuch, 30. Aufl., § 232a Rn. 11) oder eine qualitative Änderung erfolgen soll (vgl. BGH, Urteile vom 16. Juli 1996 - 1 StR 221/96, BGHSt 42, 179, 184 f. [zu § 180b StGB aF]; vom 27. Mai 2004 - 3 StR 500/03, NStZ 2004, 682, 683 [zu § 181 StGB aF]). Gewerbsmäßigkeit setzt aber nicht voraus, dass mehrere Taten begangen worden sind. Vielmehr genügt bereits eine einzige Tat, wenn sie auf einem auf Wiederholung gerichteten Willen beruht (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 10. November 2021 - 2 StR 433/20, Rn. 22; Beschluss vom 2. Februar 2011 - 2 StR 511/10, NStZ 2011, 515, 516).So liegt es hier. K.          handelte nach den Feststellungen von vornherein mit dem Ziel, die Prostitutionsausübung zu intensivieren, um hierdurch in Zukunft nicht unerhebliche Einnahmen für sich zu erwirtschaften. Er hatte keine Bedenken, die Geschädigte trotz ihrer akuten Erkrankung zum Zwecke der Prostitution auf unbestimmte Dauer einzusetzen, was die Bereitschaft beinhaltete, erneut auf sie einzuwirken, sollte sie sich weigern, die Prostitution fortzusetzen (vgl. zur Intention mehrfacher Tatbegehung BGH, Beschluss vom 1. Juni 2022 - 1 StR 65/22).bb) Der Schuldspruch ist aber in konkurrenzrechtlicher Hinsicht zu ändern.Bei der Zwangsprostitution handelt es sich nicht um ein Dauerdelikt, das sich über den gesamten Zeitraum der Prostitutionsausübung erstreckt, sondern um ein Erfolgsdelikt ( vgl. BGH, Beschluss vom 10. November 2020 - 2 StR 486/19 [ zu § 232 StGB aF]; Schönke/Schröder/Eisele aaO Rn.2). Dieses ist jedenfalls mit der Aufnahme der Prostitutionsausübung vollendet. Da weitere Feststellungen hierzu nicht zu erwarten sind, geht der Senat davon aus, dass dies erst mit dem Erbringen sexueller Leistungen für den Zeugen Ka.     der Fall war. Deshalb überschneiden sich die Ausführungshandlungen der schweren Zwangsprostitution und der Vergewaltigung und stehen in Tateinheit (vgl. BGH, Urteil vom 9. November 1993 - 5 StR 539/93, NJW 1994, 1015 [zu § 181 StGB aF]; Beschlüsse vom 11. Februar 1999 - 3 StR 607/98, NStZ 1999, 311 [zu § 180b StGB aF]; vom 22. Juli 2020 - 2 StR 92/20 [zu § 232 StGB aF]), nicht aber die später verwirklichten Sexualdelikte.cc) Der Senat ändert den Schuldspruch entsprechend § 354 Abs. 1 StPO. Dem steht § 265 StPO nicht entgegen. Die Änderung führt zum Wegfall der Strafe für die Vergewaltigung (Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten) und zur Aufhebung derjenigen für die schwere Zwangsprostitution (fünfjährige Freiheitsstrafe). Der Senat sieht davon ab, die vom Landgericht für Tat 2 verhängte Strafe bestehen zu lassen. Denn er kann nicht ausschließen, dass das Landgericht bei zutreffender konkurrenzrechtlicher Bewertung eine höhere Strafe für diese einheitliche Tat festgesetzt hätte. Die Aufhebung bzw. der Wegfall der Strafaussprüche entzieht zugleich der Gesamtstrafe die Grundlage. Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen bleiben aufrechterhalten; das neue Tatgericht kann ergänzende, zu ihnen nicht in Widerspruch stehende treffen.b) Taten 2 bis 5 (Angeklagte Kr.    und H.     )aa) Die Annahme des Landgerichts, die Angeklagten Kr.   und H.     hätten zu diesen Taten lediglich Beihilfe geleistet, erweist sich als rechtsfehlerfrei.Das Landgericht hat im Rahmen einer Gesamtwürdigung widerspruchsfrei und ohne Lücken in der Beweiswürdigung deren eigenes Tatinteresse verneint. Dabei hat es weder die Bedeutung der persönlichen Beziehungen der Angeklagten zueinander noch den Umfang und das Gewicht der Unterstützungshandlungen verkannt, insbesondere nicht die Bedeutung, die Kr.   seinem eigenen Verhalten beigemessen hat. In nicht zu beanstandender Weise hat es darauf abgestellt, dass beide Angeklagten keinen bestimmenden Einfluss auf das Tatgeschehen hatten. Soweit die Beschwerdeführerin das Tatinteresse damit begründen will, dass H.     eigene finanzielle Interessen gehabt und Kriese die Tat zur Erfüllung eigener sexueller Bedürfnisse gewollt habe, handelt es sich um urteilsfremdes Vorbringen, mit dem sie im Revisionsverfahren im Rahmen der Sachrüge nicht gehört werden kann.bb) Jedoch erweist sich die Annahme von vier real konkurrierenden Beihilfetaten als rechtsfehlerhaft.(1) Ob Tateinheit oder Tatmehrheit anzunehmen ist, richtet sich nach der Zahl der geförderten Haupttaten und Beihilfehandlungen. Leistet ein Gehilfe für alle oder einige Taten des Haupttäters individuelle, je nur diese fördernde Beiträge, so sind ihm diese Taten als tatmehrheitlich begangen zuzurechnen. Eine darüber hinausgehende Einbindung des Beteiligten in die Ausübung weiterer Taten ist nicht geeignet, diese individuell geförderten Taten einer Serie rechtlich zu einer Tat im Sinne des § 52 Abs. 1 StGB zusammenzufassen. Fehlt es hingegen an einer individuellen Tatförderung und erbringt der Gehilfe Beiträge, die im Vorfeld oder während des Laufs einer Deliktserie alle oder mehrere Einzeltaten des Haupttäters gleichzeitig fördern, sind ihm diese als tateinheitlich begangen zuzurechnen (vgl. BGH, Urteil vom 17. Juni 2004 ‒ 3 StR 344/03, BGHSt 49, 177, 182 f.; Beschlüsse vom 18. Dezember 2019 ‒ 4 StR 582/19, Rn. 3; vom 11. Oktober 2022 - 2 StR 101/22 Rn. 10).(2) Bereits der geänderte Schuldspruch hinsichtlich K.          führt infolge der Akzessorietät dazu, dass eine Beihilfe lediglich zu drei selbständigen Haupttaten in Betracht kommt.(3) Allerdings tragen die Feststellungen bezüglich beider Angeklagten lediglich die Annahme von zwei selbständigen Beihilfehandlungen. Die erste betrifft jeweils die Unterstützung der Zwangsprostitution, des Kontakts mit Ka.     und dem unbekannten Freier, die zweite die Tätigkeiten im Zusammenhang mit dem Erbringen von sexuellen Dienstleistungen zugunsten des Zeugen B.     . Denn weder lassen sich die von H.      am 4. April 2020 geführten Verhandlungen konkret dem Freier Ka.     oder dem unbekannten Interessenten zuordnen, noch hat das Landgericht andere diese Taten individuell fördernde Beiträge festgestellt; so verhält es sich auch bei Kr.   . Anders stellt sich die Situation bei der Vermittlung der Geschädigten an den Zeugen B.      dar, welche die Angeklagte durch die telefonische Kontaktaufnahme mit diesem sowie durch die Bereitstellung von Schuhen für die Geschädigte ebenso selbständig förderte wie Kr.   , der seine Wohnung für den Aufenthalt der Geschädigten zur Verfügung stellte und sie nach dem Treffen mit dem Zeugen B.     dorthin zurückgeleitete.(4) Da ergänzende tatsächliche Feststellungen, die eine andere Bewertung rechtfertigen, nicht zu erwarten sind, ändert der Senat die Schuldsprüche entsprechend. § 265 StPO steht dem nicht entgegen. Infolge der Schuldspruchänderung entfallen jeweils zwei Strafen. Um im Hinblick auf den veränderten Schuldgehalt dem Landgericht eine sachgerechte Strafzumessung zu ermöglichen, sind die weiteren in diesem Tatkomplex verhängten Strafen aufzuheben, was zugleich der Gesamtstrafe den Boden entzieht. Einer Aufhebung der Feststellungen bedarf es nicht; sie können durch ihnen nicht widersprechende ergänzt werden.c) Tat 6 (Angeklagte H.     )Soweit das Landgericht die Angeklagte H.      wegen Abgabe von Betäubungsmitteln verurteilt hat, tragen die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen diesen Schuldspruch nicht, wohl aber einen solchen wegen Überlassung von Betäubungsmitteln zum unmittelbaren Verbrauch gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 6 Buchst. b BtMG. Eine Abgabe im Sinne des § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG erfordert eine Gewahrsamsübertragung an eine andere Person zur freien Verfügung. Daran fehlt es, wenn das Betäubungsmittel - wie hier - zum sofortigen Konsum an Ort und Stelle hingegeben wird (vgl. BGH, Beschlüsse vom 23. März 2021 − 3 StR 19/21, NStZ 2022, 301; vom 14. Dezember 2022 - 6 StR 403/22 [jeweils zu § 29a Abs. 1 Nr. 1 BtMG]).Der Senat ändert den Schuldspruch entsprechend; § 265 StPO steht dem auch insoweit nicht entgegen. Angesichts des unveränderten Strafrahmens und der Gesamtumstände ist auszuschließen, dass das Landgericht bei zutreffender rechtlicher Würdigung auf eine andere Strafe erkannt hätte.d) Tat 7 (Sämtliche Angeklagten)aa) Der Schuldspruch zu Tat 7 hält revisionsgerichtlicher Überprüfung stand. Die Angeklagten haben den Qualifikationstatbestand des § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB (mit-)täterschaftlich durch Unterlassen erfüllt (vgl. zur Abgrenzung von Täterschaft und Beihilfe bei untätigen Garanten BGH, Beschluss vom 18. Oktober 2018 - 3 StR 126/18, NStZ-RR 2019, 341, 342).(1) Nach § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB macht sich schuldig, wer die Körperverletzung (§ 223 Abs. 1 StGB) mit einem Beteiligten gemeinschaftlich begeht. Um das gegenüber dem Grundtatbestand verdoppelte Strafhöchstmaß zu rechtfertigen, setzt diese Qualifikation eine Beteiligung voraus, die im konkreten Fall zu einer erhöhten abstrakten Gefährlichkeit der Körperverletzung für das Opfer führt (vgl. BGH, Urteil vom 3. September 2002 - 5 StR 210/02, BGHSt 47, 383, 386; Beschluss vom 24. Januar 2017 - 2 StR 188/16, NJW 2017, 1894). Eine solche liegt insbesondere vor, wenn mindestens zwei Angreifer handeln und damit eine größere Zahl an Verletzungen beibringen können (vgl. BGH, Urteil vom 20. März 2012 - 1 StR 447/11 Rn. 12; MüKo-StGB/Hardtung, 4. Aufl., § 224 Rn. 36), wenn die Verteidigungsmöglichkeiten des Opfers durch die Anwesenheit mehrerer Beteiligter tatsächlich oder vermeintlich eingeschränkt sind (vgl. BGH, Urteil vom 3. September 2002 - 5 StR 210/02, aaO; Beschluss vom 30. Juni 2015 - 3 StR 171/15, BGHR StGB § 224 Abs. 1 Nr. 4 gemeinschaftlich 5) oder wenn der die Körperverletzung unmittelbar ausführende Täter durch einen weiteren Beteiligten in seinem Willen hierzu bestärkt wird (vgl. BGH, Urteil vom 5. Februar 1986 - 2 StR 640/85, StV 1986, 190).(2) Die gefährliche Körperverletzung nach § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB kann durch Unterlassen begangen werden.Der Gesetzeswortlaut lässt insoweit keine Einschränkung erkennen, sodass die allgemeinen Regeln einschließlich des Begehens durch Unterlassen nach § 13 StGB Anwendung finden. Zu diesem Normverständnis drängen insbesondere auch Sinn und Zweck der Vorschrift. Deren Neufassung durch das Sechste Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 26. Januar 1998 (BGBl. I S. 164) sollte zuvörderst dem Anliegen Rechnung tragen, dem Schutz körperlicher Unversehrtheit größeres Gewicht zu verleihen (vgl. BT-Drucks. 13/8587, S. 1, 19, 35; MüKo-StGB/Hardtung, aaO, Vor § 223 Rn. 3 mwN). Eingedenk dieses erstrebten effektiven Rechtsgüterschutzes ist bei der Anwendung von § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB in den Blick zu nehmen, dass auch einer Tatbeteiligung durch Unterlassen - nach Maßgabe der Umstände des Einzelfalls - die erhöhte Gefahr erheblicher Verletzungen bzw. die Einschränkung von Verteidigungsmöglichkeiten innewohnen kann. Für die Annahme einer gesteigerten Gefährlichkeit bei gemeinschaftlicher Begehung mit einem anderen aktiv handelnden Beteiligten genügt allerdings die Anwesenheit einer sich lediglich passiv verhaltenden Person ebenso wenig (vgl. BGH, Urteil vom 20. März 2012 - 1 StR 447/11 Rn. 12) wie das bloße gleichzeitige Agieren von Beteiligten an einem Ort, wenn jedes Opfer nur einem Angreifer ausgesetzt ist (vgl. BGH, Beschluss vom 30. Juni 2015 - 3 StR 171/15 aaO). Dementsprechend kann allein das gleichzeitige Unterlassen mehrerer Garanten im Sinne einer reinen Nebentäterschaft den Tatbestand nicht erfüllen. Die hierfür erforderliche höhere Gefährlichkeit wird aber regelmäßig gegeben sein, wenn sich die zur Hilfeleistung verpflichteten Garanten ausdrücklich oder konkludent zu einem Nichtstun verabreden (wie hier: SSW-StGB/Momsen-Pflanz/Momsen, 5. Aufl., § 224 Rn. 39; SK-StGB/Wolters, 9. Aufl., § 224 Rn. 35; dem zugeneigt auch NK-StGB/Paeffgen/Böse, 5. Aufl., § 224 Rn. 26; eine Tatbestandsverwirklichung durch Unterlassen ohne nähere Differenzierung ablehnend bzw. auf die Konstellation eines Unterlassungstäters neben zwei aktiv handelnden Beteiligten beschränkend: BeckOK-StGB/Eschelbach, 56. Edition, § 224 Rn. 39; LK-StGB/Grünewald, 12. Aufl., § 224 Rn. 33; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, aaO, § 224 Rn. 11b; MüKo-StGB/Hardtung, aaO, § 224 Rn. 38, 48) und mindestens zwei handlungspflichtige Garanten zumindest zeitweilig am Tatort präsent sind. Denn die getroffene Vereinbarung und die damit einhergehende Verbundenheit verstärken wechselseitig den jeweiligen Tatentschluss, die gebotene Hilfe zu unterlassen, was zusätzlich zu dem gefahrsteigernden gruppendynamischen Effekt die Wahrscheinlichkeit verringert, dass einer der Garanten der an ihn gestellten Verpflichtung gerecht wird.So liegt der Fall hier. Ausweislich der Feststellungen vereinbarten die Angeklagten am Vormittag des 8. April 2020 ausdrücklich, sich selbst um den Zustand der Geschädigten zu kümmern und keine ärztliche Hilfe zu holen. Dem Zusammenhang der Urteilsgründe ist weiterhin zu entnehmen, dass sich alle Angeklagten an diese Verabredung gebunden fühlten, was zur Folge hatte, dass sie bis zuletzt auf das Hinzuziehen professioneller Hilfe verzichteten, obgleich insbesondere die Zeuginnen N.      und V.    die Angeklagte H.     hierzu anhielten. Die Verabredung bestärkte die Angeklagten in ihrer Entscheidung und hatte somit auf das Tatgeschehen bestimmenden Einfluss.bb) Rechtlicher Prüfung hält auch die Ablehnung eines versuchten Tötungsdelikts durch Unterlassen und einer tateinheitlichen Verurteilung wegen Freiheitsberaubung stand.Das Landgericht hat sich mit der körperlichen Verfassung der Geschädigten und dem Vorstellungsbild der Angeklagten hinreichend auseinandergesetzt. Gegen seine Überzeugung, dass der Zustand der Geschädigten in der Garage nicht lebensbedrohlich gewesen sei, ist rechtlich nichts zu erinnern. Dabei hat es in den Blick genommen, dass die Geschädigte, bevor sie in die Garage gebracht wurde, noch laut und eindringlich schreien konnte und seitens der rechtsmedizinischen Sachverständigen keine Anhaltspunkte für eine körperliche Erkrankung der Geschädigten feststellbar waren. Weiter setzt sich das Urteil ausführlich mit der Mitteilung H.     s gegenüber den Zeuginnen N.     und V.    auseinander, "man versuche sie am Leben zu halten", und führt diese einer möglichen - revisionsgerichtlich damit hinzunehmenden (vgl. BGH, Urteil vom 11. Januar 2005 - 1 StR 478/04, NStZ-RR 2005, 147) - Interpretation zu. Die Hintergründe zu der von Kr.   am Abend des 8. Aprils 2020 an die Zeugin Dr.   versandten SMS ("Problem dickes erklär ich dir, wichtig ist Ernst bitte") und seiner Bitte, die nächsten Tage bei ihr verbringen zu können, konnte das Landgericht aufgrund deren widersprüchlicher Angaben nicht aufklären. Soweit sich die Revision zur Begründung eines Tötungsvorsatzes des Angeklagten Kr.   überdies auf Sprachnachrichten vom 7. April 2020 bezieht, finden diese im Urteil keine Stütze und können auf die Sachrüge nicht berücksichtigt werden.e) Tat 8 (Sämtliche Angeklagten)Die sich gegen die unterbliebene Verurteilung wegen eines vorsätzlichen Tötungsdelikts richtende - insoweit vom Generalbundesanwalt nicht vertretene - Revision zeigt eingedenk des eingeschränkten revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstabs keine Rechtsfehler auf.aa) Die Ausführungen zur Todesursache begegnen keinen durchgreifenden Bedenken. Hierzu hat das Landgericht dargelegt, dass es mangels organischer Erkrankung der Geschädigten einen natürlichen Tod ausschließt. Abweichend von Anklage und Revision hat es sich ferner davon überzeugt, dass die Geschädigte nicht ertrunken ist. Dagegen ist rechtlich nichts zu erinnern.Das Landgericht hat alle für die letztgenannte Todesursache sprechenden Gesichtspunkte, namentlich eine überblähte Lunge, Fremdmaterial in den Atemwegen, Flüssigkeit in der Keilbeinhöhle, fleckenartige Unterblutungen des Lungenaußenfells sowie eine erhöhte Konzentration von Diatomeen in einzelnen Gewebeproben ermittelt und in den Blick genommen. Dabei hat es deren Indizwert, der aufgrund der langen Liegezeit im Wasser, einer Vereinbarkeit auch mit anderen Todesursachen und nicht eingehaltener spezifischer Untersuchungsstandards jeweils gemindert ist, nicht nur isoliert betrachtet, sondern hat auch die gebotene Gesamtwürdigung vorgenommen (vgl. zu diesem Erfordernis BGH, Urteile vom 7. Juli 2012 - 5 StR 322/12, Rn. 10, 12; vom 30. November 2022 - 6 StR 243/22, NStZ-RR 2023, 59, 60). In nicht zu beanstandender Weise hat es hierbei als entscheidendes Indiz gegen ein Ertrinken das Fehlen jeglicher Abwehrverletzungen gewertet. Diese wären nach Ansicht des Landgerichts aufgrund Gegenwehr oder ertrinkungstypischer Krämpfe in den Extremitäten im Bereich der nicht an die Betonplatte gefesselten Beine und Füße zu erwarten gewesen. Soweit die Revision rügt, das Landgericht habe sich nicht damit auseinandergesetzt, dass H.     bereits vor dem Versterben der Geschädigten zum "Tod durch Ertrinken" recherchiert habe, handelt es sich um urteilsfremdes Vorbringen, mit dem sie im Rahmen der Sachrüge nicht gehört werden kann. Im Übrigen erschöpfen sich die Einwendungen letztlich in dem revisionsrechtlich unbehelflichen Versuch, die tatgerichtliche durch eine eigene Beweiswürdigung zu ersetzen.bb) Rechtlicher Prüfung halten auch die Erwägungen des Landgerichts stand, dass sich - unabhängig von der konkreten Todesursache - jedenfalls nicht feststellen lasse, wer den Tod der Geschädigten verursacht hat.(1) Hierbei hat es maßgeblich darauf abgestellt, dass sich nicht aufklären ließ, wer sich von den Angeklagten zu welcher Zeit in der Garage aufhielt, und dass neben ihnen weitere Personen als Täter in Betracht kamen, weil in der Leiche Spermaspuren von zwei unbekannt gebliebenen männlichen Personen gefunden wurden, mit denen die Geschädigte kurz vor ihrem Tod Geschlechtsverkehr hatte.(2) Diese Erwägungen sind nicht zu beanstanden. Das Landgericht hat die erhobenen Beweise gewürdigt und dabei keine überspannten Anforderungen an die Bildung seiner Überzeugung gestellt; insbesondere war es sich bewusst, dass keine absolute, das Gegenteil denknotwendig ausschließende und von niemandem anzweifelbare Gewissheit erforderlich ist (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 3. Februar 2005 - 4 StR 540/04, NStZ-RR 2005, 149).III. Revisionen der AngeklagtenDie Revisionen der Angeklagten haben hinsichtlich des Schuldspruchs im selben Umfang Erfolg wie die Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft.Die geänderte konkurrenzrechtliche Bewertung führt beim Angeklagten K.          zum Wegfall der für die Vergewaltigung verhängten Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten und bei den Angeklagten Kr.   und H.    zum Wegfall derjenigen für die Beihilfe zur Vergewaltigung (Kr.  : ein Jahr; H.     : neun Monate) und für die Beihilfe zur versuchten sexuellen Nötigung (Kr.  : sechs Monate; H.     : sechs Monate). Im Übrigen schließt der Senat wegen des hierdurch unveränderten Unrechts- und Schuldgehaltes aus, dass die verbleibenden Strafen und die Gesamtstrafen niedriger ausgefallen wären (§ 337 Abs. 1 StPO).IV. Revisionen des NebenklägersDen zulässigen (§ 400 Abs. 1, § 401 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 StPO) Revisionen des Nebenklägers bleibt der Erfolg versagt. Sie wenden sich aus den im Rahmen der Revisionen der Staatsanwaltschaft bereits ausgeführten Gründen erfolglos gegen die unterlassene Verurteilung der Angeklagten wegen eines gemeinschaftlich begangenen Mordes zum Nachteil der Geschädigten.V.Der Senat verweist die Sache an eine allgemeine Strafkammer zurück (§ 354 Abs. 3 StPO), weil eine Zuständigkeit des Schwurgerichts nicht mehr besteht.SanderFeilckeWenskeFritschevon Schmettau
bundesgerichtshof
bgh_148-2020
27.11.2020
Anspruch auf Unterlassung der Nutzung eines baurechtswidrigen Offenstalls für Pferde Ausgabejahr 2020 Erscheinungsdatum 27.11.2020 Nr. 148/2020 Der unter anderem für das Nachbarrecht zuständige V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat heute entschieden, dass ein Grundstücksnachbar von dem anderen verlangen kann, die Pferdehaltung in einem Offenstall zu unterlassen, den dieser ohne Baugenehmigung und unter Verstoß gegen das öffentlich-rechtliche Gebot der Rücksichtnahme errichtet hat. Sachverhalt: Die Parteien sind Nachbarn. Die Beklagte zu 1 ist Inhaberin eines Pferdehofs. Sie errichtete ohne Baugenehmigung auf ihrem im Außenbereich gelegenen Grundstück in einer Entfernung von etwa 12 m vom Einfamilienhaus der Klägerin einen Offenstall für Pferde und stellte darin Pferde ein. Die Beklagte zu 2, deren Geschäftsführerin die Beklagte zu 1 ist, betreibt auf dem Grundstück eine Reitschule. Die Bauaufsichtsbehörde lehnte im September 2013 die Erteilung einer Baugenehmigung ab. Die von der Beklagten zu 1 erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht 2016 mit der Begründung ab, der Offenstall lasse die gebotene Rücksichtnahme auf das Wohnhaus der – dort beigeladenen – hiesigen Klägerin vermissen. Hierbei falle insbesondere ins Gewicht, dass sich der Stall unmittelbar an der Grenze zum Grundstück der hiesigen Klägerin in einer Entfernung von etwa 12,5 m zu deren Ruheräumen befinde und die Boxen mit dem Auslauf zum Wohnhaus ausgerichtet seien. Das Urteil ist rechtskräftig. Bisheriger Prozessverlauf: Das Landgericht hat die Beklagten verurteilt, die Haltung von Pferden in dem Offenstall zu unterlassen. Auf deren Berufung hat das Oberlandesgericht die Klage abgewiesen, soweit sie sich gegen die Beklagte zu 2 richtet. Hinsichtlich der Beklagten zu 1 hat es die Verurteilung darauf beschränkt, dass bei der Haltung von Pferden in dem Offenstall die Immissionsrichtwerte nach der jeweils geltenden TA Lärm nicht überschritten werden dürften. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs: Der V. Zivilsenat hat das Berufungsurteil aufgehoben und das Urteil des Landgerichts im Verhältnis zur Beklagten zu 1 in der Sache wiederhergestellt. Hinsichtlich der Beklagten zu 2 hat er die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Die Klägerin hat aus § 1004 Abs. 1 Satz 1 analog i.V.m. § 823 Abs. 2 BGB und dem öffentlich-rechtlichen Gebot der Rücksichtnahme einen Anspruch darauf, dass die Beklagte zu 1 die Haltung von Pferden in dem Offenstall auf ihrem Grundstück unterlässt. Die Verletzung nachbarschützender Vorschriften des öffentlichen Baurechts kann einen solchen verschuldensunabhängigen Unterlassungsanspruch des Nachbarn begründen. Zu solchen Normen zählt das Gebot der Rücksichtnahme. Dass die Errichtung und die zweckgemäße Nutzung des Offenstalls im Verhältnis zu der Klägerin gegen das Gebot der Rücksichtnahme verstoßen, steht aufgrund des rechtskräftigen Urteils des Verwaltungsgerichts mit Bindungswirkung für den Zivilprozess fest. Damit stellt die Pferdehaltung in dem Stall zivilrechtlich im Verhältnis zur Klägerin einen Verstoß gegen ein Schutzgesetz i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB dar, sodass diese einen Anspruch aus § 1004 Abs. 1 Satz 1 BGB analog auf Unterlassung dieser Nutzung des Stalls hat. Für das Vorliegen der für den Unterlassungsanspruch erforderlichen Wiederholungsgefahr spricht aufgrund der bereits erfolgten rechtswidrigen Nutzung des Stalls eine tatsächliche Vermutung, die nach rechtsfehlerfreier Würdigung des Berufungsgerichts selbst dann nicht widerlegt wäre, wenn die Beklagte zu 1 seit 2016 keine Pferde mehr in den Stall eingestellt haben sollte. Hinsichtlich der Beklagten zu 2 konnte das Urteil ebenfalls keinen Bestand haben, da die Klägerin gegen diese aus § 1004 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 906 BGB einen Anspruch darauf haben kann, keine Pferde in den Offenstall einzustellen. Im Hinblick darauf, dass die Klägerin weder anhand des Aussehens der Pferde noch – aufgrund der Personenidentität auf Beklagtenseite – anhand der äußeren Abläufe beurteilen und darlegen oder gar beweisen kann, welche Pferde jeweils im Eigentum der Beklagten zu 1 oder der Beklagten zu 2 stehen bzw. standen, trifft die Beklagte zu 2 eine sog. sekundäre Darlegungslast hinsichtlich der Behauptung der Klägerin, sie (die Beklagte zu 2) habe Pferde in den Offenstall eingestellt. Dieser hat sie bislang nicht genügt. Sie wird in dem erneuten Verfahren vor dem Berufungsgericht zunächst vorzutragen haben, welche Pferde in dem von der Klägerin behaupteten Zeitraum der Nutzung des Offenstalls in ihrem Eigentum standen und wo diese untergestellt waren. Vorinstanzen: LG Halle – Urteil vom 28. September 2018 – 5 O 261/16 OLG Naumburg – Urteil vom 17. April 2019 – 12 U 123/18 Die maßgeblichen Vorschriften lauten: § 1004 BGB Beseitigungs- und Unterlassungsanspruch (1) Wird das Eigentum in anderer Weise als durch Entziehung oder Vorenthaltung des Besitzes beeinträchtigt, so kann der Eigentümer von dem Störer die Beseitigung der Beeinträchtigung verlangen. Sind weitere Beeinträchtigungen zu besorgen, so kann der Eigentümer auf Unterlassung klagen. (2) Der Anspruch ist ausgeschlossen, wenn der Eigentümer zur Duldung verpflichtet ist. § 906 BGB Zuführung unwägbarer Stoffe (1) Der Eigentümer eines Grundstücks kann die Zuführung von Gasen, Dämpfen, Gerüchen, Rauch, Ruß, Wärme, Geräusch, Erschütterungen und ähnliche von einem anderen Grundstück ausgehende Einwirkungen insoweit nicht verbieten, als die Einwirkung die Benutzung seines Grundstücks nicht oder nur unwesentlich beeinträchtigt. Eine unwesentliche Beeinträchtigung liegt in der Regel vor, wenn die in Gesetzen oder Rechtsverordnungen festgelegten Grenz- oder Richtwerte von den nach diesen Vorschriften ermittelten und bewerteten Einwirkungen nicht überschritten werden. Gleiches gilt für Werte in allgemeinen Verwaltungsvorschriften, die nach § 48 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes erlassen worden sind und den Stand der Technik wiedergeben. (2) (…) § 823 Schadensersatzpflicht (1) Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet. (2) Die gleiche Verpflichtung trifft denjenigen, welcher gegen ein den Schutz eines anderen bezweckendes Gesetz verstößt. Ist nach dem Inhalt des Gesetzes ein Verstoß gegen dieses auch ohne Verschulden möglich, so tritt die Ersatzpflicht nur im Falle des Verschuldens ein. Karlsruhe, den 27. November 2020 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Entscheidung des V. Zivilsenats vom 27.11.2020 - V ZR 121/19 -
Tenor Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 12. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Naumburg vom 17. April 2019 in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses vom 3. Mai 2019 aufgehoben.Die Berufung der Beklagten zu 1 gegen das Urteil der 5. Zivilkammer des Landgerichts Halle vom 28. September 2018 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Verurteilung der Beklagten zu 1 weder in der Hauptsache noch hinsichtlich der Kosten "gesamtschuldnerisch" erfolgt. Die Beklagte zu 1 trägt vielmehr ihre eigenen außergerichtlichen Kosten in erster Instanz selbst sowie die Hälfte der Gerichtskosten und der außergerichtlichen Kosten der Klägerin.Weiter trägt die Beklagte zu 1 ihre eigenen außergerichtlichen Kosten in zweiter und dritter Instanz sowie die Hälfte der jeweiligen Gerichtskosten und der außergerichtlichen Kosten der Klägerin.Im Übrigen wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die übrigen Kosten des Rechtsstreits, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.Von Rechts wegen. Tatbestand Die Parteien sind Nachbarn. Die Klägerin bewohnt etwa seit dem Jahr 2000 ein auf ihrem Grundstück befindliches Einfamilienhaus. Die Beklagte zu 1 errichtete im Jahre 2011 auf ihrem im Außenbereich gelegenen Grundstück in einer Entfernung von etwa 12 m vom Wohnhaus der Klägerin einen Offenstall für Pferde, ohne die hierfür erforderliche Baugenehmigung einzuholen. Darin stellte sie als Inhaberin des Pferdehofs T. Pferde ein. Die im Jahre 2015 gegründete Beklagte zu 2, eine Unternehmergesellschaft (UG), deren alleinige Geschäftsführerin die Beklagte zu 1 ist, betreibt auf dem Grundstück eine Reitschule und bietet Reiterferien und Kutschfahrten an.Die Bauaufsichtsbehörde lehnte die im Mai 2013 von der Beklagten zu 1 beantragte Erteilung einer Baugenehmigung für den bereits errichteten Stall im September 2013 ab. Die von der Beklagten zu 1 erhobene Verpflichtungsklage auf Erteilung der Baugenehmigung wies das Verwaltungsgericht im September 2016 ab. Der Offenstall lasse nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme die gebotene Rücksichtnahme auf das Wohnhaus der - dort beigeladenen - hiesigen Klägerin vermissen. Hierbei falle insbesondere ins Gewicht, dass die Beklagte zu 1 den Stall unmittelbar an der Grenze zum Grundstück der hiesigen Klägerin in einer Entfernung von etwa 12,5 m zu den Ruheräumen errichtet und die Boxen mit dem Auslauf zum Wohnhaus ausgerichtet habe. So wirke sich der Pferdestall aufgrund seiner Anordnung, Bauweise und den mit seiner typischen Nutzung verbundenen Emissionen belastend auf das benachbarte Wohngrundstück aus. Das Oberverwaltungsgericht lehnte den Antrag der Beklagten zu 1 auf Zulassung der Berufung gegen dieses Urteil im Mai 2018 ab, das damit rechtskräftig ist.Das Landgericht hat die Beklagten verurteilt, die Haltung von Pferden in dem Offenstall zu unterlassen. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht die Klage abgewiesen, soweit sie sich gegen die Beklagte zu 2 richtet. Hinsichtlich der Beklagten zu 1 hat es die Verurteilung unter Abweisung der Klage im Übrigen darauf beschränkt, dass bei der Haltung von Pferden in dem Offenstall die Immissionsrichtwerte nach der jeweils geltenden TA Lärm nicht überschritten werden dürfen. Mit der von dem Senat zugelassenen Revision, deren Zurückweisung die Beklagten beantragen, will die Klägerin die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils erreichen. Gründe I.Das Berufungsgericht meint, die Klägerin habe aus § 1004 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 906 BGB einen Unterlassungsanspruch gegen die Beklagte zu 1. Das Grundstück der Klägerin werde durch die Lärmimmissionen, die von den in dem Offenstall gehaltenen Pferden ausgingen, nicht nur unwesentlich beeinträchtigt. Die Klägerin habe ausführlich vorgetragen, dass die Pferde nachts durch Klopfen gegen die Wände und im Rahmen der Fütterung am frühen Morgen und abends aus Ungeduld ebenfalls mit Klopfen und Geräuschen reagieren und dass Gleiches beim Tausch von Pferden in den Boxen gelte, was zu Rangkämpfen und damit verbundenem Wiehern und Klopfen führe. Die Nutzung des Stalls könne auch nicht als ortsüblich angesehen werden, da es an der notwendigen behördlichen Genehmigung fehle. Auch wenn die Beklagte zu 1 den Stall seit dem Jahre 2016 nicht mehr zum Einstellen von Pferden nutze, folge die Wiederholungsgefahr aus der Haltung von Pferden in dem Offenstall in der Vergangenheit, für die zu keinem Zeitpunkt eine Genehmigung bestanden habe.Der Anspruch sei aber sachlich dahingehend einzuschränken, dass die Klägerin von der Beklagten zu 1 nicht verlangen könne, die Pferdehaltung in dem Offenstall zu unterlassen, sondern nur, die von den Pferden ausgehende Lärmbelästigung zu vermeiden. Der Beklagten zu 1 sei zu überlassen, wie sie die Beeinträchtigung der Klägerin auf ein zumutbares Maß senke, etwa durch das Polstern der Boxenwände, den Einbau eines dämpfenden Belages oder durch andere Maßnahmen. Dass sie den Stall nach öffentlichem Recht ohnehin nicht mehr zum Einstellen von Pferden nutzen dürfe, sei ohne Belang. Um einen objektivierbaren Maßstab zu erhalten, sei auf die Unterlassung von Beeinträchtigungen zu erkennen, die die Immissionsrichtwerte nach Ziffer 6 der derzeit geltenden TA Lärm überschreiten.Ein uneingeschränkter Anspruch auf Unterlassung der Pferdehaltung in dem Offenstall folge auch nicht aus § 1004 i.V.m. § 823 Abs. 2 BGB und öffentlichrechtlichen Vorschriften. Durch den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts stehe nicht mit Bindungswirkung für den Zivilprozess fest, dass die öffentlichrechtliche Schutznorm des Rücksichtnahmegebots zu Lasten der Klägerin verletzt worden sei. In Rechtskraft sei vielmehr allein die Feststellung erwachsen, dass die hiesige Beklagte für den Offenstall keine Baugenehmigung erlangen könne, nicht aber, dass von dem Stall ausgehende Lärmimmissionen auf das Grundstück der Klägerin einwirkten.Gegen die Beklagte zu 2 habe die Klägerin keinen Unterlassungsanspruch, da nicht feststehe, dass diese Störerin sei. Es fehle schon an schlüssigem Vortrag der Klägerin dazu, dass die Beklagte zu 2 den Offenstall mit ihren Pferden nutze. Die von der Klägerin vorgelegten Fotos und angebotenen Zeugen belegten nur, dass weiterhin Pferde in dem Offenstall gehalten würden, nicht aber, dass diese der Beklagten zu 2 zuzuordnen seien. Selbst wenn es für Außenstehende nicht möglich sein sollte, die Pferde der Beklagten zu 1 oder der Beklagten zu 2 zuzuordnen, und dieser Umstand eine sekundäre Darlegungslast begründe, sei die Beklagte zu 2 dieser nachgekommen. Sie habe vorgetragen, dass sie den Innenhof des Grundstücks gemietet und daher keinen Bedarf an der Nutzung des Offenstalls habe.II.Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.1. Rechtsfehlerhaft ist zunächst die Verurteilung der Beklagten zu 1 (nur) zur Einhaltung der Richtwerte der TA Lärm. Da das Berufungsgericht davon ausgeht, dass ein Anspruch der Klägerin gegen die Beklagte zu 1 aus § 1004 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 906 BGB bereits aufgrund der Art der von den Pferden in dem Offenstall ausgehenden Geräusche besteht, also unabhängig davon, ob diese die Immissionsrichtwerte nach der TA Lärm überschreiten, durfte es die Beklagte zu 1 nicht (nur) zur Einhaltung dieser Richtwerte verurteilen.a) Im Ausgangspunkt zutreffend geht das Berufungsgericht davon aus, dass die Einhaltung der einschlägigen Richtwerte der TA Lärm nach § 906 Abs. 1 Sätze 2 und 3 BGB die Unwesentlichkeit einer Lärmbeeinträchtigung indiziert (vgl. Senat, Urteil vom 6. Juli 2001 - V ZR 246/00, BGHZ 148, 261, 264 f.), während die Überschreitung der Richtwerte die Wesentlichkeit der Beeinträchtigung indiziert (vgl. Senat, Urteil vom 13. Dezember 2019 - V ZR 152/18, ZfIR 2020, 338 Rn. 34). Die Grenze der im Einzelfall zumutbaren Geräuschbelästigung kann aber nicht mathematisch exakt, sondern nur aufgrund wertender Beurteilung festgesetzt werden. Wann eine wesentliche Beeinträchtigung vorliegt, beurteilt sich nach dem Empfinden eines verständigen Durchschnittsmenschen und dem, was diesem unter Würdigung anderer öffentlicher und privater Belange zuzumuten ist. Von der indiziellen Bedeutung der Richtwertüberschreitung nach § 906 Abs. 1 Satz 2 und 3 BGB ist deshalb abzuweichen, wenn besondere Umstände des Einzelfalls dies gebieten (vgl. Senat, Urteil vom 6. Juli 2001 - V ZR 246/00, aaO; Urteil vom 13. Dezember 2019 - V ZR 152/18, aaO, jeweils mwN). Deshalb kann eine von dem Nachbarn nicht hinzunehmende wesentliche Beeinträchtigung auch bei Einhaltung der einschlägigen Richtwerte vorliegen. Denn die Lästigkeit eines Geräuschs, die rechtlich für das Immissionsrecht entscheidend ist, hängt nicht allein von Messwerten (zumal von Mittelungspegeln), sondern von einer Reihe anderer Umstände ab, für die es auf das eigene Empfinden des Tatrichters ankommt (vgl. Senat, Urteil vom 29. Juni 1966 - V ZR 91/65, BGHZ 46, 35, 38; Urteil vom 8. Mai 1992 - V ZR 89/91, NJW 1992, 2019).Mit diesen Grundsätzen ist die Würdigung des Berufungsgerichts prinzipiell vereinbar, die von den Pferden in dem Offenstall auf das Grundstück der Klägerin einwirkenden Lärmimmissionen seien als wesentliche Beeinträchtigung i.S.v. § 906 Abs. 1 BGB anzusehen. Wenn es sich bei dem Klopfen an die Wände der Boxen und beim Wiehern der Pferde, wie das Berufungsgericht annimmt, nicht um gleichmäßige Hintergrundgeräusche, sondern um Lärm mit unterschiedlicher Frequenz handelt, der Spitzen von solcher Intensität erreicht, dass ein Hochschrecken aus dem Schlaf die notwendige Folge ist, verbunden mit der Erschwernis, wieder in den Schlaf zu finden, dann kann dies gebieten, nicht allein auf die Richtwerte der TA Lärm abzustellen.b) Das Berufungsgericht durfte im Hinblick auf diese Würdigung den Unterlassungsanspruch der Klägerin aber nicht wie geschehen beschränken. Der Abwehranspruch aus § 1004 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 906 BGB ist darauf gerichtet, die konkrete Lärmbeeinträchtigung zu unterlassen bzw. auf ein Maß zurückzuführen, das nicht mehr als wesentliche Beeinträchtigung anzusehen ist. Nimmt der Tatrichter die Wesentlichkeit der Beeinträchtigung unabhängig von der Einhaltung oder Überschreitung der Richtwerte der TA Lärm im Hinblick auf die Eigenart der Geräusche an, kann die Verurteilung folglich nicht auf die Einhaltung dieser Richtwerte beschränkt werden, sondern muss in dem Tenor zum Ausdruck kommen, welche konkreten Lärmbelästigungen zu vermeiden sind. Denn selbst bei Einhaltung der Richtwerte kann eine wesentliche Beeinträchtigung vorliegen, die der Nachbar nicht hinnehmen muss (vgl. zu einer Ausnahme bei herangerückter Bebauung Senat, Urteil vom 6. Juli 2001 - V ZR 246/00, BGHZ 148, 261, 269).c) Daraus folgt allerdings noch nicht, dass die Klägerin gegen die Beklagte zu 1 einen auf § 1004 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 906 BGB gestützten Anspruch auf Unterlassung der Pferdehaltung in dem Offenstall hat. Das wäre nur der Fall, wenn feststünde, dass die Beklagte zu 1 die durch das Wiehern der Pferde und das Klopfen an die Wände der Boxen verursachte Lärmbelästigung der Klägerin nicht anders abstellen oder auf ein zumutbares und von ihr zu duldendes Maß zurückführen kann (vgl. Senat, Urteil vom 20. September 2019 - V ZR 218/18, BGHZ 223, 155 Rn. 6 mwN). Hiervon ist nicht auszugehen, denn das Berufungsgericht hält es nicht für von vornherein ausgeschlossen, dass die Beeinträchtigungen durch bestimmte Maßnahmen, wie etwa ein Polstern der Boxenwände, auf ein der Klägerin zumutbares Maß zurückgeführt werden können. Allerdings beruht diese Annahme auf der fehlerhaften Prämisse, dass mit der Einhaltung der Richtwerte der TA Lärm ein zumutbares Maß der Beeinträchtigungen erreicht sei. Weiterer Feststellungen hierzu bedarf es aber nicht, denn die Klägerin hat aus einem anderem Rechtsgrund einen Anspruch gegen die Beklagte auf Unterlassung der Pferdehaltung in dem Offenstall.2. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts hat die Klägerin aus § 1004 Abs. 1 Satz 1 analog i.V.m. § 823 Abs. 2 BGB und dem öffentlichrechtlichen Gebot der Rücksichtnahme einen Anspruch darauf, dass die Beklagte zu 1 die Haltung von Pferden in dem Offenstall auf ihrem Grundstück unterlässt.a) Im Ausgangspunkt noch zutreffend geht das Berufungsgericht davon aus, dass die Klägerin gegen die Beklagte zu 1 einen uneingeschränkten Anspruch auf Unterlassung hat, wenn die Pferdehaltung in dem Offenstall gegen das Gebot der Rücksichtnahme verstößt.aa) Nach der Rechtsprechung des Senats kann die Verletzung nachbarschützender Vorschriften des öffentlichen Baurechts einen (quasinegatorischen) verschuldensunabhängigen Unterlassungsanspruch des Nachbarn gemäß § 1004 Abs. 1 Satz 1 BGB analog i.V.m. § 823 Abs. 2 BGB begründen (vgl. Senat, Urteil vom 26. Februar 1993 - V ZR 74/92, BGHZ 122, 1, 6 ff.; zum quasinegatorischen Beseitigungs- und Schadensersatzanspruch Senat, Urteil vom 29. April 2011 - V ZR 174/10, NZM 2013, 244 Rn. 17; Urteil vom 13. Dezember 2019 - V ZR 152/18, ZfIR 2020, 338 Rn. 21 mwN). Zu den nachbarschützenden Normen des öffentlichen Baurechts zählt das Gebot der Rücksichtnahme (vgl. Senat, Urteil vom 26. Februar 1993 - V ZR 74/92, aaO S. 4), das in verschiedenen baurechtlichen Vorschriften eine gesetzliche Ausprägung gefunden hat, etwa in dem Begriff des "Einfügens" in § 34 Abs. 1 BauGB (vgl. Senat, Urteil vom 26. Februar 1993 - V ZR 74/92, aaO) oder in dem Begriff der "schädlichen Umwelteinwirkungen" in § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 BauGB (vgl. BVerwGE 159, 187 Rn. 11).bb) Liegt ein solcher Verstoß gegen eine nachbarschützende Norm vor, bedarf es für den quasinegatorischen Unterlassungsanspruch keiner über die Verletzung des Schutzgesetzes hinausgehenden Beeinträchtigung des Nachbarn. Denn Schutzgesetze im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB verlagern den Schutz des Nachbarn vor und knüpfen gerade nicht an einen Verletzungserfolg an (vgl. Senat, Urteil vom 26. Februar 1993 - V ZR 74/92, BGHZ 122, 1, 6; Urteil vom 13. Dezember 2019 - V ZR 152/18, ZfIR 2020, 338 Rn. 28). Insbesondere ist die Rechtswidrigkeit der Schutzgesetzverletzung im Fall von Immissionen nicht am Maßstab des § 906 BGB zu messen, weil dadurch die spezifische und abstrakte Regelungsfunktion der Schutznorm leerliefe (vgl. Senat, Urteil vom 26. Februar 1993 - V ZR 74/92, aaO S. 7). Der quasinegatorische Unterlassungsanspruch setzt somit nicht voraus, dass eine wesentliche Beeinträchtigung i.S.v. § 906 Abs. 1 BGB gegeben ist.b) Unzutreffend ist aber die Annahme des Berufungsgerichts, ein Verstoß der Beklagten zu 1 gegen das Rücksichtnahmegebot des öffentlichen Baurechts liege nicht vor.aa) Entgegen seiner Auffassung steht durch die Entscheidung des Verwaltungsgerichts über die auf Erteilung einer Baugenehmigung für den Offenstall gerichtete Klage der hiesigen Beklagten zu 1 mit Bindungswirkung für den vorliegenden Rechtsstreit fest, dass die Errichtung und die zweckgemäße Nutzung des Offenstalls im Verhältnis zu der Klägerin gegen das Gebot der Rücksichtnahme verstoßen.(1) Wie das Berufungsgericht im Ausgangspunkt richtig sieht, binden rechtskräftige Urteile der Verwaltungsgerichte nach § 121 Nr. 1 VwGO die Beteiligten, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist. Zu den Beteiligten zählen nach § 63 Nr. 3 VwGO die Beigeladenen, hier also die Klägerin, die in dem Verfahren der Beklagten zu 1 beigeladen war. Die materielle Rechtskraft des verwaltungsgerichtlichen Urteils bindet auch andere Gerichte, einschließlich der Zivilgerichte in einem nachfolgenden Zivilprozess (vgl. Senat, Urteil vom 7. Februar 1992 - V ZR 246/90, BGHZ 117, 159, 166; Urteil vom 17. Juni 1994 - V ZR 34/92, NJW-RR 1994, 1272, 1274; BVerwGE 100, 262, 273 f. mwN).(2) Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts beschränkt sich die Bindungswirkung eines Urteils, mit dem - wie hier - die auf die Verpflichtung der Behörde zum Erlass einer Baugenehmigung gerichtete Klage abgewiesen wird, aber nicht auf die Feststellung, dass der Kläger den Erlass der Baugenehmigung nicht verlangen kann. Vielmehr erwachsen bei einem klageabweisenden Urteil auch die tragenden Gründe in materielle Rechtskraft, da nur sie Aufschluss darüber geben, weshalb ein geltend gemachter Anspruch verneint (oder bejaht) wurde (BVerwGE 131, 346 Rn. 17 f. zu einer Anfechtungsklage; BVerwG, VIZ 1999, 413 zu einer Verpflichtungsklage; vgl. auch Senat, Urteil vom 7. Februar 1992 - V ZR 246/90, BGHZ 117, 159, 166). Die Rechtskraft eines Urteils, durch das die Klage auf Erteilung einer Baugenehmigung abgewiesen wurde, erstreckt sich daher auch auf die Feststellung der materiellen Baurechtswidrigkeit des Bauwerks (BVerwG, Buchholz 310 § 121 VwGO Nr. 33). Weist das Verwaltungsgericht die auf die Verpflichtung der Behörde zur Erteilung einer Baugenehmigung gerichtete Klage mit der - wie hier - tragenden Begründung ab, dass das Bauvorhaben materiell baurechtswidrig ist, weil es gegen das Gebot der Rücksichtnahme verstößt, steht folglich dieser Verstoß für einen nachfolgenden Zivilprozess unter denselben Beteiligten bzw. Parteien bindend fest. Die Nutzung eines solchen Bauwerks stellt gegenüber dem von dem öffentlichrechtlichen Gebot der Rücksichtnahme geschützten Nachbarn zivilrechtlich einen Verstoß gegen ein Schutzgesetz i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB dar, sodass der Nachbar einen Anspruch aus § 1004 Abs. 1 Satz 1 BGB analog auf Unterlassung der entsprechenden Nutzung - hier auf Unterlassung der Nutzung des Offenstalls durch das Einstellen von Pferden - hat.bb) Im Übrigen gibt die angefochtene Entscheidung Anlass darauf hinzuweisen, dass das Berufungsgericht bei fehlender Bindungswirkung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung selbst hätte prüfen müssen, ob die Errichtung des Offenstalls und das Einstellen von Pferden darin gegenüber der Klägerin gegen das öffentlichrechtliche Gebot der Rücksichtnahme verstößt. Hiervon war es nicht deshalb befreit, weil es sich um eine öffentlichrechtliche Frage handelt (vgl. Senat, Urteil vom 7. Februar 1992 - V ZR 246/90, BGHZ 117, 159, 166; Urteil vom 20. November 1992 - V ZR 82/91, BGHZ 120, 239, 246).3. Das angefochtene Urteil kann auch insoweit keinen Bestand haben, als das Berufungsgericht den Unterlassungsanspruch der Klägerin gegen die Beklagte zu 2 verneint hat. Es wendet hierbei die Grundsätze über die sekundäre Darlegungs- und Beweislast fehlerhaft an.a) Im Ausgangspunkt zutreffend geht das Berufungsgericht davon aus, dass die Klägerin den geltend gemachten Unterlassungsanspruch im Verhältnis zur Beklagten zu 2 allein auf § 1004 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 906 BGB stützen kann, nicht aber auf § 1004 Abs. 1 Satz 1 BGB analog i.V.m. § 823 Abs. 2 BGB, weil die Beklagte zu 2 weder den Offenstall errichtet hat noch Eigentümerin des Grundstücks ist, auf dem sich dieser befindet. Richtig ist auch, dass die Klägerin die Darlegungs- und Beweislast dafür trägt, dass die Beklagte zu 2 in der Vergangenheit Pferde in den Offenstall eingestellt hat. Denn nur dann wäre diese unmittelbare Handlungsstörerin (vgl. zu diesem Begriff Senat, Urteil vom 5. Juli 2019 - V ZR 96/18, ZfIR 2019, 798 Rn. 25), was - da eine Zustandsstörerhaftung nicht in Betracht kommt - Voraussetzung für den gegen die Beklagte zu 2 geltend gemachten Anspruch ist.b) Richtigerweise trifft - was das Berufungsgericht offengelassen hat - die Beklagte zu 2 eine sekundäre Darlegungslast hinsichtlich der Behauptung der Klägerin, sie (die Beklagte zu 2) habe Pferde in den Offenstall eingestellt.aa) Den Prozessgegner der primär darlegungsbelasteten Partei trifft in der Regel eine sekundäre Darlegungslast, wenn die primär darlegungsbelastete Partei keine nähere Kenntnis der maßgeblichen Umstände und auch keine Möglichkeit zur weiteren Sachverhaltsaufklärung hat, während dem Prozessgegner nähere Angaben dazu ohne weiteres möglich und zumutbar sind (Senat, Urteil vom 19. Juli 2019 - V ZR 255/17, NJW 2019, 3147 Rn. 49 mwN).bb) Diese Voraussetzungen sind hier gegeben. Die Klägerin kann lediglich beschreiben und ggf. durch Lichtbilder belegen, welche Pferde zu welchem Zeitpunkt in dem Offenstall eingestellt waren. Ob diese Pferde im Eigentum der Beklagten zu 1 oder der Beklagten zu 2 stehen bzw. standen, lässt sich auf diese Weise nicht darlegen oder gar beweisen.Diese Zuordnung kann auch nicht anhand der äußeren Abläufe erfolgen. Die Beklagte zu 1 ist ein einzelkaufmännisches Unternehmen ("A. D. als Inhaberin des Reiterhofs T. "), die Beklagte zu 2 ist die Reiterhof T. UG, deren alleinige Geschäftsführerin A. D. ist. Es besteht also Personenidentität hinsichtlich der einzig beteiligten natürlichen Person. Daher lässt sich aus dem Umstand, wer die Pferde in den Stall hinein und aus dem Stall heraus führt, wer sie füttert, putzt usw. nicht darauf schließen, ob das jeweilige Pferd im Eigentum der Beklagten zu 1 oder zu 2 steht. Die Beklagte zu 2 hingegen kann ohne weiteres angeben, welches ihre Pferde sind und wo diese in dem fraglichen Zeitraum eingestellt waren.c) Unzutreffend ist die Annahme des Berufungsgerichts, die Beklagte zu 2 habe ihrer sekundären Darlegungslast mit der Angabe genügt, sie habe keinen Bedarf an der Nutzung des Offenstalls, weil sie den Innenhof des Grundstücks angemietet habe; in den Offenstall seien lediglich die von der Beklagten zu 1 betreuten Pensionspferde eingestellt worden. Hiermit verkennt das Berufungsgericht die Anforderungen, die nach den Grundsätzen der sekundären Darlegungslast an den von der Beklagten zu 2 zur Unterbringung ihrer Pferde zu haltenden Vortrag zu stellen sind. Denn mit ihrer Angabe, sie habe keine Pferde in den Offenstall eingestellt, bestreitet die Beklagte zu 2 der Sache nach nur das Eigentum an den dort eingestellten Pferden, zu dem die Klägerin aber gerade nicht weiter vortragen und Beweis anbieten kann, die Beklagte zu 2 hingegen schon. Die Beklagte zu 2 wäre daher gehalten - und von dem Berufungsgericht dazu anzuhalten - gewesen, konkret dazu vorzutragen, sei es durch detaillierte Beschreibung oder Vorlage von Lichtbildern, welche Pferde in dem in von der Klägerin behaupteten Zeitraum der Nutzung des Offenstalls in ihrem Eigentum standen und wo diese untergestellt waren.III.1. Nach alledem ist das angefochtene Urteil aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO).2. Hinsichtlich der Berufung der Beklagten zu 1 kann der Senat in der Sache selbst entscheiden, weil die Sache zur Endentscheidung reif ist (§ 563 Abs. 3 ZPO).a) Die Klägerin hat gegen die Beklagte zu 1 aus § 1004 Abs. 1 Satz 1 analog i.V.m. § 823 Abs. 2 BGB den von dem Landgericht tenorierten Anspruch, die Haltung von Pferden in dem Offenstall zu unterlassen, da diese Nutzung des Stalls nach dem oben Gesagten gegen das öffentlichrechtliche Gebot der Rücksichtnahme und damit gegen ein Schutzgesetz i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB verstößt. Rechtsfehlerfrei bejaht das Berufungsgericht die für einen Unterlassungsanspruch nach § 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB erforderliche Wiederholungsgefahr. Die tatrichterliche Würdigung, ob eine Wiederholungsgefahr besteht, ist im Revisionsverfahren nur auf Rechtsfehler zu überprüfen (vgl. Senat, Urteil vom 14. Oktober 1994 - V ZR 76/93, NJW 1995, 132, 134; Urteil vom 30. Oktober 1998 - V ZR 64/98, BGHZ 140, 1, 10). Solche liegen nicht vor.aa) Zwar folgt die Wiederholungsgefahr, anders als bei einem Bauwerk, das als solches - unabhängig von seiner Nutzung - baurechtswidrig ist, nicht schon daraus, dass der Offenstall bislang nicht abgerissen wurde. Angesichts des mit der Nutzung des Offenstalls bereits erfolgten rechtswidrigen Eingriffs besteht nach ständiger Rechtsprechung des Senats aber eine tatsächliche Vermutung dafür, dass sich die Beeinträchtigung wiederholt (vgl. Senat, Urteil vom 30. Oktober 1998 - V ZR 64/98, aaO; Urteil vom 12. Dezember 2003 - V ZR 98/03, NJW 2004, 1035, 1036; Urteil vom 17. Dezember 2010 - V ZR 46/10, ZUM 2011, 333 Rn. 28; Urteil vom 21. September 2012 - V ZR 230/11, NJW 2012, 3781 Rn. 12; Urteil vom 18. Dezember 2015 - V ZR 160/14, NJW 2016, 863 Rn. 25).bb) Rechtsfehlerfrei sieht das Berufungsgericht darin, dass die Beklagte zu 1, nachdem ihr die Nutzung des Stalls durch gesonderten Bescheid behördlich untersagt und die Baurechtswidrigkeit gerichtlich festgestellt worden war, - nach ihrem Vortrag - seit dem Jahr 2016 keine Pferde mehr in dem Offenstall eingestellt hat, keinen Umstand, der es rechtfertigen würde, einen Wegfall der Wiederholungsgefahr anzunehmen. Selbst wenn die Beklagte zu 1 - wie sie im Revisionsverfahren geltend macht - zunächst von der Genehmigungsfreiheit des Stalls ausgegangen sein sollte, steht hierdurch nicht fest, dass sie den Stall aufgrund der zwischenzeitlich erlangten Kenntnis der Baurechtswidrigkeit künftig nicht mehr nutzen wird. Das Berufungsgericht stellt insoweit darauf ab, dass die Beklagte zu 1 den Stall zunächst weiter genutzt hat, obwohl sie jedenfalls mit Versagung der Baugenehmigung im Jahre 2013 davon ausgehen musste, dass sie hierzu nicht befugt ist. Diese tatrichterliche Würdigung ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.b) Die Berufung der Beklagten zu 1 gegen das Urteil des Landgerichts, das der Klage stattgegeben hat, war daher zurückzuweisen, allerdings mit der Maßgabe, dass die Beklagte zu 1 weder in der Hauptsache noch hinsichtlich der Kosten als Gesamtschuldnerin neben der Beklagten zu 2 verurteilt wird. Der Unterlassungsanspruch aus § 1004 i.V.m. § 906 oder § 823 Abs. 2 BGB richtet sich gegen jeden einzelnen Störer; diese schulden die Unterlassung nicht nur insgesamt einmal (vgl. § 421 Satz 1 BGB), sondern jeder für sich.3. Hinsichtlich der Berufung der Beklagten zu 2 war die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, weil noch weitere Feststellungen zu treffen sind (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Die Beklagte zu 2 wird im Rahmen ihrer sekundären Darlegungslast zunächst dazu vorzutragen haben, welche Pferde in dem von der Klägerin behaupteten Zeitraum der Nutzung des Offenstalls in ihrem Eigentum standen und wo diese untergestellt waren. Sollte sie dem nicht nachkommen, wäre als zugestanden anzusehen, dass sie eigene Pferde in den Offenstall eingestellt hat (vgl. Senat, Urteil vom 19. Juli 2019 - V ZR 255/17, NJW 2019, 3147 Rn. 56), sodass die Klage auch ihr gegenüber begründet wäre, wenn - was unter Berücksichtigung der Ausführungen des Senats hierzu (siehe oben 1.) zu prüfen wäre - die weiteren Voraussetzungen des auf § 1004 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 906 BGB gestützten Unterlassungsanspruchs vorliegen. Trägt sie hingegen entsprechend vor, ist es wiederum Sache der Klägerin, dem entgegenzutreten und das Einstellen von Pferden der Beklagten zu 2 in den Offenstall darzulegen und zu beweisen.IV.Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO.Stresemann Brückner Weinland Kazele Hamdorf Vorinstanzen:LG Halle, Entscheidung vom 28.09.2018 - 5 O 261/16 -OLG Naumburg, Entscheidung vom 17.04.2019 - 12 U 123/18 -
bundesgerichtshof
bgh_069-2021
30.03.2021
Urteil wegen der Ausfuhr von Waffen nach Mexiko weitgehend rechtskräftig Ausgabejahr 2021 Erscheinungsdatum 30.03.2021 Nr. 069/2021 Urteil vom 30. März 2021 - 3 StR 474/19 Das Landgericht Stuttgart hat zwei Angeklagte wegen bandenmäßiger Ausfuhr von Gütern aufgrund erschlichener Genehmigung nach dem Außenwirtschaftsgesetz in mehreren Fällen bzw. wegen Beihilfe hierzu zu Freiheitsstrafen verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Gegen die Einziehungsbeteiligte, die Heckler & Koch GmbH, hat es die Einziehung von insgesamt mehreren Millionen Euro angeordnet. Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen lieferte die Heckler & Koch GmbH in den Jahren 2005 bis 2007 mehrfach Waffen, insbesondere Maschinengewehre und Zubehör, an die zentrale Beschaffungsstelle des mexikanischen Verteidigungsministeriums. Die Ausfuhr der Waffen bedurfte der Genehmigung sowohl nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz als auch nach dem Außenwirtschaftsgesetz. In den von der Beschaffungsstelle abgegebenen Endverbleibserklärungen waren auch die einzelnen mexikanischen Bundesstaaten bezeichnet, an die die Waffen weiterverkauft werden sollten. Die Genehmigungen wurden jeweils im Vertrauen darauf erteilt, dass die Angaben zum Endverbleib der Waffen korrekt waren. Diese waren jedoch teilweise unrichtig. Das Landgericht hat die beiden Angeklagten wegen Verstoßes gegen das Außenwirtschaftsgesetz verurteilt, weil in den abgeurteilten Fällen die Genehmigungen durch das Bundesamt für Ausfuhrkontrolle erschlichen worden seien. Eine Strafbarkeit nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz hat es dagegen verneint, weil dieses Gesetz eine Strafbarkeit für die Ausfuhr aufgrund einer mit falschen Angaben erwirkten Genehmigung nicht vorsehe. Weitere Angeklagte hat es freigesprochen. Gegen das Urteil haben die Staatsanwaltschaft, die verurteilten Angeklagten sowie die Einziehungsbeteiligte Revision eingelegt. Die durch die Revisionen veranlasste Überprüfung des Urteils durch den 3. Strafsenat hat keinen Rechtsfehler ergeben. Das Landgericht hat auf der Grundlage der rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen insbesondere die Angeklagten zutreffend nach dem Außenwirtschaftsgesetz, nicht aber nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz verurteilt. Es hat auch die Voraussetzungen der Einziehung rechtsfehlerfrei bejaht und die Höhe des Einziehungsbetrages zutreffend bestimmt. Der Senat hat lediglich mit Blick auf eine erst nach der Hauptverhandlung bekannt gewordene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts betreffend die Einziehung bei verjährten Straftaten in einem Fall das Verfahren insoweit abgetrennt. Das Urteil ist somit weitgehend rechtskräftig. Vorinstanz: LG Stuttgart - 13 KLs 143 Js 38100/10 - Urteil vom 21. Februar 2019 Karlsruhe, den 30. März 2021 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Urteil des 3. Strafsenats vom 30.3.2021 - 3 StR 474/19 -
25.05.2021 · IWW-Abrufnummer 222558 Bundesgerichtshof: Urteil vom 30.03.2021 – 3 StR 474/19 1. Erteilte Genehmigungen nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz sind nicht deshalb strafrechtlich unbeachtlich, weil sie durch die Vorlage falscher amtlicher Endverbleibserklärungen erschlichen wurden. 2. Der Einziehung von Taterträgen bei einer juristischen Person gemäß § 73b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB nF steht nicht entgegen, dass deren Organwalter bei Erlangung des Vorteils gutgläubig waren. 3. Das bei der Bestimmung des Wertes des Erlangten zu beachtende Abzugsverbot (§ 73d Abs. 1 Satz 2 StGB nF) gilt auch für einen gutgläubigen Drittbegünstigten. Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Verhandlung vom 11. Februar 2021 in der Sitzung am 30. März 2021, an denen teilgenommen haben:Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof Prof. Dr. Schäfer,die Richterinnen am Bundesgerichtshof Dr. Spaniol, Wimmer,Richter am Bundesgerichtshof Dr. Anstötz,Richterin am Bundesgerichtshof Dr. Erbguthals beisitzende Richter,Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshofals Vertreter der Bundesanwaltschaft,Rechtsanwaltals Verteidiger des Angeklagten B. ,Rechtsanwalt - in der Verhandlungals Verteidiger des Angeklagten S. ,Rechtsanwalt ,Rechtsanwältinals Vertreter der Einziehungsbeteiligten,Justizamtsinspektorin - in der Verhandlung -,Justizfachangestellte - bei der Verkündungals Urkundsbeamtinnen der Geschäftsstelle,für Recht erkannt:Tenor:1. Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 21. Februar 2019 werden verworfen.Die Kosten des Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft und die den Angeklagten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse. Jeder Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.2. Die Entscheidung über die Revision der Einziehungsbeteiligten gegen die im vorbezeichneten Urteil angeordnete Einziehung des Wertes des aus Tat 1 der Urteilsgründe Erlangten in Höhe von 690.699 € sowie über die Kosten dieses Rechtsmittels bleibt vorbehalten.Die weitergehende Revision der Einziehungsbeteiligten wird verworfen.Gründe1Das Landgericht hat den Angeklagten S. wegen bandenmäßiger Ausfuhr von Gütern aufgrund erschlichener Genehmigung nach dem Außenwirtschaftsgesetz in zwei Fällen, davon in einem Fall in zwei tateinheitlichen Fällen, unter Einstellung zweier Vorwürfe wegen Verjährung und Freispruch im Übrigen zu der Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten verurteilt. Die Angeklagte B. hat es wegen Beihilfe zur bandenmäßigen Ausfuhr von Gütern aufgrund erschlichener Genehmigung nach dem Außenwirtschaftsgesetz in drei Fällen, davon in einem Fall in sechs tateinheitlichen Fällen sowie in einem Fall in drei tateinheitlichen Fällen, unter Freispruch im Übrigen zu der Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und fünf Monaten verurteilt. Die Vollstreckung beider Strafen hat es zur Bewährung ausgesetzt. Gegen die Einziehungsbeteiligte hat das Landgericht die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 3.730.044 € angeordnet. Weitere Angeklagte sind freigesprochen worden.2Gegen das Urteil haben die Staatsanwaltschaft, die Angeklagten S. und B. sowie die Einziehungsbeteiligte Revision eingelegt. Das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft, das vom Generalbundesanwalt vertreten wird, macht die Verletzung materiellen Rechts geltend. Auch die Angeklagten und die Einziehungsbeteiligte erheben die Sachrüge, der Angeklagte S. und die Einziehungsbeteiligte zudem Verfahrensrügen.3Die durch die Rechtsmittel veranlasste Überprüfung des Urteils hat keinen Rechtsfehler im Verfahren oder in der Sache aufgedeckt. Lediglich hinsichtlich der Einziehung des Wertes des Erlangten im Fall 1 war das Verfahren zur gesonderten Entscheidung abzutrennen. Damit reduziert sich der davon unabhängige Einziehungsbetrag wie aus dem Tenor ersichtlich.I.41. Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:5a) Die Einziehungsbeteiligte stellt in Deutschland Waffen her. Ab Mitte des Jahres 2005 belieferte sie die mexikanische Regierung insbesondere mit Maschinenpistolen und Sturmgewehren, mit denen die dortige Polizei ausgestattet werden sollte. Die Geschäftsbeziehung bestand ausschließlich zwischen der Einziehungsbeteiligten und einer Unterabteilung des mexikanischen Verteidigungsministeriums. Dieses übernahm über eine zentrale Beschaffungsstelle den Weiterverkauf an mexikanische Bundesstaaten.6Die zuständige Vertriebsabteilung der Einziehungsbeteiligten stellte jeweils beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (BMWi) die nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz erforderlichen Anträge, die einen Endverbleib der Waffen in Mexiko benannten. Lag die Genehmigung des BMWi vor, wurde ein Genehmigungsantrag beim Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) eingereicht und dabei die Unterabteilung des mexikanischen Verteidigungsministeriums als Empfänger aufgeführt. Den Anträgen waren amtliche Endverbleibserklärungen der mexikanischen Behörden beigefügt. Diese Erklärungen stellen eine elementare Genehmigungsvoraussetzung dar. Während sie üblicherweise ein Empfängerland bezeichnen, benannten die hiesigen Erklärungen einzelne mexikanische Bundesstaaten. Die amtlichen Endverbleibserklärungen sollten belegen, dass die Waffen nur an solche Bundesstaaten weiterverkauft werden, hinsichtlich derer aus Sicht des Auswärtigen Amtes Menschenrechtsverletzungen nicht zu erwarten waren. Entsprechend nannten die vorgelegten Erklärungen neben der Mitteilung, dass die gelieferten Waffen in Mexiko verbleiben und kein Reexport in andere Länder ohne Zustimmung der Bundesrepublik Deutschland erfolgen werde, die Bundesstaaten, für deren Polizeieinheiten die Waffen bestimmt waren. Im Vertrauen auf die Richtigkeit dieser Angaben wurden die Genehmigungen durch das BMWi und das BAFA erteilt. Die jeweiligen Genehmigungen entsprachen nach ihrem Wortlaut allerdings nur dem Inhalt der Anträge. Während die Genehmigungen des BAFA "Diverse Polizeieinheiten in Mexiko" als Endverwender benannten, enthielten die Genehmigungen des BMWi am Ende den Passus: "Bestandteil dieser Entscheidung ist die Angabe des Antragstellers, wonach die o.a. Kriegswaffen für den Endverbleib in Mexiko bestimmt sind". Nach der Bewertung des Landgerichts stellte die vorangegangene Benennung bestimmter mexikanischer Bundesstaaten als Endabnehmer der Waffen lediglich eine Voraussetzung für beide Genehmigungen dar; Inhalt der Genehmigung wurden sie nicht.7Tatsächlich waren die Angaben zu einzelnen Bundesstaaten in den Endverbleibserklärungen unrichtig. Die mexikanischen Behörden stellten diese auf Initiative von für die Einziehungsbeteiligte tätigen Personen beliebig unter Auslassung der Bundesstaaten aus, hinsichtlich derer Bedenken des Auswärtigen Amtes bestanden. Im Zeitraum von Mai 2006 bis Juni 2009 wurden in zwölf Fällen Waffen und Zubehörteile zum Gesamtkaufpreis von 3.730.044 € (netto) letztlich in solche mexikanischen Bundesstaaten geliefert, die in den vorangegangenen Endverbleibserklärungen bewusst nicht angegeben worden waren.8b) Der Angeklagte S. war vom 1. Dezember 2003 bis zum 28. Januar 2008 mit Prokura ausgestatteter Vertriebsleiter der Einziehungsbeteiligten und als solcher Vorgesetzter des für das Mexikogeschäft zuständigen Teamleiters. Diesem war die Angeklagte B. als weisungsgebundene Mitarbeiterin unmittelbar unterstellt. Spätestens seit 2006 war sie vollumfänglich in die Auftragsabwicklung der Mexikogeschäfte eingebunden und in diesem Zusammenhang Ansprechpartnerin eines bevollmächtigten Handelsvertreters, mit dem sie sich mehrmals wöchentlich insbesondere per E-Mail austauschte. Ihr Aufgabenbereich umfasste die Erstellung der Angebote, die Zusammenstellung der für die Genehmigungsbeantragung erforderlichen Unterlagen einschließlich der amtlichen Endverbleibserklärungen, deren Weiterleitung an die Exportkontrollstelle und die Koordinierung des Abrufs der Lieferungen sowie deren Versand. Schließlich überwachte sie die Abrechnungen der Lieferungen und die Provisionsabrechnungen des Handelsvertreters. Ein besonderes eigenes Interesse am Gelingen der Waffengeschäfte mit Mexiko hatte die Angeklagte nicht, die selbst keine wesentlichen eigenen Entscheidungen traf, sondern stets nach Vorgaben handelte.9Der Angeklagte S. rechnete spätestens ab dem 26. April 2006, die Angeklagte B. jedenfalls ab dem 9. Januar 2007 damit, dass die Endverbleibserklärungen hinsichtlich der Benennung einzelner Bundesstaaten unrichtig waren, was sie billigten. An diesen Tagen kam auch jeder für sich mit den beiden weiteren Beteiligten stillschweigend überein, in Zukunft eine unbestimmte Anzahl gleichgelagerter Ausfuhren aufgrund erschlichener Genehmigungen nach Mexiko in arbeitsteiligem Zusammenwirken durchzuführen. Sie wussten, dass die Genehmigungsbehörden den amtlichen Endverbleibserklärungen besonderes Vertrauen entgegenbrachten, gingen aber nicht davon aus, dass der Endverbleib in bestimmten mexikanischen Bundesstaaten Inhalt der jeweiligen Genehmigung durch die zuständigen deutschen Behörden wurde.10Die Angeklagte B. unterstützte jeweils aufgrund neuen Tatentschlusses durch ihre Tätigkeit als Sachbearbeiterin die mit erschlichenen Genehmigungen legitimierten Ausfuhren (Fälle 3 bis 5). Der Angeklagte S. schritt gegen das Vorgehen des Teamleiters und des Handelsvertreters nicht ein, obgleich ihm als Vertriebsleiter die Pflicht zur Verhinderung betriebsbezogener Verstöße gegen das Ausfuhrrecht durch nachgeordnete Vertriebsmitarbeiter oblag. Deshalb unterließ er es aufgrund jeweils neuen Tatentschlusses pflichtwidrig, die Ausfuhren in den Fällen 1, 3 und 4 durch Anweisung an die beiden ihm unterstellten Personen zu verhindern, obgleich ihm dies möglich war. Eine dauerhafte Einnahmequelle von einigem Umfang wollte sich weder die Angeklagte B. noch der Angeklagte S. verschaffen.11c) Im Einzelnen kam es auf dieser Grundlage zu folgenden Einzelgeschäften und Ausfuhren:12aa) Tat 1: Am 16. Juni 2005 wurde ein Genehmigungsantrag nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz beim BMWi in Bezug auf einen am 9. Juni 2005 geschlossenen Liefervertrag eingereicht. Obschon der Vertrag später storniert wurde, unterrichtete der bei der Einziehungsbeteiligten zuständige Teamleiter nach Rücksprache mit dem Angeklagten S. die Genehmigungsbehörde hiervon nicht. Diese erteilte im Dezember 2005 im Vertrauen auf die fortbestehende Rechtswirksamkeit der Endverbleibserklärung die Genehmigung nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz für die Ausfuhr nach Mexiko. Entsprechend erteilte das BAFA die Genehmigung nach dem Außenwirtschaftsgesetz. Erst danach schloss die Einziehungsbeteiligte neue Teilverträge über Sturmgewehre und exportierte diese ab Mai 2006 auf der Grundlage der bereits zuvor erteilten Genehmigungen. Der Angeklagte S. deckte als Vertriebsleiter in Kenntnis der Unwirksamkeit der vorgelegten Endverbleibserklärungen die Ausfuhren und schritt bewusst pflichtwidrig nicht ein. Der gesamte Umsatzerlös netto hinsichtlich der Lieferungen an bestimmte in den Endverbleibserklärungen ausgenommene mexikanische Bundesstaaten betrug nach Beschränkung des Verfahrens gemäß § 154a StPO auf zwei Teillieferungen 690.699 €.13bb) Tat 2: Am 3. Mai 2006 stellte die Einziehungsbeteiligte nach Abschluss eines weiteren Vertrages mit den mexikanischen Behörden beim BMWi einen Antrag nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz auf Genehmigung der Ausfuhr von 370 Sturmgewehren. Aufgrund von einer losgelöst vom tatsächlichen Bedarf beliebig abgegebenen Endverbleibserklärung genehmigte das BMWi am 20. Februar 2007 die Ausfuhr entsprechend dem Kriegswaffenkontrollgesetz nach Mexiko. Das BAFA, das im vorliegenden Fall keine Erklärung benötigte, sondern nur eine Komplementärgenehmigung zur Genehmigung nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz erteilte, hatte vom Inhalt der Erklärung keine Kenntnis.14cc) Tat 3: Im Juli 2006 schloss die Einziehungsbeteiligte einen Vertrag über die Lieferung von Maschinenpistolen, Magazinen und weiterem Zubehör. Am 1. August 2006 wurde unter Beifügung einer amtlichen Endverbleibserklärung der Genehmigungsantrag nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz beim BMWi eingereicht. Nach zwischenzeitlichen Irritationen entwickelten im Januar 2007 der Teamleiter und der Handelsvertreter unter Einbindung der Angeklagten B. im Vertrauen auf die Rückendeckung durch den Angeklagten S. den Plan, dem mexikanischen Vertragspartner vorzugeben, welche Bundesstaaten positiv zu benennen seien, die beim Auswärtigen Amt auf keine Bedenken stießen. Unter Vorlage einer entsprechenden Erklärung vom 12. Januar 2007 erweiterte die Einziehungsbeteiligte ihren ursprünglichen Antrag. Im Vertrauen auf die Richtigkeit der Angaben zum beabsichtigten Endverbleib erteilte das BMWi am 30. März 2007 hinsichtlich sämtlicher beabsichtigter Lieferungen die Genehmigung. Das BAFA, dem die letzte Fassung der Endverbleibserklärung vorgelegt worden war, genehmigte am 24. April 2007 ebenfalls die Ausfuhr, die im Mai 2007 mit wissentlicher Unterstützung der Angeklagten B. erfolgte und die der Angeklagte S. deckte.15dd) Tat 4: Am 30. Mai 2007 schloss die Einziehungsbeteiligte einen weiteren Vertrag über die Lieferung von Sturmgewehren und Maschinenpistolen. Am 25. Juni 2007 wurde beim BMWi unter Beifügung der amtlichen Endverbleibserklärung, wonach der Endverbleib in "unauffälligen" Bundesstaaten bestätigt wurde, ein Genehmigungsantrag gestellt. Am 21. September 2007 erteilte das BMWi die Genehmigung nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz. Im Vertrauen auf die Richtigkeit der Angaben zum beabsichtigten Endverbleib genehmigte auch das BAFA am 31. Oktober 2007 das Geschäft. Zwischen November 2007 und April 2009 wurden in sechs Teillieferungen die Sturmgewehre mit Unterstützung der Angeklagten B. ausgeführt. Der Angeklagte S. deckte bis zu seinem Ausscheiden die beiden Teilausfuhren im November 2007 und Januar 2008 in seiner Funktion als Vertriebsleiter.16ee) Tat 5: Nachdem am 19. März 2008 ein neuer Vertrag über die Lieferung von Sturmgewehren abgeschlossen worden war, reichte die Einziehungsbeteiligte am 13. Mai 2008 einen Antrag beim BMWi auf entsprechende Erweiterung der bereits erteilten Genehmigung vom 21. September 2007 (oben Tat 4) ein. Vorgelegt wurde eine Endverbleibserklärung vom 26. April 2008, wonach die Waffen für den Endverbleib in explizit aufgezählten Bundesstaaten bestimmt seien. Am 18. Juni 2008 erteilte das BMWi die Genehmigung nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz, am 18. Juli 2008 das BAFA, dem die gleiche Endverbleibserklärung vorgelegt worden war, diejenige nach dem Außenwirtschaftsgesetz. Zwischen Mai 2009 und Juni 2009 wurden die Sturmgewehre in drei Teillieferungen mit Unterstützung der Angeklagten B. ausgeführt.172. In rechtlicher Hinsicht ist das Landgericht von folgender Bewertung ausgegangen:18Das Verhalten der Angeklagten stelle sich in den zur Verurteilung führenden Fällen - hinsichtlich des Angeklagten S. in den Fällen 3 und 4, hinsichtlich der Angeklagten B. in den Fällen 3 bis 5 unter Anwendung von § 18 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 7 Nr. 2, Abs. 9 AWG in der Fassung vom 6. Juni 2013 als das im Vergleich zu § 34 Abs. 6 Nr. 2 AWG aF im Hinblick auf den günstigeren Strafrahmen mildere Gesetz (§ 2 Abs. 3 StGB) - als Ausfuhr von Gütern aufgrund erschlichener Genehmigung nach dem Außenwirtschaftsgesetz dar. Der Angeklagte S. habe sich an den Straftaten durch Unterlassen beteiligt, da er aufgrund seiner aus der Funktion als Betriebsleiter herzuleitenden Garantenpflicht zum Einschreiten gegen die unternehmensbezogenen Straftaten des Teamleiters und der Angeklagten B. , die ihm gegenüber weisungsgebunden waren, verpflichtet gewesen sei. Die Angeklagte B. sei als Gehilfin zu bestrafen.19Eine Strafbarkeit nach § 22a Abs. 1 Nr. 3 und 4 KrWaffKG sei dagegen nicht gegeben, weil der Endverbleib in einzelnen mexikanischen Bundesstaaten nicht Inhalt der Genehmigungen gewesen sei.20Tat 1 sei verjährt, so dass das Verfahren gegen den Angeklagten S. insoweit wegen eines Verfahrenshindernisses einzustellen sei. Dagegen sei die Angeklagte B. von diesem Vorwurf aus tatsächlichen Gründen freizusprechen, da sie zum Zeitpunkt dieser Tat noch keine Kenntnis vom Vorgehen des vormals mitbeschuldigten Teamleiters und des gesondert verfolgten Handelsvertreters gehabt habe. In Bezug auf Tat 2 seien beide Angeklagte aus tatsächlichen Gründen freizusprechen; denn in diesem Fall sei die Genehmigung nach dem Außenwirtschaftsgesetz als Komplementärgenehmigung zu der Genehmigung nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz unabhängig von der Vorlage einer unrichtigen Endverbleibserklärung und damit nicht aufgrund unrichtiger Angaben zum Endverbleib erteilt worden.II.211. Die Revision der Staatsanwaltschaft:22Die Staatsanwaltschaft erstrebt mit ihrer vom Generalbundesanwalt vertretenen, wirksam auf die Fälle 2 bis 5 beschränkten Revision eine Verurteilung beider Angeklagter in den Fällen 2 bis 4, in Fall 5 allein der Angeklagten B. wegen eines - bezüglich der Fälle 3 bis 5 tateinheitlichen - Verstoßes gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.23a) Nach § 22a Abs. 1 Nr. 4 Variante 2 KrWaffKG wird bestraft, wer Kriegswaffen ausführt, ohne dass die hierzu erforderliche Beförderung genehmigt ist. Da es sich bei den verfahrensgegenständlichen Waffen und Zubehörteilen um Kriegswaffen im Sinne des § 1 Abs. 1 KrWaffKG i.V.m. Nr. 29 Buchst. b, c Kriegswaffenliste handelte und diese von der Bundesrepublik Deutschland nach Mexiko und damit in ein fremdes Hoheitsgebiet verbracht und somit ausgeführt wurden (vgl. Wolffgang/Simonsen/Pottmeyer, AWR-Kommentar, 65. EL, § 3 KrWaffKG Rn. 32), bedurfte der Export einer Genehmigung nach § 1 Abs. 1, § 3 Abs. 1 und 3 KrWaffKG. Diese lag hier vor.24b) Die Ausfuhren waren von den jeweiligen Genehmigungen des BMWi gedeckt. Die Bewertung der Strafkammer, wonach die unrichtigen, den Endverbleib in bestimmten mexikanischen Bundesländern betreffenden Erklärungen nicht Inhalt der Genehmigungen waren und gegen deren Vorgaben somit auch in den Fällen nicht verstoßen wurde, in denen die Waffen faktisch für andere Bundesstaaten bestimmt waren, unterliegt keiner revisionsgerichtlichen Beanstandung.25aa) Der Inhalt eines Verwaltungsaktes ist vom Tatgericht festzustellen. Das Revisionsgericht kann dessen Auslegung nur darauf überprüfen, ob dieser allgemeine Erfahrungssätze, Denkgesetze oder verbindliche Auslegungsregeln verletzt hat. Eine eigene Wertung steht dem Revisionsgericht nicht zu (BGH, Beschluss vom 12. April 1983 - 5 StR 513/82, BGHSt 31, 314, 315 f.; MeyerGoßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 337 Rn. 32).26bb) Die Überprüfung der Auslegung durch das Landgericht hat in diesem Sinne keinen Rechtsfehler ergeben. Insbesondere hat es die anzuwendenden Auslegungsregeln beachtet.27(1) Der Regelungsgehalt einer Genehmigung, die einen Verwaltungsakt darstellt, ist entsprechend §§ 133, 157 BGB durch Auslegung zu ermitteln. Damit ist der erklärte Wille der Behörde maßgebend, wie ihn der Empfänger bei objektiver Würdigung nach Treu und Glauben verstehen musste, wobei Erwägungen und Überlegungen, die in der Entscheidung keinen erkennbaren Niederschlag gefunden haben, außer Betracht bleiben. Bei der Ermittlung dieses objektiven Erklärungswertes ist mithin vom Wortlaut der Erklärung auszugehen und deren objektiver Gehalt unter Berücksichtigung des Empfängerhorizontes zu bestimmen. Hierzu sind alle dem Empfänger bekannten oder erkennbaren, dem Erlass des Verwaltungsaktes vorausgegangenen Umstände sowie die Begründung des Verwaltungsaktes heranzuziehen (vgl. BVerwG, Urteile vom 22. Oktober 2015 - 7 C 15.13, NVwZ 2016, 308 Rn. 33 f.; vom 16. Oktober 2013 - 8 C 21.12, BVerwGE 148, 146 Rn. 14; vom 15. Dezember 1989 - 7 C 35.87, BVerwGE 84, 220, 229; MüKoStGB/Schlehofer, 4. Aufl., Vor § 32 Rn. 240).28(2) Diesem Maßstab wird die vom Landgericht vorgenommene Auslegung gerecht, dass der in den amtlichen Erklärungen zugesicherte Endverbleib in bestimmten mexikanischen Bundesstaaten nicht zum Inhalt der Genehmigung geworden sei. Obschon die Strafkammer nicht ausdrücklich die für die Auslegung entscheidenden §§ 133, 157 BGB benannt hat, hat sie diese Regeln in der Sache erkennbar bei ihrer Auslegung berücksichtigt.29Sie ist zunächst vom Wortlaut der Genehmigung ausgegangen. Dieser enthält eine sogenannte Endverbleibsklausel, wonach der Endverbleib in Mexiko Inhalt der Genehmigung sein soll. Die Strafkammer hat rechtsfehlerfrei darauf verwiesen, dass diese Klausel ausdrücklich lediglich Mexiko, nicht die einzelnen Bundesstaaten als Ort des zugesagten Endverbleibs benennt. Den Anträgen, deren Inhalt unverändert in die Genehmigungen übernommen wurde, waren die amtlichen Endververbleibserklärungen bezüglich bestimmter Bundesstaaten zwar als Anlage beigefügt; nach der nicht zu beanstandenden Bewertung der Strafkammer enthielten die Anträge selbst jedoch keine Beschränkung des innerstaatlichen Endverbleibs.30Daneben hat das Landgericht bei seiner Würdigung den festgestellten Ablauf des Genehmigungsverfahrens, insbesondere die Genehmigungsanträge, den Schriftverkehr, die Endverbleibserklärungen und die Angaben der Vertreter der beteiligten Behörden für die Auslegung herangezogen. Es hat sich im Rahmen seiner Beweiswürdigung ausführlich mit dem erklärten Willen der Genehmigenden auseinandergesetzt. Das Ergebnis seiner Erwägungen, wonach die bestimmte Bundesstaaten bezeichnenden Endverbleibserklärungen - durch Vorlage der erforderlichen amtlichen Schreiben - Voraussetzung für eine Genehmigung waren, jedoch nicht zu deren Inhalt geworden sind, ist rechtsfehlerfrei.31Soweit die Revision geltend macht, das Landgericht habe die Prüfung versäumt, wie der Empfänger den erklärten Willen bei objektiver Würdigung verstehen konnte, da der Zusatz "Bestandteil dieser Entscheidung ist die Angabe des Antragstellers, wonach die o.a. Kriegswaffen für den Endverbleib in Mexiko bestimmt sind" eine Bezugnahme auf die Antragsunterlagen enthalte, die mit den falschen Erklärungen den Verbleib in Mexiko auf einzelne dortige Bundesstaaten spezifiziere, besteht kein durchgreifender Auslegungsfehler. Nach der nicht zu beanstandenden Interpretation der Genehmigung war ihr objektiver Inhalt wie geschehen zu verstehen. Am objektiven Erklärungsinhalt der Genehmigung ändert allein das Wissen der Genehmigungsempfänger nichts, dass die beigefügten Endverbleibserklärungen, in denen als Empfänger nicht Mexiko als Gesamtstaat, sondern einzelne Bundesstaaten genannt wurden, für die Genehmigungsbehörden von Bedeutung waren und deshalb auch verlangt wurden. Insbesondere ist hieraus nicht zu schließen, dass der Inhalt der Endverbleibserklärungen aus Sicht der Genehmigungsadressaten Eingang in die Genehmigung gefunden habe. Vielmehr ist das Landgericht vertretbar davon ausgegangen, dass die Empfänger die Genehmigung nach ihrem objektiven Gehalt verstanden, aber - wie hinsichtlich der Genehmigungen nach dem Außenwirtschaftsgesetz - die Mängel in der Formulierung der Endverbleibserklärung genutzt haben, sich eine genehmigte Ausfuhr zu erschleichen.32Da mithin nach der Auslegung durch die Strafkammer eine Beschränkung auf den Endverbleib in einzelnen Bundesstaaten nicht Inhalt der Genehmigung geworden ist, kann offenbleiben, ob es rechtlich überhaupt zulässig gewesen wäre, eine solche Klausel zum Inhalt der Genehmigung zu machen.33c) Die erteilten Genehmigungen nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz entfallen nicht dadurch, dass sie durch die Vorlage falscher amtlicher Endverbleibserklärungen erschlichen wurden.34Indem § 22a Abs. 1 Nr. 4 KrWaffKG an eine Genehmigung anknüpft, ist die Vorschrift verwaltungsaktsakzessorisch ausgestaltet (vgl. GJW/Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Aufl., Vor §§ 32-35 StGB Rn. 62; Pottmeyer, Kriegswaffenkontrollgesetz, 2. Aufl., § 22a Rn. 12 f.). Verwaltungsrechtlich führt der Umstand, dass der Antragsteller etwa durch unrichtige oder unvollständige Angaben eine Genehmigung erschleicht, zwar zur Rechtswidrigkeit, nicht aber zur Nichtigkeit der Genehmigung (s. § 44 VwVfG). Diese liegt bis zur etwaigen Rücknahme oder zum Widerruf vor (vgl. §§ 48 f. VwVfG). Der Inhaber einer Genehmigung, der von dieser Gebrauch macht, handelt nicht ohne eine solche. Dies ist jedenfalls im vorliegenden Fall auch für die strafrechtliche Bewertung entscheidend. Insoweit gilt:35aa) In der strafrechtlichen Literatur und teilweise in der Rechtsprechung wird die Auffassung vertreten, dass bei "anstößig erlangten Genehmigungen" (vgl. Wimmer, JZ 1993, 67, 69) nach dem Gedanken des Rechtsmissbrauchs ein Handeln "ohne Genehmigung" anzunehmen sei (vgl. zum Meinungsstand LK/Rönnau, StGB, 13. Aufl., Vor §§ 32 ff. Rn. 280 ff.; MüKoStGB/Heinrich, 3. Aufl., § 22a KrWaffG Rn. 32 ff.; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, StGB, 30. Aufl., Vor §§ 32 ff. Rn. 63 ff. jeweils mwN). Danach soll die Verwaltungsakzessorietät in den Fällen einer rechtsmissbräuchlich erlangten Genehmigung durchbrochen sein (vgl. NK-StGB/Paeffgen/Zabel, 5. Aufl., Vor § 32 Rn. 204; Rudolphi, NStZ 1994, 433, 436; Schall, NJW 1990, 1263, 1267; vgl. auch BGH, Urteil vom 3. November 1993 - 2 StR 321/93, BGHSt 39, 381, 387 im Falle kollusiven Zusammenwirkens). Dies stelle jedenfalls dann keinen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG dar, wenn die betreffende Genehmigung nicht bereits die Tatbestandsmäßigkeit des Verhaltens ausschließe, sondern lediglich als Rechtfertigungsgrund anzusehen sei, weil sie ein Verhalten erlaube, das gegen ein sogenanntes repressives Verbot mit Befreiungsvorbehalt verstoße (vgl. LK/Rönnau, StGB, 13. Aufl., Vor §§ 32 ff. Rn. 274; Pottmeyer, Kriegswaffenkontrollgesetz, 2. Aufl., § 22a Rn. 9; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, StGB, 30. Aufl., Vor §§ 32 ff. Rn. 61). Für Rechtfertigungsgründe gelte Art. 103 Abs. 2 GG nämlich nur eingeschränkt, so dass der Gedanke des Rechtsmissbrauchs zur Begrenzung der rechtfertigenden Wirkung einer Genehmigung herangezogen werden könne (vgl. unter Hinweis zur missbräuchlichen Ausnutzung einer Notwehrlage GJW/Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Aufl., Vor §§ 32-35 Rn. 63 ff.; LK/Rönnau, StGB, 13. Aufl., Vor §§ 32 ff. Rn. 274, 280 ff.; Pottmeyer, Kriegswaffenkontrollgesetz, 2. Aufl., § 22a Rn. 24; Wimmer, JZ 1993, 67, 69; gegen diese Unterscheidung MüKoStGB/Schlehofer, 4. Aufl., Vor § 32 Rn. 236).36bb) Es bedarf hier keiner Entscheidung, ob der in Rede stehende Umgang mit Kriegswaffen einem präventiven Verbot mit Erlaubnisvorbehalt unterliegt mit der zwingenden Folge, dass die Genehmigung den Tatbestand entfallen lässt (vgl. Achenbach/Ransiek/Rönnau/Beckemper, Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 5. Aufl., 4. Teil 4. Kap. Rn. 31; Erbs/Kohlhaas/Lampe, Strafrechtliche Nebengesetze, 224. EL, § 22a KrWaffG Rn. 2; Esser/Rübenstahl/Saliger/Tsambikakis/Nestler, Wirtschaftsstrafrecht, § 22a KrWaffG Rn. 7; Holthausen, NStZ-RR 1998, 193, 201; Leitner/Rosenau/Ahlbrecht, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, § 22a KWKG Rn. 5; MüKoStGB/Heinrich, 3. Aufl., § 22a KrWaffG Rn. 28 mwN; Pottmeyer, Kriegswaffenkontrollgesetz, 2. Aufl., § 22a Rn. 11; Steindorf/Heinrich, Waffenrecht, 10. Aufl., § 22a KrWaffG Rn. 1; vgl. auch BGH, Urteil vom 23. Juli 2019 - 1 StR 433/18, NStZ-RR 2019, 388, 390), oder aber einem repressiven Verbot mit Befreiungsvorbehalt mit einer lediglich rechtfertigenden Wirkung der Genehmigung (vgl. BGH, Urteil vom 22. Juli 1993 - 4 StR 322/93, NJW 1994, 61, 62; ebenso Bieneck/Pathe/Wagner, Handbuch des Außenwirtschaftsrechts, 2. Aufl., § 34 Rn. 2 f., § 44 Rn. 43; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, StGB, 30. Aufl., Vor §§ 32 ff. Rn. 61; BT-Drucks. 10/4275 S. 5). Ebenso kann offenbleiben, ob Art. 103 Abs. 2 GG ein täterbelastendes Abweichen vom positivierten Strafrecht im Bereich der Rechtfertigungsgründe überhaupt zulässt (vgl. LK/Rönnau, StGB, 13. Aufl., Vor §§ 32 ff. Rn. 285; Matt/Renzikowski/Engländer, StGB, 2. Aufl., Vor § 32 Rn. 45; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, StGB, 30. Aufl., Vor §§ 32 ff. Rn. 25, 63b; GJW/Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Aufl., Vor §§ 32-35 Rn. 72). Denn ungeachtet der Rechtsnatur des Verbots lässt jedenfalls im vorliegenden Fall die rechtsmissbräuchliche Erlangung der Genehmigung die Strafbarkeit nicht entfallen.37Hierfür spricht entscheidend, dass der Gesetzgeber in mehreren Vorschriften (vgl. insbesondere § 330d Abs. 1 Nr. 5 StGB) die erschlichene Genehmigung ausdrücklich dem Fehlen einer Genehmigung gleichgestellt hat. Einer solchen Regelung bedürfte es nicht, wenn das rechtsmissbräuchliche Erlangen einer Genehmigung dieser generell ihre rechtfertigende Wirkung nähme. Gerade in Fällen der Ausfuhr von Kriegswaffen, für die Genehmigungen sowohl nach dem Außenwirtschaftsgesetz als auch nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz vorliegen müssen, stellt zwar § 18 Abs. 9 AWG (§ 34 Abs. 8 AWG aF), nicht aber § 22a KrWaffKG das Handeln aufgrund einer erschlichenen Genehmigung dem genehmigungslosen gleich. Dass der Gesetzgeber trotz der seit Jahren wissenschaftlich geführten Diskussionen eine gleichstellende Regelung im Kriegswaffenkontrollgesetz nicht geschaffen hat, steht einer Abweichung von der strengen Verwaltungsakzessorietät entgegen. Vielmehr liefe die Annahme, auch das Handeln aufgrund einer erschlichenen Genehmigung erfülle den Tatbestand des § 22a KrWaffKG, auf eine gegen das Analogieverbot nach Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB verstoßende rechtsanaloge Anwendung der § 17 Abs. 6, § 18 Abs. 9 AWG hinaus. Eine mögliche Regelungslücke zu schließen, um den Gleichlauf mit der Regelung des § 18 Abs. 9 AWG (§ 34 Abs. 8 AWG aF) herzustellen, wäre vielmehr Aufgabe des Gesetzgebers (vgl. Achenbach/Ransiek/Rönnau/Beckemper, Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 5. Aufl., 4. Teil 4. Kap. Rn. 34; MüKoStGB/Heinrich, 3. Aufl., § 22a KrWaffG Rn. 34; Steindorf/Heinrich, Waffenrecht, 10. Aufl., § 22a KrWaffG Rn. 1; Weber, FS Hirsch, 1999, S. 795, 800; Wimmer, JZ 1993, 67, 70).38d) Damit haben sich beide Angeklagte in den Fällen 3 und 4, darüber hinaus der Angeklagte S. in Fall 1 und die Angeklagte B. in Fall 5 lediglich nach § 18 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 7 Nr. 2, Abs. 9 AWG (§ 34 Abs. 8 AWG aF) beziehungsweise der Beihilfe hierzu, nicht aber nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz strafbar gemacht. Im Fall 2 hat das Landgericht die Angeklagten deshalb zurecht freigesprochen, da die Genehmigung nach dem Außenwirtschaftsgesetz ohne nähere Überprüfung als Komplementärgenehmigung zu der Genehmigung nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz erteilt wurde, so dass es auf die Vorlage der - falschen - Endverbleibserklärung nicht ankam und die Genehmigung nach dem Außenwirtschaftsgesetz nicht erschlichen war.392. Die Revision des Angeklagten S. :40Die Revision des Angeklagten S. ist unzulässig, soweit sie sich gegen die Verfahrenseinstellung im Fall 1 wendet. Im Übrigen erweist sie sich insgesamt als unbegründet.41a) Der Angeklagte S. hat - ungeachtet des Umstandes, dass das Verfahren gegen ihn im Fall 1 wegen Verjährung eingestellt und er im Fall 2 freigesprochen worden ist - das Urteil in vollem Umfang angefochten. Allerdings ist das Rechtsmittel dahin auszulegen, dass der Freispruch vom Revisionsangriff ausgenommen ist (§ 300 StPO). Der Angeklagte ist insoweit nicht beschwert. Ausführungen zu diesem Fall enthält die umfangreiche Antragsschrift nicht.42Soweit die Revision auch die Verfahrenseinstellung in Fall 1 umfasst, kommt dagegen eine solche Auslegung nicht in Betracht, denn der Angeklagte wendet sich mit der Sachrüge gegen seine in diesem Fall festgestellte Täterschaft. Doch ist die Revision insoweit unzulässig, weil es an einer Beschwer des Angeklagten fehlt:43Wird das Verfahren wegen einer fehlenden Verfahrensvoraussetzung oder eines nicht behebbaren Verfahrenshindernisses endgültig eingestellt, so ist der Angeklagte grundsätzlich nicht beschwert (vgl. BGH, Urteil vom 4. Mai 2011 - 2 StR 524/10, BGHR StPO § 333 Beschwer 4 Rn. 3 mwN). Eine Ausnahme besteht nur im Falle der Freispruchreife, da die freisprechende Sachentscheidung Vorrang vor der Einstellung hat. Der Angeklagte ist daher beschwert, wenn das Gericht das Verfahren einstellt, obwohl es nach der bestehenden Verfahrenslage ohne weiteres auf Freispruch hätte erkennen können (s. BGH, Beschluss vom 5. Juni 2007 - 5 StR 383/06, NJW 2007, 3010, 3011; LR/Jesse, StPO, 26. Aufl., Vor § 296 Rn. 69; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., Vor § 296 Rn. 14, § 260 Rn. 44 mwN). Eine solche Konstellation liegt indes nicht vor.44b) Im Übrigen bleibt das Rechtsmittel des Angeklagten S. insgesamt erfolglos.45aa) Die Verfahrensrügen dringen aus den in der Zuschrift des Generalbundesanwalts genannten Gründen nicht durch.46bb) Die Überprüfung der Beweiswürdigung aufgrund der Sachrüge hat, wie vom Generalbundesanwalt näher dargelegt, keine Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.47cc) Ebenso wenig greifen die Einwendungen der Revision gegen die rechtliche Bewertung des Tatgeschehens durch.48Auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen hatte der Angeklagte S. als gegenüber dem ehemals mitbeschuldigten Teamleiter und der Angeklagten B. weisungsbefugter Vertriebsleiter eine Garantenpflicht im Sinne des § 13 Abs. 1 StGB, die Lieferung der Waffen zu unterbinden, die aufgrund der durch Täuschung erlangten Genehmigungen autorisiert war. Entgegen der von der Revision vertretenen Ansicht, die Genehmigungen seien nicht erschlichen worden, weil der Endverbleib in einzelnen mexikanischen Bundesstaaten nicht Inhalt der Genehmigung geworden sei, setzt ein Erschleichen im Sinne des § 18 Abs. 9 AWG gerade voraus, dass die Umstände, über die getäuscht wurde, nicht Genehmigungsinhalt geworden sind. Wären sie Inhalt der Genehmigung, würde der Täter, der sie missachtet, ohne Genehmigung im Sinne des § 18 Abs. 1 AWG handeln (vgl. Stein/Thoms, AWG, § 17 Rn. 50).49Der täterschaftlichen Verurteilung des Angeklagten S. wegen Erschleichens der Genehmigung steht nicht entgegen, dass er lediglich mit bedingtem Vorsatz handelte. Zwar wird in der Literatur vertreten, dass das Tatbestandsmerkmal des Erschleichens den direkten Vorsatz einer Täuschung erfordere (vgl. MüKoStGB/Wagner, 3. Aufl., § 17 AWG Rn. 58; Stein/Thoms, AWG, § 17 Rn. 46; Wabnitz/Janovsky/Schmitt/Hoffmann, Handbuch Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 5. Aufl., 24. Kap. Rn. 150). Dies folge aus dem Begriff des Erschleichens, der sprachlich ein zielgerichtetes Handeln voraussetze (vgl. Bieneck, Handbuch des Außenwirtschaftsrechts, 2. Aufl., § 25 Rn. 27). Ob dem zu folgen ist, kann indes offenbleiben. Denn der frühere mitbeschuldigte Täter erschlich nach den Feststellungen die Genehmigung in diesem Sinne zielgerichtet. Für den Angeklagten, der deswegen verurteilt worden ist, weil er die Nutzung einer so erlangten Genehmigung nicht unterband, genügt, dass er im Sinne eines bedingten Vorsatzes mit diesem Umstand rechnete und diesen billigte (s. Bieneck, Handbuch des Außenwirtschaftsrechts, 2. Aufl., § 25 Rn. 27; Wolffgang/Simonsen/Morweiser, AWR-Kommentar, 56. EL Vor §§ 17, 18 AWG Rn. 148; aA MüKo StGB/Wagner, 3. Aufl., § 17 AWG Rn. 59; Stein/Thoms, AWG, § 17 Rn. 46).50Schließlich war der Angeklagte auf der Grundlage der rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen wegen bandenmäßiger Begehung zu bestrafen. Auch ein Unterlassungstäter kann Mitglied einer Bande sein. Ebenso können mehrere Täter in einem Unternehmen eine Bande bilden (vgl. Stein/Thoms, AWG, § 17 Rn. 34; Wolffgang/Simonsen/Pottmeyer, AWR-Kommentar, 56. EL, Vor §§ 17, 18 AWG Rn. 117).513. Die Revision der Angeklagten B. :52Die Revision der Angeklagten B. ist unbegründet. Die aufgrund ihrer Sachrüge veranlasste materiell-rechtliche Überprüfung des Urteils hat keinen Rechtsfehler ergeben. Insbesondere sind die Voraussetzungen einer Beihilfestrafbarkeit erfüllt (vgl. dazu auch BGH, Urteil vom 15. Mai 2018 - 1 StR 159/17, juris Rn. 183 mwN). Hinsichtlich der für das Tatbestandsmerkmal des Erschleichens vorausgesetzten Vorsatzform und der bandenmäßigen Begehungsweise mehrerer Täter innerhalb eines Unternehmens gerade mit Blick auf AWG-Verstöße gelten die zuvor dargelegten Erwägungen.534. Die Revision der Einziehungsbeteiligten:54Die Revision der Einziehungsbeteiligten führt zur Abtrennung des Verfahrens, soweit das Landgericht das aus Tat 1 Erlangte eingezogen hat. Im Übrigen erweist sich das Rechtsmittel auf die insoweit allein erhobene Sachrüge als unbegründet.55a) Die Entscheidung über die Einziehung des in Fall 1 Erlangten bleibt vorbehalten (vgl. § 422 StPO; zu einer Teilerledigung auch BGH, Beschluss vom 8. Oktober 2014 - 2 StR 137/14, juris Rn. 11 mwN).56b) In den verbleibenden Fällen hat das Landgericht die Einziehung zurecht auf § 73b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB gestützt. Im Sinne der Vorschrift handelten die Angeklagten S. und B. für die Einziehungsbeteiligte als einen anderen, der durch die Tat etwas erlangt hat. Im Einzelnen:57aa) Ein Handeln für einen anderen setzt eine Organstellung der handelnden natürlichen Personen nicht voraus. Ist der "andere" eine Organisation, genügt es vielmehr, dass der Täter dieser angehört und in ihrem Interesse tätig wird. Damit sind auch Angestellte eines Betriebes erfasst, soweit sie sich faktisch im Interesse der drittbegünstigten juristischen Person betätigen (vgl. BGH, Urteile vom 19. Oktober 1999 - 5 StR 336/99, BGHSt 45, 235, 244 f.; vom 9. Oktober 1990 - 1 StR 538/89, NJW 1991, 367, 371; Wittig, Wirtschaftsstrafrecht, 5. Aufl., 3. Kap. § 9 Rn. 44; auch BT-Drucks. 18/9525 S. 56).58Danach handelten die Angeklagten und der frühere Mitbeschuldigte als Angestellte bei der Begehung der Taten für die Einziehungsbeteiligte, der sie einen Vermögensvorteil verschaffen wollten. Entgegen dem Revisionsvorbringen steht dem die Entscheidung des 2. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 29. August 2008 (2 StR 587/07, BGHSt 52, 323 Rn. 74) nicht entgegen, weil in dem dort entschiedenen Fall der Drittbegünstigte gerade selbst durch eine Straftat (§ 266 StGB) geschädigt war.59bb) Die Einziehungsbeteiligte erlangte durch die Taten der Angeklagten einen Vorteil, nämlich den Kaufpreis für die gelieferten Waren. Dass ihr dieser Vermögensvorteil nicht unmittelbar aus der Tat, nämlich dem Erschleichen der Ausfuhrgenehmigung, zufloss, ändert hieran nichts. Durch die Tat im Sinne des § 73b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB ist der Vorteil etwa dann erlangt, wenn sie darauf zielte, dem Geschäftsherrn als Drittbegünstigtem einen Vermögensvorteil zu verschaffen (vgl. Fischer, StGB, 68. Aufl., § 73b Rn. 5, 7). Auf die Unmittelbarkeit des Dritterwerbs kommt es nicht an. Vielmehr ergibt sich der Bereicherungszusammenhang aus dem betrieblichen Zurechnungsverhältnis (vgl. BGH, Urteile vom 19. Oktober 1999 - 5 StR 336/99, BGHSt 45, 235, 245 f.; vom 30. Mai 2008 - 1 StR 166/07, BGHSt 52, 227 Rn. 76).60cc) Die Voraussetzungen des § 73b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB sind auch dann erfüllt, wenn der Drittbegünstigte bei Erlangung des Vorteils gutgläubig war (vgl. Fischer, StGB, 68. Aufl., § 73b Rn. 5; Wittig, Wirtschaftsstrafrecht, 5. Aufl., 3. Kap. § 9 Rn. 43). Bereits nach alter Rechtslage (s. § 73 Abs. 3 StGB aF) musste sich der Drittbegünstigte die bei ihm zu Unrecht eingetretene Bereicherung unabhängig von seiner Kenntnis zurechnen lassen (vgl. BGH, Urteile vom 14. September 2004 - 1 StR 202/04, juris Rn. 14; vom 19. Oktober 1999 - 5 StR 336/99, BGHSt 45, 235, 245 f.). Hieran hat sich durch die Neuregelung des Einziehungsrechts nichts geändert (vgl. Köhler, NStZ 2017, 497, 501). § 73b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB nF ist insoweit identisch zu § 73 Abs. 3 StGB aF formuliert. Mit der Neufassung des § 73b StGB wollte der Gesetzgeber lediglich die Fallgruppe der "Verschiebungsfälle" kodifizieren (vgl. BT-Drucks. 18/9525 S. 56), ohne an der bisherigen Behandlung der Vertretungsfälle etwas zu ändern (vgl. BT-Drucks. 18/9525 S. 66). Anders als § 73b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB verlangt § 73b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB gerade nicht, dass der Drittbegünstigte erkannt hat oder hätte erkennen können, dass das Erlangte aus einer rechtswidrigen Tat herrührt.61c) Entgegen dem Vorbringen der Revision war von der Anordnung der Einziehung nicht nach § 73e Abs. 2 StGB abzusehen. Soweit der Rechtsmittelführer insoweit rügt, dass das Landgericht keine Feststellungen zur wirtschaftlichen Situation der Einziehungsbeteiligten und der Verwendung des Erlangten getroffen hat, besteht keine Lücke. Nach der Rechtsprechung (vgl. BGH, Beschluss vom 11. April 2013 - 4 StR 39/13, StV 2013, 610) war eine ausdrückliche Erörterung der Härtefallklausel des § 73c Abs. 1 Satz 2 StGB aF im Urteil nur erforderlich, wenn naheliegende Anhaltspunkte für das Vorliegen ihrer Voraussetzungen gegeben waren. Für § 73e Abs. 2 StGB, der für den Drittbegünstigten an die Stelle des § 73c Abs. 1 Satz 2 StGB aF getreten ist, gilt nichts anderes. Hinweise auf eine Entreicherung der Einziehungsbeteiligten sind den Urteilsgründen nicht zu entnehmen. Dass sie - wie von der Revision geltend gemacht - das Eigentum an den gelieferten Waffen verlor, stellt schon deshalb keine Entreicherung dar, weil sie hierfür den Kaufpreis erlangte. Es kann mithin offenbleiben, ob es sich bei ihr überhaupt um einen im Sinne des § 73e Abs. 2 StGB gutgläubigen Drittbegünstigten handelte oder ob sie sich das Wissen der Angeklagten sowie des Teamleiters analog § 166 BGB zurechnen lassen muss.62d) Schließlich hat das Landgericht zurecht von dem einzuziehenden Betrag die Aufwendungen der Einziehungsbeteiligten, insbesondere die Produktionskosten für die gelieferten Waffen, nicht abgezogen. Insoweit gilt:63Nach § 73d Abs. 1 Satz 1 StGB sind bei der Bestimmung des Wertes des Erlangten Aufwendungen des Täters oder des Dritten abzuziehen. Nach Satz 2 der Vorschrift bleibt jedoch außer Betracht, was für die Tat oder ihre Vorbereitung aufgewendet wurde. Danach konnte das Landgericht es offenlassen, ob die Kosten für die Produktion unmittelbar die gelieferten Waffen oder früher hergestellte Waffen betrafen. Denn im ersteren Fall würden die Aufwendungen vom Abzugsverbot des § 73d Abs. 1 Satz 2 StGB erfasst (unten aa), im zweiten Fall stellten sie keine Aufwendungen nach § 73d Abs. 1 Satz 1 StGB dar (unten bb).64aa) Wurden die Waffen für die Ausfuhr hergestellt, so handelt es sich bei den Produktions- und Transportkosten zwar um Aufwendungen im Sinne des § 73d Abs. 1 StGB. Indes wären sie gemäß § 73d Abs. 1 Satz 2 StGB für die Tat erbracht worden.65(1) Der Anwendungsbereich des Abzugsverbots nach § 73d Abs. 1 Satz 2 StGB umfasst die Aufwendungen eines Drittbegünstigten, so dass das Abzugsverbot nicht etwa von vornherein auf Aufwendungen des Täters oder Teilnehmers beschränkt ist. Dies ergibt sich entgegen dem Revisionsvorbringen bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift. Zwar findet sich der Zusatz, wonach auch die Aufwendungen des anderen, also des begünstigten Dritten, Berücksichtigung finden müssen, ausdrücklich nur in § 73d Abs. 1 Satz 1 StGB. Dagegen nennt der passiv formulierte Satz 2 der Vorschrift die Aufwendenden nicht erneut. Doch ergibt eine Gesamtschau beider Sätze fraglos, dass nach Satz 2 dem Abzugsverbot unterliegt, was von den in Satz 1 Genannten für die Tat aufgewendet oder eingesetzt wurde.66(2) Die Herstellungs- und Transportkosten wurden im Sinne des § 73d Abs. 1 Satz 2 StGB für die Begehung der Tat oder ihre Vorbereitung aufgewendet oder eingesetzt. Mit dem Tatbestandsmerkmal "für" wollte der Gesetzgeber in Anlehnung an § 817 Satz 2 BGB sicherstellen, dass (nur) das, was in ein verbotenes Geschäft investiert wurde, unwiederbringlich verloren sein soll (vgl. BT-Drucks. 18/9525 S. 67 f.; vgl. auch OLG Karlsruhe, Beschluss vom 18. März 2019 - 2 Rb 9 Ss 852/18, juris Rn. 16). Daraus folgt, dass die Handlung oder das Geschäft, das unmittelbar zur Vermögensmehrung führt, selbst verboten sein muss. Gleichzeitig enthält das Tatbestandsmerkmal nach dem Willen des Gesetzgebers eine subjektive Komponente, weshalb nur solche Aufwendungen dem Abzugsverbot unterliegen, die willentlich und bewusst für das verbotene Geschäft eingesetzt wurden (vgl. BT-Drucks. 18/9525 S. 67 ff.; Schäuble/Pananis, NStZ 2019, 65, 69).67(α) Danach wurden die Aufwendungen hier für die Tat getätigt. Anschaffungs- und Herstellungskosten für Waren, die der Täter oder Teilnehmer für den Verkauf unter bewusster strafrechtswidriger Umgehung außenwirtschaftsstrafrechtlicher Bestimmungen trug, sollen nach dem Willen des Gesetzgebers von dem Abzugsverbot des § 73d Abs. 1 Satz 2 StGB erfasst werden (vgl. BT-Drucks. 18/9525 S. 68 mit Verweis auf BGH, Urteil vom 21. August 2002 - 1 StR 115/02, BGHSt 47, 369, 370, 377; Schönke/Schröder/Eser/Schuster, StGB, 30. Aufl., § 73d Rn. 5).68(β) Die Feststellungen belegen zudem die bewusste und willentliche Herstellung bzw. den Ankauf der zu liefernden Ware für die Tat. Denn die Angeklagten und der frühere Mitbeschuldigte handelten vorsätzlich. Dass die Organe der Einziehungsbeteiligten nach den Feststellungen gutgläubig waren, lässt das Tatbestandsmerkmal nicht entfallen.69Nach der zur früheren Rechtslage ergangenen Rechtsprechung stand die Gutgläubigkeit des Drittbegünstigten der Anwendung des Bruttoprinzips nicht entgegen (vgl. BGH, Urteil vom 21. August 2002 - 1 StR 115/02, BGHSt 47, 369, 373 ff.; Fischer, StGB, 68. Aufl., § 73b Rn. 2 mwN). Da es sich bei der Einziehung des durch die Tat Erlangten nicht um eine Strafe oder strafähnliche Maßnahme handele (BGH, Urteile vom 19. Januar 2012 - 3 StR 343/11, BGHSt 57, 79 Rn. 15; vom 21. August 2002 - 1 StR 115/02, BGHSt 47, 369, 373 mwN; vom 1. März 1995 - 2 StR 691/94, NJW 1995, 2235 f.; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 14. Januar 2004 - 2 BvR 564/95, BVerfGE 110, 1, 14 ff.), komme es auf eine schuldhafte Verstrickung des Begünstigten nicht an. Auch gegenüber einem gutgläubigen Dritten sei deshalb eine Bruttoeinziehung gerechtfertigt. Gerade bei Verstößen gegen das Außenwirtschaftsrecht sei die Maßnahme als Teil eines Systems anzusehen, welches die Wirksamkeit der Handelsbeschränkungen sicherstellen und diese durchsetzen solle (vgl. BGH, Urteil vom 21. August 2002 - 1 StR 115/02, BGHSt 47, 369, 375; Beschluss vom 18. Februar 2004 - 1 StR 296/03, NStZ-RR 2004, 214, 215).70An dieser Bewertung hat die Reform der Vorschriften der §§ 73 ff. StGB nichts geändert. Die Einziehung stellt weiterhin keine Strafe, sondern eine Maßnahme eigener Art dar (BGH, Beschluss vom 12. Juni 2019 - 3 StR 194/19, NStZ-RR 2019, 382 ff.; BVerfG, Beschluss vom 10. Februar 2021 - 2 BvL 8/19, juris Rn. 106 ff.; vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 18. März 2019 - 2 Rb 9 Ss 852/18, juris Rn. 21; Fischer, StGB, 68. Aufl., § 73a Rn. 4, § 73b Rn. 2 mwN), so dass es auf ein Verschulden des Drittbegünstigten und die Gutgläubigkeit etwaiger Organe nicht ankommt. Ausreichend ist vielmehr, dass die Angeklagten sowie der frühere Mitbeschuldigte vorsätzlich handelten.71(γ) Etwas anderes folgt nicht aus der ersatzlosen Streichung der Härtefallklausel des § 73c Abs. 1 StGB aF durch das Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung vom 13. April 2017. Zwar sollte nach früherer Rechtslage die Gutgläubigkeit der Organe des Drittbegünstigten ein zentraler Ermessensgesichtspunkt bei der Prüfung der Härtefallklausel des § 73c StGB aF sein (vgl. BGH, Urteile vom 21. August 2002 - 1 StR 115/02, BGHSt 47, 369, 376; vom 14. September 2004 - 1 StR 202/04, juris Rn. 15; vgl. auch BGH, Beschluss vom 13. Juli 2006 - 5 StR 106/06, NStZ-RR 2007, 109, 110). Nach Wegfall der Härtefallklausel kann nunmehr der Gutgläubigkeit des vom Bruttoprinzip betroffenen Drittbegünstigten nicht mehr auf diesem Wege Rechnung getragen werden (vgl. Hellmann, Wirtschaftsstrafrecht, 5. Aufl., § 17 Rn. 1119). Indes hat der Gesetzgeber mit der Neuregelung die Härtevorschrift des § 73c StGB aF bewusst gestrichen. Während er dem Sonderfall der Entreicherung beim gutgläubigen Drittbegünstigten nach § 73c Abs. 1 Satz 2 StGB aF durch die Schaffung des § 73e Abs. 2 StGB Rechnung getragen hat, können die Härten, die von § 73c Abs. 1 Satz 1 StGB aF erfasst wurden, nach der Gesetzesänderung im Hauptverfahren keine Berücksichtigung mehr finden. Damit wollte der Gesetzgeber ersichtlich auch den gutgläubigen bereicherten Dritten auf die Vollstreckungsvorschrift des § 459g Abs. 5 Satz 1 StPO verweisen, sollte das Bruttoprinzip im Einzelfall zu unverhältnismäßigen Härten führen (vgl. hierzu BeckOK StPO/Coen, 39. Ed., § 459g Rn. 27; KK-StPO/Appl, 8. Aufl., § 459g Rn. 18; Meyer-Goßner/Schmitt/Köhler, StPO, 63. Aufl., § 459g Rn. 13a; s. auch BVerfG, Beschluss vom 10. Februar 2021 - 2 BvL 8/19, juris Rn. 11, 121).72Demgegenüber enthalten die Gesetzesmaterialien keinerlei Hinweise, dass § 73d Abs. 1 Satz 2 StGB nunmehr so auszulegen sei, dass das Abzugsverbot für den gutgläubigen Drittbegünstigten deshalb nicht gelten solle, weil die subjektive Komponente der Vorschrift nicht erfüllt sei. Vielmehr spricht der Wille des Gesetzgebers, mit der Gesetzesreform bewusst das Bruttoprinzip zu stärken, gegen eine den gutgläubigen Dritten gegenüber der alten Rechtslage sogar besserstellende Auslegung der geltenden Vorschriften. Auch wiche - wollte man vorliegend auf ein Verschulden der drittbegünstigten Einziehungsbeteiligten abstellen - die einziehungsrechtliche von der bereicherungsrechtlichen Wertung der §§ 818, 819 BGB ab (vgl. hierzu BT-Drucks. 18/9525 S. 67 ff.), da bei diesen Vorschriften analog § 166 BGB eine Wissenszurechnung jedenfalls des mit Prokura ausgestatteten Angeklagten S. sowie des als Repräsentant und Handlungsbevollmächtigter mit einer eigenverantwortlichen Vertriebs- und damit Leitungsverantwortlichkeit fungierenden früheren Mitbeschuldigten vorzunehmen wäre. Dahinstehen kann somit, dass im Hinblick auf deren Verantwortung auf der erweiterten Führungsebene nach altem Recht die hohen Voraussetzungen (vgl. BGH, Urteil vom 1. Dezember 2015 - 1 StR 321/15, NStZ 2016, 279, 280) für einen Härtefall im Sinne des § 73c Abs. 1 Satz 1 StGB aF möglicherweise ebenfalls nicht vorgelegen hätten (vgl. auch Hellmann, Wirtschaftsstrafrecht, 5. Aufl., § 17 Rn. 1119).73bb) Sollten die gelieferten Waffen nicht erst für die Ausfuhren nach Mexiko produziert, sondern aus dem Lagerbestand verkauft worden sein, lägen schon die Voraussetzungen für einen Abzug der Herstellungskosten nach § 73d Abs. 1 Satz 1 StGB nicht vor. Der Begriff der Aufwendungen im Sinne des § 73d Abs. 1 Satz 1 StGB ist im Gesetz nicht eindeutig definiert. Nach der Literatur sollen dazu nur solche Kosten zählen, die in einem engen zeitlichen und inneren (sachlichen) Zusammenhang mit der Tat stehen. Abzugsfähig seien nur solche Aufwendungen, die im Zeitraum von der Planung und Vorbereitung der Erwerbstat bis zum tatsächlichen Vermögenszufluss anfallen (Köhler, NStZ 2017, 497, 505; vgl. auch Beschluss des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz vom 22. März 2017, BT-Drucks. 18/11640 S. 78 f.). Damit kommt der Vorschrift ein begrenzter Anwendungsbereich zu. Ob ein solch enges Begriffsverständnis Wortlaut und Systematik der Vorschrift tatsächlich entspricht, da die Aufwendungen nach Satz 1 objektiv nicht "für" die Tat erbracht sein müssen und Satz 1 als Regelfall konzipiert ist, zu dem Satz 2 die Ausnahme darstellt, kann vorliegend dahinstehen. Denn jedenfalls kann nur dann von Aufwendungen die Rede sein, wenn sie in einem Zusammenhang mit der Tat stehen, also dem historischen Sachverhalt zugehörig sind (Schäuble/Pananis, NStZ 2019, 65, 67 f.). Ein derartiger Bezug ist aber hinsichtlich der Produktionskosten für solche Waren, die bei Beginn der Tatbegehung auf Lager gehalten wurden, ersichtlich nicht zu erkennen.SchäferRi'inBGH Dr. Spaniol ist in den Wimmer Ruhestand getreten und deshalb gehindert zu unterschreiben. SchäferWimmerAnstötz ErbguthVon Rechts wegen Vorschriften
bundesgerichtshof
bgh_022-2023
01.02.2023
Verhandlungstermin am 28. Februar 2023, 11.30 Uhr, Saal E 101 in Sachen KZR 71/21 (Bundesgerichtshof überprüft DFB-Reglement für Spielervermittlung) Ausgabejahr 2023 Erscheinungsdatum 01.02.2023 Nr. 022/2023 Der Kartellsenat verhandelt über die Frage, ob einzelne Regelungen des vom DFB erlassenen Reglements für Spielervermittlung (RfSV) u.a. gegen das Kartellverbot aus Art. 101 Abs. 1 AEUV verstoßen. Sachverhalt: Die Klägerin zu 1, deren Geschäftsführer der Kläger zu 3 ist, ist einer der führenden Vermittler für Profifußballer in Deutschland. Die Klägerin zu 2 ist eine juristische Person österreichischen Rechts, deren Unternehmenstätigkeit ebenfalls auf die Spielervermittlung gerichtet ist. Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) ist der Dachverband von 27 deutschen Fußballverbänden. Als Mitglied des Fußballweltverbandes (FIFA) ist er den Regelungen der FIFA unterworfen und zur Umsetzung der Entscheidungen der FIFA verpflichtet. Im Zuge des von der FIFA verabschiedeten Reglements zur Arbeit mit Vermittlern erließ der DFB das am 1. April 2015 in Kraft getretene Reglement für Spielervermittlung (RfSV). Dieses richtet sich nicht direkt an Spielervermittler, sondern an Vereine und Spieler, welche gegenüber dem Beklagten verpflichtet sind, die Regelungen des RfSV einzuhalten. Bei Verstoß dagegen drohen verbandsrechtliche Sanktionen. Die Kläger sind der Auffassung, dass bestimmte Regelungen in dem RfSV u.a. gegen das Kartellverbot nach Art. 101 AEUV verstoßen. Die Kläger beanstanden darüber hinaus ein Rundschreiben der DFL, aus dem sich das Verbot einer prozentualen Beteiligung der Spielervermittler an der Transfersumme ergibt. Sie begehren mit ihrer gegen den DFB erhobenen Klage im Wesentlichen, dass dieser es unterlässt, - den Vereinen oder Spielern zu verbieten, beim Abschluss eines Berufsspielervertrages oder einer Transfervereinbarung die Dienste von Vermittlern in Anspruch zu nehmen, die sich nicht beim Beklagten registrieren lassen und nicht beim Beklagten registriert sind (Klageantrag 1), - nur solche Vermittler zu registrieren, die sich (in einer sogenannten Vermittlererklärung) verpflichten, die in diesem Zusammenhang einschlägigen Statuten der FIFA und des Beklagten einzuhalten (Klageantrag 2); - juristische Personen als Vermittler nur zu registrieren, wenn neben der juristischen Person auch eine natürliche Person eine solche Vermittlererklärung abgibt (Klageantrag 3); - den Vereinen zu verbieten, für die Höhe von Provisionen zu vereinbaren, dass diese auch von zukünftigen Transfererlösen des Vereins für den betreffenden Spieler abhängig sind (Klageantrag 4) sowie für die Berechnung von Provisionen Formeln zu vereinbaren, die prozentual Bezug auf Weitertransfererlöse nehmen (Klageantrag 5), hilfsweise den Deutsche Fußball Liga e.V. oder einen anderen Auftragnehmer mit der Durchführung des Spielbetriebs in einer Fußballiga zu beauftragen und dabei zu ermöglichen, dass der Auftragnehmer Vereine darin einschränkt, für die Berechnung von Provisionen Formeln zu vereinbaren, die prozentual Bezug auf Weitertransfererlöse nehmen (Klageantrag 5a); - den Vereinen oder Spielern zu verbieten, Provisionen für Spielvermittlerdienste zu zahlen, wenn der betreffende Spieler minderjährig ist (Klageantrag 6); - Spieler und Vereine zur Offenlegung von Einzelheiten aller vereinbarter Vergütungen und Zahlungen an den Vermittler zu verpflichten Klageantrag 7). Bisheriger Prozessverlauf: Das Landgericht hat den DFB unter Androhung von Ordnungsmitteln verurteilt, es zu unterlassen, nur solche Vermittler zu registrieren, die sich den einschlägigen FIFA- und DFB-Statuten unterwerfen, sofern in diesem Zusammenhang zugleich die Unterwerfung unter die Verbandsgerichtsbarkeit der FIFA und des DFB zur Ahndung von Verstößen gefordert wird. Es hat dem DFB darüber hinaus verboten, juristische Personen als Spielervermittler nur zu registrieren, wenn neben der juristischen Person auch eine natürliche Person eine Vermittlererklärung abgibt. Die weitergehende Klage hat es abgewiesen. Auf die gegen die teilweise Abweisung der Klage gerichtete Berufung der Kläger hat das Oberlandesgericht das Verbot, Vermittler nur zu registrieren, wenn er sich den einschlägigen FIFA- und DFB-Statuten unterwirft, ohne die vom Landgericht ausgesprochene Einschränkung ausgesprochen. Darüber hinaus hat es den DFB verurteilt, es zu unterlassen, den Deutsche Fußball Liga e.V. oder einen anderen mit der Durchführung des Spielbetriebs in einer Fußballliga Beauftragten zu ermöglichen, Vereine darin einzuschränken, für die Berechnung von Provisionen für Spielervermittler Formeln zu vereinbaren, die prozentual Bezug auf Weitertransfererlöse nehmen. Im Übrigen hat es das Urteil des Landgerichts aufrechterhalten und die weitergehende Berufung der Kläger und die Anschlussberufung des Beklagten zurückgewiesen. Das Berufungsgericht hat angenommen, die Regelungen im RfSV seien nach der vom Europäischen Gerichtshof in der Entscheidung Meca Medina (C-519/04 P) aufgestellten 3-Stufen-Theorie auf ihre Vereinbarkeit mit dem Kartellverbot nach Art. 101 AEUV zu prüfen. Danach seien Regelungen, die mit der Organisation und dem ordnungsgemäßen Ablauf eines sportlichen Wettkampfs untrennbar verbunden seien und gerade dazu dienen, einen fairen Wettstreit zwischen den Sportlern zu gewährleisten, nicht dem Kartellverbot zu unterwerfen, soweit sie auf das zum ordnungsgemäßen Funktionieren des sportlichen Wettkampfs Notwendige begrenzt seien. Die Verpflichtung zur Registrierung von Spielervermittlern sowie die Verpflichtung der Vereine sicherzustellen, dass für zukünftige Spielertransfers oder bei der Vermittlung minderjähriger Spieler keine Provisionen vereinbart werden und Spieler und Vereine alle vereinbarten Vergütungen oder Zahlungen an Spielervermittler gegenüber dem DFB offenlegen müssen, erfüllten diese Voraussetzungen, nicht aber die weiteren von den Klägern angegriffenen Regelungen im RfSV und im Rundschreiben der DFL. Da nicht das RfSV das Verbot einer prozentualen Beteiligung am Transfererlös im Falle einer antizipierten Wegvermittlung enthalte, sondern lediglich das Rundschreiben der DFL, liege insoweit kein Beschluss des DFB im Sinne von Art. 101 AEUV vor. Insoweit habe lediglich der Hilfsantrag Erfolg. Das Rundschreiben stelle einen Beschluss der DFL dar, der nach Art. 101 AEUV Außenwirkung entfalte. Der DFB habe insoweit seine Überwachungspflicht verletzt. Mit der vom Oberlandesgericht zugelassenen Revisionen wenden sich die Kläger und der DFB gegen das Berufungsurteil, soweit zu ihrem Nachteil erkannt worden ist. Vorinstanzen: LG Frankfurt am Main - Urteil vom 24. Oktober 2019 - 2-03 O 517/18 OLG Frankfurt am Main - Urteil vom 30. November 2021 - 11 U 172/19 (Kart) Die maßgeblichen Vorschriften lauten: § 33 GWB Beseitigungs- und Unterlassungsanspruch Wer gegen eine Vorschrift dieses Teils oder gegen Artikel 101 oder 102 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union verstößt (Rechtsverletzer) oder wer gegen eine Verfügung der Kartellbehörde verstößt, ist gegenüber dem Betroffenen zur Beseitigung der Beeinträchtigung und bei Wiederholungsgefahr zur Unterlassung verpflichtet. Artikel 101 AEUV (1) Mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar und verboten sind alle Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Gemeinsamen Marktes bezwecken oder bewirken, insbesondere (…) Karlsruhe, den 1. Februar 2023 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Beschluss des Kartellsenats vom 13.6.2023 - KZR 71/21 -
Tenor Das Verfahren wird ausgesetzt.Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden zur Auslegung von Artikel 101 Abs. 1 AEUV folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:1. Finden auf das Regelwerk eines Sportverbands, das sich an Verbandsmitglieder wendet und die Inanspruchnahme von Leistungen verbandsfremder Unternehmen auf einem der Verbandstätigkeit vorgelagerten Markt regelt, die vom Unionsgerichtshof in den Urteilen "Wouters" (vom 19. Februar 2002 - C-309/99) und "Meca Medina" (vom 18. Juli 2006 - C-519/04 P) entwickelten Grundsätze Anwendung, wonach bei der Anwendung des Kartellverbots- der Gesamtzusammenhang, in dem der fragliche Beschluss zu Stande gekommen ist oder seine Wirkungen entfaltet, und insbesondere seine Zielsetzung zu würdigen ist,- und weiter zu prüfen ist, ob die mit dem Beschluss ver-bundenen wettbewerbsbeschränkenden Wirkungen notwen-dig mit der Verfolgung der genannten Ziele zusammenhängen- und ob sie im Hinblick auf diese Ziele verhältnismäßig sind (nachfolgend: Meca Medina-Test)?2. Falls Frage 1 bejaht wird: Ist in diesem Fall der Meca Medina-Test auf alle Regelungen dieses Regelwerks anzuwenden, oder kommt es dafür auf inhaltliche Kriterien an, wie etwa die Nähe oder Ferne der einzelnen Regelung zu der sportlichen Tätigkeit des Verbands? Gründe I. Die Parteien streiten über kartellrechtliche Unterlassungsansprüche im Zusammenhang mit einem vom Beklagten erlassenen Reglement für die Spielervermittlung (Reglement der RfSV).Die Klägerin zu 1 ist eines der führenden Beratungsunternehmen für junge Talente und Profifußballer in Deutschland. Ihre Tätigkeit umfasst unter anderem die Beratung im Zusammenhang mit Transfers und Vertragsverlängerungen von Profifußballspielern. Ihr Gründer und Geschäftsführer ist der Kläger zu 3. Die Klägerin zu 2 ist eine juristische Person österreichischen Rechts, deren Unternehmenstätigkeit ebenfalls auf die Spielervermittlung gerichtet ist. Spielervermittler können sowohl von Spielern, die einen Verein suchen, als auch von Vereinen beauftragt werden, die einen Spieler abgeben (sog. Wegvermittlung) oder aufnehmen (sog. Hinvermittlung) wollen.Der Beklagte ist der Dachverband von 27 deutschen Fußballverbänden mit etwa 25.000 Vereinen und mehr als 7 Millionen Mitgliedern. Organisatorisch ist er in eine Verbandspyramide unter dem Dach des Fußballweltverbandes (FIFA) eingegliedert.Der Spielbetrieb in den beiden höchsten Profiligen (Bundesliga und 2. Bundesliga) wird nach § 16a der Satzung des Beklagten von der Deutschen Fußball Liga (DFL e.V.) durchgeführt. Die DFL e.V. ist ein Zusammenschluss der Vereine der beiden höchsten deutschen Profiligen. Den Spielbetrieb in der ebenfalls zum Profibereich gehörenden 3. Liga führt der Beklagte selbst durch. Weitere Ligen werden von den regionalen Fußballverbänden organisiert. Vereine, die am Spielbetrieb der Bundesliga oder der 2. Bundesliga teilnehmen, sind als ordentliche Mitglieder der DFL e.V. an die Satzung des Beklagten und die verbindlichen Regelwerke gebunden. Spieler müssen, um in der Bundesliga oder 2. Bundesliga spielberechtigt zu sein, einen Lizenzvertrag mit der DFL e.V. unterzeichnen, der sie ebenfalls zur Einhaltung von Verbandsregeln verpflichtet. Als Mitglied der FIFA ist der Beklagte deren Regelungen unterworfen und zur Umsetzung der Entscheidungen der FIFA verpflichtet.Im Zuge eines von der FIFA verabschiedeten Reglements zur Arbeit mit Spielervermittlern erließ der Beklagte das am 1. April 2015 in Kraft getretene Reglement. Es wendet sich an Vereine und Spieler, die gegenüber dem Beklagten verpflichtet sind, das Regelwerk einzuhalten. Es regelt die Inanspruchnahme der Dienste eines Vermittlers durch Spieler und Vereine für den Abschluss von Berufsspielerverträgen und Transfervereinbarungen. Vorgeschrieben ist unter anderem- eine Registrierungspflicht für Vermittler, § 2 Nr. 3 und § 3 Nr. 2 und 3 RfSV (nachfolgend: Registrierungspflicht);- die Abgabe einer Vermittlererklärung, die die Unterwerfung des Vermittlers unter diverse Statuten, Reglements und Ordnungen der FIFA, des Beklagten und der DFL e.V., einschließlich der Unterwerfung unter die Verbandsgerichtsbarkeit, vorsieht, § 2 Nr. 2 und § 3 Nr. 2, Nr. 3 RfSV und Anhänge 1 und 2 (nachfolgend: Unterwerfungspflicht);- die zusätzliche Verpflichtung einer natürlichen Person bei der Registrierung juristischer Personen, Anhang 2 RfSV (nachfolgend: Zusatzverpflichtung bei juristischen Personen);- ein Verbot der Beteiligung des Vermittlers bei der Hinvermittlung an zukünftigen Transfererlösen des Vereins, § 7 Nr. 3 RfSV (nachfolgend: Provisionsverbot für Folgetransfers);- ein Provisionsverbot bei der Vermittlung Minderjähriger, § 7 Nr. 7 RfSV;- eine Pflicht zur Offenlegung von Vergütungen und Zahlungen an Vermittler, § 6 Nr. 1 RfSV (nachfolgend: Offenlegungspflicht).Verstöße gegen das Reglement können als unsportliches Verhalten sanktioniert werden (§ 9 RfSV). Im Anhang des Regelwerks befinden sich vorgedruckte Formulare für die abzugebende Vermittlererklärung.Die DFL GmbH, ein 100-prozentiges Tochterunternehmen der DFL e.V., versandte mit Datum vom 12. Januar 2018 das Rundschreiben Nr. 62 an die Verantwortlichen der Vereine und Kapitalgesellschaften der Bundesliga und 2. Bundesliga, um diese unter anderem über Wegvermittlungsvereinbarungen zu informieren. Darin hieß es, als Vergütung könne eine pauschale Einmalzahlung oder eine gestaffelte Vergütung in Relation zu der aufgrund der Wegvermittlungsleistung erzielten Transferentschädigung vereinbart werden, die aber einer prozentualen Beteiligung nicht nahekommen dürfe (nachfolgend: Vergütungsberechnung nach dem Rundschreiben Nr. 62).Die Kläger wenden sich mit ihren Unterlassungsanträgen gegen die Registrierungspflicht (Antrag 1), die Unterwerfungspflicht (Antrag 2), die Zusatzverpflichtung bei juristischen Personen (Antrag 3), das Provisionsverbot für Folgetransfers (Antrag 4), die Vergütungsberechnung nach dem Rundschreiben Nr. 62 (Anträge 5 und 5a), das Provisionsverbot bei der Vermittlung Minderjähriger (Antrag 6) und die Offenlegungspflicht (Antrag 7). Sie berufen sich in erster Linie auf das Kartellverbot.Das Landgericht hat der Klage teilweise stattgegeben. Es hat den Beklagten entsprechend dem Antrag 2, soweit sich die Vermittler zur Ahndung von Verstößen der Verbandsgerichtsbarkeit der FIFA und des DFB unterwerfen müssen, sowie gemäß Antrag 3 zur Unterlassung verurteilt. Die weitergehende Klage hat es abgewiesen.Auf die Berufung der Kläger hat das Oberlandesgericht der Klage in weiterem Umfang stattgegeben. Es hat den Beklagten insgesamt zur Unterlassung verurteilt, Vermittler nur zu registrieren, wenn sie sich den mit der Ausübung der Vermittlertätigkeit im Zusammenhang stehenden Bestimmungen der FIFA, des Beklagten und der DFL e.V. unterwerfen (Antrag 2). Außerdem hat es den Beklagten verurteilt, es zu unterlassen, die DFL e.V. oder einen anderen Auftragnehmer mit der Durchführung des Spielbetriebs in einer Fußballliga zu beauftragen und dabei zu ermöglichen, dass der Auftragnehmer Vereine in ihren Möglichkeiten einschränkt, für die Berechnung von Provisionen Formeln zu vereinbaren, die prozentual Bezug auf Weitertransfererlöse nehmen (Antrag 5a). Die weitergehende Berufung und die Anschlussberufung des Beklagten hat es zurückgewiesen.Mit den vom Oberlandesgericht zugelassenen Revisionen verfolgen die Kläger ihre weiteren Unterlassungsanträge und der Beklagte seinen Klageabweisungsantrag weiter.II. Für die Entscheidung über die Revision sind Vorschriften des deutschen Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen maßgeblich, die wie folgt lauten:§ 33 Beseitigungs- und Unterlassungsanspruch(1) Wer gegen eine Vorschrift dieses Teils oder gegen Artikel 101 oder 102 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union verstößt (Rechtsverletzer) oder wer gegen eine Verfügung der Kartellbehörde verstößt, ist gegenüber dem Betroffenen zur Beseitigung der Beeinträchtigung und bei Wiederholungsgefahr zur Unterlassung verpflichtet.(2) (...)(3) Betroffen ist, wer als Mitbewerber oder sonstiger Marktbeteiligter durch den Verstoß beeinträchtigt ist.(4) (...)III. Der Erfolg der Revision hängt von den Vorlagefragen ab. Vor einer Entscheidung ist daher das Verfahren auszusetzen und gemäß Art. 267 Abs. 1 Buchstabe b und Abs. 3 AEUV eine Vorabentscheidung des Unionsgerichtshofs einzuholen (vgl. zu den FIFA Football Agents Regulations: LG Mainz, Vorlagebeschluss vom 30. März 2023 - 9 O 129/21).1. Das Berufungsgericht (OLG Frankfurt a.M., WuW 2022, 99) hat ausgeführt, das Reglement sei am Maßstab des Art. 101 Abs. 1 AEUV zu messen. Es führe zu einer Wettbewerbsbeschränkung auf dem Markt der Spielervermittlung, die spürbar und binnenmarktrelevant sei. Als sportliches Regelwerk sei das Reglement aber nach den Vorgaben des Unionsgerichtshofs (Urteil vom 18. Juli 2006 - C-519/04 P, Slg 2006, I-6991-7028 = WuW/E EU-R 1493 - Meca Medina) auf die Vereinbarkeit mit dem Kartellverbot zu prüfen. Für die Anwendbarkeit dieser das Kartellverbot einschränkenden Grundsätze komme es darauf an, ob die mit den Regeln des RfSV verbundenen Wettbewerbsbeschränkungen in einem Zusammenhang mit der vom Beklagten reklamierten sportlichen Zielsetzung stünden. Das sei hier der Fall. Bei dem RfSV handele es sich um ein sportliches Regelwerk im Sinne dieser Rechtsprechung. Der Beklagte habe die satzungsgemäße Aufgabe, den sportlichen Wettkampf im Fußball zu gewährleisten; diesem Ziel diene auch das Regelwerk des RfSV. Es solle zur Gewährleistung des fairen, sportlichen Wettkampfs die Bedingungen für die Anwerbung und Einstellung der Sportler regeln. Die Tätigkeit der Spielervermittler beeinflusse maßgeblich die Zusammensetzung der Mannschaften, ihre Kontinuität und ihre sportliche Stärke; sie stehe damit in einer direkten Verbindung zum sportlichen Wettbewerb. Die Betätigung der Spielervermittler habe Einfluss auf den fairen Wettkampf, die Leistungsfähigkeit und Gesundheit der Sportler. Mit dem Reglement sollten Abhängigkeiten zwischen Spielervermittlern, Spielern und Clubs vermieden werden. Solche Abhängigkeiten könnten die Integrität und Fairness des Wettbewerbs und des Sports gefährden. In der Vergangenheit seien teilweise Spieler und Vereine durch strafrechtlich relevante Praktiken von Spielervermittlern in finanzieller und beruflicher Hinsicht geschädigt worden.Die angegriffenen Regeln müssten daher im Einzelnen anhand der in der Entscheidung "Meca Medina" aufgestellten Grundsätze geprüft werden. Unabhängig von der allgemeinen Zielsetzung müsse hinsichtlich jeder der streitgegenständlichen Regelungen geprüft werden, ob sie sich auf das legitime Ziel beziehe, eine untrennbare Verbindung zwischen der Verfolgung der legitimen Zielsetzung und der Wettbewerbsbeschränkung bestehe und ob die Maßnahme verhältnismäßig sei.Gemessen daran verstießen die mit den Unterlassungsanträgen 1, 4, 6 und 7 angegriffenen Regelungen zur Registrierungspflicht, zum Verbot der Beteiligung an späteren Transfererlösen, zum Provisionsverbot bei der Vermittlung Minderjähriger und zur Offenlegung sämtlicher Zahlungen gegenüber dem Beklagten nicht gegen Art. 101 AEUV. Demgegenüber falle die mit dem Unterlassungsantrag 2 angegriffene Pflicht zur Unterwerfungserklärung und die mit dem Antrag 3 angegriffene Regelung, wonach juristische Personen bei Abgabe der Vermittlererklärung zugleich eine weitere Vermittlererklärung einer privaten Person vorlegen müssten, unter das Verbot des Art. 101 AEUV. Der Unterlassungsantrag 5 sei unbegründet. Die beanstandeten Rundschreiben seien dem Beklagten nicht zuzurechnen. Begründet sei hingegen der Hilfsantrag zu 5a. Den Beklagten treffe eine Überwachungspflicht gegenüber der DFL GmbH.2. Die gegen diese Entscheidung gerichtete Revision der Kläger hat Erfolg, wenn den Klägern gegen den Beklagten ein Unterlassungsanspruch aus § 33 Abs. 1 GWB, Art. 101 Abs. 1 AEUV gegen die mit den Anträgen 1, 4, 6 und 7 angegriffenen Regelungen des RfSV zusteht. Die Tatbestandsmerkmale des Art. 101 Abs. 1 AEUV sind erfüllt (dazu unter a). Die Freistellungsvoraussetzungen des Art. 101 Abs. 3 AEUV können auf Grundlage der tatrichterlichen Feststellungen nicht bejaht werden (dazu unter b). Es stellt sich die Frage, ob unter Berücksichtigung des Gesamtzusammenhangs, in dem das Reglement seine Wirkungen entfaltet, und seiner Zielsetzung eine Einschränkung des Tatbestands des Art. 101 Abs. 1 AEUV in Betracht kommt. Dies kann auf Grundlage der bisherigen Rechtsprechung des Unionsgerichtshofs nicht eindeutig beantwortet werden (dazu unter c). Die Entscheidung hängt daher von der Beantwortung der Vorlagefragen ab (dazu unter d).a) Nach Art. 101 Abs. 1 AEUV sind unter anderem Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen, die den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind und die eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarktes bezwecken oder bewirken, mit dem Binnenmarkt unvereinbar und verboten. Dabei muss als ungeschriebene Voraussetzung sowohl die Wettbewerbsbeschränkung als auch die Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels spürbar sein. Wer gegen das Verbot verstößt, ist dem Betroffenen gemäß § 33 Abs. 1 GWB zur Unterlassung verpflichtet.aa) Der Beklagte ist als Unternehmensvereinigung Adressat des Art. 101 Abs. 1 AEUV. In dem Beklagten sind unter anderem die Fußballvereine der deutschen Profiligen zusammengeschlossen. Für sie stellt sich der Fußball in erster Linie als eine wirtschaftliche Tätigkeit dar. Die Verbindung dieser wirtschaftlichen Tätigkeit zum Sport ändert nichts an der Unternehmenseigenschaft des Beklagten (vgl. EuGH, Urteil vom 1. Juli 2008, C-49/07, WuW/E EU-R 1457 Rn. 22 - MOTOE). Auch der Umstand, dass bei dem Beklagten neben Profivereinen ebenso Amateurvereine zusammengeschlossen sind, kann diese Bewertung nicht in Frage stellen (vgl. zur FIFA: EuG, Urteil vom 26. Januar 2005 - T-193/02, WuW/E 2005, EU-R 881, Rn. 69 bis 72 - Piau). Eine wirtschaftliche Tätigkeit stellt auch die hier in Rede stehende Regelsetzung des Beklagten dar, die die Inanspruchnahme einer vorgelagerten, regelmäßig entgeltlichen Dienstleistung in Gestalt der Vermittlung von Sportlern betrifft. Das RfSV ist als Beschluss einer Unternehmensvereinigung anzusehen (vgl. dazu grundlegend: EuGH, Urteil vom 27. Januar 1987 - 45/85, Slg 1987, 405 Rn. 29 bis 32 - Feuerversicherung; EuG, WuW/E 2005, EU-R 881 Rn. 75 - Piau). Der Beklagte möchte mit dem Regelwerk, was aus § 1 Nr. 1 RfSV deutlich wird, das Verhalten seiner Mitglieder auf einem bestimmten Markt koordinieren, nämlich im Hinblick auf die Tätigkeit der Spielervermittler beim Abschluss von Berufsspielerverträgen und bei Transfervereinbarungen.bb) Die hier angegriffenen Regelungen des RfSV führen auch zu einer spürbaren Wettbewerbsbeschränkung auf dem Markt der Spielervermittlung.(1) Die Regelungen richten sich zwar nicht direkt an Spielervermittler, sondern an Vereine und Spieler, die als Nachfrager der Vermittlungsleistung zur Marktgegenseite gehören. Sie bewirken jedoch, dass die Entscheidungsfreiheit der beteiligten Spieler, Vereine und Unternehmen beschränkt wird, was sich zugleich auf die wirtschaftliche Handlungsfreiheit der Spielervermittler auswirkt. Diese müssen ihr Verhalten an den in dem Regelwerk niedergelegten Bestimmungen ausrichten, um auf dem Vermittlungsmarkt tätig werden zu können. Andernfalls riskieren sie, dass Spieler und Vereine - unter dem Druck der Sanktionierung durch den Beklagten (§ 9 RfSV) - davon absehen, sie mit der Spielervermittlung zu beauftragen.(2) Die Wettbewerbsbeschränkung ist auch spürbar. Wie ausgeführt, sind sämtliche in Deutschland tätigen Vereine und Spieler als Nachfrager der Vermittlungsleistungen an das Regelwerk gebunden. Realistische Marktchancen in Deutschland bestehen daher nur für Vermittler, die den angegriffenen Regelungen zur Registrierungspflicht (§ 2 Nr. 3, § 3 Nr. 2 und 3), zur Vergütungsstruktur (§ 7 Nr. 3 und Nr. 7) und zur Offenlegung der Zahlungen (§ 6 Nr. 1) nachkommen. Dem steht nicht die Klarstellung nach § 1 Nr. 4 RfSV entgegen, wonach Berufsspielerverträge und Transfervereinbarungen auch ohne Einhaltung der Bestimmungen des Reglements ihre Gültigkeit behalten.(3) Die Regelungen des RfSV sind ferner geeignet, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Wie ausgeführt, sind sämtliche in Deutschland tätigen Vereine und Spieler als Nachfrager der Vermittlungsleistungen an das Regelwerk gebunden, wodurch auch alle in Deutschland tätigen Spielervermittler durch die Regelungen beschränkt werden. Obwohl sie sich nur auf den gesamten deutschen Markt beziehen, bilden die Regelungen eine Marktzutrittsschranke für ausländische Spielevermittler, die in ihren Heimatländern nicht den gleichen Restriktionen unterliegen. Zudem hat eine Vielzahl vermittelter Spielertransfers einen Auslandsbezug, soweit ein Wechsel in die Bundesliga oder aus der Bundesliga in Rede steht. Die Relevanz für den Binnenmarkt steht daher außer Frage.b) Das Berufungsgericht hat nicht geprüft, ob die angegriffenen Regelungen die Freistellungsvoraussetzungen des Art. 101 Abs. 3 AEUV erfüllen. Auf Grundlage der Feststellungen des Berufungsurteils kann dies nicht angenommen werden.c) Die Entscheidung des Falls hängt damit entscheidend davon ab, ob eine Einschränkung des Tatbestands des Art. 101 Abs. 1 AEUV nach Maßgabe der Grundsätze der "Meca Medina"-Entscheidung des Unionsgerichtshofs eingreift, wie das Berufungsgericht angenommen hat.aa) Beschränkungen des Verbotstatbestands von Art. 101 Abs. 1 AEUV sind nach der Rechtsprechung des Unionsgerichtshofs nur für besondere Fallgestaltungen anerkannt (vgl. EuGH, Urteile vom 19. Februar 2002 - C-309/99, WuW/E EU-R 533 Rn. 97 ff. - Wouters; vom 28. Februar 2013 - C-1/12, WuW 2013, 545 Rn. 93 - OTOC; vom 18. Juli 2013 - C-136/12, WuW 2013, 1243 Rn. 53 f. - Consiglio nazionale dei geologi; vom 23. November 2017 - C-427/16 und C-428/16, NZKart 2018, 39, Rn. 54 - CHEZ Elektro Bulgaria). Danach fällt nicht jeder Beschluss einer Unternehmensvereinigung, durch den die Handlungsfreiheit von Parteien beschränkt wird, zwangsläufig unter das Verbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV. Die Vereinbarkeit eines solchen Beschlusses mit den Wettbewerbsregeln der Union kann nicht abstrakt beurteilt werden. Vielmehr sind bei der Anwendung des Kartellverbots der Gesamtzusammenhang, in dem der fragliche Beschluss zu Stande gekommen ist oder seine Wirkungen entfaltet, und insbesondere seine Zielsetzung zu würdigen. Es ist weiter zu prüfen, ob die mit dem Beschluss verbundenen wettbewerbsbeschränkenden Wirkungen notwendig mit der Verfolgung der genannten Ziele zusammenhängen und ob sie im Hinblick auf diese Ziele verhältnismäßig sind. Der Unionsgerichtshof hat diese Grundsätze - unter Berücksichtigung der Besonderheiten des sportlichen Wettbewerbs - auch im Bereich der Regelsetzung von Sportverbänden angewandt. Er hat entschieden, dass eine legitime Zielsetzung im vorstehend genannten Sinn auch mit einem sportlichen Regelwerk verfolgt werden kann, soweit es - wie Regeln zur Dopingkontrolle - untrennbar mit der Organisation und dem ordnungsgemäßen Ablauf eines sportlichen Wettkampfs verbunden ist und gerade dazu dient, einen fairen Wettstreit zwischen den Sportlern zu gewährleisten (sog. Meca Medina-Test; EuGH, WuW/E EU-R 1493 Rn. 43, 45 - Meca Medina).bb) Der vorliegende Sachverhalt unterscheidet sich von den bisherigen Fällen, in denen der Unionsgerichtshof für Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen eine entsprechende Tatbestandseinschränkung erwogen hat. Die Entscheidungen in den Rechtssachen "Wouters", "OTOC", "CHEZ Elektro Bulgaria" und "Consiglio nazionale dei geologi" betrafen jeweils berufsrechtliche Regelungen von auf gesetzlicher Grundlage gebildeten berufsständischen Vertretungen, denen eine Regelsetzungskompetenz für ihren Bereich zustand (vgl. EuGH, WuW/E EU-R 533 Rn. 44, 62 - Wouters; WuW 2013, 545 Rn. 48 f. - OTOC; WuW 2013, 1243 Rn. 5, 43 f. - Consiglio nazionale dei geologi; NZKart 2018, 39, Rn. 21, 48 - CHEZ Elektro Bulgaria). Der Entscheidung in der Rechtssache "Meca Medina" lagen Anti-Dopingregelungen des Internationalen Olympischen Komitees und eines Schwimmverbands zugrunde (vgl. EuGH, WuW/E EU-R 1493 Rn. 27 f. - Meca Medina). Diese Regelungen betrafen unmittelbar die sportliche Betätigung der Athleten und den fairen Ablauf des Wettkampfs, mithin den Markt für die Veranstaltung von Sportwettkämpfen. Sie bewegten sich damit im Rahmen der Verbandsautonomie, die es Verbänden erlaubt, ihre internen Verhältnisse selbst zu regeln (Art. 12 Abs. 1 GRCh, Art. 11 Abs.1 EMRK, Art. 9 Abs. 1 GG). Das im Streitfall vorliegende Reglement wendet sich zwar ebenfalls an Vereine und Spieler, insofern an die Verbandsmitglieder des Beklagten, es betrifft jedoch ebenso Spielervermittler, die nicht Mitglieder des Beklagten sind. Das Reglement wirkt sich daher auf einen der sportlichen Tätigkeit vorgelagerten Drittmarkt aus, an dem die Vereine und Spieler nur als Nachfrager der Vermittlungsleistung beteiligt sind. Beschränkungen Dritter im Wettbewerb lassen sich nicht allein mit der Vereinsautonomie rechtfertigen. Die privatrechtlichen Beziehungen eines Vereins oder seiner Mitglieder zu anderen Privatrechtssubjekten sind nicht anders zu beurteilen als entsprechende Beziehungen nicht vereinsgebundener Personen (vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 12. Oktober 1995 - 1 BvR 1938/93, NJW 1996, 1203 Rn. 9).cc) Ob in Fallgestaltungen wie diesen eine Regelung, die die wirtschaftliche Handlungsfreiheit nicht vereinsgebundener Marktteilnehmer spürbar beschränkt, unter Anwendung des Meca Medina-Tests von dem Verbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV ausgenommen werden kann, lässt sich der Rechtsprechung des Unionsgerichtshofs nicht eindeutig entnehmen. Dazu werden unterschiedliche Auffassungen vertreten.(1) Nach einer Auffassung sind die vom Unionsgerichtshof unter anderem in den Entscheidungen "Wouters" und "Meca Medina" entwickelten Grund-sätze in Fallgestaltungen wie der vorliegenden nicht anwendbar. Diese Grundsätze sollen danach nur gelten, wenn das Regelwerk rein sportliche oder jedenfalls "sportspezifische" Zwecke verfolgt (vgl. Ackermann, WuW 2022, 122, 126; Bien/Becker, ZWeR 2021, 565, 576; Podszun, NZKart 2021, 138, 142; Soldner/Gastell, SpoPrax 2022, 74, 76f.). Dafür spreche, dass der Unionsgerichtshof in der Rechtssache "Meca Medina" darauf abgestellt habe, dass die Beschränkung der Handlungsmöglichkeiten durch Anti-Dopingregeln mit dem ordnungsgemäßen Ablauf eines sportlichen Wettkampfs "untrennbar verbunden" sei (EuGH, WuW/E EU-R 1493 Rn. 45 - Meca Medina). Zudem könne sich eine Befugnis von Sportverbänden zur Regelsetzung in Bezug auf unternehmerische Tätigkeit zwar aus den Besonderheiten sportlicher Wettkämpfe (dazu: Schlussanträge des Generalanwalts vom 15. Dezember 2022 - C-333/21, juris Rn. 91 - European Super League), der privatrechtlichen Unterwerfung der Mitglieder unter die Verbandssatzung und der rechtlich anerkannten Verbandsautonomie ergeben. Anderes gelte aber, wenn Bedingungen für Märkte geregelt würden, die nicht unmittelbar den sportlichen Wettkampf selbst beträfen, und wenn dabei die Tätigkeit von Unternehmen Gegenstand der Regelung sei, die keine Mitglieder des Sportverbands seien und daher den Inhalt dieser Regelungen nicht beeinflussen könnten. Dann rechtfertigten es weder die Besonderheiten des sportlichen Wettkampfs noch die den Verbänden durch ihre Mitglieder privatrechtlich verliehene Regelsetzungsmacht, gemäß dem Meca Medina-Test des Unionsgerichtshofs von der Anwendung des Art. 101 Abs. 1 AEUV abzusehen (vgl. Bien/Becker, aaO 588; Podszun, aaO 146). Andernfalls könnte das Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen aus Art. 101 Abs. 1 AEUV an Durchsetzungskraft verlieren. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus Art. 165 Abs. 2 Satz 2 AEUV. Diese Vorschrift ermögliche der Union zur Verwirklichung ihrer sportbezogenen Zielsetzung nach Art. 165 Abs. 4 AEUV nur Empfehlungen und gesetzgeberische Fördermaßnahmen, nicht aber die Lockerung kartellrechtlicher Bindungen (Ackermann, aaO, 122, 126 f.). Darüber hinaus sei zu berücksichtigen, dass zur regelhaften Konkretisierung übergeordneter Interessen, die im Widerspruch zu Art. 101 Abs. 1 AEUV stehen, nur der demokratisch legitimierte Gesetzgeber befugt sei (Schweitzer in: Monopolkommission (Hrsg.), Symposium: 40 Jahre Monopolkommission, Baden-Baden 2015 S. 21, 36 f.).(2) Nach anderer Ansicht kommt es für die Anwendbarkeit der unter anderem in den Rechtssachen "Wouters" und "Meca Medina" entwickelten Grundsätze nicht darauf an, ob das Reglement eines Sportverbands nur den rein sportlichen Bereich der Verbandstätigkeit - insbesondere die Märkte für die Veranstaltung der Sportwettkämpfe - betrifft oder ob es sich unmittelbar auf Drittmärkte auswirkt. Vielmehr beanspruchten die Grundsätze bereits dann Geltung, wenn die Verbandsregelung überhaupt in irgendeinen sachbezogenen Zusammenhang mit der Organisation und dem ordnungsgemäßen Ablauf eines sportlichen Wettkampfs gebracht werden könnte. Der Anwendungsbereich der Meca Medina-Grundsätze sei nur dann nicht eröffnet, wenn mit der strittigen Regelung allein (eigen)wirtschaftliche und keinerlei den konkreten Sportwettkampf betreffende sportorganisatorische Ziele verfolgt würden (Heermann, Verbandsautonomie im Sport, 2022, S. 355 Rn. 174). Die Verbandsautonomie sei in diesem Zusammenhang nicht maßgeblich. Eine legitime Zielsetzung, die der zwingenden Verbotsfolge aus Art. 101 AEUV entgegenstehe, könne unabhängig davon in den Besonderheiten des Sports gesehen werden, dessen ethische Werte nach Art. 165 Abs. 2 Satz 2 AEUV auch zu den erklärten Zielen der Europäischen Union gehörten (vgl. Heermann, SpuRt 2022, 214, 217; WRP 2015, 1172, 1174). Dafür spreche auch, dass der Unionsgerichtshof in der Rechtssache "Meca Medina" nicht ausdrücklich auf die Verbandsautonomie abgestellt, sondern allgemein auf die in der Rechtssache "Wouters" genannten Grundsätze verwiesen habe. Er habe angenommen, die Vereinbarkeit eines Regelwerks mit den unionsrechtlichen Wettbewerbsregeln sei nicht abstrakt zu beurteilen, sondern es müsse der Gesamtzusammenhang gewürdigt werden, in dem der fragliche Beschluss zustande gekommen sei oder seine Wirkungen entfalte (vgl. EuGH, WuW/E EU-R 1493 Rn. 42 - Meca Medina). Zu dem sportlichen Gesamtzusammenhang könnten auch Regelungen gerechnet werden, die nicht rein sportlichen Charakters seien, sondern die Inanspruchnahme einer Dienstleistung durch Verbandsmitglieder beträfen, die nur mittelbar Auswirkungen auf die sportliche Tätigkeit haben. Zudem könne es den Markt der Spielervermittlung ohne die Organisation des professionellen Fußballsports durch den Beklagten gar nicht geben, so dass er zumindest insofern mit der sportlichen Betätigung unmittelbar zusammenhänge.dd) Sofern die auf einen Drittmarkt bezogene Regelsetzung eines Sportverbands nach Prüfung ihrer Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf die Regelungsziele von der Anwendung des Art. 101 Abs. 1 AEUV ausgenommen werden kann und daher Vorlagefrage 1 zu bejahen sein sollte, wäre zu erwägen, diese Prüfung nicht einheitlich für das gesamte von einem Sportverband erlassene Reglement zu eröffnen, sondern von vornherein nur für solche Regelungen, die eine ausreichende Nähe zu der sportlichen Tätigkeit des Verbands aufweisen (Vorlagefrage 2). Eine Prüfung, ob eine legitime Zielsetzung gegeben ist, die wettbewerbsbeschränkenden Wirkungen notwendig mit der Verfolgung der genannten Ziele zusammenhängen und ob sie im Hinblick auf diese Ziele verhältnismäßig sind, wäre dann nur im Hinblick auf diese einzelnen Regelungen möglich und erforderlich.d) Geht man mit dem Berufungsgericht davon aus, dass sich aus dem Gesamtzusammenhang des Reglements eine legitime Zielsetzung im Sinne der "Meca Medina"-Rechtsprechung ergibt, wären die angegriffenen Einzelregelungen jeweils daraufhin zu untersuchen, ob sie dieser allgemeinen Zielsetzung entsprechen. Auf einer zweiten Prüfungsstufe wäre zu untersuchen, ob ein notwendiger Zusammenhang zwischen der Verfolgung der legitimen Zielsetzung und der Wettbewerbsbeschränkung besteht. In einem dritten Schritt wäre zu prüfen, ob die jeweilige wettbewerbsbeschränkende Maßnahme verhältnismäßig, also zur Erreichung des legitimen Ziels geeignet, erforderlich und angemessen ist. Bei Anwendung des Meca Medina-Tests könnte sich jedenfalls ein Teil der angegriffenen Regelungen als mit Art. 101 Abs. 1 AEUV vereinbar erweisen.Ist hingegen der Meca Medina-Test auf Regelwerke der streitgegenständlichen Art, die mit dem von einem Sportverband organisierten Spielbetrieb nur in einem weiteren Zusammenhang stehen, nicht anwendbar, wäre für sämtliche angegriffenen Regelungen ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV zu bejahen.KirchhoffRoloffTolkmittHolzingerKochendörfer
bundesgerichtshof
bgh_091-2022
13.06.2022
Bundesgerichtshof entscheidet über die Zulässigkeit eines "Sammelklageninkassos" für Schweizer Erwerber im sogenannten Dieselskandal Ausgabejahr 2022 Erscheinungsdatum 13.06.2022 Nr. 091/2022 Urteil vom 13. Juni 2022 – VIa ZR 418/21 Der vom Präsidium des Bundesgerichtshofs vorübergehend als Hilfsspruchkörper eingerichtete VIa. Zivilsenat (vgl. Pressemitteilung Nr. 141/2021 vom 22. Juli 2021) hat heute entschieden, dass ein Inkassodienstleister sich wirksam Schadensersatzforderungen abtreten lassen kann, deren sich Schweizer Erwerber von Kraftfahrzeugen gegen die beklagte Volkswagen AG berühmen. Sachverhalt: Einer dieser Erwerber, ein Schweizer mit Wohnsitz in der Schweiz, kaufte – so im Revisionsverfahren zu unterstellen – im Februar 2015 in der Schweiz von einer Schweizer Vertragshändlerin der beklagten Fahrzeugherstellerin einen VW Tiguan mit Erstzulassung 2015. In das Fahrzeug ist ein Dieselmotor der Baureihe EA 189 eingebaut. Der Motor war mit einer Software ausgestattet, die erkannte, ob das Fahrzeug auf einem Prüfstand dem Neuen Europäischen Fahrzyklus (NEFZ) unterzogen wurde. In diesem Fall schaltete sie vom regulären Abgasrückführungsmodus 0 in einen Stickoxid-optimierten Abgasrückführungsmodus 1 (Prüfstanderkennungssoftware). Es ergaben sich dadurch auf dem Prüfstand geringere Stickoxid-Emissionswerte als im normalen Fahrbetrieb. Das Kraftfahrt-Bundesamt bewertete diese Software als unzulässige Abschalteinrichtung und ordnete für die betroffenen Fahrzeuge einen Rückruf an. In der Schweiz erließ das Bundesamt für Straßen (ASTRA) im Oktober 2015 ein vorläufiges Zulassungsverbot für bestimmte Fahrzeuge mit Dieselmotoren der Baureihe EA 189, von dem das Fahrzeug des Zedenten nicht betroffen war. Der Erwerber ließ Ende 2016 ein Software-Update aufspielen. Am 18. Dezember 2017 trat der Erwerber – so wiederum im Revisionsverfahren zu unterstellen – seine Forderungen gegen die Beklagte an die Klägerin, eine nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Rechtsdienstleistungsgesetz (RDG) registrierte Inkassodienstleisterin in der Rechtsform einer in der Bundesrepublik Deutschland ansässigen Gesellschaft mit beschränkter Haftung, treuhänderisch zur Einziehung ab. Die Klägerin sollte die Forderung zunächst außergerichtlich geltend machen. Im Falle des Scheiterns der außergerichtlichen Geltendmachung sollte die Klägerin die Ansprüche im eigenem Namen gerichtlich geltend machen, wobei ihr im Erfolgsfall eine Provision zukommen sollte. Der Erwerber sollte für etwaige Kosten der Rechtsverfolgung nicht aufkommen müssen. Bisheriger Prozessverlauf: Die Klägerin, die sich in über 2000 Fällen in entsprechender Weise Forderungen von Schweizer Erwerbern treuhänderisch zur Einziehung hat abtreten lassen, hat bei dem Landgericht 2019 eine Klage erhoben, in der sie sämtliche Forderungen zum Gegenstand von Feststellungsbegehren gemacht hat. Das Landgericht hat das Verfahren die Ansprüche des einen Erwerbers betreffend abgetrennt. Auf richterlichen Hinweis hat die Klägerin sodann ihren Antrag umgestellt und die Beklagte auf Zahlung eines der Höhe nach in das Ermessen des Gerichts gestellten Betrags, mindestens jedoch CHF 5.394 (15% des Kaufpreises als Minderwert) zuzüglich Zinsen ab Übergabe des Fahrzeugs, in Anspruch genommen. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat die dagegen gerichtete Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Klägerin fehle für die Geltendmachung der Schadensersatzforderung des Erwerbers die Aktivlegitimation. Die Klägerin habe für die Geltendmachung der Forderung, die Schweizer Recht unterfalle, einer Erlaubnis nicht nur – wie vorhanden – nach § 2 Abs. 2 Satz 1, §§ 3, 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 RDG, sondern nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 RDG bedurft, über die sie nicht verfüge. Folge des Fehlens der Erlaubnis nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 RDG sei, dass die Klägerin durch ihr Tätigwerden gegen das Rechtsdienstleistungsgesetz verstoßen habe. Dieser Verstoß führe nicht nur zur Nichtigkeit des der Abtretung zugrundeliegenden schuldrechtlichen Dienstleistungsvertrags mit dem Zedenten, sondern auch zur Nichtigkeit der Forderungsabtretung. Entscheidung des Bundesgerichtshofs: Die vom Berufungsgericht zugelassene Revision der Klägerin hatte Erfolg. Der Bundesgerichtshof hat anhand einer am Wortlaut, an der Systematik und an Sinn und Zweck des Rechtsdienstleistungsgesetzes sowie an der Gesetzgebungsgeschichte orientierten Auslegung klargestellt, dass ein nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 RDG registrierter Inkassodienstleister auch dann keiner weiteren Erlaubnis nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 RDG bedarf, wenn er eine ihm treuhänderisch übertragene und einem ausländischen Sachrecht unterfallende Forderung außergerichtlich geltend macht. Dabei hat der Bundesgerichtshof die Entscheidungen des VIII. Zivilsenats vom 27. November 2019 (VIII ZR 285/18, BGHZ 224, 89, vgl. Pressemitteilung Nr. 153/2019) und des II. Zivilsenats vom 13. Juli 2021 (II ZR 84/20, BGHZ 230, 255, vgl. Pressemitteilung Nr. 127/2021) berücksichtigt. Darüber hinaus hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass das Abhängigmachen der Tätigkeit der Klägerin von einer zusätzlichen Erlaubnis nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 RDG zur Erreichung des Schutzzwecks des Rechtsdienstleistungsgesetzes nicht erforderlich ist. Weil sich schon deshalb die Auffassung des Berufungsgerichts als rechtsfehlerhaft erwies, der Klägerin fehle wegen einer aus einem Verstoß gegen das Rechtsdienstleistungsgesetz folgenden Nichtigkeit der Abtretung die Aktivlegitimation, hat der Bundesgerichtshof das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Das Berufungsgericht wird sich nunmehr mit der inhaltlichen Berechtigung der Forderung des Zedenten zu befassen haben. Vorinstanzen: Landgericht Braunschweig – Urteil vom 30. April 2020 – 11 O 3092/19 Oberlandesgericht Braunschweig – Urteil vom 7. Oktober 2021 – 8 U 40/21 Die maßgeblichen Vorschriften des Rechtsdienstleistungsgesetzes lauten: § 10 Rechtsdienstleistungen aufgrund besonderer Sachkunde (1) Natürliche und juristische Personen sowie Gesellschaften ohne Rechtspersönlichkeit, die bei der zuständigen Behörde registriert sind (registrierte Personen), dürfen aufgrund besonderer Sachkunde Rechtsdienstleistungen in folgenden Bereichen erbringen: 1. Inkassodienstleistungen (§ 2 Abs. 2 Satz 1), 2. […] 3. Rechtsdienstleistungen in einem ausländischen Recht; ist das ausländische Recht das Recht eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, darf auch auf dem Gebiet des Rechts der Europäischen Union und des Rechts des Europäischen Wirtschaftsraums beraten werden. Die Registrierung kann auf einen Teilbereich der in Satz 1 genannten Bereiche beschränkt werden, wenn sich der Teilbereich von den anderen in den Bereich fallenden Tätigkeiten trennen lässt und der Registrierung für den Teilbereich keine zwingenden Gründe des Allgemeininteresses entgegenstehen. Karlsruhe, den 13. Juni 2022 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Urteil des VIa. Zivilsenats vom 13.6.2022 - VIa ZR 418/21 -
financialrightDie Inkassoerlaubnis umfasst den Einzug von Forderungen, die ausländischem Sachrecht unterfallen. Tenor Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 8. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Braunschweig vom 7. Oktober 2021 aufgehoben.Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.Von Rechts wegen Tatbestand Die Klägerin macht aus abgetretenem Recht des        C.      (künftig: Zedent) gegen die beklagte Fahrzeugherstellerin Schadensersatzansprüche wegen der Verwendung von unzulässigen Abschalteinrichtungen geltend.Nach klägerischem Vortrag erwarb der damals in der Schweiz wohnhafte Zedent im Februar 2015 von einem Schweizer Vertragshändler einen von der Beklagten hergestellten VW Tiguan zum Kaufpreis von CHF 37.960. In das Fahrzeug ist ein Dieselmotor der Baureihe EA 189 eingebaut. Der Motor war mit einer Software ausgestattet, die erkannte, ob das Fahrzeug auf einem Prüfstand dem Neuen Europäischen Fahrzyklus (NEFZ) unterzogen wurde. In diesem Fall schaltete sie vom regulären Abgasrückführungsmodus 0 in einen stickoxidoptimierten Abgasrückführungsmodus 1 (Prüfstanderkennungssoftware). Es ergaben sich dadurch auf dem Prüfstand geringere Stickoxid-Emissionswerte als im normalen Fahrbetrieb. Das Kraftfahrt-Bundesamt (künftig: KBA) bewertete diese Software als unzulässige Abschalteinrichtung und ordnete für die betroffenen Fahrzeuge einen Rückruf an. In der Schweiz erließ das Bundesamt für Straßen (ASTRA) im Oktober 2015 ein vorläufiges Zulassungsverbot für bestimmte Fahrzeuge mit Dieselmotoren der Baureihe EA 189, von dem das Fahrzeug des Zedenten nicht betroffen war. Der Zedent ließ Ende 2016 ein Software-Update aufspielen. Am 18. Dezember 2017 trat der Zedent sämtliche Ansprüche gegen die Beklagte wegen des Einbaus der unzulässigen Abschalteinrichtungen treuhänderisch an die Klägerin ab. Der Abtretungsvertrag soll nach der Vereinbarung der Vertragsparteien dem Schweizer Recht unterfallen.Die Klägerin, eine in der Bundesrepublik Deutschland ansässige Gesellschaft mit beschränkter Haftung, verfügt über eine Registrierung gemäß § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 des Rechtsdienstleistungsgesetzes (RDG) für den Bereich Inkassodienstleistungen. Über ihre Vertragsbeziehungen zum Zedenten hinaus wurden ihr Forderungen von in der Schweiz wohnhaften Personen treuhänderisch abgetreten, die jeweils ein von der Beklagten hergestelltes Fahrzeug mit dem Motor des Typs EA 189 gekauft oder geleast hatten. Die Vertragspartner der Klägerin (künftig: Auftraggeber) beauftragten sie mit der außergerichtlichen und gerichtlichen Durchsetzung ihrer Schadensersatzansprüche gegen die Beklagte. Die Ansprüche sollten gerichtlich vor dem Landgericht Braunschweig im Wege der Anspruchshäufung in der Weise durchgesetzt werden, dass gleichartige Ansprüche verschiedener Auftraggeber in einem Verfahren zusammengefasst werden sollten. Die Durchsetzung der Ansprüche sollte außergerichtlich und gerichtlich in Zusammenarbeit mit qualifizierten Rechtsanwälten erfolgen. Die Klägerin sollte als Vergütung ("Erfolgsprovision") für ihre Tätigkeit im Erfolgsfall einen Anteil von 35% auf die tatsächlich in Ansehung der Entschädigungsansprüche durchgesetzten Beträge erhalten, wobei von der Leistung der Beklagten zunächst der Wert etwaiger Zug-um-Zug-Leistungen in Abzug gebracht werden sollte. Sollten die Bemühungen der Klägerin erfolglos bleiben, sollten für die Auftraggeber - auch in den Fällen der Beauftragung eines Rechtsanwalts und der gerichtlichen Geltendmachung der Forderungen - keine Kosten entstehen. Die Klägerin sollte zum Abschluss eines widerruflichen Vergleichs berechtigt sein. Falls ein Auftraggeber den Vergleichsschluss nicht gegen sich gelten lassen wollte, sollte er zur Zahlung einer Vergütung verpflichtet sein.Die Klägerin schloss zur Absicherung des Prozesskostenrisikos einen Vertrag mit einem Prozessfinanzierer. Dieser verpflichtete sich ihr gegenüber ebenfalls gegen Zahlung eines Erfolgshonorars, für die Kosten aufzukommen, die ihr im Rahmen der gerichtlichen Durchsetzung der Schadensersatzansprüche gegen die Beklagte entstünden. Im Falle eines Vergleichsschlusses war der Prozessfinanzierer zu konsultieren, ihm stand aber kein Entscheidungsrecht zu. Bei einem erstinstanzlichen Obsiegen der Klägerin musste der Prozessfinanzierer die Kosten einer Berufung und Revision finanzieren, im Falle eines erstinstanzlichen Unterliegens der Klägerin blieb die weitere Finanzierung des Rechtsstreits einer Prüfung der Erfolgsaussichten durch ihn vorbehalten.Entsprechend der ihr erteilten Aufträge hat die Klägerin im Jahr 2019 wegen sämtlicher ihr von ihren Auftraggebern treuhänderisch abgetretenen Forderungen gemäß § 260 ZPO "Sammelklage" erhoben, in der sie die Forderungen zum Gegenstand von Feststellungsbegehren gemacht hat; die Klage hat auch den Anspruch des Zedenten umfasst. Das Landgericht hat das Verfahren den Anspruch des Zedenten betreffend (Teilanspruch Nr. 1945) gemäß § 145 Abs. 1 Satz 1 ZPO abgetrennt. Auf richterlichen Hinweis hat die Klägerin sodann ihren Antrag umgestellt und die Beklagte auf Zahlung eines der Höhe nach in das Ermessen des Gerichts gestellten Betrags, mindestens jedoch CHF 5.394 zuzüglich Zinsen ab Übergabe des Fahrzeugs, in Anspruch genommen. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat die dagegen gerichtete Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter. Gründe Die Revision hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.I.Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung (OLG Braunschweig, Urteil vom 7. Oktober 2021 - 8 U 40/21, juris), soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung, im Wesentlichen wie folgt begründet: Der Klägerin fehle für die Geltendmachung der Schadensersatzforderung des Zedenten die Aktivlegitimation. Sie habe für die Durchsetzung der Forderung, die Schweizer Recht unterfalle, einer Erlaubnis nicht nur - wie vorhanden - nach § 2 Abs. 2 Satz 1, §§ 3, 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 RDG, sondern auch nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 RDG bedurft, über die sie nicht verfüge. Folge des Fehlens der Erlaubnis nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 RDG sei, dass die Klägerin durch ihr Tätigwerden gegen das Rechtsdienstleistungsgesetz verstoßen habe. Dieser Verstoß führe nicht nur zur Nichtigkeit des der Abtretung zugrundeliegenden schuldrechtlichen Dienstleistungsvertrags mit dem Zedenten, sondern auch zur Nichtigkeit der Forderungsabtretung.II.Diese Beurteilung hält einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung kann ein Anspruch der Klägerin auf Zahlung von mindestens CHF 5.394 nebst Zinsen nicht verneint werden. Mangels entgegenstehender Feststellungen des Berufungsgerichts ist revisionsrechtlich zugunsten der Klägerin zu unterstellen, dass der Zedent das streitgegenständliche Fahrzeug im Jahr 2015 in der Schweiz gekauft und im Jahr 2017 mit der Klägerin den Rechtsdienstleistungsvertrag geschlossen und etwaige Schadensersatzansprüche gegen die Beklagte wegen der eingebauten Abschalteinrichtungen an die Klägerin abgetreten hat. Das Berufungsgericht hat für diesen Fall zu Unrecht die Aktivlegitimation der Klägerin verneint. Es hat rechtsfehlerhaft angenommen, die Klägerin verstoße mit ihrer Tätigkeit im vorliegenden Fall gegen §§ 3, 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 RDG, weswegen die zwischen der Klägerin und dem Zedenten im Dezember 2017 vereinbarte Abtretung wegen Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot nach § 134 BGB nichtig sei. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist die von der Klägerin erbrachte Tätigkeit zur Durchsetzung der gegebenenfalls nach Schweizerischem Recht zu beurteilenden Schadensersatzansprüche im Zusammenhang mit dem sogenannten Dieselskandal durch die ihr nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 RDG und § 2 Abs. 2 Satz 1 RDG in der Fassung vom 12. Mai 2017 (künftig: RDG aF) erteilte Befugnis zur Erbringung von Rechtsdienstleistungen im Bereich Inkassodienstleistungen gedeckt. Eine zusätzliche Registrierung nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 RDG war nicht erforderlich. Schon aus diesem Grund sind die Voraussetzungen für eine Nichtigkeit nach § 134 BGB in Verbindung mit § 3 RDG nicht gegeben, so dass es auf die Frage nicht ankommt, ob - da § 134 BGB, § 3 RDG unmittelbar auf den dem Schweizer Recht unterliegenden Rechtsdienstleistungsvertrag und die dem Schweizer Recht unterliegende Abtretung keine Anwendung finden - Verbotsvorschriften des Rechtsdienstleistungsgesetzes sich als Eingriffsnormen im Sinne des Art. 9 der Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I) durchsetzen (vgl. dazu Kerstges, AnwBl Online 2021, 347).1. Das Rechtsdienstleistungsgesetz findet nach § 1 Abs. 1 Satz 1 RDG auf den vorliegenden Sachverhalt Anwendung. Die von der Klägerin ausgeübte Tätigkeit weist einen hinreichenden territorialen Bezug zum Gebiet der Bundesrepublik Deutschland auf und der Schutz des Rechtsverkehrs erfordert die Anwendung des Rechtsdienstleistungsgesetzes (vgl. BGH, Urteil vom 11. Dezember 2013 - IV ZR 46/13, NJW 2014, 847 Rn. 13 f.; zur früheren Rechtslage nach dem RBerG: BGH, Urteil vom 5. Oktober 2006 - I ZR 7/04, NJW 2007, 596 Rn. 21 ff.). Nach den bindenden und von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts hat die Klägerin ihren Sitz in Deutschland und ist hier als Inkassodienstleisterin registriert. Im Rahmen ihrer Inkassotätigkeit macht sie aus abgetretenem Recht Ansprüche des in der Schweiz wohnhaften Zedenten gegen die in Deutschland ansässige Beklagte geltend. Ihre Tätigkeit umfasst dabei die außergerichtliche und - "soweit erforderlich" - gerichtliche Durchsetzung der Ansprüche in der Bundesrepublik Deutschland.2. Unzweifelhaft und von den Parteien im Revisionsverfahren nicht in Frage gestellt, handelt es sich bei der dem Zedenten versprochenen Tätigkeit der Klägerin um eine Rechtsdienstleistung im Sinne von § 2 Abs. 2 Satz 1 RDG aF, welche nach § 3 RDG nur zulässig ist, wenn sie nach dem Rechtsdienstleistungsgesetz erlaubt ist, sie im Streitfall also von der Erlaubnis nach § 10 Abs. 1 Satz 1 RDG umfasst ist. Denn die Klägerin lässt sich zum Zweck der Einziehung auf fremde Rechnung Forderungen abtreten und betreibt die Forderungseinziehung als eigenständiges Geschäft (vgl. BT-Drucks. 19/27673, S. 15).3. Das Geschäftsmodell der Klägerin, sich massenhaft Schadensersatzansprüche gegen die Beklagte wegen der in den Motor des Typs EA 189 implementierten Software treuhänderisch abtreten zu lassen und diese sodann - nach einer erfolglosen außergerichtlichen Verfolgung - in einer "Sammelklage" gemäß § 260 ZPO gegen die Beklagte geltend zu machen, ist von § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 RDG unzweifelhaft umfasst und erlaubt, sofern die Schadensersatzansprüche dem deutschen Recht unterliegen und die Voraussetzungen des § 4 RDG aF nicht gegeben sind. Der Inkassobegriff der § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 RDG, § 2 Abs. 2 Satz 1 RDG aF schließt Geschäftsmodelle ein, die ausschließlich oder vorrangig auf eine gerichtliche Einziehung von Forderungen im Wege des sogenannten "Sammelklage-Inkasso" abzielen (vgl. BGH, Urteil vom 13. Juli 2021 - II ZR 84/20, BGHZ 230, 255 Rn. 16).a) Weder dem Wortlaut noch der Systematik der § 1 Abs. 1 Satz 1, § 3 RDG lässt sich ein Ausschluss eines solchen Geschäftsmodells entnehmen. Die Legaldefinition der Inkassodienstleistung in § 2 Abs. 2 Satz 1 RDG aF spricht weder von außergerichtlicher noch von gerichtlicher Forderungseinziehung. Das Gesetz verwendet den Ausdruck der außergerichtlichen Rechtsdienstleistung vielmehr in § 1 Abs. 1 Satz 1, § 3 RDG. Der Begriff der "außergerichtlichen Rechtsdienstleistung" in § 1 Abs. 1 Satz 1, § 3 RDG ist dabei adressatenbezogen in dem Sinn zu verstehen, dass lediglich an das Gericht adressierte Handlungen nicht erfasst werden (BGH, Urteil vom 26. Juni 2013 - IV ZR 39/10, NJW 2013, 3580 Rn. 42). Alle übrigen Rechtsdienstleistungen sind auch dann als außergerichtlich einzuordnen, wenn sie inhaltlich allein auf eine gerichtliche Durchsetzung eines Anspruchs ausgerichtet sind und nur in diesem Zusammenhang sinnvoll erscheinen, wie etwa der Entwurf einer Klageschrift (vgl. BT-Drucks. 16/3655, S. 45). Einem registrierten Inkassodienstleister ist die gerichtliche Geltendmachung einer abgetretenen Forderung gemäß §§ 78, 79 Abs. 1 Satz 2 Fall 2 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 ZPO erlaubt, sofern er hierzu einen Rechtsanwalt beauftragt. Im Umkehrschluss darf er sich im Rahmen des Inkassodienstleistungsvertrags gegenüber dem Auftraggeber hierzu auch verpflichten (vgl. BGH, Urteil vom 13. Juli 2021 - II ZR 84/20, BGHZ 230, 255 Rn. 18 f. mwN).b) Daneben erfordert es der in § 1 Abs. 1 Satz 2 RDG genannte Schutzzweck des Rechtsdienstleistungsgesetzes, insbesondere unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Schutz der Berufsausübungsfreiheit des Inkassodienstleisters (Art. 12 Abs. 1 GG; vgl. BVerfG, NJW 2002, 1190 f.), den Begriff der Inkassodienstleistung so auszulegen, dass Geschäftsmodelle, die ausschließlich oder vorrangig auf die gerichtliche Einziehung der Forderung abzielen, umfasst sind. Dies gilt regelmäßig auch dann, wenn das Geschäftsmodell eine Bündelung einer Vielzahl von Einzelforderungen vorsieht (BGH, Urteil vom 13. Juli 2021 - II ZR 84/20, BGHZ 230, 255 Rn. 22). Das Ausscheiden von derartigen Geschäftsmodellen aus dem Begriff der Inkassodienstleistung im Sinne des § 2 Abs. 2 Satz 1 RDG aF ist zur Erreichung der Schutzzwecke des Rechtsdienstleistungsgesetzes, die Rechtsuchenden, den Rechtsverkehr und die Rechtsordnung vor unqualifizierten Rechtsdienstleistungen zu schützen, nicht erforderlich und steht zu der durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Berufsausübungsfreiheit des Inkassodienstleisters außer Verhältnis. Denn wenn und soweit der Anbieter über die zur Registrierung nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 RDG erforderliche Sachkunde verfügt und für das gerichtliche Verfahren einen Rechtsanwalt beauftragen muss, erhöht sich dadurch, dass die abgetretenen Ansprüche statt außergerichtlich in erster Linie gerichtlich durchgesetzt werden sollen, die Gefahr einer unqualifizierten Rechtsdienstleistung nicht in einem solchen Maße, dass dies den mit einem Verbot verbundenen Eingriff in seine Berufsausübungsfreiheit rechtfertigen könnte. Der Senat schließt sich insoweit den Ausführungen des II. Zivilsenats in seinem Urteil vom 13. Juli 2021 (aaO Rn. 25 ff.) an.Entgegen der in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat geäußerten Ansicht der Beklagten ist also auch die massenhafte Bündelung der Ansprüche von § 2 Abs. 2 Satz 1 RDG aF, § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 RDG umfasst. Soweit dem Urteil des II. Zivilsenats vom 13. Juli 2021 (II ZR 84/20, BGHZ 230, 255) eine Fallgestaltung zugrunde lag, in der lediglich sieben Ansprüche gebündelt geltend gemacht worden waren, wohingegen die Klägerin im Streitfall 2004 Ansprüche zusammengefasst hat, lässt sich aus den rechtlichen Erwägungen des II. Zivilsenats nicht entnehmen, dass die Zulässigkeit des "Sammelklage-Inkassos" von der Zahl der abgetretenen Forderungen abhängig ist.c) In dem Geschäftsmodell der Klägerin liegt - entgegen der Revisionserwiderung - keine Zweckentfremdung der Inkassoerlaubnis, weil die Klägerin zur Einziehung bestrittener Forderungen und zur Prüfung dieser Forderungen verpflichtet ist. Die Vorschriften der § 2 Abs. 2 Satz 1 RDG aF, § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 RDG gestatten Inkassodienstleistern eine umfassende rechtliche Prüfung der einzuziehenden Forderungen, wie das Bundesverfassungsgericht und der Bundesgerichtshof bereits zum Rechtsberatungsgesetz entschieden haben (BVerfG, NJW 2002, 1190, 1191 f.; NJW-RR 2004, 1570, 1571; BGH, Urteil vom 14. November 2006 - XI ZR 294/05, BGHZ 170, 18 Rn. 27). Dem sind der Gesetzgeber (vgl. BT-Drucks. 16/3655, S. 27) und der Bundesgerichtshof (BGH, Urteil vom 27. November 2019 - VIII ZR 285/18, BGHZ 224, 89 Rn. 141, 144) für das Rechtsdienstleistungsgesetz gefolgt. Durch die Ergänzung des § 2 Abs. 2 Satz 1 RDG in der Fassung vom 10. August 2021 zum 1. Oktober 2021 um die Worte "einschließlich der auf die Einziehung bezogenen rechtlichen Prüfung und Beratung" wollte der Gesetzgeber klarstellen, dass die Prüfung der Berechtigung der Forderung und die Beratung des Auftraggebers vom Begriff der Inkassodienstleistung erfasst sind, solange und soweit sie sich auf die Einziehung einer konkreten Forderung beziehen. Damit werde die zum Teil bereits seit längerem bestehende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs auch im Wortlaut des § 2 Absatz 2 Satz 1 RDG nachvollzogen (BT-Drucks. 19/27673, S. 39).d) In der Bündelung der Ansprüche liegt schließlich auch keine unzulässige Rechtsausübung.aa) Durch die nach § 260 ZPO zulässige Anspruchsbündelung wird entgegen den Einwänden der Revisionserwiderung in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat kein unzulässiger Druck auf den Anspruchsgegner ausgeübt. Nach deutschem Prozessrecht wird die Berechtigung eines jeden Anspruchs unter Berücksichtigung der Darlegungs- und Beweislast geprüft. Beweise werden erst erhoben, wenn der Anspruch schlüssig dargelegt ist. Strafschadensersatz kennt das deutsche Recht nicht (vgl. BGH, Urteil vom 28. Juni 2011 - KZR 75/10, BGHZ 190, 145 Rn. 62; Urteil vom 25. Mai 2020 - VI ZR 252/19, BGHZ 225, 316 Rn. 67; Urteil vom 16. Dezember 2021 - I ZR 201/20, GRUR 2022, 229 Rn. 84). Zudem hat ein Kläger, wenn er den Prozess verliert, gemäß § 91 Abs. 1 ZPO die Kosten des Rechtsstreits zu tragen, insbesondere die dem Gegner erwachsenen Kosten zu erstatten, soweit sie zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendig waren.bb) Unerheblich ist es überdies, dass das Sammeln der Ansprüche und die Klageerhebung (auch) der Einnahmeerzielung durch die Klägerin dienen. Denn der Zivilprozessordnung ist nicht zu entnehmen, dass die Klageerhebung zur Einnahmeerzielung unzulässig wäre. Mit einem Prozess Geld zu verdienen, ist nicht per se verwerflich (vgl. Stadler, WuW 2018, 189, 191). Anderes ergibt sich - entgegen der Revisionserwiderung - nicht aus den Entscheidungen des Bundesgerichtshofs vom 13. September 2018 (I ZR 26/17, NJW 2018, 3581) und vom 9. Mai 2019 (I ZR 205/17, ZIP 2019, 1448), wonach die Gewinnabschöpfungsklage eines Verbraucherverbands, die von einem gewerblichen Prozessfinanzierer finanziert werde, dem eine Vergütung in Form eines Anteils am abgeschöpften Gewinn zugesagt werde, dem Verbot unzulässiger Rechtsausübung aus § 242 BGB widerspreche und unzulässig sei (BGH, Urteil vom 13. September 2018, aaO Rn. 38; Urteil vom 9. Mai 2019, aaO Rn. 21 und 27; so aber Prütting, ZIP 2020, 49, 51 bei Fn. 8). Diese Entscheidungen beschränken sich auf den Sonderfall der Gewinnabschöpfungsklage im Sinne von § 10 Abs. 1 UWG, welche nach dem Willen des Gesetzgebers nicht aus dem sachfremden Motiv der Einnahmeerzielung heraus geltend gemacht werden sollte (BGH, Urteil vom 13. September 2018, aaO Rn. 42; Urteil vom 9. Mai 2019, aaO Rn. 26).4. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts durfte die Klägerin als nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 RDG registrierte Inkassodienstleisterin gemäß § 3 RDG auch die ihr treuhänderisch abgetretenen Forderungen ihrer Auftraggeber außergerichtlich geltend machen, selbst wenn diese Forderungen - wovon das Berufungsgericht ausgegangen ist - gemäß Art. 3 und Art. 4 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom II) Schweizer Sachrecht unterfielen. §§ 3, 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 RDG stehen dem nicht entgegen.a) Die Erstreckung der Inkassodienstleistungsbefugnis auf die Geltendmachung von Forderungen, die ausländischem Sachrecht unterliegen, ist in der Literatur allerdings streitig. Einerseits wird mit dem Berufungsgericht vertreten, es bedürfe dafür (zusätzlich) einer Registrierung nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 RDG (Henssler in Deckenbrock/Henssler, RDG, 5. Aufl., Einleitung Rn. 47m; Valdini, GWR 2018, 231, 232; Sesing/Wagenpfeil EWiR 2020, 461, 462; FS Singer/Henssler, 2021, S. 277). Andere Stimmen in der Literatur meinen, dass die Inkassoregistrierung nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 RDG auch die Einziehung ausländischer Forderungen umfasst (Rillig in Deckenbrock/Henssler, RDG, 5. Aufl., § 10 Rn. 46x-47; Deckenbrock, DB 2020, 321, 325; Deckenbrock, EWiR 2021, 703, 704).b) Die zuletzt genannte Rechtsansicht trifft zu. Eine nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 RDG registrierte Person ist ohne eine weitere Registrierung nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 RDG berechtigt, auch ausländischem Recht unterfallende Forderungen einzuziehen. Dies gilt nicht nur für den Fall, dass es sich um eine schon titulierte oder jedenfalls unbestrittene Forderung handelt und eine materiell-rechtliche Prüfung der Forderung deswegen unterbleibt, sondern auch für den Fall, dass die Prüfung der Forderungen ausländischen Rechts erfolgt und vom Inkassodienstleister seinen Vertragspartnern gegenüber auch geschuldet ist (vgl. zur allgemeinen Prüfungspflicht des Inkassodienstleisters Goebel, Inkassodienstleistung und Inkassokosten, 3. Aufl., § 1 Rn. 17; vgl. zum Prüfungsumfang sowohl für Rechtsanwalt als auch Inkassodienstleister beim Masseninkasso Goebel, aaO § 1 Rn. 76 S. 94 f.).aa) Gemäß § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 RDG dürfen natürliche und juristische Personen sowie Gesellschaften ohne Rechtspersönlichkeit, die bei der zuständigen Behörde registriert sind (registrierte Personen), aufgrund besonderer Sachkunde Rechtsdienstleistungen im Bereich der Inkassodienstleistungen (§ 2 Abs. 2 Satz 1 RDG aF) erbringen. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH, Urteil vom 27. November 2019 - VIII ZR 285/18, BGHZ 224, 89 Rn. 110 mwN) erfordert die Beurteilung, ob die Tätigkeit eines registrierten Inkassodienstleisters sich innerhalb des durch § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 RDG i.V.m. § 2 Abs. 2 Satz 1 RDG aF bestimmten Rahmens bewegt oder ob sie diesen überschreitet, stets eine am Schutzzweck des Rechtsdienstleistungsgesetzes orientierte (BT-Drucks. 16/3655, S. 37 f.) Würdigung der Umstände des Einzelfalls einschließlich einer Auslegung der hinsichtlich der Forderungseinziehung getroffenen Vereinbarungen, wobei einer veränderten Lebenswirklichkeit Rechnung zu tragen ist.Dabei sind auch die Wertentscheidungen des Grundgesetzes zu berücksichtigen. Jede Einschränkung des Begriffs der Inkassodienstleistung im Sinne des § 2 Abs. 2 Satz 1 RDG aF und damit der Inkassodienstleistungserlaubnis nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 RDG greift in den Schutzbereich der nach Art. 12 Abs. 1 GG gewährten Berufsausübungsfreiheit ein (vgl. BVerfG, NJW 2002, 1190 f. zum RBerG; BT-Drucks. 16/3655, S. 26 f.). Derartige Eingriffe sind nur dann mit Art. 12 Abs. 1 GG vereinbar, wenn sie durch ausreichende Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt sind (vgl. BVerfGE 101, 331, 347; 117, 163, 181 ff.). Die aus Gründen des Gemeinwohls unumgänglichen Beschränkungen des Art. 12 Abs. 1 GG stehen ihrerseits unter dem Gebot der Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Das gewählte Mittel muss zur Erreichung des verfolgten Zwecks geeignet und erforderlich sein. Bei einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe muss die Grenze der Zumutbarkeit gewahrt sein (vgl. BVerfGE 30, 292, 316 f.; 101, 331, 347 ff.; 117, 163, 181 ff.; BGH, Urteil vom 9. Juni 2008 - AnwSt (R) 5/05, NJW 2009, 534 Rn. 24).bb) Unter Anwendung dieses Maßstabs und nach den allgemeinen Grundsätzen der Gesetzesauslegung (vgl. BVerfGE 133, 168 Rn. 66 mwN; BVerfG, NJW 2014, 3504 Rn. 15; BGH, Beschluss vom 16. Mai 2013 - II ZB 7/11, NJW 2013, 2674 Rn. 27; Urteil vom 20. März 2017 - AnwZ (Brfg) 33/16, BGHZ 214, 235 Rn. 19; Urteil vom 15. Mai 2019 - VIII ZR 134/18, EnWZ 2019, 304 Rn. 30) ist der Einzug von ausländischem Sachrecht unterliegenden Forderungen entsprechend dem Geschäftsmodell der Klägerin von der Inkassodienstleistungsbefugnis gemäß § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 RDG umfasst.(1) Dem Wortlaut der § 2 Abs. 2 Satz 1 RDG aF, § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 RDG lässt sich keine Einschränkung auf die Einziehung von Forderungen entnehmen, die nach deutschem Sachrecht zu beurteilen sind (so auch Deckenbrock/Markworth, ZAP 2022, 103, 110; Deckenbrock, EWiR 2021, 703, 704).(2) Die Gesetzessystematik begründet ebenfalls keine Einschränkung der § 2 Abs. 2 Satz 1 RDG aF, § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 RDG. Allerdings sieht § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 RDG eine (gesonderte) Registrierung "aufgrund besonderer Sachkunde" vor, sofern Rechtsdienstleistungen in einem ausländischen Recht erbracht werden sollen. Daraus folgt aber nicht, dass § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 RDG den Anwendungsbereich des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 RDG auf die Einziehung von Forderungen, die deutschem Sachrecht unterliegen, beschränkt und damit für die Geltendmachung von ausländischen Forderungen eine zusätzliche Registrierung nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 RDG erforderlich ist.(a) Nach dem zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses zwischen der Klägerin und dem Zedenten im Dezember 2017 maßgeblichen Recht wird die Inkassobefugnis nicht deswegen in Frage gestellt, weil der Inkassodienstleister eine einem Rechtsbereich unterfallende Forderung einzieht, für welchen er keinen (ausreichenden) Sachkundenachweis vorlegen musste. Gemäß § 11 Abs. 1 RDG erfordern Inkassodienstleistungen besondere Sachkunde in den für die beantragte Inkassotätigkeit bedeutsamen Gebieten des Rechts, insbesondere des Bürgerlichen Rechts, des Handels-, Wertpapier- und Gesellschaftsrechts, des Zivilprozessrechts einschließlich des Zwangsvollstreckungs- und Insolvenzrechts sowie des Kostenrechts. Gemäß § 12 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 RDG sind Voraussetzungen für die Registrierung theoretische und praktische Sachkunde in dem Bereich oder den Teilbereichen des § 10 Abs. 1 RDG, in denen die Rechtsdienstleistungen erbracht werden sollen, wobei die Sachkunde der zuständigen Behörde nachzuweisen ist. Nach diesen Regelungen korrespondiert die dem Inkassodienstleister abverlangte Sachkunde nicht notwendigerweise mit seinem späteren Angebot (vgl. Deckenbrock/Markworth, ZAP 2022, 103, 110; vgl. auch Goebel, Inkassodienstleistung und Inkassokosten, 3. Aufl., § 1 Rn. 45 S. 76). Vielmehr genügt es nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 RDG, dass der Inkassodienstleister über die für Inkassodienstleister allgemein erforderliche Sachkunde verfügt. Diese Sachkunde gewährleisten nach der Gesetzessystematik des Rechtsdienstleistungsgesetzes die Registrierungsvoraussetzungen in § 12 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 RDG.Auch nach der Rechtsprechung des VIII. Zivilsenats (Urteil vom 27. November 2019 - VIII ZR 285/18, BGHZ 224, 89) muss die im Sachkundenachweis belegte Sachkunde nicht mit der späteren Inkassotätigkeit übereinstimmen. Eine Überschreitung der Inkassoerlaubnis sei nicht deswegen anzunehmen, weil die mit der Registrierung nachzuweisende Sachkunde des Anbieters für die Durchsetzung der konkreten, eine komplexe Rechtsprüfung erfordernden Ansprüche (vermeintlich) nicht ausreiche. Die im Vergleich zu den für Rechtsanwälte geltenden geringeren Anforderungen an die Sachkunde von Inkassodienstleistern ergebe sich aus der Beschränkung der Tätigkeit von Inkassounternehmen und der damit geringeren Gefahr rechtlicher Fehlberatung. Es sei kein Wille des Gesetzgebers erkennbar, bestimmte Teilgebiete der in § 11 Abs. 1 RDG genannten Rechtsmaterien für "nicht inkassofähig" zu erklären (BGH, Urteil vom 27. November 2019, aaO Rn. 219, 222 f.; Freitag/Lang, ZIP 2020, 1201, 1202; vgl. auch BGH, Urteil vom 13. Juli 2021 - II ZR 84/20, BGHZ 230, 255 zu einer Inkassoerlaubnis bei der Einziehung von Forderungen nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 15a Abs. 1 InsO).Inkassodienstleister ziehen deswegen erlaubt Forderungen aus Bereichen ein, für die sie keine besondere Sachkunde nachweisen müssen. So treiben sie auf der Grundlage einer Registrierung nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 RDG Forderungen von Unternehmen der Versicherungs- und Energiebranche ein (Goebel, Inkassodienstleistungen und Inkassokosten, 3. Aufl., S. 94). Gleiches gilt für die Einziehung dem öffentlichen Recht unterliegender Forderungen (vgl. Seitz, Inkasso-Handbuch, 4. Aufl., Kapitel 3, Rn. 108 ff.).(b) Soweit die seit dem 1. Oktober 2021 geltenden Regelungen der § 13 Abs. 2, § 12 Abs. 5, § 2 Abs. 1 Satz 4 der Verordnung zum Rechtsdienstleistungsgesetz (Rechtsdienstleistungsverordnung; RDV) und § 7 des Einführungsgesetzes zum Rechtsdienstleistungsgesetz nunmehr verlangen, dass zur Prüfung der Voraussetzungen nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 12 Abs. 1 Nr. 2 RDG der Antrag auf Registrierung als Inkassodienstleister nach § 13 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 Nr. 1 RDG Angaben dazu enthalten muss, auf welchen Rechtsgebieten die Tätigkeiten erbracht werden sollen, folgt daraus für den hier zur Entscheidung gestellten Fall aus systematischen Gründen nichts anderes. Diese Angaben sind erforderlich, damit die zuständige Behörde prüfen kann, ob eine Ablehnung der Registrierung aufgrund mangelnder Sachkunde in Betracht zu ziehen ist oder ob der Antragsteller durch zusätzliche Nachweise seine Sachkunde in diesem Bereich darzulegen hat. Dabei soll die Prüfung anhand der Bedeutung und Komplexität der Rechtsmaterie unter Berücksichtigung des beabsichtigten Umfangs der Tätigkeit erfolgen (BT-Drucks. 19/27673, S. 42 zu § 13 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 RDG-E). Nach § 2 Abs. 1 Satz 4 RDV in der Fassung vom 10. August 2021 kann zwar die zuständige Behörde in Fällen, in denen bei Inkassodienstleistungen Tätigkeiten auf in § 11 Abs. 1 RDG nicht genannten Rechtsgebieten erbracht werden sollen, weitere Nachweise der theoretischen Sachkunde verlangen, und ist diese Regelung gemäß der Übergangsregelung des § 7 des Einführungsgesetzes zum Rechtsdienstleistungsgesetz auch auf die Klägerin als vor dem 1. Oktober 2021 registrierte Person anwendbar. Daraus ergibt sich aber im Umkehrschluss, dass die Erlaubnis zur Erbringung von Inkassodienstleistungen auch nach neuem Recht gerade nicht auf die Rechtsgebiete beschränkt ist, für die der Inkassodienstleister - gegebenenfalls nach Anforderung durch die zuständige Behörde - Rechtskenntnisse nachgewiesen hat.(c) § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 RDG bleibt ein eigenständiger Anwendungsbereich auch dann, wenn er nicht als zusätzliche Einschränkung der Tätigkeit eines Inkassodienstleisters verstanden wird, der ausländischem Sachrecht unterliegende Forderungen einzieht. Die Vorschrift eröffnet dem ausländischen Rechtskundigen und einem ausländischen Rechtsanwalt (vgl. BeckOK-RDG/Günther, Stand: 01.04.2022, § 10 Rn. 76) die Beratung und Vertretung in solchen Rechtssachen, in denen die Kenntnis der Regelungen einer ausländischen Rechtsordnung und deren Anwendung den Rechtsfall wesensmäßig bestimmen (vgl. BeckOK-RDG/Günther, aaO Rn. 68). Der ausländische Rechtskundige kann den Rechtssuchenden im Gegensatz zum Inkassodienstleister, dem eine Beratung und Vertretung des Rechtssuchenden nur im Zusammenhang mit der Forderungseinziehung erlaubt ist, umfassend - etwa auch bei der Abwehr von Forderungen und der Vertragsgestaltung (bezogen auf das ausländische Recht) - beraten. Anders als der Inkassodienstleister kann er den Rechtssuchenden aber weder im Mahnverfahren noch im Verfahren der Zwangsvollstreckung wegen Geldforderungen in das bewegliche Vermögen vertreten (§ 79 Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 ZPO). Auch dies belegt, dass die Erlaubnisnormen unterschiedliche Anwendungsbereiche haben und sich nicht gegenseitig begrenzen.(3) Dem Schutzzweck des Rechtsdienstleistungsgesetzes, die Rechtsuchenden, den Rechtsverkehr und die Rechtsordnung vor unqualifizierten Rechtsdienstleistungen zu schützen (§ 1 Abs. 1 Satz 2 RDG), kann keine Einschränkung auf das Inkasso nur von deutschem Sachrecht unterliegenden Forderungen entnommen werden. Das Abhängigmachen der rechtlichen Zulässigkeit der Tätigkeit der Klägerin von einer zusätzlichen Erlaubnis nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 RDG ist zur Erreichung der vorgenannten Schutzzwecke des Rechtsdienstleistungsgesetzes nicht erforderlich, so dass das Verlangen nach einer solchen Registrierung ungerechtfertigt in Art. 12 Abs. 1 GG eingriffe.(a) Für den Schutz der Rechtssuchenden, die vor Rechtsnachteilen und dem Verlust von Rechtspositionen durch mangelhafte Rechtsdienstleistungen bewahrt werden sollen, spielt es keine Rolle, ob das Geschäftsmodell des Inkassodienstleisters auf die Durchsetzung von inländischen oder ausländischen Forderungen abzielt. Soweit der Inkassodienstleister außergerichtlich die Interessen der Rechtssuchenden wahrnimmt, insbesondere indem er Zahlungen anmahnt oder einen außergerichtlichen Vergleich anstrebt, wird er in einem Bereich tätig, in dem die Rechtssuchenden von vornherein selbst ohne die Mitwirkung eines Rechtsanwalts tätig werden könnten. Vor den Landgerichten muss sich der Inkassodienstleister nach § 78 ZPO durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen. Entsprechendes gilt auch nach § 79 Abs. 1 Satz 2 ZPO für ein Auftreten vor dem Amtsgericht. Ausnahmen sieht § 79 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 ZPO für das Mahnverfahren bis zur Abgabe an das Streitgericht und für das Verfahren der Zwangsvollstreckung wegen Geldforderungen in das bewegliche Vermögen vor. Damit entstehen aus der Tätigkeit des Inkassodienstleisters keine Gefahren für den Rechtssuchenden. Das gilt unabhängig davon, ob dessen Forderungen deutschem oder einem ausländischen Sachrecht unterfallen.Dass der Inkassodienstleister über die Sachkunde verfügt, die für die von ihm zu erbringenden Rechtsdienstleistungen erforderlich ist, gewährleisten nach der Gesetzessystematik des Rechtsdienstleistungsgesetzes die Registrierungsvoraussetzungen in § 12 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 RDG. Setzt der Inkassodienstleister diese von ihm verlangte, überprüfte und für genügend befundene Sachkunde dann bei der Einziehung fremder oder zu Einziehungszwecken abgetretener Forderungen ein, ist nicht ersichtlich, dass damit eine Gefahr für den Rechtsuchenden verbunden ist (BVerfG, NJW 2002, 1190 f.; BGH, Urteil vom 27. November 2019 - VIII ZR 285/18, BGHZ 224, 89 Rn. 121; Urteil vom 8. April 2020 - VIII ZR 130/19, NJW-RR 2020, 779 Rn. 36; Urteil vom 27. Mai 2020 - VIII ZR 45/19, BGHZ 225, 352 Rn. 45; Urteil vom 13. Juli 2021 - II ZR 84/20, BGHZ 230, 255 Rn. 27). Der Sachkundelehrgang vermittelt zwar nicht die Kenntnisse eines ersten und zweiten Staatsexamens, die erforderlich sind, um einen Rechtssuchenden in jeder denkbaren Rechtsangelegenheit zu vertreten. Das ist aber auch nicht notwendig, weil der Inkassodienstleister nur zur Einziehung von Forderungen berechtigt ist. Sein Tätigkeitsbereich ist also sehr viel kleiner als der eines Rechtsanwalts (vgl. Goebel, Inkassodienstleistung und Inkassokosten, 3. Aufl., § 1 Rn. 18 S. 55/56). Dies gilt auch, soweit der Inkassodienstleister umfassend die einzuziehende Forderung oder im Streitfall eher das "Massenportfolio" (vgl. Goebel, aaO § 1 Rn. 76 S. 94/96) materiell-rechtlich auf Schlüssigkeit prüft.Entsprechendes trifft zu, soweit die Tätigkeit des Inkassodienstleisters auf die Durchsetzung von ausländischen Forderungen ausgerichtet ist und deswegen Kenntnisse in dem ausländischen Recht erforderlich sind. Auch bei der Beauftragung eines Rechtsanwalts, der in Deutschland die beiden Staatsexamen abgelegt hat, ist nicht ohne Weiteres zu erwarten, dass er Kenntnisse in einem ausländischen Recht hat. Zwar ist ein Rechtsanwalt, worauf die Revisionserwiderung mit Recht hinweist, aus dem Beratungsvertrag verpflichtet, sich die erforderlichen Kenntnisse ausländischen Rechts - wie auch immer - zu verschaffen, sofern nicht ein beschränktes Mandat vorliegt (BGH, Urteil vom 22. Februar 1972 - VI ZR 135/70, NJW 1972, 1044; Handbuch der Anwaltshaftung/Vill, 5. Aufl., § 2 Rn. 69). Dementsprechend muss sich aber auch der Inkassodienstleister die erforderlichen Kenntnisse verschaffen, wenn er es gegenüber einem Vertragspartner unternimmt, dessen bestrittene und einem ausländischen Sachrecht unterliegende Forderung einzuziehen.(b) Der Schutz des Rechtsverkehrs, der immer dann betroffen ist, wenn die Tätigkeit des Rechtsdienstleisters Dritte berührt, etwa den Anspruchsgegner des Rechtsuchenden, sonstige Beteiligte wie Drittschuldner oder Behörden, aber auch Gerichte, auf deren Tätigkeit außergerichtliche Rechtsdienstleistungen ausstrahlen (BT-Drucks. 16/3655, S. 45; BGH, Urteil vom 13. Juli 2021 - II ZR 84/20, BGHZ 230, 255 Rn. 31), macht es ebenfalls nicht erforderlich, das Geschäftsmodell der Klägerin aus dem Begriff der Inkassodienstleistung auszunehmen.Der Schutz der Gerichte vor unsachgemäßer Prozessführung, insbesondere durch offensichtlich unzulässige oder unbegründete Klagen, wird durch die zwingende Beteiligung eines Rechtsanwalts, und zwar auch bei niedrigen Streitwerten (§§ 78, 79 Abs. 1 Satz 2 ZPO), sichergestellt (BGH, Urteil vom 13. Juli 2021 - II ZR 84/20, BGHZ 230, 255 Rn. 32). Wenn Geschäftsmodelle wie das der Klägerin zu insgesamt höheren Verfahrenszahlen bei den Zivilgerichten oder wegen der Prüfung von tausenden von Einzelansprüchen zu sehr komplexen und zeitaufwändigen Rechtsstreitigkeiten führen, wird dies regelmäßig auf der Überwindung des rationalen Desinteresses der Rechtsuchenden beruhen. Der hierin liegende erleichterte "Zugang zum Recht" rechtfertigt keinen Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG (BGH, Urteil vom 13. Juli 2021, aaO Rn. 33).Die Anspruchsgegner der Rechtsuchenden sind zwar vor einer unberechtigten Inanspruchnahme zu schützen. Das Rechtsdienstleistungsgesetz bezweckt indessen nicht den Schutz der Schuldner vor den Folgen zutreffend erteilten Rechtsrats und wirkungsvoller Rechtsbesorgung (BVerfG, NJW 2002, 1190, 1192; BGH, Urteil vom 13. Juli 2021 - II ZR 84/20, BGHZ 230, 255 Rn. 34). Im Übrigen sind auch hier keine Anhaltspunkte dafür vorhanden, dass durch die Klägerin in erheblichem Umfang von vornherein unberechtigte Klageverfahren eingeleitet werden.(c) Der Schutz der Rechtsordnung erfordert eine Einschränkung des Inkassobegriffs auf das Einziehen inländischer Forderungen ebenfalls nicht. Dieser Schutzzweck zielt darauf ab, dass das Recht als höchstrangiges Gemeinschaftsgut nicht in die Hände unqualifizierter Personen gelangen soll, da es als "gelebtes Recht" maßgeblich durch die Personen beeinflusst und fortentwickelt wird, die Recht beruflich anwenden. Eine Freigabe der beruflichen Anforderungen hätte negative Auswirkungen auf die Rechtskultur und könnte die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege insgesamt gefährden (BT-Drucks. 16/3655, S. 45; BGH, Urteil vom 13. Juli 2021 - II ZR 84/20, BGHZ 230, 255 Rn. 36). Eine Beeinträchtigung dieser Belange ist nicht zu befürchten. Bei den gemäß § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 RDG registrierten Inkassodienstleistern handelt es sich im Hinblick auf die von ihnen als Voraussetzung der Registrierung nachzuweisende Sachkunde in den in § 11 Abs. 1 RDG bezeichneten Rechtsgebieten gerade nicht um unqualifizierte Personen. Zudem sind im gerichtlichen Verfahren mit dem zwingend zu mandatierenden Rechtsanwalt und dem Gericht weitere hinreichend qualifizierte Personen mit der Anwendung der Rechtsvorschriften auf die konkreten Sachverhalte befasst (BGH, Urteil vom 13. Juli 2021, aaO Rn. 37).(4) Schließlich ist auch nach der historischen Auslegung des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 3 RDG die Befugnis des Inkassodienstleisters nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 RDG nicht auf die Einziehung von deutschem Sachrecht unterfallenden Forderungen beschränkt.(a) Den Vorschriften der § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 11 Abs. 1, § 12 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3, 5 RDG, § 2 Abs. 1, § 4 Abs. 1 RDV in der maßgeblichen Fassung und den hierauf bezogenen Materialien (BT-Drucks. 16/3655, S. 63 ff.; BR-Drucks. 316/08, S. 10 f., 13 f.) ist nicht zu entnehmen, dass der Gesetzgeber oder der Verordnungsgeber davon ausgegangen wären, ein registrierter Inkassodienstleister dürfe nur in den in § 11 Abs. 1 RDG genannten Rechtsgebieten tätig werden.(b) Die Genese des Rechtsdienstleistungsgesetzes aus dem Rechtsberatungsgesetz bestätigt ebenfalls die Auslegung, dass eine Registrierung der Klägerin nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 RDG für ihr Tätigwerden ausreicht.(aa) Die bis zum 26. August 1980 geltende Vorgängervorschrift in Art. 1 § 1 Rechtsberatungsgesetz (RBerG) in der Fassung vom 1. Januar 1964 machte die geschäftsmäßige Besorgung fremder Rechtsangelegenheiten einschließlich der Rechtsberatung und der Einziehung fremder oder zu Einziehungszwecken abgetretener Forderungen von einer Erlaubnis abhängig. Diese Erlaubnis ermächtigte zur geschäftsmäßigen Besorgung fremder Rechtsangelegenheiten außer in Steuer- und Monopolsachen sowie sonstigen von Behörden der Bundesfinanzverwaltung verwalteten Angelegenheiten und außer auf dem Gebiet des gewerblichen Rechtsschutzes. Die Erlaubnis konnte sowohl als "Vollerlaubnis" als auch als "Teilerlaubnis" erteilt werden, wobei jede Art der Beschränkung auf eine bestimmte, hinreichend von anderen abgrenzbare Teiltätigkeit zulässig war (Altenhoff/Busch/Kampmann, RBerG, 4. Aufl., Art. 1 § 1 Rn. 42). Die Vollerlaubnis umfasste die Befugnis zur Besorgung jeder Art fremder Angelegenheiten mit den bereits genannten Einschränkungen. In Bezug auf die Teilerlaubnis wurde bereits an die Inkassounternehmen und Inkassobüros gedacht, denen nur die außergerichtliche Einziehung von Forderungen gestattet wurde (Altenhoff/Busch/Kampmann, aaO Rn. 44).Erst in Art. 1 § 1 Abs. 1 Satz 2 RBerG in der Fassung vom 18. August 1980 wurde mit Wirkung zum 27. August 1980 die Regelung eingefügt, dass die Erlaubnis jeweils für einen Sachbereich erteilt werde, und zwar nach Nr. 4 für Inkassounternehmer für die außergerichtliche Einziehung von Forderungen (Inkassobüros) und nach Nr. 5 für Rechtskundige in einem ausländischen Recht für die Rechtsbesorgung auf dem Gebiet dieses Rechts und des Rechts der Europäischen Gemeinschaften. Der Gesetzgeber wollte mit der damaligen Gesetzesänderung erreichen, dass die Erlaubnisse zur geschäftsmäßigen Besorgung fremder Rechtsangelegenheiten nicht mehr unbeschränkt, sondern nur noch für die in Art. 1 § 1 Satz 2 RBerG genannten Sachbereiche erteilt werden dürften, auf denen ein praktisches Bedürfnis für die Erteilung einer Erlaubnis bestehe und auf denen sich Berufe herausgebildet hätten, deren Angehörige für die genannten Sachbereiche besonders qualifiziert seien. Das sollten neben den Rentenberatern, Frachtprüfern und Vereidigten Versteigerern die Inkassounternehmen und die Rechtskundigen in einem ausländischen Recht und dem Recht der Europäischen Gemeinschaften sein. Der Gesetzgeber erkannte damals an, die Inkassobüros hätten im Bereich der außergerichtlichen Einziehung von Forderungen im Wirtschaftsleben eine erhebliche Bedeutung erlangt. Vor allem auf dem Gebiet der Beitreibung ausgeklagter Forderungen hätten sie sich für die Wirtschaft als unentbehrlich erwiesen. Daneben nahm der Gesetzgeber darauf bedacht, dass sich bei der großen Zahl von ausländischen Arbeitnehmern in der Bundesrepublik und der enger werdenden wirtschaftlichen Verflechtung immer häufiger ein Bedürfnis nach rechtlicher Beratung auf dem Gebiet eines ausländischen Rechts ergebe. Über die Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit nach dem Vertrag über die Europäischen Gemeinschaften hinaus werde es daher auch künftig erforderlich sein, Personen, die in einem ausländischen Recht ausgebildet seien, die Möglichkeit zum Tätigwerden auf dem Gebiet dieses ausländischen Rechts zu eröffnen (BT-Drucks. 8/4277, S. 22 rechte Spalte zu Art. 2 Abs. 6 Nr. 1).Dass den Inkassounternehmen bis zur Gesetzesänderung zum 27. August 1980 die Einziehung ausländischer Forderungen verboten sein sollte, ergibt sich weder aus dem Wortlaut des Art. 1 § 1 RBerG noch aus dem Gesamtzusammenhang der Regelungen. Dies gilt umso mehr, als nach der damaligen herrschenden Ansicht der Inkassounternehmer nur berechtigt war, die Forderung beziehungsweise die Forderungsbestände darauf zu überprüfen, ob und inwieweit sie unbestritten, unverjährt und realisierbar waren, und den Kunden entsprechend zu beraten. Nicht erlaubt war es dem Inkassounternehmer hingegen, rechtsbesorgende oder rechtsberatende Tätigkeiten im Zusammenhang mit der Klärung der Frage zu entfalten, ob und in welcher Höhe dem Kunden überhaupt eine Forderung zustand. So sollte von der Inkassoerlaubnis eine Tätigkeit nicht gedeckt sein, durch die der Inkassounternehmer eine nach Grund und Höhe bestrittene Forderung mit juristischen Argumenten durchzusetzen versuchte oder Vergleichsverhandlungen führte (Rennen/Caliebe, RBerG, 2. Aufl., 1992, Art. 1 § 1 Rn. 79 mit Hinweisen auf obergerichtliche Rspr.). Aus diesem Grund spielte die Kenntnis ausländischen Rechts für die Tätigkeit des Inkassounternehmers auch nur eine sehr untergeordnete Rolle.(bb) Der Gesetzgeber des Rechtsdienstleistungsgesetzes intendierte bei dessen Erlass eine grundlegende, an den Gesichtspunkten der Deregulierung und Liberalisierung ausgerichteten Neugestaltung des Rechts der außergerichtlichen Rechtsdienstleistungen, mit der er an die zuvor bereits in diese Richtung weisende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anknüpfen, diese umsetzen, fortführen und hierbei zugleich den Deregulierungsbestrebungen der Europäischen Kommission im Bereich des freien Dienstleistungsverkehrs Rechnung tragen wollte (vgl. BT-Drucks. 16/3655, S. 1, 26 ff., 42). Bei der Auslegung des Inkassobegriffs im Sinne der § 2 Abs. 2 Satz 1 RDG aF, § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 RDG ist daher auch mit Blick auf die Gesetzgebungsgeschichte eine großzügige Betrachtung geboten (vgl. BGH, Urteil vom 27. November 2019 - VIII ZR 285/18, BGHZ 224, 89 Rn. 141), zumal der Gesetzgeber ähnlich wie zu Art. 1 § 1 RBerG in der Fassung vom 18. August 1980 in § 10 Abs. 1 RDG auf verfestigte Berufsbilder abstellt (BT-Drucks. 16/3655, S. 40 ff.).(cc) Schließlich sprechen auch die jüngsten Initiativen des Gesetzgebers für die Zulässigkeit des Geschäftsmodells der Klägerin. Mit dem zum 1. Oktober 2021 in Kraft getretenen Gesetz zur Förderung verbrauchergerechter Angebote im Rechtsdienstleistungsmarkt vom 10. August 2021 (BGBl I S. 3415) hat der Gesetzgeber als Reaktion auf das Urteil des VIII. Zivilsenats vom 27. November 2019 (VIII ZR 285/18, BGHZ 224, 89) die Befugnisse und Pflichten von nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 RDG registrierten Inkassodienstleistern präzisiert. Dadurch sollte der Gefahr begegnet werden, dass vom Gesetzgeber als gültig bewertete Rechtsgeschäfte im Zusammenhang mit Geschäftsmodellen der vorliegenden Art nachträglich als nichtig bewertet würden (BT-Drucks. 19/27673, S. 20 ff., 30, 40 f.; so auch Deckenbrock/Markworth, ZAP 2022, 103, 107). Dem wird durch eine Auslegung des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 RDG Rechnung getragen, die die Inkassodienstleistung nicht auf deutschem Sachrecht unterliegende Forderungen begrenzt.III.Die Entscheidung erweist sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig (§ 561 ZPO). Die Verpflichtung der Klägerin gegenüber ihren Auftraggebern zur Erbringung von Inkassodienstleistungen verstößt nicht gegen § 4 RDG aF.Nach § 4 RDG - nunmehr nach dessen Satz 1 - dürfen Rechtsdienstleistungen, die unmittelbaren Einfluss auf die Erfüllung einer anderen Leistungspflicht haben können, nicht erbracht werden, wenn hierdurch die ordnungsgemäße Erbringung der Rechtsdienstleistung gefährdet wird. Eine solche Gefährdung besteht auf der Grundlage der vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen nicht. Auch ein Interessenkonflikt, der eine entsprechende Anwendung des § 4 RDG aF auf den vorliegenden Fall rechtfertigen könnte, lässt sich auf der Grundlage der vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen nicht begründen (vgl. BGH, Urteil vom 27. November 2019 - VIII ZR 285/18, BGHZ 224, 89 Rn. 187 ff., 195; Urteil vom 13. Juli 2021 - II ZR 84/20, BGHZ 230, 255 Rn. 45 ff.). Ein solcher Verstoß der Klägerin gegen § 4 RDG lässt sich weder darauf gründen, dass deren Geschäftsmodell auf die Bündelung und gesammelte Geltendmachung von Ansprüchen gegen die Beklagte ausgerichtet ist, noch folgt ein Verstoß daraus, dass sich die Klägerin zur Durchsetzung der abgetretenen Schadensersatzforderungen der Unterstützung eines externen Prozessfinanzierers bedient oder der Auftraggeber im Fall seines Widerrufs eines durch die Klägerin geschlossenen Vergleichs die Vergütung schuldet, die bei Abschluss des Vergleichs angefallen wäre.1. Eine andere Leistungspflicht im Sinne des § 4 RDG aF, an die ein Verbot gemäß dieser Vorschrift anknüpfen könnte, wird allerdings dadurch begründet, dass die Klägerin gegenüber allen ihren Auftraggebern jeweils zur bestmöglichen Durchsetzung der abgetretenen Forderungen verpflichtet ist. Die von ihr zu erbringende Rechtsdienstleistung ist indes nicht mit diesen anderen Leistungspflichten unvereinbar. Nach der konkreten Ausgestaltung der Vertragsverhältnisse mit den Auftraggebern ist nicht feststellbar, dass die von der Klägerin zu erbringende Rechtsdienstleistung unmittelbar gestaltenden Einfluss auf den Inhalt der gegenüber den übrigen Auftraggebern zu erbringenden Leistungspflichten dergestalt ausüben kann, dass hierdurch die ordnungsgemäße Erfüllung der Rechtsdienstleistungspflicht gefährdet wäre (BGH, Urteil vom 13. Juli 2021 - II ZR 84/20, BGHZ 230, 255 Rn. 49 ff.).Soweit die gebündelte Durchsetzung der Forderungen der Auftraggeber möglicherweise zu einer nur anteiligen Befriedigung führt, folgt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs daraus kein im Rahmen des § 4 RDG aF bedeutsamer Interessenkonflikt auf Seiten der Klägerin. Prinzipiell sind nicht nur die Interessen des einzelnen Auftraggebers und der Klägerin, sondern auch aller Auftraggeber untereinander gleichgerichtet, nämlich darauf, eine möglichst hohe Befriedigung aller Forderungen zu erhalten. Zwar kann nicht ausgeschlossen werden, dass der einzelne Auftraggeber durch einen Vergleichsschluss, der mehrere an die Klägerin abgetretene Forderungen umfasst, möglicherweise das Risiko übernimmt, dass der auf ihn entfallende Anteil der Vergleichssumme deshalb geringer ausfällt, weil die Klägerin Forderungen mit geringerer Durchsetzungsaussicht gebündelt geltend gemacht hat. Diesem Risiko stehen aber erhebliche Vorteile im Vergleich zu einer jeweils individuellen Anspruchsdurchsetzung gegenüber, etwa die Nutzbarmachung der Gebührendegression und -deckelung, die Streuung des Kostenrisikos einer etwaig vorausgegangenen Beweisaufnahme und eine erhebliche Stärkung der Verhandlungsposition gerade im Hinblick auf einen Vergleichsschluss. Dagegen fällt das Risiko des einzelnen Auftraggebers umso weniger ins Gewicht, je mehr die Durchsetzungsaussichten der jeweiligen Forderungen in rechtlicher und/oder tatsächlicher Hinsicht übereinstimmen. Verbleibenden Unterschieden hinsichtlich der Durchsetzungsaussichten lässt sich darüber hinaus durch entsprechende Gruppierung der Ansprüche Rechnung tragen (vgl. BGH, Urteil vom 13. Juli 2021 - II ZR 84/20, BGHZ 230, 255 Rn. 55).Im konkreten Fall ist zu beachten, dass zu dem Zeitpunkt, als erstmals eine Verjährung möglicher Schadensersatzansprüche im Raum stand, nämlich Ende 2018, das Bestehen einer Schadensersatzpflicht der Beklagten im Zusammenhang mit dem sogenannten Dieselskandal sowohl nach deutschem als auch nach Schweizer Recht höchstrichterlich noch nicht geklärt war. Sie wurde in Deutschland von zahlreichen Instanzgerichten verneint. Vor diesem Hintergrund war die Erhebung einer Einzelklage für Geschädigte ohne eine Rechtsschutzversicherung mit einem erheblichen Kostenrisiko verbunden, das durch die Einschaltung der Klägerin und die mit ihr vereinbarte Kostenfreihaltung minimiert werden konnte. Die Beauftragung der Klägerin führte außerdem zu einer erheblichen Verbesserung der Verhandlungsposition der einzelnen Auftraggeber gegenüber der Beklagten, da erst durch die Bündelung der Ansprüche von mehreren tausend Anspruchstellern ein wirtschaftliches Gleichgewicht, auch im Hinblick auf die Ressourcen zur Inanspruchnahme von juristischer und/oder sachverständiger Beratung, erzielt wurde.Zur Anwendung des § 4 RDG aF führt entgegen der Auffassung der Beklagten auch nicht, dass die Klägerin angeblich heterogene Ansprüche gebündelt hat. Zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses zwischen dem Zedenten und der Klägerin im Jahr 2017 bestand insoweit kein nach § 4 RDG aF bedeutsamer struktureller Interessenkonflikt. Denn zu diesem Zeitpunkt stand noch nicht fest, welche Forderungen die Klägerin zusammenfassen würde, zumal sie sich nach ihren Allgemeinen Geschäftsbedingungen verpflichtet hatte, nur gleichartige Ansprüche zu bündeln.2. Eine direkte oder entsprechende Anwendung des § 4 RDG aF ist auch nicht deshalb gerechtfertigt, weil sich die Klägerin zur Durchsetzung der abgetretenen Schadensersatzforderungen der Unterstützung eines externen Prozessfinanzierers bedient. Eine Kollision zwischen den Interessen der Klägerin und des Prozessfinanzierers einerseits sowie denjenigen der Zedenten/Auftraggeber andererseits ist unter Berücksichtigung der Ausgestaltung der konkreten Vertragsbeziehungen nicht festzustellen.a) Die Interessen der Klägerin, ihrer einzelnen Auftraggeber und des externen Prozessfinanzierers sind prinzipiell gleichgerichtet, nämlich darauf, eine möglichst hohe Befriedigung aller Forderungen zu erzielen. Auch der Prozessfinanzierer profitiert von einer möglichst erfolgreichen Durchsetzung der Forderungen, da er einen bestimmten Anteil am Gewinn der Klägerin erhält (vgl. Deckenbrock/Henssler, RDG, 5. Aufl., § 4 Rn. 28b).b) Eine strukturelle Interessenkollision besteht nicht.aa) An einer strukturellen Interessenkollision fehlt es, wenn dem Prozessfinanzierer mit Blick auf die Anspruchsdurchsetzung allenfalls theoretische oder unbedeutende Einflussmöglichkeiten zustehen und die Pflicht des Inkassodienstleisters gegenüber den einzelnen Auftraggebern zur möglichst effektiven Durchsetzung der Ansprüche nicht mit einer - über die faktische Möglichkeit zur Einflussnahme hinausgehenden - Vertragspflicht gegenüber dem Prozessfinanzierer zu einem möglichst gewinnbringenden Vorgehen kollidiert (vgl. Deckenbrock/Henssler, RDG, 5. Aufl., § 4 Rn. 28b; a.A. Nuys/Gleitsmann, BB 2020, 2441, 2445). Ohne eine solche Einflussmöglichkeit besteht kein Unterschied zu Konstellationen, in denen der Inkassodienstleister die Prozessfinanzierung selbst vornimmt und sich hierzu eigener Mittel oder eines externen Darlehens bedient (vgl. Bauermeister, ZIP 2021, 2625, 2628; Petrasincu/Unseld, NJW 2022, 1200 Rn. 37 f.).bb) Das ist vorliegend der Fall. Der Prozessfinanzierer ist nach den Feststellungen des Berufungsgerichts auf Basis der vertraglichen Vereinbarungen mit der Klägerin dazu verpflichtet, für deren Kosten im Zusammenhang mit der gerichtlichen Durchsetzung der Schadensersatzansprüche gegen die Beklagte aufzukommen. Dabei muss er im Falle des Obsiegens der Klägerin in der ersten Instanz zwingend die Kosten einer etwaigen Berufung und Revision finanzieren. Lediglich bei einem Unterliegen der Klägerin in erster Instanz bleibt die weitere Finanzierung des Rechtsstreits seiner Prüfung der Erfolgsaussichten vorbehalten, sodass ihm insoweit ein eigener Entscheidungsspielraum zusteht. Beim Abschluss eines Vergleichs muss die Klägerin den Prozessfinanzierer nur konsultieren, ohne dass ihm ein Entscheidungsrecht zusteht. Dem Prozessfinanzierer sind durch die vorliegende Vertragsgestaltung daher keine wesentlichen Entscheidungsbefugnisse in Bezug auf die Durchsetzung der Ansprüche der Auftraggeber eingeräumt, zumal auch die Auftraggeber im Allgemeinen nur ein Interesse an der (weiteren) Durchsetzung von Ansprüchen haben, bei denen hinreichende Erfolgsaussichten bestehen. Darüber hinaus ist die Klägerin nur den Auftraggebern vertraglich zur effektiven Anspruchsdurchsetzung verpflichtet. Dem geringen Entscheidungsspielraum des Prozessfinanzierers kommt damit keine wesentliche inhaltliche Bedeutung zu.cc) Für die Unbedenklichkeit der hier gewählten Vertragsgestaltung spricht im Übrigen § 4 RDG in der Fassung vom 10. August 2021. Die Vorschrift wurde mit Wirkung zum 1. Oktober 2021 um einen Satz 2 ergänzt, wonach eine Gefährdung der ordnungsgemäßen Erbringung der Rechtsdienstleistung nicht schon deshalb anzunehmen ist, weil aufgrund eines Vertrags mit einem Prozessfinanzierer Berichtspflichten gegenüber diesem bestehen. Der Gesetzgeber wollte klarstellen, dass lediglich der Abschluss eines Prozessfinanzierungsvertrags, der auch Berichtspflichten gegenüber dem Prozessfinanzierer enthalte, nicht schon per se den Schluss zulasse, eine ordnungsgemäße Erbringung der Rechtsdienstleistung sei konkret gefährdet. Dass Prozessfinanzierer wirtschaftliche Eigeninteressen verfolgten, begründe für sich genommen noch nicht, dass diese Interessenverfolgung mit den rechtlichen und wirtschaftlichen Interessen der Rechtsuchenden auch kollidieren müssten. Gerade in Fällen, in denen ein prinzipieller Gleichlauf der Interessen von Prozessfinanzierer, Inkassodienstleister und Rechtsuchendem bestehe, scheine eine konkrete Gefährdung der ordnungsgemäßen Erbringung der Rechtsdienstleistung nicht unbedingt naheliegend (BT-Drucks. 19/27673, S. 39 f.).3. Dass die Klägerin nach Ziffer 7.1 Satz 1 ihrer Allgemeinen Geschäftsbedingungen berechtigt ist, einen widerruflichen Vergleich zu schließen, wenn ihr die Vergleichssumme als ausreichend erscheint, vermag - die Wirksamkeit dieser Bestimmung nach dem auf sie anwendbaren Sachrecht gerade auch im Hinblick auf die Vergütungspflicht des Auftraggebers für den Fall des Vergleichswiderrufs unterstellt - auch unter Berücksichtigung des vereinbarten Erfolgshonorars und der vereinbarten Kostenfreistellung für die Auftraggeber einen Verstoß gegen § 4 RDG aF ebenfalls nicht zu begründen. Daraus ergibt sich sowohl für den Fall der Berechtigung, widerruflich einen Vergleich zu schließen, als auch für den Fall der Berechtigung, den Vergleich ohne Rücksprache mit den Auftraggebern unwiderruflich zu schließen, kein Interessengegensatz. Der Senat schließt sich auch insoweit den überzeugenden Ausführungen des VIII. und II. Zivilsenats an (BGH, Urteil vom 27. November 2019 - VIII ZR 285/18, BGHZ 224, 89 Rn. 206; Urteil vom 13. Juli 2021 - II ZR 84/20, BGHZ 230, 255 Rn. 58 ff.). Dass im Streitfall der Auftraggeber im Fall des Vergleichswiderrufs der Klägerin die Vergütung schuldet, die bei Abschluss des Vergleichs angefallen wäre, ändert an diesem Ergebnis nichts. Wenn § 4 RDG aF bei einer Berechtigung des Inkassodienstleisters zum Abschluss eines unwiderruflichen Vergleichs nicht zur Anwendung kommt, kann nichts Anderes gelten, wenn der Auftraggeber den Vergleich zwar widerrufen kann, er aber durch die Vergütungsvereinbarung gehalten wird, dies möglichst nicht zu tun. Hinzu kommt, dass für einen Rechtsanwalt entschieden ist, ein Anwaltsvertrag verstoße nicht deshalb gegen das Verbot aus § 43a Abs. 4 BRAO, widerstreitende Interessen zu vertreten, weil der Rechtsanwalt im Gebühreninteresse für den Mandanten nachteilige Maßnahmen treffen könnte (vgl. BGH, Urteil vom 12. Mai 2016 - IX ZR 241/14, NJW 2016, 2561 Rn. 19). Nichts Anderes gilt für den Inkassodienstleister im Rahmen des § 4 RDG.IV.Nach alledem kann das Berufungsurteil keinen Bestand haben und ist aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Die nicht zur Endentscheidung reife Sache ist zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO), damit es die - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - bisher unterbliebenen Feststellungen zur Übertragung der behaupteten Forderungen des Zedenten auf die Klägerin und zur inhaltlichen Berechtigung der von der Klägerin geltend gemachten Ansprüche treffen kann.MengesMöhringKrügerLiepinVogt-Beheim
bundesgerichtshof
bgh_145-2019
13.11.2019
Urteil gegen ehemaligen Brandenburger AfD-Abgeordneten im Schuld- und Strafausspruch rechtskräftig Ausgabejahr 2019 Erscheinungsdatum 13.11.2019 Nr. 145/2019 Beschluss vom 24. Juli 2019 – 1 StR 363/18 Das Landgericht Neuruppin hat den Angeklagten wegen einer im Jahr 2011 begangenen Steuerhinterziehung zu der Freiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Es hat ihm das Recht, öffentliche Ämter zu bekleiden, und die Fähigkeit, Rechte aus öffentlichen Wahlen zu erlangen, für die Dauer von drei Jahren aberkannt. Zudem hat es die Einziehung von Taterträgen in Höhe von 516.478,15 Euro gegen den Angeklagten und einen Mitangeklagten als Gesamtschuldner angeordnet. Hiergegen hat der Angeklagte Revision eingelegt. Der Bundesgerichtshof hat das Rechtsmittel als unbegründet verworfen, soweit der Angeklagte zu der Freiheitsstrafe verurteilt worden ist. Das Urteil ist in Folge dessen im Schuldspruch und im Strafausspruch rechtskräftig. Jedoch haben die Einziehungsentscheidung sowie die Aberkennung des Rechts, öffentliche Ämter zu bekleiden, und die Fähigkeit, Rechte aus öffentlichen Wahlen zu erlangen, Rechtsfehler aufgewiesen. Der Senat hat das Urteil daher in diesen Punkten aufgehoben, über die nunmehr erneut verhandelt werden muss. Vorinstanz: LG Neuruppin – Urteil vom 16. Februar 2018 – 13 KLs 10/17 Karlsruhe, den 13. November 2019 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Beschluss des 1. Strafsenats vom 24.7.2019 - 1 StR 363/18 -
Tenor 1. Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Neuruppin vom 16. Februar 20 a) im Ausspruch über die Aberkennung der Amtsfähigkeit und der Wählbarkeit des Angeklagten W. , b) im Ausspruch über die Einziehung von Taterträgen mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben.2. Ihre weitergehenden Revisionen werden als unbegründet verworfen.3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. Gründe Das Landgericht hat den Angeklagten W. wegen Steuerhinterziehung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Es hat ihm das Recht, öffentliche Ämter zu bekleiden, und die Fähigkeit, Rechte aus öffentlichen Wahlen zu erlangen, für die Dauer von drei Jahren aberkannt. Den Angeklagten R. hat es wegen Steuerhinterziehung sowie wegen Urkundenfälschung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sieben Monaten verurteilt, deren Vollstreckung es ebenfalls zur Bewährung ausgesetzt hat. Es hat zudem die Einziehung von Taterträgen in Höhe von 516.478,15 Euro gegen die Angeklagten als Gesamtschuldner angeordnet. Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte W. mit zwei Verfahrensrügen und der allgemeinen Sachrüge, der Angeklagte R. mit der Sachrüge, mit der er sich insbesondere gegen die Einziehung wendet. Die Rechtsmittel haben den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg.I.1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:Der Angeklagte R. erklärte sich gegenüber unseriösen Geschäftsleuten in Polen im Jahr 2012 bereit, zukünftig am Transport von jeweils 15.000 Stangen unversteuerter und unverzollter Zigaretten aus Osteuropa nach Großbritannien mitzuwirken. Seine Aufgabe sollte dabei darin bestehen, ein seriös wirkendes Transportunternehmen als Fassade für einen legal wirkenden Geschäftsbetrieb bereit zu stellen. Dieses Transportunternehmen sollte den Transport aus den Beneluxstaaten nach Großbritannien übernehmen. Hierfür wurde ihm ein Euro pro Zigarettenstange als Verdienst versprochen. Der Angeklagte R. kontaktierte den Angeklagten W. , der über Erfahrungen im Speditionsgewerbe verfügte und die beiden kamen überein, gleichberechtigt diese Transporte der guten Verdienstmöglichkeiten wegen abzuwickeln. Sie gewannen den Fahrer K. und den mit W. bekannten C. , der bereit war, sich als Halter für den von den Polen zur Verfügung gestellten LKW eintragen zu lassen, dabei jedoch nicht über den illegalen Hintergrund informiert war.a) Der Angeklagte R. fälschte auf drei den LKW betreffenden Versi- cherungsanträgen die Unterschrift des C. , der davon keine Kenntnis hatte. Diese Anträge auf Abschluss von Kraftfahrtversicherungen legte er zusammen der Versicherungsmaklerin vor, um die erforderlichen Pflichtversicherungen zu erhalten.b) In Umsetzung des Tatplans der Angeklagten und auf deren Weisung nahm der Fahrer K. am 7. März 2013 in Belgien zunächst einige wenige Pa- letten Gläser als Ladung auf, die als Tarnung für die Zigaretten dienen sollten. Er fuhr sodann in die Niederlande, wo er auf Beauftragte der polnischen Hinterleute traf, die den LKW mit 2.939.220 Stück unverzollter und unversteuerter Zigaretten der Marken MG, Jin Ling und Dodger beluden. Diese waren zuvor auf unbekanntem Wege in die Niederlande verbracht worden. Anschließend fuhr K. zum belgischen Fährhafen O. , um dort die vom Angeklagten W. für ihn gebuchte Fähre nach Großbritannien zu erreichen. Dabei wusste der in die Planung eingebundene K. um seine Verpflichtung zur Versteuerung. Aber weder er noch die Angeklagten, die den Transport mit "Rat und Tat" begleiteten, gaben für die Zigaretten eine Steuererklärung bei den zuständigen niederländischen Behörden ab. Nach der Überfahrt wurde der LKW im Zielhafen Ra. kontrolliert, wobei die Zigaretten sichergestellt wurden.Zu den geplanten weiteren Taten kam es nicht mehr.2. Das Landgericht hat die Tat zu 1.a) als durch den Angeklagten R. begangene einheitliche Urkundenfälschung bewertet. Hinsichtlich der Tat zu 1.b) - die Strafverfolgung war insoweit auf die Hinterziehung niederländischer Tabaksteuer beschränkt worden - hat es eine durch mittäterschaftliches Handeln beider Angeklagten begangene Steuerhinterziehung gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 Satz 2 Nr. 1, Abs. 6 und 7 AO angenommen. Auf der Grundlage der einschlägigen niederländischen Verbrauchssteuergesetze ist es davon ausgegangen, dass die niederländische Tabaksteuer in Höhe von 516.478,15 Euro mit der Erlangung der tatsächlichen Verfügungsgewalt am 7. März 2013, wodurch die Zigaretten in den steuerrechtlich freien Verkehr überführt wurden, entstanden ist, sowohl von K. als auch von den am Transport mittäterschaftlich beteiligten Angeklagten geschuldet wurde und umgehend hätte erklärt werden müssen.II.1. Die Revisionen haben zum Schuld- und zum Strafausspruch keinen Erfolg.a) Soweit sich der Angeklagte W. mit einer Verfahrensrüge der Verlet- zung des Grundsatzes des fairen Verfahrens in Verbindung mit § 154 Abs. 2 StPO gegen den Schuldspruch richtet, hat diese Rüge aus den vom Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift aufgeführten Gründen keinen Erfolg.b) Die Überprüfung auf die von beiden Angeklagten erhobene Sachrüge zeigt ebenfalls keinen die Angeklagten belastenden Rechtsfehler auf.Die Überzeugung von der Täterschaft der Angeklagten beruht tragfähig vor allem auf den geständigen Angaben des Angeklagten R. und der aus- sagekräftigen Auswertung der Telekommunikation.Auch die Strafzumessung zeigt keinen Rechtsfehler auf.2. Die von der Strafkammer getroffene Einziehungsentscheidung hält jedoch sachlichrechtlicher Überprüfung nicht stand.Auf der Grundlage der neueren Rechtsprechung des Senats (Urteil vom 11. Juli 2019 - 1 StR 620/18), die der Entscheidung des Landgerichts nachfolgte und daher nicht berücksichtigt werden konnte, gilt Folgendes:Beim Delikt der Steuerhinterziehung kann die verkürzte Steuer "erlangtes Etwas" im Sinne von § 73 Abs. 1 StGB sein, weil sich der Täter Aufwendungen für diese Steuern erspart (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteile vom 11. Juli 2019 - 1 StR 620/18 Rn. 19 mwN und vom 18. Dezember 2018 - 1 StR 36/17 Rn. 18 mwN; Fischer, StGB, 66. Aufl., § 73 Rn. 20; Köhler, NStZ 2017, 497, 503 f.). Dies gilt jedoch nicht schlechthin, weil die Einziehung an einen durch die Tat tatsächlich beim Täter eingetretenen Vermögensvorteil anknüpft und damit mehr als die bloße Tatbestandserfüllung voraussetzt (BGH, Urteil vom 11. Juli 2019 - 1 StR 620/18 Rn. 19).Im Hinblick auf den Charakter der Tabaksteuer als Verbrauch- bzw. Warensteuer ergibt sich ein unmittelbar messbarer wirtschaftlicher Vorteil nur, soweit sich die Steuerersparnis im Vermögen des Täters dadurch niederschlägt, dass er aus den Tabakwaren, auf die sich die Hinterziehung der Tabaksteuern bezieht, einen Vermögenszuwachs erzielt, beispielsweise in Form eines konkreten Vermarktungsvorteils (BGH, Urteil vom 11. Juli 2019 - 1 StR 620/18 Rn. 20). Offene Steuerschulden begründen hingegen nicht stets über die Rechtsfigur der ersparten Aufwendungen einen Vorteil im Sinne des § 73 Abs. 1 StGB. Maßgeblich bleibt immer, dass sich ein Vorteil im Vermögen des Täters widerspiegelt. Nur dann hat der Täter durch die ersparten Aufwendungen auch wirtschaftlich etwas erlangt.Gemessen an diesen Grundsätzen haben die Angeklagten durch die Taten keinen wirtschaftlichen Vorteil in Höhe von 516.478,15 Euro durch die Hinterziehung von Tabaksteuer erzielt, weil sich die im Wert der Tabakwaren verkörperte Steuerersparnis nicht in ihrem Vermögen in irgendeiner Form widerspiegelt.Das neu zuständige Tatgericht wird zu klären haben, ob die Angeklagten die zugesagte Entlohnung erhalten haben. Hierzu wird es ergänzende Feststellungen zu treffen haben, denn das Urteil enthält bislang zwar die den Erhalt einer Entlohnung leugnende Einlassung des Angeklagten R. . Dies lässt allerdings auch angesichts von aufgeführten Vergütungen für Transporte an den Angeklagten W. in Höhe von 2.600 Euro nicht den sicheren Schluss zu, dass solche Zahlungen tatsächlich nicht erfolgt sind. Sollte eine Entlohnung festgestellt werden können, unterläge diese der Einziehung.3. Die verhängte Folge als Nebenstrafe nach § 375 Abs. 1 Nr. 1 AO, § 45 Abs. 2 StGB (vgl. Heine in Graf/Jäger/Wittig, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Aufl., § 375 AO Rn. 1 mwN; Hübschmann/Hepp/Spitaler/Beckemper, AO/FGO, 231. Lieferung Rn. 8; MüKo/Radtke, StGB, 3. Aufl., § 45 Rn. 7) hat ebenfalls keinen Bestand, da der Angeklagte W. eine in diesem Umfang durchgreifende Verfahrensrüge der Verletzung der Hinweispflicht erhoben hat.a) Der zulässig erhobenen Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:In der Anklageschrift vom 1. Juni 2017 hat die Möglichkeit einer solchen Nebenfolge keine Erwähnung gefunden. Der Angeklagte W. ist nachfolgend, nämlich ab dem 26. Oktober 2017 als sog. Nachrücker Abgeordneter des Landtags in B. geworden. Auf die Möglichkeit der Aberkennung des Amts- verlusts und der Wählbarkeit war der Angeklagte auch durch das Gericht nicht hingewiesen worden. Erstmals im Plädoyer der Staatsanwaltschaft wurden diese Folgen beantragt, ohne dass sich das Gericht dazu verhalten hätte. Die Strafkammer hat sodann im Urteil diese in ihrem Ermessen stehende Nebenfolge angeordnet und dabei maßgeblich darauf abgestellt, dass die Tat trotz des zeitlichen Abstands eine charakterliche Ungeeignetheit für die derzeit ausgeübte Abgeordnetentätigkeit belege und sich die darin zu Tage getretene Unrechtsschwere auf die nunmehrige Abgeordnetentätigkeit auswirke.b) Diese Verfahrensweise beanstandet die Revision zu Recht.Angesichts der Umstände des vorliegenden Einzelfalls liegt in der gerügten Verfahrensweise bereits ein Verstoß gegen § 265 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. Abs. 1 StPO in der Fassung des Gesetzes zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens vom 17. August 2017 (BGBl. I S. 3202, 3210), in Kraft getreten zum 24. August 2017. Nach dieser Vorschrift ist das Gericht zu einem Hinweis verpflichtet, wenn sich erst in der Verhandlung besonders vorgesehene Umstände ergeben, die die Verhängung einer Nebenstrafe oder Nebenfolge rechtfertigen. So liegt es hier.Der Senat braucht daher hier nicht zu entscheiden, ob sich eine Hinweispflicht auch aus einer entsprechenden Anwendung des § 265 Abs. 2 StPO ergeben kann (vgl. hierzu nur Radtke in Hohmann/Radtke, StPO, § 265 Rn. 87 mwN).aa) Die Erweiterung der Hinweispflichten durch die Neufassung des § 265 Abs. 2 Nr. 1 StPO soll nach dem niedergelegten gesetzgeberischen Willen dazu dienen, die Hinweispflicht im Interesse der Verteidigung auf solche Fälle zu erstrecken, in denen nachträglich die Verhängung einer Nebenstrafe oder Nebenfolge in Betracht kommt. Denn auch die Verhängung von Nebenstrafen und Nebenfolgen können in ihren Konsequenzen für den Angeklagten und sein Verteidigungsverhalten erheblich sein, so dass auch insofern eine Hinweispflicht geboten erscheine. Dies diene vor dem Hintergrund des Rechts des Angeklagten auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG und des rechtsstaatlichen Grundsatzes des fairen Verfahrens der Sicherung einer sachgemäßen Verteidigung des Angeklagten (BT-Drucks. 18/11277, S. 36 f.; vgl. hierzu Senat, Beschlüsse vom 6. Dezember 2018 - 1 StR 186/18 Rn. 18 und vom 26. April 2019 - 1 StR 471/18 Rn. 13).bb) Ausweislich der sich aus den Urteilsgründen ergebenden Begründung für die Verhängung der Nebenstrafe war maßgeblicher rechtfertigender Anknüpfungspunkt die Tätigkeit des Angeklagten als Landtagsabgeordneter. Der Umstand, dass der Angeklagte zur Zeit des Urteils als Landtagsabgeordneter tätig war, war zudem bestimmend für das Gewicht der Nebenstrafe, wie das Landgericht zu Recht ausgeführt hat. Dabei handelt es sich um einen tatsächlichen Umstand, der in der Anklageschrift noch keine Erwähnung finden konnte, sondern sich erst in der Verhandlung als nachträgliche Tatsache ergeben hat, die die Notwendigkeit der Anordnung der Nebenstrafe aus Sicht der Strafkammer begründet hat.Auch der Generalbundesanwalt legt in seiner Antragsschrift dar, dass die sinngemäße Anwendung des § 265 StPO auf den Fall des § 45 Abs. 2 StGB gerechtfertigt wäre, wenn sich aus dem Katalog des § 265 Abs. 2 StPO ergäbe, dass der Gesetzgeber Nebenfolgen für so einschneidend erachtet, dass sie ohne vorherigen Hinweis nicht angeordnet werden dürften. Er geht aber davon aus, dass insoweit nur Nebenstrafen und Maßregeln erfasst seien, was einerseits den aktuellen Gesetzestext nicht widerspiegelt, andererseits den Charakter der Nebenfolge des § 375 Abs. 1 AO, § 45 Abs. 2 StGB als Nebenstrafe (Heine aaO) unbeachtet lässt.cc) Die frühere Rechtsprechung, die eine Hinweispflicht verneinte (BGH, Urteil vom 5. März 1969 - 4 StR 610/68, BGHSt 22, 336, 337 f.; Beschluss vom 8. Mai 1980 - 4 StR 172/80, BGHSt 29, 274, 277) ist damit überholt (vgl. KK-StPO/Kuckein/Bartel, 8. Aufl., § 265 Rn. 16a; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl., § 265 Rn. 20a).dd) Der danach erforderliche Hinweis auf eine mögliche Aberkennungsentscheidung hätte durch das Gericht förmlich erteilt werden müssen, da § 265 Abs. 2 StPO nunmehr ausdrücklich auf die in § 265 Abs. 1 StPO normierte besondere Hinweispflicht verweist (BGH, Beschlüsse vom 6. Dezember 2018 - 1 StR 186/18 Rn. 18 und vom 26. April 2019 - 1 StR 471/18 Rn. 13; vgl. zu § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO BGH, Beschluss vom 14. Juni 2018 - 3 StR 206/18 Rn. 15). Der Hinweis kann deswegen nicht durch den entsprechenden Antrag der Staatsanwaltschaft im Schlussvortrag ersetzt werden (BGH, Beschlüsse vom 6. Dezember 2018 - 1 StR 186/18 Rn. 18 und vom 26. April 2019 - 1 StR 471/18 Rn. 13; OLG Koblenz, Beschluss vom 27. Juni 2018 - 2 OLG 6 Ss 28/18 Rn. 8).ee) Der Senat kann auch ein Beruhen des Urteils auf diesem Verstoß nicht ausschließen. Schon allein in Anbetracht des Umstands, dass die Aberkennung der Amtsfähigkeit und der Wählbarkeit nach § 375 Abs. 1 AO, § 45 Abs. 2 StGB im Ermessen des Gerichts steht, liegt nahe, dass die Verteidigung auf die Entscheidung hätte Einfluss nehmen können, hätte sie gewusst, dass eine solche in Betracht kommt. Dies gilt zumal, da die auf diese Vorschriften gestützte Nebenstrafe überaus selten angeordnet wird (vgl. hierzu Flore/Tsambikakis/Ebner, Steuerstrafrecht, 2. Aufl., § 375 Rn. 3; Heine aaO Rn. 1, 9), mithin gerade auch angesichts des Zeitablaufs zwischen Tat und Abgeordnetentätigkeit tatsächlich als überraschend gelten muss.Das neu zuständige Tatgericht wird daher erneut über die Frage zu entscheiden haben, ob eine Nebenstrafe nach § 375 Abs. 1 AO, § 45 Abs. 2 StGB angeordnet werden soll.Raum Jäger Bellay Cirener RinBGH Dr. Fischer befindet sich im Urlaub und ist deshalb an der Unterschriftsleistung gehindert.Raum
bundesgerichtshof
bgh_081-2019
18.06.2019
Bundesgerichtshof entscheidet über Entgelte für Bareinzahlungen und Barauszahlungen am Bankschalter Ausgabejahr 2019 Erscheinungsdatum 18.06.2019 Nr. 081/2019 Urteil vom 18. Juni 2019 - XI ZR 768/17 Der u.a. für das Bankrecht zuständige XI. Zivilsenat hat entschieden, dass Banken seit dem Inkrafttreten des auf europäischem Richtlinienrecht beruhenden Zahlungsdiensterechts im Jahr 2009 in ihren Preis- und Leistungsverzeichnissen dem Grunde nach Entgelte für Bareinzahlungen und Barauszahlungen auf oder von einem Girokonto am Bankschalter vorsehen dürfen, und zwar ohne dass dem Kunden zugleich im Wege einer sogenannten Freipostenregelung eine bestimmte Anzahl von unentgeltlichen Barein- und Barauszahlungen eingeräumt sein muss. Seine zur früheren Rechtslage ergangene Rechtsprechung, nach der solche Freipostenregelungen erforderlich waren, hat der Senat angesichts dieser geänderten Rechtslage aufgegeben. Im Rechtsverkehr mit Verbrauchern kann aber die Entgelthöhe der richterlichen Inhaltskontrolle unterliegen. Sachverhalt: Der Kläger, die Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs e.V., begehrt von der beklagten Sparkasse, es zu unterlassen, in ihrem Preis- und Leistungsverzeichnis für Bareinzahlungen und Barabhebungen am Bankschalter ein Entgelt vorzusehen. Die beklagte Sparkasse bietet entgeltliche Giroverträge in unterschiedlichen Gestaltungen an. Bei dem Vertragsmodell "S-Giro Basis" verlangt sie - bei einem monatlichen Grundpreis von 3,90 € - in ihrem Preis- und Leistungsverzeichnis für die Leistung "Beleghafte Buchungen und Kassenposten mit Service, je Buchung" ein Entgelt von 2 €. Bei dem Vertragsmodell "S-Giro Komfort" mit höherem monatlichen Grundpreis beträgt das Entgelt für dieselbe Leistung 1 €. Hierauf gestützt berechnet die Beklagte bei beiden Vertragsmodellen für jede Ein- oder Auszahlung von Bargeld auf bzw. von einem bei ihr unterhaltenen Girokonto am Bankschalter ein Entgelt von 1 € oder 2 €. Bareinzahlungen sowie Barabhebungen am Geldautomaten, letztere täglich bis zu einem Betrag von 1.500 €, sind bei jedem Vertragsmodell im Grundpreis inklusive. Der Kläger hält solche Entgeltklauseln für Bareinzahlungen und Barauszahlungen am Bankschalter für unwirksam, wenn nicht durch eine sog. Freipostenregelung monatlich mindestens fünf Bareinzahlungen oder Barauszahlungen am Bankschalter "und/oder" am Geldautomaten entgeltfrei gestellt werden. Bisheriger Prozessverlauf: Die in der Hauptsache auf Unterlassung gerichtete Klage hat das Landgericht abgewiesen. Die Berufung des Klägers hat das Berufungsgericht zurückgewiesen. Mit der vom Oberlandesgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Entscheidung des Bundesgerichtshofs: Der XI. Zivilsenat hat auf die Revision des Klägers das angefochtene Urteil insoweit aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen, als das Berufungsgericht hinsichtlich der von der Beklagten konkret verwendeten Klauseln "Beleghafte Buchungen und Kassenposten mit Service, je Buchung … Euro" bislang nicht überprüft hat, ob das dort vorgesehene Entgelt von 1 € oder 2 € im Rechtsverkehr mit Verbrauchern der Höhe nach einer richterlichen Inhaltskontrolle standhält. Im Übrigen, also insbesondere soweit der Kläger es der Beklagten generell untersagen lassen möchte, für Barein- und Barauszahlungen am Bankschalter ohne angemessene Freipostenregelung überhaupt ein Entgelt zu verlangen, hat der XI. Zivilsenat die Revision zurückgewiesen. Zur Begründung hat der Senat im Wesentlichen ausgeführt: Soweit der Kläger der Beklagten die Verwendung von Barein- und Barauszahlungsentgeltklauseln ohne angemessene Freipostenregelung generell, also unabhängig von der konkreten Ausgestaltung, verbieten lassen möchte, ist die Unterlassungsklage unbegründet. Nach der früheren Rechtsprechung des XI. Zivilsenats hätte die Unterlassungsklage allerdings Erfolg gehabt. Nach dieser unterlagen solche Entgeltklauseln sowohl im Verbraucher- als auch im Unternehmerverkehr der richterlichen Inhaltskontrolle und waren wegen unangemessener Benachteiligung des Kunden unwirksam, wenn sie keine angemessene Freipostenregelung vorsahen. Hintergrund dieser Rechtsprechung war, dass Ein- und Auszahlungen auf oder von einem Girokonto nach Darlehensrecht (§§ 488 ff. BGB) oder dem Recht der unregelmäßigen Verwahrung (§ 700 BGB) zu beurteilen sind, welches weder für die Begründung noch für die Erfüllung von Darlehens- bzw. Verwahrungsverhältnissen ein Entgelt vorsieht (siehe BGH, Urteile vom 30. November 1993 - XI ZR 80/93, BGHZ 124, 254 ff. und vom 7. Mai 1996 - XI ZR 217/95, BGHZ 133, 10 ff.). An dieser Rechtsprechung hat der XI. Zivilsenat aufgrund geänderter gesetzlicher Vorgaben nicht mehr festgehalten. Zwar weist der Girovertrag nach wie vor die für ihn charakteristischen darlehens- und verwahrungsrechtlichen Elemente auf. Allerdings bestimmt das im Jahre 2009 in Kraft getretene Zahlungsdiensterecht (§§ 675c ff. BGB), mit dem der deutsche Gesetzgeber europäisches Richtlinienrecht, nämlich die Zahlungsdiensterichtlinie 2007 sowie deren Nachfolgerichtlinie aus dem Jahr 2015, umgesetzt hat, dass für die Erbringung eines Zahlungsdienstes das "vereinbarte Entgelt zu entrichten" ist (§ 675f Abs. 5 Satz 1 BGB). Danach sind auch Bareinzahlungen auf und Barabhebungen von einem Girokonto Zahlungsdienste (§ 675c Abs. 3 i.V.m. § 1 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 ZAG). Für diese darf - auch ohne Freipostenregelung - ein Entgelt verlangt werden. Davon unabhängig unterliegen die von der Beklagten verwendeten Klauseln allerdings im Rechtsverkehr mit Verbrauchern im Hinblick auf die Höhe des vereinbarten Entgelts der richterlichen Inhaltskontrolle. Denn insoweit greift die zu Gunsten von Verbrauchern (halb-)zwingende Preisregelung des § 312a Abs. 4 Nr. 2 BGB ein. Mit dieser Vorschrift hat der deutsche Gesetzgeber - wenn auch richtlinienüberschießend - Vorgaben der europäischen Verbraucherrechterichtlinie umgesetzt, indem er gemäß § 312 Abs. 5 BGB in rechtlich unbedenklicher Weise auch Finanzdienstleistungen in den Anwendungsbereich dieser Vorschrift einbezogen hat. Die Erfüllung einer vertraglichen Pflicht im Sinne des § 312a Abs. 4 Nr. 2 BGB ist auch die (teilweise) Rückführung eines überzogenen Girokontos durch eine Bareinzahlung am Bankschalter. Mit den in Streit stehenden Entgeltklauseln "Beleghafte Buchungen und Kassenposten mit Service, je Buchung … Euro" bepreist die Beklagte unter anderem auch einen solchen Zahlungsvorgang, so dass eine Entgeltkontrolle eröffnet ist. Ob das von der Beklagten verlangte Entgelt von 1 € und 2 € im Rechtsverkehr mit Verbrauchern der Entgeltkontrolle standhält, hat das Berufungsgericht nicht überprüft. Der Senat hat das Berufungsurteil deswegen insoweit aufgehoben und zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Für die vom Berufungsgericht nunmehr vorzunehmende Entgeltkontrolle hat der XI. Zivilsenat darauf hingewiesen, dass gemäß § 312a Abs. 4 Nr. 2 BGB nur solche Kosten umlagefähig sind, die unmittelbar durch die Nutzung des Zahlungsmittels, d.h. hier die Barzahlung, entstehen (sogenannte transaktionsbezogene Kosten). Gemeinkosten wie allgemeine Personalkosten und Kosten für Schulungen und Geräte, deren Anfall von dem konkreten Nutzungsakt losgelöst sind, sind dagegen nicht umlagefähig. Vorinstanzen: LG Memmingen - Urteil vom 16. November 2016 - 1 HK O 893/16 OLG München - Urteil vom 12. Oktober 2017 - 29 U 4903/16 Die maßgeblichen Vorschriften lauten: § 675f Abs. 5 BGB: Der Zahlungsdienstnutzer ist verpflichtet, dem Zahlungsdienstleister das für die Erbringung eines Zahlungsdienstes vereinbarte Entgelt zu entrichten. Für die Erfüllung von Nebenpflichten nach diesem Untertitel hat der Zahlungsdienstleister nur dann einen Anspruch auf ein Entgelt, sofern dies zugelassen und zwischen dem Zahlungsdienstnutzer und dem Zahlungsdienstleister vereinbart worden ist; dieses Entgelt muss angemessen und an den tatsächlichen Kosten des Zahlungsdienstleisters ausgerichtet sein. § 1 Abs. 1 Satz 2 ZAG: Zahlungsdienste sind 1.die Dienste, mit denen Bareinzahlungen auf ein Zahlungskonto ermöglicht werden, sowie alle für die Führung eines Zahlungskontos erforderlichen Vorgänge (Einzahlungsgeschäft); 2.die Dienste, mit denen Barauszahlungen von einem Zahlungskonto ermöglicht werden, sowie alle für die Führung eines Zahlungskontos erforderlichen Vorgänge (Auszahlungsgeschäft); […] § 312a Abs. 4 Nr. 2 BGB: Eine Vereinbarung, durch die ein Verbraucher verpflichtet wird, ein Entgelt dafür zu zahlen, dass er für die Erfüllung seiner vertraglichen Pflichten ein bestimmtes Zahlungsmittel nutzt, ist unwirksam, wenn 1. […] 2.das vereinbarte Entgelt über die Kosten hinausgeht, die dem Unternehmer durch die Nutzung des Zahlungsmittels entstehen. Karlsruhe, den 18. Juni 2019 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Urteil des XI. Zivilsenats vom 18.6.2019 - XI ZR 768/17 -
Tenor Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 29. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 12. Oktober 2017 unter Zurückweisung des Rechtsmittels im Übrigen im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als das Berufungsgericht über den mit "insbesondere" eingeleiteten Teil des Unterlassungsantrags (Verurteilung der Beklagten, es zu unterlassen, in ihrem Preis- und Leistungsverzeichnis mittels der Klauseln mit dem Inhalt "Beleghafte Buchungen und Kassenposten mit Service 2,00 Euro" und "Beleghafte Buchungen und Kassenposten mit Service 1,00 Euro" im geschäftlichen Verkehr für die Ein- und Auszahlung von Bargeld auf bzw. von Girokonten ein Entgelt vorzusehen) in Bezug auf den Verkehr mit Verbrauchern zum Nachteil des Klägers erkannt hat.Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.Von Rechts wegen. Tatbestand Der Kläger ist die Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs e.V. Die beklagte Sparkasse bietet entgeltliche Giroverträge in unterschiedlichen Gestaltungen an.Bei dem Vertragsmodell "S-Giro Basis" berechnet die Beklagte einen monatlichen Grundpreis von 3,90 € und bestimmt in dem zugehörigen Preis- und Leistungsverzeichnis unter der Überschrift "Bargeld und Buchungen" unter anderem:"Ein- und Auszahlungen an unseren Geldautomaten inklusive Beleglose Buchungen, je Buchung (15 frei) 0,10 Euro Vom Kunden erstellte beleghafte Buchungen, je Buchung 1,00 Euro Beleghafte Buchungen und Kassenposten mit Service, je Buchung 2,00 Euro"Bei dem Vertragsmodell "S-Giro Komfort" berechnet sie einen monatlichen Grundpreis von 7,90 € und bestimmt in dem zugehörigen Preis- und Leistungsverzeichnis unter anderem:"Ein- und Auszahlungen an unseren Geldautomaten inklusive Beleglose Buchungen, je Buchung inklusive Vom Kunden erstellte beleghafte Buchungen, je Buchung inklusive Beleghafte Buchungen und Kassenposten mit Service, je Buchung 1,00 Euro"Bei dem Vertragsmodell "S-Giro Premium" beträgt der monatliche Grundpreis 14,90 €. Dafür ist für alle genannten Leistungen in dem zugehörigen Preis- und Leistungsverzeichnis kein gesondertes Entgelt vorgesehen ("inklusive"). Die Preis- und Leistungsverzeichnisse schließen jeweils mit einem Zusatz ab, in dem es unter anderem heißt:"Entgelte für Buchungsposten, Geschäftsvorfälle oder Umsätze werden nur erhoben, wenn die Buchungen im Auftrag oder im Interesse des Kunden erfolgen. Für Buchungen, die nicht im Interesse des Kunden vorgenommen werden (z.B. Fehlbuchungen oder Belastungsbuchungen im Interesse der Sparkasse), wird kein Entgelt berechnet."Unter Berufung auf das jeweilige Preis- und Leistungsverzeichnis und den dort enthaltenen Leistungstitel "Beleghafte Buchungen und Kassenposten mit Service, je Buchung" berechnet die Beklagte bei den Vertragsmodellen "S-Giro Basis" und "S-Giro Komfort" für jede Ein- und Auszahlung von Bargeld am Schalter das dort jeweils vorgesehene Entgelt. Bei allen Vertragsmodellen können Barabhebungen von mehr als 1.500 € pro Tag nur am Bankschalter, nicht aber am Geldautomaten vorgenommen werden.Der Kläger mahnte die Beklagte vorgerichtlich lediglich mit der Beanstandung ab, dass die Beklagte für Barabhebungen am Bankschalter 2 € berechne. Die insoweit eingeforderte strafbewehrte Unterlassungserklärung gab die Beklagte nicht ab.Mit der Klage verlangt der Kläger von der Beklagten Unterlassung des Inhalts, "im geschäftlichen Verkehr in ihrem Preis- und Leistungsverzeichnis für die Ein- und Auszahlung von Bargeld auf bzw. von Girokonten an der Kasse ein Entgelt vorzusehen, sofern nicht mindestens fünf Einzahlungen von Bargeld an der Kasse und/oder am Geldautomaten pro Monat ohne Berechnung möglich sind", insbesondere wenn dies wie in den Preis- und Leistungsverzeichnissen für die Vertragsmodelle "S-Giro Basis" und "S-Giro Komfort" geschieht. Ferner fordert er die Erstattung von Abmahnkosten in Höhe von 246,10 € nebst Zinsen.Die Klage ist in den Vorinstanzen erfolglos geblieben. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Gründe Die Revision des Klägers hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg. Insoweit führt sie - unter Zurückweisung des Rechtsmittels im Übrigen - zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.I.Das Berufungsgericht hat seine unter anderem in WM 2018, 519 veröffentlichte Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:Der Unterlassungsantrag sei schon deshalb unbegründet, weil er die von dem Kläger beanstandete konkrete Verletzungsform verfehle. Wegen der "und/oder" Verknüpfung im Unterlassungsantrag entgehe die Beklagte dem von dem Kläger beantragten Verbot bereits dann, wenn sie zwar nicht an der Kasse, aber am Geldautomaten pro Monat mindestens fünf Ein- und Auszahlvorgänge auf bzw. von Girokonten kostenfrei stelle.Der Kläger habe auf diesen Antragsmangel nicht hingewiesen werden müssen, weil ihm aus dem beanstandeten Verhalten der Beklagten kein entsprechender materiellrechtlicher Unterlassungsanspruch gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Nr. 2, §§ 3, 3a UWG i.V.m. § 307 Abs. 1 BGB erwachsen sei.Insbesondere seien die beanstandeten Klauseln, soweit sie "Beleghafte Buchungen und Kassenposten mit Service" bepreisten, nicht gemäß § 307 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 BGB unwirksam.Es handele sich gemäß § 307 Abs. 3 Satz 1 BGB um kontrollfreie Klauseln, weil mit ihnen unmittelbar der Preis für eine vertragliche Hauptleistung bestimmt werde. Da beide Parteien die Leistungsbeschreibung "Beleghafte Buchungen und Kassenposten mit Service", wie sie in der mündlichen Verhandlung übereinstimmend bestätigt hätten, dahin auslegten, dass sie Ein- und Auszahlungen von Bargeld an der Kasse erfasse, sei es ausgeschlossen, dass das Entgelt auch für Buchungen erhoben werde, die der Herbeiführung des sachlich richtigen Standes nach der fehlerhaften Ausführung eines Zahlungsauftrages dienten oder nicht autorisierte Zahlungsvorgänge beträfen.Bei der Ein- und Auszahlung von Bargeld auf ein Girokonto handele es sich um Zahlungsvorgänge und bei deren Erbringung unabhängig von der zugrundeliegenden Rechtsbeziehung um einen Zahlungsdienst, für den nach der vorrangigen Regelung des § 675f Abs. 4 Satz 1 BGB aF als Gegenleistung ein Entgelt vereinbart und verlangt werden könne. Die von dem Kläger für seine gegenteilige Auffassung herangezogene, auf das allgemeine Recht des Darlehensvertrages und der unregelmäßigen Verwahrung bezogene Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs aus den Jahren 1993 und 1996 (Senatsurteile vom 30. November 1993 - XI ZR 80/93, BGHZ 124, 254 und vom 7. Mai 1996 - XI ZR 217/95, BGHZ 133, 10) sei nach dem Inkrafttreten des Zahlungsdiensterechts nicht mehr maßgebend.Der geltend gemachte Anspruch auf Ersatz der pauschalierten Abmahnkosten bestehe mangels Unterlassungsanspruchs nicht.II.Diese Ausführungen halten einer revisionsrechtlichen Überprüfung in wesentlichen Punkten nicht stand.1. Maßgeblich für das in die Zukunft gerichtete Unterlassungsbegehren des Klägers ist das zum Zeitpunkt der Revisionsentscheidung geltende Recht, auch wenn es nach Schluss der mündlichen Verhandlung zweiter Instanz und im laufenden Revisionsverfahren in Kraft getreten ist (BGH, Urteile vom 17. Juli 2008 - I ZR 139/05, WRP 2009, 48, 49 und vom 23. Februar 2016 - XI ZR 101/15, BGHZ 209, 86 Rn. 23). Zu Grunde zu legen sind damit die §§ 675c ff. BGB in der ab dem 13. Januar 2018 geltenden Fassung, die der Umsetzung der Richtlinie (EU) 2015/2366 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2015 über Zahlungsdienste im Binnenmarkt, zur Änderung der Richtlinien 2002/65/EG, 2009/110/EG und 2013/36/EU und der Verordnung (EU) Nr. 1093/2010 sowie zur Aufhebung der Richtlinie 2007/64/EG (ABl. EU 2015 Nr. L 337 S. 35; im Folgenden: ZDRL 2015) dienen, welche die Vorgängerrichtlinie 2007/64/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. November 2007 über Zahlungsdienste im Binnenmarkt, zur Änderung der Richtlinien 97/7/EG, 2002/65/EG, 2005/60/EG und 2006/48/EG sowie zur Aufhebung der Richtlinie 97/5/EG (ABl. EU 2007 Nr. L 319 S. 1; im Folgenden: ZDRL 2007) abgelöst hat.2. Im Ergebnis zutreffend hat das Berufungsgericht erkannt, dass der Unterlassungsantrag insoweit unbegründet ist, als er sich in seinem vorangestellten abstrakten Teil - für sich hinreichend bestimmt - auf das Verbot richtet, "im Preis- und Leistungsverzeichnis für die Ein- und Auszahlung von Bargeld auf bzw. von Girokonten an der Kasse ein Entgelt vorzusehen, sofern nicht mindestens fünf Einzahlungen von Bargeld an der Kasse und/oder am Geldautomaten pro Monat kostenfrei sind".a) Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist der Unterlassungsantrag allerdings nicht deswegen unbegründet, weil er die von dem Kläger beanstandete konkrete Handlungsform schlechthin verfehle (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 19. März 2015 - I ZR 4/14, NJW 2015, 3576 Rn. 21). Soweit der Kläger den das abstrakte Verbot einschränkenden Zusatz mit einer auf die Ein- und Auszahlungsstelle bezogenen "und/oder" Verknüpfung versehen hat ("an der Kasse und/oder am Geldautomaten"), ergibt sich aus dem - zur Auslegung des Unterlassungsantrags heranzuziehenden (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 2. März 2017 - I ZR 41/16, NJW-RR 2017, 1190 Rn. 11) - Klagevorbringen, dass die Beklagte dem klägerseits angestrebten Verbot nicht bereits dann entgehen können soll, wenn sie fünf unentgeltliche Transaktionen ausschließlich am Geldautomaten zur Verfügung stellt, sondern erst dann, wenn der Kunde die ihm monatlich einzuräumenden fünf unentgeltlichen Ein- oder Auszahlungsvorgänge nach Belieben sowohl am Bankschalter als auch am Geldautomaten vornehmen kann.b) Der Unterlassungsantrag ist in seinem abstrakten Teil allerdings deswegen unbegründet, weil - was das Berufungsgericht im Ergebnis zutreffend gesehen hat - das beanstandete Verhalten, nämlich die Bepreisung von Bareinzahlungen und Barauszahlungen am Bankschalter ohne eine Freipostenregelung, als solches nicht generell, also unabhängig von der konkreten Ausgestaltung des Preis- und Leistungsverzeichnisses, unzulässig ist.aa) Allerdings hat der Senat für den Zeitraum bis zum Inkrafttreten des Zahlungsdiensterechts (§§ 675c ff. BGB) am 31. Oktober 2009 entschieden, dass nach den Kategorien des Bürgerlichen Gesetzbuchs Ein- und Auszahlungen auf oder von einem Girokonto nach den gesetzlichen Regelungen der Darlehensverträge (§§ 488 ff. BGB) oder der unregelmäßigen Verwahrungsverhältnisse (§ 700 BGB) zu beurteilen sind, für deren Begründung oder Erfüllung nach dem gesetzlichen Leitbild kein Entgelt vorgesehen ist. Vor diesem Hintergrund unterlag bei einem privaten Girokonto eine Ein- und Auszahlungen am Schalter bepreisende Klausel als Preisnebenabrede der richterlichen Inhaltskontrolle nach § 307 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 307 Abs. 1 und 2 BGB und war nach § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB unwirksam, wenn sie keine angemessene Freipostenregelung enthielt (vgl. Senatsurteile vom 30. November 1993 - XI ZR 80/93, BGHZ 124, 254, 256 ff. und vom 7. Mai 1996 - XI ZR 217/95, BGHZ 133, 10, 12 ff.). Diese Grundsätze hat der Senat in der Folge auch auf das Geschäftsgirokonto übertragen (Senatsurteil vom 28. Juli 2015 - XI ZR 434/14, BGHZ 206, 305 Rn. 40).bb) Ob hieran auch für den Zeitraum nach Inkrafttreten des Zahlungsdiensterechts (§§ 675c ff. BGB) festzuhalten ist, hat der Senat bislang offengelassen (vgl. Senatsurteil vom 28. Juli 2015 - XI ZR 434/14, BGHZ 206, 305 Rn. 34). Die Frage ist dahingehend zu beantworten, dass es einer Bank nicht generell verwehrt ist, in ihren Allgemeinen Geschäftsbedingungen für Bareinzahlungen und Barauszahlungen auf ein oder von einem Girokonto am Bankschalter ein Entgelt vorzusehen, selbst wenn es an einer (angemessenen) Freipostenregelung fehlt. Denn nach Inkrafttreten des Zahlungsdiensterechts unterliegt eine solche Klausel nicht mehr ohne weiteres der Inhaltskontrolle.(1) Nach § 307 Abs. 3 Satz 1 BGB sind Gegenstand der Inhaltskontrolle solche Bestimmungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen, durch die von Rechtsvorschriften abweichende oder diese ergänzende Regelungen vereinbart werden. Darunter fallen grundsätzlich weder bloß deklaratorische Klauseln noch solche, die unmittelbar den Preis der vertraglichen Hauptleistung oder das Entgelt für eine rechtlich nicht geregelte, zusätzlich angebotene Sonderleistung bestimmen. Kontrollfähig sind aber Klauseln, die von gesetzlichen Preisregelungen abweichen (Senatsurteile vom 20. Oktober 2015 - XI ZR 166/14, BGHZ 207, 176 Rn. 16, vom 25. Oktober 2016 - XI ZR 9/15, BGHZ 212, 329 Rn. 22 und vom 5. Juni 2018 - XI ZR 790/16, BGHZ 219, 35 Rn. 36), sowie Bestimmungen, die kein Entgelt für eine Leistung zum Gegenstand haben, die dem Kunden auf rechtsgeschäftlicher Grundlage erbracht wird, sondern mittels derer der Verwender allgemeine Betriebskosten, Aufwand zur Erfüllung eigener Pflichten oder für Tätigkeiten, die im eigenen Interesse liegen, auf den Kunden abwälzt (Senatsurteile vom 20. Oktober 2015 - XI ZR 166/14, vom 25. Oktober 2016 - XI ZR 9/15 und vom 5. Juni 2018 - XI ZR 790/16, jeweils aaO).(2) Hieran gemessen bestimmen Klauseln, die Bareinzahlungen auf oder Barabhebungen von Girokonten am Bankschalter bepreisen, als solche den Preis für eine vertragliche Hauptleistung mit der Folge, dass sie im Grundsatz der Inhaltskontrolle nicht unterliegen.(a) Hauptleistungspflichten sind nach allgemeinen Grundsätzen nur die für die Eigenart des jeweiligen Schuldverhältnisses prägenden Bestimmungen, die für die Einordnung in die verschiedenen Typen der Schuldverhältnisse entscheidend sind (Senatsurteil vom 13. November 2012 - XI ZR 500/11, BGHZ 195, 298 Rn. 23 mwN). Soweit die Bank im Giroverhältnis verpflichtet ist, für den Kunden ein Zahlungskonto (§ 675c Abs. 3 i.V.m. § 1 Abs. 17 ZAG) zu führen und Zahlungsaufträge auszuführen, ist der Girovertrag Zahlungsdiensterahmenvertrag (vgl. Senatsurteil aaO Rn. 24; BGH, Urteil vom 21. Februar 2019 - IX ZR 246/17, WM 2019, 550 Rn. 11, für BGHZ bestimmt). Bei einem Zahlungsdiensterahmenvertrag sind Hauptleistungspflichten regelmäßig die vom Geldinstitut als Zahlungsdienstleister zu erbringenden Zahlungsdienste (Senatsurteil aaO Rn. 24). Zahlungsdienste sind nach § 675c Abs. 3 i.V.m. § 1 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 ZAG auch Dienste, mit denen Bareinzahlungen auf ein Zahlungskonto (Einzahlungsgeschäft) oder Barauszahlungen von einem Zahlungskonto (Auszahlungsgeschäft) ermöglicht werden (Senatsurteil vom 27. Januar 2015 - XI ZR 174/13, WM 2015, 519 Rn. 15 mwN). Das Ein- und Auszahlungsgeschäft ist für den Girovertrag prägend (vgl. Senatsurteil vom 28. Juli 2015 - XI ZR 434/14, BGHZ 206, 305 Rn. 41) und gehört damit zu den aus ihm erwachsenden Hauptleistungspflichten. Hinsichtlich des zahlungsdiensterechtlichen Elements sieht § 675f Abs. 5 Satz 1 BGB, demzufolge der Zahlungsdienstnutzer dem Zahlungsdienstleister das für die Erbringung eines Zahlungsdienstes vereinbarte Entgelt zu entrichten hat, die Bepreisbarkeit von Bareinzahlungen und Barauszahlungen überdies ausdrücklich vor.(b) Allerdings umfasst das Giroverhältnis regelmäßig noch weitere Leistungen der Bank (vgl. § 675f Abs. 2 Satz 2 BGB), die dem Zahlungsdiensterecht nicht notwendig unterliegen (vgl. Schmieder in Schimansky/Bunte/ Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 5. Aufl., § 47 Rn. 1a f.). Letzteres gilt insbesondere auch im Hinblick auf die Darlehens- (§§ 488 ff. BGB) und unregelmäßigen Verwahrungsverhältnisse (§ 700 BGB), die auf Grundlage des Giroverhältnisses durch Ein- und Auszahlungen auf bzw. vom Girokonto begründet oder erfüllt werden (siehe für Überziehungskredite im Verbraucherverkehr nun ausdrücklich § 504 BGB und § 505 BGB). Diese Darlehens- und Verwahrungsfunktion des Girokontos (vgl. Senatsurteil vom 28. Juli 2015 - XI ZR 434/14, BGHZ 206, 305 Rn. 41) ist für den Girovertrag auch nach Inkrafttreten des Zahlungsdiensterechts nach wie vor charakteristisch.(c) Damit ist zwar der Bezugspunkt der früheren Senatsrechtsprechung, Ein- und Auszahlungen auf oder von einem Girokonto am Bankschalter seien entweder Darlehens- (§§ 488 ff. BGB) oder unregelmäßigen Verwahrungsverhältnissen (§ 700 BGB) zuzuordnen, nicht entfallen. Gleichwohl sind Klauseln, die lediglich ein Entgelt für das Ein- oder Auszahlungsgeschäft vorsehen, durch die neue Rechtslage insoweit kontrollfrei gestellt, als es die Bepreisung dem Grunde nach anbelangt. Würde in Fortführung der früheren Senatsrechtsprechung weiter das Darlehensrecht bzw. das Recht der unregelmäßigen Verwahrung als für die Entgeltkontrolle maßgeblich herangezogen, unterliefe dies die Entscheidung des europäischen Richtlinien- bzw. nationalen Gesetzgebers, das Ein- und Auszahlungsgeschäft als Zahlungsdienst auszugestalten (Art. 4 Nr. 3 ZDRL 2015 i.V.m. Anhang I Nr. 1 und 2 bzw. § 675c Abs. 3 i.V.m. § 1 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 ZAG), für den dem Grunde nach ein Entgelt gerade vereinbart werden darf (§ 675f Abs. 5 Satz 1 BGB).Angesichts dieser geänderten Rechtslage kann an der früheren Senatsrechtsprechung nicht mehr festgehalten werden (so auch OLG Bamberg, WM 2013, 1705, 1706; MünchKommBGB/Casper, 7. Aufl., § 675f Rn. 52; Staudinger/Omlor, BGB, Neubearbeitung 2012, § 675f Rn. 41; Erman/Graf von Westphalen, BGB, 15. Aufl., § 675f Rn. 44; Schwintowski in Herberger/Martinek/ Rüßmann/Weth/Würdinger, jurisPK-BGB, 8. Aufl., § 675f Rn. 15; Bunte, AGB-Banken, 4. Aufl., Rn. 248 unter "Barein- und -auszahlungen"; Mehringer in Frey/Meier/Titsch/Walz/Mehringer, Neues Zahlungsverkehrsrecht, 2010, S. 3, 26 f.; Fornasier, EWiR 2018, 193 f.; Guggenberger, BKR 2017, 1, 2; Henning, DB 2015, 2619, 2620; Hofauer, BKR 2015, 397, 402 f.; Kropf, WuB 2018, 289 ff.; Nobbe, WuB 2015, 650, 652 f.; Omlor, EWiR 2018, 611 f.; Rodi, WuB 2018, 626; aA Fervers, BKR 2019, 165, 167 ff.; Zschieschack in BeckOGK BGB, Stand: 1. März 2019, § 307 Entgeltklausel Rn. 12, 14). Der die Bepreisung des Ein- und Auszahlungsgeschäfts gestattende § 675f Abs. 5 Satz 1 BGB überlagert insofern die im Darlehens- und Verwahrungsrecht wurzelnden Aussagen zur (Un-)Zulässigkeit der Bepreisung von Barein- bzw. Barauszahlungen am Bankschalter, mit denen Darlehens- und Verwahrungsverhältnisse errichtet bzw. erfüllt werden.Dies gilt auch, soweit mittels Bareinzahlung ein aufgrund (geduldeter) Überziehung debitorisches Girokonto zurückgeführt und damit der Anspruch aus § 488 Abs. 1 Satz 2 BGB (teilweise) erfüllt wird. Zwar gilt ein Zahlungsvorgang, der ohne zwischengeschaltete Stellen ausschließlich als unmittelbare Bargeldzahlung vom Zahler an den Zahlungsempfänger erfolgt, gemäß § 675c Abs. 3 BGB i.V.m. § 2 Abs. 1 Nr. 1 ZAG nicht als Zahlungsdienst. Die Bareinzahlung auf ein aufgrund einer (geduldeten) Überziehung debitorisches Konto stellt sich allerdings nicht, wie von § 2 Abs. 1 Nr. 1 ZAG in Übereinstimmung mit Art. 3 Buchst. a) ZDRL 2015 gefordert, "ausschließlich" als eine unmittelbare Bargeldzahlung dar, sondern ist mit dem der kontoführenden Bank zugleich konkludent erteilten Auftrag verbunden, eine entsprechende Buchung auf dem Girokonto vorzunehmen, also Bargeld in Buchgeld umzuwandeln (vgl. OLG Bamberg, WM 2013, 1705, 1706; Schmieder in Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 5. Aufl., § 47 Rn. 25). Hierin liegt ein über die bloße Bartransaktion hinausgehender, für die Führung eines Zahlungskontos erforderlicher Vorgang im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 ZAG.c) Damit geht der abstrakte Teil des Unterlassungsantrags zu weit, weil er auch erlaubte Verhaltensweisen umfasst. Dem Kläger ist insoweit allerdings nicht unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht Gelegenheit zu geben, einen angepassten Antrag zu stellen (vgl. dazu BGH, Urteil vom 22. Januar 2014 - I ZR 164/12, NJW 2014, 1534 Rn. 49). Die weite Antragsfassung entspricht der - wenn auch unzutreffenden - Auffassung des Klägers, die Bepreisung von Bareinzahlungen am Bankschalter ohne Freipostenregelung sei der Beklagten auch nach Inkrafttreten des Zahlungsdiensterechts schlechthin, d.h. unabhängig von der konkreten Ausgestaltung der Entgeltklausel, zu untersagen. Durch den mit dem Wort "insbesondere" eingeleiteten weiteren Teil seines Antrags hat der Kläger Vorsorge für den Fall getroffen, dass er mit seinem in erster Linie verfolgten Begehren eines abstrakten Verbots nicht durchdringt.3. Die Erwägungen, mit denen das Berufungsgericht die von der Beklagten konkret verwendeten Entgeltklauseln "Beleghafte Buchungen und Kassenposten mit Service ... Euro" als unbedenklich angesehen hat, halten revisionsrechtlicher Prüfung nicht in jeder Hinsicht stand. Mit der gegebenen Begründung können die Klauseln im Verkehr mit Verbrauchern nicht für wirksam erachtet werden.a) Das Berufungsgericht ist im Ausgangspunkt zu Unrecht davon ausgegangen, die Untersagung der Verwendung der konkreten Klauseln sei nur vom klägerischen Begehren, nicht aber auch von dem anhängig gemachten Unterlassungsantrag umfasst.aa) Der Unterlassungsantrag des Klägers verknüpft das abstrakte Verbot, Bareinzahlungen und Barauszahlungen am Bankschalter ohne angemessene Freipostenregelung zu bepreisen, mit einer durch das Wort "insbesondere" eingeleiteten Beschreibung der konkreten Verletzungsform, nämlich die Verwendung der in Bezug genommenen Preis- und Leistungsverzeichnisse, welche die Klauseln "Beleghafte Buchungen und Kassenposten mit Service ... Euro" enthalten.Ein solcher mit "insbesondere" eingeleiteter Teil eines Unterlassungsantrags dient zwar zunächst der Erläuterung des in erster Linie beantragten abstrakten Verbots. Daneben kann der Kläger aber auf diese Weise deutlich machen, dass er, falls er mit dem abstrakten Verbot nicht durchdringt, im Wege eines unechten Hilfsantrags jedenfalls die Unterlassung des konkret beanstandeten Verhaltens begehrt (vgl. BGH, Urteile vom 2. Februar 2012 - I ZR 81/10, GRUR 2012, 945 Rn. 22, vom 5. November 2015 - I ZR 50/14, GRUR 2016, 705 Rn. 13 und vom 31. Oktober 2018 - I ZR 73/17, GRUR 2019, 82 Rn. 21).So liegt der Fall hier. Der Kläger hat seinen Willen, jedenfalls auch ein Verbot des konkret beanstandeten Verhaltens zu erstreben, dadurch deutlich zum Ausdruck gebracht, dass er sich ausdrücklich auf die Unangemessenheit der in den konkreten Klauseln vorgesehenen Entgelte von 1 € bzw. 2 € berufen hat. Dies hat auch die Beklagte so verstanden und deshalb die von ihr konkret verwendeten Klauseln verteidigt. Dementsprechend hat auch das Berufungsgericht deren Zulässigkeit in der - zutreffenden - Annahme untersucht, die Untersagung der konkret verwendeten Klauseln sei vom klägerischen Begehren umfasst.bb) Der "insbesondere"-Zusatz ist auch - wie erforderlich (vgl. dazu BGH, Urteil vom 5. November 2015 - I ZR 50/14, GRUR 2016, 705 Rn. 13) - als solcher hinreichend bestimmt. Zwar ist der Wortlaut der beanstandeten Klauseln nicht, wie es bei einer auf §§ 1, 8 Abs. 1 Nr. 1 UKlaG gestützten Klage geboten wäre (vgl. dazu Senatsurteile vom 25. Juli 2017 - XI ZR 260/15, BGHZ 215, 292 Rn. 18 und vom 5. Juni 2018 - XI ZR 790/16, BGHZ 219, 35 Rn. 26), im Klageantrag wiedergegeben. Ein lauterkeitsrechtlicher Unterlassungsanspruch, wie er hier verfolgt wird, weist allerdings bereits dann hinreichende Bestimmtheit auf, wenn eine Bezugnahme auf die konkrete Verletzungshandlung antragsgegenständlich ist und der Klageantrag zumindest unter Heranziehung des Klagevortrags unzweideutig erkennen lässt, welche Umstände den Wettbewerbsverstoß und damit das Unterlassungsgebot begründen sollen (vgl. BGH, Urteile vom 5. Oktober 2017 - I ZR 172/16, NJW-RR 2018, 106 Rn. 19 und vom 22. März 2018 - I ZR 118/16, NJW-RR 2019, 159 Rn. 16 mwN). Dem wird der mit "insbesondere" eingeleitete Teil des Klageantrags gerecht, weil er eine konkrete Bezugnahme auf die Preis- und Leistungsverzeichnisse für die Tarife "S-Giro Basis" und "S-Giro Komfort" enthält und die Klagebegründung eindeutig erkennen lässt, dass die dort jeweils unter der Überschrift "Bargeld und Buchungen" aufgeführten Leistungs- und Preisbeschreibungen "Beleghafte Buchungen und Kassenposten mit Service, je Buchung 2,00 Euro" (Tarif S-Giro Basis) und "Beleghafte Buchungen und Kassenposten mit Service, je Buchung 1,00 Euro" (Tarif S-Giro Komfort) beanstandet werden sollen.b) Im Ergebnis, nicht aber in der Begründung, zutreffend ist die Annahme des Berufungsgerichts, die konkret verwendeten Klauseln seien lediglich hinsichtlich der Bepreisung von Bareinzahlungen und Barauszahlungen am Bankschalter auf ihre Wirksamkeit zu untersuchen.aa) Allerdings erfassen die angegriffenen Klauseln "Beleghafte Buchungen und Kassenposten mit Service ... Euro" nicht nur Bareinzahlungen und Barauszahlungen am Bankschalter, sondern, soweit es den Entgelttatbestand "Kassenposten mit Service" anbelangt, grundsätzlich alle Buchungsvorgänge, die auf eine persönliche Vorsprache des Kunden am Bankschalter durchgeführt werden.(1) Der Inhalt einer Allgemeinen Geschäftsbedingung ist durch Auslegung zu ermitteln, die der Senat selbst vornehmen kann (vgl. Senatsurteil vom 13. November 2012 - XI ZR 500/11, BGHZ 195, 298 Rn. 15). Diese hat sich nach dem objektiven Inhalt und typischen Sinn der in Rede stehenden Klausel einheitlich danach zu richten, wie ihr Wortlaut von verständigen und redlichen Vertragspartnern unter Abwägung der Interessen der regelmäßig beteiligten Verkehrskreise verstanden wird (Senatsurteile vom 16. Oktober 2018 - XI ZR 593/16, WM 2018, 2183 Rn. 14 und vom 19. Februar 2019 - XI ZR 562/17, WM 2019, 678 Rn. 19). Zweifel bei der Auslegung gehen nach § 305c Abs. 2 BGB zu Lasten des Verwenders. Außer Betracht zu bleiben haben Verständnismöglichkeiten, die zwar theoretisch denkbar, praktisch aber fernliegend und nicht ernstlich in Erwägung zu ziehen sind (Senatsurteile vom 13. Mai 2014 - XI ZR 405/12, BGHZ 201, 168 Rn. 25 und vom 4. Juli 2017 - XI ZR 562/15, BGHZ 215, 172 Rn. 25). Da Allgemeine Geschäftsbedingungen wie revisible Rechtsnormen zu behandeln sind, ist ihre Auslegung - nicht anders als die Überprüfung ihrer Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht - Rechtsfrage, die ohne Bindung an das Parteivorbringen zu erfolgen hat (vgl. Senatsurteil vom 20. Juni 2017 - XI ZR 72/16, WM 2017, 1599 Rn. 28 mwN).Demgegenüber hat das Berufungsgericht rechtsfehlerhaft allein auf das Verständnis der Streitparteien abgestellt und sich deren Annahme, die Klauseln erfassten allein Bareinzahlungen und Barauszahlungen am Schalter, zu eigen gemacht. Sollte das Berufungsgericht davon ausgegangen sein, ein vom objektiven Sinngehalt einer AGB-Klausel abweichendes übereinstimmendes Parteiverständnis gehe dem Wortlaut des Vertrages und jeder anderweitigen Deutung vor (vgl. dazu BGH, Urteil vom 19. April 2018 - III ZR 255/17, VersR 2018, 1451 Rn. 19), hätte es verkannt, dass das Verständnis des klagenden Wettbewerbsverbandes schon deswegen nicht maßgeblich sein kann, weil dieser zwar Partei des Rechtsstreits, insoweit aber nicht Vertragspartner der Beklagten ist.(2) Nach diesen Maßgaben sind entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts vom Wortlaut und objektiven Sinngehalt der Klauseln nicht nur Bareinzahlungen und Barauszahlungen am Schalter, sondern auch weitere vom Kunden am Bankschalter veranlasste Buchungen erfasst, wie etwa Korrekturbuchungen.Die Klauseln bepreisen "Beleghafte Buchungen und Kassenposten mit Service". "Beleghafte Buchungen" sind nach allgemeinem Sprachverständnis Buchungen, die von der Bank auf Grundlage eines (papiernen) Belegs, insbesondere eines Überweisungsträgers, ausgeführt werden. Da das Preis- und Leistungsverzeichnis der Beklagten einen eigenständigen Entgelttatbestand "Vom Kunden erstellte beleghafte Buchung" vorsieht, folgt aus dem Regelungszusammenhang, dass von dem angegriffenen Entgelttatbestand "Beleghafte Buchungen und Kassenposten mit Service" nur solche Buchungen erfasst sein sollen, deren zugrundeliegender Beleg nicht allein vom Kunden, sondern unter Mitwirkung eines Mitarbeiters der Beklagten erstellt wurde. Hieraus ergibt sich zugleich, dass sich das angehängte Attribut "mit Service" auf beide Varianten, also sowohl auf die "beleghaften Buchungen" als auch auf die "Kassenposten" bezieht. Unter der somit hier allein interessierenden Leistungsbeschreibung "Kassenposten mit Service" sind das Girokonto betreffende Buchungsvorgänge zu verstehen, die vom Kunden durch Vorsprache am Bankschalter ("Kasse") unter Einschaltung eines Mitarbeiters der Beklagten ("mit Service") veranlasst werden. Von diesem Entgelttatbestand sind damit zwar insbesondere auch die hier durch den abstrakten Antragsteil herausgegriffenen Bareinzahlungen und Barauszahlungen am Bankschalter erfasst. Hierauf beschränkt sich der Regelungsinhalt der angegriffenen Klauseln, die unterschiedslos sämtliche "Kassenposten mit Service" bepreisen, aber nicht. Vielmehr erfassen sie auch andere Buchungsvorgänge, wie z.B. Berichtigungsbuchungen.Dies ergibt sich im Umkehrschluss auch aus den die Preis- und Leistungsverzeichnisse jeweils abschließenden Zusätzen, nach denen für "Buchungen, die nicht im Interesse des Kunden vorgenommen werden (z.B. Fehlbuchungen oder Belastungsbuchungen im Interesse der Sparkasse)", kein Entgelt berechnet wird, womit die Beklagte im Übrigen nur den Vorgaben in § 675u Satz 2, § 675y Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 2, Abs. 4 BGB Folge leistet (vgl. dazu Senatsurteile vom 27. Januar 2015 - XI ZR 174/13, WM 2015, 519 Rn. 14 und vom 28. Juli 2015 - XI ZR 434/14, BGHZ 206, 305 Rn. 35). Dieser Zusätze würde es nicht bedürfen, wenn solche Buchungsvorgänge von vornherein nicht den Entgeltklauseln unterfallen würden.bb) Obwohl die angegriffenen Klauseln nicht nur Bareinzahlungen auf oder Barabhebungen von Girokonten am Bankschalter bepreisen, ist dem Senat vorliegend eine über diese Regelungsbereiche hinausgehende Prüfung verschlossen. Andernfalls würden die - auch für den Hilfsantrag zu beachtenden - Grenzen des Verbotsbegehrens des Klägers, das allein das Ein- und Auszahlungsgeschäft der Beklagten zum Gegenstand hat, überschritten (§ 308 Abs. 1 ZPO).Eine Überschreitung des begehrten abstrakten Verbots durch die Beschreibung der konkreten Verletzungsform ist zwar dann unbedenklich, wenn letztere mit dem Vergleichspartikel "wie" oder dem Konditionalsatz "wenn dies geschieht wie" eingeleitet wird. Denn Gegenstand eines solchen Antrags ist in der Regel allein die konkrete Verletzungsform, die neben dem abstrakt umschriebenen Merkmal noch eine Reihe weiterer Eigenschaften aufweisen kann (vgl. BGH, Urteil vom 7. April 2011 - I ZR 34/09, NJW 2011, 2787 Rn. 17). Vorliegend hat der Kläger aber den auf die konkrete Verletzungshandlung bezogenen Antragsteil mit dem Wort "insbesondere" eingeleitet, der gerade keinen eigenen Streitgegenstand enthält (vgl. BGH, Urteil vom 5. November 2015 - I ZR 50/14, GRUR 2016, 705 Rn. 13).Indem der Kläger ein auf Bareinzahlungen und Barauszahlungen am Bankschalter begrenztes abstraktes Verbot zum Ausgangspunkt seiner Antragsfassung gemacht und auch in der Klagebegründung allein diesen Gesichtspunkt erörtert hat, hat er sein Rechtsschutzbegehren in Ausübung der im Zivilprozess geltenden Dispositionsmaxime dahingehend gefasst, dass aus einem bei natürlicher Betrachtungsweise einheitlichen Lebenssachverhalt - hier:Verwendung der Entgeltklauseln "Beleghafte Buchungen und Kassenposten mit Service ... Euro" - nur ein bestimmter Teil - hier: die Bepreisung von Bareinzahlungen und Barauszahlungen am Bankschalter - der gerichtlichen Beurteilung unterliegen soll (vgl. BGH, Urteile vom 9. Juli 2009 - I ZR 64/07, NJW 2010, 616 Rn. 22 und vom 11. Oktober 2017 - I ZR 78/16, GRUR 2018, 431 Rn. 16).Eine solche Beschränkung des Prüfungsumfangs ist - was der Senat bereits entschieden hat - im Rahmen der lauterkeitsrechtlichen Klauselkontrolle beachtlich (vgl. Senatsurteil vom 23. Februar 2016 - XI ZR 101/15, BGHZ 209, 86 Rn. 21). Aufgrund dieser wirksamen Beschränkung des klägerischen Rechtsschutzbegehrens lässt sich der mit "insbesondere" eingeleitete Antragsteil auch - wie für einen unechten Hilfsantrag erforderlich (vgl. dazu BGH, Urteil vom 10. Dezember 1998 - I ZR 141/96, NJW 1999, 1332, 1334) - als Minus vom abstrakten Teil des Unterlassungsantrags abspalten.c) Unter Berücksichtigung dieser Beschränkung sind - wie oben bereits ausgeführt - die konkret beanstandeten Entgeltklauseln "Beleghafte Buchungen und Kassenposten mit Service ... Euro" einer Inhaltskontrolle allerdings insoweit entzogen, als sie für das Ein- und Auszahlungsgeschäft dem Grunde nach ein Entgelt vorsehen.d) Entgegen der Auffassung der Revision sind die angegriffenen Klauseln auch nicht unabhängig von der Eröffnung einer Inhaltskontrolle wegen eines Verstoßes gegen das Transparenzgebot unwirksam (§ 307 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 2 BGB und Art. 248 § 2, § 4 Abs. 1 Nr. 3 EGBGB). Aus der maßgeblichen Kundensicht ist - wie dargestellt - hinreichend deutlich erkennbar, welche konkreten Leistungen bepreist werden und welche wirtschaftlichen Nachteile und Belastungen mit den Klauseln verbunden sind (vgl. Senatsurteile vom 28. Januar 2003 - XI ZR 156/02, BGHZ 153, 344, 352, vom 7. Dezember 2010 - XI ZR 3/10, BGHZ 187, 360 Rn. 20 und vom 14. Januar 2014 - XI ZR 355/12, BGHZ 199, 355 Rn. 23).e) Das Berufungsgericht hat allerdings verkannt, dass der Kläger auch die konkrete Entgelthöhe von 1 € bzw. 2 € zur Überprüfung gestellt hat und im Rechtsverkehr mit Verbrauchern insoweit eine Entgeltkontrolle stattfindet.aa) Wird durch eine Klausel - wie hier - unmittelbar der Preis einer vertraglichen Hauptleistung festgelegt, ist diese dann kontrollfähig, wenn sie von einer gesetzlichen Preisregelung abweicht (vgl. nur Senatsurteil vom 5. Juni 2018 - XI ZR 790/16, BGHZ 219, 35 Rn. 36 mwN). Eine die Entgeltkontrolle eröffnende gesetzliche Preisregelung liegt auch dann vor, wenn in den preisrechtlichen Bestimmungen keine starren Regelungen getroffen, sondern Gestaltungsmöglichkeiten geboten werden und für die Höhe des Entgelts ein Spielraum gewährt wird. In diesen Fällen hat der Gesetzgeber Vorgaben für die Preisgestaltung aufgestellt. Soll der vom Gesetzgeber mit dem Erlass der Preisvorschriften verfolgte Zweck nicht verfehlt werden, können und müssen Entgeltklauseln in Allgemeinen Geschäftsbedingungen darauf überprüft werden, ob sie mit den Preisvorschriften übereinstimmen (Senatsurteil vom 17. Dezember 2013 - XI ZR 66/13, BGHZ 199, 281 Rn. 12 mwN). Liegt ein Verstoß gegen (halb-)zwingendes Preisrecht vor, hält eine Entgeltklausel der Inhaltskontrolle nicht stand, ohne dass es auf eine weitere Interessenabwägung ankäme (vgl. Senatsurteil vom 12. September 2017 - XI ZR 590/15, BGHZ 215, 359 Rn. 62). Darüber hinaus ist die Klausel auch bereits wegen Verstoßes gegen das (halb-)zwingende Recht nach § 134 BGB nichtig (vgl. Senatsurteil vom 28. Juli 2015 - XI ZR 434/14, BGHZ 206, 305 Rn. 26).bb) Eine solche zu Gunsten des Verbrauchers (halb-)zwingende gesetzliche Preisregelung stellt § 312a Abs. 4 Nr. 2 BGB dar (§ 312k Abs. 1 Satz 1 BGB). Die hier in Streit stehenden Entgeltklauseln fallen in den Anwendungsbereich des § 312a Abs. 4 Nr. 2 BGB, soweit sie am Bankschalter vorgenommene Bareinzahlungen eines Verbrauchers auf ein aufgrund (geduldeter) Überziehung debitorisches Girokonto betreffen (siehe hierzu nachfolgend unter (1)). Der Anwendbarkeit des § 312a Abs. 4 Nr. 2 BGB steht auch nicht entgegen, dass sich die vom Unternehmer bepreiste Zahlungsmittelnutzung zugleich als ein von diesem selbst erbrachter Zahlungsdienst darstellt. Die Vorschrift steht neben § 675f Abs. 5 Satz 1 BGB und wird von dieser Norm nicht verdrängt (siehe hierzu nachfolgend unter (2)).(1) Gemäß § 312a Abs. 4 Nr. 2 BGB ist eine Vereinbarung, durch die ein Verbraucher verpflichtet wird, ein Entgelt dafür zu zahlen, dass er für die Erfüllung seiner vertraglichen Pflichten ein bestimmtes Zahlungsmittel nutzt, dann unwirksam, wenn das vereinbarte Entgelt über die Kosten hinausgeht, die dem Unternehmer durch die Nutzung des Zahlungsmittels entstehen. Die Vorschrift kommt nur zum Tragen, wenn - wie hier - die Erfüllung dem Grunde nach zulässig bepreisbar ist. Die dem Unternehmer durch die Nutzung des Zahlungsmittels entstehenden Kosten stellen dann im Sinne einer Preisrahmenregelung die Obergrenze des vereinbarungsfähigen Entgelts dar.(a) § 312a Abs. 4 Nr. 2 BGB findet gemäß § 312 Abs. 1 BGB bei Verbraucherverträgen im Sinne des § 310 Abs. 3 BGB Anwendung, die eine entgeltliche Leistung des Unternehmers zum Gegenstand haben. Hierunter fallen auch Verträge über Finanzdienstleistungen, und zwar nicht nur bei deren erstmaliger Vereinbarung, sondern auch bei jedem Folgevorgang (§ 312 Abs. 5 Satz 1 und 2 BGB). Finanzdienstleistungen in diesem Sinne sind auch Verbraucherdarlehensverträge (BT-Drucks. 15/2946 S. 19; Palandt/Grüneberg, BGB, 78. Aufl., § 312 Rn. 26). Im Verbraucherverkehr bringt die im Rahmen eines Girovertrages eingeräumte Überziehungsmöglichkeit (§ 504 BGB) oder geduldete Überziehung (§ 505 BGB) einen Verbraucherdarlehensvertrag hervor, und zwar im erstgenannten Fall bei Vereinbarung der Überziehungsmöglichkeit (Palandt/Weidenkaff, BGB, 78. Aufl., § 504 Rn. 2) und im zweitgenannten Fall durch Duldung der Überziehung (vgl. Senatsurteil vom 25. Oktober 2016 - XI ZR 9/15, BGHZ 212, 329 Rn. 26).Der Einbeziehung von Finanzdienstleistungen steht europäisches Richtlinienrecht nicht entgegen. Zwar findet die Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2011 über die Rechte der Verbraucher, zur Abänderung der Richtlinie 93/13/EWG des Rates und der Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 85/577/EWG des Rates und der Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. EU Nr. L 304 S. 64; nachfolgend: Verbraucherrechterichtlinie), deren Art. 19 mit § 312a Abs. 4 Nr. 2 BGB umgesetzt worden ist, auf Finanzdienstleistungen keine Anwendung (Art. 3 Abs. 3 Buchst. d) Verbraucherrechterichtlinie). Nach Erwägungsgrund 13 der Verbraucherrechterichtlinie sind die Mitgliedstaaten aber befugt, die Richtlinie auf nicht in ihren Anwendungsbereich fallende Verträge anzuwenden. Von dieser Befugnis hat der deutsche Gesetzgeber in § 312 Abs. 5 BGB, der die Anwendbarkeit des § 312a Abs. 4 BGB auf Verträge über Finanzdienstleistungen ausdrücklich anordnet, Gebrauch gemacht.(b) Die beanstandeten Preisklauseln begründen ferner eine Vereinbarung, durch die ein Verbraucher verpflichtet wird, ein Entgelt - vorliegend je nach Vertragsmodell 1 € oder 2 € - dafür zu zahlen, dass er für die Erfüllung seiner vertraglichen Verpflichtung ein bestimmtes Zahlungsmittel - hier: die Barzahlung - nutzt. Maßgebliche "vertragliche Verpflichtung" ist im vorliegenden Zusammenhang jene aus § 488 Abs. 1 Satz 2 BGB zur Zahlung des geschuldeten (Überziehungs-)Zinses und zur Zurückzahlung der auf Grundlage der (geduldeten) Überziehung gewährten Darlehensvaluta (ebenso OLG Karlsruhe, WM 2018, 1690 Rn. 26, 31).(c) Barzahlungen sind auch Zahlungsmittel im Sinne des § 312a Abs. 4 Nr. 2 BGB. Der Begriff des Zahlungsmittels ist weder gesetzlich noch in der Verbraucherrechterichtlinie definiert. Er erfasst nach der Gesetzesbegründung über den in Art. 52 Abs. 3 Satz 1 ZDRL 2007 (nunmehr Art. 62 Abs. 3 Satz 1 ZDRL 2015) verwendeten Begriff des Zahlungsinstruments hinausgehend jede Art der Zahlung, die der Schuldner mit dem Gläubiger für die Erfüllung einer Geldschuld vereinbaren kann (vgl. BT-Drucks. 17/12637 S. 52), also auch Barzahlungen (Palandt/Grüneberg, BGB, 78. Aufl., § 312a Rn. 5 mit § 362 Rn. 8; BeckOK BGB/Martens, 50. Edition, Stand: 1. Mai 2019, § 312a Rn. 29; Münch-KommBGB/Wendehorst, 8. Aufl., § 312a Rn. 77).(2) Die Vorschrift des § 312a Abs. 4 Nr. 2 BGB wird nicht durch das Zahlungsdiensterecht verdrängt, wenn sich - wie hier - die vom Unternehmer bepreiste Zahlungsmittelnutzung zugleich als ein von diesem selbst erbrachter Zahlungsdienst darstellt.(a) Der Wortlaut des § 312a Abs. 4 Nr. 2 BGB sieht insoweit keine Einschränkung seines Anwendungsbereichs vor. Der Schutzzweck der Norm, die Förderung des Wettbewerbs und die Nutzung effizienter Zahlungsmittel (vgl. BT-Drucks. 17/12637 S. 52; Erwägungsgrund 54 Verbraucherrechterichtlinie), wird auch dann berührt, wenn der Unternehmer zugleich als Zahlungsdienstleister in eigener Sache auftritt.Dem steht in systematischer Hinsicht auch § 675f Abs. 5 Satz 1 BGB nicht entgegen. Die Norm trifft zur zulässigen Entgelthöhe keine Aussage und lässt auch nicht im Sinne eines "beredten Schweigens" den Schluss zu, der nationale Gesetzgeber habe die Höhe des Entgelts für die Erbringung von Zahlungsdiensten bis zur Grenze des § 138 BGB kontrollfrei stellen wollen (Omlor, EWiR 2018, 611, 612; aA Erman/Graf von Westphalen, BGB, 15. Aufl., § 675f Rn. 44; Rodi, WuB 2018, 624, 627; Müller, Der Einfluss des Unionsrechts auf die AGB-Kontrolle von Bankentgelten im Zahlungsverkehr, S. 227 ff., allerdings unter Verwischung des Unterschieds zwischen einer Entgeltkontrolle dem Grunde und der Höhe nach). § 675f Abs. 5 Satz 1 BGB, der eine Bepreisung (nur) dem Grunde nach gestattet, lässt sich kein zahlungsdiensterechtliches Verbot einer Kontrolle der Entgelthöhe entnehmen. Vielmehr bleiben insoweit die allgemeinen Regeln, zu denen § 312a Abs. 4 Nr. 2 BGB gehört, anwendbar (Omlor aaO; vgl. auch Senatsurteil vom 12. September 2017 - XI ZR 590/15, BGHZ 215, 359 Rn. 45). Auch § 675f Abs. 5 Satz 2 BGB, der eine zahlungsdiensterechtliche Kontrolle der Entgelthöhe nur hinsichtlich der Bepreisung von Nebenpflichten vorsieht, lässt einen solchen Rückschluss nicht zu. Denn über § 312a Abs. 4 Nr. 2 BGB wird nicht generell eine nicht vorgesehene Kontrolle der Entgelthöhe für Hauptleistungspflichten eingeführt, sondern nur unter den dort genannten engen Voraussetzungen.Schließlich spricht für eine Anwendbarkeit des § 312a Abs. 4 Nr. 2 BGB neben § 675f Abs. 5 Satz 1 BGB vor allem auch die in § 312 Abs. 5 Satz 1 und 2 BGB ausdrücklich angeordnete Geltung des § 312a Abs. 4 BGB nicht nur für die erstmalige Vereinbarung einer Finanzdienstleistung, sondern auch - was gerade für Giroverträge typisch ist - für daran anschließende aufeinanderfolgende Vorgänge.(b) Die Durchführung einer Preiskontrolle nach § 312a Abs. 4 Nr. 2 BGB bei Entgelten, die zugleich für die Erbringung eines Zahlungsdienstes im Sinne der ZDRL 2015 erhoben werden, ist richtlinienkonform.(aa) Entgegen einer in der Literatur vertretenen Auffassung (Fornasier, EWiR 2013, 641, 642; ders., WM 2013, 205, 207 f.; Rodi, WuB 2018, 624, 627) steht das mit Art. 107 ZDRL 2015 (ehemals Art. 86 ZDRL 2007) verfolgte Ziel der Vollharmonisierung einer über § 312a Abs. 4 Nr. 2 BGB durchgeführten Kontrolle der Entgelthöhe nicht entgegen (ebenso Fervers, BKR 2019, 165, 170 ff.; Omlor, EWiR 2018, 611, 612).Der Grundsatz der Vollharmonisierung reicht nur so weit, wie die vollharmonisierende Richtlinie Regelungen trifft (vgl. Senatsurteile vom 22. Mai 2012 - XI ZR 290/11, BGHZ 193, 238 Rn. 24 und vom 12. September 2017 - XI ZR 590/15, BGHZ 215, 359 Rn. 45). Die ZDRL 2007 sah für das Valutaverhältnis zwischen Zahler und Zahlungsempfänger, für das § 312a Abs. 4 BGB Regelungen trifft, bereits keine unmittelbaren Vorgaben für die Frage vor, in welcher Höhe Entgelte für die Nutzung von Zahlungsmitteln oder Zahlungsdiensten auf den Zahler umgelegt werden dürfen (vgl. Omlor, NJW 2014, 1703, 1704). Art. 52 Abs. 3 ZDRL 2007 enthielt nur insoweit das Valutaverhältnis mittelbar berührende Regelungen, als es zum einen der Zahlungsdienstleister dem Zahlungsempfänger nicht verwehren durfte, vom Zahler für die Nutzung eines bestimmten Zahlungsinstruments ein Entgelt zu verlangen oder ihm eine Ermäßigung anzubieten (Art. 52 Abs. 3 Satz 1 ZDRL 2007); zum anderen konnten die Mitgliedstaaten dieses Recht auf die Erhebung von Entgelten untersagen oder begrenzen, um der Notwendigkeit Rechnung zu tragen, den Wettbewerb und die Nutzung effizienter Zahlungsinstrumente zu fördern (Art. 52 Abs. 3 Satz 2 ZDRL 2007).Hierzu stand Art. 19 Verbraucherrechterichtlinie, der durch § 312a Abs. 4 Nr. 2 BGB in nationales Recht umgesetzt wurde, nicht in Widerspruch. Vielmehr war das in Art. 19 Verbraucherrechterichtlinie geregelte Verbot, wie sich aus Erwägungsgrund 54 der Richtlinie ergibt, Teil eines richtlinienübergreifenden Regulierungskonzepts zum Zwecke der Förderung des Wettbewerbs und der Nutzung effizienter Zahlungsmittel. Auch für den Fall, dass - so Erwägungsgrund 54 der Verbraucherrechterichtlinie - die Mitgliedstaaten von der ihnen in Art. 52 Abs. 3 Satz 2 ZDRL 2007 eingeräumten Befugnis, dem Unternehmer die Umlage der Entgelte auf den Verbraucher zu untersagen oder diese Möglichkeit zu begrenzen, keinen Gebrauch machten, sollte es Unternehmern "in jedem Falle" untersagt werden, von Verbrauchern Entgelte zu verlangen, die über die dem Unternehmer für die Nutzung eines bestimmten Zahlungsmittels entstehenden Kosten hinausgingen. Damit hat der Richtliniengeber Art. 19 Verbraucherrechterichtlinie als zusätzliche Gewährleistung zur Erreichung des mit der ZDRL 2007 verfolgten Ziels angesehen, den Wettbewerb zwischen Zahlungsdienstleistern und effizienten Zahlungsmitteln zu fördern (vgl. auch BT-Drucks. 17/12637 S. 52).Hieran hat sich durch die Ersetzung der ZDRL 2007 durch die ZDRL 2015 nichts geändert. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 und 2 ZDRL 2007 sind in Art. 62 Abs. 3 Satz 1, Abs. 5 ZDRL 2015 inhaltsgleich erhalten geblieben. Der Umstand, dass nunmehr Art. 62 Abs. 4 ZDRL 2015, der durch § 270a BGB in nationales Recht umgesetzt wurde, für die Nutzung bargeldloser Zahlungsmittel im Valutaverhältnis ein Entgeltverbot vorsieht, hindert die Anwendung des auf Art. 19 Verbraucherrechterichtlinie beruhenden § 312a Abs. 4 Nr. 2 BGB in seinem verbleibenden Anwendungsbereich nicht. Gegenteiliges ist dem einschlägigen Erwägungsgrund 66 der ZDRL 2015 nicht zu entnehmen. Entsprechend ist auf nationaler Ebene § 312a Abs. 4 Nr. 2 BGB als speziell für Verbraucher geltende Entgeltkontrolle neben § 270a BGB weiter anwendbar (BT-Drucks. 18/11495 S. 146; Palandt/Grüneberg, BGB, 78. Aufl., § 270a Rn. 1; Münch-KommBGB/Krüger, 8. Aufl., § 270a Rn. 1; MünchKommBGB/Wendehorst, 8. Aufl., § 312a Rn. 76; Omlor, ZIP 2016, 558, 561).(bb) Anderes folgt auch nicht daraus, dass nach Art. 18 Abs. 1 i.V.m. Art. 17 Abs. 1 Buchst. b) der Richtlinie 2014/92/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Juli 2014 über die Vergleichbarkeit von Zahlungskontoentgelten, den Wechsel von Zahlungskonten und den Zugang zu Zahlungskonten mit grundlegenden Funktionen (ABl. EU 2014 Nr. L 257 S. 214, im Folgenden: Zahlungskontorichtlinie), die mit § 41 Abs. 2 i.V.m. § 38 Abs. 2 Nr. 1 ZKG in nationales Recht umgesetzt wurden, Dienste, die die Einzahlung eines Geldbetrages auf ein Zahlungskonto mit grundlegenden Funktionen ("Basiskonto", § 30 Abs. 2 ZKG) ermöglichen, mit einem "angemessenen" Entgelt belegt werden dürfen, wobei sich die Angemessenheit nicht nach dem dem Zahlungsdienstleister entstehenden (Kosten-)Aufwand, sondern am nationalen Einkommensniveau und den durchschnittlichen Entgelten orientieren soll (Art. 18 Abs. 3 Zahlungskontorichtlinie).Dies rechtfertigt zwar den Erst-Recht-Schluss, dass das Einzahlungsgeschäft durch Banken auch außerhalb des Anwendungsbereichs der Zahlungskontorichtlinie unionsrechtlich unbedenklich mit einem (angemessenen) Entgelt bepreist werden darf (Linardatos, WM 2015, 755, 761; Müller, Der Einfluss des Unionsrechts auf die AGB-Kontrolle von Bankentgelten im Zahlungsverkehr, S. 204 ff.). Hierdurch sollen aber die Vorgaben aus Art. 19 Verbraucherrechterichtlinie und aus § 312a Abs. 4 Nr. 2 BGB in deren Anwendungsbereich nicht verdrängt werden. Dies wird durch Erwägungsgrund 11 der Zahlungskontorichtlinie bestätigt, nach dem strengere verbraucherschützende Vorschriften zulässig bleiben.(cc) Einer Vorlage an den Europäischen Gerichtshof nach Art. 267 Abs. 3 AEUV bedarf es nicht. Die richtige Auslegung und die Reichweite des Unionsrechts sind angesichts des Wortlauts, der Regelungssystematik und des Regelungszwecks der Richtlinien derart offenkundig, dass für einen vernünftigen Zweifel kein Raum bleibt (vgl. Senatsurteil vom 12. September 2017 - XI ZR 590/15, BGHZ 215, 359 Rn. 36 mwN).cc) Nach dem damit einschlägigen § 312a Abs. 4 Nr. 2 BGB wären auf Grundlage der angegriffenen Klauseln getroffene Entgeltvereinbarungen im Verkehr mit Verbrauchern unwirksam, wenn das vereinbarte Entgelt von 1 € bzw. 2 € über die Kosten hinausginge, "die dem Unternehmer durch die Nutzung des Zahlungsmittels entstehen". Dafür, dass sich die von ihm erhobenen Kosten im Rahmen der ihm entstehenden Kosten bewegen, ist der Unternehmer darlegungs- und beweisbelastet (Palandt/Grüneberg, BGB, 78. Aufl., § 312a Rn. 5; Schulze in Schulte-Nölke, BGB, 10. Aufl., § 312a Rn. 8; Jauernig/ Stadler, BGB, 17. Aufl., § 312a Rn. 17). Dazu hat das Berufungsgericht - von seinem rechtlichen Standpunkt aus folgerichtig - keine Feststellungen getroffen.Da § 312a Abs. 4 Nr. 2 BGB nur auf Verbraucherverträge Anwendung findet, hat das Berufungsgericht einen Unterlassungsanspruch des Klägers zu Recht verneint, soweit die beanstandete Klausel auch im Verkehr mit Unternehmern Verwendung findet. Aufgrund dessen wäre im Falle eines Verstoßes gegen diese Vorschrift eine auf den Hilfsantrag gestützte Verurteilung auf den Verkehr mit Verbrauchern zu beschränken. Darin liegt keine - unzulässige - geltungserhaltende Reduktion, weil die Wirksamkeit von Klauseln, die gegenüber verschiedenen Verkehrskreisen verwendet werden, von vornherein nur innerhalb der jeweiligen Fallgruppe geprüft wird (vgl. BGH, Urteil vom 9. Februar 1990 - V ZR 200/88, BGHZ 110, 241, 244; Beschluss vom 31. August 2010 - VIII ZR 28/10, NZM 2011, 31 Rn. 4).4. Ohne Erfolg bleibt die Revision, soweit das Berufungsgericht einen Anspruch des Klägers auf Erstattung der geltend gemachten Abmahnkosten gemäß § 12 Abs. 1 Satz 2 UWG verneint hat. Dies ist unabhängig davon, ob die durch die beanstandete Klausel vorgenommene Bepreisung von Bareinzahlungen und Barauszahlungen am Schalter im Verkehr mit Verbrauchern der Höhe nach zu beanstanden wäre. Denn die Abmahnung war allein darauf gestützt, dass die Bepreisung von Barabhebungen - was unzutreffend ist - bereits dem Grunde nach unzulässig sei. Sie konnte deshalb nicht die ihr zukommende Funktion erfüllen, die Beklagte in die Lage zu versetzen, die ihr vorgeworfene konkrete Verletzungshandlung unter dem maßgeblichen Gesichtspunkt eines Verstoßes gegen § 312a Abs. 4 Nr. 2 BGB zu beurteilen, um ihr die Möglichkeit zu geben, insoweit die gerichtliche Auseinandersetzung auf kostengünstige Weise durch Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung abzuwenden (vgl. BGH, Urteile vom 12. Februar 2015 - I ZR 36/11, NJW 2015, 1453 Rn. 44 und vom 11. Oktober 2017 - I ZR 78/16, GRUR 2018, 431 Rn. 37 mwN).III.Das angefochtene Urteil ist daher im erkannten Umfang aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Da die Sache insoweit mangels Feststellungen zu der Frage, ob sich die Entgelte von 1 € bzw. 2 € im Rahmen des nach § 312a Abs. 4 Nr. 2 BGB Zulässigen halten, nicht zur Endentscheidung reif ist, ist sie zur weiteren Sachaufklärung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Im Übrigen war die Revision zurückzuweisen (§ 561 ZPO).Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass die Kosten nach § 312a Abs. 4 Nr. 2 BGB nach folgenden Maßgaben zu ermitteln sein werden:1. Schaltet der Unternehmer einen Zahlungsdienstleister ein, so gehören zu den dem Unternehmer durch die Nutzung des Zahlungsmittels entstehenden Kosten im Grundsatz jedenfalls die Entgelte, welche der Unternehmer aufgrund eines Zahlungsdienstevertrags an den Zahlungsdienstleister für die Erbringung eines mit der Annahme des Zahlungsmittels in Zusammenhang stehenden Zahlungsdienstes zu entrichten hat (sog. Transaktionskosten, vgl. Palandt/ Grüneberg, BGB, 78. Aufl., § 312a Rn. 5; Schirmbacher in Spindler/Schuster, Recht der elektronischen Medien, 3. Aufl., § 312a Rn. 46; Schulze in Schulte-Nölke, BGB, 10. Aufl., § 312a Rn. 8; MünchKommBGB/Wendehorst, 8. Aufl., § 312a Rn. 84).2. Daneben oder stattdessen können nach § 312a Abs. 4 Nr. 2 BGB auch andere transaktionsbezogene Kosten umlagefähig sein. Denn diese Vorschrift knüpft wie auch der ihr zu Grunde liegende Art. 19 Verbraucherrechterichtlinie nicht an die Nutzung eines Zahlungsdienstes, sondern an die Nutzung eines Zahlungsmittels an. § 312a Abs. 4 Nr. 2 BGB ist deswegen auch dann anwendbar, wenn die Nutzung des Zahlungsmittels - wie dies gerade im Zusammenhang mit Finanzdienstleistungen der Fall sein kann - mit einem vom Unternehmer selbst erbrachten Zahlungsdienst verbunden ist (Omlor, EWiR 2018, 611, 612) oder dem Unternehmer sonstige, nicht auf einen Zahlungsdienst bezogene Kosten entstehen (ebenso Jauernig/Stadler, BGB, 17. Aufl., § 312a Rn. 17; Schirmbacher in Spindler/Schuster, Recht der elektronischen Medien, 3. Aufl., § 312a Rn. 46).Umlagefähig sind solche Kosten allerdings nur dann, wenn und soweit sich deren Anfall und Höhe noch unmittelbar auf einen auf das in Rede stehende Zahlungsmittel bezogenen konkreten Nutzungsakt zurückführen lässt, es sich also um transaktionsbezogene Kosten handelt (BeckOK BGB/Martens, 50. Edition Stand: 1. Mai 2019, § 312a Rn. 33; Schirmbacher in Spindler/ Schuster, Recht der elektronischen Medien, 3. Aufl., § 312a Rn. 46 ff.; Omlor, NJW 2014, 1703, 1705; ders., ZIP 2017, 1836, 1840; Wendehorst, NJW 2014, 577, 579; vgl. auch Nobbe, WuB 2018, 162, 163), wobei gewisse unvermeidbare Unschärfen bei der Ermittlung und Berechnung solcher Kosten hinzunehmen sind (vgl. OLG Karlsruhe, WM 2018, 1690 Rn. 41; BeckOK BGB/Martens, aaO; so auch Senatsurteil vom 17. Dezember 2013 - XI ZR 66/13, BGHZ 199, 281 Rn. 21 zu § 675d Abs. 4 Satz 2 BGB). Auch ein dem Unternehmer durch die Nutzung des konkreten Zahlungsmittels entstehender konkreter Personalmehraufwand kann transaktionsbezogene Kosten auslösen, wobei insoweit an die Darlegung und den Nachweis des konkreten Nutzungsbezugs strenge Anforderungen zu stellen sind.3. Dagegen nicht umlagefähig sind Gemeinkosten, deren Anfall und Höhe von dem konkreten Nutzungsakt losgelöst sind ("nicht transaktionsbezogene Kosten"). Neben allgemeinen Personalkosten fallen hierunter auch solche (Vorhalte-)Kosten, deren Anfall lediglich durch die unternehmerische Entscheidung, die Nutzung eines bestimmten Zahlungsmittels zu ermöglichen, ausgelöst wird, deren Anfall und Höhe aber nicht durch die Vornahme konkreter Nutzungsakte bestimmt wird, wie z.B. Schulungskosten oder Kosten für Geräte und Software (vgl. BeckOK BGB/Martens, 50. Edition Stand: 1. Mai 2019, § 312a Rn. 33; MünchKommBGB/Wendehorst, 8. Aufl., § 312a Rn. 83; Omlor, NJW 2014, 1703, 1705; aA Busch in BeckOGK BGB, Stand: 15. April 2019, § 312a Rn. 32 f.).Dies folgt bereits aus dem Wortlaut des § 312a Abs. 4 Nr. 2 BGB, der - insoweit wortgleich mit Art. 19 Verbraucherrechterichtlinie - auf die Kosten der Nutzung des Zahlungsmittels durch den Verbraucher abstellt und nicht auf Kosten, die mit dem nutzungsunabhängigen Vorhalten von Personal oder Einrichtungen des Unternehmers zum Zwecke der Annahme des Zahlungsmittels in Zusammenhang stehen.Die Gesetzesmaterialien und die Erwägungen des Richtliniengebers stützen dieses Auslegungsergebnis. § 312a Abs. 4 Nr. 2 BGB dient - wie bereits ausgeführt - dem Zweck, den Wettbewerb und die Nutzung effektiver Zahlungsmittel zu fördern. Dies setzt voraus, dass der Verbraucher, auf den die insoweit anfallenden Kosten abgewälzt werden sollen, zwischen unterschiedlichen Zahlungsmitteln eine informierte Wahl treffen kann. Nach Erwägungsgrund 45 der von Erwägungsgrund 54 der Verbraucherrechterichtlinie ausdrücklich in Bezug genommenen ZDRL 2007 ist es hierfür erforderlich, dass der Zahlungsdienstenutzer die tatsächlichen Kosten und Entgeltforderungen der Zahlungsdienste kennt. Eine intransparente Preisgestaltung ist hiernach zu untersagen, weil es diese den Nutzern anerkanntermaßen extrem erschwere, den tatsächlichen Preis eines Zahlungsdienstes zu ermitteln. Durch die Einbeziehung nicht transaktionsbezogener, nur mittelbarer Gemeinkosten würden nicht die "tatsächlichen Kosten" des Zahlungsmittels ausgewiesen und die Preisgestaltung intransparent. Insoweit gilt nichts anderes als hinsichtlich der Bepreisung von Nebenpflichten im Zahlungsdiensterecht. Für § 675f Abs. 5 Satz 2 BGB hat der Senat bereits entschieden, dass bei der Entgeltkalkulation nur Kosten für die Erfüllung der konkreten Nebenpflicht berücksichtigt werden dürfen, nicht aber Gemeinkosten wie allgemeine Personalkosten, die nicht mit der Erfüllung der Nebenpflicht in ursächlichem Zusammenhang stehen (Senatsurteil vom 12. September 2017 - XI ZR 590/15, BGHZ 215, 359 Rn. 31 ff.).4. Schließlich wird das Berufungsgericht auch zu berücksichtigen haben, dass sich die von der Beklagten für "Beleghafte Buchungen und Kassenposten mit Service" erhobenen Entgelte je nach Vertragsmodell unterscheiden und sie - wie dargestellt - neben Bareinzahlungen auch für weitere Leistungen erhoben werden, was dafür sprechen könnte, dass die Entgelte zumindest kalkulatorisch nicht streng an den der Beklagten für die Vornahme für Bareinzahlungen entstehenden Kosten ausgerichtet sein dürften.Ellenberger Grüneberg Maihold Menges Derstadt Vorinstanzen:LG Memmingen, Entscheidung vom 16.11.2016 - 1 HKO 893/16 -OLG München, Entscheidung vom 12.10.2017 - 29 U 4903/16 -
bundesgerichtshof
bgh_124-2023
25.07.2023
Bundesgerichtshof hebt Verurteilung wegen Betruges bei der Abrechnung von Corona-Schnelltests auf Ausgabejahr 2023 Erscheinungsdatum 25.07.2023 Nr. 124/2023 Beschluss vom 24. Mai 2023 - 4 StR 493/22 Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die Revision des Angeklagten das Urteil des Landgerichts aufgehoben, mit dem es ihn wegen Betruges in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt hat. Nach den Urteilsfeststellungen rechnete der Angeklagte im Namen einer von ihm beherrschten Gesellschaft, die Testungen auf das Coronavirus (SARS-CoV-2) durchzuführen berechtigt war, für die Monate März und April 2021 gegenüber der zuständigen Kassenärztlichen Vereinigung auch eine Vielzahl nicht durchgeführter sog. kostenloser Bürgertests und nicht aufgewendete Sachkosten ab. Zudem machte der Angeklagte die Testungen als höher vergütete ärztliche Leistung statt zutreffend als nichtärztliche Leistung geltend. Nach den Schadensberechnungen des Landgerichts flossen der vom Angeklagten beherrschten Gesellschaft infolgedessen zu Unrecht über 24,5 Millionen Euro zu. Die ausgekehrten Mittel stellte nach den Vorgaben der Coronavirus-Testverordnung letztlich der Bund zur Verfügung. Auf eine entsprechende Verfahrensrüge des Angeklagten hat der Senat das Urteil insgesamt aufgehoben, weil das Landgericht über ein mitteilungspflichtiges verständigungsbezogenes Gespräch in einer Sitzungspause zwischen dem Vorsitzenden Richter und den Verteidigern in der öffentlichen Hauptverhandlung entgegen § 243 Abs. 4 StPO keine Mitteilung gemacht hat. Das Landgericht Bochum muss daher über die Sache neu verhandeln und entscheiden. Vorinstanz: Landgericht Bochum, Urteil vom 24. Juni 2022 – II-6 KLs - 35 Js 84/21 - 29/21 Karlsruhe, den 25. Juli 2023 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Beschluss des 4. Strafsenats vom 24.5.2023 - 4 StR 493/22 -
Tenor Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bochum vom 24. Juni 2022 mit den Feststellungen aufgehoben.Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. Gründe Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Betruges in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Die auf die Rügen der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO).1. Der Angeklagte beanstandet zu Recht die Verletzung der Mitteilungspflicht nach § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO.a) Der Rüge liegt - soweit für die Entscheidung von Bedeutung - folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde: Der in Untersuchungshaft befindliche Angeklagte verteidigte sich zunächst schweigend. In einer Sitzungspause am 1. April 2022, dem zwanzigsten Hauptverhandlungstag, fand ein Gespräch zwischen dem Vorsitzenden der Strafkammer und den Verteidigern des Angeklagten statt. Einer der Verteidiger fragte den Vorsitzenden nach einer "Perspektive" für den Angeklagten.aa) Nach dem Revisionsvorbringen erinnerte der Vorsitzende Richter die Verteidiger daraufhin an ein anderes Strafverfahren vor der Strafkammer, in dem es anfangs streitig gewesen sei, der von ihnen verteidigte dortige Angeklagte später aber ein Geständnis abgelegt habe, weil er wieder "an die frische Luft" gewollt habe. Auf die Frage eines Verteidigers, ob dies auch hier möglich sei, erwiderte der Vorsitzende, nach dem derzeitigen Stand der Dinge komme eine Haftentlassung nicht in Betracht. Der Verteidiger solle aber nochmals mit seinem Mandanten sprechen, ob dieser sein Einlassungsverhalten beibehalten möchte.bb) Dem von der Revision geschilderten Gesprächsinhalt ist der Vorsitzende Richter in einer dienstlichen Erklärung entgegengetreten, wonach das Gespräch wie folgt ablief: Der nach einer "Perspektive" fragende Verteidiger äußerte auf die Bitte des Vorsitzenden zu präzisieren, was hiermit gemeint sei, die Befürchtung, dass die Strafkammer womöglich selbst bei einer geständigen Einlassung eine so hohe Haftstrafe verhänge, dass eine Haftverschonung mit Urteilsverkündung ausgeschlossen sei. Er, der Verteidiger, wolle daher eruieren, ob man dem Angeklagten diesbezüglich eine Perspektive eröffnen könne. Der Vorsitzende entgegnete, dass es bei der Kammer keine starren Grenzen und Denkverbote gebe und sie bei der Haftfrage zu gegebener Zeit selbstverständlich alle Umstände des Einzelfalls berücksichtigen werde. Hieran schloss sich seine Bemerkung dahin an, dass der Verteidiger dies doch wissen müsse; sie hätten doch auch schon Verfahren miteinander gehabt, in denen die Strafkammer Haftbefehle trotz vergleichsweise hoher Haftstrafen außer Vollzug gesetzt habe. Der Verteidiger fragte nach, ob der Vorsitzende etwa das Verfahren gegen "Herrn F." meine. Der Vorsitzende bejahte dies mit den Worten "Ja, zum Beispiel. Ich denke, wir haben dasselbe Verfahren vor Augen".Anschließend erklärte der Vorsitzende, dass dieser Hinweis keinesfalls als Andeutung verstanden werden dürfe, dass die Kammer aktuell eine Strafhöhe wie im Verfahren gegen "Herrn F." im Blick habe, und erst recht nicht angedeutet werden solle, dass bei Verhängung einer Haftstrafe in dieser Größenordnung eine Haftverschonung des Angeklagten in Aussicht gestellt oder gar zugesagt werden solle. Er, der Vorsitzende, habe lediglich die "Kammerpraxis" betreffend den Umgang mit der Haftfrage bei Urteilsverkündung verdeutlichen wollen. Auf die Bemerkung des Verteidigers, dies sei ihm klar, er nehme aber zumindest wohlwollend zur Kenntnis, dass die Kammer eine Haftverschonung in dieser Sache eben nicht kategorisch ausschließe, erklärte der Vorsitzende abschließend erneut, dass sein Hinweis allgemeiner Art gewesen sei und insbesondere nicht dazu gedient habe, bezogen auf den konkreten Einzelfall Dinge in Aussicht zu stellen oder Zusagen zu machen.cc) Über diese Unterredung machte der Vorsitzende Richter in der Hauptverhandlung keine Mitteilung. Am 24. Mai 2022 kam mehrere Hauptverhandlungstage später eine Verständigung gemäß § 257c StPO zustande, die sich nicht auf die Haftfrage erstreckte. Im Rahmen eines (in der Hauptverhandlung mitgeteilten) vorausgegangenen Verständigungsgesprächs vom 11. Mai 2022 hatte der Vorsitzende insofern die Auffassung vertreten, dass die Frage einer Haftverschonung des Angeklagten mit der Urteilsverkündung einer Verständigung nicht zugänglich sei.b) Die zulässig erhobene Verfahrensrüge ist begründet. Der Vorsitzende der Strafkammer hat die sich aus § 243 Abs. 4 Satz 1 und 2 StPO ergebende Pflicht zur Information über außerhalb der Hauptverhandlung geführte verständigungsbezogene Erörterungen verletzt, indem er über sein Gespräch mit den Verteidigern vom 1. April 2022 in der Hauptverhandlung keine Mitteilung gemacht hat.aa) Nach § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO hat der Vorsitzende nach Verlesung des Anklagesatzes über Erörterungen gemäß §§ 202a, 212 StPO zu berichten, die vor der Hauptverhandlung stattgefunden haben und deren Gegenstand die Möglichkeit einer Verständigung (§ 257c StPO) gewesen ist. Kommt es zu solchen Erörterungen nach Beginn der Hauptverhandlung, aber außerhalb derselben, so hat der Vorsitzende gemäß § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO auch dies und ihren wesentlichen Inhalt bekanntzugeben (vgl. BGH, Beschluss vom 26. November 2019 - 3 StR 336/19 mwN), und zwar regelmäßig alsbald nach der Fortsetzung (vgl. BGH, Beschluss vom 25. Juni 2020 - 3 StR 102/20 Rn. 13; Beschluss vom 6. Februar 2018 - 1 StR 606/17 Rn. 10 mwN; Becker in Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 243 Rn. 56).Verständigungsbezogene Erörterungen werden geführt, sobald bei Gesprächen der Prozessbeteiligten unter Einschluss des Gerichts ausdrücklich oder konkludent die Möglichkeit und die Umstände einer Verständigung im Raum stehen. Dies wiederum ist jedenfalls dann zu bejahen, wenn Fragen des prozessualen Verhaltens in Konnex zum Verfahrensergebnis gebracht werden und damit die Frage nach oder die Äußerung zu einer Straferwartung naheliegt (vgl. BVerfGE 133, 168 Rn. 85; BGH, Urteil vom 28. Juli 2016 - 3 StR 153/16 Rn. 19; Urteil vom 23. Juli 2015 - 3 StR 470/14 Rn. 12 mwN; Beschluss vom 2. Juni 2021 - 1 StR 44/21 Rn. 9; Beschluss vom 9. Oktober 2019 - 1 StR 545/18 Rn. 10; Beschluss vom 23. Juli 2019 - 1 StR 2/19 Rn. 10 mwN; Beschluss vom 6. Dezember 2018 - 1 StR 343/18 Rn. 12, Beschluss vom 14. April 2015 - 5 StR 9/15 Rn. 17). Dabei unterliegen nicht nur die entsprechenden "finalen", also zielführenden Erörterungen der Mitteilungspflicht, sondern auch gegebenenfalls erste Vorgespräche (vgl. BGH, Beschluss vom 16. Juni 2021 - 1 StR 92/21 Rn. 13; Beschluss vom 14. April 2015 - 5 StR 9/15 Rn. 14 f.), sofern diese nicht nur eine abstrakte Erörterung der Vorfrage beinhalten, ob aus Rechtsgründen überhaupt eine Verständigung in einer bestimmten Konstellation möglich ist (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 18. April 2023 - 6 StR 124/23 Rn. 11; Beschluss vom 18. August 2021 - 5 StR 199/21 Rn. 14; jeweils für die Annahme eines minder schweren Falls). Möglichen Unklarheiten zwischen den Verfahrensbeteiligten soll durch eine genaue Dokumentation des Gesprächs und deren anschließende Bekanntmachung in der öffentlichen Hauptverhandlung begegnet werden (vgl. BGH, Beschluss vom 16. Juni 2021 - 1 StR 92/21 Rn. 13). Für eine Mitteilungspflicht genügt daher jedes ausdrückliche oder konkludente Bemühen um eine Verständigung in Gesprächen, die von den Verfahrensbeteiligten insoweit als Vorbereitung einer Verständigung verstanden werden können; im Zweifel hat eine Mitteilung zu erfolgen (vgl. BVerfGE 133, 168 Rn. 85; BGH, Beschluss vom 6. Dezember 2018 - 1 StR 343/18 Rn. 12; Beschluss vom 24. Januar 2018 - 1 StR 564/17 Rn. 7; jeweils mwN).bb) Hieran gemessen ist eine mitteilungspflichtige verständigungsbezogene Erörterung im Sinne von § 243 Abs. 4 StPO sowohl nach dem Revisionsvorbringen als auch nach der dienstlichen Erklärung des Vorsitzenden Richters zu bejahen.(1) Die Vollstreckung von Untersuchungshaft ist ein grundsätzlich zulässiger Verständigungsinhalt (vgl. BGH, Beschluss vom 3. Dezember 2013 - 2 StR 410/13 Rn. 14 mwN). Denn die Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft ist ein zum Urteil "dazugehöriger Beschluss" im Sinne von § 257c Abs. 2 Satz 1 StPO (vgl. hierzu § 268b StPO). Vor diesem Hintergrund liegt nach dem Revisionsvorbringen eine verständigungsbezogene Erörterung auf der Hand. Der Vorsitzende wies aber auch nach seiner eigenen Darstellung die Verteidiger für die - verständigungsgeeignete - Frage einer Haftverschonung des Angeklagten auf die Verfahrensweise der Strafkammer in anderen Verfahren hin. Dabei bestätigte er auf Nachfrage insbesondere ausdrücklich, dass er wie der Verteidiger das Strafverfahren gegen "Herrn F." vor Augen habe. Da dieser Angeklagte nach zunächst streitiger Verhandlung geständig und sodann von der Strafkammer vom weiteren Vollzug der Untersuchungshaft verschont worden war, ist damit auch bei einem solchen Gesprächsverlauf konkludent ein Konnex zwischen einem Prozessverhalten des hier Angeklagten in Form seines Geständnisses und dem Verfahrensergebnis einer möglichen Haftverschonung hergestellt. Mit Blick auf die prozessuale Situation im hiesigen Verfahren konnten die Verteidiger selbst die vorgenannten Äußerungen des Vorsitzenden nur dahin verstehen, dass sie sich - verknüpft mit der Frage einer Haftverschonung - auf eine entsprechende Beeinflussung der Verteidigungsstrategie des Angeklagten richteten.Ein verständigungsbezogener Charakter der Unterredung ist auch nicht aufgrund von deren weiterem Verlauf zu verneinen, wie ihn der Vorsitzende in seiner dienstlichen Erklärung geschildert hat. Unmaßgeblich ist insbesondere, dass der Vorsitzende danach wiederholt darauf hingewiesen hat, seine Äußerungen seien - auch hinsichtlich einer möglichen Strafhöhe - unverbindlich und lediglich ein Hinweis auf die allgemeine Praxis der Strafkammer. Diese Hervorhebungen zeigen vielmehr zunächst, dass für die Verteidiger weitergehend auch die Frage nach einer Straferwartung im Falle eines Geständnisses nahelag. Inhaltlich gehen die Angaben des Vorsitzenden zudem dennoch über einen nicht verständigungsbezogenen allgemeinen Hinweis auf die strafmildernden Wirkungen eines Geständnisses (vgl. hierzu BVerfGE 133, 168 Rn. 106) und den - selbstverständlichen - Umstand hinaus, dass die Strafkammer im Rahmen ihrer Entscheidung nach § 268b StPO alle relevanten Umstände bedenken werde. Denn aufgrund der unmissverständlichen Bezugnahme auf das Strafverfahren gegen "Herrn F." konnten die Verteidiger die Äußerungen des Vorsitzenden in ihrem Gesamtkontext trotz dessen nachfolgender Hinweise weiterhin zumindest - im Sinne eines ersten auf eine Verständigung zielenden Vorgesprächs - dahin verstehen, dass für den Fall einer geständigen Einlassung des Angeklagten dessen Haftverschonung mit Urteilsverkündung in Betracht komme. Dies genügt nach den vorstehend dargestellten Maßgaben, um die Mitteilungspflicht gemäß § 243 Abs. 4 Satz 1 und 2 StPO auszulösen.(2) Die Informationspflicht nach dieser Norm ist auch dann zu beachten, wenn (zunächst) keine Verständigung zustande kommt (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschluss vom 12. Januar 2022 - 4 StR 209/21 Rn. 5; Urteil vom 18. November 2020 - 2 StR 317/19 Rn. 45). Sie gehört zu den vom Gesetzgeber zur Absicherung des Verständigungsverfahrens normierten Transparenz- und Dokumentationsregeln, durch die gewährleistet werden soll, dass Erörterungen mit dem Ziel einer Verständigung stets in öffentlicher Hauptverhandlung zur Sprache kommen, so dass für informelles und unkontrollierbares Verhalten unter Umgehung der strafprozessualen Grundsätze kein Raum verbleibt (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Januar 2022 - 4 StR 209/21 Rn. 5; Beschluss vom 15. Januar 2015 ‒ 1 StR 315/14, BGHSt 60, 150 Rn. 14).c) Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Urteil auf dem Verfahrensverstoß beruht (§ 337 Abs. 1 StPO). Das Beruhen des Urteils auf einer Verletzung der Mitteilungspflicht des § 243 Abs. 4 StPO kann im Einzelfall nur ausgeschlossen werden, wenn die Gesetzesverletzung sich einerseits nicht in entscheidungserheblicher Weise auf das Prozessverhalten des Angeklagten ausgewirkt haben kann und mit Blick auf die Kontrollfunktion der Mitteilungspflicht andererseits der Inhalt der geführten Gespräche zweifelsfrei feststeht und diese nicht auf die Herbeiführung einer gesetzeswidrigen Absprache gerichtet waren (vgl. BVerfG NJW 2020, 2461 Rn. 39; BGH, Beschluss vom 12. Januar 2022 - 4 StR 209/21 Rn. 7 mwN).Der Senat vermag bereits nicht auszuschließen, dass sich der geständige Angeklagte, auf dessen Angaben die Strafkammer ihre Überzeugung maßgeblich gestützt hat, bei einer gesetzeskonformen Unterrichtung durch das Gericht effektiver als geschehen hätte verteidigen können. Zudem liegt ein gravierender die Kontrollfunktion berührender Transparenzmangel vor. Der Gesprächsinhalt lässt es zumindest nicht als ausgeschlossen erscheinen, dass die nicht offenbarte Unterredung auf eine gesetzeswidrige informelle Absprache zur Haftfrage - über die unter Beteiligung der Staatsanwaltschaft zustande gekommene formelle Verständigung hinaus - abzielte (vgl. auch BGH, Beschluss vom 19. Juli 2022 - 4 StR 64/22 Rn. 11).2. Auf die weitere Verfahrensrüge und die mit der Gegenerklärung vorgebrachten sachlich-rechtlichen Beanstandungen kommt es daher nicht mehr an. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat allerdings vorsorglich auf Folgendes hin:Sofern der Angeklagte erneut ein Geständnis ablegen sollte, genügt für dessen weitere inhaltliche Überprüfung durch das Tatgericht anhand von Erkenntnissen aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 6. Juli 2022 - 2 StR 53/22 Rn. 11; Beschluss vom 5. November 2013 - 2 StR 265/13 Rn. 5; Beschluss vom 15. April 2013 - 3 StR 35/13 Rn. 7) nicht der pauschale Hinweis auf die Angaben von Zeugen und die übrigen Beweismittel. Vielmehr ist insoweit eine - ggf. knapp gehaltene - Darstellung in den Urteilsgründen erforderlich, durch welche Beweismittel welcher Einlassungsinhalt bestätigt worden ist.Nimmt auch das neue Tatgericht eine Strafbarkeit des Angeklagten wegen Betruges an, wird es zudem einen Irrtum der zuständigen Mitarbeiter der Abrechnungsstelle der Kassenärztlichen Vereinigung nicht nur festzustellen, sondern auch mit beweiswürdigenden Erwägungen zu unterlegen haben (vgl. hierzu etwa BGH, Urteil vom 19. August 2020 - 5 StR 558/19 Rn. 16; Beschluss vom 14. Juli 2016 - 4 StR 362/15 Rn. 27; Urteil vom 12. Februar 2015 - 2 StR 109/14 Rn. 22 f.).QuentinBartelMaatschScheußMessing
bundesgerichtshof
bgh_120-2023
21.07.2023
Bundesgerichtshof verneint Eigentumsbeeinträchtigung durch Suchmeldung von Kulturgut in der Lost Art-Datenbank Ausgabejahr 2023 Erscheinungsdatum 21.07.2023 Nr. 120/2023 Link: Diese Pressemitteilung ist auch in englischer Sprache verfügbar Urteil vom 21. Juli 2023 - V ZR 112/22 Der unter anderem für Ansprüche aus Eigentum zuständige V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat heute entschieden, dass die auf wahren Tatsachen beruhende Suchmeldung eines Kulturgutes auf der Internetseite der Lost Art-Datenbank keine Eigentumsbeeinträchtigung darstellt und daher keinen Anspruch des gegenwärtigen Eigentümers gegen den Veranlasser der Meldung auf Beantragung der Löschung begründet. Sachverhalt: Der Kläger, ein Kunstsammler, erwarb im Jahr 1999 im Rahmen einer Auktion in London das Gemälde "Kalabrische Küste" des Malers Andreas Achenbach. Das Gemälde befand sich in der Zeit von 1931 bis 1937 im Besitz der Galerie Stern in Düsseldorf, die der jüdische Kunsthändler Dr. Max Stern in dieser Zeit von seinem Vater übernahm. Bereits im Jahre 1935 wurde ihm durch die Reichskammer der bildenden Künste die weitere Berufsausübung untersagt, die Verfügung wurde jedoch zunächst nicht vollzogen. Im März 1937 verkaufte Dr. Stern das Gemälde an eine Privatperson aus Essen. Im September 1937 wurde er endgültig gezwungen, seine Galerie aufzugeben, woraufhin er über England nach Kanada emigrierte. Sein Nachlass wird von einem kanadischen Trust verwaltet, dessen Treuhänder die Beklagten sind. Im Juni 2016 wurde auf Veranlassung der Beklagten eine Suchmeldung für das Gemälde auf der Internetseite der Lost Art-Datenbank veröffentlicht. Die von einer Stiftung mit Sitz in Magdeburg betriebene Datenbank dokumentiert Kulturgüter, die insbesondere jüdischen Eigentümern aufgrund der Verfolgung durch den Nationalsozialismus entzogen wurden, oder für die ein derartiger Verlust nicht auszuschließen ist. Mithilfe der Veröffentlichung sollen frühere Eigentümer bzw. deren Erben mit heutigen Besitzern zusammengeführt und beim Finden einer gerechten und fairen Lösung über den Verbleib des Kulturgutes unterstützt werden. Im Rahmen einer Ausstellung des Gemäldes in Baden-Baden wurde der Kläger über die Suchmeldung und eine in Kanada veranlasste Fahndung nach dem Gemälde durch Interpol informiert. Er fühlt sich durch den Eintrag in der Lost Art-Datenbank und die Interpol-Fahndung in seinem Eigentum beeinträchtigt. Bisheriger Prozessverlauf: Der Kläger verlangt von den Beklagten, es zu unterlassen, sich des Eigentums an dem Gemälde zu berühmen. Hilfsweise begehrt er, sie zu verurteilen, die Löschung der Suchmeldung in der Lost Art-Datenbank zu beantragen. Die Klage ist bei dem Landgericht und dem Oberlandesgericht erfolglos geblieben. Mit der vom Oberlandesgericht zugelassenen Revision hat der Kläger sein Begehren weiterverfolgt. Entscheidung des Bundesgerichtshofs: Der Bundesgerichtshof hat die Revision des Klägers zurückgewiesen. Dem liegen folgende Erwägungen zugrunde: Der Kläger hat keinen Anspruch aus § 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB auf die mit dem Hauptantrag verlangte Unterlassung, weil die Beklagten sich nicht des Eigentums an dem Gemälde des Klägers berühmt haben. Die tatrichterliche Beurteilung des Berufungsgerichts, mit der Suchmeldung des Gemäldes auf der Internetseite der Lost Art-Datenbank und der Fahndung über Interpol werde ohne gegenwärtige Eigentumsanmaßung lediglich an das früher bestehende Eigentum des Dr. Max Stern angeknüpft, ist nicht zu beanstanden. Zweck der Veröffentlichung auf der Internetseite der Lost Art-Datenbank ist es, die früheren Eigentümer bzw. deren Erben sowie die heutigen Besitzer eines Kulturgutes zusammen zu bringen und diese bei der Erarbeitung einer gerechten und fairen Lösung im Sinne der Washingtoner Erklärung aus dem Jahr 1998 über den Umgang mit während der NS-Zeit abhanden gekommenen Kunstwerken zu unterstützen. Hiervon ausgehend nimmt das Berufungsgericht zu Recht an, dass mit der Suchmeldung lediglich auf das frühere Eigentum an dem Kunstwerk und die Umstände des Verlustes Bezug genommen wird; eine Aussage über das gegenwärtig bestehende Eigentum oder etwaige daran anknüpfende Ansprüche ist damit weder verbunden noch beabsichtigt. Das gilt auch für die Eintragung des Gemäldes in der Fahndungsdatenbank von Interpol, weil lediglich das Abhandenkommen des Gemäldes am 13. November 1937 in Düsseldorf gemeldet wurde. Auch mit dieser Meldung ist keine Aussage darüber verbunden, dass sich die Beklagten nach heutiger Rechtslage als Eigentümer des Gemäldes ansehen und darstellen. Dass der Kläger bei einer Verbringung des Gemäldes nach Kanada oder in die Vereinigten Staaten von Amerika polizeiliche Maßnahmen zu befürchten hätte, die ihn in der Verfügungsgewalt über das Gemälde einschränken würden, ist lediglich Folge des Umstandes, dass die Rechtsordnungen einzelner Staaten an das verfolgungsbedingte Abhandenkommen von Kulturgütern und spätere Erwerbsvorgänge unterschiedliche Rechtsfolgen knüpfen. Selbst wenn sich die Beklagten diesen Umstand bewusst zunutze gemacht hätten, stellte ihre Meldung keine Eigentumsanmaßung dar, weil sie lediglich (wahre) Tatsachen zu Vorgängen aus dem Jahre 1937 enthält und die rechtliche Bewertung dieser Vorgänge den Behörden – bzw. gegebenenfalls den Gerichten – überlassen wird. Dem Kläger steht auch der mit dem Hilfsantrag geltend gemachte Anspruch aus § 1004 Abs. 1 Satz 1 BGB auf Beantragung der Löschung der Suchmeldung des Gemäldes in der Lost Art-Datenbank nicht zu. Denn die auf wahren Tatsachen beruhende Suchmeldung eines Kulturgutes auf der Internetseite der Lost Art- Datenbank stellt keine Eigentumsbeeinträchtigung im Sinne dieser Vorschrift dar und begründet daher keinen auf Beantragung der Löschung gerichteten Anspruch des gegenwärtigen Eigentümers gegen den Veranlasser der Meldung. Durch die Suchmeldung wird die Eigentumszuordnung – wie bereits ausgeführt – nicht infrage gestellt und die Verfügungsbefugnis des Eigentümers jedenfalls in rechtlicher Hinsicht nicht eingeschränkt. Eine auf wahren Tatsachen beruhende sachliche Information über den Verdacht des NS-verfolgungsbedingten Verlustes eines Kulturgutes beeinträchtigt die Rechte aus dem Eigentum aber auch schon deshalb nicht, weil der Betroffene die Behauptung und Verbreitung wahrer Tatsachen in der Regel hinzunehmen hat, auch wenn dies für ihn nachteilig ist. Das berechtigte Interesse früherer Eigentümer von Kulturgut bzw. ihrer Rechtsnachfolger sowie das allgemeine öffentliche Interesse an der Provenienz NS-verfolgungsbedingt entzogener Kulturgüter überwiegen jedenfalls ein in der Regel allein auf wirtschaftlichen Erwägungen beruhendes Interesse des gegenwärtigen Eigentümers an der Geheimhaltung solcher Tatsachen. Ob eine Eigentumsbeeinträchtigung anzunehmen ist, wenn in Bezug auf die Sache unwahre marktrelevante Tatsachen behauptet bzw. wertbildende Faktoren falsch dargestellt werden, ist fraglich, bedurfte aber keiner abschließenden Entscheidung, da es dem Kläger nicht um die Abwehr unzutreffender Tatsachenbehauptungen über das Gemälde geht. Nach § 44 Satz 1 Nr. 1 des Kulturgutschutzgesetzes besteht wegen der Umstände des Verkaufs im Jahr 1937 jedenfalls die Vermutung, dass das Gemälde einem früheren Eigentümer NS-verfolgungsbedingt entzogen worden ist. Die Veröffentlichung der Suchmeldung in der Lost Art-Datenbank macht damit lediglich publik, was aufgrund der bekannten Umstände des Verkaufs ohnehin vermutet wird und - jedenfalls im Fall eines gewerblichen Inverkehrbringens - näherer Aufklärung bedarf. Anders als die Revision meint, kann eine Eigentumsbeeinträchtigung auch nicht mit der Begründung bejaht werden, die Aufrechterhaltung der Suchmeldung in der Lost Art-Datenbank führe zu einem rechtswidrigen Zustand. Eintragungen und Meldungen zu Kulturgütern in der Lost Art-Datenbank sind zwar als staatliches Informationshandeln anzusehen, so dass bei Überschreitung des Zwecks der Veröffentlichung entweder ein im verwaltungsgerichtlichen Verfahren durchzusetzender öffentlich-rechtlicher Folgenbeseitigungsanspruch oder – weil die Datenbank inzwischen durch eine privatrechtliche Stiftung betrieben wird – ein zivilrechtlicher Löschungsanspruch nach den Grundsätzen des sog. Verwaltungsprivatrechts in Betracht kommen könnte. Ein solcher Anspruch könnte sich aber nur gegen die Stiftung als Betreiberin der Datenbank richten, nicht gegen die Beklagten als bloße Veranlasser der Meldung. Wenn der Staat eine Internetdatenbank einrichtet, in der Such- und Fundmeldungen von Privatpersonen zu Kulturgütern veröffentlicht werden, dann ist er bzw. die von ihm als Betreiberin der Datenbank errichtete Stiftung dafür verantwortlich, dass die veröffentlichte Meldung sich innerhalb der Grenzen hält, die das öffentliche Recht und namentlich die Grundrechte – hier der Eigentümer der betroffenen Gemälde – dem staatlichen Informationshandeln ziehen. Es ist Sache der Betreiberin der Datenbank zu entscheiden, ob sie eine Meldung veröffentlicht und ob bzw. wann sie sie wieder löscht. Es liegt in ihrer Verantwortung, die fortdauernde Einhaltung des Zwecks der Veröffentlichung zu überwachen und sicherzustellen, dass die Aufrechterhaltung der Veröffentlichung gegenüber dem Eigentümer des Kunstwerks weiterhin zu rechtfertigen ist. Wird durch die Aufrechterhaltung einer Meldung das Eigentum an einem Kunstwerk beeinträchtigt, dann trifft die Verantwortung hierfür folglich allein die Stiftung. Ob hier eine solche Eigentumsbeeinträchtigung vorliegt, bedurfte keiner Entscheidung, weil sich die Klage gegen die Beklagten als Veranlasser der Meldung richtet. Vorinstanzen: LG Magdeburg – Urteil vom 27. November 2019 – 2 O 599/18 OLG Naumburg – Urteil vom 24. Mai 2022 – 1 U 292/19 Die maßgeblichen Vorschriften lauten: § 1004 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB): (1) Wird das Eigentum in anderer Weise als durch Entziehung oder Vorenthaltung des Besitzes beeinträchtigt, so kann der Eigentümer von dem Störer die Beseitigung der Beeinträchtigung verlangen. Sind weitere Beeinträchtigungen zu besorgen, so kann der Eigentümer auf Unterlassung klagen. (2) … Kulturgutschutzgesetz (KGSG): § 41 Allgemeine Sorgfaltspflichten (1) Wer Kulturgut in Verkehr bringt, ist verpflichtet, zuvor mit der erforderlichen Sorgfalt zu prüfen, ob das Kulturgut 1. abhandengekommen ist, 2. unrechtmäßig eingeführt worden ist oder 3. rechtswidrig ausgegraben worden ist. (2) 1Die allgemeine Sorgfaltspflicht nach Absatz 1 ist von der Person, die Kulturgut in Verkehr bringt, anzuwenden, wenn sich einer vernünftigen Person die Vermutung aufdrängen müsste, dass einer der in Absatz 1 genannten Tatbestände in Betracht kommt. […] § 42 Sorgfaltspflichten beim gewerblichen Inverkehrbringen (1) 1Wer in Ausübung seiner gewerblichen Tätigkeit Kulturgut in Verkehr bringt, ist verpflichtet, zuvor zusätzlich zu den Pflichten nach § 41 […] 3. die Provenienz des Kulturgutes zu prüfen, […] 6. zu prüfen, ob das Kulturgut in öffentlich zugänglichen Verzeichnissen und Datenbanken eingetragen ist, und […] 2Die Pflichten nach Satz 1 Nummer 2 lassen urheberrechtliche Vorschriften unberührt. 3Die Pflichten nach Satz 1 Nummer 3 bis 6 sind nach Maßgabe des zumutbaren Aufwandes, insbesondere der wirtschaftlichen Zumutbarkeit, zu erfüllen. […] § 44 Erhöhte Sorgfaltspflichten beim gewerblichen Inverkehrbringen 1Beim gewerblichen Inverkehrbringen ist der Maßstab des zumutbaren Aufwandes nach § 42 Absatz 1 Satz 3 nicht für Kulturgut anzuwenden, 1. bei dem nachgewiesen oder zu vermuten ist, dass es zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 aufgrund der Verfolgung durch den Nationalsozialismus entzogen worden ist, es sei denn, das Kulturgut ist an seinen ursprünglichen Eigentümer oder dessen Erben zurückgegeben worden oder diese haben eine andere abschließende Regelung im Hinblick auf den Entzug getroffen, […] Karlsruhe, den 21. Juli 2023 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Urteil des V. Zivilsenats vom 21.7.2023 - V ZR 112/22 -
1. Die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte wird unter den Voraussetzungen des Art. 26 EuGVVO auch dann begründet, wenn der sich rügelos einlassende Beklagte seinen Wohnsitz nicht im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats der Europäischen Union hat.2. Die auf wahren Tatsachen beruhende Suchmeldung eines Kulturgutes auf der Internetseite der Lost Art-Datenbank stellt keine Eigentumsbeeinträchtigung i.S.v. § 1004 Abs. 1 BGB dar und begründet daher keinen auf Beantragung der Löschung gerichteten Anspruch des gegenwärtigen Eigentümers gegen den Veranlasser der Meldung. Tenor Die Revision gegen das Urteil des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Naumburg vom 24. Mai 2022 wird auf Kosten des Klägers zurückgewiesen.Von Rechts wegen Tatbestand Der Kläger, ein Kunstsammler, erwarb im Jahr 1999 im Rahmen einer Auktion in London das Gemälde "Kalabrische Küste" des Malers Andreas Achenbach. Das Gemälde befand sich in der Zeit von 1931 bis 1937 im Besitz der Galerie Stern in Düsseldorf, die der jüdische Kunsthändler Dr. Max Stern in dieser Zeit von seinem Vater übernahm. Bereits im Jahre 1935 wurde Dr. Stern durch die Reichskammer der bildenden Künste die weitere Berufsausübung untersagt, die Verfügung wurde jedoch zunächst nicht vollzogen. Im März 1937 verkaufte Dr. Stern das Gemälde an eine Privatperson aus Essen. Im September 1937 wurde er endgültig gezwungen, seine Galerie aufzugeben, woraufhin er über England nach Kanada emigrierte. Sein Nachlass wird von einem kanadischen Trust verwaltet, dessen Treuhänder die Beklagten sind.Im Juni 2016 wurde auf Veranlassung der Beklagten eine Suchmeldung für das Gemälde auf der Internetseite der Lost Art-Datenbank (www.lostart.de) veröffentlicht. Auf dieser werden Such- und Fundmeldungen zu Kulturgütern veröffentlicht, die jüdischen Eigentümern infolge des Nationalsozialismus verfolgungsbedingt entzogen wurden oder für die ein Verlust vermutet wird bzw. nicht ausgeschlossen werden kann. Die Datenbank wird von einer von Bund, Ländern und kommunalen Spitzenverbänden errichteten Stiftung bürgerlichen Rechts mit Sitz in Magdeburg betrieben. Mithilfe der Veröffentlichungen sollen frühere Eigentümer bzw. deren Erben mit heutigen Besitzern zusammengeführt und beim Finden einer gerechten und fairen Lösung über den Verbleib des Kulturgutes unterstützt werden. Im Rahmen einer Ausstellung des Gemäldes in Baden-Baden wurde der Kläger über die Suchmeldung und darüber in Kenntnis gesetzt, dass Interpol nach dem Gemälde fahnde, da es in Kanada als gestohlen gemeldet worden sei.Der Kläger sieht sich durch den Eintrag in der Datenbank und die Interpol-Fahndung in seinem Eigentum an dem Gemälde gestört und verlangt von den Beklagten, es zu unterlassen, sich des Eigentums an dem Gemälde zu berühmen. Hilfsweise begehrt er, sie zu verurteilen, die Löschung der Suchmeldung in der Lost Art-Datenbank zu beantragen. Die Klage ist bei dem Landgericht und dem Oberlandesgericht erfolglos geblieben. Mit der von dem Oberlandesgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Die Beklagten beantragen die Zurückweisung des Rechtsmittels. Gründe I.Das Berufungsgericht, dessen Entscheidung in MDR 2022, 1411 ff. veröffentlicht ist, bejaht die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte und ist der Ansicht, dass die nach deutschem Recht zu beurteilende Klage unbegründet ist. Dem Kläger stehe gegen die Beklagten der mit dem Hauptantrag geltend gemachte Unterlassungsanspruch aus § 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB nicht zu. Er sei zwar - zumindest durch Ersitzung (§ 937 BGB) - Eigentümer des Gemäldes. Es liege aber keine Eigentumsbeeinträchtigung vor, denn die Beklagten hätten sich weder mit der Suchmeldung in der Lost Art-Datenbank noch durch die allein außerhalb Deutschlands eingeleitete Fahndung das Eigentum an dem Gemälde angemaßt. Nach den Grundsätzen zur Eintragung und Löschung von Meldungen in der Lost Art-Datenbank bringe ihre Suchmeldung lediglich zum Ausdruck, dass Dr. Max Stern früher Eigentümer des Gemäldes gewesen und zu vermuten sei bzw. nicht ausgeschlossen werden könne, dass das Gemälde ihm aufgrund nationalsozialistischer Verfolgung entzogen, kriegsbedingt verbracht oder abhandengekommen sei. Das Eigentum des Klägers an dem Bild in der Gegenwart werde hierdurch nicht in Frage gestellt. Den Beklagten gehe es in Übereinstimmung mit den sog. Washingtoner Prinzipien - in dem Bewusstsein, hierauf keinen Anspruch zu haben - lediglich um die Erzielung einer gerechten und fairen Lösung. Dieses Ansinnen und die Konfrontation des Klägers mit der Provenienz des von ihm erworbenen Bildes stellten keine Eigentumsanmaßung dar.Der Kläger könne auch nicht hilfsweise gemäß § 1004 Abs. 1 Satz 1 bzw. § 823 Abs. 1, § 826 BGB verlangen, dass die Beklagten die Löschung der in der Lost Art-Datenbank veröffentlichten Suchmeldung beantragen. Er könne nicht untersagen, dass marktrelevante Informationen über sein Bild publik gemacht würden. Bei Kulturgütern bestehe ein anzuerkennendes Interesse der Allgemeinheit an dem Objekt, seiner Geschichte und Provenienz. Eine Eigentumsbeeinträchtigung scheide insoweit von vornherein aus, wenn lediglich zutreffend und sachlich über einen bestehenden Verdacht des NS-verfolgungsbedingten Entzugs von Kulturgut informiert werde. Ein solcher Verdacht begründe im gewerblichen Kunsthandel gemäß § 44 Satz 1 Nr. 1, § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 des Kulturgutschutzgesetzes erhöhte Sorgfaltspflichten bei der Prüfung der Provenienz. Bereits hierdurch werde die Marktgängigkeit des Kunstwerks eingeschränkt. Es könne offenbleiben, ob ein Anspruch auf Löschung bestehe, wenn in der Suchmeldung unrichtige Angaben gemacht würden oder die Plausibilität der Meldung entkräftet werde. Denn so liege es hier nicht. Es bestehe die Vermutung, dass das Gemälde dem früheren Eigentümer im Jahr 1937 aufgrund der Verfolgung durch den Nationalsozialismus entzogen worden sei. Der Kläger habe seine Behauptung, Dr. Stern habe das Gemälde lediglich im Rahmen eines Kommissionsgeschäfts in Besitz gehabt, nicht zur Überzeugung des Berufungsgerichts bewiesen. Dem Bild hafte ein marktrelevanter Makel an, den der Kläger auch ohne die Suchmeldung offenbaren müsse.II.Diese Ausführungen halten rechtlicher Nachprüfung stand.1. Die auch im Revisionsverfahren von Amts wegen zu prüfende (vgl. Senat, Urteil vom 23. September 2022 - V ZR 148/21, NJW 2023, 781 Rn. 6 mwN) internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte ist gegeben. Sie folgt allerdings entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts nicht aus § 32 ZPO, wonach für Klagen aus unerlaubten Handlungen das Gericht zuständig ist, in dessen Bezirk die Handlung begangen ist. Es ist umstritten, ob die Vorschrift auch rein negatorische (vorbeugende) Unterlassungsklagen erfasst, die - wie hier - auf einen von einem Verschulden unabhängigen Anspruch aus § 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB gestützt werden (vgl. zum Streitstand etwa BeckOK ZPO/Toussaint [1.3.2023], § 32 Rn. 5.1; Jayme, IPRax 2020, 544 Fn. 4 jeweils mwN). Der Streit bedarf vorliegend keiner Entscheidung, denn die Zuständigkeit deutscher Gerichte folgt aus dem vorrangig anwendbaren (vgl. BGH, Urteil vom 21. November 1996 - IX ZR 264/95, BGHZ 134, 127, 133; Beschluss vom 27. Juni 2007 - X ZR 15/05, BGHZ 173, 40 Rn. 16) Art. 26 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Brüssel Ia-VO, nachfolgend EuGVVO). Nach dieser Vorschrift wird die Zuständigkeit eines nicht bereits nach anderen Vorschriften der Verordnung zuständigen Gerichts eines Mitgliedstaats begründet, wenn sich der Beklagte vor diesem Gericht auf das Verfahren einlässt, ohne den Mangel der Zuständigkeit zu rügen und keine anderweitige ausschließliche Zuständigkeit besteht. So liegt es hier. Dass die Beklagten ihren Wohnsitz nicht in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union haben, steht dem nicht entgegen.a) Der (räumliche) Anwendungsbereich des Art. 26 EuGVVO ist eröffnet. Die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte wird unter den Voraussetzungen des Art. 26 EuGVVO auch dann begründet, wenn der sich rügelos einlassende Beklagte seinen Wohnsitz nicht im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats der Europäischen Union hat. Zu der inhaltlich entsprechenden Vorschrift in Art. 18 des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (nachfolgend EuGVÜ) hat der Bundesgerichtshof zwar entschieden, dass diese Bestimmung dann nicht anwendbar ist, wenn allein der Kläger in einem Vertragsstaat wohnt und - wie hier - ein Auslandsbezug nur zu Nichtvertragsstaaten besteht (vgl. BGH, Urteil vom 21. November 1996 - IX ZR 264/95, BGHZ 134, 127, 133 mwN). Daran ist aber für Art. 26 EuGVVO nicht festzuhalten.aa) Ein weites Verständnis des Anwendungsbereichs legt bereits der Wortlaut des Art. 26 Abs. 1 Satz 1 EuGVVO nahe. Danach setzt eine Zuständigkeitsbegründung durch rügeloses Einlassen lediglich die Klageerhebung vor einem mitgliedstaatlichen Gericht voraus, ohne dass der Wohnsitz des Beklagten - anders als etwa bei den in Art. 7 ff. geregelten besonderen Zuständigkeiten - von Bedeutung ist (vgl. Gebauer/Wiedmann in Gebauer/Berner, Europäisches Zivilrecht, 3. Aufl., Art. 26 Brüssel Ia-VO Rn. 2). Der Gerichtshof der Europäischen Union hat deshalb - wenngleich nicht tragend - schon in Bezug auf Art. 18 Satz 1 EuGVÜ angenommen, dass es auf den Wohnsitz des Beklagten nicht ankomme (vgl. EuGH, Urteil vom 13. Juli 2000, Group Josi Reinsurance Company SA und Universal General Insurance Company, C-412/98, EU:C:2000:399 Rn. 44).bb) Nach heutiger Rechtslage kann kein Zweifel an der Richtigkeit dieser Sichtweise bestehen. Dies zeigt der Vergleich mit der ebenfalls im siebten Abschnitt zu findenden Regelung in Art. 25 EuGVVO. Unter den Voraussetzungen dieser Vorschrift können die Parteien eine ausdrückliche Vereinbarung über die Zuständigkeit schließen, ohne dass es - anders als noch nach Art. 17 EuGVÜ und Art. 23 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 (Brüssel I-VO) - auf deren Wohnsitz ankommt. Die Regelung stellt gemäß Art. 6 Abs. 1 EuGVVO eine Ausnahme von dem ansonsten geltenden Grundsatz dar, dass die internationale Zuständigkeit nach der lex fori zu bestimmen ist, wenn der Beklagte seinen Wohnsitz nicht in einem Mitgliedstaat hat. In Art. 6 Abs. 1 EuGVVO wird zwar lediglich auf Art. 25 EuGVVO und nicht auf Art. 26 EuGVVO verwiesen. Neben der formalen Nähe zeigt aber insbesondere der sachliche Zusammenhang beider Vorschriften, dass der Wohnsitz des Beklagten in Art. 26 Abs. 1 Satz 1 EuGVVO ebenfalls ohne Bedeutung ist (vgl. BeckOK ZPO/Gaier [1.3.2023], Art. 26 Brüssel Ia-VO Rn. 6; Gebauer/Wiedmann in Gebauer/Berner, Europäisches Zivilrecht, 3. Aufl., Art. 26 Brüssel Ia-VO Rn. 2; MüKoZPO/Gottwald, 6. Aufl., Art. 26 Brüssel Ia-VO Rn. 4; E. Pfeiffer/M. Pfeiffer in Geimer/Schütze, Internationaler Rechtsverkehr [Mai 2022], Art. 26 EuGVVO Rn. 7 f.; Schlosser/Hess, EU-Zivilprozessrecht, 5. Aufl., Art. 26 EuGVVO Rn. 1; Staudinger in Rauscher, Europäisches Zivilprozess- und Kollisionsrecht, 5. Aufl., Art. 26 Brüssel Ia-VO Rn. 3). Denn Art. 26 Abs. 1 Satz 1 EuGVVO stellt - wie der Europäische Gerichtshof zu der gleichlautenden Regelung in Art. 24 Satz 1 Brüssel I-VO entschieden hat - eine stillschweigende Anerkennung der Zuständigkeit des angerufenen Gerichts und damit eine Vereinbarung der Zuständigkeit dieses Gerichts dar (vgl. EuGH, Urteil vom 17. März 2016, Taser International und SC Gate 4 Business u.a., C-175/15, EU:C:2016:176 Rn. 21 und 33 mwN). Ein sachlicher Grund für eine unterschiedliche Behandlung ausdrücklicher und stillschweigender Vereinbarungen über die Zuständigkeit besteht nicht. In beiden Fällen wird mit der Begründung der Zuständigkeit dem Grundsatz der Privatautonomie Rechnung getragen, der nach dem Erwägungsgrund 14 der Brüssel I-Verordnung (jetzt: Erwägungsgrund 19 EuGVVO) eine Ausnahme von der Bestimmung der internationalen Zuständigkeit nach der lex fori rechtfertigt.cc) Es entspricht auch dem Zweck der Verordnung, einen weiten Anwendungsbereich des Art. 26 EuGVVO anzunehmen. Der Erlass von Zuständigkeitsregeln soll für die damit zusammenhängenden Rechtsstreitigkeiten das Funktionieren des Binnenmarktes erleichtern (vgl. EuGH, Urteil vom 1. März 2005, Owusu und Jackson, C-281/02, EU:C:2005:120 Rn. 33 zum EuGVÜ). Diesem Anliegen wird dadurch entsprochen, dass die Hemmnisse beseitigt werden, die sich aus der Anwendbarkeit der lex fori und den Unterschieden in den jeweiligen nationalen Rechtsvorschriften zu der rügelosen Einlassung des Beklagten ergeben können; die Rechtssicherheit und Voraussehbarkeit der Zuständigkeitsbegründung durch rügelose Einlassung werden durch einen weiten Anwendungsbereich am besten gewährleistet (vgl. Stein/Jonas/Thole, ZPO, 23. Aufl., Art. 26 EuGVVO Rn. 14).dd) Anlass für eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 AEUV besteht nicht. Die richtige Auslegung des Art. 26 Abs. 1 Satz 1 EuGVVO ist insbesondere im Hinblick darauf, dass es nach Ansicht des Gerichtshofs für die Zuständigkeitsbegründung durch Einlassung auf das Verfahren schon nach der früheren Rechtslage nicht auf den Wohnsitz des Beklagten ankam (vgl. Rn. 9), derart offenkundig zu beantworten, dass für vernünftige Zweifel kein Raum bleibt ("acte claire"; vgl. EuGH, Urteil vom 9. September 2015, van Dijk, C-72/14 und C-197/14, EU:C:2015:564 Rn. 55 ff.; BGH, Urteil vom 30. November 2022 - IV ZR 143/21, NJW-RR 2023, 177 Rn. 24 mwN).b) Die Voraussetzungen des Art. 26 Abs. 1 EuGVVO sind erfüllt.aa) Die internationale Zuständigkeit ergibt sich nicht bereits aus anderen Vorschriften der Verordnung, insbesondere ist Art. 7 Nr. 2 EuGVVO nicht einschlägig, weil die Beklagten ihren Wohnsitz nicht in einem Mitgliedstaat haben; die ausschließliche Zuständigkeit eines anderen Gerichts gemäß Art. 24 EuGVVO besteht ebenfalls nicht.bb) Die Beklagten haben sich auf das Verfahren eingelassen. Von einer Einlassung auf das Verfahren ist auszugehen, wenn die Zuständigkeitsrüge nicht spätestens in der Stellungnahme erhoben wird, die nach dem innerstaatlichen Prozessrecht als das erste Verteidigungsvorbringen vor dem angerufenen Gericht anzusehen ist (vgl. BGH, Urteil vom 19. Mai 2015 - XI ZR 27/14, WM 2015, 1381 Rn. 17 mwN). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist es zudem erforderlich, die Rüge in der Rechtsmittelinstanz rechtzeitig zu wiederholen (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juli 2018 - I ZR 226/14, WRP 2019, 82 Rn. 27 mwN). Da es sich bei der internationalen Zuständigkeit um eine von Amts wegen zu prüfende Prozessvoraussetzung handelt, kann der Senat in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht ohne Bindung an die Feststellungen des Berufungsgerichts prüfen und würdigen, ob nach diesem Maßstab eine Zuständigkeitsrüge rechtzeitig erhoben wurde (vgl. BGH, Urteil vom 10. Februar 2021 - KZR 66/17, WM 2022, 1551 Rn. 30 mwN zu einer Gerichtsstandsvereinbarung).Dies ist nicht der Fall. Dabei kann dahinstehen, ob die von den Beklagten in erster Instanz erhobene Rüge der örtlichen Unzuständigkeit zugleich eine Rüge nach Art. 26 Abs. 1 Satz 2 EuGVVO darstellt (vgl. dazu BGH, Urteil vom 1. Juni 2005 - VIII ZR 256/04, IPRax 2006, 594, 595). Denn die Beklagten haben sich jedenfalls mit der Berufungserwiderung auf das Verfahren eingelassen, ohne die internationale Zuständigkeit (erneut) infrage zu stellen; ihre pauschale Bezugnahme auf das Vorbringen in der ersten Instanz ist für eine Wiederholung der Rüge jedenfalls nicht ausreichend (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juli 2018 - I ZR 226/14, aaO). Zu der Erweiterung des Klageantrags haben sich die Beklagten in dem ersten Erwiderungsschriftsatz ebenfalls eingelassen, ohne die Zuständigkeit des Gerichts zu rügen, so dass es nicht darauf ankommt, ob eine Zuständigkeitsrüge insoweit überhaupt möglich war (vgl. dazu Musielak/Voit/Stadler, ZPO, 19. Aufl., Art. 26 EuGVVO Rn. 1a mwN).2. Das Berufungsgericht sieht die Klage zu Recht als unbegründet an.a) Zutreffend und von der Revision nicht beanstandet beurteilt das Berufungsgericht die von dem Kläger geltend gemachten Ansprüche nach deutschem Recht.aa) Soweit die Klage auf eine Eigentumsverletzung gestützt wird, folgt die Anwendbarkeit des deutschen Rechts - was im Ergebnis offenbleiben kann - entweder aus Art. 4 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (nachfolgend: Rom II-VO) oder aus Art. 43 Abs. 1 EGBGB.(1) Nach den maßgeblichen Vorschriften der Rom II-VO wäre vorliegend deutsches Recht anwendbar.(a) Der Anwendungsbereich der Rom II-VO ist nach deren Art. 1 Abs. 1 Satz 1 grundsätzlich eröffnet, da die Beklagten ihren Wohnsitz nicht in Deutschland haben und die Sache deshalb eine Verbindung zum Recht verschiedener Staaten, die nicht sämtlich Mitgliedstaaten der Europäischen Union sein müssen (vgl. BGH, Urteil vom 9. August 2022 - VI ZR 1244/20, ZIP 2022, 2548 Rn. 17), aufweist.(b) Nach Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO ist auf ein außervertragliches Schuldverhältnis aus unerlaubter Handlung grundsätzlich das Recht des Staates anzuwenden, in dem der Schaden eintritt, unabhängig davon, in welchem Staat das schadensbegründende Ereignis oder indirekte Schadensfolgen eingetreten sind. Dies führt zur Anwendung des deutschen Sachrechts.(aa) Der Bundesgerichtshof hat zur internationalen Zuständigkeit nach Art. 5 Nr. 3 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 (jetzt: Art. 7 Nr. 2 EuGVVO) entschieden, dass der Begriff der unerlaubten Handlung aufgrund seiner autonomen Auslegung die nach deutschem Recht als dinglich zu qualifizierende Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche gemäß § 1004 BGB erfasst (vgl. Senat, Urteil vom 18. Juli 2008 - V ZR 11/08, NJW 2008, 3502 Rn. 11; BGH, Urteil vom 24. Oktober 2005 - II ZR 329/03, NJW 2006, 689 Rn. 6 f.). Ob dies gleichermaßen für die Bestimmung des anwendbaren Rechts gemäß Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO gilt, ist bislang nicht höchstrichterlich entschieden (dafür etwa Jayme, IPRax 2020, 544, 546).(bb) Findet die Regelung Anwendung, dann ist an den Erfolgsort anzuknüpfen, also den Ort, an dem der erste Verletzungserfolg im Hinblick auf den Geschädigten eingetreten ist; dabei kommt es auf den vom Kläger behaupteten Schadenserfolg an (vgl. BGH, Urteil vom 8. Februar 2018 - IX ZR 103/17, BGHZ 217, 300 Rn. 83 f.). Danach wäre deutsches Recht anzuwenden, weil sich der Kläger durch das Verhalten der Beklagten in seinem Eigentum an dem Gemälde gestört sieht, das sich bei ihm in Deutschland befindet.(2) Sollten Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche gemäß § 1004 BGB hingegen nicht unter Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO fallen, fände, weil der Anspruch auf das Eigentum an einer Sache gestützt wird, die Vorschrift des Art. 43 Abs. 1 EGBGB Anwendung (vgl. etwa BeckOGK/Spohnheimer, BGB [1.5.2023], § 1004 Rn. 327; BeckOGK/Prütting/A. Zimmermann, EGBGB [1.12.2022], Art. 43 Rn. 127 ff.; MüKoBGB/Raff, 9. Aufl., § 1004 Rn. 305; Staudinger/Thole, BGB [1.7.2022], § 1004 Rn. 621). Nach dieser Vorschrift unterliegen Rechte an einer Sache dem Recht des Staates, in dem sich die Sache befindet. Damit wäre hier ebenfalls deutsches Recht anwendbar.bb) Für das von der Revision durch die Suchmeldung ebenfalls als verletzt angesehene Allgemeine Persönlichkeitsrecht ist der Anwendungsbereich der Rom II-Verordnung nach deren Art. 1 Abs. 2 lit. g nicht eröffnet. Der Persönlichkeitsschutz und die sich daraus herleitenden Ansprüche unterfallen Art. 40 EGBGB (vgl. BGH, Urteil vom 24. Juli 2018 - VI ZR 330/17, ZIP 2019, 1172 Rn. 27 mwN), so dass sich die Anwendbarkeit des deutschen Rechts aus der ebenfalls an den Erfolgsort anknüpfenden Regelung in Art. 40 Abs. 1 Satz 2 EGBGB ergibt.b) Frei von Rechtsfehlern verneint das Berufungsgericht einen Anspruch des Klägers aus § 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB auf die mit dem Hauptantrag verlangte Unterlassung. Die Beklagten haben sich nicht des Eigentums an dem Gemälde des Klägers berühmt, so dass eine mit der Unterlassungsklage abzuwehrende (künftige) Eigentumsanmaßung nicht zu besorgen ist.aa) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs stellt die Anmaßung fremden Eigentums eine Eigentumsbeeinträchtigung dar, die der wahre Eigentümer nicht hinzunehmen braucht und, sofern derartige die dingliche Rechtslage falsch darstellende Äußerungen gegenüber Dritten fallen, mit einer auf § 1004 Abs. 1 BGB gestützten Klage abwehren kann (vgl. BGH, Urteil vom 24. Oktober 2005 - II ZR 329/03, NJW 2006, 689 Rn. 13). Ob ein Verhalten als Eigentumsanmaßung anzusehen ist, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab und ist daher eine Frage der tatrichterlichen Würdigung. Diese ist revisionsrechtlich nur darauf überprüfbar, ob der Tatrichter wesentliche Umstände übersehen oder nicht vollständig gewürdigt, Denkgesetze oder Erfahrungssätze verletzt oder von der Revision gerügte Verfahrensfehler begangen hat (vgl. Senat, Urteil vom 16. April 2021 - V ZR 17/20, NJW 2021, 3060 Rn. 8 mwN). Ein solcher Fehler liegt hier nicht vor.bb) Die Beurteilung des Berufungsgerichts, mit der Suchmeldung des Gemäldes auf der Internetseite der Lost Art-Datenbank und der Fahndung über Interpol werde ohne gegenwärtige Eigentumsanmaßung lediglich an das früher bestehende Eigentum des Dr. Max Stern angeknüpft, ist nicht zu beanstanden.(1) Die Lost Art-Datenbank dient der Umsetzung der völkerrechtlich nicht bindenden sog. Washingtoner Erklärung aus dem Jahr 1998 über den Umgang mit während der NS-Zeit abhanden gekommenen Kunstwerken sowie der dazu ergangenen Gemeinsamen Erklärung von Bundesregierung, Ländern und kommunalen Spitzenverbänden vom Dezember 1999 (vgl. dazu Heidt, Restitutionsbegehren bei NS-Raubkunst, 2017, S. 26 f.). Die früheren Eigentümer bzw. die Erben NS-verfolgungsbedingt entzogener Kulturgüter sollen ausfindig gemacht werden, um mit diesen eine gerechte und faire Lösung zu erzielen. Auf der Grundlage, dass die Restitution und Entschädigung in Deutschland im Rückerstattungsrecht und den allgemeinen zivilrechtlichen Vorschriften abschließend geregelt ist, wird in der Gemeinsamen Erklärung vom Dezember 1999 öffentlichen Einrichtungen wie Museen, Archiven und Bibliotheken unabhängig von dem Bestehen oder der Durchsetzbarkeit etwaiger Ansprüche empfohlen, NS-verfolgungsbedingt entzogene Kulturgüter an die früheren Eigentümer bzw. deren Erben zurückzugeben oder eine anderweitige Wiedergutmachung vorzunehmen; Privatpersonen werden aufgefordert, sich den Grundsätzen und Verfahrensweisen anzuschließen. Rechtsansprüche auf eine Rückerstattung werden indes durch keine der beiden Erklärungen begründet (vgl. etwa Wasmuth, NJW 2014, 747, 751).Zweck der Veröffentlichung auf der Internetseite der Lost Art-Datenbank ist es, die früheren Eigentümer bzw. deren Erben sowie die heutigen Besitzer eines Kulturgutes zusammen zu bringen und diese bei der Erarbeitung einer gerechten und fairen Lösung im Sinne der Washingtoner Erklärung zu unterstützen (vgl. BVerwGE 151, 228 Rn. 31 f.). Hiervon ausgehend nimmt das Berufungsgericht zu Recht an, dass mit der Suchmeldung lediglich auf das frühere Eigentum an dem Kunstwerk und die Umstände des Verlustes Bezug genommen wird; eine Aussage über das gegenwärtig bestehende Eigentum oder etwaige daran anknüpfende Ansprüche ist damit weder verbunden noch beabsichtigt (vgl. auch BVerwGE 151, 228 Rn. 41; Jayme, IPRax 2020, 544, 547; ders. in Festschrift Ebke, 2021, S. 453, 457).(2) Eine andere Betrachtung ist entgegen der Ansicht der Revision auch nicht hinsichtlich der Eintragung des Gemäldes in der Fahndungsdatenbank von Interpol geboten.(a) Allerdings ist mangels entgegenstehender Feststellungen des Berufungsgerichts zugunsten des Klägers für das Revisionsverfahren zu unterstellen, dass die Interpol-Fahndung durch die Beklagten veranlasst wurde. Zudem ist davon auszugehen, dass - was die Beklagten in der mündlichen Revisionsverhandlung auch nicht in Abrede gestellt haben - dem Kläger polizeiliche Maßnahmen bis hin zu einer Beschlagnahme des Gemäldes drohen, falls er dieses in die Vereinigten Staaten von Amerika oder nach Kanada verbringen sollte. Das Berufungsgericht schließt lediglich aus, dass der Kläger derzeit in Deutschland aufgrund der Interpol-Fahndung polizeiliche Maßnahmen zu befürchten hat.(b) Gleichwohl stellt die Meldung bei Interpol keine Eigentumsanmaßung durch die Beklagten dar. Inhalt der Eintragung in der Datenbank ist ausweislich des von dem Kläger vorgelegten und von dem Berufungsgericht in Bezug genommenen Auszugs aus der Datenbank lediglich das Abhandenkommen des Gemäldes am 13. November 1937 in Düsseldorf mit dem Zusatz "Type of event: theft". Auch mit dieser Meldung wird folglich nur an das frühere Eigentum von Dr. Stern angeknüpft, ohne dass hiermit eine Aussage darüber verbunden wäre, dass sich die Beklagten nach heutiger Rechtslage als Eigentümer des Gemäldes ansehen und darstellen. Auch die Verwendung des Begriffes "theft" (Diebstahl) ändert hieran nichts.(c) Als Eigentumsanmaßung ist die Meldung auch nicht deshalb anzusehen, weil der Kläger bei einer Verbringung des Gemäldes nach Kanada oder in die Vereinigten Staaten von Amerika polizeiliche Maßnahmen zu befürchten hätte, die ihn in der Verfügungsgewalt über das Gemälde einschränken würden. Denn insoweit handelt es sich lediglich um eine Folge des Umstandes, dass die Rechtsordnungen einzelner Staaten an das Abhandenkommen von Kulturgütern und spätere Erwerbsvorgänge unterschiedliche Rechtsfolgen knüpfen. So sollen nach Darstellung in der Literatur zum einen in den Vereinigten Staaten die Begriffe "theft" und "stolen" wesentlich weiter verstanden werden als die Begriffe Diebstahl (§ 242 StGB) und Abhandenkommen (§ 935 BGB) im deutschen Recht, und namentlich auch Vorgänge erfassen, die nach deutschem Verständnis als freiwillige Besitzaufgabe anzusehen wären. Zum anderen soll es selbst bei einer Vielzahl von Erwerbsakten über Jahrzehnte hinweg - anders als nach deutschem Recht (vgl. § 937 BGB) - für niemanden in der Erwerbskette möglich sein, an einem in diesem Sinne "gestohlenen" Kunstgegenstand Eigentum zu erwerben (vgl. zum Ganzen Rapp, NS-Raubkunst vor amerikanischen Gerichten, 2021, S. 40 f.; zur "Klägerfreundlichkeit" der US-amerikanischen Gerichte bei Restitutionsstreitigkeiten S. 70 ff. mwN; vgl. auch OLG Köln, NJOZ 2017, 994 Rn. 28 ff.). Selbst wenn sich die Beklagten diesen Umstand bewusst zunutze gemacht hätten, stellte ihre Meldung keine Eigentumsanmaßung dar, weil sie lediglich (wahre) Tatsachen zu Vorgängen aus dem Jahre 1937 enthält und die rechtliche Bewertung dieser Vorgänge den Behörden - bzw. gegebenenfalls den Gerichten - überlassen wird. Ob in der Fahndungsmeldung eine Eigentumsanmaßung liegen könnte, wenn auch nach amerikanischem und kanadischem Recht völlig ausgeschlossen wäre, dass die Beklagten als Eigentümer des Gemäldes anzusehen sind, kann dahinstehen. Denn dies ist nach dem soeben Gesagten nicht der Fall.c) Dem Kläger steht auch der mit dem Hilfsantrag geltend gemachte Anspruch auf Beantragung der Löschung der Suchmeldung des Gemäldes in der Lost Art-Datenbank nicht zu.aa) Zu Recht verneint das Berufungsgericht einen Beseitigungsanspruch gemäß § 1004 Abs. 1 Satz 1 BGB. Die auf wahren Tatsachen beruhende Suchmeldung eines Kulturgutes auf der Internetseite der Lost Art-Datenbank stellt keine Eigentumsbeeinträchtigung i.S.v. § 1004 Abs. 1 BGB dar und begründet daher keinen auf Beantragung der Löschung gerichteten Anspruch des gegenwärtigen Eigentümers gegen den Veranlasser der Meldung.(1) Richtig ist zunächst der Ausgangspunkt des Berufungsgerichts. Die Ansprüche gemäß § 1004 Abs. 1 BGB dienen dem Schutz des Eigentümers vor Beeinträchtigungen der Befugnis aus § 903 BGB, mit der Sache nach Belieben zu verfahren und andere von jeder Einwirkung auszuschließen. Die Rechte aus dem Eigentum haben nur insoweit zurückzutreten, als das Gesetz oder Rechte Dritter der Ausübung der Rechte aus dem Eigentum entgegenstehen (§ 903 Satz 1, §§ 1004, 986 Abs. 1 BGB; vgl. Senat, Urteil vom 16. April 2010 - V ZR 171/09, NJW 2010, 1808 Rn. 7).(2) Hiervon ausgehend nimmt das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei an, dass die Veröffentlichung einer Suchmeldung in der Lost Art-Datenbank die Ausschließungsbefugnis des Eigentümers nicht berührt, weil die Eigentumszuordnung nicht infrage gestellt wird (s.o. Rn. 29 ff.). Auch die Verfügungsbefugnis wird jedenfalls in rechtlicher Hinsicht nicht eingeschränkt (vgl. auch BVerwGE 151, 228 Rn. 41). Richtig ist auch, dass eine auf wahren Tatsachen beruhende sachliche Information über den Verdacht des NS-verfolgungsbedingten Verlustes eines Kulturgutes die Rechte aus dem Eigentum gemäß § 903 Satz 1 BGB schon deshalb nicht beeinträchtigt, weil der Betroffene die Behauptung und Verbreitung wahrer Tatsachen in der Regel hinzunehmen hat, auch wenn dies für ihn nachteilig ist (Art. 5 Abs. 1 GG; vgl. etwa BVerfG, NJW-RR 2010, 470 Rn. 62). Das berechtigte und mit der Gemeinsamen Erklärung von Bundesregierung, Ländern und kommunalen Spitzenverbänden vom Dezember 1999 zur Umsetzung der Washingtoner Erklärung (https://www.kulturgutverluste.de/Webs/DE/Stiftung/Grundlagen/Gemeinsame-Erklaerung/Index.html, zuletzt abgerufen am 30. Mai 2023) anerkannte Interesse früherer Eigentümer von Kulturgut bzw. ihrer Rechtsnachfolger sowie das allgemeine öffentliche Interesse an der Provenienz NS-verfolgungsbedingt entzogener Kulturgüter überwiegen jedenfalls ein in der Regel allein auf wirtschaftlichen Erwägungen beruhendes Interesse des gegenwärtigen Eigentümers an der Geheimhaltung solcher Tatsachen.(3) Ob eine Eigentumsbeeinträchtigung anzunehmen ist, wenn in Bezug auf die Sache unwahre marktrelevante Tatsachen behauptet bzw. wertbildende Faktoren falsch dargestellt werden (so etwa MüKoBGB/Wagner, 8. Aufl., § 823 Rn. 268; Staudinger/Hager, BGB [2017], § 823 Rn. B 78; Larenz/Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts II 2, 13. Aufl., § 76 II 3 d; Jayme, IPrax 2020, 544, 547), ist fraglich. Die Veröffentlichung einer Suchmeldung schränkt zwar die Marktfähigkeit bzw. Marktgängigkeit des Kulturgutes ein, wodurch es zu einer nachteiligen Wertbeeinflussung kommt (vgl. Elmenhorst/Wiese, KGSG, § 44 Rn. 15; Elmenhorst/Heimann, NJW 2016, 3398, 3403). Die Schmälerung der Gewinnerwartung aus einem Verkauf betrifft den Eigentümer des Kulturgutes aber in seinen Vermögensinteressen. Diese werden nicht durch die dinglichen Abwehransprüche des Eigentümers aus § 1004 Abs. 1 BGB, sondern allenfalls durch § 823 Abs. 1 (unter dem Gesichtspunkt des Schutzes des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs), § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 185 ff. StGB bzw. §§ 824, 826 BGB, § 4 Nr. 2 UWG bzw. daran anknüpfende quasi-negatorische Ansprüche geschützt.(4) Die Frage, ob unwahre Tatsachenbehauptungen in Bezug auf eine Sache eine Eigentumsbeeinträchtigung darstellen können, bedarf hier keiner abschließenden Entscheidung. Denn dem Kläger geht es nicht um die Abwehr unzutreffender Tatsachenbehauptungen über das Gemälde. Er wehrt sich dagegen, dass mit der Veröffentlichung aus seiner Sicht zu Unrecht verbreitet wird, es bestehe jedenfalls die Vermutung, das Gemälde sei einem früheren Eigentümer NS-verfolgungsbedingt entzogen worden. Diese Vermutung ist jedoch im Sinne des § 44 Satz 1 Nr. 1 des Kulturgutschutzgesetzes vom 31. Juli 2016 (BGBl I S. 1914 ff.; nachfolgend: KGSG) wegen der Umstände des Verkaufs im Jahr 1937 begründet. Diese sind, jedenfalls soweit sie die Grundlage der Vermutung darstellen, vom Berufungsgericht rechtsfehlerfrei festgestellt und werden auch von dem Kläger nicht infrage gestellt.(a) Die Regelung in § 44 Satz 1 Nr. 1 KGSG ergänzt die bei einem gewerblichen Inverkehrbringen von Kulturgut bestehenden Sorgfaltspflichten gemäß § 42 Abs. 1 KGSG, wonach der gewerbliche Kunsthandel u.a. die Provenienz des Kulturgutes (§ 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 KGSG) und die Eintragung in öffentlich zugänglichen Verzeichnissen und Datenbanken (§ 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 KGSG) zu prüfen hat. Diese Pflichten sind grundsätzlich nach Maßgabe des zumutbaren (wirtschaftlichen) Aufwandes zu erfüllen (§ 42 Abs. 1 Satz 3 KGSG). Ist allerdings gemäß § 44 Satz 1 Nr. 1 KGSG nachgewiesen oder zu vermuten, dass das Kulturgut zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 aufgrund der Verfolgung durch den Nationalsozialismus entzogen worden ist, besteht grundsätzlich ein erhöhter Recherchebedarf zur Herkunftsgeschichte und Provenienz; es kommt dann nicht auf die wirtschaftliche Zumutbarkeit des Aufwandes der Recherche an (vgl. BT-Drucks. 18/7456 S. 100). Ausgenommen von der erhöhten Sorgfaltspflicht ist lediglich solches Kulturgut, das an seinen ursprünglichen Eigentümer oder dessen Erben zurückgegeben oder zu dem eine andere abschließende Regelung im Hinblick auf den Entzug getroffen worden ist.(b) Für die Frage, wann ein NS-verfolgungsbedingter Entzug vermutet wird, kann auf die von der Provenienzforschung entwickelten Grundsätze zurückgegriffen werden, wie sie in der Handreichung zur Umsetzung der "Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz" vom Dezember 1999 (Neufassung 2019, herausgegeben von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien; nachfolgend: Handreichung) und dem Leitfaden Provenienzforschung (herausgegeben von dem Deutschen Zentrum Kulturgutverluste gemeinsam mit verschiedenen Institutionen und Organisationen aus dem Bereich der Provenienzforschung, nachfolgend: Leitfaden) zusammengefasst sind (vgl. Elmenhorst/Wiese, KGSG, § 44 Rn. 7; von der Decken/Fechner/Weller, KGSG, § 44 Rn. 10). Danach besteht in Anlehnung an die Rückerstattungsregelungen in den früheren Besatzungszonen (vgl. dazu Heidt, Restitutionsbegehren bei NS-Raubkunst, 2017, S. 39 f.) bei Vermögensverlusten von NS-Verfolgten aufgrund eines Rechtsgeschäfts (Kauf, Tausch, Schenkung) im Zeitraum vom 30. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945 die tatsächliche Vermutung, dass es sich um eine ungerechtfertigte Entziehung von Kulturgut handelt; für jüdische Geschädigte gilt zudem für die Zeit ab dem 30. Januar 1933 die Vermutung der Kollektivverfolgung (vgl. Handreichung, S. 34 f.; Leitfaden, S. 105 f.; Heidt, Restitutionsbegehren bei NS-Raubkunst, 2017, S. 43; vgl. auch BVerwG, DtZ 1997, 71, 72).(c) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze wird ein früherer NS-verfolgungsbedingter Entzug des im Eigentum des Klägers stehenden Gemäldes bereits aufgrund des Verkaufs im Jahr 1937 i.S.d. § 44 Satz 1 Nr. 1 KGSG vermutet mit der Folge erhöhter Sorgfaltspflichten; die individuelle NS-Verfolgung des früheren Besitzers Dr. Max Stern, der gemäß § 1006 Abs. 1 Satz 1 BGB als damaliger Eigentümer anzusehen ist, ist offensichtlich und wird von dem Kläger nicht infrage gestellt. Die Veröffentlichung der Suchmeldung in der Lost Art-Datenbank macht damit lediglich publik, was aufgrund der bekannten Umstände des Verkaufs des Gemäldes im Jahr 1937 ohnehin vermutet wird und - jedenfalls im Fall eines gewerblichen Inverkehrbringens - näherer Aufklärung bedarf. Zutreffend nimmt das Berufungsgericht daher an, dass der wertbeeinflussende Makel des Gemäldes nicht erst durch die Veröffentlichung der Suchmeldung begründet wird. Dabei kommt es noch nicht einmal darauf an, ob - wie das Berufungsgericht meint und wofür vieles spricht - den Kläger zudem im Falle des Verkaufs auch ohne Eintragung in der Lost Art-Datenbank eine Offenbarungspflicht hinsichtlich der bemakelten Provenienz träfe.(d) Eine andere Betrachtung ist auch nicht gerechtfertigt, soweit sich der Kläger darauf beruft, das Gemälde sei bereits unmittelbar nach dem Krieg nicht rückerstattungsfähig gewesen. Es ist zwar zutreffend, dass nach den Rückerstattungsregelungen in der US-amerikanischen und britischen Besatzungszone sowie im Großraum Berlin bewegliche Gegenstände, die im Wege eines ordnungsgemäßen Geschäftsverkehrs aus einem einschlägigen Unternehmen erworben worden sind, grundsätzlich nicht der Rückerstattung unterlagen (vgl. dazu Heidt, Restitutionsbegehren bei NS-Raubkunst, 2017, S. 46, 53 und 56). Darauf kommt es aber schon deshalb nicht an, weil die in den Rückerstattungsgesetzen der einzelnen Besatzungszonen geregelten Ausnahmetatbestände (vgl. Art. 15 des britischen bzw. Art. 19 des US-amerikanischen Rückerstattungsgesetzes [jeweils Gesetz Nr. 59, Rückerstattung feststellbarer Vermögensgegenstände an Opfer der nationalsozialistischen Unterdrückungsmaßnahmen] sowie Art. 16 der Rückerstattungsanordnung für den Großraum Berlin [Anordnung BK/O [49] 180]) keine Aussage zu der Vermutung des verfolgungsbedingten Entzugs enthalten. Es sollte lediglich den normalen geschäftlichen Bedürfnissen Rechnung getragen werden, nach denen der Käufer regelmäßig keine Überlegungen dazu angestellt hatte, wie die Waren vom Inhaber eines einschlägigen Unternehmens erworben worden waren; lagen die Voraussetzungen - was hier schon im Hinblick auf die in den Regelungen enthaltenen Rückausnahmen für Kunstwerke zweifelhaft ist - vor, war zwar eine Rückgabe, nicht aber eine sonstige Entschädigung ausgeschlossen (vgl. Harmening/Hartenstein/Osthoff, Rückerstattungsgesetz, 2. Aufl., 1952, Art. 15 Bl. Nr. 100 Rs.).(e) Nach den Grundsätzen der Provenienzforschung kann die Vermutung dagegen durch den Nachweis widerlegt werden, dass der Veräußerer einen angemessenen Kaufpreis erhalten hat und über diesen frei verfügen konnte; bei Veräußerungen nach dem 15. September 1935 ist zudem nachzuweisen, dass das Rechtsgeschäft seinem wesentlichen Inhalt nach auch ohne die Herrschaft des Nationalsozialismus stattgefunden hätte oder die Wahrung der Vermögensinteressen des Verfolgten in besonderer Weise und mit wesentlichem Erfolg vorgenommen wurde (vgl. Handreichung, S. 38 f.; Leitfaden, S. 106).Sollte der Kläger - etwa durch ein Sachverständigengutachten zur Provenienz - diesen Nachweis erbringen können, könnte das zwar dazu führen, dass die Vermutung in tatsächlicher Hinsicht widerlegt wäre, so dass die erhöhten Sorgfaltspflichten nach § 44 Satz 1 Nr. 1 KGSG entfielen. Das könnte ggf. auch dazu führen, dass der Zweck der Veröffentlichung in der Lost Art-Datenbank nachträglich wegfiele. Selbst dann läge aber in der Aufrechterhaltung der Suchmeldung keine Beeinträchtigung des Eigentums des Klägers an dem Gemälde durch die Beklagten (hierzu sogleich).(5) Anders als die Revision meint, kann eine Eigentumsbeeinträchtigung nicht mit der Begründung bejaht werden, die Aufrechterhaltung der Suchmeldung in der Lost Art-Datenbank führe zu einem rechtswidrigen Zustand.(a) Richtig ist daran, dass Eintragungen und Meldungen zu Kulturgütern in der Lost Art-Datenbank staatliches Informationshandeln darstellen (vgl. Papier, in Interessengemeinschaft Deutscher Kunsthandel [Hrsg.], Fair und gerecht - Restitution und Provenienz im Kunstmarkt, 2021, S. 79, 85) und deshalb nach einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zu der damals noch von einer Arbeitsgruppe (sog. Koordinierungsstelle) bei dem Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt betriebenen Lost Art-Datenbank ein im verwaltungsgerichtlichen Verfahren durchzusetzender öffentlich-rechtlicher Folgenbeseitigungsanspruch in Betracht kommt, wenn sich die Aufrechterhaltung der Suchmeldung nicht (mehr) im Rahmen des Widmungszwecks der Datenbank hält und mit höherrangigem Recht, insbesondere den Grundrechten nicht zu vereinbaren ist (vgl. BVerwGE 151, 228 Rn. 28 ff.). Eine Überschreitung des Widmungszwecks erscheint hinsichtlich der in Rede stehenden Datenbank-Eintragung zumindest denkbar, weil - anders als in dem von dem Bundesverwaltungsgericht entschiedenen Fall (vgl. BVerwGE 151, 228 Rn. 39) - die Frage, wem das Eigentum an dem Gemälde zusteht, jedenfalls nach deutschem Recht geklärt und die Einigung zwischen den Parteien, die die Datenbank befördern soll, nicht zustande gekommen ist.Allerdings ist, nachdem die Datenbank inzwischen durch eine Stiftung bürgerlichen Rechts betrieben wird, umstritten, ob Veröffentlichungen in der Datenbank weiterhin öffentlich-rechtlich zu beurteilen sind und somit der Verwaltungsrechtsweg eröffnet ist (so VG Magdeburg, KUR 2022, 69, 72), oder ob über Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Einstellung von Werken mit Verdacht auf NS-Raubkunst in die Datenbank nunmehr die Zivilgerichte zu entscheiden haben (so Dörig, jM 2015, 252, 254). Sollte letzteres zutreffen, würde sich die Frage stellen, ob und inwieweit die öffentlich-rechtlichen Bindungen, denen der Staat bei seinem Informationshandeln unterworfen ist, auch die die Datenbank in Privatrechtsform betreibende Stiftung treffen und dazu führen, dass diese zivilrechtlich zur Löschung eines Eintrags verpflichtet ist, wenn der Widmungszweck der Datenbank die Aufrechterhaltung des Eintrags nicht (mehr) rechtfertigt (vgl. allgemein zu den Grundsätzen des sog. Verwaltungsprivatrechts Senat, Urteil vom 21. September 2018 - V ZR 68/17, NZM 2019, 380 Rn. 42 mwN; zur Grundrechtsbindung siehe auch BVerfGE 128, 226 Rn. 46 ff.).All dies bedarf hier aber keiner Klärung. Denn selbst wenn die Überschreitung des Widmungszwecks der Datenbank durch die Eintragung einer Suchmeldung bezüglich eines Kunstwerks einen Löschungsanspruch des Eigentümers zur Folge hätte, könnte sich dieser - gleich ob der Anspruch öffentlich-rechtlicher oder privatrechtlicher Natur ist - nur gegen die Stiftung als Betreiberin der Datenbank richten, nicht aber gegen die Beklagten als bloße Veranlasser der Meldung, die lediglich das Angebot der Datenbank wahrnehmen. Wenn der Staat eine Internetdatenbank einrichtet, in der Such- und Fundmeldungen von Privatpersonen zu Kulturgütern veröffentlicht werden, dann ist er bzw. die von ihm als Betreiberin der Datenbank errichtete Stiftung dafür verantwortlich, dass sich die veröffentlichte Meldung innerhalb der Grenzen hält, die das öffentliche Recht und namentlich die Grundrechte - hier der Eigentümer der betroffenen Gemälde - dem staatlichen Informationshandeln ziehen. Es ist Sache der Betreiberin der Datenbank zu entscheiden, ob sie eine Meldung veröffentlicht und ob bzw. wann sie sie wieder löscht. Es liegt in ihrer Verantwortung, die fortdauernde Einhaltung des Zwecks der Veröffentlichung zu überwachen und sicherzustellen, dass die Aufrechterhaltung der Veröffentlichung gegenüber dem Eigentümer des Kunstwerks weiterhin zu rechtfertigen ist. Wird durch die Aufrechterhaltung einer Meldung das Eigentum an einem Kunstwerk beeinträchtigt, dann trifft die Verantwortung hierfür folglich allein die Stiftung. Ob hier eine solche Eigentumsbeeinträchtigung vorliegt, bedarf keiner Entscheidung, weil sich die Klage gegen die Beklagten als Veranlasser der Meldung richtet.(b) Zur Begründung des Beseitigungsanspruchs kann sich der Kläger auch nicht, was das Berufungsgericht erwogen hat, auf die "Grundsätze der Eintragung und Löschung von Meldungen in die Lost Art-Datenbank" berufen. Danach werden Suchmeldungen von der die Datenbank betreibenden Stiftung zwar u.a. dann gelöscht, wenn die Meldung nicht entsprechend dem Zweck der Datenbank erfolgt ist oder wenn die Plausibilität der Meldung nach Eintragung durch neue Erkenntnisse entfällt. Bei diesen Grundsätzen handelt es sich aber um bloße stiftungsinterne Regeln (vgl. Jayme in Festschrift Ebke, 2021, S. 453, 457), die den Kläger nicht direkt begünstigen. Es ist auch nichts dafür ersichtlich und die Revision zeigt keinen Vortrag dazu auf, dass der Kläger in den Schutzbereich einer etwa zwischen den Beklagten und der Stiftung bestehenden vertraglichen Vereinbarung einbezogen wäre. Ob die Suchmeldung dem Zweck der Datenbank entspricht, ist - wie dargelegt - allein im Verhältnis zwischen dem Kläger und der Stiftung als Betreiberin der Datenbank, nicht aber im Verhältnis zwischen dem Kläger und den Beklagten von Belang.bb) Ein Anspruch des Klägers entsprechend § 1004 Abs. 1 Satz 1, § 823 Abs. 1 BGB wegen Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK) besteht ebenfalls nicht. Denn die Veröffentlichung der Suchmeldung enthält bereits keine personenbezogenen Daten des Klägers (vgl. auch BVerwGE 151, 228 Rn. 34).III.Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.BrücknerHaberkampHamdorfMalikLaube
bundesgerichtshof
bgh_053-2020
08.05.2020
Bundesgerichtshof bestätigt Verurteilung wegen Totschlags beim Chemnitzer Stadtfest Ausgabejahr 2020 Erscheinungsdatum 08.05.2020 Nr. 053/2020 Beschluss vom 14. April 2020 - 5 StR 14/20 Das Landgericht Chemnitz hat den Angeklagten wegen Totschlags und gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren und sechs Monaten verurteilt. Nach den Urteilsfeststellungen erstach der Angeklagte in der Nacht vom 25. auf den 26. August 2018 während des Chemnitzer Stadtfestes gemeinsam mit einem auf der Flucht befindlichen Mittäter einen ihm unbekannten Mann, der mit dem Mittäter zuvor in Streit geraten war. Anschließend verletzte der Angeklagte einen weiteren Geschädigten durch einen Messerstich in den Rücken. Der 5. (Leipziger) Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat die Revision des Angeklagten verworfen. Die Überprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Insbesondere hat der Bundesgerichtshof die Beweiswürdigung zu der zentralen Frage, ob der bestreitende Angeklagte der Täter war, als rechtsfehlerfrei angesehen. Die Ausführungen des Landgerichts dazu sind weder lückenhaft, noch unklar oder widersprüchlich, sie verstoßen nicht gegen Denkgesetze oder gesichertes Erfahrungswissen. Die Beweiswürdigung entfernt sich auch nicht so weit von einer Tatsachengrundlage, dass sich die gezogenen Schlussfolgerungen letztlich als reine Vermutung erweisen. Das Landgericht hat seine Überzeugungsbildung von der Täterschaft des Angeklagten vielmehr auf eine Vielzahl von ineinandergreifenden Zeugenaussagen und objektiven Befunden gestützt, sich mit allen für und gegen den Angeklagten sprechenden Gesichtspunkten beschäftigt und daraus naheliegende Schlüsse gezogen. Im Zusammenhang mit Verfahrensrügen hat der Bundesgerichtshof u.a. entschieden, dass die Mitglieder des Gerichts im vorliegenden Fall nicht dazu verpflichtet waren, von der Verteidigung vorgelegte "Fragenkataloge" zur Erforschung etwaiger sie betreffender Befangenheitsgründe zu beantworten. Die Verurteilung ist damit rechtskräftig. Vorinstanz: Landgericht Chemnitz, Urteil vom 22. August 2019 – 1 Ks 210 Js 27835/18 Karlsruhe, den 8. Mai 2020 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Beschluss des 5. Strafsenats vom 14.4.2020 - 5 StR 14/20 -
Tenor Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Chemnitz vom 22. August 2019 wird verworfen.Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels und die den Nebenklägern hierdurch im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen. Gründe Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags und wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren und sechs Monaten verurteilt. Seine hiergegen mit Verfahrensbeanstandungen und der Sachrüge geführte Revision ist unbegründet.I.Das Landgericht hat Folgendes festgestellt:Der Angeklagte war in der Nacht vom 25. zum 26. August 2018 in der C. Innenstadt unterwegs, wo das Stadtfest gefeiert wurde. Gegen 3 Uhr morgens bestellte er sich in einem Imbiss bei dem Zeugen A. einen Döner. Während er auf dessen Fertigstellung wartete, war vor der Tür der gesondert verfolgte F. , ein Bekannter von ihm, mit dem später getöteten Opfer H. in Streit geraten. Nachdem H. den F. zu Boden gestoßen hatte, wurde der Angeklagte auf das Geschehen aufmerksam und begab sich zu seinem am Boden liegenden Bekannten. Beide sprachen über das Geschehene. F. zeigte auf H. , woraufhin sich beide zu ihm begaben, um ihn gemeinsam anzugreifen. H. versuchte, den Angriff des Angeklagten mit einem Faustschlag abzuwehren. Er wurde aber vom Angeklagten mit der linken Hand am Nacken gepackt und am Oberkörper leicht nach vorne gezogen. Anschließend stach der Angeklagte mit einem 20 Zentimeter langen Messer mit acht Zentimeter Klingenlänge mehrfach in den Oberkörper seines Opfers ein, wobei er den Eintritt tödlicher Verletzungen zumindest billigend in Kauf nahm. Zugleich stach F. mit einem gleichartigen Messer von seitlich hinten auf H. ein.Als weitere Personen hinzukamen, ließ der Angeklagte von H. ab und flüchtete. Hierbei stach er dem ihm im Wege stehenden Zeugen M. mit dem zuvor eingesetzten Messer und zumindest bedingtem Verletzungsvorsatz einmal in den Rücken. Anschließend setzte der Angeklagte seine Flucht mit dem gesondert verfolgten F. und dem am Tatort anwesenden Zeugen Ab. fort. Eine vierte unbekannt gebliebene Person schloss sich an. Auf der Flucht wurde das vom Angeklagten benutzte Messer weggeworfen. Der Angeklagte und Ab. wurden von der Polizei festgenommen, während die anderen beiden entkamen; F. ist seitdem unbekannten Aufenthalts.Der geschädigte H. erlitt drei Stiche in den Brustbereich, wobei einer den Herzbeutel und ein anderer einen Lungenlappen durchstach, sowie weitere Stiche in den oberen Rückenbereich und in den linken Oberarm. Er verstarb daran alsbald nach der Tat. Der geschädigte M. erlitt eine vier bis sechs Zentimeter tiefe, potentiell lebensgefährliche Stichverletzung im Rücken.II.Die Revision des Angeklagten ist unbegründet.1. Das Urteil hält sachlichrechtlicher Überprüfung stand.a) Dies gilt insbesondere für die Beweiswürdigung.aa) Die Würdigung der Beweise obliegt dem Tatgericht. Es ist allein seine Aufgabe, Bedeutung und Gewicht einzelner Indizien in der Gesamtwürdigung des Beweisergebnisses zu bewerten und sich unter dem umfassenden Eindruck der Hauptverhandlung ein Urteil über die Schuld oder Unschuld des Angeklagten zu bilden. Seine tatsächlichen Schlüsse müssen nicht zwingend sein. Es genügt, dass sie möglich sind und das Tatgericht von ihrer Richtigkeit überzeugt ist.Ein Rechtsfehler (§ 337 Abs. 1 StPO) liegt nur vor, wenn die Beweiswürdigung lückenhaft, unklar oder widersprüchlich ist, mit den Denkgesetzen oder gesichertem Erfahrungswissen nicht in Einklang steht, wenn sie sich auf nicht existierende Erfahrungssätze stützt oder sich so weit von einer Tatsachengrundlage entfernt, dass sich die gezogenen Schlussfolgerungen letztlich als reine Vermutung erweisen (st. Rspr., vgl. nur BGH, Beschluss vom 16. Juli 2019 - 4 StR 231/19; Urteil vom 5. September 2019 - 3 StR 219/19, je mwN).bb) Nach diesen Maßstäben ist die Beweiswürdigung der Schwurgerichtskammer rechtsfehlerfrei.Für ihre Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten hat sie insbesondere folgende Gründe angeführt: Der seine Täterschaft bestreitende Angeklagte war nach eigenen Angaben (in Beschuldigtenvernehmungen) und übereinstimmenden Aussagen mehrerer Zeugen vor Ort und wurde unmittelbar nach der Tat auf der Flucht vom Tatort festgenommen. Drei Zeugen haben unabhängig voneinander bekundet, dass der ihnen bekannte Angeklagte und der gesondert Verfolgte F. am Tatort eine gewalttätige Auseinandersetzung mit dem Geschädigten H. hatten. Ein unmittelbarer Tatzeuge (A. ) hat angegeben, dass der Angeklagte den geschädigten H. mehrfach von vorne attackierte, wobei der Zeuge - ohne nach eigenen Angaben ein Messer gesehen zu haben - in den ersten Vernehmungen von typischen Stichbewegungen, in der Hauptverhandlung von Faustschlägen sprach. Ein anderer Zeuge bekundete ebenfalls eine Attacke des Angeklagten gegen den später Verstorbenen. H. verstarb in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit dem Angriff an ihm im Brustbereich beigebrachten Messerstichen. Die Befunde der rechtsmedizinischen Untersuchung und die Auswertung des Blutspurenbildes belegen, dass die Stiche zugefügt wurden, als der Geschädigte H. noch stand. Nach dem rechtsmedizinischen Befund ist auszuschließen, dass er vor den Messerstichen und dem anschließenden Zubodengehen erheblich geschlagen oder getreten wurde.Der Geschädigte M. wurde nach seinen Angaben direkt anschließend von einer Person am Rücken mit einem Messer verletzt, deren Oberbekleidung ein ähnliches Farbmuster wie die beim Angeklagten festgestellte Jacke aufwies. Dass der Angeklagte zu M. ging, wurde von einem Zeugen bestätigt, der den Angeklagten kennt. Damit übereinstimmend hat der Zeuge A. (noch in einer Beschuldigtenvernehmung) berichtet, der Angeklagte habe dem Geschädigten M. in den Rücken gestochen, als H. bereits am Boden lag. Aus der Gruppe weglaufender Personen, unter denen sich auch der Angeklagte befand, wurde ein Messer weggeworfen, an dem später Blutanhaftungen beider Opfer festgestellt wurden.Angesichts der geschilderten Beweisergebnisse ist die Schlussfolgerung des Schwurgerichts, der Angeklagte habe gemeinsam mit F. dem Geschädigten H. die tödlichen Stiche versetzt, nicht nur möglich, sondern naheliegend. Gegen diese Feststellungen sprechende Gesichtspunkte hat das Landgericht ausdrücklich in seine Beweiswürdigung einbezogen. Dass es sich in diesem Zusammenhang eher auf die tatnäheren ersten Angaben des Zeugen A. als auf seine spätere Aussage in der Hauptverhandlung gestützt hat, lässt - insbesondere vor dem Hintergrund mehrfacher Einwirkungsversuche auf den Zeugen - Rechtsfehler nicht erkennen. Die Strafkammer hat bei ihrer Würdigung alle Gesichtspunkte bedacht und erörtert, die hierfür relevant waren. Dass die Darstellung der Ergebnisse der molekulargenetischen Untersuchung der Blutspuren in diesem Zusammenhang nicht in jeder Hinsicht den Anforderungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung entspricht (vgl. zu Einzelspuren BGH, Beschluss vom 28. August 2018 - 5 StR 50/17, BGHSt 63, 187; zu Mischspuren BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2019 - 4 StR 496/19, je mwN), ist im Ergebnis nicht durchgreifend bedenklich (§ 337 Abs. 1 StPO), zumal sich das Landgericht ausdrücklich damit befasst, dass an dem sichergestellten Messer keine DNA des Angeklagten, sondern (als unvollständige Spur)u.a. des Bruders von F. und weder an der Kleidung des Opfers DNA des Angeklagten noch am Angeklagten oder an dessen Kleidung DNA des Opfers festgestellt werden konnte.b) Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen tragen die Schuldsprüche wegen Totschlags und gefährlicher Körperverletzung. Auch die Strafzumessung ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.2. Die Verfahrensrügen bleiben ohne Erfolg. Ergänzend zur Antragsschrift des Generalbundesanwalts bemerkt der Senat dazu:a) Die Rüge einer Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes durch Fehlen eines Aushangs mit Hinweisen auf den Ortstermin am 13. Juni 2019 ist jedenfalls unbegründet, weil ein etwaiger Rechtsfehler nach den gegenläufigen Erklärungen der Verteidigung einerseits und der Vorsitzenden und von Justizbeschäftigten andererseits nicht bewiesen wäre (vgl. zur ausreichenden Bekanntgabe eines Ortstermins in der mündlichen Verhandlung auch BGH, Urteil vom 7. August 1991 - 2 StR 193/91, BGHR StPO § 338 Nr. 6 Ortstermin 2). Angesichts der durch den vorgelegten E-Mail-Verkehr belegten Bemühungen um einen ausreichenden Aushang würde es zudem an dem notwendigen Verschulden des Gerichts (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, 62. Aufl., § 338 Rn. 49 f. mwN) fehlen.b) Soweit die Revision einen Verstoß gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz darin erblickt, dass der Ortstermin in dem für die Öffentlichkeit aus Sicherheitsgründen nicht zugänglichen Imbiss zehn Minuten zu früh begonnen hat, ist ein revisibler Rechtsverstoß nicht dargetan (vgl. BGH, Beschluss vom 15. November 1983 - 1 StR 553/83, NStZ 1984, 134), zumal sich Vertreter der Presse und Öffentlichkeit während der gesamten Zeit in dem ihnen zugewiesenen Bereich etwa 100 Meter vom Imbiss entfernt befanden (vgl. zu möglichen tatsächlichen Schranken des Öffentlichkeitsgrundsatzes bei derartigen Ortsterminen auch BGH, Urteil vom 14. Juni 1994 - 1 StR 40/94, BGHSt 40, 191, 192 mwN).c) Die Rüge, ein Befangenheitsgesuch sei zu Unrecht abgelehnt worden, bleibt ebenfalls ohne Erfolg. Zu der Beantwortung des von der Verteidigung vorgelegten "Fragenkataloges", mit dem etwaige Befangenheitsgründe erfragt werden sollten, waren die Mitglieder der Schwurgerichtskammer unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt verpflichtet.Nach den Regelungen über den Ausschluss und die Ablehnung von Gerichtspersonen gibt es einerseits gesetzliche Ausschlussgründe, die nach §§ 22, 23 StPO von Amts wegen zu berücksichtigen sind. Richter und Schöffen sind zum anderen nach §§ 30, 31 StPO dienstlich verpflichtet, von Verhältnissen Anzeige zu machen, die ihre Ablehnung nach § 24 StPO rechtfertigen könnten. Jenseits davon hat der Antragsteller die von ihm behaupteten Gründe, die eine Besorgnis der Befangenheit rechtfertigen sollen, selbst vorzutragen und glaubhaft zu machen (§ 26 Abs. 2 StPO).Dass ein Antragsteller ohne hinreichend konkrete tatsächliche Anhaltspunkte - gleichsam "ins Blaue hinein" und aufs "Geratewohl" - durch Fragenkataloge mögliche Befangenheitsgründe ausforscht, sieht das Gesetz nicht vor. Eine solche Möglichkeit würde auch der Systematik der Ausschluss- und Ablehnungsregeln widersprechen. Das Regelungsgefüge der §§ 24 ff. StPO würde unterlaufen, wenn ohne konkrete tatsächliche Anhaltspunkte ein gesetzlich nicht vorgesehenes "Ausfragerecht" der Ablehnungsberechtigten (§ 24 Abs. 3 Satz 1 StPO) etabliert würde. Dass derartige tatsächliche Anhaltspunkte bei einzelnen Mitgliedern der Schwurgerichtskammer konkret bestanden hätten, ist dem Revisionsvorbringen nicht zu entnehmen. Der Hinweis auf allgemeine politische Entwicklungen reicht hierfür nicht aus. Den Anforderungen an ein faires Verfahren ist durch das Verfahren des Schwurgerichts Genüge getan.d) Soweit die Revision eine Verletzung der Aufklärungspflicht darin sieht, dass das Landgericht keine weiteren Bemühungen unternommen hat, den Zeugen Ab. zu einer Aussage zu bewegen, deckt sie keinen Rechtsfehler auf. Zu Recht hat die Schwurgerichtskammer diesem Zeugen ein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 Abs. 1 StPO zugebilligt. Vor diesem Hintergrund war das Landgericht nicht aufgrund seiner Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) veranlasst, etwaige Bedingungen des Zeugen für seine Zeugenaussage (Austausch des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft) zu erfüllen. Zum einen hatte der Dienstvorgesetzte ein derartiges Ansinnen abgelehnt. Zum anderen steht es dem nach § 55 Abs. 1 StPO zur (gegebenenfalls umfassenden) Auskunftsverweigerung berechtigten Zeugen nicht zu, Bedingungen für seine Aussage über den "Hebel" der Amtsaufklärungspflicht gleichsam erzwingen zu können. Ebenso wenig wie der Angeklagte einen ihm genehmen Sachverständigen durch Hinweis auf seine ansonsten fehlende Mitwirkungsbereitschaft auswählen kann (vgl. nur BGH, Urteil vom 12. Februar 1998 - 1 StR 588/97, BGHSt 44, 26, 32 ff.), kann der Zeuge die Umstände seiner Aussage in der Hauptverhandlung unter Hinweis auf die ansonsten erfolgende Ausübung eines ihm zustehenden Auskunftsverweigerungsrechts erzwingen. Wie die Hauptverhandlung im gesetzlichen Rahmen abläuft, unterliegt nicht seiner Disposition. Sein Auskunftsverweigerungsrecht dient lediglich seinem Schutz und gibt ihm nicht das Recht, darüber zu bestimmen, wie die Hauptverhandlung abzulaufen und wer daran teilzunehmen hat.Mutzbauer Berger Cirener Mosbacher Resch Vorinstanz:Chemnitz, LG, 22.08.2019 - 210 Js 27835/18 1 Ks 5 AR-KA 2/
bundesgerichtshof
bgh_065-2022
25.05.2022
Verurteilungen wegen Kriegsverbrechens in Syrien rechtskräftig Ausgabejahr 2022 Erscheinungsdatum 25.05.2022 Nr. 065/2022 Beschlüsse vom 5. April 2022 – 3 StR 16/22 Das Oberlandesgericht Düsseldorf hat zwei Angeklagte verurteilt, einen wegen Kriegsverbrechens gegen eine Person durch Tötung in Tateinheit mit Mord und mit mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe, den anderen wegen Beihilfe zu dem Kriegsverbrechen in Tateinheit mit Beihilfe zum Mord und mit Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren. Nach den vom Oberlandesgericht getroffenen Feststellungen erschossen im Juli 2012 Mitglieder der terroristischen Vereinigung Jabhat al-Nusra einen gefangen genommenen Offizier der syrischen Armee. Der eine, selbst der Jabhat al-Nusra zugehörige Angeklagte wirkte daran mit, indem er den Gefangenen auf dem Weg zum Hinrichtungsort bewachte. Der andere Angeklagte erstellte als örtlicher Medienaktivist ein Propagandavideo der Exekution und bestärkte durch die Aufnahme sowie seine zeitgleichen, verherrlichenden Kommentare die Kämpfer in ihrem Tatentschluss. Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat die Revisionen der Angeklagten weitestgehend verworfen, da die durch die Rechtsmittel veranlasste Überprüfung des Urteils ganz überwiegend keinen Rechtsfehler zu ihrem Nachteil ergeben hat. Insbesondere ist die Verfahrensbeanstandung eines Angeklagten ohne Erfolg geblieben, ihm sei vor Vernehmungen als Beschuldigter kein Pflichtverteidiger von Amts wegen bestellt worden. Dies hat der Bundesgerichtshof unter näherer Auseinandersetzung mit dem rechtlichen Regelungsgefüge zur Bestellung eines Pflichtverteidigers im Einzelnen ausgeführt. Er hat lediglich die den Angeklagten betreffende Einziehung einer Festplatte aus Rechtsgründen entfallen lassen. Das Urteil ist unter Berücksichtigung dieser Änderung damit insgesamt rechtskräftig. Vorinstanz: Oberlandesgericht Düsseldorf - Urteil vom 26. August 2021 – III-6 StS 5/20 Karlsruhe, den 25. Mai 2022 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Beschluss des 3. Strafsenats vom 5.4.2022 - 3 StR 16/22 - Beschluss des 3. Strafsenats vom 5.4.2022 - 3 StR 16/22 -
1. Ein Fall der notwendigen Verteidigung im Sinne des § 140 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 StPO gebietet für sich genommen nicht eine Pflichtverteidigerbestellung nach § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO.2. Für die Frage, ob die sofortige Bestellung eines Verteidigers erforderlich ist, weil ersichtlich ist, dass der Beschuldigte sich selbst nicht verteidigen kann, ist maßgeblich auf dessen individuelle Schutzbedürftigkeit abzustellen.3. Eine zu Unrecht unterbliebene Bestellung hat nicht grundsätzlich eine Unverwertbarkeit der Beschuldigtenvernehmung zur Folge. Tenor 1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 26. August 2021 im Ausspruch über die Einziehung aufgehoben; diese Entscheidung entfällt.2. Die weitergehende Revision wird verworfen.3. Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen. Gründe Das Oberlandesgericht hat den Angeklagten wegen Beihilfe zum Kriegsverbrechen gegen eine Person durch Tötung in Tateinheit mit Beihilfe zum Mord und mit Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt. Zudem hat es eine Festplatte eingezogen. Die auf die Rügen der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat lediglich in Bezug auf die Einziehungsentscheidung mit der Sachrüge Erfolg. Im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet.1. Nach den vom Oberlandesgericht getroffenen Feststellungen erschossen im Juli 2012 Mitglieder zweier zur Jabhat al-Nusra gehörender Kampfgruppen einen gefangen genommenen Offizier der syrischen Armee. Der Angeklagte erstellte als örtlicher Medienaktivist ein Propagandavideo der Exekution und bestärkte durch die Aufnahme sowie seine zeitgleichen, verherrlichenden Kommentare die Kämpfer in ihrem Tatentschluss. Nachdem er im September 2014 nach Deutschland gekommen war, wurde im Oktober 2019 bei der Durchsuchung seiner Wohnung eine in seinem Eigentum stehende Festplatte sichergestellt. Auf dieser waren das von ihm aufgenommene Video und eine weitere von der Hinrichtung gefertigte Filmaufnahme gespeichert.2. Die Verfahrensrüge, die einen Verstoß gegen § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO wegen unterbliebener Bestellung eines Pflichtverteidigers vor polizeilichen Beschuldigtenvernehmungen beanstandet, bleibt erfolglos.a) Der Rüge liegt im Wesentlichen das folgende Geschehen zugrunde:Der Angeklagte wurde am 17. Oktober 2019, 20. Februar 2020 und 6. März 2020 als Beschuldigter polizeilich vernommen. Vor den beiden letzten Vernehmungen wurde er - ebenso wie vor der ersten - jeweils belehrt, dass er im Fall der notwendigen Verteidigung die Bestellung eines Pflichtverteidigers "beanspruchen" könne. Im Folgenden äußerte er sich an beiden Tagen unter Einbeziehung eines Dolmetschers, ohne dass ihm zuvor ein Verteidiger bestellt worden oder ein solcher sonst anwesend war. Einer der an den Vernehmungen beteiligten Polizeibeamten wurde in der Hauptverhandlung als Zeuge gehört. Im Anschluss an dessen Aussage widersprach ein Verteidiger deren Verwertung, soweit der Zeuge Angaben über Inhalte der Vernehmungen vom 20. Februar und 6. März 2020 gemacht hatte. Das Oberlandesgericht stützte in den Urteilsgründen seine Kenntnisse von den Angaben des Angeklagten in der Vernehmung am 6. März 2020 auf die Bekundungen des Zeugen.b) Es bedarf keiner vertieften Erörterung, ob die Verfahrensbeanstandung den Anforderungen nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügt. Insofern hat die Revision nicht den Inhalt der Vernehmung vom 17. Oktober 2019 mitgeteilt, die zur Begründung einer ersichtlich sehr schwierigen Beweiswürdigung und der sich - nach Ansicht des Beschwerdeführers - daraus ergebenden Voraussetzungen des § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO herangezogen wird. Ungeachtet dessen ist die Verwertung der durch einen Vernehmungsbeamten in die Hauptverhandlung eingeführten Beschuldigtenvernehmung nicht zu beanstanden.Es stellt keinen Rechtsfehler dar, dass dem Angeklagten als damaligem Beschuldigten nicht unabhängig von einem eigenen Antrag ein Pflichtverteidiger bestellt wurde. Ein Fall der notwendigen Verteidigung im Sinne des § 140 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 StPO gebietet für sich genommen nicht eine Pflichtverteidigerbestellung nach § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO (s. nachfolgend unter aa). Für die Frage, ob die sofortige Bestellung erforderlich ist, weil ersichtlich ist, dass der Beschuldigte sich selbst nicht verteidigen kann, ist maßgeblich auf dessen individuelle Schutzbedürftigkeit abzustellen (bb). Im Übrigen hat eine zu Unrecht unterbliebene Bestellung nicht grundsätzlich eine Unverwertbarkeit der Vernehmung zur Folge (cc). Nach den konkreten Umständen konnte das Oberlandesgericht seinem Urteil die Angaben des Zeugen zugrunde legen (dd).aa) Nach § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO in der seit dem 13. Dezember 2019 aufgrund des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019 (BGBl. I S. 2128, 2129) geltenden Fassung wird dem Beschuldigten, dem der Tatvorwurf eröffnet worden ist und der noch keinen Verteidiger hat, unverzüglich ein Pflichtverteidiger bestellt, wenn der Beschuldigte dies nach Belehrung ausdrücklich beantragt. Ihm wird gemäß § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO unabhängig von einem Antrag in den Fällen der notwendigen Verteidigung ein Pflichtverteidiger bestellt, sobald im Vorverfahren ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte, insbesondere bei einer eigenen Vernehmung, nicht selbst verteidigen kann. Fehlt diese Voraussetzung, kommt nach der gesetzlichen Regelung eine Bestellung ohne Antrag von Amts wegen nicht in Betracht, sofern sie nicht nach sonstigen Vorschriften erforderlich ist. Entgegen anderer Ansichten (vgl. etwa LR/Jahn, StPO, 27. Aufl., § 141 Rn. 30 ff.; SSW-StPO/Beulke, 4. Aufl., § 141 Rn. 62; BeckOK StPO/Krawczyk, 42. Ed., § 141 Rn. 5 f., 18; Spitzer, StV 2020, 418, 422) gebieten weder systematische noch richtlinienbezogene oder verfassungsrechtliche Erwägungen eine abweichende Auslegung.(1) Aus der Regelungssystematik der §§ 140, 141 StPO nF ergibt sich, dass im Falle einer notwendigen Verteidigung ein Pflichtverteidiger nicht ohne Weiteres sofort bestellt wird, sondern die Bestellung gemäß § 141 Abs. 1 StPO grundsätzlich einen Antrag erfordert, sofern nicht die Voraussetzungen des § 141 Abs. 2 StPO gegeben sind. Diese klare Regelungsstruktur spiegelt das im Gesetzgebungsverfahren ausdrücklich geäußerte Ziel wider, "dass die Bestellung eines Pflichtverteidigers, von den in Absatz 2 geregelten Ausnahmen abgesehen, nur dann zu erfolgen hat, wenn der Beschuldigte seinen Anspruch auf Zugang zu seinem Pflichtverteidiger ausdrücklich geltend macht" (BT-Drucks. 19/15151 S. 6).(2) Die Richtlinie (EU) 2016/1919 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2016 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls (ABl. EU 2016 Nr. L 197 S. 1; PKH-Richtlinie) verlangt eine Bestellung ohne Antrag ebenfalls nicht.Zwar haben die Mitgliedstaaten nach Art. 4 Abs. 5 PKH-Richtlinie sicherzustellen, dass Prozesskostenhilfe unverzüglich und spätestens vor einer Befragung durch die Polizei oder eine andere Strafverfolgungsbehörde sowie vor bestimmten weiteren Maßnahmen bewilligt wird. Hieraus ergibt sich aber nicht, ob diese Bewilligung von Amts wegen oder auf Antrag zu geschehen hat. Dazu verhält sich die Begriffsbestimmung in Art. 3 PKH-Richtlinie ebenfalls nicht, nach der "Prozesskostenhilfe" die Bereitstellung finanzieller Mittel durch einen Mitgliedstaat für die Unterstützung durch einen Rechtsbeistand bezeichnet, sodass das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand wahrgenommen werden kann. Eine anderweitige bindende Vorgabe lässt sich schließlich nicht aus Erwägungsgrund 18 der PKH-Richtlinie entnehmen. Danach "sollten" die Mitgliedstaaten praktische Regelungen für die Bereitstellung von Prozesskostenhilfe einführen, in denen festgelegt werden könnte, dass Prozesskostenhilfe auf Antrag bewilligt wird; "insbesondere angesichts der Bedürfnisse schutzbedürftiger Personen sollte ein Antrag jedoch keine materiell-rechtliche Voraussetzung für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe sein".Insoweit ist zum einen zu berücksichtigen, dass dem Erwägungsgrund bereits nach Wortlaut und Systematik keine bindende Normwirkung zukommt. Zum anderen lässt der Erwägungsgrund - jedenfalls in seiner deutschen Fassung ("materiell-rechtliche Voraussetzung"; im Französischen "une condition de fond"; im Englischen "a substantive condition") - offen, ob ein Antrag eine verfahrensrechtliche Voraussetzung für die Bewilligung darstellen kann. Die Möglichkeit, einen Antrag auf Prozesskostenhilfe vorzusehen, ergibt sich im Übrigen aus Art. 6 Abs. 2 PKH-Richtlinie. Ferner hat der deutsche Gesetzgeber den Bedürfnissen schutzbedürftiger Personen insofern Rechnung getragen, als in den Fällen des § 141 Abs. 2 Satz 1 StPO ein Pflichtverteidiger grundsätzlich unabhängig von einem Antrag bestellt wird (vgl. auch BT-Drucks. 19/13829 S. 38).Hinzu kommt, dass nach Erwägungsgrund 9 PKH-Richtlinie diese nicht zur Anwendung kommen soll, wenn eine beschuldigte Person auf ihr Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand verzichtet hat. Wenngleich ein Verzicht und das Absehen von einer Antragstellung zu unterscheiden sind, ist dem Erwägungsgrund zu entnehmen, dass die PKH-Richtlinie nicht von einer von Amts wegen ausnahmslos zu gewährenden "Prozesskostenhilfe" ausgeht.(3) Es bestehen keine Bedenken dagegen, dass die in Rede stehende Gesetzesfassung dem Gebot einer fairen Verfahrensgestaltung genügt (vgl. bereits BGH, Beschluss vom 5. Februar 2002 - 5 StR 588/01, BGHSt 47, 233, 237). Die Vorschriften der Strafprozessordnung über die notwendige Mitwirkung und die Bestellung eines Verteidigers stellen sich als Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips in seiner Ausgestaltung als Gebot fairer Verfahrensführung dar (s. BVerfG, Beschlüsse vom 19. Oktober 1977 - 2 BvR 462/77, BVerfGE 46, 202, 210; vom 8. Oktober 1985 - 2 BvR 1150/80 u.a., BVerfGE 70, 297, 323; vom 5. Oktober 2020 - 2 BvR 554/20, StV 2021, 213 Rn. 44). Der Beschuldigte darf nicht nur Objekt des Verfahrens sein; ihm muss vielmehr die Möglichkeit gegeben werden, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. Oktober 1977 - 2 BvR 462/77, BVerfGE 46, 202, 210). Diese Gelegenheit erhält er, da er nach entsprechender Belehrung die Bestellung eines Verteidigers beantragen kann.bb) Es richtet sich maßgeblich nach der individuellen Schutzbedürftigkeit des Beschuldigten, ob er sich selbst nicht verteidigen kann und ihm daher auch ohne Antrag ein Verteidiger sofort zu bestellen ist.Der Wortlaut des § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO greift insoweit auf die in § 140 Abs. 2 StPO gewählte, seit dem Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts vom 12. September 1950 (BGBl. I S. 455, 485; BT-Drucks. I/530, Anlage II S. 16) unveränderte Formulierung zurück. Bereits dies legt eine einheitliche Auslegung nahe. Eine solche wurde im Gesetzgebungsverfahren nach einer zunächst anderen Entwurfsfassung ausdrücklich angestrebt (vgl. BT-Drucks. 19/15151 S. 6). In Bezug auf § 140 Abs. 2 StPO hat der Gesetzgeber angenommen, dass sich Beschuldigte aufgrund ihrer Schutzbedürftigkeit, insbesondere infolge ihres geistigen Zustandes, nicht selbst verteidigen können (s. BT-Drucks. 19/13829 S. 27).Der systematische Zusammenhang spricht ebenfalls dafür, bei der fehlenden Verteidigungsmöglichkeit besonders die persönlichen Fähigkeiten des Beschuldigten in den Blick zu nehmen (vgl. im Ergebnis ebenso LR/Jahn, StPO, 27. Aufl., § 140 Rn. 100; KK-StPO/Willnow, 8. Aufl., § 140 Rn. 24; SK-StPO/Wohlers, 5. Aufl., § 140 Rn. 46; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 140 Rn. 30 ff.; s. auch OLG Hamm, Beschluss vom 14. August 2003 - 2 Ss 439/03, NJW 2003, 3286, 3287; OLG Nürnberg, Beschluss vom 3. März 2014 - 2 Ws 63/14, juris Rn. 29; KG, Beschluss vom 23. Februar 2016 - 3 Ws 87/16, juris Rn. 8 mwN). So stellt die weitere Generalklausel des § 140 Abs. 2 StPO auf die Schwere der Tat, die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge und die Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage, mithin auf verfahrensbezogene Gesichtspunkte ab. Ein Bedarf für eine in dieselbe Richtung weisende zusätzliche Regelung liegt folglich nicht nahe.Danach ist bei Prüfung der individuellen Verteidigungsfähigkeit des Beschuldigten eine Gesamtwürdigung vorzunehmen. Hierbei kann zwar zu berücksichtigen sein, ob er die deutsche Sprache beherrscht. Allerdings begründen fehlende Sprachkenntnisse für sich genommen nicht die Notwendigkeit einer Verteidigerbestellung, weil ein der deutschen Sprache nicht mächtiger Beschuldigter gemäß § 187 Abs. 1 Satz 2 GVG für das gesamte Strafverfahren die unentgeltliche Hinzuziehung eines Dolmetschers oder Übersetzers beanspruchen kann (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Oktober 2000 - 3 StR 6/00, BGHSt 46, 178 - noch zur früheren Rechtslage -; OLG Nürnberg, Beschluss vom 3. März 2014 - 2 Ws 63/14, juris Rn. 30 ff.; s. auch zur Ausländereigenschaft KG, Beschluss vom 10. Mai 2012 - 2 Ws 194/12 u.a., juris Rn. 15). Ebenso wenig ergibt sich aus der Bedeutung einer Beschuldigtenvernehmung für das weitere Verfahren im Allgemeinen die Unfähigkeit zur eigenen Verteidigung (vgl. zur früheren Rechtslage BGH, Beschluss vom 20. Oktober 2014 - 5 StR 176/14, BGHSt 60, 38 Rn. 9 mwN; aA etwa LR/Jahn, StPO, 27. Aufl., § 141 Rn. 31).Aus dem Gesetzeswortlaut und der Systematik des § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO folgt, dass die Beschuldigtenvernehmung als solche nicht bereits Anlass für eine vorherige Bestellung eines Pflichtverteidigers ist, sondern nur, wenn der Beschuldigte sich ersichtlich nicht selbst verteidigen kann. Hierbei handelt es sich sowohl nach dem Zusammenhang als auch nach der dem Gesetz zugrundeliegenden Intention um einen Ausnahmefall (s. BT-Drucks. 19/15151 S. 6; 19/13829 S. 38). Gerade weil die Regelung ausschließlich auf die Unfähigkeit zur eigenen Verteidigung entsprechend § 140 Abs. 2 StPO aE abstellt, führen die weiteren in der Generalklausel des § 140 Abs. 2 StPO genannten Fälle einer notwendigen Verteidigung nicht dazu, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann und ein Verteidiger auch ohne Antrag zu bestellen ist. Die sonstigen Umstände können lediglich dann Bedeutung erlangen und bei einer Gesamtwürdigung zu berücksichtigen sein, wenn sich Einschränkungen von Beschuldigten in ihrer Verteidigungsfähigkeit aus der Persönlichkeit oder den persönlichen Fähigkeiten ergeben.cc) Selbst in dem Fall, dass die Bestellung eines Pflichtverteidigers vor einer Beschuldigtenvernehmung zu Unrecht unterblieben ist, ergibt sich daraus nicht generell deren Unverwertbarkeit.(1) Prinzipiell kennt das Strafverfahrensrecht keinen allgemein geltenden Grundsatz, wonach jeder Verstoß gegen Beweiserhebungsvorschriften ein strafprozessuales Verwertungsverbot nach sich zieht. Ob ein solches eingreift, ist vielmehr jeweils nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Art des Verbots und dem Gewicht des Verstoßes unter Abwägung der widerstreitenden Interessen zu entscheiden. Dabei ist zu beachten, dass die Annahme eines Verwertungsverbots eines der wesentlichen Prinzipien des Strafverfahrensrechts einschränkt, nämlich den Grundsatz, dass das Gericht die Wahrheit zu erforschen und dazu die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken hat, die von Bedeutung sind. Deshalb handelt es sich bei einem Beweisverwertungsverbot um eine Ausnahme, die nur nach ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift oder aus übergeordneten wichtigen Gründen im Einzelfall anzuerkennen ist. Maßgeblich beeinflusst wird das Ergebnis der danach vorzunehmenden Abwägung einerseits durch das Ausmaß des staatlichen Aufklärungsinteresses, dessen Gewicht im konkreten Fall vor allem unter Berücksichtigung der Verfügbarkeit weiterer Beweismittel, der Intensität des Tatverdachts und der Schwere der Straftat bestimmt wird. Andererseits ist das Gewicht des in Rede stehenden Verfahrensverstoßes von Belang, das sich vor allem danach bemisst, ob der Rechtsverstoß gutgläubig, fahrlässig oder vorsätzlich begangen wurde. Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist ein Beweisverwertungsverbot geboten, wenn die Auswirkungen des Rechtsverstoßes dazu führen, dass dem Angeklagten keine hinreichenden Möglichkeiten zur Einflussnahme auf Gang und Ergebnis des Verfahrens verbleiben, die Mindestanforderungen an eine zuverlässige Wahrheitserforschung nicht mehr gewahrt sind oder die Informationsverwertung zu einem unverhältnismäßigen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht führen würde. Zudem darf eine Verwertbarkeit von Informationen, die unter Verstoß gegen Rechtsvorschriften gewonnen wurden, nicht bejaht werden, wenn dies zu einer Begünstigung rechtswidriger Beweiserhebungen führen würde. Ein Beweisverwertungsverbot kann daher insbesondere nach schwerwiegenden, bewussten oder objektiv willkürlichen Rechtsverstößen geboten sein, bei denen grundrechtliche Sicherungen planmäßig oder systematisch außer Acht gelassen worden sind (s. insgesamt BGH, Beschluss vom 2. März 2022 - 5 StR 457/21, juris Rn. 43; Urteil vom 3. Mai 2018 - 3 StR 390/17, NStZ 2019, 227 Rn. 24 f.; BVerfG, Beschluss vom 7. Dezember 2011 - 2 BvR 2500/09 u.a., BVerfGE 130, 1, 28 ff.; vgl. auch BGH, Beschlüsse vom 14. August 2019 - 5 StR 228/19, juris Rn. 17; vom 6. Februar 2018 - 2 StR 163/17, BGHR StPO § 136 Belehrung 19; BVerfG, Beschluss vom 16. Februar 2006 - 2 BvR 2085/05, juris Rn. 8 f.).(2) Diese Maßstäbe sind auch bei einem etwaigen Verstoß gegen das Gebot zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers zu beachten.Ein Verwertungsverbot ist gesetzlich nicht geregelt. Die PKH-Richtlinie verhält sich ebenfalls nicht zu solchen Folgen eines möglichen Verstoßes gegen die Verpflichtung, einen Anspruch von Beschuldigten auf Prozesskostenhilfe sicherzustellen. Dem nationalen Gesetzgebungsverfahren liegt die Erwägung zugrunde, dass ein Verstoß nicht automatisch zu einem Verwertungsverbot führen soll, sondern die allgemeinen Grundsätze zur Anwendung gelangen sollen (BT-Drucks. 19/13829 S. 39 f.; daran anschließend Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 141 Rn. 24; aA LR/Jahn, StPO, 27. Aufl., § 141 Rn. 41 f.; BeckOK StPO/Krawczyk, 42. Ed., § 141 Rn. 24).dd) Nach den konkreten Umständen und dem zuvor Dargelegten ist nicht zu beanstanden, dass dem Angeklagten vor seinen Beschuldigtenvernehmungen nicht gemäß § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO ein Pflichtverteidiger bestellt wurde. Ein Grund, aus dem er nicht in der Lage war, sich bei den Vernehmungen selbst zu verteidigen, war und ist nicht ersichtlich. Wie bereits ausgeführt, reichen dafür grundsätzlich weder etwaige Sprachunkenntnisse noch die Schwere der Tatvorwürfe oder Schwierigkeiten bei der Beweiswürdigung aus. Aus einer Zusammenschau der Umstände ergibt sich nichts anderes.(1) Kognitive oder sonstige Einschränkungen des erwachsenen Angeklagten sind nicht ersichtlich. Ausweislich der Urteilsfeststellungen absolvierte er in Syrien ein Gymnasium sowie eine Ausbildung zum Informatiker, erlernte nach seiner Ankunft in Deutschland 2014 die deutsche Sprache und machte eine Weiterbildung zum IT-Netzwerktechniker. Vor diesem Hintergrund ergibt sich zudem nicht, dass er wegen seiner Herkunft aus einem arabischen Land außerstande war, sich bei den Beschuldigtenvernehmungen im Jahr 2020 selbst zu verteidigen (vgl. auch OLG Köln, Beschluss vom 5. Februar 1991 - 2 Ws 67/91, NJW 1991, 2223, 2224).(2) Der Verfahrensbeanstandung verhilft ebenfalls nicht zum Erfolg, dass der Wortlaut der Belehrungen - offenkundig im Anschluss an die frühere Rechtslage (vgl. § 136 Abs. 1 Satz 5 StPO aF) - auf die Möglichkeit hinwies, die Bestellung eines Pflichtverteidigers "beanspruchen" statt "beantragen" zu können. Als Verfahrensmangel wird nicht ein Verstoß gegen § 136 Abs. 1 Satz 5 StPO, sondern allein ein solcher gegen § 141 Abs. 2 Nr. 3 StPO geltend gemacht. Dessen Tatbestandsvoraussetzungen werden durch die teils unkorrekte Belehrung nicht berührt. Entweder ist ein Beschuldigter in der Lage, sich bei einer Vernehmung selbst zu verteidigen, oder er ist es nicht. Ob er zuvor zutreffend über einen Anspruch oder Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung belehrt worden ist, betrifft seine individuellen Fähigkeiten nicht.Soweit die Revisionsbegründung dahin zu verstehen sein soll, eine Verletzung der Belehrungspflicht sei eigenständig beanstandet, greift dies aus den vom Generalbundesanwalt dargelegten Gründen ebenfalls nicht durch (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 6. Februar 2018 - 2 StR 163/17, BGHR StPO § 136 Belehrung 19).3. Die Nachprüfung des Urteils auf die Sachrüge hat in Bezug auf den Schuld- und Strafausspruch keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Allerdings hat die Einziehungsentscheidung keinen Bestand.a) Die vom Oberlandesgericht getroffenen Feststellungen belegen nicht, dass es sich bei der eingezogenen Festplatte um ein Tatprodukt nach § 74 Abs. 1 StGB handelt oder eine Einziehung nach sonstigen Vorschriften möglich ist.Ein Gegenstand ist im Sinne des § 74 Abs. 1 StGB nur dann durch eine vorsätzliche Tat hervorgebracht, wenn dessen Entstehung unmittelbar auf die mit Strafe bedrohte Handlung zurückgeht, er in diesem Sinne mit ihr in unmittelbarem ursächlichen Zusammenhang steht (s. BGH, Urteil vom 18. Januar 1977 - 1 StR 643/76, BeckRS 1977, 31113687; RG, Urteil vom 10. Juli 1906 - V 323/06, RGSt 39, 78, 79; vgl. auch LK/Lohse, StGB, 13. Aufl., § 74 Rn. 12; NK-StGB/Saliger, 5. Aufl., § 74 Rn. 7). Ein solcher Zusammenhang ist zwischen der Straftat des Angeklagten und der eingezogenen Festplatte nicht ersichtlich. Dass sich auf ihr über sieben Jahre nach dem Tatgeschehen ein daraus hervorgegangenes Video befand, begründet keine Veränderung der Festplatte unmittelbar durch die Tat selbst (vgl. allgemein zur Einziehbarkeit von Datenträgern BT-Drucks. 19/19859 S. 38 f.; BGH, Beschluss vom 8. Februar 2012 - 4 StR 657/11, BGHR StGB § 184b Abs. 6 Einziehung 1 Rn. 6). Es liegt nach dem Gesamtzusammenhang nahe und ist jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass die Datei erst nach der Tat gespeichert wurde. Zwar ist hierfür die Tat insofern ursächlich, als ohne sie das Video nicht entstanden wäre. Dies reicht jedoch bei einer späteren Speicherung für einen unmittelbaren Zusammenhang nicht aus, zumal ansonsten jegliches Speichermedium, auf welches das Video auch Jahre nach der Tat geladen würde, als Tatprodukt zu bewerten wäre.b) Die angeordnete Einziehung ist daher aufzuheben und entfällt. In einer neuen Hauptverhandlung sind weitergehende Feststellungen, die eine Einziehung tragen könnten, nicht zu erwarten.4. Angesichts des geringen Teilerfolgs der Revision ist es nicht unbillig, den Angeklagten mit den gesamten Kosten seines Rechtsmittels zu belasten (§ 473 Abs. 4 StPO).SchäferWimmerBergAnstötzErbguth
bundesgerichtshof
bgh_217-2021
26.11.2021
Tötung einer 15jährigen Berliner Schülerin an der Rummelsburger Bucht muss teilweise neu verhandelt werden Ausgabejahr 2021 Erscheinungsdatum 26.11.2021 Nr. 217/2021 Beschluss vom 30. September 2021 – 5 StR 325/21 Der in Leipzig ansässige 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat der Revision des Angeklagten gegen ein Urteil des Landgerichts Berlin teilweise stattgegeben. Dieses hatte den Angeklagten wegen Mordes in Tateinheit mit Vergewaltigung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Nach den Feststellungen des Landgerichts vergewaltigte der Angeklagte in der Nacht zum 5. August 2020 eine 15jährige Schülerin auf einem Brachgelände in der Nähe der Rummelsburger Bucht und erwürgte sie anschließend, um die begangene Straftat zu verdecken. Das Landgericht hat – sachverständig beraten – angenommen, der an einer hirnorganischen Persönlichkeitsstörung mit Impulskontrollstörungen leidende und bereits zwischen 2001 und 2014 wegen Vergewaltigung in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebrachte Angeklagte habe trotz seiner Krankheit und des Einflusses von Drogen und Alkohol voll schuldfähig gehandelt. Der 5. Strafsenat hat diese Annahme des Landgerichts als rechtsfehlerhaft beanstandet, weil es dabei in nicht tragfähiger Weise auf widerlegte Angaben des Angeklagten und seine Leistungsfähigkeit bei der Tatverdeckung abgestellt hat. Zudem sind der Einfluss der Krankheit und derjenige von Alkohol und Drogen auf die Tatbegehung nur isoliert und nicht in der gebotenen Gesamtschau abgehandelt worden. Dies entzieht auch der Annahme des im Ausschlussverfahren ermittelten Mordmerkmals der Verdeckungsabsicht die Grundlage. In Frage kommt, dass der Angeklagte ein anderes Mordmerkmal verwirklicht hat, was gesonderter Untersuchung bedarf. Der Rechtsfehler bei der Schuldfähigkeitsbeurteilung erfordert, die subjektive Tatseite neu zu untersuchen. Die Feststellungen des Landgerichts zum objektiven Tatgeschehen hat der Senat dagegen bestehen lassen, weil die Beweiswürdigung des Landgerichts diesbezüglich rechtsfehlerfrei ist. Insoweit hat der Senat die Revision des Angeklagten verworfen. Im Übrigen bedarf die Sache neuer Verhandlung und Entscheidung. Dabei wird das Landgericht auch zu prüfen haben, ob der Angeklagte gegebenenfalls im psychiatrischen Krankenhaus unterzubringen ist. Vorinstanz: Landgericht Berlin – Urteil vom 30. März 2021 – (532 Ks) 234 Js 333/20 (9/20) Karlsruhe, den 26. November 2021 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Beschluss des 5. Strafsenats vom 30.9.2021 - 5 StR 325/21 -
Tenor 1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 30. März 2021 mit den Feststellungen - ausgenommen diejenigen zum objektiven Tatgeschehen - aufgehoben.2. Die weitergehende Revision wird verworfen.3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen. Gründe Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Mordes in Tateinheit mit Vergewaltigung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Die Revision des Angeklagten erzielt mit der Sachrüge den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg und ist im Übrigen unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.Nach den Feststellungen des Landgerichts erwürgte der Angeklagte in der Nacht zum 5. August 2020 unter dem Einfluss von Alkohol und Amphetamin die 15-jährige Schülerin      C.     auf einem Brachgelände in der Nähe der R.            B.    in B.   , nachdem er sie vergewaltigt hatte. Er handelte, um die Sexualstraftat zu verdecken.Während die Beweiswürdigung zum objektiven Tatgeschehen keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten aufweist, hält diejenige zur Schuldfähigkeit des Angeklagten revisionsgerichtlicher Überprüfung nicht stand (1.). Dies entzieht den Feststellungen zum Mordmerkmal der Verdeckungsabsicht die Grundlage und führt insgesamt zur Aufhebung des Schuldspruchs sowie der Feststellungen zur subjektiven Tatseite (2.). Keinen Bestand hat auch die Nichtanordnung von Maßregeln nach § 63 StGB und § 64 StGB (3.).1. Das Landgericht hat angenommen, der Angeklagte habe ohne erhebliche Einschränkung seiner Schuldfähigkeit gehandelt. Die dieser Annahme zugrunde liegende Beweiswürdigung ist rechtsfehlerhaft, weil sie Widersprüche und Lücken aufweist (vgl. zum Prüfungsmaßstab BGH, Beschluss vom 16. September 2020 - 2 StR 159/20, StV 2021, 217; zu den Mindestanforderungen an Schuldfähigkeitsgutachten Boetticher u.a., NStZ 2005, 57; jeweils mwN).a) Zur bisherigen Entwicklung des Angeklagten hat das Landgericht Folgendes festgestellt:aa) Der 1978 geborene Angeklagte wuchs in schwierigen Familienverhältnissen auf (alkoholkranke, gewalttätige Mutter, kaum präsenter Vater) und wurde bereits in der Schule mit Impulskontroll- und Konzentrationsstörungen auffällig. Schwierigkeiten gab es deshalb auch während jahrelanger Heimaufenthalte und bei Pflegeeltern. Im Jahr 1994 wurde er in eine kinder- und jugendpsychiatrische Klinik eingewiesen (Diagnose: emotionale Störung des Jugendalters mit schweren depressiven Anteilen und Störung des Sozialverhaltens sowie leichte Lernbehinderung). Weitere Heimaufenthalte folgten. Über einen Schulabschluss verfügt der Angeklagte nicht. Mit sieben Jahren begann er zu rauchen, mit zwölf Jahren mit dem Konsum von Alkohol, später kamen Cannabis und Ecstasy hinzu.bb) Das Landgericht Berlin sprach ihn 2001 vom Vorwurf der Vergewaltigung und gefährlichen Körperverletzung zum Nachteil einer 68-jährigen Frau unter Einfluss von Drogen und Alkohol wegen nicht ausschließbar aufgehobener Steuerungsfähigkeit frei und ordnete wegen dieser rechtswidrigen Tat nach § 63 StGB seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Der damalige Sachverständige diagnostizierte eine kombinierte schwere Persönlichkeitsstörung mit emotional instabilen und histrionisch infantilen Anteilen. Verschiedene Sachverständige untersuchten den auch in der Unterbringung auffälligen Angeklagten anschließend. Während 2008 und 2011 die Fortdauer seiner Unterbringung wegen krankheitsbedingt fortdauernder Gefährlichkeit befürwortet wurde, kam ein anderer Sachverständiger 2013 zu dem Schluss, dass der Angeklagte zwar cannabisabhängig sei und eine tiefverwurzelte Dissozialität besitze, ihn dies aber nicht daran hindere, sein Verhalten zu steuern und zu verantworten; die Diagnose einer kombinierten Persönlichkeitsstörung sei nicht mehr gerechtfertigt. Nach Entlassungsvorbereitungen wurde gegen die Empfehlung der Klinik des Maßregelvollzuges die Unterbringung des Angeklagten im Juni 2014 zur Bewährung ausgesetzt. Nachdem ihm als Reinigungskraft 2015 gekündigt worden war, arbeite er nicht mehr, sondern feierte lieber mit Bekannten und nahm Amphetamine, Cannabis und Ecstasy zu sich. Zu Urinkontrollen brachte er Urin des Sohnes seiner nunmehrigen Lebensgefährtin mit, so dass diese negativ ausfielen. Anfang 2019 endete die Führungsaufsicht. Der Angeklagte nahm vermehrt Alkohol zu sich. Mitte August 2019 kam es nach einer Krise wegen akuter Suizidalität zu einer stationären Entzugsbehandlung bei Alkoholabhängigkeit.b) Die im vorliegenden Verfahren hinzugezogene psychiatrische Sachverständige hat ausweislich der Urteilsgründe Folgendes bekundet:aa) Der Angeklagte weise einen Intelligenzquotienten von 77 und das Klinefelter-Syndrom auf. Es gebe eine hirnorganische Schädigung, die entweder auf das Klinefelter-Syndrom oder (wahrscheinlicher) auf Alkoholaufnahme der Mutter während ihrer Schwangerschaft zurückzuführen sei. Der Angeklagte zeige bei Tests spezifische Funktionseinbußen der Handlungs- und Planungstätigkeit sowie kognitive Einbußen bezüglich der Empathiefähigkeit. Er leide an einer als krankhafte seelische Störung zu bewertenden organischen Persönlichkeitsstörung, die gekennzeichnet sei durch eine Impulskontrollstörung, die Enthemmung sowohl sexueller als auch aggressiver Impulse, eine eingeschränkte Empathiefähigkeit und eine aufgrund der gestörten exekutiven Funktionen eingeschränkte Handlungsplanung mit der Folge, dass der Angeklagte momentanen Impulsen nur erheblich eingeschränkt etwas entgegensetzen könne. Daneben gebe es eine früh einsetzende und tiefgreifend gefestigte dissoziale Persönlichkeitsentwicklung, die psychopathologische Charakteristika aufweise. Zudem sei Alkohol- und Drogenmissbrauch zu diagnostizieren; dieser stelle den dysfunktionalen Versuch des Angeklagten dar, mit seiner hirnorganisch bedingten hohen Impulsivität umzugehen.bb) Während die Sachverständige in ihrem vorbereitenden Gutachten noch zum Ergebnis gekommen war, bei Begehung der Tat sei von einer krankheitsbedingten erheblichen Einschränkung der Steuerungsfähigkeit auszugehen, vertrat sie in der Hauptverhandlung aus drei Gründen nicht mehr diese Auffassung: Die Lebensgefährtin des Angeklagten, die mit ihm seit 2017 zusammenlebe, habe erstmals in der Hauptverhandlung Angaben gemacht (der Angeklagte habe - auch unter Alkohol- und Drogeneinfluss - niemals ein Verhalten gezeigt, das einem Kontrollverlust oder einem drohenden Kontrollverlust gleichgekommen sei; sie habe niemals aggressive Impulsdurchbrüche erlebt; er habe sich aus den Situationen immer "rausziehen" können; bei gemeinsamen sexuellen Handlungen - auch unter Alkohol- und Drogeneinfluss - habe sie trotz einvernehmlichen Würgens ihres Halses niemals Angst verspürt oder das Gefühl gehabt, er verliere die Kontrolle über sein Verhalten). Darüber hinaus habe der Angeklagte mit seiner Einlassung erstmals seine Sicht auf das Tatgeschehen preisgegeben, wobei dem von ihm geschilderten Verhalten kein aggressiver Impulsdurchbruch zu entnehmen sei. Schließlich zeige das Nachtatverhalten nach Durchführung der Hauptverhandlung deutlich klarer als zuvor, zu welchen kognitiven Leistungen der Angeklagte fähig gewesen sei (er habe den Leichnam erst in eine Richtung gezogen, dann aber zu einem für das Verstecken geeigneteren Ort; er habe die Leiche abgedeckt, so dass sie schwerer habe gefunden werden können; er habe erkannt, dass er Kleidungsstücke verstecken müsse, und dies planmäßig getan; die auffällige helle Jeans des Tatopfers habe er mitgenommen; er habe die SIM-Karte aus dem Mobiltelefon der Getöteten entfernt und das Mobiltelefon in seiner Wohnung sehr gut versteckt). Dieses Nachtatverhalten sei derart gesteuert, dass es mit einem hirnorganisch bedingten Kontrollverlust zur Tatzeit nicht in Einklang zu bringen sei.cc) Anschließend hat die Sachverständige die Auswirkungen von Alkohol und Amphetaminen auf die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bei Tatbegehung beschrieben (eine Blutentnahme um 19.50 Uhr am Tattag ergab eine Blutalkoholkonzentration von 0,45 Promille und 78 ng/ml Amphetamin im Serum): Auch eine vorübergehende krankhafte seelische Störung aufgrund einer Intoxikation mit Alkohol und Amphetaminen habe nicht vorgelegen. Rechnerisch sei man bei der Rückrechnung der Blutalkoholkonzentration bei 4,22 oder 4,02 Promille zur Tatzeit (zwischen 2 und 3 Uhr). Diese Werte seien grundsätzlich mit den vom Angeklagten angegebenen Trinkmengen vereinbar. Allerdings sei der Zeitpunkt der Alkoholaufnahme nicht bekannt, möglicherweise habe er auch einen Teil erst nach der Tat getrunken. Das Leistungsverhalten spreche allerdings gegen einen schweren Rauschzustand, wie sich auch aus einer dreiminütigen Videosequenz ergebe, auf der der Angeklagte keine motorischen Auffälligkeiten zeige, die bei einer so hohen Alkoholisierung aber zu erwarten gewesen wären.c) Die Schwurgerichtskammer hat sich diesen Ausführungen der Sachverständigen nach eigener Prüfung angeschlossen. Für eine erhaltene Steuerungsfähigkeit sprach aus ihrer Sicht zudem, dass der Angeklagte in der Lage gewesen sei, den Zaun zu dem Brachgelände zu überklettern und seinem späteren Opfer dabei Hilfe zu leisten. Zudem habe ein Zeuge in diesem Zusammenhang seine Stimme gehört, die nicht alkoholbedingt beeinflusst geklungen habe. Hinsichtlich des Versteckens von Kleidungsstücken der Getöteten habe er sich differenzierte Gedanken gemacht. Der errechneten Blutalkoholkonzentration komme bei einem derart langen Rückrechnungszeitraum von 17 Stunden nur eine eingeschränkte indizielle Bedeutung zu, zumal Nachtrunk möglich sei.d) Diese Ausführungen leiden in mehrfacher Hinsicht an Rechtsfehlern.aa) Die Schwurgerichtskammer hat (der Sachverständigen folgend) dem Nachtatverhalten des Angeklagten eine ausschlaggebende Bedeutung hinsichtlich des Ausschlusses der Voraussetzungen von § 21 StGB zugemessen, ohne dies argumentativ hinreichend darzulegen. Insoweit gilt:(1) Bei der Steuerungsfähigkeit geht es um die Fähigkeit, entsprechend der Unrechtseinsicht zu handeln, also um Hemmungsvermögen, Willenssteuerung und Entscheidungssteuerung, nicht aber um exekutive Handlungskontrolle. Entscheidend kommt es auf die motivationale Steuerungsfähigkeit an, also die Fähigkeit, das eigene Handeln auch bei starken Wünschen und Bedürfnissen normgerecht zu kontrollieren und die Ausführung normwidriger Motivationen zu hemmen (vgl. Kröber, FPPK 2020, 381, 389 mwN). Steuerungsfähigkeit darf nicht mit zweckrationalem Verhalten verwechselt werden (Schönke/Schröder/Perron/Weißer, StGB, 30. Aufl., § 20 Rn. 29). Deshalb ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gerade bei schweren Persönlichkeitsstörungen ein zielgerichtetes und überlegtes Nachtatverhalten - anders als etwa bei der Prüfung eines Affektes oder einer Rauschtat - wenig aussagekräftig für die Beurteilung der Steuerungsfähigkeit (vgl. BGH, Beschlüsse vom 16. September 2020 - 2 StR 159/20, StV 2021, 217; vom 22. Januar 2020 - 2 StR 562/19, NStZ-RR 2020, 222, 223). Denn auch bei geplantem und geordnetem Vorgehen kann die Fähigkeit erheblich eingeschränkt sein, Anreize zu einem bestimmten Verhalten und Hemmungsvorstellungen gegeneinander abzuwägen und danach den Willensentschluss zu bilden (BGH, Beschlüsse vom 22. Januar 2020 - 2 StR 562/19, aaO; vom 29. November 2006 - 5 StR 329/06, NStZ-RR 2007, 83; vom 22. August 2001 - 1 StR 316/01, StV 2002, 17; vom 20. Februar 2001 - 5 StR 3/01, StraFo 2001, 249).(2) Diesen Anforderungen werden die Ausführungen des Schwurgerichts nicht gerecht. Nachdem das Landgericht der sachverständigen Einschätzung gefolgt ist, die bei dem Angeklagten diagnostizierte organische Persönlichkeitsstörung führe zu einer Impulskontrollstörung und zur Enthemmung sowohl sexueller als auch aggressiver Impulse, weshalb der Angeklagte momentanen Impulsen nur erheblich eingeschränkt etwas entgegensetzen könne, hätte es eingehenderer Begründung bedurft, weshalb sich diese krankhafte seelische Störung trotz des geschilderten naheliegenden Zusammenhangs bei der Tat nicht in erheblicher Weise ausgewirkt haben soll. Die Bewertung des Verhaltens des Angeklagten nach der Tat lässt nicht erkennen, dass die Schwurgerichtskammer hierbei den von der Rechtsprechung geforderten Maßstab angelegt hat.bb) Zudem hat sich das Landgericht durch Verweis auf die Argumentation der Sachverständigen auch deren Begründung zu eigen gemacht, wonach der Schilderung des Tatgeschehens durch den Angeklagten in der Hauptverhandlung kein aggressiver Impulsdurchbruch zu entnehmen sei und auch deshalb eine erhebliche Einschränkung seiner Steuerungsfähigkeit ausscheide. Dabei hat die Strafkammer nicht bedacht, dass sie selbst mit nachvollziehbaren Gründen diese Angaben des Angeklagten als unglaubhaft und widerlegt angesehen hat. Auf widerlegte Angaben eines Angeklagten darf der Ausschluss einer erheblichen Verminderung seiner Steuerungsfähigkeit nicht gestützt werden, wenn ansonsten aufgrund des Krankheitsbildes die Annahme von § 21 StGB naheliegt. Die Schwurgerichtskammer hätte, um ihrer Leitungsverantwortung aus § 78 StPO gerecht zu werden, der Sachverständigen insoweit vielmehr vorgeben müssen, von welchem Sachverhalt sie für die Erstattung ihres Gutachtens (gegebenenfalls alternativ) auszugehen hat und wie mit der Einlassung des Angeklagten umzugehen ist (vgl. auch BGH, Beschlüsse vom 10. Januar 2000 - 5 StR 640/99, NStZ-RR 2000, 361; vom 29. September 1994 - 4 StR 494/94, NStZ 1995, 282).cc) Als rechtsfehlerhaft erweist sich schließlich, dass die Schwurgerichtskammer die Befunde zu den Auswirkungen des psychiatrischen Krankheitsbildes einerseits und zum Einfluss von Alkohol und Drogen andererseits lediglich gesondert im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bei Tatbegehung untersucht hat, nicht aber in der gebotenen Gesamtschau. Haben - wie hier - bei der Tat mehrere Faktoren zusammengewirkt und kommen daher mehrere Eingangsmerkmale des § 20 StGB gleichzeitig in Betracht, so dürfen diese nicht isoliert abgehandelt werden; erforderlich ist in solchen Fällen vielmehr eine umfassende Gesamtbetrachtung (st. Rspr., vgl. BGH, Urteil vom 27. März 2019 - 2 StR 382/18, NStZ-RR 2019, 170; Beschlüsse vom 3. September 2004 - 1 StR 359/04, NStZ-RR 2004, 360; vom 23. August 2000 - 2 StR 281/00, BGHR StGB § 21 Ursachen, mehrere 14). Die Ausführungen des Schwurgerichts lassen zudem nicht erkennen, von welchem Grad der Berauschung des Angeklagten im Tatzeitpunkt es - gegebenenfalls unter Anwendung des Zweifelssatzes - überhaupt ausgegangen ist; dies kann aber in Fällen wie dem vorliegenden nicht offen bleiben (vgl. BGH, Beschluss vom 19. März 2020 - 3 StR 443/19, NStZ 2020, 473 mwN).2. Diese Rechtsfehler führen nicht nur zur Aufhebung des Strafausspruchs, sondern entziehen auch dem Schuldspruch wegen Mordes die Grundlage. Die fehlerhafte Bewertung des Einflusses von Krankheit und Rauschmittelkonsum auf die Tatbegehung berührt auch die Feststellungen zur Motivlage des Angeklagten. Das Landgericht hat die Annahme, der Angeklagte habe sein Opfer zur Verdeckung der begangenen Vergewaltigung getötet, im Ausschlussverfahren maßgeblich darauf gestützt, dass andere Motive hierfür nicht ersichtlich seien. Eine mögliche Neubewertung der psychopathologischen Faktoren bei Tatbegehung kann diese Feststellung in Zweifel ziehen, etwa auch, wenn sich in der neuen Hauptverhandlung ergibt, dass der Angeklagte angesichts seiner sexuellen Neigungen zur Befriedigung des Geschlechtstriebs gehandelt haben kann.Wegen des tateinheitlichen Zusammentreffens erfasst die Aufhebung des Schuldspruchs wegen Mordes auch den auf der Basis der bisherigen Feststellungen an sich rechtsfehlerfreien Schuldspruch wegen Vergewaltigung (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Oktober 2021 - 4 StR 261/21).Um dem zur neuen Entscheidung berufenen Schwurgericht insgesamt widerspruchsfreie neue Feststellungen zu ermöglichen, hebt der Senat sämtliche möglicherweise von den Schuldfähigkeitsfragen tangierte Feststellungen zur subjektiven Tatseite auf, auch wenn die Annahme von Tötungsvorsatz auf der Basis der bisherigen Feststellungen nicht zu beanstanden ist.3. Die Rechtsfehler bei der Prüfung der Schuldfähigkeit entziehen der Nichtanordnung von Maßregeln nach § 63 StGB und § 64 StGB die Grundlage. Über die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und einer Entziehungsanstalt muss neu befunden werden. Dass lediglich der Angeklagte Revision eingelegt hat, ist insoweit unerheblich (§ 358 Abs. 2 Satz 3 StPO).CirenerBergerGerickeRi’inBGH Resch istim Urlaub und kannnicht unterschreiben.MosbacherCirener
bundesgerichtshof
bgh_056-2022
04.05.2022
Zahlungspflicht bei coronabedingter Schließung eines Fitnessstudios Ausgabejahr 2022 Erscheinungsdatum 04.05.2022 Nr. 056/2022 Urteil vom 4. Mai 2022 – XII ZR 64/21 Der u.a. für das gewerbliche Mietrecht zuständige XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hatte die Frage zu entscheiden, ob die Betreiberin eines Fitness-Studios zur Rückzahlung von Mitgliedsbeiträgen verpflichtet ist, welche sie in der Zeit, in der sie ihr Fitnessstudio aufgrund der hoheitlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie schließen musste, von einem Kunden per Lastschrift eingezogen hat. Die Parteien schlossen am 13. Mai 2019 einen Vertrag über die Mitgliedschaft im Fitnessstudio der Beklagten mit einer Laufzeit von 24 Monaten, beginnend ab dem 8. Dezember 2019. Der monatliche Mitgliedsbeitrag, der im Lastschriftverfahren eingezogen wurde, betrug 29,90 € nebst einer halbjährigen Servicepauschale. Aufgrund der Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie musste die Beklagte das Fitnessstudio in der Zeit vom 16. März 2020 bis 4. Juni 2020 schließen. Die Monatsbeiträge für diesen Zeitraum zog sie weiterhin vom Konto des Klägers ein. Eine vom Kläger mit Schreiben vom 7. Mai 2020 erklärte Kündigung seiner Mitgliedschaft zum 8. Dezember 2021 wurde von der Beklagten akzeptiert. Mit Schreiben vom 15. Juni 2020 verlangte der Kläger von der Beklagten die Rückzahlung der per Lastschrift eingezogenen Mitgliedsbeiträge für den Zeitraum vom 16. März 2020 bis 4. Juni 2020. Nachdem eine Rückzahlung nicht erfolgte, forderte der Kläger die Beklagte auf, ihm für den Schließungszeitraum einen Wertgutschein über den eingezogenen Betrag auszustellen. Die Beklagte händigte dem Kläger keinen Wertgutschein aus, sondern bot ihm eine "Gutschrift über Trainingszeit" für den Zeitraum der Schließung an. Dieses Angebot nahm der Kläger nicht an. Das Amtsgericht hat die Beklagte zur Rückzahlung der Monatsbeiträge für den Schließungszeitraum in Höhe von 86,75 € nebst Zinsen und außergerichtlicher Rechtsanwaltskosten verurteilt. Ihre hiergegen gerichtete Berufung hat das Landgericht zurückgewiesen. Die vom Landgericht zugelassene Revision, mit der die Beklagte weiterhin die Abweisung der Klage erreichen wollte, hatte keinen Erfolg. Der Bundesgerichtshof hat entschieden, dass der Kläger gemäß §§ 275 Abs. 1, § 326 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4, § 346 Abs. 1 BGB einen Anspruch auf Rückzahlung der für den Zeitraum der Schließung entrichteten Monatsbeiträge hat. Diesem Rückzahlungsanspruch des Klägers kann die Beklagte nicht entgegenhalten, der Vertrag sei wegen Störung der Geschäftsgrundlage gemäß § 313 Abs. 1 BGB dahingehend anzupassen, dass sich die vereinbarte Vertragslaufzeit um die Zeit, in der das Fitnessstudio geschlossen werden musste, verlängert wird. Gemäß § 275 Abs. 1 BGB ist der Anspruch auf Leistung ausgeschlossen, soweit diese für den Schuldner oder für jedermann unmöglich ist. Rechtliche Unmöglichkeit ist gegeben, wenn ein geschuldeter Erfolg aus Rechtsgründen nicht herbeigeführt werden kann oder nicht herbeigeführt werden darf. So liegt der Fall hier. Während des Zeitraums, in dem die Beklagte aufgrund der hoheitlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie ihr Fitnessstudio schließen musste, war es ihr rechtlich unmöglich, dem Kläger die Möglichkeit zur vertragsgemäßen Nutzung des Fitnessstudios zu gewähren und damit ihre vertraglich geschuldete Hauptleistungspflicht zu erfüllen. Obwohl die Beklagte das Fitnessstudio im Hinblick auf die zeitliche Befristung der Corona-Schutzmaßnahmen lediglich vorübergehend schließen musste, liegt kein Fall einer nur vorübergehenden Unmöglichkeit vor, die von § 275 Abs. 1 BGB nicht erfasst würde. Ein nur zeitweiliges Erfüllungshindernis ist dann einem dauernden gleichzustellen, wenn durch das Hindernis die Erreichung des Vertragszwecks in Frage gestellt ist und der einen oder anderen Partei bei billiger Abwägung der beiderseitigen Belange nicht mehr zugemutet werden könnte, die Leistung dann noch zu fordern oder zu erbringen. Wird - wie im vorliegenden Fall - für einen Fitnessstudiovertrag eine mehrmonatige feste Vertragslaufzeit gegen Zahlung eines monatlich fällig werdenden Entgelts vereinbart, schuldet der Betreiber des Fitnessstudios seinem Vertragspartner die Möglichkeit, fortlaufend das Studio zu betreten und die Trainingsgeräte zu nutzen. Der Zweck eines Fitnessstudiovertrags liegt in der regelmäßigen sportlichen Betätigung und damit entweder in der Erreichung bestimmter Fitnessziele oder zumindest der Erhaltung von Fitness und körperlicher Gesundheit. Aufgrund dessen sind für den Vertragspartner gerade die regelmäßige und ganzjährige Öffnung und Nutzbarkeit des Studios von entscheidender Bedeutung. Kann der Betreiber des Fitnessstudios während der vereinbarten Vertragslaufzeit dem Vertragspartner die Nutzungsmöglichkeit des Studios zeitweise nicht gewähren, etwa weil er - wie hier - das Fitnessstudio aufgrund der hoheitlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie schließen muss, kann dieser Vertragszweck für den Zeitraum der Schließung nicht erreicht werden. Die von dem Betreiber geschuldete Leistung ist deshalb wegen Zeitablaufs nicht mehr nachholbar. Zu Recht hat das Berufungsgericht auch angenommen, dass die Beklagte dem Rückzahlungsanspruch des Klägers nicht entgegenhalten kann, der Vertrag sei wegen Störung der Geschäftsgrundlage gemäß § 313 Abs. 1 BGB dahingehend anzupassen, dass sich die vereinbarte Vertragslaufzeit um die Zeit, in der das Fitnessstudio geschlossen werden musste, verlängert wird. Eine solche Vertragsanpassung wird zwar in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung teilweise vertreten. Diese Auffassung verkennt jedoch das Konkurrenzverhältnis zwischen § 275 Abs. 1 BGB und § 313 BGB. Eine Anpassung vertraglicher Verpflichtungen an die tatsächlichen Umstände kommt grundsätzlich dann nicht in Betracht, wenn das Gesetz in den Vorschriften über die Unmöglichkeit der Leistung die Folge der Vertragsstörung bestimmt. Daher scheidet eine Anwendung des § 313 BGB aus, soweit - wie im vorliegenden Fall - der Tatbestand des § 275 Abs. 1 BGB erfüllt ist. Ein Anspruch der Beklagten auf die begehrte Vertragsanpassung scheidet auch deshalb aus, weil mit Art. 240 § 5 Abs. 2 EGBGB eine speziellere Vorschrift besteht, die im vorliegenden Fall einem Rückgriff auf die allgemeinen Grundsätze zur Vertragsanpassung wegen Störung der Geschäftsgrundlage entgegensteht. Grundsätzlich ist eine Vertragsanpassung wegen Störung der Geschäftsgrundlage nach § 313 BGB nicht möglich, wenn der Gesetzgeber das Risiko einer Geschäftsgrundlagenstörung erkannt und zur Lösung der Problematik eine spezielle gesetzliche Vorschrift geschaffen hat. Bei der durch Art. 1 des Gesetzes zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Veranstaltungsrecht und im Recht der Europäischen Gesellschaft (SE) und der Europäischen Genossenschaft (SCE) vom 15. Mai 2020 mit Wirkung vom 20. Mai 2020 (BGBl. I S. 948) eingeführten Vorschrift des Art. 240 § 5 EGBGB handelt es sich um eine solche spezialgesetzliche Regelung, die in ihrem Anwendungsbereich dem § 313 BGB vorgeht. Zur Zeit der Schaffung dieser Vorschrift mussten aufgrund der umfangreichen Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie und der damit verbundenen Veranstaltungsverbote und Kontaktbeschränkungen eine Vielzahl von Veranstaltungen abgesagt und Freizeiteinrichtungen vorübergehend geschlossen werden. Daher konnten vielfach bereits erworbene Eintrittskarten nicht eingelöst werden. Ebenso konnten Inhaber einer zeitlichen Nutzungsberechtigung für eine Freizeiteinrichtung diese für eine gewisse Zeit nicht nutzen. Der Gesetzgeber befürchtete, dass die rechtliche Verpflichtung der Veranstalter oder Betreiber, bereits erhaltene Eintrittspreise oder Nutzungsentgelte zurückerstatten zu müssen, bei diesen zu einem erheblichen Liquiditätsabfluss führen würde, der für viele Unternehmen im Veranstaltungsbereich eine existenzbedrohende Situation zur Folge haben könnte. Zudem sah der Gesetzgeber die Gefahr, dass Insolvenzen von Veranstaltungsbetrieben auch nachteilige Folgen für die Gesamtwirtschaft und das kulturelle Angebot in Deutschland haben könnten. Um diese unerwünschten Folgen nach Möglichkeit zu verhindern, wollte der Gesetzgeber mit Art. 240 § 5 EGBGB für Veranstaltungsverträge, die vor dem 8. März 2020 abgeschlossen wurden, eine Regelung schaffen, die die Veranstalter von Freizeitveranstaltungen vorübergehend dazu berechtigt, den Inhabern von Eintrittskarten statt der Erstattung des Eintrittspreises einen Gutschein in Höhe des Eintrittspreises auszustellen (Art. 240 § 5 Abs. 1 EGBGB), sofern die Veranstaltung aufgrund der Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie nicht stattfinden konnte. Durch Art. 240 § 5 Abs. 2 EGBGB wurde dem Betreiber einer Freizeiteinrichtung ebenfalls das Recht eingeräumt, dem Nutzungsberechtigten einen Gutschein zu übergeben, der dem Wert des nicht nutzbaren Teils der Berechtigung entspricht. Durch diese "Gutscheinlösung" hat der Gesetzgeber unter Berücksichtigung der Interessen sowohl der Unternehmer im Veranstaltungs- und Freizeitbereich als auch der Interessen der Kunden eine abschließende Regelung getroffen, um die Auswirkungen der Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie im Veranstaltungs- und Freizeitbereich abzufangen. Eine Vertragsanpassung nach den Grundsätzen über die Störung der Geschäftsgrundlage findet daneben nicht statt. Die maßgeblichen Normen lauten wie folgt: § 275 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) (1) Der Anspruch auf Leistung ist ausgeschlossen, soweit diese für den Schuldner oder für jedermann unmöglich ist. (4) Die Rechte des Gläubigers bestimmen sich nach den §§ 280, 283 bis 285, 311a und 326. § 313 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) Haben sich Umstände, die zur Grundlage des Vertrags geworden sind, nach Vertragsschluss schwerwiegend verändert und hätten die Parteien den Vertrag nicht oder mit anderem Inhalt geschlossen, wenn sie diese Veränderung vorausgesehen hätten, so kann Anpassung des Vertrags verlangt werden, soweit einem Teil unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der vertraglichen oder gesetzlichen Risikoverteilung, das Festhalten am unveränderten Vertrag nicht zugemutet werden kann. […] § 326 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) (1) Braucht der Schuldner nach § 275 Abs. 1 bis 3 nicht zu leisten, entfällt der Anspruch auf die Gegenleistung; bei einer Teilleistung findet § 441 Abs. 3 entsprechende Anwendung. Satz 1 gilt nicht, wenn der Schuldner im Falle der nicht vertragsgemäßen Leistung die Nacherfüllung nach § 275 Abs. 1 bis 3 nicht zu erbringen braucht. [...] (4) Soweit die nach dieser Vorschrift nicht geschuldete Gegenleistung bewirkt ist, kann das Geleistete nach den §§ 346 bis 348 zurückgefordert werden. Art 240 § 5 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch (1) Wenn eine Musik-, Kultur-, Sport- oder sonstige Freizeitveranstaltung aufgrund der COVID-19-Pandemie nicht stattfinden konnte oder kann, ist der Veranstalter berechtigt, dem Inhaber einer vor dem 8. März 2020 erworbenen Eintrittskarte oder sonstigen Teilnahmeberechtigung anstelle einer Erstattung des Eintrittspreises oder sonstigen Entgelts einen Gutschein zu übergeben. [...] (2) Soweit eine Musik-, Kultur-, Sport- oder sonstige Freizeiteinrichtung aufgrund der COVID-19-Pandemie zu schließen war oder ist, ist der Betreiber berechtigt, dem Inhaber einer vor dem 8. März 2020 erworbenen Nutzungsberechtigung anstelle einer Erstattung des Entgelts einen Gutschein zu übergeben. (5) Der Inhaber eines nach den Absätzen 1 oder 2 ausgestellten Gutscheins kann von dem Veranstalter oder Betreiber die Auszahlung des Wertes des Gutscheins verlangen, wenn 1. der Verweis auf einen Gutschein für ihn angesichts seiner persönlichen Lebensumstände unzumutbar ist oder 2. er den Gutschein bis zum 31. Dezember 2021 nicht eingelöst hat. Vorinstanzen: LG Osnabrück - 2 S 35/21 - Urteil vom 9. Juli 2021 AG Papenburg - 3 C 337/20 - Urteil vom 18. Dezember 2020 Karlsruhe, den 4. Mai 2022 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Urteil des XII. Zivilsenats vom 4.5.2022 - XII ZR 64/21 -
1. Während der Zeit der Schließung eines Fitnessstudios aufgrund der hoheitlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie war es dem Betreiber rechtlich unmöglich, dem Nutzungsberechtigten die Möglichkeit zur vertragsgemäßen Nutzung des Fitnessstudios zu gewähren und damit seine vertraglich geschuldete Hauptleistungspflicht zu erfüllen. Für den Zeitraum der Schließung hat der Nutzungsberechtigte einen Anspruch auf Rückzahlung der entrichteten Monatsbeiträge, sofern der Betreiber von der "Gutscheinlösung" nach Art. 240 § 5 Abs. 2 EGBGB keinen Gebrauch gemacht hat.2. Eine Anpassung vertraglicher Verpflichtungen an die tatsächlichen Umstände kommt grundsätzlich dann nicht in Betracht, wenn das Gesetz in den Vorschriften über die Unmöglichkeit der Leistung die Folge der Vertragsstörung bestimmt. Daher scheidet eine Anwendung des § 313 BGB aus, soweit der Tatbestand des § 275 Abs. 1 BGB erfüllt ist.3. Bei Art. 240 § 5 EGBGB handelt es sich um eine spezialgesetzliche Regelung, die die gesetzlichen Rechtsfolgen der Unmöglichkeit modifiziert und in ihrem Geltungsbereich die Anwendung des § 313 BGB ausschließt.4. Der Betreiber eines Fitnessstudios hat deshalb gegen seinen Vertragspartner keinen Anspruch auf eine Vertragsanpassung wegen Störung der Geschäftsgrundlage dahingehend, dass die vereinbarte Vertragslaufzeit um den Zeitraum einer pandemiebedingten Schließung des Fitnessstudios verlängert wird. Tenor Die Revision gegen das Urteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts Osnabrück vom 9. Juli 2021 wird auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen.Von Rechts wegen Tatbestand Der Kläger verlangt von der Beklagten als Betreiberin eines Fitness-Studios Rückzahlung von Monatsbeiträgen, welche er in der Zeit, in der die Beklagte ihr Fitnessstudio aufgrund der hoheitlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie schließen musste, entrichtet hat.Die Parteien schlossen am 13. Mai 2019 einen Vertrag über die Mitgliedschaft im Fitnessstudio der Beklagten mit einer Laufzeit von 24 Monaten, beginnend ab dem 8. Dezember 2019. Der monatliche Mitgliedsbeitrag, der im Lastschriftverfahren eingezogen wurde, betrug 29,90 € nebst einer halbjährlichen Servicepauschale. Aufgrund der Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie musste die Beklagte das Fitnessstudio in der Zeit vom 16. März 2020 bis 4. Juni 2020 schließen. Die Monatsbeiträge für diesen Zeitraum zog die Beklagte weiterhin vom Konto des Klägers ein. Eine vom Kläger mit Schreiben vom 7. Mai 2020 erklärte Kündigung seiner Mitgliedschaft zum 8. Dezember 2021 wurde von der Beklagten akzeptiert. Mit Schreiben vom 15. Juni 2020 verlangte der Kläger von der Beklagten die Rückzahlung der per Lastschrift eingezogenen Mitgliedsbeiträge für den Zeitraum vom 16. März 2020 bis 4. Juni 2020 in Höhe von insgesamt 86,75 €. Nachdem eine Rückzahlung nicht erfolgte, forderte der Kläger die Beklagte auf, ihm für den Schließungszeitraum einen Wertgutschein über den eingezogenen Betrag auszustellen. Die Beklagte händigte dem Kläger keinen Wertgutschein aus, sondern bot ihm eine "Gutschrift über Trainingszeit" für den Zeitraum der Schließung an. Dieses Angebot nahm der Kläger nicht an.Das Amtsgericht hat die Beklagte zur Rückzahlung der Monatsbeiträge für den Schließungszeitraum in Höhe von 86,75 € nebst Zinsen und zur Zahlung außergerichtlicher Rechtsanwaltskosten verurteilt. Ihre hiergegen gerichtete Berufung hat das Landgericht zurückgewiesen. Mit der vom Landgericht zugelassenen Revision möchte die Beklagte weiterhin die Abweisung der Klage erreichen. Gründe Die Revision hat keinen Erfolg.I.Das Landgericht hat seine in juris veröffentlichte Entscheidung wie folgt begründet:Der Kläger habe gegen die Beklagte einen Anspruch gemäß §§ 275 Abs. 1, 326 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4, 346 ff. BGB auf Rückzahlung der für den Zeitraum der Schließung entrichteten Monatsbeiträge in Höhe von insgesamt 86,75 €.Da das Fitnessstudio der Beklagten aufgrund einer behördlichen Anordnung in der Zeit vom 16. März 2020 bis 4. Juni 2020 geschlossen gewesen sei, habe die Beklagte in diesem Zeitraum die von ihr geschuldete Leistung - nämlich das Zurverfügungstellen von Räumlichkeiten zum Trainieren - nicht erfüllen können. Der Beklagten sei daher die geschuldete Leistung für diesen Zeitraum unmöglich geworden, so dass ihr Anspruch auf Entrichtung der Monatsbeiträge für den Schließungszeitraum entfallen sei und dem Kläger ein Anspruch auf Rückzahlung der bereits erbrachten Gegenleistung zustehe.Ein nur vorübergehendes Leistungshindernis liege nicht vor, weil die von der Beklagten geschuldete Leistung innerhalb des Vertragszeitraums nicht nachgeholt werden könne. Die Beklagte habe ihre Leistung in jedem Monat "neu" zu erbringen, so dass innerhalb der Vertragslaufzeit kein Raum für die Nachholbarkeit der versäumten Trainingszeit bestehe. Eine Nachholbarkeit sei allenfalls insoweit denkbar, als der Schließungszeitraum an das Ende der Vertragslaufzeit "angehängt" werde. Dies diene jedoch nicht dem Interesse des Klägers, da dieser seine Mitgliedschaft zum Ende der Vertragslaufzeit gekündigt habe.Die Beklagte habe auch keinen Anspruch nach § 313 Abs. 1 BGB auf Anpassung des Vertrags in der Weise, dass der Schließungszeitraum an das Ende der Vertragslaufzeit kostenfrei angehängt werde. Es liege keine Störung der Geschäftsgrundlage, sondern eine Leistungsstörung vor, die vorrangig nach den allgemeinen Regeln des Leistungsstörungsrechts zu lösen sei. Die Beklagte verlange auch keine Anpassung des Vertrags, sondern vielmehr eine Anpassung der gesetzlich vorgesehenen Rechtsfolge bei Unmöglichkeit im Synallagma, weil die vom Gesetz vorgesehene Rechtsfolge nach ihrer Auffassung zu einem wirtschaftlich unzumutbaren Ergebnis führe. Ein Rückgriff auf die Regeln der Störung der Geschäftsgrundlage komme aber nicht allein deshalb in Betracht, weil die Anwendung des Leistungsstörungsrechts für die Beklagte zu einer wirtschaftlich nachteiligen Lösung führe.Dass für den vorliegenden Fall die Regeln über die Störung der Geschäftsgrundlage nicht zur Anwendung gelangen sollen, folge im Ergebnis auch daraus, dass der Gesetzgeber mit Art. 240 § 5 Abs. 2 EGBGB eine Regelung geschaffen habe, welche die Folgen einer behördlich angeordneten Schließung von Freizeiteinrichtungen abmildern solle.Zudem entspreche eine Verlängerung der Vertragslaufzeit insbesondere dann nicht den Interessen des Mitglieds, wenn dieses - wie hier - die Mitgliedschaft ordentlich gekündigt habe. Eine solche Lösung würde einseitig die wirtschaftlichen Interessen der Beklagten befriedigen, nicht jedoch dem Interesse des Mitglieds dienen, das weiter zur Zahlung der Mitgliedsbeiträge verpflichtet bliebe, ohne die Trainingszeiten nachholen zu können.Ob die Beklagte dem Rückzahlungsanspruch des Klägers die sog. "Gutscheinlösung" des Art. 240 § 5 EGBGB entgegenhalten könne, müsse nicht entschieden werden, weil die Beklagte dem Kläger zu keinem Zeitpunkt einen entsprechenden Gutschein angeboten habe.II.Diese Ausführungen halten rechtlicher Nachprüfung stand.1. Zutreffend hat das Berufungsgericht angenommen, dass der Kläger gemäß §§ 275 Abs. 1, 326 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4, 346 Abs. 1 BGB einen Anspruch auf Rückzahlung der für den Zeitraum der Schließung entrichteten Monatsbeiträge in Höhe von insgesamt 86,75 € hat.a) Nach § 326 Abs. 1 Satz 1 BGB entfällt der Anspruch auf die Gegenleistung, falls der Schuldner nach § 275 Abs. 1 bis 3 BGB die geschuldete Leistung nicht erbringen muss. Ist die nicht geschuldete Gegenleistung bereits bewirkt, kann der Schuldner diese gemäß § 326 Abs. 4 BGB nach den Vorschriften der §§ 346 bis 348 BGB zurückfordern. Diese Voraussetzungen für das Rückforderungsrecht aus § 326 Abs. 4 BGB sind vorliegend erfüllt.aa) Gemäß § 275 Abs. 1 BGB ist der Anspruch auf Leistung ausgeschlossen, soweit diese für den Schuldner oder für jedermann unmöglich ist. Rechtliche Unmöglichkeit ist gegeben, wenn ein geschuldeter Erfolg aus Rechtsgründen nicht herbeigeführt werden kann oder nicht herbeigeführt werden darf (BGHZ 195, 195 = NJW 2013, 152 Rn. 33 mwN). So liegt der Fall hier.bb) Die Beklagte musste zunächst aufgrund der für sofort vollziehbar erklärten Allgemeinverfügung Nr. 4 des Landkreises Emsland "zur Beschränkung von sozialen Kontakten im öffentlichen Bereich angesichts der Corona-Epidemie und zum Schutz der Bevölkerung vor der Verbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 auf dem Gebiet des Landkreises Emsland" vom 17. März 2020 (vgl. Amtsblatt für den Landkreis Emsland 10/2020 vom 18. März 2020 S. 91) ihr Fitnessstudio schließen. Anschließend beruhte die Schließungsanordnung auf § 1 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 der Niedersächsischen Verordnung über die Beschränkung sozialer Kontakte zur Eindämmung der Corona-Pandemie vom 2. April 2020 (Nds. GVBl. Nr. 7/2020 vom 3. April 2020 S. 55 ff.) und deren Verlängerungen. Erst durch die Verordnung zur Änderung der Niedersächsischen Verordnung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus vom 5. Juni 2020 (Nds. GVBl. Nr. 18/2020 vom 5. Juni 2020 S. 147 ff.) durften Fitnessstudios wieder geöffnet werden.Aufgrund dieser hoheitlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie war es der Beklagten in dem streitgegenständlichen Zeitraum rechtlich unmöglich, dem Kläger die Möglichkeit zur vertragsgemäßen Nutzung des Fitnessstudios zu gewähren und damit ihre vertraglich geschuldete Hauptleistungspflicht zu erfüllen (vgl. LG Freiburg COVuR 2021, 474, 476; Stöber NJW 2022, 897; Jänsch COVuR 2021, 578 f.; Köhler ZJS 2021, 108 f.)b) Entgegen der Auffassung der Revision liegt hier kein Fall einer nur vorübergehenden Unmöglichkeit vor, die von § 275 Abs. 1 BGB nicht erfasst würde.aa) Zwar musste die Beklagte das Fitnessstudio im Hinblick auf die zeitliche Befristung der Corona-Schutzmaßnahmen lediglich vorübergehend schließen. Ein nur zeitweiliges Erfüllungshindernis ist aber dann einem dauernden gleichzustellen, wenn durch das Hindernis die Erreichung des Vertragszwecks in Frage gestellt ist und der einen oder anderen Partei bei billiger Abwägung der beiderseitigen Belange nicht mehr zugemutet werden könnte, die Leistung dann noch zu fordern oder zu erbringen. Dabei ist die Frage, ob ein Leistungshindernis zu einer dauernden oder nur vorübergehenden Unmöglichkeit führt, nach dem Zeitpunkt des Eintritts des Hindernisses zu beurteilen (vgl. BGHZ 174, 61 = NJW 2007, 3777 Rn. 24 mwN).bb) Auf dieser rechtlichen Grundlage hat das Berufungsgericht zu Recht angenommen, dass der Beklagten in dem hier maßgeblichen Zeitraum die von ihr geschuldete Leistung dauerhaft unmöglich geworden ist.Wird - wie im vorliegenden Fall - für einen Fitnessstudiovertrag eine mehrmonatige feste Vertragslaufzeit gegen Zahlung eines monatlich fällig werdenden Entgelts vereinbart, schuldet der Betreiber des Fitnessstudios seinem Vertragspartner die Möglichkeit, fortlaufend das Studio zu betreten und die Trainingsgeräte zu nutzen. Der Zweck eines Fitnessstudiovertrags liegt in der regelmäßigen sportlichen Betätigung und damit entweder in der Erreichung bestimmter Fitnessziele oder zumindest der Erhaltung von Fitness und körperlicher Gesundheit. Aufgrund dessen sind für den Vertragspartner gerade die regelmäßige und ganzjährige Öffnung und Nutzbarkeit des Studios von entscheidender Bedeutung (vgl. LG Freiburg COVuR 2021, 474, 476; Jänsch COVuR 2021, 578, 579). Kann der Betreiber des Fitnessstudios während der vereinbarten Vertragslaufzeit dem Vertragspartner zeitweise die Nutzungsmöglichkeit des Studios nicht gewähren, etwa weil er - wie hier - das Fitnessstudio aufgrund der hoheitlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie schließen muss, kann dieser Vertragszweck für den Zeitraum der Schließung nicht erreicht werden. Die von dem Betreiber geschuldete Leistung ist deshalb wegen Zeitablaufs nicht mehr nachholbar (vgl. Stöber NJW 2022, 897).cc) In diesem Zusammenhang rügt die Revision zu Unrecht, das Berufungsgericht habe es rechtsfehlerhaft unterlassen, zunächst durch Auslegung des Fitnessstudiovertrags den konkreten Inhalt der Leistungsverpflichtung der Beklagten zu bestimmen.(1) Die Revision meint, der zwischen den Parteien geschlossene Vertrag enthalte keine ausdrückliche Regelung zum Umfang der Leistungspflicht der Beklagten, weil dort weder konkrete, vertraglich geschuldete Öffnungszeiten noch eine Mindestanzahl an Öffnungstagen pro Monat vereinbart worden seien. Deshalb ergebe sich aus der gebotenen Auslegung des streitgegenständlichen Vertrags, dass die Beklagte nicht von Vertragsbeginn bis Vertragsende ununterbrochen zur Zurverfügungstellung des Fitnessstudios verpflichtet gewesen sei, und zwar insbesondere dann nicht, wenn die Öffnung des Fitnessstudios eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung darstelle. Der Vertrag weise bezüglich der Öffnungszeiten zudem eine Regelungslücke auf, weshalb das Berufungsgericht eine ergänzende Vertragsauslegung hätte vornehmen müssen. Danach hätten sich die Vertragsparteien bei Abschluss des Mitgliedsvertrags redlicherweise dahingehend geeinigt, dass die Beklagte entsprechend § 315 Abs. 1 BGB berechtigt sein sollte, ihr Fitnessstudio entsprechend der Billigkeit für einen begrenzten Zeitraum zu schließen, und dem Kläger im Gegenzug ein Recht auf Nachholung der verpassten Trainingszeit eingeräumt werde. Dieses Bestimmungsrecht habe die Beklagte vorliegend auch nach billigem Ermessen im Sinne von § 315 Abs. 1 BGB ausgeübt, indem sie bestimmt habe, dass der Kläger die verlorene Trainingszeit nach dem eigentlichen Vertragsende nachholen könne.(2) Dem kann nicht gefolgt werden.(a) Zwar enthält der zwischen den Parteien abgeschlossene Vertrag tatsächlich keine ausdrückliche Regelung zum Umfang der Leistungspflicht der Beklagten. Es ist darin lediglich von einer Mitgliedschaft des Klägers für 24 Monate und einem "Trainingsbeginn" die Rede. Eine Verpflichtung zur ununterbrochenen Zurverfügungstellung des Fitnessstudios ist weder in dem Fitnessstudiovertrag noch in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Beklagten ausdrücklich vorgesehen. Nach Ziffer 2.1 der für das streitgegenständliche Rechtsverhältnis geltenden Allgemeinen Geschäftsbedingungen war die Beklagte jedoch dazu verpflichtet, dem Kläger die Nutzung ihres Fitnessstudios "während der Öffnungszeiten" zu ermöglichen. Daher ist der Vertrag dahingehend auszulegen, dass der Kunde das Fitnessstudio während der ihm bei Vertragsschluss bekannten regelmäßigen Öffnungszeiten nutzen kann und die Beklagte jedenfalls nicht dazu berechtigt ist, das Fitnessstudio zu diesen Zeiten und erst recht nicht über mehrere Monate hinweg vollständig zu schließen. Diese Auslegung kann der Senat selbst vornehmen, weil hierzu keine weiteren Feststellungen zu treffen sind.(b) Entgegen der Auffassung der Revision weist der Vertrag daher auch keine planwidrige Regelungslücke auf, die im Wege einer ergänzenden Vertragsauslegung geschlossen werden müsste. Allein der Umstand, dass ein Vertrag für einen bestimmten Gesichtspunkt keine ausdrückliche Regelung enthält, besagt noch nicht, dass er insoweit unvollständig ist. Von einer planwidrigen Unvollständigkeit kann nur gesprochen werden, wenn der Vertrag eine Bestimmung vermissen lässt, die erforderlich ist, um den ihm zugrundeliegenden Regelungsplan der Parteien zu verwirklichen, mithin ohne Vervollständigung des Vertrags eine angemessene, interessengerechte Lösung nicht zu erzielen wäre. Die ergänzende Vertragsauslegung muss sich als zwingende selbstverständliche Folge aus dem Gesamtzusammenhang des Vereinbarten ergeben, so dass ohne die vorgenommene Ergänzung das Ergebnis in offenbarem Widerspruch mit dem nach dem Inhalt des Vertrags tatsächlich Vereinbarten stehen würde (Senatsurteil BGHZ 200, 133 = NJW 2014, 1521 Rn. 17 mwN). Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Zudem darf die ergänzende Vertragsauslegung nicht zu einer wesentlichen Erweiterung des Vertragsinhaltes führen (Senatsurteil BGHZ 200, 133 = NJW 2014, 1521 Rn. 17 mwN). Dies wäre jedoch der Fall, wenn der Beklagten im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung das von der Beklagten angenommene einseitige Leistungsbestimmungsrecht eingeräumt würde.2. Ebenfalls zu Recht hat das Berufungsgericht angenommen, dass die Beklagte dem Rückzahlungsanspruch des Klägers nicht entgegenhalten kann, der Vertrag sei wegen Störung der Geschäftsgrundlage gemäß § 313 Abs. 1 BGB dahingehend anzupassen, dass sich die vereinbarte Vertragslaufzeit um die Zeit, in der das Fitnessstudio geschlossen werden musste, verlängert wird.a) Zwar wird diese Auffassung in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung teilweise vertreten (so etwa AG Gelnhausen Urteil vom 24. Juni 2021 - 53 C 77/21 - juris; AG Zeitz Urteil vom 1. Dezember 2020 - 4 C 112/20 - juris; AG Paderborn COVuR 2021, 549 f.; AG Minden Urteil vom 29. April 2021 - 2 C 17/21 - BeckRS 2021, 28556; AG Verden Urteil vom 12. Februar 2021 - 2 C 384/20 - BeckRS 2021, 28813; AG Oldenburg Urteil vom 16. Juni 2021 - 7 C 7305/20 - BeckRS 2021, 28554; AG Kaufbeuren Urteil vom 19. Mai 2021 - 2 C 223/21 - BeckRS 2021, 28874).b) Diese Rechtsprechung verkennt jedoch bereits das Konkurrenzverhältnis zwischen § 275 Abs. 1 BGB und § 313 BGB. Eine Anpassung vertraglicher Verpflichtungen an die tatsächlichen Umstände kommt grundsätzlich dann nicht in Betracht, wenn das Gesetz in den Vorschriften über die Unmöglichkeit der Leistung die Folge der Vertragsstörung bestimmt (vgl. BGH Urteil vom 17. Februar 1995 - V ZR 267/93 - NJW-RR 1995, 853, 854; BGHZ 191, 139 = NJW 2012, 373 Rn. 12). Daher scheidet eine Anwendung des § 313 BGB aus, soweit der Tatbestand des § 275 Abs. 1 BGB erfüllt ist (vgl. BeckOK BGB/Lorenz [Stand: 1. Februar 2022] § 313 Rn. 20; BeckOGK/Martens [Stand: 1. April 2022] BGB § 313 Rn. 230; MünchKommBGB/Finkenauer 8. Aufl. § 313 Rn. 155; MünchKommBGB/Ernst 8. Aufl. § 275 Rn. 19).c) Im vorliegenden Fall war es der Beklagten aufgrund der hoheitlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie in dem streitgegenständlichen Zeitraum unmöglich, dem Kläger die vertragsgemäße Nutzung des Fitnessstudios zu gewähren. Dieser Fall der rechtlichen Unmöglichkeit der Leistungserbringung wird abschließend von den speziellen Regelungen des schuldrechtlichen Leistungsstörungsrechts erfasst, indem die Beklagte nach § 275 Abs. 1 BGB von ihrer Leistungsverpflichtung frei geworden ist und sie gleichzeitig ihren Anspruch auf die Gegenleistung nach § 326 Abs. 1 BGB verloren hat. Eine Anpassung des Vertrags wegen Störung der Geschäftsgrundlage gemäß § 313 Abs. 1 BGB ist daneben nicht möglich. Denn Gegenstand des § 313 Abs. 1 BGB ist die durch die Veränderung der Geschäftsgrundlage ausgelöste Störung des vertraglichen Äquivalenzverhältnisses von Leistung und Gegenleistung. Eine Anpassung des Vertragsinhalts ist aber nicht mehr möglich, wenn bereits aufgrund spezieller gesetzlicher Regelungen, wie im vorliegenden Fall aufgrund der §§ 275 Abs. 1, 326 Abs. 1 Satz 1 BGB, die wechselseitigen vertraglichen Leistungsverpflichtungen entfallen sind.Das Berufungsgericht weist in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hin, dass die von der Beklagten begehrte Anpassung des Vertrags im Ergebnis nicht darauf ausgerichtet wäre, den Vertragsinhalt den veränderten Umständen aufgrund der COVID-19-Pandemie anzupassen, sondern darauf, die für sie wirtschaftlich nachteiligen Folgen der gesetzlichen Regelungen zur Unmöglichkeit zu korrigieren. Dies ist jedoch nicht der Zweck der Regelung zur Störung der Geschäftsgrundlage.d) Ein Anspruch der Beklagten auf die begehrte Vertragsanpassung scheidet auch deshalb aus, weil mit Art. 240 § 5 Abs. 2 EGBGB eine speziellere Vorschrift besteht, die im Rahmen ihres Anwendungsbereichs die Folgen der Unmöglichkeit modifiziert und im vorliegenden Fall einem Rückgriff auf die allgemeinen Grundsätze zur Vertragsanpassung wegen Störung der Geschäftsgrundlage entgegensteht.aa) Grundsätzlich ist eine Vertragsanpassung wegen Störung der Geschäftsgrundlage nach § 313 BGB nicht möglich, wenn der Gesetzgeber das Risiko einer Vertragsstörung erkannt und zur Lösung der Problematik eine spezielle gesetzliche Vorschrift geschaffen hat. Solche Regelungen schließen in ihrem Anwendungsbereich regelmäßig einen Rückgriff auf § 313 BGB aus (vgl. MünchKommBGB/Finkenauer 8. Aufl. § 313 Rn. 138 f.; BeckOK BGB/Lorenz [Stand: 1. Februar 2022] § 313 Rn. 13; BeckOGK/Martens [Stand: 1. April 2022] BGB § 313 Rn. 165 f.; Grüneberg/Grüneberg BGB 82. Aufl. § 313 Rn. 16; vgl. auch Senatsurteil vom 6. März 2002 - XII ZR 133/00 - NJW 2002, 2098, 2100; BGHZ 40, 336 = NJW 1964, 861). In diesen Fällen ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber die Gefahr einer bestimmten Vertragsstörung erkannt hat und mit der gesetzlichen Regelung für einen angemessenen Interessenausgleich zwischen den Beteiligten sorgen wollte. Wäre in diesen Fällen daneben auch eine Vertragsanpassung nach den Grundsätzen der Störung der Geschäftsgrundlage möglich, bestünde die Gefahr, dass die gesetzgeberische Wertung umgangen wird (vgl. MünchKommBGB/Finkenauer 8. Aufl. § 313 Rn. 139). Daher kann in diesen Fällen auf § 313 BGB nur dann zurückgegriffen werden, wenn der Anwendungsbereich der speziellen Vorschrift im Einzelfall nicht berührt ist (BeckOK BGB/Lorenz [Stand: 1. Februar 2022] § 313 Rn. 13; BeckOGK/Martens [Stand: 1. April 2022] BGB § 313 Rn. 165).bb) Bei der durch Art. 1 des Gesetzes zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Veranstaltungsrecht und im Recht der Europäischen Gesellschaft (SE) und der Europäischen Genossenschaft (SCE) vom 15. Mai 2020 mit Wirkung vom 20. Mai 2020 (BGBl. I S. 948) eingeführten Vorschrift des Art. 240 § 5 EGBGB handelt es sich um eine solche spezialgesetzliche Regelung, die die gesetzlichen Rechtsfolgen der Unmöglichkeit modifiziert und in ihrem Geltungsbereich die Anwendung des § 313 BGB ausschließt (vgl. BeckOGK/Preisser [Stand: 1. April 2022] EGBGB Art. 240 § 5 Rn. 45; BeckOGK/Martens [Stand: 1. April 2022] BGB § 313 Rn. 240.1; MünchKommBGB/Busche 8. Aufl. Art. 240 § 5 EGBGB Rn. 43; Jänsch COVuR 2021, 578, 581).Zur Zeit der Schaffung dieser Vorschrift mussten aufgrund der umfangreichen Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie und der damit verbundenen Veranstaltungsverbote und Kontaktbeschränkungen eine Vielzahl von Veranstaltungen abgesagt und Freizeiteinrichtungen vorübergehend geschlossen werden. Daher konnten vielfach bereits erworbene Eintrittskarten nicht eingelöst werden. Ebenso konnten Inhaber einer zeitlichen Nutzungsberechtigung für eine Freizeiteinrichtung diese für eine gewisse Zeit nicht nutzen. Da der Gesetzgeber zutreffend davon ausging, dass die Inhaber der Eintrittskarten und Nutzungsberechtigungen gemäß §§ 275 Abs. 1, 326 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4, 346 Abs. 1 BGB berechtigt sind, die Erstattung des Eintrittspreises oder Entgelts von dem jeweiligen Veranstalter oder Betreiber zu verlangen, befürchtete er bei diesen einen erheblichen Liquiditätsabfluss, der für viele Unternehmen im Veranstaltungsbereich zu einer existenzbedrohenden Situation hätte führen können (BT-Drucks. 19/18697 S. 1 und 5). Zudem sah der Gesetzgeber die Gefahr, dass Insolvenzen von Veranstaltungsbetrieben neben den nachteiligen Folgen für die Gesamtwirtschaft und das kulturelle Angebot in Deutschland voraussichtlich auch dazu führen würden, dass viele Inhaber von Eintrittskarten oder Nutzungsberechtigungen keine Rückerstattung erhalten würden (BT-Drucks. 19/18697 S. 5).Um diese unerwünschten Folgen nach Möglichkeit zu verhindern, wollte der Gesetzgeber mit Art. 240 § 5 EGBGB für Veranstaltungsverträge, die vor dem 8. März 2020 abgeschlossen waren, eine Regelung schaffen, die die Veranstalter von Freizeitveranstaltungen dazu berechtigt, den Inhabern von Eintrittskarten statt der Erstattung des Eintrittspreises einen Gutschein in Höhe des Eintrittspreises auszustellen (Art. 240 § 5 Abs. 1 EGBGB), sofern die Veranstaltung aufgrund der Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie nicht stattfinden konnte. Durch Art. 240 § 5 Abs. 2 EGBGB wurde dem Betreiber einer Freizeiteinrichtung das Recht eingeräumt, dem Nutzungsberechtigten einen Gutschein zu übergeben, der dem Wert des nicht nutzbaren Teils der Berechtigung entspricht (BT-Drucks. 19/18697 S. 5).Bei der Ausgestaltung dieser Regelung hatte der Gesetzgeber aber nicht nur die Interessen der Veranstalter und Betreiber von Freizeiteinrichtungen im Blick. Da durch die Gutscheinlösung und die damit verbundene gesetzliche Ersetzungsbefugnis (vgl. MünchKommBGB/Busche 8. Aufl. Art. 240 § 5 EGBGB Rn. 28; Jänsch COVuR 2021, 578, 579) für die Veranstalter und Betreiber auch der Rückzahlungsanspruch des Inhabers einer Eintrittskarte oder einer sonstigen Teilnahme- oder Nutzungsberechtigung aus § 326 Abs. 1 und 4 in Verbindung mit § 346 Abs. 1 BGB modifiziert wurde, enthält Art. 240 § 5 Abs. 5 EGBGB eine Unzumutbarkeitsregelung (vgl. BT-Drucks. 19/18697 S. 8 f.). Danach kann der Inhaber eines Gutscheins die Auszahlung des Werts verlangen, wenn der Verweis auf einen Gutschein für ihn angesichts seiner persönlichen Lebensumstände unzumutbar ist (Art. 240 § 5 Abs. 5 Nr. 1 EGBGB) oder er den Gutschein nicht bis zum 31. Dezember 2021 eingelöst hat (Art. 240 § 5 Abs. 5 Nr. 2 EGBGB).Durch diese Gutscheinlösung hat der Gesetzgeber unter Berücksichtigung der Interessen sowohl der Unternehmer im Veranstaltungs- und Freizeitbereich als auch der Interessen der Kunden eine abschließende Regelung getroffen, um die Auswirkungen der Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie im Veranstaltungs- und Freizeitbereich abzufangen. Zwar bleibt es den Vertragsparteien trotz dieser Regelung unbenommen, eine anderweitige vertragliche Vereinbarung zu schließen. Eine Vertragsanpassung nach den Grundsätzen über die Störung der Geschäftsgrundlage findet daneben jedoch nicht statt. Könnte der Betreiber einer Freizeiteinrichtung nach § 313 Abs. 1 BGB von seinem Kunden verlangen, dass die Zeit einer Betriebsschließung an die vertraglich vereinbarte Vertragslaufzeit angehängt wird, würde das vom Gesetzgeber mit der Gutscheinlösung verfolgte Regelungskonzept umgangen (so auch Jänsch COVuR 2021, 578, 581).Dass nach Auffassung des Gesetzgebers Art. 240 § 5 EGBGB in seinem Anwendungsbereich eine abschließende Regelung darstellen und daneben ein Rückgriff auf § 313 BGB ausgeschlossen sein soll, lässt sich schließlich auch daraus entnehmen, dass der Gesetzgeber in Art. 240 § 7 EGBGB für Miet- und Pachtverträge über Grundstücke und Räume, die keine Wohnräume sind, ausdrücklich klargestellt hat, dass § 313 BGB anwendbar ist, wenn die Räumlichkeiten aufgrund von Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie für den Mieter oder Pächter nicht oder nur eingeschränkt nutzbar sind. Aus dem Fehlen einer entsprechenden Regelung in Art. 240 § 5 EGBGB kann deshalb geschlossen werden, dass der Gesetzgeber für Verträge im Bereich von Freizeitveranstaltungen und -einrichtungen die Anwendung des § 313 BGB als ausgeschlossen angesehen hat (vgl. BeckOGK/Preisser [Stand: 1. April 2022] EGBGB Art. 240 § 5 Rn. 45; Jänsch COVuR 2021, 578, 581).cc) Danach scheidet ein Anspruch der Beklagten auf Vertragsanpassung wegen Störung der Geschäftsgrundlage auch deshalb aus, weil vorliegend die Tatbestandsvoraussetzungen des vorrangig anwendbaren Art. 240 § 5 Abs. 2 EGBGB erfüllt sind.Der streitgegenständliche Fitnessstudiovertrag ist vom sachlichen und die Beklagte als Inhaberin des Fitnessstudios vom persönlichen Anwendungsbereich der Vorschrift erfasst (vgl. MünchKommBGB/Busche 8. Aufl. Art. 240 § 5 EGBGB Rn. 9 und 11; vgl. auch BT-Drucks. 19/18697 S. 5). Da der Vertrag vor dem 8. März 2020 abgeschlossen wurde, ist auch der zeitliche Anwendungsbereich der Vorschrift gegeben. Die Beklagte wäre daher berechtigt gewesen, dem Kläger statt der Erstattung des Entgelts für die Zeit der Schließung des Fitnessstudios einen entsprechenden Gutschein zu übergeben. Von dieser Möglichkeit hat sie jedoch keinen Gebrauch gemacht. Nach den getroffenen Feststellungen hat sie dem Kläger lediglich eine "Gutschrift über Trainingszeit" ausgestellt, die den Anforderungen nach Art. 240 § 5 Abs. 3 und 4 EGBGB nicht entspricht. Der Aufforderung des Klägers, ihm einen Gutschein über den bereits eingezogenen Mitgliedsbeitrag auszustellen, kam die Beklagte hingegen nicht nach. Eine Vertragsanpassung wegen Störung der Geschäftsgrundlage dahingehend, dass der Zeitraum der Schließung an die vertraglich vereinbarte Laufzeit des Vertrags angehängt wird, kann die Beklagte daher nicht verlangen.DoseKlinkhammerGünterBoturKrüger
bundesgerichtshof
bgh_006-2021
14.01.2021
Freispruch im sogenannten Wehrhahn-Verfahren rechtskräftig Ausgabejahr 2021 Erscheinungsdatum 14.01.2021 Nr. 006/2021 Urteil vom 14. Januar 2021 – 3 StR 124/20 Das Schwurgericht des Landgerichts Düsseldorf hat den Angeklagten vom Vorwurf des versuchten Mordes in zwölf Fällen in Tateinheit mit Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion freigesprochen. Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen wurde am 27. Juli 2000 im Bereich des S-Bahnhofs Düsseldorf-Wehrhahn auf der Rückseite des zu den Gleisen gelegenen Geländers einer Fußgängerbrücke eine mit dem Sprengstoff Trinitrotoluol (TNT) befüllte Rohrbombe zur Explosion gebracht. Zum Zeitpunkt der Explosion befand sich auf der Fußgängerbrücke eine Gruppe aus Russland, der Ukraine und Aserbaidschan stammender Personen – davon vier jüdischer Abstammung –, die zuvor eine anliegende Sprachschule besucht hatte. Zehn dieser Personen wurden von den durch die Sprengung ausgelösten Splittern verletzt, teilweise sogar lebensgefährlich. Eine im sechsten Monat schwangere Geschädigte verlor ihr Kind. Der rechtsradikal eingestellte Angeklagte, der längere Zeit als Berufssoldat tätig gewesen war, war Inhaber einer unweit des Explosionsgeschehens gelegenen Militariahandlung. Er befand sich zum Tatzeitpunkt in der Nähe des Tatorts. Dass er die Explosion ausgelöst hatte oder in sonstiger Weise an dem Anschlag beteiligt war, hat die Strafkammer nach sechsmonatiger Hauptverhandlung nicht festgestellt. Gegen das Urteil hat die Staatsanwaltschaft Revision eingelegt und mit dieser insbesondere die Beweiswürdigung des Landgerichts angegriffen. Die hierauf veranlasste Überprüfung des Urteils durch den 3. Strafsenat hat keinen Rechtsfehler ergeben. Das Urteil ist somit rechtskräftig. Vorinstanz: LG Düsseldorf - 1 Ks 17/17 - Urteil vom 31. Juli 2018 Karlsruhe, den 14. Januar 2021 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Urteil des 3. Strafsenats vom 14.1.2021 - 3 StR 124/20 -
Tenor 1. Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Düsseldorf vom 31. Juli 2018 und ihre sofortige Beschwerde gegen die im vorbezeichneten Urteil angeordnete Entschädigung für die erlittenen Strafverfolgungsmaßnahmen werden verworfen.2. Die Kosten der Rechtsmittel und die dem Angeklagten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.Von Rechts wegen. Gründe Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf des versuchten Mordes in zwölf Fällen in Tateinheit mit Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion freigesprochen und ihm eine Entschädigung wegen der gegen ihn durchgeführten Ermittlungsmaßnahmen zuerkannt. Hiergegen wendet sich die zuungunsten des Angeklagten eingelegte, auf mehrere Verfahrensrügen und auf die Sachrüge gestützte Revision der Staatsanwaltschaft, die vom Generalbundesanwalt nicht vertreten wird. Gleichzeitig hat die Staatsanwaltschaft sofortige Beschwerde gegen die Entschädigungsentscheidung eingelegt.Den Rechtsmitteln der Staatsanwaltschaft bleibt insgesamt der Erfolg versagt.I.Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen wurde am 27. Juli 2000 im Bereich des S-Bahnhofs Düsseldorf-Wehrhahn auf der Rückseite des zu den Gleisen gelegenen Geländers einer Fußgängerbrücke eine mit dem Sprengstoff Trinitrotoluol (TNT) befüllte Rohrbombe zur Explosion gebracht. Der Sprengkörper war nicht industriell hergestellt, mit einem externen Zündmechanismus versehen und wurde mit einer funkgesteuerten Fernzündung ausgelöst. Zum Zeitpunkt der Explosion befand sich auf der Fußgängerbrücke eine Gruppe aus Russland, der Ukraine und Aserbaidschan stammender Personen - davon vier jüdischer Abstammung -, die zuvor eine anliegende Sprachschule besucht hatte. Zehn dieser Personen wurden von den durch die Sprengung ausgelösten Splittern - teilweise lebensgefährlich - verletzt. Eine im sechsten Monat schwangere Geschädigte verlor ihr Kind. Der rechtsradikal eingestellte Angeklagte, der längere Zeit als Berufssoldat tätig gewesen war, wohnte rund 500 Meter vom Explosionsort entfernt und war Inhaber einer unweit gelegenen Militariahandlung. Er befand sich zum Zeitpunkt des Anschlags in der Nähe des Tatorts. Dass er die Explosion ausgelöst hatte, hat die Strafkammer nicht festgestellt.II.1. Die Verfahrensrügen sind aus den in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts genannten Gründen unzulässig bzw. unbegründet.2. Auch die durch die Sachrüge veranlasste materiellrechtliche Überprüfung des Urteils hat keinen Rechtsfehler ergeben.a) Die schriftlichen Urteilsgründe genügen den Darstellungsanforderungen des § 267 Abs. 5 Satz 1 StPO.Das Tatgericht ist auch bei freisprechenden Urteilen aus sachlichrecht- lichen Gründen zu Feststellungen zur Person des Angeklagten verpflichtet, wenn diese für die Beurteilung des Tatvorwurfs eine Rolle spielen können (vgl. BGH, Urteile vom 23. Juni 2008 - 2 StR 150/08, BGHSt 52, 314 Rn. 13; vom 11. März 2010 - 4 StR 22/10, BGHR StPO § 267 Abs. 5 Freispruch 16 Rn. 7; vom 2. April 2014 - 2 StR 554/13, NStZ 2014, 419, 420; vom 5. März 2015 - 3 StR 514/14, BGHR StPO § 267 Abs. 5 Freispruch 18 Rn. 9; jeweils mwN). Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil gerecht. Die Urteilsgründe verhalten sich ausdrücklich zu den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten. Dem Gesamtzusammenhang der Ausführungen können zudem seine rechtsradikale Gesinnung sowie seine durch Besonderheiten gekennzeichnete Persönlichkeitsstruktur entnommen werden. Soweit die Revisionsführerin die Darlegung der Ergebnisse einer im Rahmen der Ermittlungen durchgeführten operativen Fallanalyse, die sich auch zu den möglichen Eigenheiten des Täters verhält, vermisst, verkennt sie, dass darin nicht die Person des Angeklagten, sondern die eines potentiellen Täters beschrieben wird. Die Bewertungen, die einer solchen operativen Fallanalyse zugrunde liegen, können erforderlichenfalls Gegenstand der Beweiswürdigung sein (vgl. BGH, Urteil vom 1. Juni 2006 - 3 StR 77/06, NStZ 2006, 712 f.; Beschluss vom 16. Dezember 2008 - 3 StR 453/08, NStZ 2009, 284). In die Feststellungen zur Person oder zur Sache sind sie nicht aufzunehmen.Im Übrigen enthalten die Urteilsausführungen ausreichende Darlegungen zum Tatvorwurf, zu den Feststellungen zur Sache und dem Beweisergebnis.b) Auch die Einwände der Staatsanwaltschaft gegen die Beweiswürdigung des Landgerichts greifen nicht durch.Die Beweiswürdigung ist vom Gesetz dem Tatgericht übertragen (§ 261 StPO). Ihm allein obliegt es, ohne Bindung an gesetzliche Beweisregeln die Ergebnisse der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein; es genügt, dass sie möglich sind. Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlichrechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstößt oder der Tatrichter überspannte Anforderungen an die tatrichterliche Überzeugungsbildung gestellt hat. Liegen solche Rechtsfehler nicht vor, hat das Revisionsgericht die tatrichterliche Überzeugungsbildung auch dann hinzunehmen, wenn eine abweichende Würdigung der Beweise möglich oder sogar näherliegend gewesen wäre (st. Rspr.; etwa BGH, Urteile vom 1. August 2018 - 3 StR 651/17, juris Rn. 41; vom 4. Mai 2017 - 3 StR 69/17, juris Rn. 8 mwN).Hieran gemessen unterliegt die Beweiswürdigung keinen Beanstandungen.Der Angeklagte hat die Tatbegehung in Abrede gestellt. Unmittelbare Zeugen oder Spuren, die auf ihn als Täter hinweisen, hat es nicht gegeben. Aus den vorliegenden Beweisanzeichen hat sich die Strafkammer mit möglichen Schlüssen auch nach einer Gesamtwürdigung keine Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten verschaffen können. Dies ist revisionsrechtlich hinzunehmen. Im Einzelnen:aa) Den Aussagen der vier Zeugen, denen gegenüber der Angeklagte die Tatbegehung eingeräumt (die Zeugen L. und P. ) oder angekündigt (die Zeuginnen S. und H. ) haben soll, hat das Landgericht nach jeweils ausführlicher Würdigung keinen Glauben geschenkt. Soweit die Aussage des Zeugen L. , eines ehemaligen Mitgefangenen des Angeklagten, im Rahmen der Ausführungen zur Beweiswürdigung nicht im Zusammenhang dargelegt wird, ergibt sich ihr Inhalt ausreichend aus den bei der Glaubhaftigkeitsprüfung im einzelnen abgehandelten Angaben des Zeugen. Die Strafkammer hat zudem ihre Zweifel am Wahrheitsgehalt der Aussage neben auf Unstimmigkeiten der gegenüber den Ermittlungsbehörden und in der Hauptverhandlung gemachten Angaben wesentlich darauf gestützt, dass er die situativen Umstände, unter denen der Angeklagte die Tat ihm gegenüber eingeräumt haben soll, nicht konsistent darzulegen vermocht hat. Auch die mangelnde Glaubwürdigkeit des Zeugen P. , der ebenfalls zusammen mit dem Angeklagten inhaftiert war, hat die Strafkammer rechtsfehlerfrei belegt. Soweit das Landgericht sich hinsichtlich beider Zeugen mit einem möglichen Motiv für eine Falschbelastung befasst hat, hat es entgegen dem Revisionsvorbringen die Anforderungen an die Überzeugungsbildung nicht überspannt. Vielmehr hat es ausdrücklich keine Motivation für eine Falschaussage feststellen können. Die erörterten möglichen Gründe für eine wahrheitswidrige Belastung hat die Strafkammer gerade nicht als festgestellt in die übrige Beweiswürdigung eingestellt.Das Landgericht hat ebenfalls rechtsfehlerfrei dargelegt, dass und warum es den Aussagen der Zeuginnen S. und H. , die beide in den Jahren 2000/2001 und zwischen 2015 bis 2017 sowie schließlich in der Hauptverhandlung mehrfach vernommen worden sind, nicht gefolgt ist. So hat es gesehen, dass die Zeugin S. , die bereits im Jahr 2000 Angaben bei der Polizei ge- macht hatte, erst bei späteren Vernehmungen behauptet hat, der Angeklagte habe bereits im Vorfeld des Geschehens einen Anschlag angekündigt. Ihre Angaben hat das Landgericht insbesondere auch deshalb nicht als belastbar gewertet, weil das Aussageverhalten der Zeugin in der Hauptverhandlung offenbart hat, dass sie nicht in der Lage gewesen ist, eigene Wahrnehmungen und Schlussfolgerungen zu unterscheiden. Wegen ähnlicher Schwächen in der Wiedergabe ihrer Erinnerungen hat die Strafkammer den Angaben der Zeugin H. ebenfalls nicht zu folgen vermocht, die nach mehrfachen Vernehmun- gen in den Jahren 2000 und 2001 erst 2016 behauptet hat, der Angeklagte habe ihr gegenüber die Tat angekündigt. Auch dass insgesamt vier Personen von Bemerkungen des Angeklagten berichtet haben, die auf seine Tatbegehung hätten hinweisen können, hat die Strafkammer erwogen. Die Bewertung, dass dennoch keiner der Aussagen gefolgt werden konnte, ist nicht zu beanstanden.bb) Weitere im einzelnen aufgeführte Indizien haben nach der Auffassung der Strafkammer auch in ihrer Gesamtschau eine Täterschaft des Angeklagten nicht zu belegen vermocht, weil sie entweder sich in der Hauptverhandlung nicht bestätigt haben oder das Landgericht sie nicht als ausreichend für eine Überzeugungsbildung gewertet hat.Soweit es Bemerkungen des Angeklagten in einzelnen während einer Telekommunikationsüberwachung aufgezeichneten Telefonaten nicht die von der Revision behauptete "geständnisgleiche" Bedeutung zugemessen hat, bewegt es sich im Rahmen tatgerichtlicher Würdigung. Des Weiteren hat es sich nach einer ausführlichen Beweisaufnahme nicht die Überzeugung verschaffen können, dass der Angeklagte über die Fähigkeit verfügte, einen Sprengsatz wie den bei der Tat verwendeten überhaupt herzustellen. Es ist dabei entgegen dem Vorbringen der Revisionsführerin auch nicht von der gutachterlichen Einschätzung abgewichen, dass die von dem Angeklagten in anderem Zusammenhang gebaute Attrappe einer Briefbombe einen "professionellen" Eindruck vermittele. Vielmehr hat es aus diesen Ausführungen des Sachverständigen lediglich nicht den von der Revision gewünschten Schluss gezogen. Den kurzen Zeitraum, der zwischen der Explosion und einem vom Festnetz in der Wohnung des Angeklagten ausgegangenen Anruf lag, hat es rechtsfehlerfrei als eher gegen eine Täterschaft des Angeklagten sprechend gewertet.Ebenso hat die Strafkammer weitere Beweisanzeichen als nicht durchgreifend angesehen. Die von ihr erkannte Ähnlichkeit des Angeklagten mit einem nach den Angaben einer Zeugin gezeichneten Portrait eines Mannes, der von dieser in der Nähe des Tatorts gesehen und als auffällig beschrieben worden war, hat sie für eine Identifikation des Angeklagten nachvollziehbar als nicht ausreichend erachtet. Zudem hat das Landgericht nicht unberücksichtigt gelassen, dass die Einlassungen des Angeklagten selbst mehrfach widerlegt worden sind und er in der Vergangenheit versucht hatte, auf das Aussageverhalten anderer einzuwirken. Dass es darin schon keinen Beweis für die Täterschaft des Angeklagten gesehen hat, weil auch ein Unschuldiger Gründe für ein solches Verhalten haben könne, wenn er einer Tat beschuldigt wird, steht in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Dezember 1993 - 2 StR 666/93, StV 1994, 175, 176; Urteil vom 5. Juli 1995 - 2 StR 137/95, BGHSt 41, 153, 155 f.; Beschluss vom 17. Mai 2000 - 3 StR 161/00, NStZ 2000, 549, 550). Es stellt entgegen dem Revisionsvorbringen ferner keinen Widerspruch dar, dass das Landgericht das Verhalten des Angeklagten teilweise als unberechenbar und irrational, teilweise als taktisch überlegend bewertet hat. Es hat vielmehr ausführlich begründet, warum es dem Angeklagten trotz seiner Persönlichkeitsbesonderheiten zweckrationale Überlegungen zutraut.Schließlich hat die Strafkammer ihrer Beweiswürdigung keinen unzutreffenden Erfahrungssatz zugrunde gelegt. Soweit sie erörtert hat, ob ein tataus- lösender Konflikt des Angeklagten mit Absolventen der Sprachschule festzustellen sei, und dies im Ergebnis verneint hat, hat sie das erkennbar nicht mit dem Erfahrungssatz verknüpft, dass ein terroristischer Anschlag einen solchen Konflikt voraussetze. Vielmehr sind diese Überlegungen in Auseinandersetzung mit der im Ermittlungsverfahren durchgeführten operativen Fallanalyse angestellt worden, welche die Frage nach einer solchen Auseinandersetzung aufgeworfen hatte. Das Landgericht war im Übrigen nicht verpflichtet, weitere Ergebnisse der Fallanalyse darzulegen. Das Beweisergebnis soll in der Beweiswürdigung nur so weit erörtert werden, wie es für die Entscheidung von Bedeutung ist (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Januar 2018 - 3 StR 586/17, juris Rn. 8). Eine Beweisdokumentation ist nicht geboten (BGH, Beschluss vom 4. Oktober 2017 - 3 StR 145/17, juris).cc) Das Landgericht hat auch die geforderte Gesamtwürdigung vorgenommen. Dabei hat es keine erkennbar bedeutsamen Beweisanzeichen außer Acht gelassen, sondern alle aus seiner Sicht wesentlichen Indizien gegeneinander abgewogen. Entgegen dem Vorbringen der Staatsanwaltschaft verlangt das Erfordernis einer Gesamtbetrachtung nicht, dass das Tatgericht jedes einzelne Indiz für sich im Lichte aller anderen Beweisanzeichen bewertet.Insgesamt weist somit die Beweiswürdigung des Landgerichts auch unter ergänzender Berücksichtigung der das Revisionsvorbringen im Einzelnen abhan- delnden überzeugenden Ausführungen des Generalbundesanwalts in seiner Antragsschrift keinen Rechtsfehler auf.III.Die Entscheidung über die Entschädigung entspricht § 2 Abs. 1 und 2 StrEG.Schäfer Spaniol Wimmer Anstötz Erbguth Vorinstanz:Düsseldorf, LG, 31.07.2018 - 111 Js 379/00 1 Ks 17/17
bundesgerichtshof
bgh_030-2022
03.03.2022
Verurteilung des suspendierten Homburger Oberbürgermeisters wegen Untreue rechtskräftig Ausgabejahr 2022 Erscheinungsdatum 03.03.2022 Nr. 030/2022 Urteil vom 3. März 2022 – 5 StR 228/21 Der in Leipzig ansässige 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat die Revisionen des Angeklagten (derzeit suspendierter Oberbürgermeister der Stadt Homburg) und der Staatsanwaltschaft gegen ein Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 27. Januar 2021 verworfen. In einem ersten Rechtsgang hatte das Landgericht Saarbrücken den Angeklagten bereits mit Urteil vom 21. Februar 2019 wegen Untreue zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt und die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung ausgesetzt. Diese Verurteilung hatte der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs auf Revision des Angeklagten mit Beschluss vom 8. Januar 2020 (5 StR 366/19) weitgehend aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen (vgl. Pressemitteilung vom 29. Januar 2020, Nr. 13/2020). Nunmehr hat das Landgericht den Angeklagten wegen Untreue durch Unterlassen zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu je 90 Euro verurteilt. Nach seiner Auffassung soll der Angeklagte als Oberbürgermeister der Stadt Homburg den teuren Auftrag einer Detektei zur Überprüfung städtischer Mitarbeiter nicht sofort gekündigt haben, nachdem er zutreffend erkannt habe, dass sein Budget zur eigenständigen Auftragsvergabe weit überschritten und die weitere Durchführung des Auftrags wirtschaftlich sinnlos gewesen sei. Durch die Fortführung des Auftrags sei der Stadt Homburg ein Schaden in Höhe von knapp 73.000 Euro entstanden. Der Bundesgerichtshof hat die unbeschränkte Revision des Angeklagten und die auf den Strafausspruch beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft verworfen, weil die Überprüfung des Urteils anhand der Revisionsbegründungsschriften keinen Rechtsfehler ergeben hat. Das Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 27. Januar 2021 ist damit rechtskräftig. Die maßgeblichen Vorschriften lauten: § 266 StGB Untreue (1) Wer die ihm durch Gesetz, behördlichen Auftrag oder Rechtsgeschäft eingeräumte Befugnis, über fremdes Vermögen zu verfügen oder einen anderen zu verpflichten, missbraucht oder die ihm kraft Gesetzes, behördlichen Auftrags, Rechtsgeschäfts oder eines Treueverhältnisses obliegende Pflicht, fremde Vermögensinteressen wahrzunehmen, verletzt und dadurch dem, dessen Vermögensinteressen er zu betreuen hat, Nachteil zufügt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) § 243 Abs. 2 und die §§ 247, 248a und 263 Abs. 3 gelten entsprechend. § 13 Begehen durch Unterlassen (1) Wer es unterlässt, einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört, ist nach diesem Gesetz nur dann strafbar, wenn er rechtlich dafür einzustehen hat, dass der Erfolg nicht eintritt, und wenn das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun entspricht. (2) Die Strafe kann nach § 49 Abs. 1 gemildert werden. Vorinstanz: Landgericht Saarbrücken – Urteil vom 27. Januar 2021 – 5 KLs 2/20 Karlsruhe, den 3. März 2022 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Urteil des 5. Strafsenats vom 3.3.2022 - 5 StR 228/21 -
Tenor 1. Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 27. Januar 2021 werden verworfen.2. Die Kosten der Revision der Staatsanwaltschaft und die dem Angeklagten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen werden der Staatskasse auferlegt, die Kosten seines Rechtsmittels trägt der Angeklagte.3. Die Kostenbeschwerde des Angeklagten wird auf seine Kosten verworfen.- Von Rechts wegen - Gründe Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Untreue zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu je 90 Euro verurteilt. Hiergegen richtet sich mit der Sachrüge die vom Generalbundesanwalt vertretene und wirksam auf den Strafausspruch beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft, während der Angeklagte das Urteil mit Verfahrensbeanstandungen und der Rüge einer Verletzung materiellen Rechts sowie der Kostenbeschwerde angreift. Sämtliche Rechtsmittel bleiben ohne Erfolg.In einem ersten Durchgang hatte das Landgericht Saarbrücken den Angeklagten mit Urteil vom 21. Februar 2019 wegen Untreue zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Auf die Revision des Angeklagten hat der Senat dieses Urteil mit Beschluss vom 8. Januar 2020 mit den Feststellungen aufgehoben, jedoch die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen mit Ausnahme derjenigen zum Untreueschaden bestehen lassen (vgl. Beschluss vom 8. Januar 2020 - 5 StR 366/19, NJW 2020, 628, in BGHSt 64, 246 teilweise abgedruckt).I.Nach den teils bestandskräftigen, teils vom neuen Tatgericht zusätzlich getroffenen Feststellungen war der Angeklagte seit 1. Oktober 2014 verbeamteter Oberbürgermeister der Kreisstadt H.      und durfte als solcher eigenständig Aufträge bis zu einer Höhe von 25.000 Euro vergeben. In Umsetzung eines Wahlkampfversprechens und nach Hinweisen auf straf- und arbeitsrechtliches Fehlverhalten von Mitarbeitern des städtischen Baubetriebshofs ("Holzmafia") beauftragte er Anfang Oktober 2015 eine Detektei mit der ab 1. November 2015 beginnenden Überwachung von mehreren verdächtigen Angestellten zu Stundensätzen von 100 bis 150 Euro/netto nebst Zuschlägen; der Vertrag war jederzeit kündbar. Er wurde am 4. November 2015 auf drei Detektive "aufgestockt".In einer Besprechung am 3. Dezember 2015 wurden von der Detektei die bisherigen Ermittlungsergebnisse sowie eine Abschlagsrechnung über erbrachte Leistungen in Höhe von 100.000 Euro netto präsentiert und die Fortdauer des Einsatzes empfohlen. Wie der Angeklagte erkannte, ergaben sich aus der umfangreichen bisherigen Überwachung keine tragfähigen Anhaltspunkte für das Bestehen einer "Holzmafia" und kaum Hinweise auf sonstige arbeitsrechtliche Verstöße. Im Wissen darum, dass er damit seine internen Vergabebefugnisse weit überschritt, und unter billigender Inkaufnahme des Misserfolgs einer weiteren Überwachung sowie der arbeitsrechtlichen Unverwertbarkeit weiterer Informationen wegen datenschutzrechtlicher Unverhältnismäßigkeit ließ der Angeklagte den Vertrag fortlaufen und kündigte nicht sofort am 3. Dezember 2015.Die weitere Überwachung von vier Mitarbeitern ab dem 4. Dezember 2015 bis zum Vertragsende am 18. Dezember 2015 erbrachte keinerlei Hinweise auf ein erhebliches Fehlverhalten der Überwachten (lediglich Arbeitszeitunterbrechungen von insgesamt 58 Minuten eines Mitarbeiters), weshalb sie - auch wegen Unverwertbarkeit aufgrund datenschutzrechtlicher Verstöße - wirtschaftlich wertlos waren. Für die ab dem 4. Dezember 2015 fortlaufende Überwachung zahlte die Stadt H.    letztlich insgesamt 72.920,41 Euro; in dieser Höhe entstand ihr ein Vermögensschaden.Bei der Strafzumessung ist das Landgericht wegen der Herbeiführung eines Vermögensverlustes großen Ausmaßes und eines Missbrauchs der Amtsträgerstellung vom Strafrahmen des § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 und 4 StGB ausgegangen. Diesen hat es nach § 13 Abs. 2 und § 46a Nr. 2 StGB, jeweils iVm § 49 Abs. 1 StGB, zweifach verschoben und bei der Strafzumessung im Einzelnen dem Angeklagten insbesondere zu Gute gehalten, dass er durch die Presseberichterstattung hohen psychischen Belastungen ausgesetzt gewesen sei. Die vom Landgericht als schuldangemessen festgesetzte Strafe von vier Monaten Freiheitsstrafe hat es gemäß § 47 Abs. 1 StGB, Art. 12 Abs. 1 EGStGB in eine Geldstrafe von 120 Tagessätzen umgewandelt und die Tagessatzhöhe nach den Einkommensverhältnissen des Angeklagten mit 90 Euro bemessen.II.Die Revision des Angeklagten bleibt ohne Erfolg.1. Die Verfahrensbeanstandungen dringen nicht durch.a) Die Rügen eines Verstoßes gegen § 243 Abs. 4 StPO zeigen keinen durchgreifenden Rechtsfehler auf.aa) Die Rüge eines Verstoßes gegen die Mitteilungspflicht aus § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO im Hinblick auf ein zwischen der Vorsitzenden und dem zuständigen Dezernenten der Staatsanwaltschaft am 6. April 2020 geführtes Telefonat ist unbegründet. In dem Telefonat fragte die Vorsitzende den Oberstaatsanwalt, ob er für einen gemeinsamen Besprechungstermin mit der Strafkammer und dem Verteidiger zur Verfügung stehe. Der Oberstaatsanwalt bejahte dies und teilte mit, er wolle bereits jetzt erklären, dass er mit einer Einstellung des Verfahrens nach § 153a StPO, wie vom Verteidiger vorgeschlagen, nicht einverstanden sei. Dies legte die Vorsitzende in einem zu den Akten gebrachten Vermerk nieder, der vor der Hauptverhandlung dem Verteidiger im Wege der Akteneinsicht und dem Angeklagten durch Übersendung einer Kopie des Aktenauszuges bekannt wurde. In der Hauptverhandlung teilte sie den Inhalt dieses Vermerks nicht mit.Einen Rechtsfehler deckt die Revision damit nicht auf, denn Gegenstand des Telefongesprächs war nicht die Möglichkeit einer Verständigung, so dass es nicht der Mitteilungspflicht nach § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO unterfiel. Die Mitteilungspflicht greift ein, sobald bei außerhalb einer Hauptverhandlung geführten Gesprächen ausdrücklich oder konkludent die Möglichkeit und die Umstände einer Verständigung im Raum stehen. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn Fragen des prozessualen Verhaltens in Konnex zum Verfahrensergebnis gebracht werden und damit die Frage nach oder die Äußerung zu einer Straferwartung naheliegt (BVerfG, Urteil vom 19. März 2013 - 2 BvR 2628/10 u.a., BVerfGE 133, 168 Rn. 85; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 4. Februar 2020 - 2 BvR 900/19, NJW 2020, 2461; BGH, Beschluss vom 18. August 2021 - 5 StR 199/21, NStZ 2022, 55). So verhält es sich hier nicht.Die Frage der Vorsitzenden zielte allein auf die Organisation eines gemeinsamen Gesprächs zwischen den Verfahrensbeteiligten hin. Die Äußerung des Oberstaatsanwalts in diesem Zusammenhang stellt lediglich eine einseitige Willensbekundung auf den - wie allseits bekannt (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 8. Januar 2020 - 5 StR 366/19 Rn. 42) - bereits im ersten Durchgang von der Verteidigung formulierten Vorschlag einer Einstellung des Verfahrens nach § 153a StPO dar, die als solche (eine Reaktion der Vorsitzenden hierauf wird auch von der Revision nicht bestimmt behauptet) nicht mitteilungsbedürftig ist (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Januar 2020 - 5 StR 366/19 Rn. 42). An der inhaltlichen Richtigkeit des Vermerks der Vorsitzenden bestehen keine Zweifel, zumal nach der Äußerung des Oberstaatsanwalts - anders als möglicherweise in anderen Fällen - auch keine Reaktion der Vorsitzenden hierzu nahelag, denn ohne Zustimmung der Staatsanwaltschaft kommt eine Einstellung nach § 153a Abs. 2 StPO von vornherein nicht in Betracht. Die von der Revision in diesem Zusammenhang behauptete Verletzung von § 273 Abs. 1a Satz 2 StPO liegt nicht vor, denn das Protokoll gibt den Verfahrensgang zutreffend wieder.bb) Soweit die Revision das Fehlen einer sogenannten "Negativmitteilung" nach § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO rügt, also einer ausdrücklichen Mitteilung der Vorsitzenden, dass keine Verständigungsgespräche stattgefunden hatten, schließt der Senat aus, dass das Urteil auf diesem Rechtsfehler im Sinne von § 337 Abs. 1 StPO beruht. Denn auch nach dem Vortrag der Revision (insbesondere auch zu dem ausführlich dokumentierten und in der Hauptverhandlung mitgeteilten Erörterungstermin am 9. November 2020) kann der Senat ausschließen, dass es Gespräche über die Möglichkeit einer Verständigung gegeben hat (vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 26. August 2014 - 2 BvR 2172/13, NStZ 2014, 592, 594; BGH, Beschlüsse vom 29. Januar 2014 - 1 StR 523/13, NStZ-RR 2014, 115; vom 25. Februar 2015 - 5 StR 258/13, NStZ 2015, 232 mwN).b) Auch die Rüge eines Verstoßes gegen § 261 StPO, weil im Urteil die Bekundungen in der Hauptverhandlung als Zeugen gehörter Mitglieder des Vergabeausschusses nicht festgestellt und gewürdigt worden seien, bleibt erfolglos. Von seinem rechtlichen Standpunkt aus konsequent hat das Landgericht die Angaben der auf Antrag der Staatsanwaltschaft gehörten Zeugen für unbeachtlich erachtet. Was die Zeugen im Einzelnen ausgeführt haben, ist dem Revisionsgericht verschlossen, da eine Rekonstruktion derartiger Aussageinhalte in der Revisionsinstanz grundsätzlich nicht stattfindet.Zu einer umfassenden Dokumentation der Beweisaufnahme im Urteil ist das Tatgericht im Rahmen seiner Beweiswürdigung nicht verpflichtet, sondern es soll das Beweisergebnis nur so weit erörtern, wie es für die Entscheidung von Bedeutung ist (vgl. BGH, Beschluss vom 30. Mai 2018 - 3 StR 486/17). Dies gilt auch für die von der Revision vermisste Erörterung eingeführter Urkundeninhalte.2. Auch die Sachrüge bleibt ohne Erfolg.a) Der vom Generalbundesanwalt erwogene Verstoß gegen die Bindungswirkung des § 358 Abs. 1 StPO liegt nicht vor. Es handelte sich bei den Rechtsausführungen im Senatsbeschluss vom 8. Januar 2020 zur Prüfung eines möglichen Entfallens der Kausalität in einer neuen Hauptverhandlung nicht um solche mit Bindungswirkung, die im Sinne von § 358 Abs. 1 StPO der Aufhebung des früheren Urteils zugrunde lagen (vgl. hierzu näher KK-StPO/Gericke, 8. Aufl., § 358 Rn. 6 mwN). Mit den Ausführungen musste sich die Strafkammer auch aus anderen Gründen nicht befassen, weil sich diese Frage angesichts der nunmehr neu getroffenen Feststellungen zur objektiven Wertlosigkeit der Überwachung ab dem 4. Dezember 2015 und des Vorsatzes des Angeklagten insoweit erledigt hatte.b) Die Feststellungen des Landgerichts beruhen auf einer revisionsgerichtlich nicht zu beanstandenden Beweiswürdigung (vgl. zum Maßstab BGH, Beschluss vom 14. April 2020 - 5 StR 14/20, NJW 2020, 2741 mwN).Dies gilt insbesondere auch, soweit das Landgericht von der erkannten Dürftigkeit der nach einmonatiger Überwachung am 3. Dezember 2015 vorliegenden Beweise gegen die überwachten städtischen Mitarbeiter auf den Eventualvorsatz des Angeklagten geschlossen hat, auch die weitere Überwachung werde nicht mehr erbringen. Die vom Tatgericht gezogenen Schlüsse müssen nur möglich sein; dass - wie von der Revision im Einzelnen aufgezeigt - bei der aufgezeigten Beweislage auch andere Schlüsse möglich gewesen wären, begründet keinen revisionsrechtlich beachtlichen Rechtsfehler (vgl. BGH, Urteil vom 8. Dezember 2021 - 5 StR 236/21 mwN).c) Das Landgericht hat das Verhalten des Angeklagten zutreffend als Untreue durch Unterlassen angesehen.Nachdem er den Auftrag einmal erteilt hatte, war der für das Vermögen der Stadt H.     treupflichtige Angeklagte spätestens am 3. Dezember 2015 verpflichtet, das Vertragsverhältnis mit der Detektei mit sofortiger Wirkung zu kündigen. Denn zu diesem Zeitpunkt war nicht nur seine Zuständigkeit zur Auftragsvergabe überschritten, sondern die Überwachung hatte keine tragfähigen Ergebnisse erbracht; dies hatte der Angeklagte auch erkannt. Diese Treupflichtverletzung des Angeklagten erweist sich - wie das Landgericht zutreffend näher ausgeführt hat - wegen der im Vergleich zum verfolgten Zweck unangemessenen Höhe der Ausgaben, der Verletzung von Informations- und Mitteilungspflichten und der erheblichen Überschreitung seiner Entscheidungsbefugnisse auch als gravierend.Ein pflichtgemäßes Verhalten hätte zur Folge gehabt, dass ab dem 4. Dezember 2015 keine weitere Überwachung mehr erbracht und abgerechnet worden wäre. Wie das Landgericht näher ausgeführt hat, musste die Stadt H.    für die ab dem 4. Dezember 2015 erbrachten Leistungen letztlich insgesamt 72.920,41 Euro zahlen, so dass ihr mangels brauchbarer Kompensation in dieser Höhe ein Vermögensschaden entstanden ist.Der Senat kann dabei offenlassen, ob sich die Wertlosigkeit der fortdauernden Überwachung aus einer Unverwertbarkeit der ab dem 4. Dezember 2015 erlangten Überwachungsergebnisse wegen Verstoßes gegen datenschutzrechtliche Bestimmungen ergibt (vgl. hierzu BAG, Urteil vom 19. Februar 2015 - 8 AZR 1007/13, NJW 2015, 2749). Denn nach den ebenfalls rechtsfehlerfreien Feststellungen des Landgerichts waren die anschließenden Überwachungsleistungen mangels relevanter Ergebnisse wirtschaftlich wertlos. Der Angeklagte erkannte diese Möglichkeit spätestens am 3. Dezember 2015 und nahm sie billigend in Kauf. Dass der Angeklagte gleichwohl - ohne hinreichende Tatsachengrundlage - gehofft haben mag, die angesichts der bisherigen Abschlagsforderung ersichtlich erhebliche weitere Kosten verursachende Fortdauer des Auftrages werde dessen ungeachtet kompensationsfähige Ergebnisse erbringen, ließe den in dieser Konstellation ausreichenden Eventualvorsatz nicht entfallen (vgl. Fischer, StGB, 69. Aufl., § 266 Rn. 178 mwN).Die Hinweise der Revision auf besondere Vorsatzanforderungen bei Risikogeschäften wie etwa Kreditvergaben verfangen nicht, da eine solche Konstellation nicht vorlag. Es ging vorliegend auch nicht um die Erteilung eines Überwachungsauftrags, dessen Erfolg im Vergabezeitpunkt naturgemäß ungewiss ist. Nach den rechtsfehlerfreien Feststellungen des Landgerichts erkannte der Angeklagte vielmehr nach über einem Monat nahezu erfolgloser Rundumüberwachung mehrerer Mitarbeiter den Misserfolg seines Vorgehens und schritt lediglich deshalb nicht ein, weil er - unter Erfolgsdruck stehend - die nicht näher tatsachenbegründete Hoffnung hatte, doch noch Belege für eine "Holzmafia" oder ähnliches zu finden, um angesichts der bereits investierten Summen nicht ohne Ergebnisse dazustehen. Urteilsfremdes Vorbringen der Revision in diesem Zusammenhang ist mangels einer zulässig erhobenen Verfahrensrüge ohne Belang (vgl. BGH, Beschluss vom 25. November 2021 - 5 StR 211/20).d) Die Strafzumessung weist keinen Rechtsfehler zu Lasten des Angeklagten auf.e) Der von der Revision vorgebrachte Verstoß gegen den Anspruch des Angeklagten auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK) durch die Pressearbeit der Staatsanwaltschaft besteht im Einklang mit den Ausführungen des Generalbundesanwalts nicht.III.Die Revision der Staatsanwaltschaft bleibt ohne Erfolg. Sie ist - wie der Generalbundesanwalt zutreffend ausgeführt hat - gemäß ihrer Begründung wirksam auf den Strafausspruch beschränkt.1. Insoweit gilt (vgl. BGH, Urteil vom 24. Juni 2021 - 5 StR 545/20 mwN): Die Strafzumessung ist grundsätzlich Sache des Tatgerichts. Ein Eingriff des Revisionsgerichts ist nur möglich, wenn die Zumessungserwägungen in sich fehlerhaft sind, von unzutreffenden Tatsachen ausgehen, das Tatgericht gegen rechtlich anerkannte Strafzwecke verstößt oder wenn sich die verhängte Strafe nach oben oder unten von ihrer Bestimmung, gerechter Schuldausgleich zu sein, so weit löst, dass sie nicht mehr innerhalb des dem Tatgericht eingeräumten Spielraums liegt. Eine ins Einzelne gehende Richtigkeitskontrolle ist ausgeschlossen. In Zweifelsfällen muss das Revisionsgericht die vom Tatgericht vorgenommene Bewertung bis an die Grenze des Vertretbaren hinnehmen. Die Bewertungsrichtung und das Gewicht der Strafzumessungstatsachen bestimmt in erster Linie das Tatgericht, dem hierbei von Rechts wegen ein weiter Entscheidungs- und Wertungsspielraum eröffnet ist.2. Fehler bei der Anwendung von § 13 Abs. 2 StGB liegen entgegen der vom Generalbundesanwalt geteilten Auffassung der Staatsanwaltschaft nicht vor.Untreue kann auch durch Unterlassen der pflichtgemäß gebotenen Handlung begangen werden, wenn darin - wie hier vom Landgericht rechtsfehlerfrei ausgeführt - der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit liegt; in diesem Fall findet § 13 Abs. 2 StGB Anwendung (vgl. BGH, Beschlüsse vom 29. Januar 2015 - 1 StR 587/14, NJW 2015, 1190; und vom 3. Dezember 2013 - 1 StR 526/13, NStZ 2014, 158; vgl. zur Untreue durch Unterlassen auch BGH, Urteil vom 14. Juli 2021 - 6 StR 282/20, NStZ 2022, 109 Rn. 22). Bei der Prüfung, ob eine fakultative Strafrahmenverschiebung gemäß § 13 Abs. 2, § 49 Abs. 1 StGB stattzufinden hat, ist eine wertende Gesamtbetrachtung aller strafzumessungsrechtlich beachtlichen Gesichtspunkte, insbesondere der wesentlichen unterlassensbezogenen, vorzunehmen (vgl. BGH, Beschluss vom 3. Dezember 2013 - 1 StR 526/13 mwN). Welche Gesichtspunkte das Tatgericht dabei berücksichtigt, obliegt seiner wertenden Betrachtung; zu einer erschöpfenden Darlegung ist es nicht verpflichtet (vgl. BGH, Urteil vom 24. Juni 2021 - 5 StR 545/20 mwN).Vor dem Hintergrund der von der Strafkammer aufgeführten gewichtigen Milderungsgründe ist die Strafrahmenverschiebung nicht zu beanstanden. Der Senat besorgt nicht, dass dem Tatgericht dabei das Tatbild aus dem Blick geraten sein könnte, das - auch ohne dass dies nochmals ausdrückliche Erwähnung fand - jedenfalls in der vorliegenden Konstellation (Nichtbeendigung eines bereits laufenden Vertrages) im Vergleich zu einem aktiven Tun einen geringeren Handlungsunwert aufweist.3. Auch die - vom Generalbundesanwalt nicht angegriffene - Anwendung des § 46a Nr. 2 StGB ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.a) Eine Strafrahmenverschiebung nach § 46a Nr. 2 StGB iVm § 49 Ab.s 1 StGB setzt voraus, dass der Täter in einem Fall, in welchem die Schadenswiedergutmachung von ihm erhebliche persönliche Leistungen oder persönlichen Verzicht erfordert hat, das Opfer ganz oder zum überwiegenden Teil entschädigt. Die Regelung über den Täter-Opfer-Ausgleich knüpft an den Ausgleich der durch die Tat entstandenen materiellen Schäden an. Damit eine Schadenswiedergutmachung ihre friedenstiftende Wirkung entfalten kann, muss der Täter einen über eine rein rechnerische Kompensation hinausgehenden Beitrag erbringen. Dafür genügt die Erfüllung von Schadensersatzansprüchen allein nicht. Vielmehr muss sein Verhalten Ausdruck der Übernahme von Verantwortung sein (vgl. BGH, Urteil vom 9. August 2016 - 1 StR 121/16, wistra 2016, 486). Nach den Vorstellungen des Gesetzgebers soll ein Täter-Opfer-Ausgleich dann anzunehmen sein, wenn die vollständige oder wenigstens teilweise Entschädigung des Opfers durch die persönliche Leistung oder den persönlichen Verzicht des Täters möglich geworden ist (BT-Drucks. 12/6853 S. 22).b) Diese Voraussetzungen hat das Landgericht rechtsfehlerfrei bejaht: Nach seinen Feststellungen hat der Angeklagte einen Betrag in Höhe von 50.193,60 Euro hinterlegt und mit der Stadt H.     vereinbart, dass dieser Betrag zur Schadenswiedergutmachung verwendet werden kann. Damit hat er den verursachten Schaden überwiegend wieder gut gemacht. Dies stellte angesichts seiner Einkommens- und Vermögensverhältnisse und der Tatsache, dass ihm aus der Tat kein eigener Vorteil zugeflossen ist, sondern sie im Gegenteil in der Folgezeit zu erheblichen persönlichen finanziellen Einbußen geführt hat, nach der rechtlich nicht zu beanstandenden Wertung des Landgerichts eine erhebliche persönliche Leistung dar. Weitergehende Vergleichsverhandlungen mit der Stadt H.      sind noch nicht abgeschlossen. Nach einem bereits weitgehend verhandelten Entwurf will der Angeklagte weitere 30.000 Euro an die Stadt zahlen. In all dem hat die Strafkammer - rechtlich unbedenklich - eine Übernahme von Verantwortung gesehen.4. Sonstige Rechtsfehler zu Gunsten des Angeklagten weist die Strafzumessung nicht auf. Insbesondere ist es angesichts der besonderen Umstände des Einzelfalls entgegen der Auffassung der Revisionsführerin nicht zu beanstanden, dass das Landgericht den Beeinträchtigungen des besonders in der Öffentlichkeit stehenden Angeklagten durch die intensive Medienberichterstattung ein strafmilderndes Gewicht zugemessen hat. Denn auch insoweit ist es Sache des Tatgerichts, die Bewertungsrichtung und das Gewicht dieser möglichen Strafzumessungstatsache innerhalb des ihm zukommenden weiten Entscheidungs- und Wertungsspielraums zu bestimmen (vgl. hierzu allgemein BGH, Urteil vom 24. Juni 2021 - 5 StR 545/20 mwN; vgl. auch speziell zur Berücksichtigung außergewöhnlicher Belastungen infolge von Medienberichterstattung im Rahmen der Strafzumessung BGH, Urteile vom 7. September 2016 - 1 StR 154/16, NJW 2016, 3670; und vom 23. August 2018 - 3 StR 149/18, StV 2019, 441 mwN).Beachtliche Lücken in der Strafzumessung zeigt die Staatsanwaltschaft nicht auf. Entgegen ihrer Auffassung entfernt sich die verhängte Strafe bei Berücksichtigung aller Umstände auch nicht von ihrer Aufgabe, gerechter Schuldausgleich zu sein.IV.Die zulässig erhobene Kostenbeschwerde des Angeklagten bleibt ohne Erfolg. Das Landgericht hat ihm die Kosten des Verfahrens auferlegt und bestimmt, dass er von den Kosten des Revisionsverfahrens im ersten Durchgang ein Viertel, die Landeskasse dagegen drei Viertel sowie die insoweit entstandenen notwendigen Auslagen des Angeklagten zu tragen hat. Diese Entscheidung entspricht dem Gesetz (vgl. § 465 Abs. 1, § 473 Abs. 4 StPO).Dies gilt entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers auch, soweit es um die Kosten des im ersten Verfahrensdurchgang erstinstanzlich tätigen Sachverständigen   A.     in Höhe von knapp 5.000 Euro geht. Ein Verstoß gegen § 465 Abs. 2 StPO liegt nicht vor. Der Sachverständige war vom Landgericht - ausgehend von einem anderen rechtlichen Ansatz - mit der Prüfung der Angemessenheit der mit der beauftragten Detektei vereinbarten Honorare beauftragt worden. Der Sachverständige kam zu dem Ergebnis, dass die vereinbarten Honorare deutlich höher als die marktüblichen waren. Auch dies durfte als Indiz gegen den Angeklagten gewertet werden. Dass das Ergebnis des Sachverständigengutachtens zu Gunsten des Angeklagten ausgegangen sei (vgl. hierzu näher BGH, Urteil vom 7. November 1991 - 4 StR 252/91 aE), lässt sich damit nicht sagen.CirenerGerickeMosbacherReschWerner
bundesgerichtshof
bgh_003-2019
10.01.2019
Urteil des Landgerichts Bochum gegen Werner Mauss wegen Steuerhinterziehung aufgehoben Ausgabejahr 2019 Erscheinungsdatum 10.01.2019 Nr. 003/2019 Urteil vom 10. Januar 2019 – 1 StR 347/18 Das Landgericht Bochum hat den Angeklagten wegen Steuerhinterziehung in zehn Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat das Urteil auf die Revision des Angeklagten insgesamt und auf die Revision der Staatsanwaltschaft im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben und die Sache an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. Nach den Feststellungen des Landgerichts erzielte der Angeklagte, der ein weltweit tätiger Privatermittler und Sicherheitsberater war, in den Veranlagungszeiträumen 2002 bis 2011 aus Stiftungsvermögen erhebliche Zinsgewinne und gab diese in den Steuererklärungen nicht an, wodurch er Einkommensteuer von jeweils über eine Million Euro jährlich verkürzte. Dabei sei ihm bei Abgabe der Steuererklärungen bewusst gewesen, dass die angelegten Gelder für die Steuerbehörden von Bedeutung gewesen seien, weshalb er eine unrichtige Steuerfestsetzung billigend in Kauf genommen habe. Er sei jedoch davon ausgegangen, die Kapitalerträge selbst nicht versteuern zu müssen, da er unzutreffend einen Treuhandcharakter der Gelder angenommen habe. Der 1. Strafsenat hat das Urteil auf die Sachrüge des Angeklagten wegen in sich widersprüchlicher Feststellungen hinsichtlich eines möglichen vorsatzausschließenden Irrtums aufgehoben. Obwohl das Landgericht feststellt, der Angeklagte sei davon ausgegangen, selbst nicht steuerpflichtig bezüglich der Kapitalerträge zu sein, bejaht es einen bedingten Vorsatz der Steuerhinterziehung. Die auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft, mit der sie die Annahme eines (vermeidbaren) Verbotsirrtums durch das Landgericht beanstandet, führt gleichfalls zur Aufhebung des Strafausspruchs. Denn das Landgericht hat nicht rechtsfehlerfrei festgestellt, dass sich der Angeklagte überhaupt in einem rechtlich relevanten Irrtum befunden hat. Vorinstanz: Landgericht Bochum – Urteil vom 5. Oktober 2017 – II-2 KLs 365 Js 335/12-8/16 Karlsruhe, den 10. Januar 2019 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Urteil des 1. Strafsenats vom 10.1.2019 - 1 StR 347/18 -
Tenor 1. Das Urteil des Landgerichts Bochum vom 5. Oktober 2017 wird aufgehoben, a) auf die Revision des Angeklagten mit den Feststellungen, b) auf die Revision der Staatsanwaltschaft im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen.2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.Von Rechts wegen. Gründe Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Steuerhinterziehung in zehn Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt.Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit der Revision, mit der er die Verletzung formellen und sachlichen Rechts geltend macht. Die Staatsanwaltschaft rügt mit ihrer zu Ungunsten des Angeklagten eingelegten und auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten Revision ebenfalls die Verletzung formellen und materiellen Rechts.Die Revisionen haben jeweils bereits mit der Sachrüge umfassenden Erfolg, so dass es eines Eingehens auf die Verfahrensrügen nicht bedarf.I.1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:Der Angeklagte war allein verfügungsbefugt über ein 1985 bei U. P. eingerichtetes Konto mit einem Guthaben von 23.000.000 US-Dollar. Bei den Kontounterlagen befand sich ein Vertrag vom 4. Oktober 1985, nach dessen Inhalt das Guthaben dem Angeklagten als "Treunehmer" zur Durchführung von geheimen Operationen im Kampf gegen das organisierte Verbrechen als "Geheimfonds" zur Verfügung gestellt wurde. Eine ausdrückliche Regelung zur Rückführung der Gelder an die "Treugeber" enthielt der Vertrag nicht. Die "Treugeber" kontrollierten die Verwendung der Gelder durch den Angeklagten von Beginn an nicht. Sie und der Angeklagte waren sich einig, dass die Gelder endgültig bei dem Angeklagten verbleiben sollten.Der Angeklagte gründete in P. eine Stiftung, deren Vermögen am 12. Dezember 1986 23.969.000 US-Dollar betrug. Wegen der politisch instabilen Lage ließ er im Jahr 1987 das Geld nach L. transferieren. In der Folgezeit errichtete er weitere Stiftungen mit Konten bei U. L. und löste nach dem Transfer des Geldes jeweils die Vorgängerstiftung auf.Bei der am 31. August 1987 gegründeten M. Stiftung setzte der Angeklagte sich und seine damalige Ehefrau als Erstbegünstigte ein, im Falle ihres Todes seine Söhne. In weiteren Stiftungen traf der Angeklagte immer umfassendere Nachfolgeregelungen und aktualisierte sie jeweils.Das jeweilige Stiftungsvermögen legte der Angeklagte in riskante hochverzinsliche Länderobligationen an. Um die privaten und beruflichen Kosten zu decken, ohne die Zinsgewinne entnehmen zu müssen, nahm er Kredite auf und deckte durch diese die Ausgaben.Der Stand des bis zum Jahr 2008 durch Zinserträge auf 64.711.847 Euro angestiegenen Stiftungsvermögens sank durch Kursverluste bis 31. Dezember 2008 auf 47.649.000 Euro.Der Angeklagte erzielte in den Veranlagungszeiträumen 2002 bis 2011 aus den Stiftungsvermögen jährlich Kapitalerträge zwischen zwei und fünf Millionen Euro. Diese teilte er seinem Steuerberater nicht mit. Sie wurden daher in den Steuererklärungen nicht angegeben. Das Finanzamt setzte unter Berücksichtigung der vom Angeklagten angegebenen Einkünfte aus selbstständiger Tätigkeit und aus Kapitalanlagen die Einkommensteuer infolge der unvollständig angegebenen Einkünfte jeweils zu niedrig fest. Dies führte zu einer Steuerverkürzung von jeweils über einer Million Euro jährlich, insgesamt von über 14.000.000 Euro.Dem Angeklagten war "bewusst, dass es sich bei den angelegten Geldern um Tatsachen handelte, welche für die Steuerbehörden - unabhängig von der Frage, wen die Steuerschuld bzgl. der Erträge träfe - grundsätzlich von Bedeutung waren. Insoweit nahm er eine unrichtige Steuerfestsetzung billigend in Kauf. Er ging jedoch davon aus, selbst nicht steuerpflichtig bzgl. der Erträge zu sein, da er weiterhin - wenn auch im Ergebnis unzutreffend - in rechtlicher Hinsicht einen Treuhandcharakter der Gelder annahm" (UA S. 26).In ihrer rechtlichen Würdigung des subjektiven Tatbestands (UA S. 90 f.) hat die Strafkammer ausgeführt, der Angeklagte habe "in dem Wissen um die tatsächlichen Gegebenheiten" gehandelt, er habe die Umstände gekannt, die eine Zuordnung der Geldanlagen zu seinem Privatvermögen begründet hätten. Ihm sei bewusst gewesen, dass ihn keine Verpflichtung zur Rückführung der Gelder an die Treugeber und keine Pflicht zur Rechnungslegung getroffen habe. Somit habe er in Kenntnis der Umstände gehandelt, die zu einer "Deklarationspflicht" in den Steuererklärungen geführt hätten. Der Angeklagte habe selbst angegeben, nach seiner Rückkehr nach Deutschland mit dem (damaligen) Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz Anfang der 2000er Jahre darüber gesprochen zu haben, ob er die "angelegten Gelder" dem Finanzamt mitteilen müsse. Das belege, dass ihm deren steuerliche Relevanz ("unabhängig von der rechtlichen Frage, ob es eigenes oder Treuhandgeld gewesen sei") bewusst gewesen sei. Damit habe er eine Steuerverkürzung billigend in Kauf genommen.In der Beweiswürdigung legt die Strafkammer nach Würdigung der wechselnden Einlassungen des Angeklagten (UA S. 59 - 84) dar, diesem sei nicht zu widerlegen, nach dem Gespräch mit dem Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz davon ausgegangen zu sein, gegenüber dem Finanzamt keine Verpflichtung zu haben, die angelegten Gelder anzugeben, und diese für "nicht von ihm zu versteuerndes Fremdgeld" gehalten zu haben (UA S. 82 f.). Die vom Angeklagten "seit über 30 Jahren praktizierte Strategie zur Verwaltung, Anlage und Verwendung der Gelder und Kapitalerträge" sei "stets mehr oder weniger identisch" gewesen. Die Strafkammer erachte es für nahe liegend, dass der Angeklagte die "(steuer-)rechtlichen Konsequenzen" des im Laufe der Zeit vollzogenen Vermögensübergangs "nicht in zutreffender Form" gewürdigt und daher die Angaben gegenüber dem Finanzamt "willentlich und wissentlich" unterlassen habe, aber "ohne das Bewusstsein, dabei Unrecht zu tun". Dem stehe nicht entgegen, dass er davon ausgegangen sei, die Gelder nicht mehr an die Treugeber zurückzahlen zu müssen. Dieser Umstand widerspräche zwar einem Treuhandcharakter, jedoch könne nicht ausgeschlossen werden, dass der Angeklagte als "juristischer Laie" "diesen Rückschluss mit den sich daraus ergebenden steuerrechtlichen Konsequenzen nicht gezogen" habe. Allerdings sei der Irrtum vermeidbar gewesen, da sich der Angeklagte "entsprechend fachkundig hätte beraten lassen können" (UA S. 83 f.).Bei der Prüfung schuldhaften Handelns des Angeklagten (UA S. 91 f.) hat die Strafkammer dargelegt, es sei "ohne Bedeutung, dass dem Angeklagten nach seiner nicht zu widerlegenden Einlassung" nicht bewusst gewesen sei, dass die "angelegten Gelder" zwischenzeitlich auf ihn übergegangen waren und er die Kapitalerträge zu versteuern hatte. Soweit er diesbezüglich einem Irrtum unterlegen sei, beziehe sich dieser allein auf die rechtliche Bewertung der ihm bekannten Tatsachen und sei daher ein Verbotsirrtum (§ 17 StGB). Die Strafkammer könne nicht ausschließen, dass der Angeklagte keine Einsicht gehabt habe, bei der Erklärung der Steuern ein strafrechtlich relevantes Unrecht zu begehen. Die Gelder seien möglicherweise ursprünglich Treuhandgelder gewesen. Zugunsten des Angeklagten sei davon auszugehen, dass er "die notwendigen rechtlichen Schlussfolgerungen, dass es sich im maßgeblichen Tatzeitraum um eigene von ihm zu versteuernde Gelder handelte, nicht gezogen und daher ohne Unrechtsbewusstsein im Sinne des § 17 StGB gehandelt" habe. Dieser Irrtum sei vermeidbar (§ 17 Satz 2 StGB) gewesen, denn der Angeklagte hätte sich die notwendige Unrechtseinsicht ohne weiteres verschaffen können. Ihm sei ausweislich seiner Einlassung infolge des Gespräches mit dem Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz bewusst gewesen, dass die Gelder für die Finanzbehörden von Relevanz gewesen seien. Er habe sich nicht auf dessen Auskunft als einem in Steuerfragen rechtlichen Laien verlassen dürfen, sondern hätte sich über die Richtigkeit der Auskunft bei seinen Steuerberatern rückversichern müssen.II. Revision des Angeklagten Die Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg. Der Schuldspruch hat keinen Bestand.Die vom Landgericht getroffenen Feststellungen sind hinsichtlich eines möglichen Tatbestandsirrtums in sich widersprüchlich. Obwohl die Strafkammer feststellt, dass der Angeklagte davon ausgegangen sei, hinsichtlich der Zinserträge selbst nicht steuerpflichtig zu sein, da er einen Treuhandcharakter der Gelder angenommen habe, nimmt sie einen bedingten Vorsatz der Steuerhinterziehung an. Damit schließt sie aber einen Tatbestandsirrtum gerade aus.Der Senat hebt im Hinblick auf die Widersprüche die Feststellungen insgesamt auf, um dem neuen Tatrichter Gelegenheit zu neuer Prüfung zu geben und eine korrekte Berechnung der Einkommensteuer zu ermöglichen (siehe hierzu Hinweise unter IV.3.).III. Revision der Staatsanwaltschaft Die wirksam auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft hat mit der Sachrüge Erfolg. Der Strafausspruch hat keinen Bestand.Die Strafkammer hat dem Angeklagten einen (vermeidbaren) Verbotsirrtum gemäß § 17 Satz 2 StGB zuerkannt. Dies begegnet schon deshalb durchgreifenden rechtlichen Bedenken, weil das Landgericht nicht rechtsfehlerfrei festgestellt hat, dass sich der Angeklagte überhaupt in einem rechtlich relevanten Irrtum befunden hatte. Dies entzieht der Strafrahmenverschiebung nach § 17 Satz 2, § 49 Abs. 1 StGB die Grundlage.IV. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:1. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gehört zum Vorsatz der Steuerhinterziehung, dass der Täter den Steueranspruch dem Grunde und der Höhe nach kennt oder zumindest für möglich hält und ihn auch verkürzen will (BGH, Urteile vom 8. September 2011 - 1 StR 38/11, NStZ 2012, 160 Rn. 21 und vom 24. Januar 2018 - 1 StR 331/17, NStZ-RR 2018, 180, 182 mwN). Es genügt, dass der Täter die Verwirklichung der Merkmale des gesetzlichen Tatbestands für möglich hält und billigend in Kauf nimmt (Eventualvorsatz). Der Hinterziehungsvorsatz setzt keine sichere Kenntnis des Steueranspruchs voraus (vgl. BGH, Urteil vom 8. September 2011 - 1 StR 38/11, NStZ 2012, 160 Rn. 21, 24). Für bedingten Vorsatz reicht es aus, dass der Täter anhand einer laienhaften Bewertung der Umstände erkennt, dass ein Steueranspruch existiert, auf den er einwirkt, sog. "Parallelwertung in der Laiensphäre" (vgl. auch BFH, Urteil vom 21. Februar 1992 - VI R 141/88, BStBl II 1992, 565, 568 mwN).Nimmt der Steuerpflichtige irrtümlich an, ein Steueranspruch sei nicht entstanden, liegt ein Tatbestandsirrtum vor, der gemäß § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB den Vorsatz ausschließt (BGH, Urteile vom 8. September 2011 - 1 StR 38/11, NStZ 2012, 160 Rn. 22 und vom 24. Januar 2018 - 1 StR 331/17, NStZ-RR 2018, 180, 182 mwN). Hält er die Existenz eines Steueranspruchs für möglich und lässt er die Finanzbehörden über die Besteuerungsgrundlagen gleichwohl in Unkenntnis, findet er sich also mit der Möglichkeit der Steuerverkürzung ab, handelt er dagegen mit bedingtem Vorsatz (vgl. BGH, Urteil vom 8. September 2011 - 1 StR 38/11, NStZ 2012, 160 Rn. 26).Insoweit ist das Vorstellungsbild des Täters entscheidend. Die Prüfung der Frage, ob ein Tatbestandsirrtum bestanden hat, bedarf einer Gesamtwürdigung aller Umstände, die für das Vorstellungsbild des Täters von Bedeutung waren. Die Annahme einer vorsätzlichen Tatbegehung setzt aber nicht die Feststellung voraus, dass sich der Steuerpflichtige konkrete Vorstellungen über die korrekte steuerrechtliche Einordnung des von ihm nicht oder unrichtig erklärten Sachverhaltes gemacht hat (vgl. BGH, Urteil vom 8. September 2011 - 1 StR 38/11, NStZ 2012, 160 Rn. 21, 25, 27).2. Eine Treuhandvereinbarung ist dadurch gekennzeichnet, dass der Treugeber dem Treuhänder Vermögensrechte überträgt, ihn aber in der Ausübung der sich daraus ergebenden Rechtsmacht im Innenverhältnis nach Maßgabe der schuldrechtlichen Vereinbarung beschränkt. Der Treugeber kann alle mit der Beteiligung verbundenen wesentlichen Rechte ausüben und im Konfliktfall effektiv durchsetzen. Der Treuhänder ist mit einer schuldrechtlichen Herausgabeverpflichtung belastet.Ein (verdecktes) Treuhandverhältnis, wie es die Revisionsbegründung anspricht, führt nur dann zu einer von § 39 Abs. 1 AO abweichenden Zurechnung, wenn es eindeutig vereinbart und nachweisbar ist und konsequent durchgeführt wird. Es muss zweifelsfrei erkennbar sein, dass der Treuhänder in dieser Eigenschaft - und nicht für eigene Rechnung - tätig geworden ist und der Treugeber muss das Treuhandverhältnis tatsächlich beherrschen. Unverzichtbares Merkmal einer solchen Beherrschung ist eine Weisungsbefugnis des Treugebers und damit korrespondierend die Weisungsgebundenheit des Treuhänders in Bezug auf die Behandlung des Treuguts. Zudem muss der Treugeber berechtigt sein, jederzeit die Rückgabe des Treuguts zu verlangen (vgl. auch BFH, Urteil vom 6. August 2013 - VIII R 10/10, DB 2013, 2248 Rn. 12 mwN). Die mit der formellen Eigentümerstellung verbundene Verfügungsmacht im Innenverhältnis muss in tatsächlicher Hinsicht so eingeschränkt sein, dass das rechtliche Eigentum eine "leere Hülle" bleibt (vgl. BGH, Beschluss vom 6. September 2012 - 1 StR 140/12, BGHSt 58, 1 Rn. 36 mwN; BFH, Urteil vom 20. Januar 1999 - l R 69/97, DStR 1999, 973, 975).3. Bei der Veranlagung zur Einkommensteuer werden zum Zweck der Ermittlung des zu versteuernden Einkommens (§ 2 Abs. 5 EStG) die steuerlichen Nettoergebnisse der verschiedenen Einkunftsarten zur Summe der Einkünfte zusammengefasst. Aus der Summe der Einkünfte ergibt sich der Gesamtbetrag der Einkünfte (§ 2 Abs. 4 EStG). Zur Ermittlung der Summe der Einkünfte sind im Veranlagungsverfahren positive und negative Einkünfte zu saldieren (Verlustausgleich).Zunächst erfolgt die Saldierung innerhalb der betreffenden Einkunftsart (horizontaler Verlustausgleich), danach werden die positiven und negativen Ergebnisse der verschiedenen Einkunftsarten zusammengefasst (vertikaler Verlustausgleich). Eine Saldierung positiver oder negativer Einkünfte aus einer Einkunftsart mit positiven oder negativen Einkünften aus einer anderen Einkunftsart sieht das Einkommensteuergesetz nicht vor.Die neue Strafkammer wird deshalb unter anderem das Folgende zu berücksichtigen haben:a) Für die steuerliche Zuordnung der Einnahmen und der dem Angeklagten entstandenen Ausgaben ist von Bedeutung, ob die Bankguthaben des Angeklagten zu den Tatzeiten Teil seines Privatvermögens und die Wertpapierkäufe eine private Vermögensanlage waren (bzw. geworden waren), die Zinserträge damit Einkünfte aus Kapitalvermögen sind, oder ob der Vermögensstock in Gestalt der streitigen Wertpapiere bzw. der Wertpapierdepots zu seinem Betriebsvermögen gehörte und die An- und Verkäufe weiterer Wertpapieranlagen betrieblich veranlasst waren, somit die Zinserträge sowie dann auch die Gewinne aus der Veräußerung von Wertpapieren bzw. Wertpapierdepots als Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit, wenn nicht gar aus Gewerbe- betrieb (vgl. Finanzgericht Rheinland-Pfalz, EFG 1996, 712 f.; vgl. auch Schmidt/Wacker, EStG, 37. Aufl., § 15 Rn. 150 "Detektiv" mwN), mithin als steuerbare Vorgänge, zu qualifizieren sind.aa) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs können Wirtschaftsgüter, die weder notwendiges Betriebsvermögen noch notwendiges Privatvermögen darstellen, als gewillkürtes Betriebsvermögen berücksichtigt werden.Notwendiges Betriebsvermögen ist anzunehmen, wenn Wirtschaftsgüter objektiv erkennbar zum unmittelbaren Einsatz im Betrieb bestimmt sind (z.B. BFH, Urteil vom 8. Februar 1985 - III R 169/82, BFH/NV 1985, 80, 81 f. mwN); sie sind ohne Einlagehandlung (Widmungsakt) dem Betriebsvermögen zuzuordnen.Dem gewillkürten Betriebsvermögen können Wirtschaftsgüter nur zugerechnet werden, wenn sie zum Zeitpunkt der Vornahme des Rechtsgeschäfts objektiv dazu geeignet und subjektiv dazu bestimmt sind, den Betrieb zu fördern (z.B. durch Stärkung des Kapitals, vgl. BFH, Urteile vom 17. Mai 2011 - VIII R 1/08, DB 2011, 2121, 2122 und vom 23. April 2009 - IV R 87/05, BFH/NV 2009, 1650, 1651 mwN) und der Betriebsinhaber seinen diesbezüglichen Willen durch einen unmissverständlich, zeitnah und unumkehrbar dokumentierten Widmungsakt nach außen klar erkennbar zum Ausdruck gebracht hat (vgl. BFH, Urteile vom 2. Oktober 2003 - IV R 13/03, DB 2003, 2681, 2683 und vom 8. Februar 2011 - VIII R 18/09, NZG 2011, 1439 Rn. 30 ff.).Das neue Tatgericht wird somit zu prüfen haben, ob für die Zuordnung des Vermögensstocks in Gestalt des Bankguthabens bzw. der streitigen Wertpapiere (Wertpapierdepots) zum gewillkürten Betriebsvermögen des Angeklagten dieser nach außen erkennbare Widmungsakt, beispielsweise durch Aufnahme in ein betriebliches Bestands- bzw. Anlageverzeichnis (vgl. BFH, Urteil vom 21. August 2012 - VIII R 11/11, DB 2012, 2778 Rn. 19 mwN), vorhanden war. Dabei würden die Umstände, dass ein Steuerpflichtiger bei dem Abschluss von Wertpapiergeschäften nicht durch entsprechende Aufzeichnungen unmissverständlich seinen Willen bekundet, die Geschäfte seiner betrieblichen Sphäre zuzuordnen, und die Zinserträge daraus auch nicht im Rahmen seiner Einkommensteuererklärung bei den Einkünften aus selbständiger Tätigkeit angibt, eine private Veranlassung belegen. Wer erst nach Ablauf des Veranlagungszeitraums (z.B. im Einspruchsverfahren gegen den angefochtenen Einkommensteuerbescheid) geltend macht, er habe Wertpapiere dem gewillkürten Betriebsvermögen zugerechnet, versucht in diesem Zeitpunkt und damit nicht mehr zeitnah die erforderliche Dokumentation des Widmungsakts zu schaffen (BFH, Urteil vom 8. Februar 2011 - VIII R 18/09, NZG 2011, 1439 Rn. 33 f. mwN). Umso mehr gilt dies, wenn eine solche Behauptung erst im Rahmen eines Ermittlungs- oder Strafverfahrens erfolgt.bb) Sollte das Tatgericht zu dem Ergebnis gelangen, dass das dem Angeklagten 1985 überlassene Kapital unter Berücksichtigung des Vertragszwecks des zu den Bankunterlagen gereichten Treuhandvertrags ursprünglich (gewillkürtes) Betriebsvermögen war, wird es eine Entwidmung durch Folgerechtsgeschäfte zu prüfen haben.Als Widmungs- oder Entwidmungsakte kommen z.B. zu den Bank- oder Depotunterlagen gereichte Erklärungen, Verträge bzw. Zweckbestimmungen in Rechtsgeschäften (Errichtung von Stiftungen, Änderungen in deren Regularien, angegebener Vertragszweck beim Abschluss von Lebensversicherungen u.a.) in Betracht. Im vorliegenden Verfahren könnte eine Entwidmung insbesondere durch den Umstand erfolgt sein, dass der Angeklagte spätestens mit Gründung der Miku Bay Stiftung nicht nur sich selbst, sondern auch seine jeweilige Ehefrau als Begünstigte der jeweiligen Stiftung eingesetzt und zugleich diverse Regelungen über den Genuss des Stiftungsvermögens für den Todesfall nebst mehrstufigen "Erbersatzregelungen", monatliche Rentenzahlungen an Verwandte und die Errichtung eines "Museums für die Kunst und Vergangenheit des Vorbesitzers M" vorgesehen hat.In diesem Zusammenhang wird auch in den Blick zu nehmen sein, dass Geldgeschäfte, die ihrer Art nach zu Einkünften i.S.d. § 20 EStG führen, grundsätzlich getrennt von der freiberuflichen Tätigkeit zu beurteilen sind (BFH, Urteil vom 17. Mai 2011 - VIII R 1/08, NJW 2011, 3742 Rn. 31 mwN), insbesondere wenn es dem Steuerpflichtigen im Wesentlichen auf den Ertrag aus der Kapitalanlage ankommt (vgl. BFH, Urteile vom 12. Januar 2010 - VIII R 34/07, DStR 2010, 920 Rn. 15 ff. und vom 8. Februar 2011 - VIII R 18/09, NZG 2011, 1439 Rn. 28). Den Einkünften aus selbständiger Arbeit sind Geldgeschäfte nur zuzurechnen, wenn sie als Hilfsgeschäft zur freiberuflichen Tätigkeit angesehen werden können, zum Beispiel in Form eines mit der Bank verbindlich vereinbarten Finanzierungskonzepts für den Betrieb (vgl. BFH, Urteil vom 17. Mai 2011 - VIII R 1/08, DStR 2011, 1802 Rn. 31; für weitere Beispiele vgl. BFH, Urteil vom 12. Januar 2010 - VIII R 34/07, DStR 2010, 920 Rn. 15 ff.). Hochverzinsliche Anlagegeschäfte, wie sie der Angeklagte vorgenommen hat, werden nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs ohnehin vorwiegend im privaten Bereich getätigt und sind nur im Einzelfall betrieblich veranlasst (vgl. BFH, Urteil vom 23. April 2009 - IV R 87/05, BFH/NV 2009, 1650, 1651 mwN).b) Betriebsausgaben i.S.d. § 4 Abs. 4 EStG können nur bei Gewinneinkünften als Abzugsposten berücksichtigt werden. Sie stehen im Gegensatz zu den Werbungskosten, die die Überschusseinkünfte mindern (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 EStG). Von den Kapitalerträgen, hätte er sie erklärt, hätte der Angeklagte deshalb keine Betriebsausgaben aus seiner selbständigen Tätigkeit absetzen können. Soweit er aus Erträgen der angelegten Gelder berufliche Ausgaben getätigt hat, wie er in der Hauptverhandlung behauptet hat, hätten diese daher allenfalls (im Wege der Geldeinlage) als Betriebsausgaben bei seinen Einkünften aus selbständiger Arbeit abgezogen werden können, sodass entsprechende Abzüge in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen sein könnten.Da der Angeklagte in seinen Steuererklärungen Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit erklärt hat, wird das neue Tatgericht daher prüfen müssen, ob und in welcher Höhe der Angeklagte in den Tatzeiträumen überhaupt nachweislich beruflichen Aufwand hatte, in welcher Höhe er diesen in seinen Steuererklärungen geltend gemacht hat und dieser vom Finanzamt bereits steuermindernd berücksichtigt worden ist.Nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO wäre ein Steuerbescheid aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden.4. Des Weiteren bemerkt der Senat, dass die Berücksichtigung der "Lebensleistung" des Angeklagten als strafmildernde Erwägung rechtlichen Bedenken begegnet.Der Begriff "Lebensleistung" ist eine ausfüllungsbedürftige "Leerformel" und wird sich schwer definieren lassen (ohne Definition BGH, Urteil vom 2. Dezember 2008 - 1 StR 416/08, BGHSt 53, 71 Rn. 45). Nach § 46 Abs. 1 Satz 1 StGB ist vorrangig die Schuld des Täters die Grundlage für die Strafe und nicht dessen Lebensführung oder Lebensleistung. Die beruflichen Erfolge des Angeklagten und der damit verbundene Vermögenszuwachs ließen etwa vom Angeklagten begangene Steuerhinterziehungen von mehreren Millionen Euro jedenfalls nicht ohne weiteres in einem günstigeren Licht erscheinen.Raum Bellay Fischer Hohoff Pernice
bundesgerichtshof
bgh_121-2021
01.07.2021
Urteil wegen Einziehung des durch die Ausfuhr von Waffen nach Kolumbien Erlangten weitgehend rechtskräftig Ausgabejahr 2021 Erscheinungsdatum 01.07.2021 Nr. 121/2021 Urteil vom 1. Juli 2021 - 3 StR 518/19 Das Landgericht Kiel hat drei Angeklagte wegen Ausfuhr von Gütern ohne Genehmigung nach dem Außenwirtschaftsgesetz in mehreren Fällen zu Freiheitsstrafen verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Gegen die Einziehungsbeteiligten, drei Gesellschaften aus der SIG SAUER Unternehmensgruppe, hat es die Einziehung von mehreren Millionen Euro angeordnet. Nach den durch das Landgericht getroffenen Feststellungen verpflichtete sich die in den USA ansässige Sig Sauer Inc. gegenüber einer Beschaffungsstelle des US-Militärs, Pistolen zur Ausstattung der kolumbianischen Nationalpolizei unmittelbar nach Kolumbien zu liefern. Die Waffen wurden aufgrund einer konzerninternen Entscheidung im Werk der Sig Sauer Beteiligungs GmbH in Deutschland produziert, sodann im Rahmen eines sog. Intercompany-Geschäfts in der Zeit von April 2009 bis April 2011 der Sig Sauer Inc. zugeliefert und von dieser größtenteils nach Kolumbien re-exportiert. Entsprechend den Anträgen der Sig Sauer Beteiligungs GmbH, die die Bestätigung enthielten, dass die Pistolen nicht ohne Genehmigung in andere Länder re-exportiert werden, wurde die Ausfuhr ausschließlich zum Vertrieb und Verbleib der Güter in den USA genehmigt. Tatsächlich war jedoch bereits vor Einholung der Genehmigungen die Weiterlieferung nach Kolumbien geplant. Die Sig Sauer Sauer Beteiligungs GmbH erlöste durch den Verkauf der Waffen an die Sig Sauer Inc. 7.440.532,20 €, der Umsatz der Waffengeschäfte zwischen der Sig Sauer Inc. und dem US-Militär betrug 11.103.040,74 €. Im Jahr 2011 schloss die Sig Sauer Beteiligungs GmbH einen Ausgliederungs- und Übernahmevertrag mit einer Zielgesellschaft, die nunmehr als Sig Sauer GmbH & Co. KG firmiert. Übertragen wurden sämtliche Aktiva und Passiva mit Ausnahme des Grundbesitzes, darauf bezogene Versicherungsverträge und ihre Beteiligung an dem Grundbesitz. Das Landgericht hat die Angeklagten wegen Verstoßes gegen das Außenwirtschaftsgesetz verurteilt, weil die Re-Exporte gegen die Bedingungen der erteilten Genehmigungen verstoßen hätten. Die ursprünglich genehmigten Ausfuhren in die USA seien daher rückwirkend ohne Genehmigung erfolgt. Insoweit stand das Urteil nicht zur revisionsrechtlichen Überprüfung durch den Bundesgerichtshof. Bei den Einziehungsbeteiligten hat das Landgericht die Einziehung des Wertes der jeweils erzielten Umsatzerlöse angeordnet. Hiergegen wenden sich die Einziehungsbeteiligten mit ihren Revisionen. Die durch die Rechtsmittel veranlasste Überprüfung des Urteils durch den 3. Strafsenat hat hinsichtlich der Einziehungsbeteiligten Sig Sauer Beteiligungs GmbH und Sig Sauer Inc. keinen durchgreifenden, sie belastenden Rechtsfehler ergeben. Das Landgericht hat auf Grundlage der rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen die Voraussetzungen der Einziehung im Ergebnis zu Recht bejaht und anhand der erzielten Veräußerungserlöse die Höhe der Einziehungsbeträge zutreffend bestimmt. Auf die Revision der Sig Sauer GmbH & Co. KG hat der Senat die sie betreffende Einziehungsanordnung hingegen aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. Das angegriffene Urteil enthält keine Feststellungen dazu, welchen Wert dem ausgegliederten Vermögen zukam und ob mit der Ausgliederung der staatliche Zugriff vereitelt oder die Tat verschleiert werden sollte. Die bisherigen, für sich genommen rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen hat der Senat aufrechterhalten. Das landgerichtliche Urteil ist somit weitgehend rechtskräftig. Vorinstanz: LG Kiel – 3 KLs 3/18 – Urteil vom 3. April 2019 Karlsruhe, den 1. Juli 2021 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Urteil des 3. Strafsenats vom 1.7.2021 - 3 StR 518/19 -
1. Ausdrucke einer ansonsten nur digital vorhandenen E-Mail stellen präsente Beweismittel im Sinne des § 245 Abs. 2 StPO dar.2. Die Verjährung der Erwerbstaten ist eine Einwendung gegen den Schuldspruch i.S.d. § 431 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO. Sie unterliegt daher nur dann der Prüfungskompetenz des Revisionsgerichts, wenn die einschränkenden Voraussetzungen des § 431 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 StPO gegeben sind. Dem stehen verfassungs- und konventionsrechtliche Belange, insbesondere Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG und Art. 13 EMRK, nicht entgegen (Fortführung von BGH, Beschluss vom 10. Juli 2018 - 1 StR 628/17, juris).3. Führt der Täter Güter ohne die erforderliche Genehmigung aus, umfasst das aus der Tat Erlangte i.S.d. § 73 Abs. 1 StGB nicht nur die für das Genehmigungsverfahren ersparten Aufwendungen, sondern sämtliche aus der Tat bezogenen Vermögenswerte. Dies gilt ungeachtet der Genehmigungsfähigkeit der Ausfuhr (Aufgabe von BGH, Urteil vom 19. Januar 2012 - 3 StR 343/11, BGHSt 57, 79 Rn. 14 ff., 19). Diese wirkt sich auch nicht auf die Abzugsfähigkeit der Aufwendungen nach § 73d Abs. 1 StGB aus.4. § 73b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB gilt auch für rechtsgeschäftliche Übertragungen im Wege partieller Gesamtrechtsnachfolge. Wird nicht das ursprünglich Erlangte, sondern dessen Wertersatz übertragen, ist die Haftung des Übernehmenden nach § 73b Abs. 2 StGB auf den Wert der übertragenen Vermögenswerte beschränkt und erfordert auch nach der Gesetzesnovelle einen Bereicherungszusammenhang in dem Sinne, dass die Verschiebung mit der Zielrichtung vorgenommen wird, den Wertersatz dem Zugriff des Gläubigers zu entziehen oder die Tat zu verschleiern.5. Für die Wertbestimmung des Erlangten können grundsätzlich auch Auslandsgeschäfte in den Blick genommen werden. So finden etwa - unabhängig von dem Sitz der Drittbegünstigten - durch legale Weiterverkäufe im Ausland erzielte Erlöse Berücksichtigung (Aufgabe von BGH, Urteil vom 6. Februar 1953 - 2 StR 714/51, BGHSt 4, 13, und RG, Urteil vom 13. November 1919 - I 460/19, RGSt 54, 45).6. Das Abzugsverbot des § 73d Abs. 1 Satz 2 StGB gilt auch für versuchte Taten. Tenor 1. Auf die Revision der Einziehungsbeteiligten S.  S.   GmbH & Co. KG wird das Urteil des Landgerichts Kiel vom 3. April 2019 aufgehoben, soweit die Einziehung ihr gegenüber angeordnet worden ist; jedoch bleiben die zugehörigen Feststellungen aufrechterhalten.Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.2. Die weitergehende Revision der Einziehungsbeteiligten S.  S.   GmbH & Co. KG sowie die Revisionen der Einziehungsbeteiligten S.                   GmbH und Si.          werden verworfen.3. Die Einziehungsbeteiligten S.               GmbH und Si.        haben jeweils die Kosten ihres Rechtsmittels zu tragen.Von Rechts wegen Gründe Das Landgericht hat den Angeklagten L.   wegen Ausfuhr von in Teil I Abschnitt A der Ausfuhrliste genannten Gütern ohne Genehmigung in 98 Fällen, davon in neun Fällen im Versuch und in 43 Fällen in Tateinheit mit versuchter Ausfuhr von in Teil I Abschnitt A der Ausfuhrliste genannten Gütern ohne Genehmigung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Monaten sowie zu einer Geldstrafe von 300 Tagessätzen zu je 1.666 € verurteilt. Den Angeklagten La.        hat es wegen Ausfuhr von in Teil I Abschnitt A der Ausfuhrliste genannten Gütern ohne Genehmigung in 60 Fällen, davon in zwei Fällen im Versuch und in 30 Fällen in Tateinheit mit versuchter Ausfuhr von in Teil I Abschnitt A der Ausfuhrliste genannten Gütern ohne Genehmigung, zu der Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Monaten und den Angeklagten C.     wegen Ausfuhr von in Teil I Abschnitt A der Ausfuhrliste genannten Gütern ohne Genehmigung in 60 Fällen, davon in drei Fällen im Versuch und in 29 Fällen in Tateinheit mit versuchter Ausfuhr von in Teil I Abschnitt A der Ausfuhrliste genannten Gütern ohne Genehmigung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Die Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafen hat es jeweils zur Bewährung ausgesetzt. Insoweit ist das Urteil rechtskräftig.Gegen die Einziehungsbeteiligten hat die Strafkammer die Einziehung des Wertes von Taterträgen wie folgt angeordnet: gegen die S.              GmbH und S.  S.    GmbH & Co. KG jeweils in Höhe von 7.440.532,20 € sowie gegen die Si.             in Höhe von 11.103.040,74 €. Im Umfang von 7.440.532,20 € hat es die Haftung der Einziehungsbeteiligten als Gesamtschuldner bestimmt.Die Einziehungsbeteiligten wenden sich gegen das Urteil jeweils mit den Rügen der Verletzung formellen und materiellen Rechts, die Einziehungsbeteiligten S.                   GmbH und Si.         machen zudem das Verfahrenshindernis der teilweisen Verjährung der Erwerbstaten geltend. Die Revision der S.  S.    GmbH & Co. KG hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist sie unbegründet. Die Rechtsmittel der weiteren Einziehungsbeteiligten sind erfolglos.A.I. Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:1. Die Einziehungsbeteiligten sind Teil einer Unternehmensgruppe. Die in den Vereinigten Staaten von Amerika (im Folgenden: USA) ansässige Si.          schloss im Jahr 2009 einen Vertrag mit der T.      , einer Beschaffungsstelle des US-Militärs. Zweck dieses Geschäfts, um das sich die Si.         bereits seit 2007 bemüht hatte, war die Ausstattung der kolumbianischen Nationalpolizei mit Pistolen im Rahmen des sog. "Foreign Military Sales"-Programms. Im Rahmen dieses Vertrages bestellte die T.      im April und Juni 2009 insgesamt 99.261 Pistolen des Typs SP 2022. Die Si.          sollte die Waffen zu einem Stückpreis von 439 USD unmittelbar nach Kolumbien liefern.Die Pistolen wurden aufgrund einer konzerninternen Entscheidung im Werk der (nunmehr unter dieser Bezeichnung firmierenden) S.                GmbH in Deutschland produziert und sodann der Si.          im Rahmen eines sog. Intercompany-Geschäfts zugeliefert. In Umsetzung dieser Entscheidung orderte die Si.         bereits am 25. Februar 2009, also noch vor der ersten Bestellung der T.     , 27.000 Pistolen, die durch die S.                  GmbH hergestellt wurden.Insgesamt lieferte die S.                  GmbH zwischen dem 22. April 2009 und dem 17. April 2011 in 99 Ausfuhren 47.262 Pistolen in die USA; hiervon re-exportierte die Si.            38.241 Waffen nach Kolumbien (Fälle II. 2. 2.4 Ziff. 1-99 d. Urteilsgründe). In den Fällen II. 2. 2.4 Ziff. 1-10 d. Urteilsgründe entsprachen die Herstellungskosten dem Intercompany-Preis in Höhe von zwischen ca. 118 und 150 €, in den übrigen Fällen verkaufte die S.                  GmbH die Pistolen mit einer Gewinnmarge von 5 % an die Si.         . Der Gesamtumsatz dieser Waffengeschäfte betrug in Deutschland 7.440.532,20 €, der Umsatz der Geschäfte zwischen der Si.          und der T.      belief sich auf 11.103.040,74 €.2. Den Ausfuhren lagen folgende Genehmigungen zugrunde:a) Am 23. März 2009 beantragte die zuständige Exportsachbearbeiterin für die S.                 GmbH gegenüber dem Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) eine Ausfuhrgenehmigung für 30.000 Pistolen vom Typ SP 2022 zur Lieferung an die Si.         . Als Endverwendung wurde der Vertrieb der Ware in den USA angegeben, als Endbestimmungsland die USA. Dem Antrag war eine Endverbleibserklärung der Si.           beigefügt, nach der die Ware für den Verbrauch bestimmt sei und in den USA verbleiben werde. Außerdem bestätigte die Si.         , dass die Waffen nicht ohne Genehmigung des BAFA in andere Länder re-exportiert werden. Die Ausfuhrgenehmigung wurde am 7. April 2009 antragsgemäß für die beantragte Endverwendung und das erklärte Endbestimmungsland "USA" erteilt. Unter Verwendung dieser Genehmigung führte die S.               GmbH zwischen dem 22. April 2009 und dem 11. April 2010 in 51 Lieferungen 24.160 Pistolen aus, von denen die Si.          21.820 Pistolen nach Kolumbien re-exportierte (Fälle II. 2. 2.4 Ziff. 1-51 d. Urteilsgründe). Die Ausfuhren wären bei zutreffender Angabe des Endbestimmungslands nicht sicher genehmigt worden.b) Am 10. März 2010 beantragte die S.                GmbH durch eine andere, nunmehr zuständige Exportsachbearbeiterin eine weitere Ausfuhrgenehmigung gegenüber dem BAFA hinsichtlich einer Lieferung von Pistolen an die Si.          . Als Endverwendung wurde angegeben, die Waffen seien für den amerikanischen Zivilmarkt bestimmt, Endbestimmungsland sei die USA. Vorgelegt wurde zugleich eine Endverbleibserklärung der Si.         , wonach auch diese Waffen in den USA verbleiben und nicht ohne Genehmigung des BAFA in andere Länder re-exportiert werden sollten. Die Ausfuhrgenehmigung wurde am 26. März 2010 antragsgemäß für die beantragte Endverwendung und das erklärte Endbestimmungsland erteilt. Unter Verwendung dieser Genehmigung führte die S.                GmbH zwischen dem 18. April 2010 und dem 17. April 2011 in 48 Lieferungen 23.102 Pistolen in die USA aus, von denen die Si.         16.421 nach Kolumbien re-exportierte (Fälle II. 2. 2.4 Ziff. 52-99 d. Urteilsgründe). Auch diese Ausfuhren wären bei zutreffender Angabe des Endbestimmungslands nicht sicher genehmigt worden.3. Die beiden Exportsachbearbeiterinnen wussten nicht, dass die Pistolen teilweise im Rahmen des T.    -Vertrages nach Kolumbien weitergeliefert werden sollten.Sie legten den Genehmigungsantrag dem jeweiligen Ausfuhrverantwortlichen der S.                  GmbH - hinsichtlich des Erstantrags war dies der Verurteilte L.   , hinsichtlich des Zweitantrags der Verurteilte La.        - vor Absendung an das BAFA nicht zur Prüfung oder Kenntnisnahme vor. Zwar gab es bereits vor dem Jahr 2009 interne Anweisungen zur Abwicklung von Ausfuhren, die in der S.                 GmbH bekannt und für die Mitarbeiter jederzeit zugänglich waren; so hieß es in der Anweisung zur "Abwicklung von Exporten nach dem Außenwirtschafts- und Anti-Terrorismusrecht" unter anderem, der Ausfuhrverantwortliche sei zuständig für Ausfuhren von Gütern des Teils I Abschnitt A der Ausfuhrliste; entsprechende Anträge müssten ihm vorgelegt werden. Diese Anweisung wurde aber in der Unternehmenspraxis - sowohl im konkreten Fall als auch generell - nicht gelebt. Eine wirksame unternehmensinterne Exportkontrolle existierte nicht. Erst im Jahr 2011 wurden nach einem Verdacht des Exportkontrollbeauftragten interne Ermittlungen durchgeführt und die Exporte im April/Mai 2011 mit der Folge gestoppt, dass die nach dem 17. April 2011 in die USA gelieferten Pistolen nicht mehr nach Kolumbien gelangten.4. Ebenfalls im Jahr 2011 schloss die S.               GmbH einen Ausgliederungs- und Übernahmevertrag mit einer Zielgesellschaft, die nunmehr als S.  S.    GmbH & Co. KG firmiert. Übertragen wurden sämtliche Aktiva und Passiva mit Ausnahme des Grundbesitzes, darauf bezogene Versicherungsverträge und ihre Beteiligung an der Zielgesellschaft.5. Die Verurteilten waren für die Einziehungsbeteiligten wie folgt tätig:Der Verurteilte L.    war seit dem 26. August 2008 durchgehend einzelvertretungsberechtigter Geschäftsführer und zwischen dem 20. Oktober 2008 und dem 5. August 2009 Ausfuhrverantwortlicher der S.                GmbH. Vom 26. Oktober 2011 bis zum 10. Juli 2015 fungierte er ferner als einzelvertretungsberechtigter Geschäftsführer der S.   S.   V.         GmbH, der persönlich haftenden Gesellschafterin der S.  S.   GmbH & Co. KG. Er war überdies Gesellschafter der Konzernmutter und damit mittelbar beteiligt an der S.                GmbH und der S.  S.    GmbH & Co. KG.Der Verurteilte La.         war bis zu seinem Ausscheiden aus dem Unternehmen im Jahr 2010 vom 1. Juni 2009 einzelvertretungsberechtigter Geschäftsführer und ab dem 6. August 2009 Ausfuhrverantwortlicher der S.               GmbH.Der Verurteilte C.    war seit dem Jahr 2005 durchgehend CEO der Si.         sowie vom 18. Februar 2009 bis zum 23. Juni 2010 Geschäftsführer ohne Einzelvertretungsberechtigung der S.              GmbH; in dieser Funktion war er hauptsächlich zuständig für die Optimierung der Produktion und Lieferketten.6. Die Verurteilten L.   und C.    wussten bereits 2007 von der Anbahnung des Vertrages zwischen der Si.          und der T.    sowie dessen Inhalt; sie hatten zeitnah nach dem Vertragsschluss Kenntnis von dem erfolgreichen Geschäftsabschluss. Sie waren auch vor der ersten Lieferung in die USA darüber in Kenntnis, dass die Herstellung der Pistolen der Erfüllung des Vertrags zwischen der Si.         und der T.     diente; der Verurteilte La.      erfuhr dies spätestens am 27. August 2009.Die Verurteilten hielten es jeweils für möglich, dass in den an das BAFA gerichteten Ausfuhranträgen die USA als Endbestimmungsland angegeben waren. Dies nahmen sie auch billigend in Kauf, indem sie sich nicht weiter um die tatsächliche Genehmigungslage kümmerten. Den Angeklagten L.   und La.        war dabei auch bekannt, dass ein wirksames unternehmensinternes Exportkontrollsystem tatsächlich nicht existierte.Der Verurteilte C.    hatte darüber hinaus die Möglichkeit erkannt, dass die durch die Si.          ausgestellten Endverbleibserklärungen jeweils die USA als Endbestimmungsland auswiesen. Auch hierum kümmerte er sich nicht weiter und nahm dabei billigend in Kauf, dass auf Grundlage dieser Endverbleibserklärungen von der S.                   GmbH Anträge auf Ausfuhrgenehmigungen mit den USA als Endbestimmungsland gestellt werden könnten.II. In rechtlicher Hinsicht ist das Landgericht von folgender Bewertung ausgegangen:1. Die Strafbarkeit der Verurteilten hat es wie folgt begründet:Die Pistolen seien ohne Genehmigung ausgeführt worden, weil die Re-Exporte gegen die Bedingungen der erteilten Ausfuhrgenehmigungen verstoßen hätten; die ursprünglich genehmigten Ausfuhren in die USA seien insoweit rückwirkend ohne Genehmigung erfolgt. Die Fälle, in denen die Waffen in die USA ausgeführt, dann aber nicht nach Kolumbien weitergeliefert wurden (Fälle II. 2. 2.4 Ziff. 15-16, 60, 78-79, 81, 90, 92, 96 d. Urteilsgründe), seien daher jeweils als Versuch zu werten. Diese Taten seien nicht vollendet, da insoweit nicht gegen die Bedingungen der Ausfuhrgenehmigung verstoßen worden sei und diese auch nicht im Sinne des § 34 Abs. 8 AWG aF erschlichen worden seien. Allerdings sei die Weiterlieferung vom Vorsatz der Verurteilten umfasst gewesen, weil es aus ihrer Sicht beliebig und dem Zufall überlassen gewesen sei, welche Pistolen re-exportiert werden.Die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Verurteilten hat das Landgericht darauf gestützt, dass sie die rechtswidrigen Ausfuhren garantenpflichtwidrig nicht verhindert hätten, obwohl sie als Geschäftsführer hierfür verantwortlich gewesen seien. Dies begründe für den Verurteilten L.    eine Unterlassensstrafbarkeit in 98 Fällen (Fälle II. 2. 2.4 Ziff. 2-99 d. Urteilsgründe) - hinsichtlich des Falls II. 2. 2.4 Ziff. 1 d. Urteilsgründe war gegen ihn keine Anklage erhoben worden -, hinsichtlich des Verurteilten C.    in 60 Fällen (Fälle II. 2. 2.4 Ziff. 1-60 d. Urteilsgründe) und bezüglich des Verurteilten La.       - nachdem das Landgericht das Verfahren hinsichtlich der nicht unterbundenen Ausfuhren zwischen dem 7. Juni 2009 und dem 17. August 2009 nach § 154 StPO eingestellt hat - ebenfalls in 60 Fällen (Fälle II. 2. 2.4 Ziff. 19-78 d. Urteilsgründe).2. Die Einziehungsentscheidungen hat es im Wesentlichen auf folgende Erwägungen gestützt:a) Die S.               GmbH habe durch die strafbaren Ausfuhren Forderungen in Höhe von 7.440.532,20 € gegenüber der Si.          erlangt. Die Einziehung umfasse auch die Fälle, in denen lediglich versuchte Erwerbstaten vorlägen, weil die S.                  GmbH auch insoweit Ansprüche gegenüber der Si.         erworben habe. Einzuziehen sei wegen des anzuwendenden Bruttoprinzips und des Abzugsverbots des § 73d StGB der Wertersatz in Höhe des gesamten Umsatzes, nicht lediglich die Gewinnmarge.b) Die Si.        habe durch die strafbaren Erwerbstaten zunächst die ausgeführten Pistolen erlangt. Soweit sie diese an die T.      veräußert habe, habe sie als Surrogat jeweils die vertraglich vereinbarten 439 USD pro Pistole erhalten, also insgesamt 11.103.040,76 €. In dieser Höhe sei die Einziehung von Wertersatz für die Surrogate des ursprünglich Erlangten anzuordnen (§ 73b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 73 Abs. 3 Nr. 1 StGB). Damit sei rechtlich ohne Bedeutung, welchen Wert die Waffen zum Zeitpunkt der Lieferung an die Si.           gehabt hätten, denn die Kammer habe gerade nicht die Einziehung von Wertersatz unmittelbar für die Pistolen angeordnet.c) Die S.  S.    GmbH & Co. KG habe durch den Ausgliederungs- und Übernahmevertrag mit der S.                GmbH vom 2. November 2011 deren gesamtes Vermögen (ausgenommen Immobilien, Versicherungsverträge sowie die Beteiligung an der Zielgesellschaft) übernommen. Da die S.                 GmbH, wie bereits dargelegt, durch die Taten Kaufpreisansprüche gegen die Si.          in Höhe von 7.440.532,20 € erlangt habe, sei der Wert dieses Erlangten in dem übertragenen Vermögen vorhanden gewesen. Dies gelte auch, wenn die S.                  GmbH zuvor erlangte Verkaufserlöse dafür verwendet haben sollte, bereits bestehende oder nachträglich entstandene Verbindlichkeiten zu begleichen, und das zum Zeitpunkt der Ausgliederung vorhandene Vermögen keinen Bezug mehr zum ursprünglich Erlangten aufgewiesen haben sollte. Ein solcher Bezug des übertragenen Vermögens zur Tat sei nicht notwendig, insbesondere erfordere der Wortlaut des § 73b Abs. 2 StGB nF dies nicht. Im Übrigen sei der S.   S.   GmbH & Co. KG die Kenntnis des Verurteilten L.   davon zuzurechnen, dass der Vorteil aus ungenehmigten Ausfuhren stammte, denn er sei Geschäftsführer ihrer persönlich haftenden Gesellschafterin S.   S.    V.      GmbH gewesen. Nach alledem ergebe sich die Einziehung von Wertersatz in dieser Höhe aus den §§ 73, 73b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 lit. b, § 73c StGB.B.I. Die Revision der Einziehungsbeteiligten S.                 GmbH:Die Revision ist unbegründet.1. Die Geltendmachung des Verfahrenshindernisses der Verjährung der Erwerbstaten hat keinen Erfolg.a) Der Senat hatte auf die Revision der Einziehungsbeteiligten nicht bereits von Amts wegen zu prüfen, ob hinsichtlich der Erwerbstaten, auf die sich die Einziehungsentscheidung stützt, (teilweise) Strafverfolgungsverjährung eingetreten ist. Die Geltendmachung des Verfahrenshindernisses der Verjährung der Erwerbstaten ist eine Einwendung gegen die hier rechtkräftigen Schuldsprüche und unterliegt daher nur dann der Prüfungskompetenz des Revisionsgerichts, wenn die einschränkenden Voraussetzungen des § 431 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 StPO gegeben sind (dazu sogleich B.I.1.b; so auch BGH, Beschluss vom 10. Juli 2018 - 1 StR 628/17, juris Rn. 4, 11). Insoweit gilt:Gemäß § 431 Abs. 1 Satz 1 StPO erstreckt sich im Rechtsmittelverfahren die Prüfung, ob die Einziehung dem Einziehungsbeteiligten gegenüber gerechtfertigt ist, nur dann auf den Schuldspruch des angefochtenen Urteils, wenn der Einziehungsbeteiligte insoweit Einwendungen vorbringt und im vorausgegangenen Verfahren ohne sein Verschulden zum Schuldspruch nicht gehört worden ist.aa) Die Vorschrift erfasst bereits nach ihrem Wortlaut auch die Geltendmachung eines Verfahrenshindernisses. Das Merkmal "Einwendungen gegen den Schuldspruch" umfasst begrifflich die auf den Schuldspruch bezogenen Verfahrensvoraussetzungen, denn auch sie betreffen den Schuldspruch. Hätte der Gesetzgeber diese ausnehmen wollen, hätte er dies sprachlich ohne Weiteres in die Norm aufnehmen können.bb) Dafür sprechen ferner Sinn und Zweck sowie die Entstehungsgeschichte der Vorschrift.Nach der Gesetzesbegründung zu der Vorgängernorm (§ 437 StPO aF) sollten Einziehungsbeteiligte nicht aus rein vermögensrechtlichen Interessen das Gericht zu einer weiteren Nachprüfung des Schuldspruchs zwingen können, als sie auf die Einwendungen der unmittelbar Beteiligten vorgenommen werden müsste (vgl. BT-Drucks. V/1319 S. 73), und daher grundsätzlich nur geltend machen können, die Einziehungsanordnung sei zu Unrecht ergangen. § 431 StPO wollte hieran nichts ändern, sondern dem bisherigen § 437 StPO aF entsprechen (vgl. BT-Drucks. 18/9525 S. 90). Die Norm trifft damit weiterhin bewusst einen Ausgleich zwischen den Interessen des Einziehungsbeteiligten und der Verfahrensökonomie (MüKoStPO/Putzke/Steinfeld, § 431 Rn. 1). Dem widerspräche es, wenn das Revisionsgericht stets und ohne die Voraussetzungen des § 431 Abs. 1 Satz 1 StPO die Verjährung der Erwerbstaten und nicht lediglich das Vorliegen der spezifischen Einziehungsvoraussetzungen prüfen müsste.Daran ändert nichts, dass Verfahrensvoraussetzungen inmitten stehen, die, soweit sich der Prüfungsumfang darauf erstreckt, üblicherweise von Amts wegen zu berücksichtigen sind. Hieraus ergibt sich bereits der Sache nach kein entscheidender Unterschied dazu, dass die Einziehungsbeteiligte auch etwaige sonstige Rechtsfehler des die Erwerbstaten betreffenden Schuldspruchs grundsätzlich gegen sich gelten lassen muss und der Gesetzgeber dies aus Gründen der Verfahrensökonomie gerade beabsichtigt hat.cc) Dies wird durch eine systematische Auslegung der Norm bestätigt, die den Prüfungsumfang des Revisionsgerichts hinsichtlich einzelner Rechtsfragen auch in anderer Hinsicht einschränkt.So muss der Einziehungsbeteiligte - abweichend von den sonstigen im Revisionsverfahren hinsichtlich der Sachrüge geltenden Grundsätzen - seine Beanstandungen ausdrücklich erheben und benennen, und zwar gemäß § 431 Abs. 3 StPO innerhalb der Begründungsfrist des § 345 Abs. 1 StPO; eine nicht weiter oder nicht fristgerecht ausgeführte Sachrüge ist defizitär und führt zur Unbegründetheit des Rechtmittels (vgl. Dölling/Duttge/König/Rössner/Koch, Gesamtes Strafrecht, 4. Aufl., § 437 Rn. 3; Meyer-Goßner/Schmitt/Köhler, StPO, 64. Aufl., § 431 Rn. 4; Radtke/Hohmann/Kiethe, StPO, § 437 Rn. 1; Schmidt, Vermögensabschöpfung, 2. Aufl., Rn. 1754; SK-StPO/Paeffgen, 5. Aufl., § 431 Rn. 6; SK-StPO/Weßlau, 4. Aufl., § 431 Rn. 8; SSW-StPO/Heine, 4. Aufl., § 431 Rn. 4; Volk/Beukelmann/Bröckers, Anwaltshandbuch Verteidigung in Wirtschafts- und Steuerstrafsachen, 3. Aufl., § 14 Rn. 45). Eine Ausnahme von der üblicherweise geltenden Prüfungskompetenz des Revisionsgerichts ist somit in der Vorschrift selbst angelegt.dd) Dem stehen verfassungs- und konventionsrechtliche Belange, insbesondere Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG und Art. 13 EMRK, nicht entgegen (s. zu deren Bedeutung für § 431 StPO MüKoStPO/Putzke/Steinfeld, § 431 Rn. 8; SK-StPO/Paeffgen, 5. Aufl., § 431 Rn. 6).(1) Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 13 EMRK begründen bereits keinen Anspruch auf Anfechtbarkeit einer richterlichen Entscheidung und gewährleisten keinen Instanzenzug (vgl. BVerfG, Beschluss vom 20. Dezember 2010 - 1 BvR 2011/10, NVwZ 2011, 546 Rn. 17; BeckOK StPO/Valerius, 40. Ed., Art. 13 EMRK Rn. 3, 6; Hömig/Wolff/Antoni, GG, 12. Aufl., Art. 19 Rn. 17; LR/Esser, StPO, 26. Aufl., Art. 13 EMRK Rn. 33 ff. mit Fn. 73; SSW-StPO/Heine, 4. Aufl., § 431 Rn. 1; zwar macht hiervon Art. 2 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK vom 22. November 1984 konventionsrechtlich eine Ausnahme bei strafrechtlichen Verurteilungen, dieses Protokoll hat die Bundesrepublik Deutschland allerdings nicht ratifiziert, vgl. LR/Esser, StPO, 26. Aufl., Art. 13 EMRK Fn. 73).Soweit der Gesetzgeber dennoch - wie hier - eine weitere Instanz eröffnet, garantiert Art. 19 Abs. 4 GG in diesem Rahmen die Effektivität des Rechtsschutzes im Sinne eines Anspruchs auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle. Das Rechtsmittelgericht darf ein von der jeweiligen Prozessordnung eröffnetes Rechtsmittel daher nicht ineffektiv machen und für den Beschwerdeführer "leerlaufen" lassen (BVerfG, Beschluss vom 20. Dezember 2010 - 1 BvR 2011/10, NVwZ 2011, 546 Rn. 17 mwN; Hömig/Wolff/Antoni, GG, 12. Aufl., Art. 19 Rn. 17). Auch nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, deren Berücksichtigung im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung des innerstaatlichen Rechts zur Bindung der Gerichte an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) gehört (vgl. BVerfG, Urteil vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2333/08 u.a., BVerfGE 128, 326, 366 ff.; BGH, Beschluss vom 18. Februar 2020 - 3 StR 430/19, BGHSt 64, 283 Rn. 44; Urteil vom 10. Juni 2015 - 2 StR 97/14, BGHSt 60, 276 Rn. 44), muss ein einmal eingeräumter Rechtsbehelf wirksam, das heißt zugänglich und geeignet sein, entweder die behauptete Verletzung oder ihre Fortdauer zu verhindern oder bereits erlittenen Verletzungen angemessen abzuhelfen (vgl. EGMR, Urteile vom 4. September 2014 - 68919/10 [Peter/Deutschland], NJW 2015, 3359 Rn. 54 ff.; vom 3. Juni 2010 - 42837/06 u.a. [Dimitras u.a./Griechenland], NVwZ 2011, 863 Rn. 65 ff.; vom 26. Oktober 2000 - 30210/96 [Kudła/Polen], NJW 2001, 2694 Rn. 157; BeckOK StPO/Valerius, 40. Ed., Art. 13 EMRK Rn. 7 ff.; MüKoStPO/Gaede, Art. 13 EMRK Rn. 19 ff.). Diese Voraussetzungen sind hier gewahrt.Die Verfahrensvoraussetzungen der Erwerbstaten werden in erster Instanz durch ein Gericht von Amts wegen geprüft; die Einziehungsbeteiligte kann in jenem Verfahrensstadium hierzu durchgängig Stellung nehmen. § 431 StPO begrenzt den gerichtlichen Prüfungsumfang im Rechtsmittelverfahren nicht hinsichtlich der spezifischen Einziehungsvoraussetzungen der §§ 73 ff. StGB, so dass insoweit vollständige Abhilfemöglichkeiten bestehen bleiben. Die Norm betrifft nur die Einwendungsmöglichkeiten gegen den der Einziehung zugrundeliegenden Schuldspruch. Von diesem ist die Einziehungsbeteiligte als Drittbegünstigte allerdings nicht unmittelbar betroffen. Dies gilt hinsichtlich der hier im Raum stehenden Verfahrensvoraussetzung der Verjährung der Erwerbstaten umso mehr, weil nach materiellem Recht auch in diesen Fällen eine Einziehungsentscheidung rechtlich zulässig ist (§ 76a Abs. 2 StGB).(2) Dieses Verständnis des § 431 StPO steht zudem als verfahrensrechtliches Äquivalent in Einklang mit der materiell-rechtlichen Bedeutung der Einziehung, die dieser nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zukommt.Hiernach berührt selbst die Einziehung des aus bereits vor der Neufassung des Abschöpfungsrechts verjährten Erwerbstaten Erlangten überragende Belange des Gemeinwohls, die eine echte Rückwirkung von Gesetzen rechtfertigen können (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Februar 2021 - 2 BvL 8/19, NJW 2021, 1222 Rn. 148 ff.). Durch die Vermögensabschöpfung soll in normbekräftigender Weise sowohl dem Straftäter als auch der Rechtsgemeinschaft vor Augen geführt werden, dass eine strafrechtswidrige Vermögensmehrung von der Rechtsordnung nicht anerkannt wird und deshalb keinen Bestand haben kann. Die Entziehung solcher strafrechtswidrig erlangter Werte soll zudem die Gerechtigkeit und Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung erweisen und so die Rechtstreue der Bevölkerung stärken (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Februar 2021 - 2 BvL 8/19, NJW 2021, 1222 Rn. 148 ff.).ee) Ob hinsichtlich des Umfangs der Prüfungskompetenz insoweit anderes gilt, wenn es sich um eine Revision einer Nebenbeteiligten wegen einer nach § 30 OWiG verhängten Geldbuße handelt (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 17. Oktober 2013 - 3 StR 167/13, juris Rn. 30 mwN; Urteil vom 9. Mai 2017 - 1 StR 265/16, juris Rn. 47), bedarf hier keiner Entscheidung.b) Eine etwaige Verjährung der Erwerbstaten wäre deshalb nur unter den besonderen Voraussetzungen des § 431 StPO von Bedeutung; diese lagen jedoch nicht vor.aa) Die Einziehungsbeteiligte hat diese Einwendung gegen den Schuldspruch bereits nicht selbst innerhalb der Begründungsfrist der §§ 431, 345 Abs. 1 StPO vorgebracht und konkret benannt.Eine (teilweise) Verjährung der Erwerbstaten hat vielmehr erstmals der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift vom 7. Februar 2020 thematisiert. Dem hat sich die Einziehungsbeteiligte am 16. Juli 2020, mithin erst nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist der § 431 Abs. 3, § 345 StPO hinsichtlich des ihr am 3. Juni 2019 zugestellten Urteils, angeschlossen.bb) Außerdem ist die Einziehungsbeteiligte im Verfahren vor dem Landgericht nicht ohne ihr Verschulden zum Schuldspruch nicht gehört worden (§ 431 Abs. 1 Nr. 2 StPO).Sie war durch ihren Geschäftsführer, den Verurteilten L.   , in der Hauptverhandlung durchgängig vertreten und damit nicht von der Verhandlung über die Täterschaft der Angeklagten ausgeschlossen (s. zu dieser Voraussetzung SSW/Heine, StPO, 4. Aufl., § 431 Rn. 4), sondern konnte sich aktiv beteiligen und ihre prozessualen Rechte einschränkungslos ausüben.Unerheblich ist, dass sie nicht anwaltlich vertreten war. Ihr stand jederzeit das Recht zu, sich durch einen Rechtsanwalt vertreten zu lassen (§ 428 Abs. 1 StPO). Dieses hat sie nicht ausgeübt. Eine zwingende anwaltliche Vertretung der Einziehungsbeteiligten kennt das Gesetz nicht; dies ergibt sich schon daraus, dass § 428 Abs. 1 Satz 2 StPO bei seinem Verweis auf die für die Verteidigung geltenden Vorschriften § 140 StPO ausnimmt.2. Die Verfahrensrüge, mit der die Revision einen Verstoß gegen § 243 Abs. 4 StPO und gegen § 257c Abs. 3 Satz 1 StPO geltend macht, hat ebenfalls keinen Erfolg. Es handelt sich auch insoweit um eine Einwendung gegen den Schuldspruch im Sinne des § 431 StPO, dessen Voraussetzungen nicht gegeben sind (s. dazu bereits B.I.1.b aa).Die Verfahrensrüge richtet sich ausschließlich gegen das Zustandekommen der Schuldsprüche gegenüber den Verurteilten. Die rechtsfehlerhafte Anwendung originär einziehungsrechtlicher oder zumindest in einem unmittelbaren Bezug zur Einziehungsentscheidung stehender Normen wird nicht geltend gemacht. Dies ist hinsichtlich der vorliegenden Verfahrensabsprache auch nicht möglich, weil die angeordnete Einziehung von Taterträgen nicht Inhalt der Verfahrensabsprache wurde und dies wegen ihres zwingenden Charakters von Gesetzes wegen nicht werden konnte (vgl. BGH, Beschluss vom 6. Februar 2018 - 5 StR 600/17, BGHR StPO § 257 Abs. 2 Satz 1 Verständigungsgegenstand 1 Rn. 8; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 257c Rn. 10).Der Bezug zur Einziehung ergibt sich allein daraus, dass der Schuldspruch, der aufgrund der Verfahrensabsprache zustande kam, Grundlage der Einziehungsentscheidung ist. Ein solcher rein mittelbarer Bezug reicht nicht aus, um Einwendungen ohne die einschränkenden Voraussetzungen des § 431 Abs. 1 StPO vorbringen zu können, weil der Schuldspruch stets mittelbare Auswirkungen auf die Einziehungsanordnung entfaltet und § 431 Abs. 1 Nr. 2 StPO ansonsten leerliefe. Nach der Gesetzeskonzeption soll es dem Einziehungsbeteiligten aber grundsätzlich gerade verwehrt sein, den Schuldspruch zur Nachprüfung zu stellen (KK-StPO/Schmidt, 8. Aufl., § 431 Rn. 2).3. Die aufgrund der Sachrüge veranlasste materiell-rechtliche Überprüfung des Urteils hat ebenfalls keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Einziehungsbeteiligten ergeben.a) Hinsichtlich der Erwerbstaten, auf die sich die Einziehungsentscheidung stützt, hatte der Senat die rechtliche Bewertung des Landgerichts zu Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld sowie zu den Konkurrenzverhältnissen zugrundezulegen. Es unterlag weder seiner Prüfungskompetenz, ob die rechtliche Bewertung des Landgerichts zutrifft, dass in den Fällen, in denen die Waffen teilweise in den USA verblieben, lediglich Versuchstaten vorliegen, noch ob die ausgeurteilten Taten im Verhältnis der Tatmehrheit zueinander stehen. Auch diese Prüfung wäre dem Senat nur unter den - nicht gegebenen (s. dazu bereits B.I.1.b aa) - Voraussetzungen des § 431 Abs. 1 StPO möglich gewesen.b) Auf der Grundlage der rechtlichen Bewertung der Erwerbstaten des Landgerichts ist die - der vollen Nachprüfungskompetenz des Senats unterliegende - Einziehungsentscheidung rechtsfehlerfrei. Der näheren Erörterung bedarf hier lediglich Folgendes:aa) Nach den getroffenen Feststellungen liegt den Erwerbstaten kein bloßer Formalverstoß im Sinne einer sicheren Genehmigungsfähigkeit der Ausfuhren zugrunde (UA S. 13, 39 ff.). Daher kommt es hier für die sachlich-rechtliche Überprüfung nicht darauf an, ob sich eine sichere Genehmigungsfähigkeit der Ausfuhren auf die Einziehungsentscheidung auswirken würde (s. dazu B.II.2.a).bb) Ohne Rechtsfehler hat das Landgericht von dem einzuziehenden Betrag nicht die Aufwendungen der Einziehungsbeteiligten, insbesondere die für die Herstellung und den Transport der Waffen aufgewendeten Kosten, sowohl in den als Vollendungs- als auch in den als Versuchstaten gewerteten Fällen abgezogen. Insoweit gilt:Nach § 73d Abs. 1 Satz 1 StGB sind bei der Bestimmung des Wertes des Erlangten Aufwendungen des Täters oder des Dritten abzuziehen. Nach Satz 2 der Vorschrift bleibt jedoch außer Betracht, was für die Tat oder ihre Vorbereitung aufgewendet wurde.(1) Der Anwendungsbereich des Abzugsverbots umfasst auch Aufwendungen eines Drittbegünstigten, so dass das Abzugsverbot nicht von vornherein auf Aufwendungen des Täters oder Teilnehmers beschränkt ist (BGH, Urteil vom 30. März 2021 - 3 StR 474/19, juris Rn. 65).(2) Die Herstellungs- und Transportkosten wurden im Sinne des § 73d Abs. 1 Satz 2 StGB für die Begehung der Tat oder ihre Vorbereitung aufgewendet oder eingesetzt.Mit dem Tatbestandsmerkmal "für" wollte der Gesetzgeber in Anlehnung an § 817 Satz 2 BGB sicherstellen, dass (nur) das, was in ein verbotenes Geschäft investiert worden ist, unwiederbringlich verloren sein müsse, aber eben auch nur das (vgl. BT-Drucks. 18/9525 S. 67 f.; vgl. auch OLG Karlsruhe, Beschluss vom 18. März 2019 - 2 Rb 9 Ss 852/18, juris Rn. 16). Daraus folgt, dass die Handlung oder das Geschäft, das unmittelbar zur Vermögensmehrung führt, selbst verboten sein muss. Gleichzeitig enthält das Tatbestandsmerkmal nach dem Willen des Gesetzgebers eine subjektive Komponente, weshalb nur solche Aufwendungen dem Abzugsverbot unterliegen, die willentlich und bewusst für das verbotene Geschäft eingesetzt wurden (BGH, Urteil vom 30. März 2021 - 3 StR 474/19, juris Rn. 66; BT-Drucks. 18/9525 S. 67 ff.).Danach wurden die Aufwendungen hier sowohl in den als Vollendung als auch in den als Versuch gewerteten Fällen für die Tat getätigt.(a) Es handelt sich um ein verbotenes Geschäft, denn die Handlung und das Geschäft, das unmittelbar zur Vermögensmehrung führte, waren hier wegen der nach § 34 AWG aF strafbewehrten ungenehmigten Ausfuhr der Pistolen an die Si.          selbst verboten (§ 134 BGB). Die Feststellungen belegen zudem die bewusste und willentliche Herstellung bzw. den Ankauf der zu liefernden Ware für die Taten, denn die Verurteilten, die hier als Organe der S.             GmbH fungierten, handelten vorsätzlich. Derartige Anschaffungs- und Herstellungskosten für Waren, die der Täter oder Teilnehmer für den Verkauf unter bewusster strafrechtswidriger Umgehung außenwirtschaftsrechtlicher Bestimmungen trug, sollen auch nach dem Willen des Gesetzgebers von dem Abzugsverbot des § 73d Abs. 1 Satz 2 StGB erfasst werden (BGH, Urteil vom 30. März 2021 - 3 StR 474/19, juris Rn. 67; BT-Drucks. 18/9525 S. 68 mit Verweis auf BGH, Urteil vom 21. August 2002 - 1 StR 115/02, BGHSt 47, 369, 370, 377; Schönke/Schröder/Eser/Schuster, StGB, 30. Aufl., § 73d Rn. 5).(b) Dem steht nicht entgegen, dass es sich nach der Wertung des Landgerichts teilweise um lediglich versuchte Taten handelt; auch diese Fälle werden von dem Abzugsverbot des § 73d Abs. 1 Satz 2 StGB erfasst. Als Anknüpfungstat für eine Einziehung reicht grundsätzlich eine nur versuchte Tatbegehung aus, sofern dem Täter oder dem Drittbegünstigten aus der Versuchstat ein Vermögensvorteil zugeflossen ist. Bereits nach der zum alten Recht ergangenen Rechtsprechung waren bei versuchter Tatbegehung Verfallsanordnungen - auch nach dem Bruttoprinzip - möglich (BGH, Urteil vom 3. Dezember 2013 - 1 StR 53/13, juris Rn. 34; Beschluss vom 5. September 2013 - 1 StR 162/13, NJW 2014, 401 Rn. 89; Urteil vom 29. Juni 2010 - 1 StR 245/09, BGHR StGB § 73 Erlangtes 12 Rn. 37; OLG Celle, Urteil vom 14. Juni 2019 - 2 Ss 52/19, NZWiSt 2019, 432, 433; SSW/Heine, StGB, 5. Aufl., § 73 Rn. 36 mwN); daran wollte der Gesetzgeber durch die Neuregelung des Einziehungsrechts nichts ändern.Für versuchte Taten gilt daher das Abzugsverbot des § 73d StGB, auch wenn § 73d StGB - anders als § 73 StGB - einer normativen Betrachtung zugänglich ist (vgl. BGH, Beschluss vom 7. März 2019 - 3 StR 192/18, BGHR StGB § 73 d Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 Aufwendungen Rn. 29; BT-Drucks. 18/9525 S. 62) und § 73d Abs. 1 Satz 2 StGB eine Ausnahme von dem Grundsatz des § 73d Abs. 1 Satz 1 StGB darstellt.Dafür spricht bereits der Gesetzeswortlaut, der mit "Begehung der Tat" begrifflich den Versuch mitumschreibt. Demnach ist auch nicht abzugsfähig, "was für die versuchte Begehung der Tat" aufgewendet oder eingesetzt worden ist.Dies entspricht auch einer historischen und teleologischen Auslegung.(aa) Das Tatbestandsmerkmal "für" soll, wie bereits dargelegt, nach dem Willen des Gesetzgebers eine subjektive Komponente mit der Folge enthalten, dass die Aufwendungen "willentlich und bewusst" für das verbotene Geschäft eingesetzt worden sein müssen. Die Gesetzesbegründung grenzt insoweit die fahrlässige von der vorsätzlichen Tatbegehung ab (BT-Drucks. 18/9525 S. 69). Hätte der Gesetzgeber eine ergänzende Regelung dahin treffen wollen, dass das Abzugsverbot bei lediglich versuchten Taten nicht greifen soll, hätte es nahegelegen, dies an dieser Stelle ausdrücklich in die Gesetzesbegründung aufzunehmen.Dem Gesetzgeber war ferner die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Zulässigkeit von Verfallsanordnungen unter Anwendung des Bruttoprinzips bei versuchter Tatbegehung bekannt. Aus der Gesetzesbegründung ergibt sich, dass er sich immer dann explizit von der bisherigen Rechtsprechung abgegrenzt hat, wenn diese nach seinem Willen nach neuem Recht nicht mehr oder nur noch im Ergebnis gelten soll (vgl. BT-Drucks. 18/9525 S. 69). Das Schweigen der Gesetzesbegründung zur Frage "Abzugsverbot und Versuch" ist vor diesem Hintergrund dahin zu werten, dass für Versuchstaten das Abzugsverbot genau so gelten soll wie bei vollendeten Taten, wenn und soweit die Aufwendungen für den Versuch - wie nach den getroffenen Feststellungen hier - "willentlich und bewusst" eingesetzt worden sind.(bb) Zudem kommt es nach Sinn und Zweck des Abzugsverbots maßgeblich auf das verwirklichte Handlungsunrecht an, nicht hingegen auf das - von dem Einziehungsbeteiligten teilweise nicht mehr zu beeinflussende - Eintreten des Erfolgsunrechts der zugrundeliegenden Erwerbstat. Daher wäre es nicht sachgerecht, einen Aufwendungsabzug zu gestatten, obwohl der Einziehungsbetroffene aus seiner Sicht bereits alles Erforderliche investiert hat, um den Taterfolg herbeizuführen.Ferner verfolgen die Einziehungsmaßnahmen gerade bei Verstößen gegen das Außenwirtschaftsrecht mit weiteren Regelungen den Zweck, die Wirksamkeit der Handelsbeschränkungen sicherzustellen und diese durchzusetzen. Der Androhung und dann auch konsequenten Anordnung des (nach altem Recht) Verfalls des aus solchen verbotenen Geschäften Erlangten nach dem Bruttoprinzip auch beim Drittbegünstigten kommt daher große Bedeutung zu. Auf diese Weise soll das Bewusstsein dafür geschärft werden, dass sich derartige Geschäfte nicht lohnen, Aufwendungen hierfür nutzlos sind und es deshalb auch wirtschaftlicher ist, wirksame Kontrollmechanismen zur Verhinderung solcher Straftaten einzurichten (vgl. BGH, Urteil vom 30. März 2021 - 3 StR 474/19, juris Rn. 69; Beschluss vom 18. Februar 2004 - 1 StR 296/03, BGHR StGB § 73c Härte 9; Urteil vom 21. August 2002 - 1 StR 115/02, BGHSt 47, 369, 374 f.). Nach den getroffenen Feststellungen fehlte es bei der Revisionsführerin gerade an einer wirksamen Kontrolle zur Verhinderung der Exportverstöße (UA S. 11 ff.).II. Die Revision der Si.Die Revision ist unbegründet.1. Hinsichtlich des geltend gemachten Verfahrenshindernisses der Verjährung der Erwerbstaten gelten die Ausführungen unter B.I.1. entsprechend. Auch diese Revisionsführerin hat die Einwendung erst nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist hinsichtlich des ihr am 3. Juni 2019 zugestellten Urteils im Anschluss an die Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 7. Februar 2020 mit Schriftsatz vom 2. September 2020, mithin verspätet, erhoben. Die Voraussetzungen des § 431 Abs. 1 Nr. 2 StPO sind ebenfalls nicht erfüllt, weil sie in der Hauptverhandlung durchgängig vertreten war.2. Die erhobenen Verfahrensrügen haben keinen Erfolg.a) Die Beanstandung, mit der die Revision die rechtsfehlerhafte Ablehnung eines Beweisantrags und damit eine Verletzung des § 245 Abs. 2 StPO und des § 244 Abs. 3 StPO geltend macht, dringt nicht durch.aa) Dem liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:Der Vertreter der Revisionsführerin beantragte in der Hauptverhandlung die Verlesung eines beigefügten, ihr zuvor per E-Mail übersandten und nunmehr ausgedruckten Memorandums einer kolumbianischen Rechtsanwaltskanzlei nebst Anlagen sowie die Einholung einer amtlichen Auskunft der kolumbianischen Zollverwaltung zum Beweis der Tatsache, dass aus Deutschland und näher bezeichneten EU-Mitgliedstaaten zwischen 2009 und 2013 genehmigungspflichtige Handfeuerwaffen nebst Zubehör und Munition nach Kolumbien ausgeführt wurden. Damit sollte bewiesen werden, dass in der Vergangenheit Ausfuhrgenehmigungen betreffend Kolumbien erteilt worden waren und bezüglich der verfahrensgegenständlichen Waffen eine Ausfuhrgenehmigung für die kolumbianische Nationalpolizei erteilt worden wäre beziehungsweise hätte erteilt werden müssen. Für die Bestimmung des Erlangten sowie den Rechtsfolgenausspruch sei wesentlich, ob lediglich ein Formalverstoß vorliege oder die Ausfuhr von Anfang an nicht genehmigungsfähig gewesen sei.Das Landgericht hat den Beweisantrag abgelehnt. Bei den beigefügten Ausdrucken handele es sich nicht um beigeschaffte Beweismittel im Sinne des § 245 Abs. 2 StPO, da sie keine Originalurkunden darstellten. Die Tatsachen, die bewiesen werden sollen, seien für die Entscheidung aus tatsächlichen Gründen bedeutungslos. Ein Formalverstoß läge nur vor, wenn die Genehmigung hätte erteilt werden müssen. Dies setze voraus, dass eine Gefährdung des gesetzlichen Zwecks des Genehmigungsvorbehalts nicht zu erwarten sei, wobei dem BAFA insoweit eine Einschätzungsprärogative zukomme. Die Genehmigungsentscheidung sei nur dann gerichtlich zu ersetzen, wenn eine andere Bewertung willkürlich oder schlechthin unvertretbar wäre. Diese Schlussfolgerung würde die Kammer selbst dann nicht ziehen, wenn die in dem Beweisantrag genannten Ausfuhren genehmigt und durchgeführt worden sein sollten.Die Revision macht geltend, die Ablehnung des Beweisantrags verstoße gegen die § 245 Abs. 2, § 244 Abs. 3 StPO. Bei den zu verlesenden Urkunden habe es sich um herbeigeschaffte Beweismittel im Sinne des § 245 Abs. 2 StPO gehandelt. Die unter Beweis gestellten Tatsachen seien nicht bedeutungslos, insbesondere komme es auch nach der Novellierung des Einziehungsrechts für die Bestimmung des Erlangten auf die Genehmigungsfähigkeit an.bb) Die Rüge ist jedenfalls unbegründet. Das Landgericht hat den Beweisantrag zwar rechtsfehlerhaft nach § 244 Abs. 3 StPO und nicht nach § 245 Abs. 2 StPO beschieden. Auf diesem Rechtsfehler beruht das Urteil aber nicht (§ 337 Abs. 1 StPO).(1) Der Verfahrensrüge steht § 431 StPO nicht entgegen, weil die Rüge keine Einwendung gegen den Schuldspruch erhebt, sondern auf die Überprüfung der spezifischen Voraussetzungen und des Umfangs der Einziehung gerichtet ist.(2) Das Landgericht hat den Beweisantrag rechtsfehlerhaft nicht nach § 245 Abs. 2 StPO behandelt (b), obwohl es sich bei den Ausdrucken der elektronischen Dokumente um präsente Beweismittel handelte (a).(a) Die Ausdrucke der E-Mail-Anhänge stellen präsente Beweismittel im Sinne des § 245 Abs. 2 StPO dar (vgl. LR/Becker, StPO, 27. Aufl., § 245 Rn. 49; SSW-StPO/Sättele, 4. Aufl., § 245 Rn. 21; Trüg, StV 2016, 343 ff.). Die Rechtsprechung, wonach der Ablichtung einer Urkunde nicht die Qualität eines präsenten Beweismittels im Sinne des § 245 Abs. 2 StPO zukommt (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Juni 1994 - 3 StR 646/93, BGHR StPO § 245 Beweismittel 1; zweifelnd BGH, Urteil vom 6. September 2011 - 1 StR 633/10, wistra 2012, 29 Rn. 60), ist nicht auf den Fall zu übertragen, in dem sich - wie hier - der Beweisantrag auf die Verlesung des Ausdrucks einer ansonsten nur digital vorhandenen E-Mail bezieht; dies hat der Bundesgerichtshof bisher nicht tragend entschieden (zweifelnd bereits BGH, Beschluss vom 22. September 2015 - 4 StR 355/15, juris). Im Einzelnen:Die zur Verlesung bestimmten Dokumente sind originär elektronischer Natur. Sie wurden unmittelbar am Computer erstellt und per E-Mail an die Revisionsführerin übersandt. Der Beweisantrag bezieht sich damit auf die Verlesung einer originär ausschließlich digital vorhandenen E-Mail.Diese elektronischen Urkunden müssen dem Landgericht nicht ebenfalls elektronisch übermittelt werden. Es reicht vielmehr aus, dass entsprechende Ausdrucke in Papierform übergeben werden, denn anders als bei der Mehrfertigung einer gegenständlichen Urkunde, die von einem Original unterschieden werden kann, ist die Vorlage eines originär ausschließlich digital erstellten und gespeicherten Gedankeninhalts als körperliche Originalurkunde von vorneherein unmöglich.Um dem Gericht einen solchen Gedankeninhalt unmittelbar zur Verwertung zur Verfügung zu stellen, bedürfte es der gebrauchsfähigen Übermittlung der elektronischen Daten. Dass ein Beweisantragsteller nach Wirksamwerden der Neuregelung des § 249 Abs. 1 Satz 2 StPO ausschließlich auf diesen Weg verwiesen sein soll, ist dem Gesetz und seiner Begründung nicht zu entnehmen. Der Gesetzgeber hat insoweit die unmittelbare Verlesung elektronischer Dokumente zusätzlich ermöglichen, nicht aber ausschließlich dazu verpflichten wollen (vgl. BT-Drucks. 18/9416 S. 33, 62 f.). Außerdem betrifft der etwaige Klärungsbedarf hinsichtlich inhaltlicher Authentizität und Belastbarkeit eher die gerichtliche Überzeugungsbildung und Aufklärungspflicht als die Beweismitteleigenschaft (vgl. LR/Becker, StPO, 27. Aufl., § 245 Rn. 49).(b) Hiernach hat das Landgericht den Beweisantrag rechtsfehlerhaft nach § 244 Abs. 3 StPO abgelehnt. Der Antrag wäre alleine nach § 245 Abs. 2 StPO und dessen gegenüber § 244 Abs. 3 StPO nach dem ausdrücklichen gesetzgeberischen Willen bewusst enger gefassten und abschließenden Ablehnungsgründen (vgl. LR/Becker, StPO, 27. Aufl., § 245 Rn. 57) zu bescheiden gewesen.Eine Ablehnung wegen Bedeutungslosigkeit der Beweistatsache, auf die das Landgericht die Ablehnung gestützt hat, sieht § 245 Abs. 2 StPO nicht vor; der Ablehnungsgrund der fehlenden objektiven Sachbezogenheit umfasst nur teilweise die Fälle der Bedeutungslosigkeit im Sinne des § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO. Eine Ablehnung kann nicht darauf gestützt werden, dass die Beweistatsache trotz eines objektiven Zusammenhangs zwischen der unter Beweis gestellten Tatsache und dem Gegenstand der Urteilsfindung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht geeignet ist, die Urteilsfindung zu beeinflussen, weil bei einem objektiv irgendwie gearteten Sachzusammenhang dem Antragsteller nach den Grundsätzen eines rechtsstaatlichen fairen Verfahrens die Möglichkeit unbenommen bleiben soll, durch ein präsentes Beweismittel die Überzeugung des Gerichts von der Bedeutungslosigkeit des Beweisthemas zu erschüttern (LR/Becker, StPO, 27. Aufl., § 245 Rn. 62). Nach diesen Maßstäben trägt die Begründung des Ablehnungsbeschlusses auch keine Ablehnung nach § 245 Abs. 2 Satz 3 StPO wegen fehlenden Sachzusammenhangs.(3) Auf diesem Rechtsfehler beruht das Urteil jedoch nicht (§ 337 Abs. 1 StPO).Ein Urteil beruht auf einem Rechtsfehler nur dann, wenn es ohne diesen möglicherweise anders ausgefallen wäre. An einer solchen Möglichkeit fehlt es, wenn ein ursächlicher Zusammenhang mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann beziehungsweise rein theoretischer Natur ist. Insbesondere bei Verstößen gegen das Verfahrensrecht hängt diese Entscheidung stark von den Umständen des Einzelfalles ab (BGH, Beschluss vom 10. Dezember 2015 - 3 StR 163/15, juris Rn. 12).Diese allgemeinen Maßstäbe gelten auch bei einem Verstoß gegen § 245 Abs. 2 StPO (vgl. BGH, Urteil vom 6. September 2011 - 1 StR 633/10, wistra 2012, 29 Rn. 74). Obwohl es dem Tatgericht verwehrt ist, von einer Beweiserhebung wegen ihrer Unerheblichkeit abzusehen, darf das Revisionsgericht das Beruhen wegen mangelnder Beweiserheblichkeit des nicht verwendeten Beweismittels verneinen (anders noch RG, Urteil vom 24. Februar 1880 - 205/80, RGSt 1, 225, 227). Der Gesetzgeber hat die Verletzung des § 245 Abs. 2 StPO nicht als einen absoluten Revisionsgrund ausgestaltet, so dass es bei der Anwendung des Beruhenserfordernisses verbleibt. An einem Beruhen fehlt es in diesen Fällen jedenfalls dann, wenn die unterlassene Beweiserhebung die Entscheidung mit Sicherheit nicht beeinflusst hat (vgl. BGH, Urteil vom 6. September 2011 - 1 StR 633/10, wistra 2012, 29 Rn. 75; Urteil vom 31. Januar 1996 - 2 StR 596/95, BGHR StPO § 245 Abs. 1 Beruhen 1; Arnoldi, NStZ 2018, 305, 312; LR/Becker, StPO, 27. Aufl., § 245 Rn. 80; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 245 Rn. 30; SK-StPO/Frister, 5. Aufl., § 245 Rn. 69; SSW-StPO/Sättele, 4. Aufl., § 245 Rn. 36).Gemessen daran beruht das Urteil deshalb nicht auf dem Rechtsfehler, weil die Genehmigungsfähigkeit der Ausfuhren für die Einziehungsentscheidung in rechtlicher Hinsicht ohne Belang ist.(a) Rechtlich bedeutungslos ist die Genehmigungsfähigkeit zunächst für die Bestimmung des Erlangten im Sinne des § 73 Abs. 1 StGB.Das Erlangte im Sinne des § 73 Abs. 1 StGB ist nach der Gesetzesnovelle rein gegenständlich zu bestimmen (BGH, Beschluss vom 7. März 2019 - 3 StR 192/18, BGHR StGB § 73 Erlangtes 28; Fischer, StGB, 68. Aufl., § 73 Rn. 23; LK/Lohse, StGB, 13. Aufl., § 73 Rn. 21). Erlangt sind alle Vermögenswerte in ihrer Gesamtheit, die einem Tatbeteiligten oder Drittbegünstigten aus der Verwirklichung des Tatbestandes in irgendeiner Phase des Tatablaufs zugeflossen sind, ohne dass es insoweit auf eine normative Betrachtung ankommt (vgl. BGH, Urteil vom 7. März 2019 - 5 StR 569/18, NStZ 2019, 272 Rn. 6; Fischer, StGB, 67. Aufl., § 73 Rn. 23; LK/Lohse, StGB, 13. Aufl., § 73 Rn. 25). Hiernach wird bei einer genehmigungsfähigen Ausfuhr "durch die Tat" im Sinne des § 73 Abs. 1 StGB der volle Verkaufserlös erlangt (Köhler, NStZ 2017, 497, 508 Fn. 110; LK/Lohse, StGB, 13. Aufl., § 73 Rn. 39; Morweiser in Festschrift Wolffgang, 2018, S. 123, 130; MüKoStGB/Wagner, 3. Aufl., § 20 AWG Rn. 16; Preiß, ZfZ 2017, 257, 261; Schönke/Schröder/Eser/Schuster, StGB, 30. Aufl., § 73 Rn. 13; Wolff-gang/Simonsen/Morweiser, AWR-Kommentar, 64. EL, § 20 AWG Rn. 27).Der Senat hat unter Geltung des § 73 Abs. 1 StGB aF als erlangt nur solche Vorteile angesehen, die nach dem Schutzzweck der Strafnorm nicht erlangt und behalten werden durften, und den dem Verfall unterliegenden Vorteil danach bestimmt, was letztlich strafbewehrt ist. Deshalb ist in Fällen, in denen die Genehmigung durch das BAFA hätte erteilt werden müssen, als Vorteil lediglich die Ersparnis derjenigen Aufwendungen anzusehen gewesen, die für die Erteilung der Genehmigung hätten erbracht werden müssen (BGH, Urteil vom 19. Januar 2012 - 3 StR 343/11, BGHSt 57, 79 Rn. 14 ff., 19). Diese Rechtsprechung ist durch die neue Gesetzeslage überholt (BGH, Beschluss vom 7. März 2019 - 3 StR 192/18, BGHR StGB § 73 Erlangtes 28; so auch LK/Lohse, StGB, 13. Aufl., § 73 Rn. 39 mit Fn. 2311; Schönke/Schröder/Eser/Schuster, StGB, 30. Aufl., § 73 Rn. 13). Die Gesetzesnovelle hat in § 73 Abs. 1 StGB die Formulierung "aus der Tat" durch die Formulierung "durch die Tat" ersetzt, bestimmt das Erlangte auf der ersten Stufe ohne normative Erwägungen und hat in der Gesetzesbegründung (vgl. BT-Drucks. 18/9525 S. 69) ausdrücklich klargestellt, dass an der vorgenannten Entscheidung nur im Ergebnis und nur bei einer fahrlässigen Tatbegehung festgehalten werden soll (BGH, Beschluss vom 7. März 2019 - 3 StR 192/18, BGHR StGB § 73 Erlangtes 28).(b) Im Rahmen der Prüfung des § 73d StGB, bei dem eine wertende Betrachtung nicht von vorneherein ausgeschlossen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 7. März 2019 - 3 StR 192/18, BGHR StGB § 73d Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 Abzugsverbot 1 Rn. 29; BT-Drucks. 18/9525 S. 62), ist die Genehmigungsfähigkeit ebenfalls ohne rechtliche Bedeutung (vgl. Köhler, NStZ 2017, 497, 508 Fn. 109; Morweiser in Festschrift für Wolffgang, 2018, S. 123, 131; Wolffgang/Simonsen/Morweiser, AWR-Kommentar, 64. EL, § 20 AWG Rn. 29 f.; anders Preiß, ZfZ 2017, 257, 261; MüKoStGB/Wagner, 3. Aufl., § 20 AWG Rn. 17).Dafür spricht bereits der Gesetzeswortlaut. Die Abzugsfähigkeit hängt nach § 73d Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 StGB davon ab, ob die Vermögenswerte für die Begehung der Tat oder für ihre Vorbereitung aufgewendet oder eingesetzt worden sind, also allein von einer subjektiven Komponente ("für"), d.h. davon, ob die Aufwendung "bewusst und willentlich" (BT-Drucks. 18/9525 S. 68) getätigt wurde. Daher widerspräche es dem Wortlaut des § 73d Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 StGB, wenn trotz einer bewussten und willentlichen Aufwendung ein Abzug vorgenommen werden würde.Dies entspricht der Gesetzesbegründung. Hiernach ist, wie bereits dargelegt, entscheidend, ob die Handlung oder das Geschäft, das unmittelbar zur Vermögensmehrung geführt hat, selbst verboten war oder nicht (BT-Drucks. 18/9525 S. 68). Dies ist hier der Fall. Die ungenehmigte Ausfuhr stellt eine verbotene, weil nach § 34 AWG aF strafbare Handlung dar; für das Verbotensein und die Strafbewehrung spielt die Genehmigungsfähigkeit keine Rolle (vgl. MüKoStGB/Wagner, 3. Aufl., Vorbemerkung zu § 17 AWG Rn. 46; Hocke/Sachs/Pelz, AWG, 2. Aufl., Vor §§ 17 ff. Rn. 34).Nach der Gesetzesbegründung sind ferner, wie ebenfalls bereits ausgeführt, ausdrücklich von dem Abzugsverbot auch Anschaffungs- oder Herstellungskosten für Waren betroffen, die der Täter oder Teilnehmer für den Verkauf unter bewusster (strafrechtswidriger) Umgehung außenwirtschaftsrechtlicher Bestimmungen tätigt (BT-Drucks. 18/9525 S. 68; ebenso Schönke/Schröder/Eser/Schuster, StGB, 30. Aufl., § 73d Rn. 5; SSW-StGB/Heine, 5. Aufl., § 73d Rn. 12). Eine gesetzgeberisch beabsichtigte Einschränkung des Abzugsverbots im Falle einer genehmigungsfähigen Ausfuhr enthält die Gesetzesbegründung nicht. Sie nimmt explizit auf das bereits zitierte Urteil des Senats vom 19. Januar 2012 (3 StR 343/11, BGHSt 57, 79) Bezug und stellt klar, dass an dieser Entscheidung nur im Ergebnis und nur deshalb festgehalten werden soll, weil es sich dort um einen fahrlässigen Verstoß handelte, es also an Aufwendungen "für" die Tatbegehung im Sinne des § 73d Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 StGB nF fehlte (BT-Drucks. 18/9525 S. 69). Daraus folgt im Umkehrschluss, dass es bei einem vorsätzlichen Verstoß auch im Falle einer Genehmigungsfähigkeit bei dem Abzugsverbot verbleiben soll.Überdies sprechen Sinn und Zweck des Einziehungsrechts im Zusammenhang mit Verstößen gegen das Außenwirtschaftsrecht (vgl. BGH, Urteile vom 30. März 2021 - 3 StR 474/19, juris Rn. 69; vom 21. August 2002 - 1 StR 115/02, BGHSt 47, 369, 375; Beschluss vom 18. Februar 2004 - 1 StR 296/03, BGHR StGB § 73c Härte 9; s. dazu bereits B.I.3.b bb(2) (b) (bb)) gegen eine Berücksichtigung der Genehmigungsfähigkeit.(c) Schließlich ist die Genehmigungsfähigkeit für die Ermessensentscheidung hinsichtlich der Einziehung von Surrogaten (§ 73 Abs. 3 StGB) irrelevant, auf die das Landgericht seine Einziehungsanordnung - rechtsfehlerhaft (s. dazu B.II.3.a) - gestützt hat, denn sie ist nach dem Willen des Gesetzgebers kein ermessensbestimmender Gesichtspunkt. Die Surrogatseinziehung ist vielmehr aus rein prozessökonomischen Motiven als Ermessensentscheidung ausgestaltet (LK/Lohse, StGB, 13. Aufl., § 73 Rn. 51). Dies folgt aus der Gesetzesbegründung, nach der § 73 Abs. 3 StGB den Regelungsgehalt des § 73 Abs. 2 StGB aF übernehmen sollte (vgl. BT-Drucks. 18/9525 S. 62); eine Änderung hinsichtlich der in die Ermessensentscheidung einzustellenden Aspekte war hiernach nicht beabsichtigt. Nach der Gesetzesbegründung zu dieser Vorgängerregelung wurde die Einziehung von Surrogaten aber (nur) deshalb in das Ermessen des Gerichts gestellt, um dem Tatgericht in geeigneten Fällen die schwierige Ermittlung zu ersparen, welche Surrogate angefallen sind (vgl. BT-Drucks. V/4095 S. 40; MüKoStGB/Joecks/Meißner, 4. Aufl., § 73 Rn. 45; s. auch AnwK-StGB/Rübenstahl, 3. Aufl., § 73 Rn. 40; GJW/Wiedner, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Aufl., § 73 Rn. 38; Lackner/Kühl/Heger, StGB, 29. Aufl., § 73 Rn. 7; NK-StGB/Saliger, 5. Aufl., § 73 Rn. 32; Schönke/Schröder/Eser/Schuster, StGB, 30. Aufl., § 73 Rn. 27).b) Soweit die Revision die rechtsfehlerhafte Ablehnung eines weiteren Beweisantrags nach § 244 Abs. 3 StPO geltend macht, dringt sie ebenfalls nicht durch. Auch diese Beweiserhebung sollte ergeben, dass das BAFA die Ausfuhren genehmigt hätte beziehungsweise hätte genehmigen müssen. Die Genehmigungsfähigkeit ist für die Einziehungsentscheidung aber rechtlich ohne Belang (dazu bereits B.II.2.a bb (3)), so dass das Landgericht diesen Antrag zu Recht wegen Bedeutungslosigkeit abgelehnt hat.3. Die aufgrund der Sachrüge veranlasste materiell-rechtliche Überprüfung des Urteils hat im Ergebnis ebenfalls keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Revisionsführerin ergeben. Zwar erweist sich die Wertung des Landgerichts als rechtsfehlerhaft, die "Einziehung von Wertersatz für Surrogate des ursprünglich Erlangten" (UA S. 54) anzuordnen (a). Die Einziehung der 11.103.040,07 € ist jedoch auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen als Einziehung des Wertes von Taterträgen nach § 73 Abs. 1, § 73b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 73c Satz 1 Alternative 2 StGB gerechtfertigt (b).a) Entgegen der Auffassung des Landgerichts konnte die Einziehung der 11.103.040,07 € nicht als "Einziehung von Wertersatz für Surrogate des ursprünglich Erlangten" nach den § 73b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 73 Abs. 3 Nr. 1, § 73c StGB angeordnet werden. Eine Einziehung des Wertes von Surrogaten ist gesetzlich nicht vorgesehen (aa). Dass das Surrogat noch gegenständlich bei der Revisionsführerin vorhanden ist, hat das Landgericht weder ausdrücklich festgestellt noch ist dies dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe zu entnehmen (bb). Im Einzelnen:aa) Nach geltendem Recht ist eine Wertersatzeinziehung für Surrogate nicht zulässig. § 73c StGB bezieht sich, wie aus dessen Satz 2 folgt, allein auf die Einziehung des zunächst durch die Tat Erlangten, nicht hingegen auf die Einziehung des Werts von Surrogaten (vgl. BGH, Urteil vom 19. Januar 2021 - 5 StR 291/20, juris Rn. 18; Beschluss vom 3. Juli 2018 - 2 StR 117/18, BGHR StGB § 73c Anwendungsbereich 1 Rn. 6; Lackner/Kühl/Heger, StGB, 29. Aufl., § 73c Rn. 5; LK/Lohse, StGB, 13. Aufl., § 73c Rn. 12; Matt/Renzikowski/Altenhain/Fleckenstein, StGB, 2. Aufl., § 73c Rn. 3; MüKoStGB/Joecks/Meißner, 4. Aufl., § 73c Rn. 11; aA Köhler, NStZ 2017, 497, 504).bb) Das Einziehungsrecht sieht insoweit ausschließlich die Einziehung des Surrogats vor und ist daher nur dann möglich, wenn dieses Surrogat im Zeitpunkt der Einziehungsentscheidung bei dem Betroffenen noch vorhanden ist. Dies ist den Feststellungen nicht zu entnehmen.(1) Die Revisionsführerin erlangte durch die strafbaren Ausfuhren als Drittbegünstigte Eigentum und Besitz an den ausgeführten Pistolen (§ 73 Abs. 1, § 73b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB) und durch deren Veräußerung als Surrogat das vereinbarte und vereinnahmte Entgelt, mithin den Veräußerungserlös in Höhe von 11.103.040,74 € (vgl. Schönke/Schröder/Eser/Schuster, StGB, 30. Aufl., § 73 Rn. 27; SSW-StGB/Heine, 5. Aufl., § 73 Rn. 52).(2) Das Landgericht hat mangels Feststellungen zur Abwicklung des (ausländischen) Zahlungsverkehrs weder ausdrücklich festgestellt, dass die 11.103.040,74 € zum Zeitpunkt der Einziehungsentscheidung noch gegenständlich bei der Revisionsführerin vorhanden gewesen waren, noch ist dies dem Zusammenhang der Urteilsgründe zu entnehmen:Der Erlös wurde nicht in bar vereinnahmt (UA S. 55), ist also nicht körperlich existent. Soweit das Urteil damit eine unbare Einnahme der Taterlöse und einen entsprechenden Zahlungseingang auf einem Bankkonto nahelegt, wären die (Buch-)Gelder ebenfalls nicht mehr vorhanden. Bei einer Banküberweisung erlangt der Empfänger jedenfalls nach deutschem Recht lediglich eine Kontogutschrift, im Falle eines Girokontos aus dem Girovertrag (§§ 675c ff. BGB) einen abstrakten, unwiderruflichen und jederzeit fälligen (endgültigen) Auszahlungs- bzw. Verrechnungsanspruch gegen die kontoführende Bank (vgl. BGH, Urteil vom 25. Januar 1988 - II ZR 320/87, BGHZ 103, 143, 146; BeckOK BGB/Dennhardt, 57. Ed., § 362 Rn. 26). Girokonten werden allerdings typischerweise als Kontokorrentkonto geführt (vgl. BeckOGK HGB/Feldhusen, Stand: 15.07.2020, § 355 Rn. 42; Palandt/Sprau, BGB, 80. Aufl., § 675f Rn. 33). Die insoweit vom Kontokorrent erfassten Einzelansprüche verlieren dann ihre rechtliche Selbständigkeit, werden Rechnungsposten und können nicht mehr selbständig geltend gemacht, erfüllt, abgetreten oder gepfändet werden (sog. Kontokorrentbindung, vgl. Palandt/Sprau, BGB, 80. Aufl., § 675f Rn. 33). Wurden die Gelder auf ein als Kontokorrentkonto geführtes Girokonto überwiesen, können damit die jeweiligen Auszahlungs- und Verrechnungsansprüche wegen ihrer Beschaffenheit nicht mehr selbst eingezogen werden. Bei tatbedingten Überweisungen auf ein Konto kommt demnach stets nur eine Wertersatzeinziehung im Sinne des § 73c Satz 1 Alternative 1 StGB in Betracht (vgl. Fischer, StGB, 67. Aufl., § 73c Rn. 2; Morweiser in Festschrift für Wolffgang, 2018, S. 123, 125; SSW-StGB/Heine, 5. Aufl., § 73c Rn. 3), die bei Surrogaten - wie dargelegt - nicht vorgesehen ist.Wäre eine Überweisung auf ein nicht als Kontokorrent geführtes Konto vorgenommen worden, würde zwar grundsätzlich der Auszahlungsanspruch als Surrogat der Einziehung unterliegen, dies aber auch nur solange, wie er bei der Revisionsführerin vorhanden ist und nicht erfüllt wurde. Dies hat das Landgericht nicht festgestellt; angesichts des zwischenzeitlichen Zeitablaufs von teilweise über zehn Jahren (Tatzeit 2009 bis 2011) und des Umstands, dass es sich um ein operativ tätiges Wirtschaftsunternehmen handelte, liegt dies auch fern.b) Die angeordnete Einziehung der 11.103.040,76 € ist auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen jedoch als Einziehung des Wertes von Taterträgen nach § 73 Abs. 1, § 73b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 73c Satz 1 Alternative 2 StGB gerechtfertigt.aa) Die Revisionsführerin erlangte durch die strafbaren Ausfuhren als Drittbegünstigte zunächst Eigentum und Besitz an den ausgeführten Pistolen (§ 73 Abs. 1, § 73b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB). Diese konnten nicht eingezogen werden, weil sie zum Zeitpunkt der landgerichtlichen Entscheidung gegenständlich nicht mehr bei der Revisionsführerin vorhanden waren. Angeordnet werden konnte und kann dann aber die Einziehung eines Geldbetrages, der dem Wert der erlangten Waffen entspricht (§ 73 Abs. 1, § 73b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 73c Satz 1 Alternative 2 StGB).bb) Der Wert dieser Pistolen bestimmt sich nach ihrem Verkehrswert bei Entstehen des Wertersatzanspruchs (BT-Drucks. 18/9525 S. 67; Lackner/Kühl/Heger, StGB, 29. Aufl., § 73c Rn. 4; Matt/Renzikowski/Altenhain/Fleckenstein, StGB, 2. Aufl., § 73c Rn. 4; Schönke/Schröder/Eser/Schuster, StGB, 30. Aufl., § 73c Rn. 10; SSW-StGB/Heine, 5. Aufl., § 73c Rn. 7).Hier entstand der Wertersatzanspruch mit ihrer Veräußerung an die T.      , weil damit die ursprünglich mögliche gegenständliche Einziehung gemäß § 73c Satz 1 Alternative 2 StGB nachträglich unmöglich geworden ist (vgl. OLG Stuttgart, Urteil vom 6. Juni 2014 - 2 Ss 541/13, juris Rn. 18 ff.; Lackner/Kühl/Heger, StGB, 29. Aufl., § 73c Rn. 4; LK/Lohse, StGB, 13. Aufl., § 73c Rn. 18; Matt/Renzikowski/Altenhain/Fleckenstein, StGB, 2. Aufl., § 73c Rn. 4 mit Fn. 16 und dem Hinweis, dass in der Gesetzesbegründung versehentlich auf den "Zeitpunkt der Möglichkeit der Originaleinziehung" [BT-Drucks. 18/9525 S. 16] abgestellt wird; Schönke/Schröder/Eser/Schuster, StGB, 30. Aufl., § 73c Rn. 10; SSW-StGB/Heine, 5. Aufl., § 73c Rn. 7; s. auch BGH, Beschluss vom 6. Juni 2018 - 4 StR 569/17, NJW 2018, 3325 Rn. 28).cc) Der Verkehrswert beträgt nach den getroffenen Feststellungen 11.103.040,76 €.(1) Maßgeblich für die Verkehrswertbestimmung ist der erzielbare Verkaufspreis beziehungsweise Verwertungserlös (vgl. Matt/Renzikowski/Altenhain/Fleckenstein, StGB, 2. Aufl., § 73c Rn. 4; Schönke/Schröder/Eser/Schuster, StGB, 30. Aufl., § 73c Rn. 10). Hiernach bemisst sich der Verkehrswert auf 11.103.040,74 €, weil die Revisionsführerin diesen Preis durch ein in den USA durchgeführtes und nach US-amerikanischem Recht erlaubtes Verkaufsgeschäft tatsächlich erzielte.(2) Dem steht nicht entgegen, dass der Betrag durch einen Auslandsverkauf erlöst wurde. Der bisherigen Rechtsprechung, nach der insoweit entscheidend sein soll, was "im Inland" erzielbar war (so BGH, Urteil vom 6. Februar 1953 - 2 StR 714/51, BGHSt 4, 13; RG, Urteil vom 13. November 1919 - I 460/19, RGSt 54, 45, 47; so auch LK/Lohse, StGB, 13. Aufl., § 73c Rn. 14; Schönke/Schröder/Eser/Schuster, StGB, 30. Aufl., § 73c Rn. 10), ist nicht mehr zu folgen. Insoweit gilt:(a) Der geforderte Inlandsbezug geht zurück auf eine Entscheidung des 2. Strafsenats hinsichtlich einer Wertersatzeinziehung nach § 401 Reichsabgabenordnung für geschmuggelte Zigaretten (BGH, Urteil vom 6. Februar 1953 - 2 StR 714/51, BGHSt 4, 13), die ihrerseits auf ein Urteil des Reichsgerichts aus dem Jahr 1919 Bezug nimmt, das die Wertersatzeinziehung nach einem Verstoß gegen das Gesetz betreffend die Ausführung des mit Österreich-Ungarn abgeschlossenen Zollkartells betrifft (RG, Urteil vom 13. November 1919 - I 460/19, RGSt 54, 45).Hiernach soll es jeweils nicht auf die ausländischen Preisverhältnisse ankommen, sondern allein der im Inland erzielbare Preis maßgeblich sein. Das Reichsgericht hat dies damit begründet, dass der Staat durch die Einziehung eines körperlichen Gegenstands Eigentum an diesem erlange und der Wert an diesem nach den inländischen wirtschaftlichen Verhältnissen zu bemessen sei, denn für den Staat sei belanglos, welcher Wert dem Gegenstand im Ausland zukomme. Dasselbe müsse dann für den Wert des Betrages gelten, der dem Staat dafür zukomme, dass ihm nicht mehr das Eigentum zufließen könne. Daran ändere nichts, dass die Einziehung auf Güter zurückgehe, die sich zur Tatzeit gerade im Ausland befunden hätten oder dorthin verbracht worden seien. Die Einziehung sei eine inländische Strafe und als solche nur nach inländischen Verhältnissen und inländischem Recht zu bemessen (RG, Urteil vom 13. November 1919 - I 460/19, RGSt 54, 45, 47).(b) Dem entgegen kommt es jedenfalls hier für die Verkehrswertbestimmung auf den im Ausland im Rahmen eines nach dortigem Recht erlaubten Verkaufsgeschäfts tatsächlich erzielten Erlös an. Dies ergibt sich aus folgenden Gründen:Die Einziehung nach § 401 RAbgO war als Nebenstrafe ausgestaltet (BGH, Beschluss vom 6. Juni 2018 - 4 StR 569/17, NJW 2018, 3325 Rn. 33), während es sich bei der Einziehung von Taterträgen auch nach neuem Recht nicht um eine strafähnliche Maßnahme handelt (BVerfG, Beschlüsse vom 10. Februar 2021 - 2 BvL 8/19, NJW 2021, 1222 Rn. 106 ff.; vom 14. Januar 2004 - 2 BvR 564/95, BVerfGE 110, 1, 14; BGH, Urteile vom 30. März 2021 - 3 StR 474/19, juris Rn. 69 f.; vom 19. Januar 2012 - 3 StR 343/11, BGHSt 57, 79 Rn. 15; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 18. März 2019 - 2 Rb 9 Ss 852/18, juris Rn. 21; Fischer, StGB, 68. Aufl., § 73a Rn. 4, § 73b Rn. 2 mwN; aA Hellmann, Wirtschaftsstrafrecht, 5. Aufl., § 17 Rn. 1118 mwN; Theile, JA 2020, 1, 2 f.). Damit entfällt bereits der Ausgangspunkt der vorgenannten Entscheidungen, die "Einziehung [sei] dennoch eine inländische Strafe und als solche nur nach inländischen Verhältnissen und inländischem Recht zu bemessen" (RG, Urteil vom 13. November 1919 - I 460/19, RGSt 54, 45, 47).Nach Wegfall des Strafcharakters der Einziehung können für die Wertbestimmung des Erlangten daher grundsätzlich auch Auslandsgeschäfte in den Blick genommen werden. So finden - unabhängig von dem Sitz der Drittbegünstigen - jedenfalls tatsächlich im Ausland durch legale Weiterverkäufe erzielte Erlöse Berücksichtigung. Denn der erhöhte finanzielle Anreiz der Taten, den die §§ 73 ff. StGB im Blick haben, ergibt sich nicht ausschließlich daraus, welchen Erlös die Begünstigten in der Bundesrepublik Deutschland erzielen können, zumal es sich gerade bei Verstößen gegen das Außenwirtschaftsgesetz zwingend um grenzüberschreitende Sachverhalte handelt. Dies steht in Einklang damit, dass die Einziehungsmaßnahmen auch einen Präventionszweck verfolgen (vgl. BGH, Urteil vom 30. März 2021 - 3 StR 474/19, juris Rn. 69; BGH, Beschluss vom 18. Februar 2004 - 1 StR 296/03, BGHR StGB § 73c Härte 9; Urteil vom 21. August 2002 - 1 StR 115/02, BGHSt 47, 369, 375).Offenbleiben kann, ob für die Wertbestimmung des Erlangten - insbesondere bei ausschließlich im Inland operierenden Gesellschaften - auch auf im Ausland erzielbare Erlöse abgestellt werden kann, denn vorliegend hat die Revisionsführerin die eingezogene Summe tatsächlich vereinnahmt.(c) Eine Divergenz im Sinne des § 132 Abs. 2 GVG ergibt sich hieraus nicht.Die zitierte Entscheidung des 2. Strafsenats vom 6. Februar 1953 (2 StR 714/51, BGHSt 4, 13) betraf ein anderes, inzwischen aufgehobenes Gesetz. Das ursprüngliche Verfallsrecht der §§ 73 ff. StGB aF wurde erst zum 1. Januar 1975 eingeführt - die aktuelle Gesetzesfassung trat zum 1. Juli 2017 in Kraft (BGBl. I, S. 872, 894) - und ging in seinem Anwendungsbereich deutlich über die Einziehung nach § 401 RAbgO hinaus. Überdies ist die Einziehung von Taterträgen auch nach neuem Recht anders als die als Nebenstrafe ausgestaltete Einziehung nach § 401 RAbgO weder eine Strafe noch eine strafähnliche Maßnahme (auch BVerfG, Beschluss vom 10. Februar 2021 - 2 BvL 8/19, NJW 2021, 1222 Rn. 106 ff.; BGH, Beschluss vom 6. Juni 2018 - 4 StR 569/17, NJW 2018, 3325 Rn. 33).dd) Von dem so bestimmten Verkehrswert sind keine Aufwendungen abzuziehen (§ 73d StGB).(1) Hinsichtlich der Revisionsführerin kommt es nicht darauf an, dass das Abzugsverbot auch bei lediglich versuchten Taten gilt (s. dazu B.I.3.b bb (2) (b)). Bei ihr hat das Landgericht die Erlöse aus den als Versuch gewerteten Taten nicht in die Einziehungsentscheidung einbezogen (UA S. 57).(2) Die Anschaffungskosten in Höhe des Intercompany-Preises stellen aufgrund des Abzugsverbots des § 73d Abs. 1 Satz 2 StGB keine abzugsfähigen Aufwendungen dar, weil die Revisionsführerin diese für die Begehung der Tat aufwendete.Die Handlung und das Geschäft, das unmittelbar zur Vermögensmehrung führte, waren auch hier wegen der strafbewehrten Ausfuhr selbst verboten, denn Bezugspunkt der Betrachtung ist die Ausfuhr, nicht der Weiterverkauf in den USA. Für dieses verbotene Geschäft wurden die Aufwendungen "willentlich und bewusst" eingesetzt, weil der Verurteilte C.    als CEO der Revisionsführerin nach den getroffenen Feststellungen vorsätzlich handelte. Er hatte erkannt, dass die Endverbleibserklärungen inhaltlich unzutreffend sein könnten (UA S. 13, 31). Dieses Verhalten und Wissen ihres Organs muss sich die Revisionsführerin zurechnen lassen.ee) Der Aufrechterhaltung der Einziehungsentscheidung auf der Grundlage dieser abweichenden rechtlichen Würdigung steht schließlich nicht entgegen, dass die Revisionsführerin für den Fall, dass "die Kammer bei der Einziehungsentscheidung von einem anderen Wert des Erlangten als dem an die S.              GmbH gezahlten Intercompany-Preis ausgehen sollte", einen Hilfsbeweisantrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Beweis der Tatsache gestellt hat, "dass der Wert der erworbenen Pistolen ... zum Zeitpunkt der jeweiligen Lieferungen niedriger war als der Weiterveräußerungspreis an die T.    " (UA S. 56).Bei der Einziehung von Wertersatz für die ursprünglich erlangten Pistolen ist deren Wert zum Zeitpunkt der Lieferung an die Revisionsführerin rechtlich ohne Belang; entscheidend ist vielmehr ihr Wert bei der Veräußerung, weil erst dann der Wertersatzanspruch entstanden ist (s. dazu bereits B.II.3.b (bb)). Im Übrigen können Umfang und Wert des Erlangten einschließlich der abzuziehenden Aufwendungen im Freibeweisverfahren geschätzt werden (§ 73d Abs. 2 StGB), sofern substantiierte Feststellungen ausgeschlossen erscheinen oder einen unverhältnismäßigen Zeit- oder Kostenaufwand erfordern (Fischer, StGB, 68. Aufl., § 73d Rn. 11; Schönke/Schröder/Eser/Schuster, StGB, 30. Aufl., § 73d Rn. 13). Dass eine weitere Aufklärung zu einem anderen Ergebnis geführt hätte, ist nicht zu erwarten.III. Die Revision der S.  S.    GmbH & Co. KGDie Revision ist teilweise begründet. Die Einziehungsanordnung unterliegt bereits auf die Sachrüge der Aufhebung; auf die erhobenen Verfahrensrügen, die lediglich auf die unterbliebene Feststellung des Wertes des auf die Revisionsführerin übertragenen Vermögens abzielen, kommt es damit nicht an.1. Hinsichtlich des Verfahrenshindernisses der Verjährung der Erwerbstaten gelten die Ausführungen unter B.I.1. mit der Maßgabe entsprechend, dass die Revisionsführerin diese Einwendung zu keinem Zeitpunkt ausdrücklich erhoben hat.2. Die aufgrund der Sachrüge veranlasste materiell-rechtliche Überprüfung des Urteils führt zur Aufhebung der Einziehungsanordnung.Zwar gilt § 73b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB auch für rechtsgeschäftliche Übertragungen im Wege partieller Gesamtrechtsnachfolge (a). Wird allerdings - wie hier - nicht das ursprünglich Erlangte, sondern allein dessen Wertersatz übertragen, setzt § 73b Abs. 2 StGB, der nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers die Weiterreichung des Wertersatzes erfassen soll (BT-Drucks. 18/9525 S. 67), voraus, dass der erlangte Gegenstand dem Wert des Erlangten entspricht (b), und erfordert für eine Wertersatzeinziehung gegenüber dem Gesamtrechtsnachfolger auch nach der Gesetzesnovelle einen Bereicherungszusammenhang im Sinne einer Entziehungs- oder Verschleierungsmotivation (c). Die Einziehung nach § 73b Abs. 2 StGB findet daher jedenfalls dann ihre Grenze, wenn ein Zusammenhang mit den Tatvorteilen nicht mehr erkennbar ist und mit einer Transaktion weder das Ziel verfolgt wird, das durch die Tat unmittelbar begünstigte Vermögen des Täters oder eines Dritten dem Zugriff der Gläubiger zu entziehen, noch die Tat zu verschleiern (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 2. März 2018 - 1 Ws 19/18, wistra 2018, 440, 443; MüKoStGB/Joecks/Meißner, 4. Aufl., § 73b Rn. 15; SSW/Heine, StGB, 5. Aufl., § 73b Rn. 9). Beides hat das Landgericht nicht festgestellt. Im Einzelnen:a) § 73b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b StGB erfasst die rechtsgeschäftliche Übertragung des Erlangten als Bestandteil einer Vermögensgesamtheit auf Grund eines Ausgliederungs- und Übernahmevertrags (sog. partielle Gesamtrechtsnachfolge).Auch insoweit handelt es sich um die Übertragung des Erlangten im Sinne des § 73b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b StGB, obwohl in diesen Fällen das betroffene Vermögen uno actu als Gesamtheit auf den übernehmenden Rechtsträger übergeht, ohne dass der Übergang die für eine Einzelrechtsübertragung erforderlichen Akte voraussetzt (§ 131 Abs. 1 Nr. 1 UmwG; BeckOGK UmwG/Wiersch/Breuer, Stand: 01.10.2020, § 131 Rn. 4).aa) Dafür spricht der Gesetzeswortlaut, der begrifflich auch diese Fälle erfasst. Der Begriff des Übertragens ist rein tatsächlich zu verstehen und bezeichnet das Verschaffen der faktischen Verfügungsmacht über das Erlangte; ob und ggf. welches Rechtsgeschäft dem zugrunde liegt und ob das Rechtsgeschäft wirksam ist, ist für die Beantwortung der Frage, ob das Erlangte übertragen wurde, ohne Belang (Köhler/Burkhard, NStZ 2017, 665, 666; Korte, NZWiSt 2018, 231, 233; LK/Lohse, StGB, 13. Aufl., § 73b Rn. 24; Schönke/Schröder/Eser/Schuster, StGB, 30. Aufl., § 73b Rn. 6). Damit ist ohne Bedeutung, ob das Erlangte einzeln oder als Bestandteil des Gesamtvermögens rechtsgeschäftlich übertragen wird.bb) Dem steht die Systematik des § 73b Abs. 1 StGB nicht entgegen. Zwar sprechen § 73b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3 Buchst. b StGB nach ihrem Wortlaut von "Übertragen" des Erlangten, während § 73b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Buchst. a StGB für den Erbfall und die damit verbundene Gesamtrechtsnachfolge von einem "Übergang" des Erlangten auf den Erben ausgeht. Aus dieser begrifflichen Unterscheidung folgt jedoch nicht, dass ein "Übertragen" im Sinne des § 73b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB ausscheidet, wenn ein Fall der rechtsgeschäftlichen (partiellen) Gesamtrechtsnachfolge vorliegt, also das Erlangte nicht einzeln, sondern als Teil eines Gesamtvermögens übergeht. Der Grund für die sprachliche Differenzierung ist lediglich darin zu sehen, dass bei einer Universalsukzession infolge eines Erbfalls kein übereinstimmender Willensakt aller beteiligten Personen vorliegt. Bei einer Gesamtrechtsnachfolge, die auf einer zugrundeliegenden rechtsgeschäftlichen Übertragungsvereinbarung in Form eines - wie hier - Ausgliederungs- und Übernahmevertrages basiert, ist dies hingegen anders, zumal auch dieser Vermögensübergang als rechtsgeschäftlich zu qualifizieren ist (vgl. BeckOGK UmwG/Wiersch/Breuer, Stand: 01.10.2020, § 131 Rn. 4). Außerdem zeigt der Vergleich mit den nun in § 73 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Buchst. a StGB kodifizierten Erbfällen ("übergegangen ist"), dass nach dem Willen des Gesetzgebers das wesentliche Kriterium für eine Einziehung nach § 73b StGB darin liegt, dass ein anderer als der Täter oder Teilnehmer das Etwas erlangt hat (Köhler/Burkhard, NStZ 2017, 665, 666). Ob dies im Wege der Einzel- oder Gesamtrechtsnachfolge geschehen ist, spielt demnach für den Anwendungsbereich des § 73b Abs. 1 StGB keine Rolle.cc) Auch historische und teleologische Erwägungen sprechen dagegen, dass der Gesetzgeber allein und ausschließlich den Erbfall als Fall der Gesamtrechtsnachfolge in § 73b Abs. 1 StGB erfassen wollte.(1) Die Kodifizierung in § 73b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StGB sollte lediglich eine Abschöpfungslücke schließen und für eine in der Praxis wichtige Fallgruppe Rechtsklarheit schaffen (BT-Drucks. 18/9525 S. 66; MüKoStGB/Joecks/Meißner, 4. Aufl., § 73b Rn. 18). Damit war keine Begrenzung der Einziehungsmöglichkeiten beabsichtigt, sondern eine Ausweitung. Diesem gesetzgeberischen Willen widerspräche es, würde man aus der Kodifizierung der Erbfälle den Schluss ziehen, Fälle der rechtsgeschäftlichen Gesamtrechtsnachfolge seien von § 73b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB von vornherein nicht erfasst.(2) Aus der Richtlinie 2014/42/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Sicherstellung und Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen aus Straftaten in der Europäischen Union, die der Gesetzgeber mit der Gesetzesnovelle umsetzen wollte (BT-Drucks. 18/9525 S. 2), ergeben sich ebenfalls Anhaltspunkte dafür, dass auch die Fälle partieller Gesamtrechtsnachfolge der Dritteinziehung unterliegen sollen und § 73b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB in diesem Sinne auszulegen ist.So erfasst Art. 6 der Richtlinie, der die Dritteinziehung regelt, gleichermaßen sowohl die Übertragung an als auch den Erwerb durch Dritte. Auch Ziff. 24 der Erwägungsgründe stellt die Übertragung und den Erwerb gleich und geht von der wachsenden Notwendigkeit aus, die Einziehung von Vermögensgegenständen zu gestatten, die Dritten übertragen oder von ihnen erworben worden sind, wobei die Vorschriften auch für juristische Personen gelten sollen.Darüber hinaus sollen nach Ziff. 11 der Erwägungsgründe Erträge alle Vermögensgegenstände umfassen, einschließlich derer, die ganz oder teilweise in andere "umgewandelt" oder "umgeformt" wurden. Eine solche Umwandlung oder Umformung stellt bei dem gebotenen weiten Begriffsverständnis auch die (rechtsgeschäftliche) Ausgliederung eines Unternehmensteils dar.Dafür spricht ferner, dass die Richtlinie speziell auf die Bekämpfung der grenzüberschreitenden organisierten Kriminalität abzielt und als eine der wirksamsten Maßnahmen die Einziehung von Erträgen aus Straftaten ansieht (Ziff. 1 und 3 der Erwägungsgründe). Der Richtlinie und den sie umsetzenden §§ 73 ff. StGB widerspräche es daher, wenn rechtsgeschäftliche Unternehmensteilausgliederungen, die insbesondere bei (Wirtschafts-)Straftaten unter Nutzung organisierter Strukturen und Firmengeflechten und damit gerade im Bereich organisierter Kriminalität eine tragende Rolle spielen, generell von § 73b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB ausgenommen wären.b) Die - hier allein in Betracht kommende - Einziehung eines durch die Übertragung weitergereichten Wertersatzes setzt voraus, dass der erlangte Gegenstand dem Wert des ursprünglich Erlangten entspricht (§ 73b Abs. 2 StGB). Dies hat das Landgericht nicht festgestellt. Insoweit gilt:Nach § 73b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b und Satz 2 StGB richtet sich die Anordnung der Einziehung nach den §§ 73, 73a StGB gegen einen anderen, wenn ihm das Erlangte übertragen wurde und er erkannt hat oder hätte erkennen müssen, dass das Erlangte aus einer rechtswidrigen Tat herrührt, sofern das Erlangte nicht zuvor einem Dritten, der nicht erkannt hat oder hätte erkennen müssen, dass das Erlangte aus einer rechtswidrigen Tat herrührt, entgeltlich und mit rechtlichem Grund übertragen wurde. Erlangt der andere unter den Voraussetzungen des Absatz 1 Satz 1 Nr. 2 einen Gegenstand, der dem Wert des Erlangten entspricht, oder gezogene Nutzungen, so ordnet das Gericht auch deren Einziehung an (§ 73b Abs. 2 StGB).aa) Zunächst erlangte die Einziehungsbeteiligte S.               GmbH den Veräußerungserlös durch den Verkauf der Pistolen in Höhe von 7.440.532,20 €. Da dieser nach den getroffenen Feststellungen nicht mehr gegenständlich vorhanden war (UA S. 52) und im Falle einer unbaren Begleichung der Kaufpreisforderungen ohnehin allein eine Wertersatzeinziehung in Betracht kommt (dazu bereits B.II.3.a), war gegen die Einziehungsbeteiligte S.             GmbH nur noch die Anordnung eines auf Geldzahlung lautenden Anspruchs auf Einziehung von Wertersatz möglich (§§ 73, 73b Abs. 1 Nr. 1, § 73c StGB). Demzufolge konnte allenfalls dieser Wertersatz im Sinne des § 73b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b StGB auf die Revisionsführerin "verschoben" werden, so dass ihr gegenüber von vornherein allein dieser weitergereichte Wertersatz der Einziehung nach § 73b Abs. 2 StGB, der diese Fälle nach dem Willen des Gesetzgebers erfassen soll (BT-Drucks. 18/9525 S. 67), unterliegen kann.bb) Dieser weitergereichte Wertersatz muss objektiv nach dem ausdrücklichen Gesetzeswortlaut als erlangter Gegenstand dem Wert des ursprünglich Erlangten entsprechen (§ 73b Abs. 2 StGB; s. zu den Voraussetzungen in subjektiver Hinsicht B.III.3.c).(1) Gegenstände im Sinne des § 73b Abs. 2 StGB sind dabei - nur - individualisierte Sachen und Rechte; ersparte Aufwendungen werden insoweit hingegen ebenso wenig wie von dem Gegenstandsbegriff des § 73a StGB erfasst (aA Köhler/Burkhard, NStZ 2017, 665, 667). Dies ergibt sich aus Folgendem:Der Gesetzgeber differenziert in den §§ 73 ff. StGB und in § 73b StGB sprachlich zwischen dem "erlangten Etwas" und "Gegenständen", so dass bereits der Gesetzeswortlaut ein unterschiedliches Begriffsverständnis nahelegt. Daher führt der Umstand, dass das erlangte Etwas in ersparten Aufwendungen bestehen kann (vgl. BGH, Beschluss vom 4. Juli 2018 - 1 StR 244/18, BGHR StGB § 73 Abs. 1 Anwendungsbereich 1 Rn. 7), nicht automatisch dazu, dass dies auch für einen Gegenstand im Sinne des § 73b Abs. 2 StGB gilt.Dagegen spricht vielmehr, dass das Gesetz das Merkmal des "Gegenstands" bei der erweiterten Einziehung nach § 73a StGB ebenfalls verwendet und ersparte Aufwendungen dort nicht als Gegenstände erfasst werden (vgl. BGH, Beschluss vom 4. Juli 2018 - 1 StR 244/18, BGHR StGB § 73 Abs. 1 Anwendungsbereich 1 Rn. 10; Fischer, StGB, 68. Aufl., § 73a Rn. 13; MüKoStGB/Joecks/Meißner, 4. Aufl., § 73a Rn. 19; Schönke/Schröder/Eser/Schuster, StGB, 30. Aufl., § 73a Rn. 8). Auch nach der Rechtsprechung zum Wertersatzverfall nach § 73a StGB aF waren ersparte Aufwendungen "nichtgegenständliche Vorteile" (vgl. BGH, Urteil vom 18. Dezember 2018 - 1 StR 36/17, BGHR StGB § 73 Erlangtes 29 Rn. 18 f.). Dieses Verständnis ist auf § 73b Abs. 2 StGB zu übertragen. Es ist nicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber demselben Begriff in einzelnen Normen des Einziehungsrechts einen unterschiedlichen Bedeutungsgehalt geben und die bisherige Rechtsprechungspraxis ändern wollte.(2) Das Landgericht hätte daher Feststellungen dazu treffen müssen, dass der Wert der an die Revisionsführerin übertragenen individualisierten Sachen und Rechte im Übertragungszeitpunkt jedenfalls 7.440.532,20 € entsprach.Dass dies der Fall war, ergibt sich nicht allein aus der Erwägung des Landgerichts, der Wert des ursprünglich Erlangten habe dem übertragenen Unternehmensvermögen schon deshalb innegewohnt, weil im Falle eines Einsatzes des Erlangten zur Tilgung von Verbindlichkeiten das Vermögen zumindest in dieser Höhe schuldenbereinigt übertragen worden sei und die Revisionsführerin damit eigene Aufwendungen erspart habe. Dem steht bereits entgegen, dass ersparte Aufwendungen, wie dargelegt, kein Gegenstand im Sinne des § 73b Abs. 2 StGB sind. Zudem berücksichtigt diese Auffassung nicht, dass die §§ 73 ff. StGB anders als etwa § 30 Abs. 2a Satz 1 OWiG oder § 81a Abs. 2 GWB keine Rechtsnachfolgeklausel enthalten. Daraus folgt im Umkehrschluss, dass die Einziehung nach § 73b Abs. 2 StGB nach dem Willen des Gesetzgebers nicht schon allein aufgrund der bloßen Tatsache der Rechtsnachfolge angeordnet werden darf (vgl. Bittmann/Tschakert, wistra 2020, 217, 222). Darauf liefe aber die Auffassung des Landgerichts im Ergebnis hinaus.Daneben hätte § 73b Abs. 2 StGB einen ausufernden Anwendungsbereich, wollte man als ausreichend erachten, dass der Wert des ursprünglich Erlangten auch dem übertragenen Vermögen stets und letztlich deshalb innewohnt, weil der Wert des Erlangten zu irgendeinem früheren Zeitpunkt Bestandteil des nunmehr übertragenen Vermögens geworden ist, ohne dass es auf die weitere Entwicklung des Ursprungsvermögens ankäme. Der Rechtsnachfolger haftet nach § 73b Abs. 2 StGB vielmehr bei sachgemäßem Verständnis weder automatisch auf den vollen Wert dessen, was er vom Rechtsvorgänger übertragen bekommen hat, noch im Umfang des Gesamtwerts der Taterträge, die sich irgendwann einmal in dessen Vermögen befunden haben, sondern nur insoweit, wie er von ihm Werte in maximal dieser Höhe übernommen hat; der - gegebenenfalls nach § 73d Abs. 2 StGB zu schätzende - feststellbare Wert des auf den Rechtsnachfolger Übertragenen begrenzt daher jedenfalls den abschöpfbaren Wert (Bittmann/Tschakert, wistra 2020, 217, 222).Das neue Tatgericht wird daher Feststellungen dazu zu treffen haben, welcher Wert dem auf die Revisionsführerin übertragenen Vermögen im Zeitpunkt der Ausgliederung zukam. Dieser Wert beschreibt die Obergrenze des maximal bei der Einziehungsbeteiligten einzuziehenden Geldbetrags.c) Darüber hinaus setzt eine Wertersatzeinziehung nach § 73b Abs. 2 StGB auch nach neuem Recht in subjektiver Hinsicht eine Entziehungs- oder Verschleierungsmotivation voraus.aa) Ob die Wertersatzeinziehung nach § 73b Abs. 2 StGB nur bei Vorliegen dieser subjektiven Komponente zulässig ist, ist bislang umstritten. Der Bundesgerichtshof hat diese Frage nach der Gesetzesnovelle noch nicht entschieden, die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte ist uneinheitlich (einerseits OLG Düsseldorf, Beschluss vom 28. November 2019 - III-1 Ws 233-237/19, StraFo 2020, 336, andererseits OLG Celle, Beschluss vom 2. März 2018 - 1 Ws 19/18, StraFo 2018, 206; offengelassen von OLG Hamm, Beschluss vom 22. April 2020 - III-5 Ws 59/20, NZWiSt 2020, 482, 490).Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum altem Recht war zwar in Verschiebungsfällen die Anordnung eines Wertersatzverfalls gegenüber einem Drittbegünstigten zulässig, setzte jedoch neben einer ununterbrochenen Bereicherungskette einschränkend einen Bereicherungszusammenhang in dem Sinne voraus, dass die Verschiebung mit der Zielrichtung vorgenommen wurde, den Wertersatz dem Zugriff des Gläubigers zu entziehen oder die Tat zu verschleiern (BGH, Urteil vom 23. Oktober 2013 - 5 StR 505/12, BGHR StGB § 73 Verfallsbeteiligte 5 Rn. 56; Beschluss vom 13. Juli 2010 - 1 StR 239/10, juris; Urteil vom 19. Oktober 1999 - 5 StR 336/99, BGHSt 45, 235, 246; s. zum Ganzen LK/Lohse, StGB, 13. Aufl., § 73b Rn. 25 f., 33 mwN).Die Gesetzesnovelle hat das Erfordernis der ununterbrochenen Bereicherungskette durch die Neufassung in § 73b Abs. 1 Satz 2 StGB gesetzlich normiert (vgl. dazu auch BT-Drucks. 18/9525 S. 66); diese entfällt hiernach - nur - beim Dazwischentreten einer entgeltlichen Übertragung mit rechtlichem Grund an einen gutgläubigen Dritten (vgl. LK/Lohse, StGB, 13. Aufl., § 73b Rn. 25, 33). Hingegen schweigt die Gesetzesbegründung dazu, ob daneben die bisher geforderte Entziehungs- oder Verschleierungsmotivation weiterhin erforderlich ist oder bereits die reine Weiterreichung des Wertersatzes - ohne Dazwischentreten eines Gutgläubigen - an einen bösgläubigen Drittbegünstigten ausreicht (vgl. zum Ganzen LK/Lohse, StGB, 13. Aufl., § 73b Rn. 26 ff., 33 mwN; s. auch Bittmann/Tschakert, wistra 2020, 217, 222 f.; Matt/Renzikowski/Altenhain/Fleckenstein, StGB, 2. Aufl., § 73b Rn. 9).An der bisherigen Rechtsprechung ist festzuhalten. Auch nach neuem Recht setzt die Wertersatzeinziehung in diesen Fällen einen Bereicherungszusammenhang des Inhalts voraus, dass aufgrund einer Gesamtschau Grund zu der Annahme besteht, mit den in Frage stehenden Transaktionen sollte das Ziel verfolgt werden, das durch die Tat unmittelbar begünstigte Vermögen des Täters oder eines weiteren Dritten dem Gläubigerzugriff zu entziehen oder die Tat zu verschleiern (so auch OLG Celle, Beschluss vom 2. März 2018 - 1 Ws 19/18, StraFo 2018, 206, 208 f.; Hiéramente, jurisPR-StrafR 3/2020 Anm. 4; Hiéramente, jurisPR-StrafR 12/2018 Anm. 1; Lackner/Kühl/Heger, StGB, 29. Aufl., § 73b Rn. 3; MüKoStGB/Joecks/Meißner, 4. Aufl., § 73b Rn. 15; Schmidt, Vermögensabschöpfung, 2. Aufl., S. 57 Rn. 242; Ullenboom, Praxisleitfaden Vermögensabschöpfung, 2019, Rn. 89; Ullenboom, wistra 2020, 223, 227 f.; s. auch Schreiner, StraFo 2020, 339 ff.; aA OLG Düsseldorf, Beschluss vom 28. November 2019 - III-1 Ws 233-237/19, StraFo 2020, 336; Bittmann/Köhler/Seeger/Tschakert, Handbuch der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung, 2020, Kap. 3 Rn. 140 f.; Köhler/Burkhard, NStZ 2017, 665, 667; Korte, wistra 2018, 1, 6; Rettke, wistra 2020, 433 ff.; s. zu alternativen Ansätzen Bittmann/Tschakert, wistra 2020, 217, 222 f.; Bittmann, NStZ 2019, 383, 391). Dies ergibt sich aus Folgendem:(1) Der Gesetzeswortlaut setzt zwar, worauf die Gegenauffassung zu Recht hinweist, eine solche Einschränkung nicht ausdrücklich voraus (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 28. November 2019 - III-1 Ws 233-237/19, StraFo 2020, 336, 338; Bittmann/Köhler/Seeger/Tschakert, Handbuch der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung, 2020, Kap. 3 Rn. 141; Köhler/Burkhard, NStZ 2017, 665, 667; Rettke, wistra 2020, 433, 435). Er steht dem aber auch nicht entgegen (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 2. März 2018 - 1 Ws 19/18, StraFo 2018, 206, 208 f.; s. auch LK/Lohse, StGB, 13. Aufl., § 73b Rn. 26, 33).(2) Der Gesetzgeber hat auch die Formulierung des § 73 Abs. 3 StGB aF "dadurch etwas erlangt", aus der das Erfordernis eines Bereicherungszusammenhangs abgeleitet wurde, nicht in § 73b Abs. 2 StGB übernommen. Daraus folgt jedoch nicht, dass er nach neuem Recht auf einen Bereicherungszusammenhang im Sinne einer Vermeidungs- oder Vereitelungsmotivation verzichten wollte. Hierzu verhält sich die Gesetzesbegründung nicht. Allerdings ergibt die historische Auslegung, dass der Gesetzgeber durch die Neuregelung das bisherige Erfordernis nicht aufgeben wollte (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 2. März 2018 - 1 Ws 19/18, StraFo 2018, 206, 209; s. auch Lackner/Kühl/Heger, StGB, 29. Aufl., § 73b Rn. 1 sowie LK/Lohse, StGB, 13. Aufl., § 73b Rn. 26, 33; aA OLG Düsseldorf, Beschluss vom 28. November 2019 - III-1 Ws 233-237/19, StraFo 2020, 336, 338; Fleckenstein, wistra 2018, 444, 445; Matt/Renzikowski/Altenhain/Fleckenstein, StGB, 2. Aufl., § 73b Rn. 5; Köhler/Burkhard, NStZ 2017, 665, 667; Rettke, wistra 2020, 433, 434).(a) Für den aus § 73 Abs. 3 StGB aF abgeleiteten Bereicherungszusammenhang war nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in einem Verschiebungsfall erforderlich, dass der Täter dem Dritten mit den in Frage stehenden Transaktionen die Tatvorteile unentgeltlich oder aufgrund eines bemakelten Rechtsgeschäfts zukommen lässt, um das durch die Tat unmittelbar begünstigte Vermögen des Täters oder eines Dritten dem Zugriff der Gläubiger zu entziehen oder die Tat zu verschleiern. Dem stand weder entgegen, dass das Erlangte vor der Weiterleitung an den Dritten mit legalem Vermögen vermischt worden war oder lediglich aus ersparten Aufwendungen bestand, noch dass der Täter in solchen Fällen regelmäßig die Vermögensverschiebung primär im eigenen Interesse und allenfalls faktisch (auch) im Interesse des Dritten begeht (BGH, Urteil vom 3. Dezember 2013 - 1 StR 53/13, BGHR StGB § 73 Abs. 3 Handeln für einen anderen 1 Rn. 38 f.; BGH, Urteil vom 23. Oktober 2013 - 5 StR 505/12, BGHR StGB § 73 Verfallsbeteiligte 5 Rn. 56).(b) Diese Rechtsprechung zu den bisher gesetzlich nicht geregelten Verschiebungsfällen wollte der Gesetzgeber lediglich kodifizieren, sie hingegen nicht zugleich unter Verzicht auf einen Bereicherungszusammenhang erweitern (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 2. März 2018 - 1 Ws 19/18, StraFo 2018, 206, 208 f.; Ullenboom, wistra 2020, 223, 227; Ullenboom, Praxisleitfaden Vermögensabschöpfung, 2019, Rn. 89). Die Neuregelung sollte nach der Gesetzesbegründung die Fallgruppen, die der Bundesgerichtshof für die Abschöpfung von Taterträgen bei Drittbegünstigten entwickelt hatte, "widerspiegeln" und für die "wichtigen" Verschiebungsfälle "Rechtsklarheit" schaffen (BT-Drucks. 18/9525 S. 66), also nicht etwa abändern.(c) Auch aus der dem Gesetzentwurf zugrundenliegenden Richtlinie 2014/42/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Sicherstellung und Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen aus Straftaten in der Europäischen Union lässt sich nicht ableiten, dass ein weitergehender Zugriff auf das Vermögen des Dritten beabsichtigt war. Art. 6 der Richtlinie und Ziff. 24 der Erwägungsgründe sehen lediglich vor, dass die Dritteinziehung jedenfalls in den Fällen möglich sein soll, in denen dem Dritten bekannt war oder hätte bekannt sein müssen, dass der Zweck der Übertragung oder des Erwerbs in der Vermeidung der Einziehung bestand (vgl. auch OLG Celle, Beschluss vom 2. März 2018 - 1 Ws 19/18, StraFo 2018, 206, 209).(3) Für dieses Ergebnis sprechen zudem teleologische Erwägungen (aA OLG Düsseldorf, Beschluss vom 28. November 2019 - III-1 Ws 233-237/19, StraFo 2020, 336, 337 f.).Zwar sollen nach der Gesetzesbegründung Abschöpfungslücken vermieden und die Weiterreichung des Wertersatzes erfasst sein (vgl. BT-Drucks. 18/9525 S. 56, 66 f.); auch wird gerade in wirtschaftsstrafrechtlichen Verfahren von Tätern typischerweise ein komplexer, schwer zu durchschauender Geldkreislauf in Gang gesetzt, um den Tatumfang und den Verbleib der Tatbeute zu verschleiern (s. zu diesem Gedanken OLG Hamm, Beschluss vom 22. April 2020 - III-5 Ws 59/20, NZWiSt 2020, 482, 490).Dem läuft das Erfordernis einer Entziehungs- und Vereitelungsmotivation aber nicht entscheidend zuwider. Zum einen liegen solche Beweggründe gerade vor, wenn der Verbleib der Tatbeute durch Vermögenstransaktionen verschleiert werden soll. Zum anderen würde ein Verzicht auf dieses einschränkende Merkmal zu einer ausufernden Dritteinziehung führen, die ihrerseits mit Sinn und Zweck der Einziehungsregelung nicht mehr vereinbar wäre (Ullenboom, wistra 2020, 223, 228; Ullenboom, Praxisleitfaden Vermögensabschöpfung, 2019, Rn. 89; aA Rettke, wistra 2020, 433, 436 f.; s. auch LK/Lohse, StGB, 13. Aufl., § 73b Rn. 27, 33). Erfasst wären dann auch Konstellationen, in denen der Dritte beliebige Erwerbsgeschäfte tätigt und dabei weiß oder fahrlässig nicht erkennt, dass sein Geschäftspartner zuvor eine profitable Straftat begangen hat. Dem Dritten wird bei diesem Verständnis auferlegt, seinen Geschäftspartner quasi zu "durchleuchten", um eine fahrlässige Unkenntnis von irgendwelchen Straftaten desselben und damit einen entschädigungslosen staatlichen Zugriff auszuschließen. Die damit einhergehende Einschränkung der freien Wirtschaft ist auch vor dem Hintergrund des Zwecks der Vermögensabschöpfung nicht mehr gerechtfertigt (SSW/Heine, StGB, 5. Aufl., § 73b Rn. 9; aA Rettke, wistra 2020, 433, 437 ff.).(4) Systematische Erwägungen sprechen ebenfalls für eine enge Auslegung (vgl. Ullenboom, Praxisleitfaden Vermögensabschöpfung, 2019, Rn. 87; Ullenboom, wistra 2020, 223, 227; s. auch OLG Celle, Beschluss vom 2. März 2018 - 1 Ws 19/18, StraFo 2018, 206, 210; aA Köhler/Burkhard, NStZ 2017, 665, 667; s. auch Fleckenstein, wistra 2018, 444, 445).(a) So hat der Gesetzgeber im Ordnungswidrigkeiten- und Kartellrecht ausdrückliche Regelungen hinsichtlich (partieller) Rechtsnachfolger getroffen und diese allein an die Rechtsnachfolgerschaft geknüpft (§ 30 Abs. 2a Satz 1 OWiG, § 81a Abs. 2 GWB). Die §§ 73 ff. StGB enthalten hingegen keine dem nachempfundene Rechtsnachfolgeklauseln, so dass die Einziehung nicht allein aufgrund der bloßen Tatsache der Rechtsnachfolge angeordnet werden darf (vgl. Bittmann/Tschakert, wistra 2020, 217, 222).(b) Schließlich ist die Aufnahme des Erbfalls in § 73b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StGB kein systematisches Argument für eine Aufgabe des bisher geforderten Bereicherungszusammenhangs (vgl. Ullenboom, wistra 2020, 223, 227; aA Fleckenstein, wistra 2018, 444, 445; Rettke, wistra 2020, 433, 436; s. auch LK/Lohse, StGB, 13. Aufl., § 73b Rn. 26, 33). Der Erbfall ist nur deshalb in die Norm eingefügt worden, um Wertungswidersprüche zu § 73b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a StGB zu vermeiden; denn es soll im Ergebnis keinen Unterschied machen, ob der Dritte inkriminiertes Vermögen zu Lebzeiten des Täters oder Teilnehmers durch unentgeltliche Zuwendung oder mit dessen Tod mit Erbfall übertragen erhält (vgl. BT-Drucks. 18/9525 S. 56 f.). Schließlich hat der Gesetzgeber mit dem Erbfall nur einen Fall der Universalsukzession gesondert geregelt, hingegen insbesondere für die Gesamtrechtsnachfolge bei juristischen Personen keine eigenständige Regelung getroffen.bb) Das neue Tatgericht wird daher auch Feststellungen in subjektiver Hinsicht (s. zu den weiteren erforderlichen objektiven Feststellungen bereits B.III.3.b) dazu zu treffen haben, ob die Ausgliederung aufgrund einer Gesamtschau mit der Zielrichtung vorgenommen wurde, das Vermögen der Einziehungsbeteiligten S.                   GmbH dem staatlichen Zugriff zu entziehen oder die Tat zu verschleiern.3. Die getroffenen Feststellungen bleiben aufrechterhalten, weil sie von den Gesetzesverletzungen nicht betroffen sind (§ 353 Abs. 2 StPO). Das neue Tatgericht kann ergänzende Feststellungen treffen, sofern sie den bestehenbleibenden nicht widersprechen.SchäferWimmerRiBGH Prof. Dr. Paulbefindet sich im Urlaubund ist deshalb gehindertzu unterschreiben.SchäferBergErbguth
bundesgerichtshof
bgh_127-2020
08.10.2020
Schadensersatzklausel für Abbruch einer Mutter-Kind-Kur unwirksam Ausgabejahr 2020 Erscheinungsdatum 08.10.2020 Nr. 127/2020 Urteil vom 8. Oktober 2020 – III ZR 80/20 Der unter anderem für das Dienstvertragsrecht zuständige III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat entschieden, dass eine Klausel in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen einer Kurklinik, die einen Schadensersatzanspruch für den Fall vorsieht, dass die Patientin einer Mutter-Kind-Kur diese vorzeitig abbricht, unwirksam ist. Sachverhalt Die Beklagte ist Mutter von vier minderjährigen Kindern. Ihre gesetzliche Krankenversicherung bewilligte eine dreiwöchige medizinische Vorsorgemaßnahme in Form einer Mutter-Kind-Kur. Die Beklagte erhielt ein Einladungsschreiben der von der Klägerin betriebenen Klinik, dem die Allgemeinen Geschäftsbedingungen beigefügt waren. Deren Nummer 5.4 lautet wie folgt: "Vorzeitige Abreise (Kündigung), Schadensersatz 5.4.1 Tritt die Patientin, ohne medizinisch nachgewiesene Notwendigkeit, die Abreise vor Beendigung der Maßnahme an, so kann der Einrichtungsträger Ersatz für den erlittenen Schaden verlangen. Der Ersatzanspruch ist unter Berücksichtigung der gewöhnlich ersparten Aufwendungen und möglichen anderweitigen Verwendungen pauschaliert und beträgt 80 % des Tagessatzes für jeden vorzeitig abgereisten Tag. Es bleibt der Patientin unbenommen, den Nachweis zu führen, dass kein oder ein geringerer Schaden entstanden ist. 5.4.2 Das Recht zur fristlosen Kündigung aus wichtigem Grund gem. § 626 BGB bleibt hiervon unberührt." Die Beklagte bestätigte durch ihre Unterschrift, die Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Klägerin erhalten zu haben und diese anzuerkennen. Beigefügte Fragebögen zur Vorbereitung der Therapie füllte sie aus und sandte sie – zusammen mit dem unterschriebenen Exemplar der Allgemeinen Geschäftsbedingungen – an die Klägerin zurück. Die Beklagte trat die bis zum 21. März 2018 vorgesehene Kur am 28. Februar 2018 zusammen mit ihren vier Kindern an, brach sie jedoch zehn Tage vor dem regulären Ende aus Gründen, die zwischen den Parteien streitig sind, vorzeitig ab. Die Klägerin nahm die Beklagte daraufhin auf Schadensersatz in Höhe von 3.011,20 € in Anspruch. Prozessverlauf Das Amtsgericht hat die auf Zahlung des vorgenannten Betrags nebst Zinsen gerichtete Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hat keinen Erfolg gehabt. Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt sie ihre Klageanträge weiter. Entscheidung des Bundesgerichtshofs Der III. Zivilsenat hat die Revision der Klägerin zurückgewiesen. Die Klägerin hat keinen Anspruch gegen die Beklagte auf die verlangte Zahlung. Die Beklagte konnte die Kur durch konkludente Kündigung gemäß § 627 Abs. 1 BGB auch ohne besonderen Grund vorzeitig beenden, so dass die Klägerin nach § 628 Abs. 1 Satz 1 BGB nur Anspruch auf Vergütung der bis zum Abbruch erbrachten Leistungen hat. Zwischen der Klägerin und der Beklagten war ein Vertrag über die Durchführung einer Mutter-Kind-Kur (§ 24 Abs. 1 SGB V) zustande gekommen, der jedenfalls nach seinem inhaltlichen Schwerpunkt als Behandlungsvertrag im Sinne des § 630a BGB und damit als besonderes Dienstverhältnis zu qualifizieren ist. Dieses unterliegt dem jederzeitigen Kündigungsrecht der Patientin, da die von der Klinik geschuldeten Leistungen im Sinne des § 627 Abs. 1 BGB Dienste höherer Art sind, die auf Grund besonderen Vertrauens übertragen zu werden pflegen. Die von § 627 Abs. 1, § 628 Abs. 1 BGB abweichende Nummer 5.4.1 der Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Klägerin ist unwirksam, weil sie gemäß § 307 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Nr. 1 BGB mit den wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung – dem "freien" und sanktionslosen Kündigungsrecht bei Diensten höherer Art, die auf besonderem Vertrauen beruhen – nicht zu vereinbaren ist. Überdies ist sie mit dem Grundgedanken des § 280 Abs. 1 BGB unvereinbar, nach dem vertragliche Schadensersatzansprüche eine zu vertretende Pflichtverletzung des Schuldners – hier der Patientin – voraussetzen. Eine Einschränkung auf diese Fälle sieht die Klausel aber nicht vor. Vorinstanzen: AG Strausberg, Urteil vom 16. April 2019 – 10 C 17/19 LG Frankfurt (Oder), Urteil vom 1. April 2020 – 16 S 249/19 Die maßgeblichen Vorschriften lauten: § 280 BGB Schadensersatz wegen Pflichtverletzung (1) 1Verletzt der Schuldner eine Pflicht aus dem Schuldverhältnis, so kann der Gläubiger Ersatz des hierdurch entstehenden Schadens verlangen. 2Dies gilt nicht, wenn der Schuldner die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat. § 627 BGB Fristlose Kündigung bei Vertrauensstellung (1) Bei einem Dienstverhältnis, das kein Arbeitsverhältnis im Sinne des § 622 ist, ist die Kündigung auch ohne die in § 626 bezeichnete Voraussetzung zulässig, wenn der zur Dienstleistung Verpflichtete, ohne in einem dauernden Dienstverhältnis mit festen Bezügen zu stehen, Dienste höherer Art zu leisten hat, die auf Grund besonderen Vertrauens übertragen zu werden pflegen. § 628 BGB Teilvergütung und Schadensersatz bei fristloser Kündigung (1) 1Wird nach dem Beginn der Dienstleistung das Dienstverhältnis auf Grund des § 626 oder des § 627 gekündigt, so kann der Verpflichtete einen seinen bisherigen Leistungen entsprechenden Teil der Vergütung verlangen. 2Kündigt er, ohne durch vertragswidriges Verhalten des anderen Teiles dazu veranlasst zu sein, oder veranlasst er durch sein vertragswidriges Verhalten die Kündigung des anderen Teiles, so steht ihm ein Anspruch auf die Vergütung insoweit nicht zu, als seine bisherigen Leistungen infolge der Kündigung für den anderen Teil kein Interesse haben. 3Ist die Vergütung für eine spätere Zeit im Voraus entrichtet, so hat der Verpflichtete sie nach Maßgabe des § 346 oder, wenn die Kündigung wegen eines Umstands erfolgt, den er nicht zu vertreten hat, nach den Vorschriften über die Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung zurückzuerstatten. § 630a BGB Vertragstypische Pflichten beim Behandlungsvertrag (1) Durch den Behandlungsvertrag wird derjenige, welcher die medizinische Behandlung eines Patienten zusagt (Behandelnder), zur Leistung der versprochenen Behandlung, der andere Teil (Patient) zur Gewährung der vereinbarten Vergütung verpflichtet, soweit nicht ein Dritter zur Zahlung verpflichtet ist. § 24 SGB V Medizinische Vorsorge für Mütter und Väter (1) 1Versicherte haben unter den in § 23 Abs. 1 genannten Voraussetzungen Anspruch auf aus medizinischen Gründen erforderliche Vorsorgeleistungen in einer Einrichtung des Müttergenesungswerks oder einer gleichartigen Einrichtung; die Leistung kann in Form einer Mutter-Kind-Maßnahme erbracht werden. 2Satz 1 gilt auch für Vater-Kind-Maßnahmen in dafür geeigneten Einrichtungen. 3Vorsorgeleistungen nach den Sätzen 1 und 2 werden in Einrichtungen erbracht, mit denen ein Versorgungsvertrag nach § 111a besteht. 4§ 23 Abs. 4 Satz 1 gilt nicht; § 23 Abs. 4 Satz 2 gilt entsprechend. Karlsruhe, den 8. Oktober 2020 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Urteil des III. Zivilsenats vom 8.10.2020 - III ZR 80/20 -
Tenor Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landgerichts Frankfurt (Oder) - 6. Zivilkammer - vom 1. April 2020 wird zurückgewiesen.Die Klägerin hat die Kosten des Revisionsrechtszugs zu tragen.Von Rechts wegen. Tatbestand Die Klägerin begehrt von der Beklagten Schadensersatz wegen vorzeitigen Abbruchs einer stationären medizinischen Vorsorgemaßnahme.Die Beklagte ist alleinerziehende Mutter von vier minderjährigen Kindern. Mit Schreiben vom 11. Dezember 2017 bewilligte die A. bei der die Beklagte gesetzlich krankenversichert ist, eine dreiwöchige medizinische Vorsorgemaßnahme in Form einer Mutter-Kind-Kur und bestimmte die von der Klägerin in B. betriebene "Rehaklinik W. " als zuständige Einrichtung. Unter dem Datum des 11. Januar 2018 erhielt die Beklagte ein Einladungsschreiben der Klinik, dem die Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Klägerin beigefügt waren und in dem darauf hingewiesen wurde, dass das Klinikfachpersonal zur Gewährleistung eines optimalen Behandlungsverlaufs einen auf die konkreten Bedürfnisse der Beklagten zugeschnittenen individuellen Therapieplan erstellen werde. Nummer 5.4 der Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Klägerin lautet wie folgt:"Vorzeitige Abreise (Kündigung), Schadensersatz 5.4.1 Tritt die Patientin, ohne medizinisch nachgewiesene Notwendigkeit, die Abreise vor Beendigung der Maßnahme an, so kann der Einrichtungsträger Ersatz für den erlittenen Schaden verlangen. Der Ersatzanspruch ist unter Berücksichtigung der gewöhnlich ersparten Aufwendungen und möglichen anderweitigen Verwendungen pauschaliert und beträgt 80 % des Tagessatzes für jeden vorzeitig abgereisten Tag. Es bleibt der Patientin unbenommen, den Nachweis zu führen, dass kein oder ein geringerer Schaden entstanden ist.5.4.2 Das Recht zur fristlosen Kündigung aus wichtigem Grund gem. § 626 BGB bleibt hiervon unberührt."Unter dem 19. Januar 2018 bestätigte die Beklagte durch ihre Unterschrift, die Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Klägerin erhalten zu haben und diese anzuerkennen. Beigefügte Fragebögen füllte sie aus und sandte sie - zusammen mit dem unterschriebenen Exemplar der Allgemeinen Geschäftsbedingungen - an die Klägerin zurück.Die Beklagte trat die bis zum 21. März 2018 vorgesehene Kur am 28. Februar 2018 zusammen mit ihren vier Kindern an, brach sie jedoch zehn Tage vor dem regulären Ende aus Gründen, die zwischen den Parteien streitig sind, vorzeitig ab. Die Klägerin nahm die Beklagte daraufhin auf Schadensersatz in Höhe von 3.011,20 € in Anspruch.Sie hat geltend gemacht, zwischen den Parteien sei ein Behandlungsvertrag zustande gekommen, in den ihre Allgemeinen Geschäftsbedingungen wirksam einbezogen worden seien. Die Klausel Nummer 5.4.1 stelle keine unangemessene Benachteiligung der Beklagten dar. Diese habe die Tagessatzhöhe ohne weiteres bei ihrer Krankenversicherung oder unmittelbar bei der Klägerin erfragen können. Jeder verständige Patient habe erkennen können, dass der der Klägerin zustehende Schadensersatzanspruch umso höher ausfalle, je früher die Behandlung grundlos abgebrochen werde. Die Beklagte sei auf eigene Verantwortung, ohne Zustimmung der Klägerin und ohne medizinische Notwendigkeit vorzeitig abgereist.Das Amtsgericht hat die auf Zahlung des vorgenannten Betrags nebst Zinsen gerichtete Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hat keinen Erfolg gehabt. Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt sie ihre Klageanträge weiter. Gründe Die zulässige Revision ist unbegründet.I.Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt:Der Klägerin stehe der geltend gemachte Schadensersatzanspruch weder aus Nummer 5.4.1 ihrer Allgemeinen Geschäftsbedingungen noch aus § 628 BGB zu. Zwischen den Parteien sei ein privatrechtlicher Behandlungsvertrag im Sinne des § 630a BGB zustande gekommen. Bei der von der Krankenversicherung bewilligten Mutter-Kind-Kur habe es sich um eine medizinische Vorsorgemaßnahme und somit - jedenfalls im Schwerpunkt - um eine medizinische Behandlung eines Patienten gehandelt. Die Beklagte sei gemäß § 630b BGB in Verbindung mit § 627 BGB berechtigt gewesen, den Vertrag jederzeit zu kündigen. Die Klägerin habe sich vertraglich zu Diensten höherer Art verpflichtet. Die zu erbringenden medizinischen und therapeutischen Behandlungsmaßnahmen setzten besondere medizinischwissenschaftliche Sachkunde voraus und beträfen den persönlichen Lebensbereich des Patienten, der dem Arzt beziehungsweise Therapeuten persönlich vertraue. Es habe auch kein dauerndes Dienstverhältnis mit festen Bezügen vorgelegen. Durch ihre vorzeitige Abreise habe die Beklagte das Vertragsverhältnis konkludent gemäß § 627 Abs. 1 BGB gekündigt.Die Klägerin könne den geltend gemachten Schadensersatzanspruch nicht auf Nummer 5.4.1 ihrer Allgemeinen Geschäftsbedingungen stützen. Die Klausel verstoße gegen § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB. Sie schaffe einen eigenen vertraglichen Schadensersatzanspruch, der keine gesetzliche Grundlage habe. Zu den wesentlichen Grundgedanken des dispositiven Rechts gehöre, dass Schadensersatz auf vertraglicher Grundlage nur verlangt werden dürfe, wenn der Schuldner eine Pflichtverletzung begangen habe (§ 280 Abs. 1 BGB). Diese Einschränkung sei der Klausel nicht zu entnehmen. Vielmehr würden von ihrem Wortlaut auch Vertragsbeendigungen nach § 627 BGB erfasst. Danach stehe es dem Dienstberechtigten aber frei, sich jederzeit vom Vertrag zu lösen. Nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs könne das Kündigungsrecht aus § 627 Abs. 1 BGB grundsätzlich nicht wirksam durch Allgemeine Geschäftsbedingungen abbedungen werden (Hinweis auf Senatsurteile vom 9. Juni 2011 - III ZR 203/10, BGHZ 190, 80 Rn. 21 und vom 18. Februar 2016 - III ZR 126/15, BGHZ 209, 52 Rn. 24). Durch die Sanktionierung mit einer Schadensersatzpflicht werde das Recht des Dienstberechtigten, in zulässiger Weise die Konsequenz aus einem - aus welchen Gründen auch immer - eingetretenen Vertrauensverlust zu ziehen, nicht nur geringfügig, sondern unangemessen beschnitten.Ansprüche aus § 628 BGB bestünden ebenfalls nicht. Gemäß § 628 Abs. 1 BGB könne der Dienstverpflichtete nur Vergütung der bis zur Beendigung des Dienstverhältnisses erbrachten Leistungen verlangen. Ein Schadensersatzanspruch aus § 628 Abs. 2 BGB scheitere daran, dass der Beklagten kein vertragswidriges Verhalten vorzuwerfen sei.II.Das Berufungsurteil hält den Angriffen der Revision stand.Die Klägerin kann den geltend gemachten Schadensersatzanspruch weder auf die Klausel Nummer 5.4.1 ihrer Allgemeinen Geschäftsbedingungen noch auf § 280 Abs. 1 BGB stützen. Die streitige Klausel ist gemäß § 307 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1 BGB unwirksam, weil sie bei objektiver Auslegung das jederzeitige Kündigungsrecht der Patientin nach § 627 Abs. 1 BGB ausschließt und darüber hinaus hinsichtlich der infolge vorzeitiger Abreise nicht mehr erbrachten Leistungen einen von einer zu vertretenden Pflichtverletzung unabhängigen, mit den gesetzlichen Wertungen (§ 280 Abs. 1 und §§ 627 f BGB) unvereinbaren vertraglichen Schadensersatzanspruch vorsieht. Da die Beklagte gemäß § 627 Abs.BGB berechtigt war, das Behandlungsverhältnis jederzeit ohne Angabe von Gründen zu kündigen, fehlt es an einer Pflichtverletzung, so dass auch ein Schadensersatzanspruch gemäß § 280 Abs. 1 BGB ausscheidet.1. Ohne Rechtsfehler hat das Berufungsgericht die Voraussetzungen einer Kündigung nach § 627 Abs. 1 BGB sowie das Vorliegen einer (konkludenten) Kündigungserklärung der Beklagten bejaht.Nach § 627 Abs. 1 BGB ist bei einem Dienstverhältnis, das kein Arbeitsverhältnis im Sinne des § 622 BGB ist, die Kündigung auch ohne die in § 626 BGB bezeichnete Voraussetzung zulässig, wenn der zur Dienstleistung Verpflichtete, ohne in einem dauernden Dienstverhältnis mit festen Bezügen zu stehen, Dienste höherer Art zu leisten hat, die auf Grund besonderen Vertrauens übertragen zu werden pflegen.a) Zwischen der Klägerin und der Beklagten ist ein privatrechtlicher Vertrag über die Durchführung einer Mutter-Kind-Kur (§ 24 Abs. 1 SGB V) zustande gekommen, der jedenfalls nach seinem inhaltlichen Schwerpunkt als Behandlungsvertrag im Sinne des § 630a BGB und damit als besonderes Dienstverhältnis zu qualifizieren ist.aa) Der Vertragsschluss ist darin zu sehen, dass die Beklagte nach Erhalt des Einladungsschreibens der Klägerin vom 11. Januar 2018 die erbetenen Auskünfte erteilt und die übersandten Allgemeinen Geschäftsbedingungen durch ihre Unterschrift akzeptiert hat. Unerheblich ist, dass die Beklagte nicht privat, sondern gesetzlich krankenversichert ist. § 630a Abs. 1 BGB stellt nunmehr klar, dass ein privatrechtlicher Behandlungsvertrag zwischen dem Behandelnden und dem Patienten auch dann zustande kommt, wenn der Patient zur Gewährung der vereinbarten Vergütung nicht verpflichtet ist, weil einen Dritten - die gesetzliche Krankenversicherung - diese Zahlungspflicht trifft (vgl. nur MüKoBGB/Wagner, 8. Aufl., § 630a Rn. 16; Palandt/Weidenkaff, BGB, 79. Aufl., Vorbem. vor § 630a Rn. 4; Spickhoff/Spickhoff, Medizinrecht, 3. Aufl., BGB, § 630a Rn. 20).bb) Die in der Klinik der Klägerin im Rahmen der Mutter-Kind-Kur zu erbringenden medizinischen Vorsorgeleistungen stellen unzweifelhaft eine "medizinische Behandlung" im Sinne des § 630a Abs. 1 BGB dar. § 24 Abs. 1 SGB V gewährt Müttern (und Vätern) einen Anspruch auf stationäre medizinische Leistungen in Einrichtungen des Müttergenesungswerks oder vergleichbaren Einrichtungen, wenn ihre Gesundheit insbesondere wegen gesundheitlicher Belastungen gefährdet ist, die aus der Versorgung von Kindern resultieren (Schütze in Schlegel/Voelzke, juris-PK-SGB V, 4. Aufl., § 24 SGB V Rn. 14 [Stand: 15. Juni 2020]). Bei einem Vertrag über eine stationäre Mutter-Kind-Kur steht somit die medizinische Behandlung im Vordergrund, so dass die damit verbundenen miet- und werkvertraglichen Elemente (z.B. Gewährung von Unterkunft und Verpflegung) für die rechtliche Einordnung nicht entscheidend sind. Es entspricht ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung, dass gemischte Verträge grundsätzlich dem Recht des Vertragstyps zu unterstellen sind, in dessen Bereich der Schwerpunkt des Rechtsgeschäfts liegt (vgl. nur Senatsurteile vom 8. Oktober 2009 - III ZR 93/09, NJW 2010, 150 Rn. 16; vom 12. Januar 2017 - III ZR 4/16, NJW-RR 2017, 622 Rn. 10 und vom 15. März 2018 - III ZR 126/17, NJW-RR 2018, 683 Rn. 11; jeweils mwN; s. auch Spickhoff aaO Rn. 25 f zum Krankenhausvertrag).b) § 630b BGB stellt klar, dass der Behandlungsvertrag ein besonderer Dienstvertrag ist, auf den die allgemeinen Vorschriften der §§ 611 ff BGB anwendbar sind, soweit sie nicht durch §§ 630a ff BGB, nach allgemeinen Grundsätzen durch andere Regelungen oder durch Parteivereinbarungen verdrängt beziehungsweise abbedungen werden. Von vornherein nicht anwendbar sind lediglich Vorschriften, die nur für Arbeitsverhältnisse gelten. Daraus folgt für die Beendigung des Behandlungsverhältnisses, dass §§ 626, 627 und § 628 BGB, die die fristlose Kündigung des Dienstverhältnisses und deren Rechtsfolgen regeln, grundsätzlich gelten. Davon ausgehend hat das Berufungsgericht die Voraussetzungen einer außerordentlichen Kündigung nach § 627 Abs. 1 BGB zutreffend bejaht.aa) Entgegen der Auffassung der Revision leistete die Klägerin Dienste höherer Art. Auf die von der Revision aufgeworfene - und von ihr verneinte - Frage, ob medizinische Leistungen stets Dienste höherer Art darstellen, kommt es dabei nicht an. Solche Dienste können vorliegen bei Tätigkeiten, die besondere Fachkenntnis, Kunstfertigkeit oder wissenschaftliche Bildung voraussetzen. Darüber hinaus erfasst § 627 BGB solche qualifizierten Tätigkeiten, die den persönlichen Lebensbereich betreffen (Senatsurteile vom 13. November 2014 - III ZR 101/14, BGHZ 203, 180 Rn. 12 und vom 10. November 2016 - III ZR 193/16, VersR 2017, 432 Rn. 25; MüKoBGB/Henssler aaO § 627 Rn. 21 ff; jeweils mwN).Für die vertraglich geschuldete Tätigkeit der Klägerin sind besonders qualifizierte Fähigkeiten und Kenntnisse erforderlich. Sie hatte im Rahmen der dreiwöchigen Mutter-Kind-Kur komplexe medizinisch begründete Vorsorgeleistungen auf der Grundlage eines individuellen Therapieplans zu erbringen. Die maßgeblichen Rechtsgrundlagen sind § 23 Abs. 1, § 24 und § 107 Abs. 2 Nr. 2 SGB V. Danach haben Mütter (und Väter) - wie bereits ausgeführt - einen Anspruch auf stationäre Versorgung in einer speziellen Vorsorgeeinrichtung, mit der ein Vertrag nach § 111a SGB V besteht. Regelungszweck ist der Einsatz von Leistungen der stationären Versorgung, die auf spezifische gesundheitliche Belastungen von Müttern und Vätern zugeschnitten und zur Aufrechterhaltung der Gesundheit der Versicherten erforderlich sind, weil auf andere Weise eine in einen krankhaften und behandlungsbedürftigen Zustand umschlagende Verschlechterung des Gesundheitszustands nicht abzuwenden ist (Schütze in Schlegel/Voelzke aaO Rn. 15). Die Leistungen sollen fachlichmedizinisch unter ständiger ärztlicher Verantwortung und unter Mitwirkung von besonders geschultem Personal darauf gerichtet sein, den Gesundheitszustand von Müttern und Vätern nach einem ärztlichen Behandlungsplan vorwiegend durch Anwendung von Heilmitteln (einschließlich Krankengymnastik, Bewegungstherapie, Sprachtherapie oder Arbeits- und Beschäftigungstherapie), ferner durch andere geeignete Hilfen, auch durch geistige oder seelische Einwirkungen, zu verbessern und den Patienten bei der Entwicklung eigener Abwehr- und Heilungskräfte zu helfen (vgl. § 107 Abs. 2 Nr. 2 SGB V). Der Vorsorgeeinrichtung obliegen demnach interdisziplinär zu erbringende, auf einem Vorsorgekonzept beruhende Komplexleistungen unter ärztlicher Leitung (Schütze in Schlegel/Voelzke aaO Rn. 22). Dementsprechend hat die Klägerin bereits vor Antritt des Kuraufenthalts umfangreiche Auskünfte zur Vorbereitung eines "optimalen Behandlungsprozesses" bei der Beklagten eingeholt und auf die Notwendigkeit der Erstellung eines individuellen Therapieplans hingewiesen. Vor diesem Hintergrund ist die Wertung des Berufungsgerichts, für die vertraglich geschuldete Tätigkeit der Klägerin seien besonders qualifizierte Fähigkeiten und Kenntnisse in medizinischer und therapeutischer Hinsicht erforderlich gewesen, nicht zu beanstanden.Das Berufungsgericht ist auch zutreffend davon ausgegangen, dass die auf einem individuellen Behandlungsplan beruhenden medizinischen und therapeutischen Maßnahmen den unmittelbaren persönlichen Lebensbereich der Beklagten betrafen. Soweit die Revision meint, bei einem Vertrag über eine Mutter-Kind-Kur stehe nicht die medizinische Behandlung, sondern das Kurkonzept als Ganzes im Vordergrund, das unter anderem etwaige Freizeitaktivitäten, die leibliche Verpflegung und die baulichen Gegebenheiten (z.B. Vorhandensein eines Schwimm- oder Thermalbads) umfasse, unterliegt sie einer Fehlvorstellung über das Wesen und den Charakter von aus medizinischen Gründen erforderlichen Vorsorgeleistungen im Sinne des § 24 SGB V.bb) Zutreffend ist das Berufungsgericht auch davon ausgegangen, dass die von der Klägerin zu leistenden qualifizierten Dienste auf Grund besonderen Vertrauens übertragen zu werden pflegen. Das besondere Vertrauensverhältnis muss auf einem persönlichen Vertrauen basieren, das sich nicht lediglich auf die Sachkompetenz des Vertragspartners, sondern auch auf dessen Person erstreckt. Der Ausführung der Tätigkeit muss eine persönliche Beziehung (Bindung) zwischen den Vertragspartnern zugrunde liegen. Hierbei kommt es allerdings nicht darauf an, ob im konkreten Fall diese Voraussetzung vorliegt, sondern ob die Dienste im Allgemeinen, ihrer Art nach, nur infolge besonderen Vertrauens übertragen zu werden pflegen. Bei gesundheitsbezogenen Diensten - wie im vorliegenden Fall - ist diese Voraussetzung regelmäßig erfüllt (Senatsurteile vom 13. November 2014 aaO Rn. 13 f und vom 10. November 2016 aaO Rn. 34). Die Durchführung komplexer medizinischer und therapeutischer Behandlungsmaßnahmen auf der Grundlage eines zuvor erarbeiteten individuellen Therapieplans ist ohne eine besondere Vertrauensbeziehung zwischen dem Behandelnden und dem Patienten nicht vorstellbar. Zutreffend und im Einklang mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung hat das Berufungsgericht daher angenommen, dass die Patientin im Rahmen einer Mutter-Kind-Kur dem behandelnden Arzt beziehungsweise Therapeuten besonderes persönliches Vertrauen entgegenbringt.Allein der Umstand, dass die Klägerin die Vorsorgeleistungen in der Rechtsform einer GmbH und damit als juristische Person erbringt, führt nicht zur Unanwendbarkeit des § 627 BGB. Der besonderes persönliches Vertrauen voraussetzende Charakter der Leistungen wird dadurch nicht verändert. Es ist unerheblich, ob der Einrichtungsträger die Leistungen selbst vornimmt oder durch (Hilfs-)Personen unter seiner Verantwortung vornehmen lässt (vgl. Senatsurteile vom 8. Oktober 2009 - III ZR 93/09, NJW 2010, 150 Rn. 19 und vom 9. Juni 2011 - III ZR 203/10, BGHZ 190, 80 Rn. 17; MüKoBGB/Henssler aaO § 627 Rn. 27).cc) Das Berufungsgericht hat ferner zutreffend gesehen, dass das die Anwendbarkeit des § 627 BGB ausschließende negative Tatbestandsmerkmal des "dauernden Dienstverhältnisses mit festen Bezügen" nicht erfüllt ist. Zwar ist es für ein dauerndes Dienstverhältnis nicht notwendig, dass es auf unbestimmte oder eine bestimmte längere Zeit eingegangen wird. Auch eine kürzere Zeit kann ausreichen, wenn sich nicht aus der Art der übertragenen Aufgabe (z.B. Urlaubs- und Krankheitsvertretung, Aushilfe bei besonderem Arbeitsanfall) eine nur vorübergehende Verbindung ergibt, sondern sich die Verpflichtung auf ständige oder langfristige Aufgaben bezieht. Insoweit kann die Vereinbarung einer Laufzeit von nur einem Jahr die Annahme eines dauernden Dienstverhältnisses rechtfertigen, wenn die Parteien von der Möglichkeit und Zweckmäßigkeit einer Verlängerung ausgehen (Senatsurteile vom 13. November 2014 aaO Rn. 20 und vom 18. Februar 2016 - III ZR 126/15, BGHZ 209, 52 Rn. 26; jeweils mwN). Diese Voraussetzungen sind jedoch im vorliegenden Fall nicht erfüllt. Stationäre medizinische Vorsorgemaßnahmen für Mütter und Väter sollen gemäß § 24 Abs. 2 in Verbindung mit § 23 Abs. 5 Satz 2 SGB V längstens für drei Wochen erbracht werden (es sei denn, eine Verlängerung ist aus medizinischen Gründen dringend erforderlich). Dementsprechend hat die gesetzliche Krankenversicherung gegenüber der Beklagten auch nur eine Kostenübernahmeerklärung für eine dreiwöchige medizinische Vorsorge in Form einer Mutter-Kind-Kur abgegeben. Dieser Zeitraum ist zu kurz, um als dauernd zu gelten.dd) Durch ihre vorzeitige Abreise hat die Beklagte das Behandlungsverhältnis konkludent gemäß § 627 Abs. 1 BGB außerordentlich und fristlos gekündigt. Die Bestimmung ermöglicht beiden Vertragsteilen für den Fall des Vertrauensverlustes - aus welchen Gründen er auch immer eintritt - eine sofortige Beendigung des Vertragsverhältnisses. Das außerordentliche, fristlose Kündigungsrecht liegt letztlich in dem besonderen Vertrauen begründet, auf Grund dessen die von der Vorschrift erfassten Dienste übertragen zu werden pflegen. Bei derartigen, besonders auf persönliches Vertrauen abstellenden, nicht auf eine ständige Tätigkeit gerichteten Dienstverhältnissen soll die Freiheit der persönlichen Entschließung eines jeden Teils im weitesten Ausmaß gewahrt werden (Senatsurteil vom 5. November 1998 - III ZR 226/97, NJW 1999, 276, 278). Dies bedeutet, dass die Beklagte als Dienstberechtigte (Patientin) das Behandlungsverhältnis jederzeit fristlos kündigen konnte, ohne einen Kündigungsgrund darlegen und gegebenenfalls beweisen zu müssen. Anders als beim Dienstverpflichteten unterliegt das Kündigungsrecht des Dienstberechtigten keinen zeitlichen Einschränkungen, da § 627 Abs. 2 BGB (Kündigung zur Unzeit) für ihn nicht gilt. Irgendwelche Verpflichtungen zur Rücksichtnahme bestehen für ihn grundsätzlich nicht (Senat aaO; MüKoBGB/Henssler aaO § 627 Rn. 34).ee) Der Einwand der Revision, das Vertrauen des Einrichtungsträgers auf die Sicherung seiner wirtschaftlichen Existenz stehe einer Kündigung des Kurvertrags gemäß § 627 BGB entgegen, da der Dienstleister nach einer fristlosen Kündigung des Patienten regelmäßig keine Möglichkeit mehr habe, den frei gewordenen Behandlungsplatz an einen zahlungsbereiten Dritten zu vergeben, greift nicht durch. Der Zweck des Kündigungsrechts aus § 627 Abs. 1 BGB besteht - wie unter dd) dargelegt - darin, die Freiheit der persönlichen Entschließung eines jeden Vertragsteils bei auf persönliches Vertrauen ausgerichteten Dienstverhältnissen im weitesten Ausmaß zu gewährleisten. Die Entschließungsfreiheit des Dienstberechtigten tritt nur dort zurück, wo der Dienstverpflichtete auf längere Sicht eine ständige Tätigkeit zu entfalten hat und hierfür eine auf Dauer vereinbarte feste Vergütung erhält, so dass sein Vertrauen auf die Sicherung seiner wirtschaftlichen Existenz schutzwürdig und vorrangig ist (Senatsurteil vom 22. September 2011 - III ZR 95/11, NJW 2011, 3575 Rn. 11; s. auch Senatsurteile vom 13. November 2014 - III ZR 101/14, BGHZ 203, 180 Rn. 19 und vom 18. Februar 2016 - III ZR 126/15, BGHZ 209, 52 Rn. 25). Diese Voraussetzungen sind bei einem dreiwöchigen Kuraufenthalt - wie das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat - nicht erfüllt.ff) Rechtsfolge der berechtigten fristlosen Kündigung der Beklagten nach § 627 Abs. 1 BGB war die Auflösung des Behandlungsverhältnisses mit sofortiger Wirkung. Nach § 628 Abs. 1 Satz 1 BGB kann die Klägerin als Dienstverpflichtete nur einen ihren bisherigen Leistungen entsprechenden Teil der Vergütung verlangen. Für den im Zeitpunkt der Kündigung noch nicht erbrachten Teil der Dienstleistung stehen ihr - anders als im Werkvertragsrecht (§ 648 Satz 2 und 3 BGB) - weder Vergütungs- noch Entschädigungsansprüche zu. Hat der Dienstverpflichtete die Kündigung des Dienstberechtigten durch vertragswidriges Verhalten ausgelöst, entfällt die Vergütungspflicht gemäß § 628 Abs. 1 Satz 2 Fall 2 BGB sogar gänzlich, wenn die bisherigen Leistungen infolge der Kündigung für den Dienstberechtigten kein Interesse mehr haben, weil sie für ihn nutzlos sind (vgl. Senatsurteil vom 13. September 2018 - III ZR 294/16, BGHZ 219, 298 Rn. 17 f, 24 f).2. Die Klägerin kann den geltend gemachten Schadensersatzanspruch nicht auf die Nummer 5.4.1 ihrer Allgemeinen Geschäftsbedingungen stützen, da die Klausel gemäß § 307 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Nr. 1 BGB unwirksam ist.a) Der Senat legt die Klauseln Nummer 5.4.1 und 5.4.2 nach ihrem objektiven Wortlaut dahingehend aus, dass durch die Beschränkung der zulässigen Kündigungsgründe (medizinisch nachgewiesene Notwendigkeit, wichtiger Grund im Sinne des § 626 BGB) das jederzeitige Kündigungsrecht nach § 627 Abs. 1 BGB (konkludent) ausgeschlossen und zugleich bei vorzeitiger Abreise - wenn kein wichtiger Kündigungsgrund vorliegt - ein pflichtverletzungs- und verschuldensunabhängiger Schadensersatzanspruch zugunsten des Einrichtungsträgers begründet wird. Diese Auslegung kann der Senat selbst vornehmen, da Allgemeine Geschäftsbedingungen wie revisible Rechtsnormen zu behandeln und infolgedessen von dem Revisionsgericht frei auszulegen sind (st. Rspr.; vgl. nur Senatsurteile vom 19. April 2018 - III ZR 255/17, NJW 2018, 2117 Rn. 17 und vom 23. August 2018 - III ZR 192/17, NJW 2019, 47 Rn. 16; BGH, Urteil vom 10. Juni 2020 - VIII ZR 289/19, WM 2020, 1840 Rn. 25).Eine derartige Regelung steht in einem erheblichen Gegensatz zu den wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung, von der abgewichen wird (§ 280 Abs. 1, §§ 627 f BGB). Sie benachteiligt den Vertragspartner (Patientin) unangemessen, weil die Klägerin als Verwenderin durch den Ausschluss des Kündigungsrechts nach § 627 Abs. 1 BGB und die Begründung eines von Pflichtverletzung und Verschulden unabhängigen Schadensersatzanspruchs bei vorzeitiger Abreise versucht, durch eine einseitige Vertragsgestaltung missbräuchlich eigene Interessen auf Kosten der Patientin durchzusetzen, ohne von vornherein auch deren Belange hinreichend zu berücksichtigen und ihr einen angemessenen Ausgleich zuzugestehen (vgl. Senatsurteil vom 18. Februar 2016 - III ZR 126/15, BGHZ 209, 52 Rn. 17 mwN).b) Allgemeine Geschäftsbedingungen sind nach ihrem objektiven Inhalt und typischen Sinn einheitlich so auszulegen, wie sie von verständigen und redlichen Vertragspartnern unter Abwägung der Interessen der normalerweise beteiligten Kreise verstanden werden. Dabei sind die Vorstellungen und Verständnismöglichkeiten eines durchschnittlichen, rechtlich nicht vorgebildeten Vertragspartners des Verwenders zugrunde zu legen. Ansatzpunkt für die bei einer Formularklausel gebotene objektive, nicht am Willen der konkreten Vertragspartner zu orientierende Auslegung ist dabei in erster Linie ihr Wortlaut (st. Rspr.; vgl. nur Senatsurteil vom 19. April 2018 aaO Rn. 18; BGH, Urteil vom 10. Juni 2020 aaO Rn. 26, 29; jeweils m. zahlr. wN).Sofern nach Ausschöpfung aller in Betracht kommenden Auslegungsmöglichkeiten Zweifel verbleiben und zumindest zwei Auslegungsergebnisse rechtlich vertretbar sind, kommt die sich zu Lasten des Klauselverwenders auswirkende Unklarheitenregel des § 305c Abs. 2 BGB zur Anwendung. Dabei bleiben allerdings Verständnismöglichkeiten unberücksichtigt, die zwar theoretisch denkbar, praktisch aber fernliegend sind und für die an solchen Geschäften typischerweise Beteiligten nicht ernstlich in Betracht kommen. Diese Auslegungsregel führt im Ergebnis dazu, dass bei einer mehrdeutigen Klausel von den möglichen Auslegungen diejenige zugrunde zu legen ist, die zur Unwirksamkeit der Klausel führt. Denn damit ist die scheinbar "kundenfeindlichste" Auslegung im Ergebnis die dem Kunden günstigste (Senatsurteil vom 19. April 2018 aaO Rn. 20; BGH, Urteil vom 10. Juni 2020 aaO Rn. 28; Palandt/Grüneberg aaO § 305c Rn. 18).c) Die Anwendung der vorstehenden Maßstäbe führt im vorliegenden Fall zu der Auslegung, dass aus der maßgeblichen Sicht eines Durchschnittspatienten nach dem Wortlaut der Klauseln Nummer 5.4.1 und 5.4.2 die jederzeitige (sanktionslose) Kündigungsmöglichkeit gemäß § 627 Abs. 1 BGB ausgeschlossen ist. Denn die darin getroffene Regelung sieht eine zulässige vorzeitige Abreise (Kündigung) nur bei medizinisch nachgewiesener Notwendigkeit (Nr. 5.4.1 Satz 1) oder bei Vorliegen eines (sonstigen) wichtigen Grundes im Sinne des § 626 BGB (Nr. 5.4.2) vor. In allen übrigen Fällen vorzeitiger Abreise soll der Einrichtungsträger Schadensersatz verlangen können. Aus der Festlegung, dass nur besondere (wichtige) Gründe eine vorzeitige Lösung vom Vertrag rechtfertigen können, ist im Umkehrschluss zu folgern, dass eine jederzeitige außerordentliche Kündigung nach § 627 Abs. 1 BGB mit den Rechtsfolgen des § 628 Abs. 1 BGB (insbesondere Vergütungspflicht nur hinsichtlich der erbrachten Leistungen) ausgeschlossen sein soll (vgl. MüKoBGB/Henssler aaO § 627 Rn. 41).Im Gegensatz zum Kündigungsrecht nach § 626 BGB ist § 627 Abs. 1 BGB zwar keine zwingende, sondern eine dispositive Regelung, die grundsätzlich durch eine einzelvertragliche Abrede abbedungen werden kann (Senatsurteile vom 5. November 1998 - III ZR 226/97, NJW 1999, 276, 278 und vom 19. Mai 2005 - III ZR 437/04, NJW 2005, 2543). Es entspricht jedoch der Senatsrechtsprechung und der ganz herrschenden Meinung in der übrigen Rechtsprechung und in der Literatur, dass das außerordentliche Kündigungsrecht des § 627 Abs. 1 BGB durch allgemeine Geschäftsbedingungen grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden kann. § 627 Abs. 1 BGB trägt mit der jederzeitigen Kündigungsmöglichkeit für beide Teile dem gegenseitigen Vertrauensverhältnis in der Weise Rechnung, dass für den Fall des Vertrauensverlustes - aus welchem Grunde er auch immer eintreten sollte - eine sofortige (sanktionslose) Beendigung des Vertragsverhältnisses ermöglicht wird. Mit diesem wesentlichen Grundgedanken des § 627 Abs. 1 BGB wäre es im Sinne des § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB unvereinbar, wenn der Verwender von Allgemeinen Geschäftsbedingungen einen ihm nicht mehr vertrauenden Vertragspartner an dem Dienstverhältnis festhalten könnte (z.B. Senatsurteile vom 5. November 1998 aaO S. 277; vom 19. Mai 2005 aaO; vom 9. Juni 2005 - III ZR 436/04, WM 2005, 1667, 1669; vom 8. Oktober 2010 - III ZR 93/09, NJW 2010, 150 Rn. 23; vom 9. Juni 2011 - III ZR 203/10, BGHZ 190, 80 Rn. 21 und vom 18. Februar 2016 - III ZR 126/15, BGHZ 209, 52 Rn. 24; BGH, Urteil vom 1. Februar 1989 - IVa ZR 354/87, BGHZ 106, 341, 346 f; BeckOGK/Günther, BGB, § 627 Rn. 69 [Stand: 1. August 2020]; MüKoBGB/Henssler aaO § 627 Rn. 44; Palandt/Weidenkaff aaO § 627 Rn. 5; Staudinger/Gutmann, BGB, Neubearbeitung 2019, Anhang zu §§ 305-310 Rn. D 19). Ob und inwieweit Ausnahmen bei geringfügigen (maßvollen) Einschränkungen des Kündigungsrechts in Betracht kommen können (z.B. bei kurzfristiger Absage vereinbarter Arzttermine; vgl. dazu AG Bremen, NJW-RR 1996, 818, 819; AG Nettetal, NJW-RR 2007, 1216, 1217; AG München, BeckRS 2016, 8072; Poelzig, VersR 2007, 1608 ff), braucht hier nicht vertieft zu werden (s. auch BGH, Urteil vom 1. Februar 1989 aaO S. 346, wonach eine differenzierte Betrachtungsweise nicht ausgeschlossen erscheint).Die in der Abbedingung des § 627 Abs. 1 BGB liegende unangemessene Benachteiligung wird im vorliegenden Fall nicht dadurch aufgewogen, dass nach Nummer 5.4.2 der Allgemeinen Geschäftsbedingungen das Recht zur fristlosen Kündigung aus wichtigem Grund gemäß § 626 BGB unberührt bleibt. Denn diesbezüglich würde der (bloße) subjektive Vertrauensschwund zur Auflösung des Vertragsverhältnisses nicht genügen. Die Patientin müsste vielmehr darlegen und gegebenenfalls beweisen, dass die Umstände, die den Vertrauensverlust herbeigeführt haben, auch bei objektiver Betrachtung eine Kündigung aus wichtigem Grund rechtfertigen. Dies würde ihre Rechtsstellung im Vergleich zur Regelung des § 627 Abs. 1 BGB erheblich verschlechtern (vgl. BGH, Urteil vom 1. Februar 1989 aaO S. 347).d) Selbst wenn man den Ausschluss des Kündigungsrechts nach § 627 Abs. 1 BGB außer Betracht lässt, ist die Klausel Nummer 5.4.1 gemäß § 307 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Nr. 1 BGB unwirksam.Sie berechtigt den Einrichtungsträger bei vorzeitiger Abreise der Patientin, für die auf Grund der Kündigung nicht mehr erbrachten Leistungen Schadensersatz in Höhe von "80 % des Tagessatzes für jeden vorzeitig abgereisten Tag" zu verlangen, wenn die vorzeitige Vertragsbeendigung weder auf medizinisch nachgewiesener Notwendigkeit noch auf einem (sonstigen) wichtigen Grund gemäß § 626 BGB beruht. Dieser Schadensersatzanspruch setzt nach dem Wortlaut der Klausel weder eine Pflichtverletzung seitens der Patientin noch Verschulden voraus. Bei kundenfeindlichster Auslegung besteht der Anspruch sogar dann, wenn die Patientin durch vertragswidriges Verhalten des Einrichtungsträgers, das noch nicht die Voraussetzungen eines wichtigen Grundes gemäß § 626 Abs. 1 BGB erfüllt, zur vorzeitigen Abreise veranlasst wird. Von ihrem Wortlaut werden unterschiedslos auch alle vorzeitigen Vertragsbeendigungen erfasst, die auf einem Vertrauensverlust der Patientin beruhen und diese nach § 627 Abs. 1 BGB zur (sanktionslosen) außerordentlichen, fristlosen Kündigung berechtigen. In diesen Fällen steht dem Dienstverpflichteten aber nach § 628 Abs. 1 Satz 1 BGB nur ein seinen bisherigen Leistungen entsprechender Vergütungsanteil zu. Dieser kann bei vertragswidriger Veranlassung der Kündigung durch den Dienstverpflichteten unter den Voraussetzungen des § 628 Abs. 1 Satz 2 Fall 2 BGB sogar gänzlich wegfallen.Es gehört zu den wesentlichen Grundlagen des dispositiven Rechts, dass Schadensersatz auf vertraglicher Grundlage nur verlangt werden kann, wenn der Schuldner eine zu vertretende Pflichtverletzung begangen hat (§ 280 Abs. 1 BGB). Diese Einschränkung ist der Klausel Nr. 5.4.1 nicht zu entnehmen. Sie kann deshalb nicht Grundlage für eine Schadensersatzpauschale sein (vgl. BGH, Urteil vom 8. März 2005 - XI ZR 154/04, BGHZ 162, 294, 301; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 10. Dezember 2007 - I-24 U 110/07, juris Rn. 22). Darüber hinaus ist es mit den vorgenannten wesentlichen Grundgedanken von § 627 Abs. 1 und § 628 Abs. 1 BGB unvereinbar, den Vertragspartner durch eine hohe Vergütungspflicht für nicht erbrachte Leistungen von der Ausübung seines jederzeitigen Kündigungsrechts abzuhalten und ihn somit zu zwingen, das Vertragsverhältnis aus wirtschaftlichen Gründen - trotz des Vertrauensverlusts - fortzusetzen (vgl. MüKoBGB/Henssler aaO § 628 Rn. 55).Die Klausel verpflichtet die Patientin nach allem zu Schadensersatzzahlungen, für die es keine gesetzliche Grundlage gibt. Ohne die Klausel müsste die Patientin für die kündigungsbedingt nicht mehr erbachten Leistungen nichts bezahlen. Dies begründet ihre Unwirksamkeit gemäß § 307 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Nr. 1 BGB.e) Da die Klausel Nummer 5.4.1 gemäß § 307 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Nr. 1 BGB unwirksam ist, kommt es nicht mehr darauf an, ob derartige Pauschalierungsklauseln intransparent (§ 307 Abs. 1 Satz 2 BGB) oder überraschend (§ 305c Abs. 1 BGB) sind. Es kann auch dahinstehen, ob eine Pauschalierung in Höhe von 80 % des mit den Sozialleistungsträgern vereinbarten Tagessatzes einer Inhaltskontrolle nach § 308 Nr. 7 Buchst. a beziehungsweise § 309 Nr.Buchst. a BGB standhält. Denn es fehlt bereits an einem Vergütungs- beziehungsweise Schadensersatzanspruch dem Grunde nach (vgl. BGH, Urteil vom 8. März 2005 aaO; Palandt/Grüneberg aaO § 308 Rn. 39 und § 309 Rn. 24).3. Die Klägerin hat auch keinen Schadensersatzanspruch nach § 280 Abs. 1 BGB. Die Beklagte durfte von ihrem außerordentlichen Kündigungsrecht fristlos Gebrauch machen. § 627 Abs. 2 Satz 2 BGB, wonach eine Kündigung zur Unzeit einen Schadensersatzanspruch begründen kann, gilt nur für den Dienstverpflichteten. Der Dienstberechtigte kann dagegen jederzeit kündigen, ohne dass § 627 Abs. 2 BGB eingreift (MüKoBGB/Henssler aaO § 627 Rn. 33 f).Herrmann Remmert Reiter Kessen Herr Vorinstanzen:AG Strausberg, Entscheidung vom 16.04.2019 - 10 C 17/19 -LG Frankfurt (Oder), Entscheidung vom 01.04.2020 - 16 S 249/19 -
bundesgerichtshof
bgh_062-2020
20.05.2020
Bundesgerichtshof zum Schadensersatzanspruch eines Fußballvereins nach Zwangsabstieg Ausgabejahr 2020 Erscheinungsdatum 20.05.2020 Nr. 062/2020 Beschluss vom 24. April 2020 – II ZR 417/18 Der u.a. für das Vereinsrecht zuständige II. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat über den Anspruch eines Fußballvereins auf Wiederzulassung zur Teilnahme am Spielbetrieb in der Regionalliga nach einem zu Unrecht angeordneten Zwangsabstieg entschieden. Sachverhalt: Der Beklagte führt als regionaler Fußballverband den Spielbetrieb der bei ihm eingerichteten Ligen und Wettbewerbe, u.a. die Regionalliga Nord in der vierthöchsten Spielklasse, durch. Der Kläger ist ein Sportverein, der während der Zeit, in der seine Mannschaft in der Regionalliga Nord spielte, Mitglied des Beklagten war. Derzeit spielt die Mannschaft des Klägers in der siebthöchsten Spielklasse. Im Dezember 2013 beschloss das Präsidium des Beklagten den Zwangsabstieg des Klägers aus der Regionalliga Nord zum Ende der Spielzeit 2013/2014. Der Bundesgerichtshof hat den Zwangsabstiegsbeschluss mit Urteil vom 20. September 2016 für nichtig erklärt (II ZR 25/15, BGHZ 212, 70, siehe auch Pressemitteilung Nr. 163/2016). Der Kläger begehrt nunmehr von dem Beklagten Schadensersatz in Form der Zulassung seiner Mannschaft zum Spielbetrieb der Regionalliga Nord zur nächsten Spielzeit. Bisheriger Prozessverlauf: Die Klage hatte in beiden Instanzen keinen Erfolg. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seinen Antrag auf Zulassung zum Spielbetrieb weiter. Entscheidung des Bundesgerichtshofs: Der Bundesgerichtshof hat die Revision zurückgewiesen. Dem Kläger steht wegen des rechtswidrigen Eingriffs in sein Mitgliedschaftsrecht durch den Zwangsabstieg zwar nach § 249 Abs. 1 BGB ein Anspruch auf Schadensersatz in Form der sogenannten Naturalrestitution zu. Er kann die Herstellung des Zustands verlangen, der bestünde, wenn er nicht zwangsabgestiegen wäre. Nach diesem Grundsatz kann er aber keine Zulassung zur Teilnahme am Spielbetrieb in der nunmehr anstehenden nächsten Spielzeit verlangen. Ihm steht lediglich ein Anspruch darauf zu, so gestellt zu werden, wie er heute stünde, wenn er in der Spielzeit 2014/2015 noch am Spielbetrieb in der Regionalliga Nord teilgenommen hätte. Nach dem insoweit maßgeblichen Regelwerk des Beklagten, d.h. seinem Statut sowie seiner Spielordnung nebst Anhängen, bezieht sich der mit der Mitgliedschaft im Beklagten verbundene Anspruch auf Teilnahme am Zulassungsverfahren für den Spielbetrieb der von der Beklagten veranstalteten Liga nur auf die jeweils anschließende nächste Spielzeit. Der Kläger kann daher nur dann seine Zulassung zum Spielbetrieb der Regionalliga Nord in der nächsten anstehenden Spielzeit verlangen, wenn mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden könnte, dass er bei einer Teilnahme in der Spielzeit 2014/2015 auch heute noch in der Regionalliga Nord spielen würde. Dies hat der Kläger nicht nachgewiesen, wie das Berufungsgericht zu Recht angenommen hat. Insoweit greift weder ein Anscheinsbeweis zu Gunsten des Klägers, dass er nach allgemeiner Lebenserfahrung aufgrund eines typischen Geschehensablaufs über die Spielzeit 2014/2015 hinaus bis heute in der Regionalliga Nord verblieben wäre, noch liegen die Voraussetzungen einer anderen Beweiserleichterung vor. Da die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision nicht gegeben waren, wurde die Revision gem. § 552a ZPO durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung zurückgewiesen. Vorinstanzen: LG Bremen - Urteil vom 25. April 2018 - 9 O 664/17 OLG Bremen - Urteil vom 30. November 2018 - 2 U 44/18 Maßgebliche Normen: § 249 BGB [Art und Umfang des Schadensersatzes] Abs. 1 "Wer zum Schadensersatz verpflichtet ist, hat den Zustand herzustellen, der bestehen würde, wenn der zum Ersatz verpflichtende Umstand nicht eingetreten wäre." Karlsruhe, den 20. Mai 2020 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Beschluss des II. Zivilsenats vom 10.12.2019 - II ZR 417/18 - Beschluss des II. Zivilsenats vom 24.4.2020 - II ZR 417/18 -
Tenor Die Revision des Klägers gegen das Urteil des 2. Zivilsenats des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Bremen vom 30. November 2018 wird zurückgewiesen.Der Kläger trägt die Kosten des Revisionsverfahrens. Gründe Die Revision ist gemäß § 552a Satz 1 ZPO durch Beschluss zurückzuweisen, weil nach einstimmiger Ansicht des Senats die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO) nicht vorliegen und das Rechtsmittel keine Aussicht auf Erfolg hat.Zur Begründung wird auf den Hinweisbeschluss des Senats vom 10. Dezember 2019 Bezug genommen (§ 552a Satz 2, § 522 Abs. 2 Satz 2 und 3 ZPO). Die Stellungnahme des Klägers vom 20. März 2020 gibt keinen Anlass zu einer davon abweichenden Beurteilung.1. Soweit der Kläger geltend macht, ihm stehe nach § 249 Satz 1 BGB ein Anspruch auf Behandlung als Mitglied des Beklagten bei der Vergabe der Spielberechtigung für die nächste Spielzeit zu, weil sich die vom Senat angenommene strenge Bezogenheit auf die jeweilige Spielzeit nach Nr. 1.5 des Anhangs 1 der Spielordnung (Regionalliga-Statut) erkennbar nur auf die Zulassung zum Spielbetrieb der jeweiligen Liga beziehe, nicht aber auf die Mitgliedschaft als solche, für die nur die in § 9 Abs. 3 der Satzung genannten Beendigungsgründe gälten, vermag der Senat dem nicht zu folgen.Dass die Mitgliedschaft im Beklagten nach § 9 Abs. 3 der Satzung nur durch Auflösung, Austritt, Ausschluss oder Abstieg erlischt, besagt nicht, dass sich aus der Mitgliedschaft ein Recht auf Teilnahme am Spielbetrieb unabhängig von der durch das Regionalliga-Statut und die Spielordnung bestimmten sportlichen Qualifikation ergibt. Insoweit ergibt sich - entgegen der Ansicht des Klägers - aus der Satzung des Beklagten, dass sich der aus der Mitgliedschaft im Beklagten folgende Anspruch auf Behandlung als Mitglied bei der Vergabe der Spielberechtigung nur auf die jeweils folgende Spielzeit bezieht. Nach § 7 Abs. 1 der Satzung besteht die Mitgliedschaft von Vereinen der Mitgliedsverbände, die mit einer Mannschaft an den Meisterschaftsspielen u.a. einer der Regionalligen teilnehmen, "für die Dauer ihrer Zugehörigkeit zu diesen Spielklassen". Weiter bestimmen § 7 Abs. 4 und Abs. 5 der Satzung, dass bei Zusammenschluss eines Mitgliedsvereins mit einem anderen Verein oder der Gründung eines neuen Vereins durch die Fußballabteilung eines Mitgliedsvereins das Spielrecht in der Liga, welcher der bisherige Mitgliedsverein angehört hat, und damit die Mitgliedschaft im Beklagten erhalten bleiben bzw. auf den neuen Verein übergehen. Das Spielrecht in der Liga ist aber seinerseits - wie im Hinweisbeschluss des Senats näher ausgeführt - durch die diesbezüglichen Regelungen in der Spielordnung und dem Regionalliga-Statut stets auf die jeweils folgende Spielzeit beschränkt. In Anbetracht der Verknüpfung der Mitgliedschaft im Beklagten mit der Spielberechtigung in der jeweiligen Spielklasse ist demnach auch der aus der Mitgliedschaft folgende Anspruch auf Berücksichtigung im Zulassungsverfahren entsprechend beschränkt.2. Ohne Erfolg wendet der Kläger sich auch dagegen, dass der Senat ihn als darlegungs- und beweispflichtig dafür angesehen hat, dass er ohne den Zwangsabstieg auch heute noch am Spielbetrieb der von der Beklagten veranstalteten Liga teilnehmen würde. Insoweit verweist der Senat zunächst auf seine Ausführungen unter II.2.b) cc) (2) (a) und dd) des Hinweisbeschlusses.Nach Ansicht des Senats ergibt sich auch unter dem Gesichtspunkt der Beweisvereitelung keine Beweiserleichterung für den Kläger oder gar Umkehr der Beweislast zu Lasten des Beklagten. Der Kläger macht insoweit geltend, der Beklagte habe ihm den Nachweis seiner Qualifikation für den Fall des unterbliebenen Zwangsabstiegs nicht nur durch den rechtswidrig beschlossenen Zwangsabstieg, sondern auch dadurch entscheidend erschwert, dass er sich dem noch vor Beginn der Spielzeit 2014/2015 vor dem Verbandsgericht und den ordentlichen Gerichten geltend gemachten Begehren des Klägers auf Aufhebung des Zwangsabstiegs rechtswidrig widersetzt habe. Der Nachweis der fortbestehenden Qualifikation sei naturgemäß umso schwerer zu führen, je länger der maßgebliche Zeitraum sei. Auch wenn dies objektiv zutreffen mag, setzt der Tatbestand der Beweisvereitelung in subjektiver Hinsicht jedoch voraus, dass sich das Verschulden des Betreffenden auch darauf bezieht, die Beweislage des Gegners in einem gegenwärtigen oder künftigen Prozess nachteilig zu beeinflussen (vgl. BGH, Urteil vom 23. September 2003 - XI ZR 380/00, NJW 2004, 222 mwN). Dafür sieht der Senat hier keinen Anhalt.Hinsichtlich des Einwands des Klägers, sein Vortrag zu seiner mehrjährigen durchgehenden Zugehörigkeit zur Regionalliga sogar trotz erfolgter Punktabzüge habe als ausreichender Beweis gewürdigt werden müssen (§ 286 ZPO), wird auf die Ausführungen im Hinweisbeschluss unter II.2. b) cc) (2) (b) Bezug genommen.Drescher Born B. Grüneberg V. Sander von Selle Vorinstanzen:LG Bremen, Entscheidung vom 25.04.2018 - 9 O 664/17 -OLG Bremen, Entscheidung vom 30.11.2018 - 2 U 44/18 -
bundesgerichtshof
bgh_137-2022
21.09.2022
Bundesgerichtshof bestätigt Urteile im Weidener "Flutkanal-Prozess" Ausgabejahr 2022 Erscheinungsdatum 21.09.2022 Nr. 137/2022 Urteil vom 21. September 2022 – 6 StR 47/22 Das Landgericht Weiden i.d. Opf. hat den Angeklagten G und die Angeklagte jeweils wegen Aussetzung mit Todesfolge zu Freiheitsstrafen von fünf Jahren und sechs Monaten bzw. vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Den Angeklagten Go hat es wegen unterlassener Hilfeleistung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Nach den Feststellungen des Landgerichts fuhren der 22-jährige Geschädigte und die etwa gleichaltrigen Angeklagten in eine Shisha-Bar nach Weiden i.d. OPf. Mit Ausnahme des als Fahrer fungierenden Angeklagten Go konsumierten alle erhebliche Mengen an Alkohol. Beim Verlassen der Bar mussten sein bester Freund, der Angeklagte G, und die Angeklagte dem zudem mit einem synthetischen Cannabinoid intoxikierten Geschädigten beim Anziehen der Jacke und beim Laufen helfen. Der Angeklagte Go blieb insoweit untätig. Er wurde durch den Geschädigten auf dem Weg zum Parkhaus kurzzeitig verbal und körperlich angegriffen, woraufhin er Distanz zu diesem wahrte. Am Parkhaus angekommen verließ der Geschädigte unbemerkt die Gruppe und stürzte eine Böschung am nahegelegenen Flutkanal hinab. Dort fanden ihn die Angeklagten wenig später bäuchlings am Ufer liegend, schluchzend und um Hilfe bittend. Während der Angeklagte Go oberhalb der Böschung blieb, stiegen die anderen beiden zum Ufer hinab. Obwohl allen Angeklagten bewusst war, dass sich ihr Freund und Bekannter in diesem Zustand nicht mehr selbständig würde helfen können, leisteten sie ihm keinen Beistand und riefen keine Hilfe; stattdessen filmte die Angeklagte einige Szenen mit dem Mobiltelefon. Daraufhin versuchte der Geschädigte über mehrere Sekunden hinweg, sich selbst aufzurichten, wobei er schließlich begleitet von dem Lachen der Angeklagten in den Flutkanal fiel. Mit unkoordinierten Bewegungen entfernte er sich aus deren Sichtfeld und ertrank innerhalb der nächsten Minuten. Nach einigem Suchen traten die Angeklagten den Heimweg an. Sie schrieben noch in der Nacht und am Morgen des Folgetages Nachrichten an den Geschädigten und erkundigten sich nach dessen Verbleib und Wohlergehen. Das Verhalten des Angeklagten G und der Angeklagten hat das Landgericht als Aussetzung mit Todesfolge (§ 221 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 3 StGB) gewertet. Es vermochte sich nicht davon zu überzeugen, dass sie auch mit dem Eintritt des Todes rechneten und sich damit abfanden (§ 212 Abs. 1, § 13 Abs. 1 StGB). Bezüglich des Angeklagten Go hat es nur eine unterlassene Hilfeleistung (§ 323c Abs. 1 StGB) als erfüllt angesehen, weil diesen keine spezifischen Obhuts- und Beistandspflichten trafen. Die auf die Revisionen des Angeklagten G und der Angeklagten sowie der Nebenkläger erfolgte rechtliche Überprüfung durch den 6. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat keine durchgreifenden Rechtsfehler zum Vor- oder Nachteil der Angeklagten ergeben. Das Urteil ist damit rechtskräftig. Vorinstanz: LG Weiden i.d. Opf. - Urteil vom 20. August 2021 – 1 Ks 21 Js 8059/20 Die maßgeblichen Vorschriften des StGB lauten: § 13 Begehen durch Unterlassen (1) Wer es unterlässt, einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört, ist nach diesem Gesetz nur dann strafbar, wenn er rechtlich dafür einzustehen hat, dass der Erfolg nicht eintritt, und wenn das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun entspricht. […] § 212 Totschlag (1) Wer einen Menschen tötet, ohne Mörder zu sein, wird als Totschläger mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft. […] § 221 Aussetzung (1) Wer einen Menschen 1. in eine hilflose Lage versetzt oder 2. in einer hilflosen Lage im Stich lässt, obwohl er ihn in seiner Obhut hat oder ihm sonst beizustehen verpflichtet ist, und ihn dadurch der Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung aussetzt, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. […] (3) Verursacht der Täter durch die Tat den Tod des Opfers, so ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren. […] § 323c Unterlassene Hilfeleistung; Behinderung von hilfeleistenden Personen (1) Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. […] Karlsruhe, den 21. September 2022 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Urteil des 6. Strafsenats vom 21.9.2022 - 6 StR 47/22 -
Tenor 1. Die Revisionen der Angeklagten Gr.   und Mo.      sowie die Revisionen der Nebenkläger gegen das Urteil des Landgerichts Weiden i.d.OPf. vom 20. August 2021 werden verworfen.2. Jeder Beschwerdeführer trägt die Kosten seines Rechtsmittels. Die Nebenkläger tragen die dem Angeklagten G.      im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen.- Von Rechts wegen - Gründe Das Landgericht hat die Angeklagten Gr.   und Mo.       wegen Aussetzung mit Todesfolge zu Freiheitsstrafen von fünf Jahren und sechs Monaten bzw. vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Den Angeklagten G.      hat es wegen unterlassener Hilfeleistung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Die Revisionen der Angeklagten Gr.   und Mo.      sowie der Nebenkläger haben keinen Erfolg.I.1. Das Landgericht hat festgestellt:Der Angeklagte Gr.  war der beste Freund des Geschädigten und ein ehemaliger Arbeitskollege der Angeklagten Mo.     , der Angeklagte G.        ein guter Bekannter aus dem gemeinsamen Freundeskreis.Zusammen fuhren sie am Abend des 11. September 2020 in eine Bar. Sämtliche Beteiligte konsumierten an den Wochenenden regelmäßig beträchtliche Mengen an Alkohol, nicht selten bis zum Eintritt von Rauschzuständen. Bereits während der Anfahrt tranken sie Bier und Wein. In der Bar bestellten sie neben drei Shisha-Pfeifen unter anderem eine Flasche Wodka. Von dieser trank der von den Angeklagten Gr.   und Mo.      hierzu animierte Geschädigte derart viel, dass er auf dem Weg zur Toilette stürzte, die glühende Kohle einer Shisha-Pfeife mit der bloßen Hand aufnahm, vom Stuhl rutschte und eine zeitlang auf dem Boden liegen blieb. Der Angeklagte G.        hingegen, der an diesem Abend als Fahrer fungierte, trennte sich nach kurzer Zeit von der Gruppe und kehrte erst zurück, als er von dem Angeklagten Gr.  verständigt wurde, um den gemeinsamen Heimweg anzutreten.Beim Verlassen der Bar benötigte der Geschädigte Hilfe beim Anziehen seiner Jacke und beim Treppensteigen, die er von den Angeklagten Gr.  und Mo.       erfuhr. Andere Gäste der Bar sahen vor diesem Hintergrund davon ab, dem Geschädigten zu helfen. Der Angeklagte G.        unterstützte weder die Mitangeklagten noch entfaltete er eigene Bemühungen. Vielmehr wurde er von dem Geschädigten auf dem Weg zum Parkhaus zunächst verbal und dann auch körperlich angegriffen. Nachdem der Angeklagte G.      den Geschädigten ohne große Kraftanstrengung zu Boden gebracht hatte, lief er vorweg, während jener, stark schwankend, in seinem Zustand völlig hilflos und zu keiner Risikoabwägung mehr fähig, abwechselnd von den Angeklagten Mo.       und Gr.   beim Laufen gestützt und an der Hand geführt wurde.Während die Gruppe einige Minuten vor dem Parkhaus stand, entfernte sich der Geschädigte unbemerkt. Er stürzte hinter dem Parkhaus eine Böschung hinab und blieb bäuchlings am Ufer eines Flutkanals liegen, wo die Angeklagten ihn wenig später fanden. Der Angeklagte G.        verblieb oberhalb der vier Meter hohen Böschung, die anderen beiden stiegen zu dem Geschädigten hinab, der seinen Kopf kaum heben konnte, schluchzte und mehrfach stöhnend gegenüber der Angeklagten Mo.      äußerte: "      mir geht’s nicht gut". Diese filmte mit Gr.  s Mobiltelefon einige Szenen.Obwohl den Angeklagten bewusst war, dass sich der Geschädigte nicht mehr selbständig helfen konnte, unternahmen sie mehrere Minuten lang keine Anstrengungen, um diesem beizustehen. Der Angeklagte G.       forderte die anderen zwar auf, den Geschädigten die Böschung hinaufzubringen. Er setzte jedoch seine Ankündigung, einen Notruf abzusetzen, nicht um und unternahm auch sonst nichts. Nachdem ihm nicht geholfen worden war, versuchte der Geschädigte mindestens fünf Sekunden lang, sich selbst aufzurichten, wobei er schließlich in den mehrere Meter breiten Flutkanal fiel. Währenddessen lachte jedenfalls die Angeklagte Mo.      laut auf. Der Angeklagte G.        schrieb derweil über das Geschehen eine Textnachricht an einen Bekannten. Der Geschädigte, der sich nur kurzzeitig mit unkontrollierten Bewegungen über Wasser halten konnte, entfernte sich aus dem Sichtfeld der Angeklagten und ertrank innerhalb der nächsten Minuten.Die Angeklagten suchten ihn einige Zeit im Bereich des Parkhauses und der Einsturzstelle, bevor sie den Heimweg antraten. Noch in der Nacht schrieb der Angeklagte Gr.   Nachrichten an den Geschädigten und fragte nach dessen Verbleib. Am nächsten Morgen erkundigte sich die Angeklagte Mo.      per ebenfalls an den Geschädigten gerichteter SMS nach dessen Wohlergehen. Der Leichnam wurde am Abend dieses Tages nahe der Stelle gefunden, an der der Geschädigte ins Wasser gefallen war.Der Verstorbene wies zum Todeszeitpunkt eine Blutalkoholkonzentration von 2,36 Promille sowie eine erhebliche Konzentration des Cannabimimetikums FUB-AMB auf. Der Angeklagte Gr.  hatte zum Tatzeitpunkt eine Blutalkoholkonzentration von 0,8 bis 1,5 Promille und die Angeklagte Mo.       eine solche von höchstens 1,2 Promille, während der Angeklagte G.        nüchtern war.2. Das Landgericht hat das Verhalten der Angeklagten Gr.  und Mo.       als Aussetzung mit Todesfolge (§ 221 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 3 StGB) gewertet. Es hat sich nicht davon zu überzeugen vermocht, dass sie mit der Realisierung der Todesgefahr rechneten und sich mit dem Tod ihres Freundes abfanden oder diesem auch nur gleichgültig gegenüberstanden (§ 212 Abs. 1, § 13 Abs. 1 StGB). Hinsichtlich des Angeklagten G.      hat es lediglich den Tatbestand der unterlassenen Hilfeleistung (§ 323c Abs. 1 StGB) als erfüllt angesehen, weil er keine nach den Maßstäben der Garantenstellung begründeten Obhuts- und Beistandspflichten gehabt habe.II. Revisionen der Angeklagten Gr.  und Mo.1. Die Verfahrensrügen der Angeklagten Mo.      dringen nicht durch.a) Soweit sich die Revision gegen die Zurückweisung von Anträgen auf eine weitergehende Auswertung des Mobiltelefons des Geschädigten und die Einholung eines (weiteren) rechtsmedizinischen Gutachtens zu möglichen Schwimmbewegungen des Geschädigten wendet, sind diese Rügen unzulässig. Die Revision teilt in den Anträgen in Bezug genommene Dokumente, insbesondere den Untersuchungsbericht des sachverständigen Zeugen H.         vom 21. April 2021 (bezüglich der Auswertung des Mobiltelefons) sowie zwei Gutachten und ein Ergänzungsgutachten des Rechtsmediziners   Be.  (bezüglich möglicher Schwimmbewegungen) nicht im maßgeblichen Umfang mit (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO).b) Die Anträge auf Einholung einer 3D-Scan-Ausmessung des Tatortes und auf Auswertung des Mobiltelefons des Geschädigten dahingehend, dass dieser regelmäßig seine Glukosewerte abgefragt habe, stellen mangels konkret bezeichneter Beweistatsachen nur Beweisermittlungsanträge dar. Dem steht nicht entgegen, dass das Landgericht den ersten Antrag teilweise als Beweisantrag behandelt und wegen Bedeutungslosigkeit abgelehnt hat (vgl. BGH, Urteil vom 22. Juli 2015 - 2 StR 318/14 Rn. 21). Auch die Aufklärungspflicht gebot die Beweiserhebung nicht.c) Soweit die Beschwerdeführerin mit zwei weiteren Rügen die Ablehnung der Einholung von Sachverständigengutachten zu näher bezeichneten Beweistatsachen im Zusammenhang mit der Taschenlampen- und Videofunktion des Mobiltelefons des Angeklagten Gr.  beanstandet, entspricht das Vorbringen nicht den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO, weil die Revision es versäumt, mit der ersten Rüge das Bild aus dem Extraktionsbericht und mit der zweiten Rüge einen vorhergehenden Beweisantrag vorzulegen, auf den sowohl der Beweisantrag als auch die ablehnende Entscheidung der Strafkammer Bezug nehmen (vgl. BGH, Beschluss vom 25. September 1986 - 4 StR 496/86, NStZ 1987, 36).d) Die Rüge, die sich gegen die Nichtbescheidung des Antrags auf Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Auswertung der Schrittzählerfunktion des Mobiltelefons der Angeklagten wendet, ist unzulässig, weil die relevanten Verfahrenstatsachen nicht mit Bestimmtheit behauptet, sondern lediglich als möglich dargestellt werden (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Oktober 2014 - 1 StR 352/14; grundlegend RGSt 48, 288, 289).e) Unzulässig erhoben sind auch die insgesamt drei Rügen, mit denen die Beschwerdeführerin die Ablehnung ihrer Anträge beanstandet, ein weiteres Sachverständigengutachten zu ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit einzuholen. Die Rüge, die Ablehnung der Einholung eines biomechanischen Gutachtens verletze § 244 Abs. 3 Satz 3 StPO, genügt den Darlegungsanforderungen nicht, weil die Revision die Begründung des Beweisantrags nur auszugsweise mitteilt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 9. April 2019 − 4 StR 38/19, NStZ 2020, 758; vom 11. Mai 2021 - 5 StR 110/21). Soweit die Revision bemängelt, ein Antrag sei "inhaltlich" nicht beschieden worden, weil sich das Landgericht nicht mit dem eigentlichen Beweisziel auseinandergesetzt habe, fehlt die Mitteilung weiterer Tatsachen, die hier erforderlich gewesen wäre (vgl. BGH, Beschlüsse vom 12. August 1999 - 3 StR 277/99, NStZ 2000, 49, 50; vom 1. April 2004 - 1 StR 101/04, NStZ 2005, 222, 223; BeckOK StPO/Wiedner, 44. Edition, April 2022, § 344 Rn. 71). Die Revision verhält sich weder zu einer Beanstandung der Ablehnungsentscheidung, einem ergänzenden bzw. klarstellenden Beweisantrag noch zu einem erklärten Verzicht auf die weitere Beweiserhebung oder einer anderweitigen Erledigung des Beweisantrages (vgl. BGH, Urteile vom 17. Februar 1987 - 5 StR 552/86; vom 28. Januar 2003 - 5 StR 378/02, NStZ 2003, 381). Hinsichtlich des dritten Antrags folgt die Unzulässigkeit daraus, dass der Ablehnungsbeschluss des Landgerichts Bezug auf den vorangegangenen Ablehnungsbeschluss nimmt, die Revision diesen jedoch nicht (nochmals) vorlegt (vgl. BGH, Beschluss vom 25. September 1986 - 4 StR 496/86, aaO).f) Schließlich lässt die Ablehnung der beantragten Einholung eines schalltechnischen Gutachtens zur Hörbarkeit etwaiger Hilferufe wegen eigener, durch den vorangegangenen Augenschein und die Angaben von Passanten vermittelter Sachkunde keinen Verstoß gegen § 244 Abs. 4 Satz 1 StPO erkennen (vgl. BGH, Urteil vom 22. Januar 1998 - 4 StR 100/97, NStZ 1998, 366; Beschluss vom 12. Januar 2010 - 3 StR 436/09, NStZ 2010, 586).2. Die aufgrund der Sachrüge veranlasste materiell-rechtliche Überprüfung des Urteils hat hinsichtlich des Schuldspruchs keinen Rechtsfehler aufgedeckt. Näherer Erörterung bedürfen lediglich nachfolgende Umstände:a) Das Landgericht hat in nicht zu beanstandender Weise eine Obhuts- und Beistandspflicht der Angeklagten Gr.   und Mo.       nach § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB angenommen.aa) Es sind die Grundsätze heranzuziehen, die für die Entstehung der Garantenstellung im Bereich der unechten Unterlassungsdelikte gelten (vgl. BGH, Urteil vom 5. Dezember 1974 - 4 StR 529/74, BGHSt 26, 35, 37). Hilfspflichten wie diejenigen aus § 323c Abs. 1 StGB, die jedermann treffen, reichen zur Begründung einer Beistandspflicht nach § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB nicht aus (vgl. BT-Drucks. 13/9064, S. 14). Sie folgt auch nicht allein daraus, dass einem Verunglückten oder sonst Hilfsbedürftigen Beistand geleistet wird, sondern entsteht erst dann, wenn der Helfende die Situation für den Hilfsbedürftigen wesentlich verändert, namentlich andere, nicht notwendigerweise sichere Rettungsmöglichkeiten ausschließt oder vorher jedenfalls nicht in diesem Maße bestehende Gefahren schafft (vgl. BGH, Urteile vom 5. Dezember 1974 - 4 StR 529/74, aaO S. 39 vom 22. Juni 1993 - 1 StR 264/93; NJW 1993, 2628; vom 11. September 2019 - 2 StR 563/18; vom 31. März 2021 - 2 StR 109/20 Rn. 26; Schönke/Schröder/Bosch, StGB, 30. Aufl., § 13 Rn. 27).bb) So verhält es sich hier. Nach den rechtsfehlerfreien Feststellungen halfen die Angeklagten Gr.   und Mo.      dem "höchstgradig intoxikierten" Geschädigten nicht nur beim Ankleiden, Treppensteigen und Gehen. Indem sie ihn aus dem Lokal führten und stützend zum Parkhaus begleiteten, entfernten sie ihn zugleich aus dem Einflussbereich des Wirtes und weiterer Gäste, die bereits auf seinen hilflosen Zustand aufmerksam geworden waren, sich aufgrund der erkennbaren Unterstützung jedoch nicht zu eigenen Hilfestellungen veranlasst sahen. Hierdurch erhöhten sich die dem Geschädigten außerhalb der Bar drohenden Gefahren wesentlich.cc) Die Pflicht entfiel - anders als die Revision meint - nicht, als der Geschädigte sich am Parkhaus von der Gruppe entfernte. Zwar können die Pflichten einer aus tatsächlicher Übernahme resultierenden Garantenstellung grundsätzlich aufgekündigt oder widerrufen werden. Die Beistandspflicht erlischt aber erst, wenn der auf den Schutz Vertrauende anderweitig eine Gefahrenvorsorge treffen kann (vgl. für den Fall der Aufkündigung durch den Garanten Schönke/Schröder/Bosch, aaO, § 13 Rn. 29), sich nicht mehr in hilfloser Lage befindet (vgl. BGH, Urteil vom 5. Dezember 1974 - 4 StR 529/74, aaO S. 39) oder die Hilfe erkennbar nicht mehr will (vgl. OLG Karlsruhe, JZ 1960, 178, 179; Schönke/Schröder/Bosch, aaO, § 13 Rn. 24; BeckOK StGB/Heuchemer, 54. Edition, August 2022, § 13 Rn. 44), was hier jeweils nicht der Fall war. Denn nach der rechtsfehlerfrei gewonnenen Überzeugung des Landgerichts befand sich der Geschädigte aufgrund seiner erheblichen Intoxikation im Moment des Verlassens der Gruppe in einem Zustand, der erkennbar ein eigenverantwortliches Handeln ausschloss.b) Indem die Angeklagten dem am Uferrand liegenden und um Hilfe flehenden Geschädigten eine aussichtsreiche, ihnen mögliche und zumutbare Hilfeleistung versagten, namentlich, weil sie keinen Notruf absetzten, ihn weder beruhigten noch am Aufstehen hinderten, setzten sie ihn der Gefahr aus, infolge eines Sturzes in den Flutkanal schwere Gesundheitsschäden oder den Tod zu erleiden. Auf die von der Revision aufgeworfene Frage, ob den Angeklagten eine Rettung des Geschädigten aus dem Flutkanal möglich und zumutbar war, kommt es nicht an. Der Geschädigte befand sich nach den rechtsfehlerfreien Feststellungen bereits in einer sein Leben gefährdenden Lage, bevor er ins Wasser fiel.c) Zu Recht ist das Landgericht davon ausgegangen, dass sich die der Aussetzung eigentümliche Gefahr in der eingetretenen schweren Folge verwirklicht hat (§ 221 Abs. 3 StGB). Aus den rechtsfehlerfreien Feststellungen ergibt sich jedenfalls ein für die Verwirklichung des Qualifikationstatbestandes ausreichendes, zumindest fahrlässiges Verhalten der Angeklagten.3. Auch die Strafaussprüche, insbesondere die Strafrahmenwahl, begegnen keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.Zwar hat das Landgericht die Blutalkoholkonzentrationen der Angeklagten Gr.   und Mo.       nicht rechtsfehlerfrei bestimmt, weil bereits die Berechnung revisionsgerichtlich nicht nachvollziehbar ist. Insoweit sind nicht nur die Trinkmengen zum Teil nicht hinreichend belegt, es fehlen auch Angaben zum Gewicht der Angeklagten (vgl. BGH, Urteil vom 5. Juni 2003 - 3 StR 60/03, NStZ 2004, 32, 33 [dort nicht abgedruckt]). Zudem lassen die Ausführungen des Landgerichts, mit denen es in der Folge zur Feststellung niedrigerer als der errechneten Blutalkoholwerte gelangt ist, die Anwendung eines fehlerhaften Maßstabes besorgen. Denn das Tatgericht darf insbesondere nicht den aufgrund für glaubhaft erachteter Trinkmengenangaben errechneten Blutalkoholwert durch die Annahme relativieren, dass ein geringerer dem Erscheinungsbild und Leistungsverhalten des Täters eher entspreche (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Oktober 1997 - 2 StR 478/97, NStZ-RR 1998, 68). Die Entscheidung über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 21 StGB bedarf vielmehr grundsätzlich einer Gesamtwürdigung, in die sowohl die ermittelte Blutalkoholkonzentration als auch psychodiagnostische Leistungskriterien einzustellen sind (vgl. BGH, Urteil vom 29. April 1997 - 1 StR 511/95, BGHSt 43, 66, 71 ff.; Beschlüsse vom 29. November 2005 - 5 StR 358/05, NStZ-RR 2006, 72 f; vom 29. Mai 2012 - 1 StR 59/12, BGHSt 57, 247, 250 ff.).Der Senat kann aber im Hinblick auf die im Raum stehenden Trinkmengen und die im Übrigen rechtsfehlerfreien Feststellungen und Wertungen zum Leistungsverhalten der Angeklagten ausschließen, dass die Strafkammer bei zutreffenden Feststellungen zu den Blutalkoholkonzentrationen der Angeklagten zur Annahme erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit oder zur Annahme eines minder schweren Falles gelangt wäre. Ausschließen kann der Senat auch, dass die Strafkammer der Alkoholisierung im Rahmen der konkreten Strafzumessung ein größeres Gewicht beigemessen hätte.III. Revisionen der NebenklägerDie zulässigen Revisionen der Nebenkläger sind unbegründet.1. Ohne Erfolg wendet sich die Revision gegen die Verneinung einer Garantenpflicht des Angeklagten G.      für das Wohlergehen des Geschädigten.a) Zwar bildeten die Angeklagten und der Geschädigte aufgrund ihres gemeinsamen Ausflugs eine Gemeinschaft. Die bloße Zugehörigkeit zu einer solchen begründet aber noch keine gegenseitigen Hilfspflichten. Diese entstehen erst mit einer erkennbaren Übernahme einer besonderen Schutzfunktion gegenüber Hilfsbedürftigen aus dieser Gruppe in bestimmten Gefahrenlagen (vgl. BGH, Urteile vom 7. November 1986 - 2 StR 494/86, NJW 1987, 850; vom 4. Dezember 2007 - 5 StR 324/07, NStZ 2008, 276, 277; vom 11. September 2019 - 2 StR 563/18 Rn. 12). Dies ist bei losen Zusammenschlüssen etwa zum gemeinsamen Konsum von Alkohol oder Drogen (vgl. BGH, Urteil vom 25. Febru-ar 1954 - 1 StR 612/53, NJW 1954, 1047, 1048), bei Wohngemeinschaften (vgl. BGH, Urteile vom 7. September 1983 - 2 StR 239/83, NStZ 1984, 163; vom 7. November 1986 - 2 StR 494/86, aaO), bei Fahrgemeinschaften (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 1. Oktober 2004 - 9 U 138/04, VersR 2005, 1689) und bei Personen, die sich lediglich zufällig in derselben Gefahrensituation befinden (vgl. BGH, Urteil vom 11. September 2019 - 2 StR 563/18, aaO), regelmäßig nicht der Fall.b) Eine Obhuts- und Beistandspflicht ergab sich für den Angeklagten G.       auch nicht aus einer einseitigen Übernahme einer Beschützerfunktion. Denn nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen hat dieser - über die freundschaftliche Zusage von Fahrdiensten hinaus - weder durch ausdrückliche Erklärung noch durch schlüssige Handlung zu verstehen gegeben, dass er für das Wohlergehen des Geschädigten in besonderem Maße Sorge tragen werde. Anders als die Mitangeklagten hat er weder unmittelbar Hilfe geleistet noch diese bei ihren Handlungen unterstützt, sondern vielmehr eine gewisse Distanz zum Geschädigten gehalten.c) Ebensowenig begründete die Beteiligung an der Suche nach dem Geschädigten - entgegen der Ansicht der Revisionen der Nebenkläger - eine Garantenstellung aus Übernahme einer Verantwortung. Weder genügt insoweit die bloße Kenntnis der Hilfsbedürftigkeit, noch folgt allein aus einem tatsächlich geleisteten Beistand eine Pflicht zur Vollendung einer begonnenen Hilfeleistung.2. Soweit die Vollstreckung der gegen den Angeklagten G.       erkannten Freiheitsstrafe, die infolge der Anrechnung der Untersuchungshaft (§ 51 Abs. 1 StGB) bereits voll verbüßt war, rechtsfehlerhaft zur Bewährung ausgesetzt worden ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 8. August 2017 - 3 StR 179/17; vom 12. Februar 2014 - 1 StR 36/14; vom 8. Januar 2002 - 3 StR 453/01, NStZ 2002, 367), ist dem Senat trotz § 301 StPO eine Korrektur verwehrt (vgl. BGH, Urteil vom 2. Februar 2022 - 2 StR 41/21, NJW 2022, 1263, 1264 f.; nicht tragend Beschluss vom 17. Februar 2021 - 4 StR 225/20 Rn. 10; LR/Wenske, StPO, 27. Aufl., § 400 Rn. 34).3. Die Überprüfung der angegriffenen Entscheidung hat auch insoweit keinen Rechtsfehler ergeben, als das Landgericht einen Tötungsvorsatz der Angeklagten verneint hat.a) Die Gefährlichkeit der Tathandlung und der Grad der Wahrscheinlichkeit eines Erfolgseintritts sind keine allein maßgeblichen Kriterien für die Entscheidung, ob ein Täter mit bedingtem Vorsatz gehandelt hat; vielmehr kommt es auch bei besonders gefährlichen Handlungen auf die Umstände des Einzelfalls an (vgl. BGH, Urteile vom 23. März 2022 - 6 StR 343/21; vom 26. November 2014 - 2 StR 54/15, NStZ 2015, 516).aa) Das Landgericht hat die gebotene Gesamtschau der bedeutsamen objektiven und subjektiven Tatumstände (vgl. BGH, Urteile vom 4. August 2021 - 2 StR 178/20; vom 31. Januar 2019 - 4 StR 432/18 Rn. 10) vorgenommen und sich dabei nicht mit allgemeinen, formelhaften Wendungen begnügt. Es hat seine Überzeugung davon, dass sich der Vorsatz der Angeklagten jeweils nicht auf eine Realisierung der erkannten Gefahr erstreckte, vielmehr mit auf den konkreten Fall abgestellten Erwägungen begründet.bb) Insbesondere erweist sich die fehlende ausdrückliche Erörterung der vom Landgericht bejahten kognitiven Komponente des bedingten Tötungsvorsatzes nicht als rechtsfehlerhaft. Das Landgericht hat im Rahmen seiner Begründung des für § 221 Abs. 1 StGB erforderlichen Gefährdungsvorsatzes die Kenntnisse der Angeklagten tragfähig dargestellt und gewürdigt. Eine erneute Darstellung dessen im Rahmen ihrer naheliegender Weise hierauf ebenfalls abstellenden Würdigung zum bedingten Tötungsvorsatzes war - auch eingedenk der unterschiedlichen Bezugspunkte von Gefährdungs- und Schädigungsvorsatz (vgl. BGH, Urteile vom 15. Dezember 1967 - 4 StR 441/67, BGHSt 22, 67, 73; vom 24. Juli 1975 - 4 StR 165/75, BGHSt 26, 176, 182; vom 12. Juni 2008 - 4 StR 78/08, NStZ-RR 2008, 308, 309) - entbehrlich. Da die Gefahr begrifflich nichts anderes beschreibt als die naheliegende Möglichkeit einer Schädigung (vgl. BGH, Urteil vom 15. Dezember 1967 - 4 StR 441/67 aaO), bleibt beim Vorliegen eines auf die Gefahr des Todes bezogenen Vorsatzes kein Raum mehr für die Verneinung des kognitiven Elements eines bedingten Tötungsvorsatzes (vgl. BGH, Urteile vom 15. Dezember 1967 - 4 StR 441/67 aaO; vom 31. Januar 2019 - 4 StR 432/18 Rn. 13). Denn derjenige, der die Gefahrenlage für das Leben anderer erkennt und sich mit ihr abfindet, weiß um die Möglichkeit des Eintritts eines tödlichen Erfolgs (vgl. Radtke, NStZ 2000, 88, 89).b) Soweit die Revision einwendet, der mit bedingtem Vorsatz handelnde Täter habe regelmäßig kein Tötungsmotiv, ist dies im Ansatz zwar zutreffend (vgl. BGH, Urteil vom 26. März 2015 - 4 StR 442/14), führt aber nicht zur Fehlerhaftigkeit der Erwägung des Landgerichts, das Fehlen eines solchen spreche in diesem Fall gegen ein vorsätzliches Handeln. Denn die Art der Beweggründe kann für die Prüfung von Bedeutung sein, ob der Täter nach der Stärke des für ihn bestimmenden Handlungsimpulses bei der Tatausführung eine Tötung billigend in Kauf nahm (vgl. BGH, Beschluss vom 24. August 1990 - 3 StR 311/90, BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 22; Urteil vom 30. November 2005 - 5 StR 344/05, NStZ-RR 2006, 317, 318; Beschluss vom 30. Juli 2019 − 2 StR 122/19; NStZ 2020, 288; 289). Hier fehlt im Hinblick auf die festgestellte enge Freundschaft des Angeklagten Gr.  zum Geschädigten und den Verlauf des Abends ein einsichtiger Grund dafür, dass die Angeklagten in der konkreten Situation seinen Tod billigend in Kauf genommen hätten.c) In nicht zu beanstandender Weise hat das Landgericht bei der Abgrenzung von bewusster Fahrlässigkeit und bedingtem Vorsatz auch das Nachtatverhalten der Angeklagten und hier insbesondere die von ihnen versendeten Chatnachrichten herangezogen (vgl. BGH, Urteil vom 18. Januar 2007 - 4 StR 489/06, NStZ-RR 2007, 141, 142; Beschlüsse vom 1. Juni 2007 - 2 StR 133/07, NStZ-RR 2007, 267; vom 8. Mai 2008 - 3 StR 142/08, NStZ 2009, 91; vom 22. April 2009 - 5 StR 88/09, NStZ 2009, 503, 504; sowie konkret zu Äußerungen im Nachgang der Tat Urteil vom 21. November 1985 - 4 StR 465/85, StV 1986, 197). Seine Ausführungen lassen dabei weder besorgen, dass es den zur Beurteilung der Vorsatzfrage maßgebenden (Tat-)Zeitpunkt verkannt hat, noch deutet die Wendung "nur dadurch" darauf hin, dass es andere Interpretationsmöglichkeiten von vornherein außer Acht gelassen hat. Der gezogene Schluss - die Angeklagten hätten im Tatzeitpunkt auf ein gutes Ende vertraut - ist jedenfalls revisionsrechtlich hinzunehmen.d) Rechtsfehlerfrei hat das Landgericht schließlich die alkoholbedingte Enthemmung der Angeklagten als weiteren Umstand zur Entkräftung des Tötungsvorsatzes in den Blick genommen. Dies ist auch in Fällen geboten, in denen das Tatgericht eine uneingeschränkte Schuldfähigkeit bejaht (vgl. BGH, Beschluss vom 30. Juli 2019 - 2 StR 122/19, aaO), so dass sich das Landgericht nicht in Widerspruch zu seinen vorhergehenden Feststellungen gesetzt hat. Ohne Einfluss bleibt, dass diese nicht rechtsfehlerfrei getroffen worden sind, weil eine erhebliche Alkoholisierung der Angeklagten mit enthemmender Wirkung nicht in Zweifel steht.SanderFeilckeWenskeFritschevon Schmettau
bundesgerichtshof
bgh_093-2021
07.05.2021
Auswirkungen von § 9a Abs. 2 WEG auf die Prozessführungsbefugnis eines Wohnungseigentümers für die bereits vor dem 1. Dezember 2020 anhängigen Verfahren Ausgabejahr 2021 Erscheinungsdatum 07.05.2021 Nr. 093/2021 Urteil vom 7. Mai 2021 – V ZR 299/19 Der V. Zivilsenat hat entschieden, dass für die bereits vor dem 1. Dezember 2020 bei Gericht anhängigen Verfahren die Prozessführungsbefugnis eines Wohnungseigentümers, der sich aus dem gemeinschaftlichen Eigentum ergebende Rechte geltend macht, über diesen Zeitpunkt hinaus in Anwendung des Rechtsgedankens des § 48 Abs. 5 WEG fortbesteht, bis dem Gericht eine schriftliche Äußerung des nach § 9b WEG vertretungsberechtigten Organs (z.B. Verwalter) über einen entgegenstehenden Willen der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer zur Kenntnis gebracht wird. Sachverhalt Die Parteien sind Eigentümer benachbarter Grundstücke in Baden-Württemberg. Das eine Grundstück steht im Eigentum des Klägers und einer weiteren Person, die zusammen eine Wohnungseigentümergemeinschaft bilden. Ihr Grundstück grenzt in dem Bereich des Gartens, an welchem dem weiteren Wohnungseigentümer ein Sondernutzungsrecht zusteht, unmittelbar an das Grundstück der Beklagten an. 2011 pflanzten die Beklagten auf ihrem Grundstück entlang dieser Grenze vier Zypressen mit einem Grenzabstand von unter vier Metern. Der Kläger verlangt deren Beseitigung, hilfsweise den Rückschnitt auf eine Höhe von maximal 3,5 Metern. Das Amtsgericht hat der Klage im Hauptantrag stattgegeben. Das Landgericht hat die Berufung der Beklagten im November 2019 zurückgewiesen. Mit der Revision möchten die Beklagten die Abweisung der Klage erreichen. Rechtliche Problemstellung Der Fall hatte die Frage aufgeworfen, ob der ursprünglich allein prozessführungsbefugte Kläger mit dem Inkrafttreten des neuen Wohnungseigentumsgesetzes am 1. Dezember 2020 seine Prozessführungsbefugnis verloren hat und die Klage aus diesem Grund als unzulässig abzuweisen wäre. Mit dem Verlangen nach Beseitigung der auf dem Nachbargrundstück angepflanzten Zypressen macht der Kläger Ansprüche aus dem gemeinschaftlichen Eigentum der Wohnungseigentümer geltend. Zu einer selbständigen gerichtlichen Geltendmachung solcher Ansprüche war er nach dem bisher geltenden Recht befugt, wenn – wie hier – die Wohnungseigentümergemeinschaft die Ausübung nicht an sich gezogen hatte. Nach dem seit dem 1. Dezember 2020 geltenden § 9a Abs. 2 WEG liegt die Ausübungsbefugnis für die sich aus dem gemeinschaftlichen Eigentum ergebenden Rechte dagegen allein bei der Wohnungseigentümergemeinschaft. Der einzelne Wohnungseigentümer ist nach dem neuen Recht nicht zur selbständigen gerichtlichen Geltendmachung solcher Ansprüche befugt. Der Senat hatte zu entscheiden, welche Auswirkungen § 9a Abs. 2 WEG auf eine vor dem 1. Dezember 2020 erhobene Klage hat, insbesondere ob der Kläger mit Inkrafttreten dieser Vorschrift die ursprünglich bestehende Prozessführungsbefugnis verloren hat. Für diese Situation sieht das Wohnungseigentumsgesetz keine speziellen Überleitungsregelungen vor. Entscheidung des Bundesgerichtshofs Für die bereits vor dem 1. Dezember 2020 bei Gericht anhängigen Verfahren besteht die Prozessführungsbefugnis des Wohnungseigentümers über diesen Zeitpunkt hinaus in Anwendung des Rechtsgedankens des § 48 Abs. 5 WEG fort, bis dem Gericht eine schriftliche Äußerung des nach § 9b WEG vertretungsberechtigten Organs (z.B. Verwalter) über einen entgegenstehenden Willen der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer zur Kenntnis gebracht wird. Die Übergangsvorschrift des § 48 Abs. 5 WEG enthält insoweit eine planwidrige Regelungslücke. Ein - zur Unzulässigkeit der Klage führender - Wegfall der Prozessführungsbefugnis des Wohnungseigentümers während des laufenden gerichtlichen Verfahrens hätte zur Folge, dass das Verfahren, selbst wenn es - wie im vorliegenden Fall - schon seit Jahren anhängig und über mehrere Instanzen geführt worden war, für beide Parteien gänzlich nutzlos gewesen wäre und im Ergebnis nur erheblichen Aufwand und Kosten verursacht hätte. Gegen die Annahme, dass dies dem Plan des Gesetzgebers entspricht und er dies bewusst hinnehmen wollte, spricht, dass die Gesetzesbegründung hierzu keine Erläuterung enthält, was bei einem Eingriff dieses Ausmaßes und der Vielzahl der betroffenen Verfahren zu erwarten wäre. Dies gilt umso mehr, als § 9a Abs. 2 WEG für Verfahren, in denen ein Wohnungseigentümer vor Inkrafttreten der Vorschrift Klage erhoben hat und das Verfahren noch nicht abgeschlossen ist, bei einem Wegfall der Prozessführungsbefugnis eine so genannte unechte Rückwirkung entfalten würde. Hätte der Gesetzgeber der Regelung für bereits anhängige Verfahren eine solche Wirkung beimessen wollen, hätte es nahegelegen, dass er die Gründe hierfür anhand des gesetzgeberischen Ziels erläutert und darstellt, warum dem Vertrauen des Wohnungseigentümers auf den Fortbestand seiner Prozessführungsbefugnis ein geringeres Gewicht zukommt. Die Regelungslücke hätte der Gesetzgeber, hätte er sie erkannt, nach seinem Plan mit einer Regelung geschlossen, die sich an der Vorschrift des § 48 Abs. 5 WEG orientiert, zugleich aber auch den Rechtsgedanken des § 9a Abs. 2 WEG einbezieht, der die Durchsetzung der dort genannten Ansprüche der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer zuordnet. Der Übergangsregelung in § 48 Abs. 5 WEG liegt die Vorstellung des Gesetzgebers zugrunde, dass Änderungen des Verfahrensrechts bereits anhängige Verfahren unberührt lassen. Im Hinblick auf den (auch) verfahrensrechtlichen Charakter von § 9a Abs. 2 WEG ist daher anzunehmen, dass es dem Plan des Gesetzgebers entspricht, die Prozessführungsbefugnis eines Wohnungseigentümers in einem bei Gericht bereits anhängigen Verfahren nicht schon durch das bloße Inkrafttreten der Neuregelung entfallen zu lassen. Er hätte aber zugleich auch den Rechten der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer Rechnung getragen, der er in § 9a Abs. 2 WEG die alleinige Ausübungsbefugnis für die sich aus dem gemeinschaftlichen Eigentum ergebenden Rechte zugewiesen hat. Dementsprechend hätte er das Recht der Gemeinschaft, über die Fortführung des Verfahrens eigenverantwortlich zu entscheiden, unangetastet gelassen. Daraus folgt, dass die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer das bereits anhängige Verfahren selber als Partei übernehmen oder aber dem Wohnungseigentümer die Fortführung des Verfahrens untersagen kann, etwa weil sie den Konflikt auf andere Weise als durch einen gerichtlichen Rechtsstreit beilegen will. Solange dem Gericht ein entgegenstehender Wille der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer aber nicht zur Kenntnis gebracht wird, besteht für ein bereits vor dem 1. Dezember 2020 anhängiges Verfahren die Prozessführungsbefugnis des Wohnungseigentümers fort. Dies rechtfertigt sich aus der Überlegung, dass die Geltendmachung und Durchsetzung von sich aus dem gemeinschaftlichen Eigentum ergebenden Rechten, insbesondere die Verfolgung von Ansprüchen wegen einer Beeinträchtigung des gemeinschaftlichen Eigentums typischerweise im Interesse der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer liegt. Danach ist die Revision der Beklagten nicht erfolgreich. Der Kläger ist weiterhin prozessführungsbefugt, da ein entgegenstehender Wille der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer nicht belegt ist. Das Berufungsgericht hat auch zu Recht einen Anspruch des Klägers gemäß § 16 Abs. 1 Nr. 4 NRG BW auf Beseitigung der Zypressen bejaht. Vorinstanzen: AG Mannheim - Urteil vom 7. März 2019 – 3 C 4402/17 LG Mannheim - Urteil vom 22. November 2019 – 1 S 36/19 Die maßgeblichen Vorschriften lauten: § 9a WEG Gemeinschaft der Wohnungseigentümer (2) Die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer übt die sich aus dem gemeinschaftlichen Eigentum ergebenden Rechte sowie solche Rechte der Wohnungseigentümer aus, die eine einheitliche Rechtsverfolgung erfordern, und nimmt die entsprechenden Pflichten der Wohnungseigentümer wahr. § 48 WEG Übergangsvorschriften (5) Für die bereits vor dem 1. Dezember 2020 bei Gericht anhängigen Verfahren sind die Vorschriften des dritten Teils dieses Gesetzes in ihrer bis dahin geltenden Fassung weiter anzuwenden. Karlsruhe, den 7. Mai 2021 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Urteil des V. Zivilsenats vom 7.5.2021 - V ZR 299/19 -
1. Für die bereits vor dem 1. Dezember 2020 bei Gericht anhängigen Verfahren besteht die Prozessführungsbefugnis eines Wohnungseigentümers, der sich aus dem gemeinschaftlichen Eigentum ergebende Rechte geltend macht, über diesen Zeitpunkt hinaus in Anwendung des Rechtsgedankens des § 48 Abs. 5 WEG fort, bis dem Gericht eine schriftliche Äußerung des nach § 9b WEG vertretungsberechtigten Organs über einen entgegenstehenden Willen der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer zur Kenntnis gebracht wird.2. § 16 Abs. 1 NRG BW stellt eine selbständige landesrechtliche Anspruchsgrundlage dar, die dem betroffenen Nachbarn bei Nichteinhaltung der genannten Grenzabstände einen Anspruch auf Beseitigung der angepflanzten Gehölze gibt. Tenor Die Revision gegen das Urteil des Landgerichts Mannheim - 1. Zivilkammer - vom 22. November 2019 wird auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen.Von Rechts wegen Tatbestand Die Parteien sind Eigentümer benachbarter Grundstücke in Baden-Württemberg. Das eine Grundstück steht im Eigentum des Klägers und einer weiteren Person, die zusammen eine Wohnungseigentümergemeinschaft bilden. Ihr Grundstück grenzt in dem Bereich des Gartens, an welchem dem weiteren Wohnungseigentümer ein Sondernutzungsrecht zusteht, unmittelbar an das Grundstück der Beklagten an. 2011 pflanzten die Beklagten auf ihrem Grundstück entlang dieser Grenze vier Zypressen mit einem Grenzabstand von unter vier Metern. Der Kläger verlangt deren Beseitigung, hilfsweise den Rückschnitt auf eine Höhe von maximal 3,5 Metern und die Belassung auf dieser Höhe. Die Beklagten erheben die Einrede der Verjährung. Das Amtsgericht hat der Klage im Hauptantrag stattgegeben. Das Landgericht hat die Berufung der Beklagten mit Urteil vom 22. November 2019 zurückgewiesen. Mit der von dem Landgericht zugelassenen Revision, deren Zurückweisung der Kläger beantragt, möchten die Beklagten weiterhin die Abweisung der Klage erreichen. Gründe I.Nach Ansicht des Berufungsgerichts steht dem Kläger ein Beseitigungsanspruch gemäß § 16 Abs. 1 Nr. 4 des Nachbarrechtsgesetzes für Baden-Württemberg (NRG BW) zu, da das Gehölz den vorgeschriebenen Grenzabstand nicht einhalte. Die Norm stelle eine eigene Anspruchsgrundlage dar. Dies folge aus der Entstehungsgeschichte der Norm, der Gesetzessystematik und Sinn und Zweck der landesrechtlichen Abstandsregelung. Der Beseitigungsanspruch nach § 16 Abs. 1 Nr. 4 NRG BW, für den - im Gegensatz zu einem auf § 1004 Abs. 1 BGB gegründeten Anspruch - nicht eine dreijährige, sondern gemäß § 26 Abs. 1 Satz 2 NRG BW eine zehnjährige Verjährungsfrist gelte, sei nicht verjährt. Er sei auch nicht aufgrund des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses ausgeschlossen. Ein solcher Ausschluss komme nur in zwingenden Ausnahmefällen in Betracht. Hierfür genüge es nicht, dass dem Kläger an dem zur Grenze hin gelegenen Grundstücksteil kein Nutzungsrecht zustehe. Betroffen sei das Eigentum des Klägers, welches ungeachtet des Sondernutzungsrechts eines anderen Miteigentümers bestehe. Auch sei nicht ausgeschlossen, dass sich die Sondernutzungsrechte in Zukunft änderten.II.Das hält rechtlicher Nachprüfung stand.A. Der Kläger ist prozessführungsbefugt.1. Zutreffend und von der Revision nicht beanstandet bejaht das Berufungsgericht auf der Grundlage des bis zum 30. November 2020 geltenden Wohnungseigentumsgesetzes, das im Zeitpunkt des Berufungsurteils noch Gültigkeit hatte, die Prozessführungsbefugnis des Klägers. Er war berechtigt, als einzelner Wohnungseigentümer den Beseitigungsanspruch gerichtlich geltend zu machen. Für Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche aus dem Miteigentum an dem Grundstück bestand nach bisher geltendem Recht keine geborene Ausübungsbefugnis des Verbandes gemäß § 10 Abs. 6 Satz 3 Halbsatz 1 WEG aF, und zwar auch dann nicht, wenn Anspruchsgegner - wie hier - ein außerhalb der Wohnungseigentümergemeinschaft stehender Dritter war. Die Wohnungseigentümergemeinschaft konnte Beseitigungs- oder Unterlassungsansprüche wegen Störungen des Gemeinschaftseigentums zwar durch Mehrheitsbeschluss nach § 10 Abs. 6 Satz 3 Halbsatz 2 WEG aF an sich ziehen (gekorene Ausübungsbefugnis) und war dann allein zuständig für die gerichtliche Geltendmachung gegenüber dem Dritten (Senat, Urteil vom 24. Januar 2020 - V ZR 295/16, NJW-RR 2020, 894 Rn. 9 mwN). Einen solchen Beschluss haben die Wohnungseigentümer nach den Feststellungen des Berufungsgerichts aber nicht gefasst.2. Allerdings ist nach Erlass des Berufungsurteils die Ausübungsbefugnis durch das Wohnungseigentumsmodernisierungsgesetz vom 16. Oktober 2020 (BGBl. I 2020, S. 2187), das gemäß Art. 18 Satz 1 WEMoG am 1. Dezember 2020 in Kraft getreten ist, in § 9a Abs. 2 WEG neu geregelt worden. Die Neuregelung ist - unbeschadet etwaiger Übergangsvorschriften - auch im Revisionsverfahren zu beachten (vgl. BGH, Beschluss vom 28. Mai 2020 - I ZR 186/17, WM 2020, 1652 Rn. 31 f. für die Verordnung (EU) 2016/679). Nach § 9a Abs. 2 WEG übt die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer die sich aus dem gemeinschaftlichen Eigentum ergebenden Rechte sowie solche Rechte der Wohnungseigentümer aus, die eine einheitliche Rechtsverfolgung erfordern, und nimmt die entsprechenden Pflichten der Wohnungseigentümer wahr. Die Vorschrift ist an die Stelle des bis dahin geltenden § 10 Abs. 6 Satz 2 WEG aF getreten. Mit ihr hat der Gesetzgeber das bisher geltende Konzept aufgegeben, das unterschieden hat zwischen der geborenen Ausübungs- bzw. Wahrnehmungsbefugnis der Wohnungseigentümergemeinschaft und der gekorenen Ausübungs- bzw. Wahrnehmungsbefugnis, die einen Beschluss der Wohnungseigentümer voraussetzt. Eine auf einem Beschluss beruhende besondere Ausübungs- und Wahrnehmungsbefugnis sieht das Gesetz nicht mehr vor. Die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer übt kraft Gesetzes die in § 9a Abs. 2 WEG genannten Rechte aus und nimmt die entsprechenden Pflichten wahr (BT-Drucks. 19/18791 S. 46). Im Anwendungsbereich der Vorschrift steht die Ausübungs- und Wahrnehmungsbefugnis und damit auch das Recht zur gerichtlichen Geltendmachung nunmehr ausschließlich dem Verband und nicht dem einzelnen Wohnungseigentümer zu.Nach § 9a Abs. 2 WEG wäre der ursprünglich prozessführungsbefugte Kläger nicht mehr prozessführungsbefugt. Er verlangt von den Beklagten die Beseitigung der auf dem Nachbargrundstück angepflanzten Gehölze, da diese den in § 16 Abs. 1 Nr. 4 NRG BW vorgeschriebenen Grenzabstand zu dem im gemeinschaftlichen Eigentum der Wohnungseigentümer stehenden Grundstück nicht einhalten. Damit macht er sich aus dem gemeinschaftlichen Eigentum der Wohnungseigentümer ergebende Rechte i.S.d. § 9a Abs. 2 Alt. 1 WEG geltend.3. Eine Übergangsvorschrift, die regelt, ob bei der gerichtlichen Geltendmachung von aus dem gemeinschaftlichen Eigentum sich ergebenden Rechten durch einzelne Wohnungseigentümer die Prozessführungsbefugnis auch dann nach § 9a Abs. 2 WEG zu beurteilen ist, wenn das Verfahren - wie hier - bereits vor dem 1. Dezember 2020 bei Gericht anhängig war, enthält das neue Wohnungseigentumsgesetz nicht, insbesondere ist dies nicht von der Überleitungsregelung in § 48 Abs. 5 WEG erfasst. Nach dieser Vorschrift sind für die bereits vor dem 1. Dezember 2020 bei Gericht anhängigen Verfahren die Vorschriften des dritten Teils dieses Gesetzes in ihrer bis dahin geltenden Fassung weiter anzuwenden. Die Regelung des § 9a Abs. 2 WEG befindet sich aber nicht im dritten Teil des neuen Wohnungseigentumsgesetzes; ihre bis dahin geltende Vorgängernorm des § 10 Abs. 6 Satz 3 WEG aF ist daher auch nicht für eine Übergangszeit anwendbar.4. Da insoweit eine Übergangsvorschrift fehlt, wird überwiegend angenommen, dass die Prozessführungsbefugnis eines Wohnungseigentümers auch dann nach der neuen Regelung in § 9a Abs. 2 WEG zu beurteilen sei, wenn das Verfahren schon vor dem 1. Dezember 2020 anhängig war. Aufgrund der darin festgelegten alleinigen Ausübungszuständigkeit der Gemeinschaft verliere der ursprünglich prozessführungsbefugte Wohnungseigentümer die Prozessführungsbefugnis mit der Folge, dass die Klage als unzulässig abzuweisen sei (LG Frankfurt a.M., WuM 2021, 125; BeckOGK/Skauradszun, WEG [1.12.2020], § 48 Rn. 23; Dötsch/Schultzky/Zschieschack, WEG-Recht 2021, Kapitel 14 Rn. 186; Lehmann-Richter/Wobst, WEG-Reform 2020, Rn. 2034; Abramenko, Das neue Wohnungseigentumsrecht, § 9 Rn. 24; ders. ZMR 2020, 1012; Lübke, ZMR 2021, 101).Zur Vermeidung einer Klageabweisung wegen Wegfalls der Prozessführungsbefugnis werden verschiedene prozessuale Möglichkeiten aufgezeigt. Der Kläger könne den Rechtsstreit für erledigt erklären (Abramenko, ZMR 2020, 1012; Schultzky, MDR 2020, 1473 Rn. 44; Dötsch/Schultzky/Zschieschack, WEG-Recht 2021, Kapitel 14 Rn. 187). Denkbar sei auch ein Parteiwechsel, indem die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer nach entsprechender Beschlussfassung den Prozess übernehme, oder eine Fortsetzung des anhängigen Prozesses durch den ursprünglichen Wohnungseigentümer in gewillkürter Prozessstandschaft, wenn die Gemeinschaft ihn zur Prozessführung ermächtige (Dötsch/Schultzky/Zschieschack, WEG-Recht 2021, Kapitel 14 Rn. 188 ff.; Lübke, ZMR 2021, 101; nur zum Parteiwechsel: Hügel/Elzer, WEG, 3. Aufl., § 48 Rn. 17; Lehmann-Richter/Wobst, WEG-Reform 2020, Rn. 2034; nur zur Prozessstandschaft: BeckOK WEG/Müller [1.1.2021], § 9a Rn. 114; Zschieschack, IMR 2020, 487). Lehnten die Wohnungseigentümer eine Übernahme des Prozesses oder die Ermächtigung des bisher klagenden Wohnungseigentümers zur (weiteren) Prozessführung ab, könne dieser hiergegen mit einer Beschlussersetzungsklage vorgehen. Das bisher anhängige Verfahren sei analog § 148 ZPO auszusetzen, bis über die Beschlussersetzungsklage rechtskräftig entschieden sei (Dötsch/Schultzky/Zschieschack, WEG-Recht 2021, Kapitel 14 Rn. 190; Zschieschack, IMR 2020, 487; Lübke, ZMR 2021, 102).5. Nach anderer Auffassung soll die einmal zulässig erhobene Klage des Wohnungseigentümers weiter zulässig bleiben. Hierzu werden unterschiedliche Lösungsansätze erörtert. Teilweise wird unter Hinweis auf den (auch) verfahrensrechtlichen Charakter der Ausübungsbefugnis gemäß § 9a Abs. 2 WEG eine analoge Anwendung der Übergangsvorschrift des § 48 Abs. 5 WEG befürwortet (AG Heidelberg, Verfügung vom 5. Januar 2021 - 45 C 108/19, juris Rn. 3). Eine andere Auffassung erwägt, § 265 ZPO entsprechend anzuwenden. Die Vorschrift gelte in ihrem Anwendungsbereich auch für einen Wechsel der Prozessführungsbefugnis. Sie enthalte ein Regelungsmodell, das sich für die Bewältigung der Überleitungssituation eigne (Schmidt-Räntsch, ZWE 2021, 1, 5).6. Der Senat entscheidet die Frage dahin, dass für die bereits vor dem 1. Dezember 2020 bei Gericht anhängigen Verfahren die Prozessführungsbefugnis eines Wohnungseigentümers, der sich aus dem gemeinschaftlichen Eigentum ergebende Rechte geltend macht, über diesen Zeitpunkt hinaus in Anwendung des Rechtsgedankens des § 48 Abs. 5 WEG fortbesteht, bis dem Gericht eine schriftliche Äußerung des nach § 9b WEG vertretungsberechtigten Organs über einen entgegenstehenden Willen der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer zur Kenntnis gebracht wird.a) Die Übergangsvorschrift des § 48 Abs. 5 WEG enthält insoweit eine planwidrige Regelungslücke.aa) Ob eine planwidrige Lücke gegeben ist, ist vom Standpunkt der gesetzlichen Regelung aus zu beurteilen, also anhand der Regelungsabsicht des Gesetzgebers (BGH, Urteil vom 7. November 2019 - I ZR 42/19, GRUR 2020, 429 Rn. 33 mwN). Nach der Begründung zur Übergangsregelung in § 48 Abs. 5 WEG sollen die Änderungen des Verfahrensrechts bereits anhängige Verfahren unberührt lassen. Verfahren, die bei Inkrafttreten der Neuregelung bereits bei Gericht anhängig waren, sollen nach den bis zu diesem Zeitpunkt geltenden Vorschriften weitergeführt werden (BT-Drucks. 19/18791 S. 86). Daher ordnet § 48 Abs. 5 WEG an, dass für die bereits vor dem 1. Dezember 2020 bei Gericht anhängigen Verfahren die Vorschriften des dritten Teils des Wohnungseigentumsgesetzes, der die Überschrift "Verfahrensvorschriften" trägt, in ihrer bis dahin geltenden Fassung weiter anzuwenden sind.bb) Verfahrensrechtliche Bedeutung kommt auch § 9a Abs. 2 WEG zu, der die Ausübungsbefugnis für die sich aus dem gemeinschaftlichen Eigentum ergebenden Rechte der Wohnungseigentümer nunmehr allein der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer zuweist. Die Regelung hat nicht nur materielle, sondern zugleich auch verfahrensrechtliche Wirkungen, da sie der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer das alleinige Recht zur Prozessführung als gesetzlicher Prozessstandschafter (vgl. Wenzel, ZWE 2006, 462, 466) verleiht. Das wirkt sich verfahrensrechtlich unmittelbar auf die bei Inkrafttreten der Neuregelung am 1. Dezember 2020 bei Gericht noch anhängigen Verfahren aus. Denn ein ursprünglich zur Prozessführung berechtigter Wohnungseigentümer würde aufgrund der gesetzlichen Zuweisung dieser Befugnis an die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer während des laufenden Verfahrens die Prozessführungsbefugnis verlieren.cc) Ein - zur Unzulässigkeit der Klage führender - Wegfall der Prozessführungsbefugnis des Wohnungseigentümers während des laufenden gerichtlichen Verfahrens hätte zur Folge, dass das Verfahren, selbst wenn es - wie hier - schon seit Jahren anhängig und über mehrere Instanzen geführt worden war, für beide Parteien gänzlich nutzlos gewesen wäre und im Ergebnis nur erheblichen Aufwand und Kosten verursacht hätte. Gegen die Annahme, dass dies dem Plan des Gesetzgebers entspricht und er dies bewusst hinnehmen wollte, spricht, dass die Gesetzesbegründung hierzu keine Erläuterung enthält, was bei einem Eingriff dieses Ausmaßes und der Vielzahl der betroffenen Verfahren zu erwarten wäre. Der Annahme eines erheblichen Eingriffs kann nicht entgegengehalten werden, dass sich die Rechtslage nicht wesentlich geändert habe, da ein Wohnungseigentümer auch nach bisherigem Recht dem Risiko unterlag, dass die Klage durch Vergemeinschaftung des geltend gemachten Anspruchs unzulässig wird (zu den Rechtsfolgen der Vergemeinschaftung vgl. Senat, Urteil vom 24. Januar 2020 - V ZR 295/16, NJW-RR 2020, 894 Rn. 14 mwN). Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass mit der Vergemeinschaftung gerade die Möglichkeit zu einer Rechtsverfolgung durch die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer eröffnet werden sollte (vgl. Senat, Urteil vom 26. Oktober 2018 - V ZR 328/17, NJW 2019, 1216 Rn. 22), während es bei einem mit Inkrafttreten der Neuregelung des § 9a Abs. 2 WEG verbundenen Wegfall der Prozessführungsbefugnis an einer solchen Willensbildung der Gemeinschaft fehlte. Der Wohnungseigentümer müsste erst auf eine Übernahme der Rechtsverfolgung durch die Wohnungseigentümergemeinschaft, ggf. durch Beschlussersetzungsklage, hinwirken. Dies bedeutete insbesondere auch im Hinblick auf das Verjährungsrisiko für ihn eine erhebliche Verschlechterung gegenüber dem bisherigen Recht.Eine Begründung durch den Gesetzgeber wäre aber auch deswegen zu erwarten, weil § 9a Abs. 2 WEG für Verfahren, in denen ein Wohnungseigentümer vor Inkrafttreten der Vorschrift Klage erhoben hat und das Verfahren noch nicht abgeschlossen ist, bei einem Wegfall der Prozessführungsbefugnis eine so genannte unechte Rückwirkung (vgl. dazu BVerfG, NVwZ 2016, 300 Rn. 40 f.; BGH, Beschluss vom 7. Mai 2015 - I ZR 171/10, NJW-RR 2015, 954 Rn. 18 mwN) entfalten würde. Regelungen mit unechter Rückwirkung sind nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zwar grundsätzlich zulässig (BVerfG, NVwZ 2016, 300 Rn. 40 mwN). Für den Gesetzgeber ergeben sich aber aus dem rechtsstaatlichen Prinzip der Rechtssicherheit verfassungsrechtliche Schranken. Für die Zulässigkeit unechter Rückwirkung von Regelungen ist maßgeblich eine Güterabwägung zwischen der Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für das Gemeinwohl einerseits und dem Ausmaß des durch die Gesetzesänderung verursachten Vertrauensverlusts andererseits (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Mai 2015 - I ZR 171/10, NJW-RR 2015, 954 Rn. 20; BVerfGE 25, 142, 154). Hätte der Gesetzgeber der Regelung in § 9a Abs. 2 WEG für bereits anhängige Verfahren eine unechte Rückwirkung durch einen Wegfall der Prozessführungsbefugnis des Wohnungseigentümers beimessen wollen, hätte es nahegelegen, dass er die Gründe hierfür anhand des gesetzgeberischen Ziels erläutert und darstellt, warum dem Vertrauen des Wohnungseigentümers auf den Fortbestand seiner Prozessführungsbefugnis ein geringeres Gewicht zukommt. Das wäre vor allem auch deshalb zu erwarten gewesen, weil ein überwiegendes öffentliches Interesse gegenüber dem verursachten Vertrauensverlust im Hinblick auf das von dem Gesetzgeber verfolgte Ziel der Neuordnung der Rechtsbeziehungen der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer (vgl. BT-Drucks. 19/18791, S. 29) nicht ohne Weiteres auf der Hand liegt. Denn im Grundsatz entspricht es dem Interesse der Wohnungseigentümergemeinschaft, Störungen des gemeinschaftlichen Eigentums abzuwehren. Angesichts der verfassungsrechtlichen Grenzen einer unechten Rückwirkung spricht das Fehlen einer Begründung hierzu in den Gesetzesmaterialien dafür, dass der Gesetzgeber der Regelung des § 9a Abs. 2 WEG eine solche nicht beilegen wollte, er vielmehr die verfahrensrechtlichen Auswirkungen der Vorschrift auf bereits anhängige Verfahren nicht im Blick gehabt und das Bedürfnis nach einer Übergangsregelung übersehen hat.dd) Gegen das Vorliegen einer planwidrigen Regelungslücke spricht nicht, dass für - auf der Grundlage des § 10 Abs. 6 Halbs. 2 WEG aF gefasste - Vergemeinschaftungsbeschlüsse in der Gesetzesbegründung ausdrücklich davon ausgegangen wird, dass diese nach allgemeinen Grundsätzen mit Inkrafttreten der Neuregelung ihre Wirkung verlören (BT-Drucks. 19/18791 S. 47). Unabhängig davon, ob diese Annahme rechtlich zutreffend ist (kritisch Bruns, NZM 2020, 909, 911; Becker/Schneider, ZfIR 2020, 281, 298), lässt sich daraus nicht folgern, dass dem Gesetzgeber die mit dem umgekehrten Fall des Wegfalls der Prozessführungsbefugnis eines Wohnungseigentümers während eines laufenden Verfahrens verbundene Problematik bewusst war (a.A. LG Frankfurt a.M., NJW 2021, 643 Rn. 13; BeckRS 2021, 1523 Rn. 19). Denn auf die in der Gesetzesbegründung genannte Konstellation wirkt sich das Inkrafttreten von § 9a Abs. 2 WEG während eines laufenden gerichtlichen Verfahrens nicht zulasten der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer aus, da im Regelfall lediglich eine gesetzliche Ausübungsbefugnis an die Stelle der bisherigen gekorenen Ausübungsbefugnis tritt (vgl. Schmidt-Räntsch, ZWE 2021, 1, 5) und die Prozessführungsbefugnis der Gemeinschaft damit unberührt bleibt.ee) Soweit darauf hingewiesen wird, dass die Veränderung der Verwaltungsstruktur der Wohnungseigentümergemeinschaft in anderen Bereichen dazu geführt habe, dass die Wohnungseigentümer Ansprüche, die nach altem Recht gegen den Verwalter oder die übrigen Wohnungseigentümer durchgesetzt werden konnten, nur noch gegen den Verband hätten (LG Frankfurt a.M., BeckRS 2021, 1523 Rn. 25), spricht auch dies nicht gegen eine planwidrige Regelungslücke für die hier zu beurteilende Konstellation. Der Unterschied zu den genannten Fällen liegt darin, dass dort der klagende Wohnungseigentümer auf die gesetzliche Änderung während eines laufenden Verfahrens prozessual mit einer Umstellung der Klage auf die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer reagieren kann (vgl. Elzer in Skauradszun/Elzer/Hinz/Riecke, Die WEG-Reform, 2020, § 15 Rn. 2; zum Beklagtenwechsel im Berufungsverfahren vgl. BGH, Urteil vom 13. Juli 1956 - VI ZR 32/55, BGHZ 21, 285, 288 f.). Zwar ist für einen Parteiwechsel, soweit bereits mündlich verhandelt wurde, die Zustimmung des ausscheidenden Beklagten erforderlich und in der Berufungsinstanz auch die Zustimmung des neuen Beklagten. Ihre Verweigerung wird im Hinblick auf die enge Verbindung, die die übrigen Wohnungseigentümer, der Verwalter bzw. die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer zu dem Rechtsstreit haben, aber regelmäßig mangels schutzwürdigen Interesses als missbräuchlich und damit unbeachtlich anzusehen sein (vgl. BGH, Urteil vom 13. Juli 1956 - VI ZR 32/55, BGHZ 21, 285, 289 sowie Senat, Urteil vom 5. März 2010 - V ZR 62/09, NJW 2010, 2132 Rn. 10). Eine dem vergleichbare prozessuale Möglichkeit hat ein Wohnungseigentümer bei einem Wegfall seiner Prozessführungsbefugnis dagegen nicht.b) Die Regelungslücke hätte der Gesetzgeber, hätte er sie erkannt, nach seinem Plan mit einer Regelung geschlossen, die sich an der Vorschrift des § 48 Abs. 5 WEG orientiert, zugleich aber auch den Rechtsgedanken des § 9a Abs. 2 WEG einbezieht, der die Durchsetzung der dort genannten Ansprüche der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer zuordnet.aa) Eine uneingeschränkte analoge Anwendung von § 48 Abs. 5 WEG, die zur Folge hätte, dass für eine Übergangszeit § 10 Abs. 6 Satz 3 Halbs. 2 WEG aF und § 9a Abs. 2 WEG nebeneinander Anwendung fänden, wäre allerdings mit dem Ziel des neuen Wohnungseigentumsgesetzes nicht vereinbar. Indem der Gesetzgeber der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer im Anwendungsbereich des § 9a Abs. 2 WEG die alleinige Ausübungs- und Wahrnehmungsbefugnis zugewiesen hat, wollte er die konzeptionelle Unklarheit über die Rolle der rechtsfähigen Gemeinschaft der Wohnungseigentümer beseitigen. Diese Unklarheit habe dazu geführt, dass der Rechtsanwender oftmals nicht sicher habe feststellen können, ob die rechtsfähige Gemeinschaft oder die Wohnungseigentümer berechtigt bzw. verpflichtet sind (vgl. BT-Drucks. 19/18791, S. 29 f.). Diesem Ziel, die Rechtsbeziehungen in der Gemeinschaft einer klaren Ordnung zuzuführen, liefe ein - wenn auch nur vorübergehendes - Nebeneinander von Ausübungs- und Prozessführungsbefugnissen nach altem und nach neuem Recht zuwider.bb) Die Zielsetzung des Gesetzgebers rechtfertigt es aber, die Lücke dahingehend zu schließen, dass für die bereits vor dem 1. Dezember 2020 bei Gericht anhängigen Verfahren die Prozessführungsbefugnis eines Wohnungseigentümers, der sich aus dem gemeinschaftlichen Eigentum ergebende Rechte geltend macht, über diesen Zeitpunkt hinaus in Anwendung des Rechtsgedankens des § 48 Abs. 5 WEG fortbesteht, bis dem Gericht eine schriftliche Äußerung des nach § 9b WEG vertretungsberechtigten Organs über einen entgegenstehenden Willen der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer zur Kenntnis gebracht wird.(1) Der Übergangsregelung in § 48 Abs. 5 WEG liegt die Vorstellung des Gesetzgebers zugrunde, dass Änderungen des Verfahrensrechts bereits anhängige Verfahren unberührt lassen (BT-Drucks. 19/18791 S. 86), die Änderung verfahrensrechtlicher Vorschriften also auf den Ausgang eines bei Inkrafttreten der verfahrensrechtlichen Neuregelung anhängigen Verfahrens keine Auswirkungen haben soll. Dadurch wird im Interesse der Rechtssicherheit das mit Beginn des Rechtsstreits eingegangene Risiko nicht durch nachträgliche Änderungen dessen formaler Abwicklung verändert (vgl. MüKoBGB/Krafka, 8. Aufl. 2021, § 48 WEG n.F. Rn. 12). Im Hinblick auf den (auch) verfahrensrechtlichen Charakter von § 9a Abs. 2 WEG ist daher anzunehmen, dass es dem Plan des Gesetzgebers entspricht, die Prozessführungsbefugnis eines Wohnungseigentümers in einem bei Gericht bereits anhängigen Verfahren nicht schon durch das bloße Inkrafttreten der Neuregelung entfallen zu lassen. Er hätte aber zugleich auch den Rechten der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer Rechnung getragen, der er in § 18 Abs. 1 WEG die Aufgabe der Verwaltung des gemeinschaftlichen Eigentums und in § 9a Abs. 2 WEG die alleinige Ausübungsbefugnis für die sich aus dem gemeinschaftlichen Eigentum ergebenden Rechte zugewiesen hat. Dementsprechend hätte er das Recht der Gemeinschaft, über die Fortführung des Verfahrens eigenverantwortlich zu entscheiden, unangetastet gelassen. Daraus folgt, dass die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer das bereits anhängige Verfahren selber als Partei übernehmen (vgl. Senat, Urteil vom 10. Juli 2015 - V ZR 169/14, NJW 2016, 53 Rn. 8) oder aber dem Wohnungseigentümer die Fortführung des Verfahrens untersagen kann, etwa weil sie den Konflikt auf andere Weise als durch einen gerichtlichen Rechtsstreit beilegen will.(2) Solange dem Gericht ein entgegenstehender Wille der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer nicht zur Kenntnis gebracht wird, besteht für ein bereits vor dem 1. Dezember 2020 anhängiges Verfahren die Prozessführungsbefugnis des Wohnungseigentümers fort. Dies rechtfertigt sich aus der Überlegung, dass die Geltendmachung und Durchsetzung von sich aus dem gemeinschaftlichen Eigentum ergebenden Rechten, insbesondere die Verfolgung von Ansprüchen wegen einer Beeinträchtigung des gemeinschaftlichen Eigentums, typischerweise im Interesse der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer liegt. Beurteilungsgrundlage für das Vorliegen eines entgegenstehenden Willens der Gemeinschaft ist die - im Außenverhältnis maßgebliche - Äußerung ihres nach § 9b WEG vertretungsberechtigten Organs. Auf die Wirksamkeit der Entscheidungsbildung der Wohnungseigentümer im Innenverhältnis, insbesondere die Wirksamkeit eines dazu gefassten Beschlusses, kommt es dagegen nicht an.7. Gemessen an diesen Grundsätzen ist der Kläger prozessführungsbefugt. Es kann dahingestellt bleiben, ob das von dem Prozessbevollmächtigen des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat vorgelegte Dokument vom 22. März 2021 eine Ermächtigung des Klägers zur Fortführung des Verfahrens durch die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer belegt. Jedenfalls ergibt sich hieraus kein dem entgegenstehender Wille.B. Rechtsfehlerfrei nimmt das Berufungsgericht an, dass dem Kläger gemäß § 16 Abs. 1 Nr. 4 NRG BW ein Anspruch auf Beseitigung der Zypressen zusteht.1. Zu Recht geht das Berufungsgericht davon aus, dass § 16 Abs. 1 NRG BW eine selbständige landesrechtliche Anspruchsgrundlage darstellt, die dem betroffenen Nachbarn bei Nichteinhaltung der genannten Grenzabstände einen Anspruch auf Beseitigung der angepflanzten Gehölze gibt (so auch OLG Karlsruhe, BeckRS 2020, 8812 Rn. 22, 31, 34; VG Karlsruhe, NuR 1984, 23; Birk, Nachbarrecht für Baden-Württemberg, 6. Aufl., S. 192 f., 228; Breloer, Bäume, Sträucher und Hecken im Nachbarrecht, 6. Aufl., S. 47; Bruns, Nachbarrechtsgesetz Baden-Württemberg, 4. Aufl., Einl. Rn. 30, § 16 Rn. 47, § 26 Rn. 15; Dehner, Nachbarrecht [August 2020], B § 22 II 2 c, i; Pelka, Das Nachbarrecht in Baden-Württemberg, 22. Aufl., S. 127, 142; Reich, Gesetz über das Nachbarrecht Baden-Württembergs, § 16 Rn. 2; Vetter/Karremann/Kahl/Kaiser/Kaiser, Nachbarrecht Baden-Württemberg, 19. Aufl., § 26 Rn. 2; a.A. wohl Horst, Rechtshandbuch Nachbarrecht, 2. Aufl., Rn. 226, 317).Zwar ist § 16 Abs. 1 NRG BW, wonach bei der Anpflanzung von Bäumen, Sträuchern und anderen Gehölzen näher bestimmte Grenzabstände einzuhalten sind, nach seinem Wortlaut nicht als Anspruchsgrundlage für Beseitigungsansprüche, sondern als Gebotsnorm formuliert. Der Landesgesetzgeber ging jedoch ohne weiteres davon aus, dass die Vorschrift einen Anspruch auf Beseitigung grenzunterschreitender Anpflanzungen umfasst. Dies folgt aus der Entstehungsgeschichte und Systematik des Gesetzes.a) Mit der Vereinheitlichung des Nachbarrechts durch das am 14. Dezember 1959 verabschiedete Nachbarrechtsgesetz für Baden-Württemberg (fortan: NRG BW 1959) wurden die früheren württembergischen Vorschriften über Grenzabstände von Bäumen und Sträuchern auf die badischen Landesteile erstreckt. Damit trug der Landesgesetzgeber einer Forderung der Landwirtschaft Rechnung, die die badische Regelung des Nachbarrechts wegen der darin vorgesehenen verhältnismäßig geringen Abstände für Bäume und Waldanlagen kritisiert hatte (vgl. Band V der Beilagen zu den Sitzungsprotokollen des 2. Landtags von Baden-Württemberg, Beilage 2220, S. 3553). Dass mit der Übernahme der in Art. 204 des früheren württembergischen AGBGB enthaltenen Formulierung "Bei Anpflanzungen ... sind folgende Abstände von der Grenze einzuhalten" anstelle der in Artikel 10 des badischen AGBGB verwendeten Formulierung "Der Eigentümer eines Grundstücks kann verlangen ..." in die neu geschaffene Regelung des § 16 NRG BW 1959 die Rechte der Grundstückseigentümer insbesondere in den badischen Landesteilen nicht verschlechtert werden sollten, wird an der Verjährungsregelung des § 26 Abs. 1 NRG BW 1959 deutlich. Danach verjährte der Anspruch auf Beseitigung von Einfriedigungen, Spaliervorrichtungen oder Pflanzungen, die den Vorschriften der §§ 11 bis 18 nicht entsprachen, in fünf Jahren seit der Schaffung der Einfriedigung, Spaliervorrichtung oder Pflanzung. Mit dieser Regelung sollte nach dem Willen des Landesgesetzgebers die damals geltende allgemeine 30-jährige Verjährungsfrist nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch wesentlich abgekürzt und einheitlich für alle Beseitigungsansprüche nach den §§ 11 bis 18 NRG BW 1959 festgesetzt werden (aaO, S. 3559). Der Gesetzgeber ging also ausdrücklich davon aus, dass die genannten Normen, die - wie auch § 16 NRG BW 1959 - im Wesentlichen lediglich als Gebotsnormen über die Einhaltung bestimmter Grenzabstände formuliert waren, nicht lediglich bloße Ordnungsvorschriften zum Schutz des Nachbargrundstücks darstellten, sondern zugleich landesrechtliche Beseitigungsansprüche gewährten.b) Der Wille des Gesetzgebers, mit § 16 NRG BW einen landesrechtlichen Beseitigungsanspruch zu schaffen, wird durch die Neuregelung der Verjährungsvorschrift in § 26 Abs. 1 NRG BW bestätigt. Danach verjähren Beseitigungsansprüche nach diesem Gesetz in fünf Jahren. Nach Satz 2 der Vorschrift beträgt die Verjährungsfrist zehn Jahre, wenn Gehölze im Sinne des § 16 Abs. 1 Nr. 4 oder 5 NRG BW betroffen sind. Schon aus dem Wortlaut der Regelung ergibt sich, dass der Gesetzgeber davon ausging, dass § 16 Abs. 1 Nr. 4 und 5 NRG BW einen Beseitigungsanspruch gewährt. Dies ergibt sich aber auch aus Sinn und Zweck der Regelung.aa) Dem Landesgesetzgeber erschien hinsichtlich der in § 26 Abs. 1 Satz 2 NRG BW genannten Gehölze, die im Allgemeinen höher wachsen, die fünfjährige Verjährungsfrist zu kurz. Er verlängerte die Frist auf zehn Jahre, um den Rechtsschutz des Nachbarn gegen rechtswidrig zu nahe an der Grundstücksgrenze gepflanzte mittelgroße und großwüchsige Gehölze, die oft erst nach Ablauf der fünfjährigen Verjährungsfrist eine störende Ausdehnung erreichten, effektiver zu gestalten und dadurch auch eine effiziente Nutzung von Photovoltaik- und sonstigen Solaranlagen, die auf Gebäudedächern und -fassaden angebracht sind, zu ermöglichen. Grundstückseigentümer sollten länger die Möglichkeit haben, gegen solche Bepflanzungen des Nachbargrundstücks vorzugehen und so auch Hindernisse für eine effektive Solarnutzung auf dem eigenen Grundstück zu beseitigen. Das sollte dazu beitragen, dass die Nutzung von Solarenergie auf Privatgrundstücken weiter zunehme (Entwurfsbegründung des Gesetzes zur Änderung des Nachbarrechtsgesetzes BW, LT-Drucks. 15/4384 S. 8, 10, 14).bb) Dieses Ziel würde verfehlt, wenn der Begriff der "Beseitigungsansprüche nach diesem Gesetz" i.S.d. § 26 NRG BW dahingehend ausgelegt würde, dass damit nur die in §§ 23 und 25 NRG BW ausdrücklich in dieser Weise formulierten Beseitigungsansprüche gemeint, Abstandsvorschriften wie etwa § 16 Abs. 1 NRG BW dagegen nicht erfasst seien. Denn dann hätte § 26 Abs. 1 Satz 2 NRG BW keinen Anwendungsbereich; insbesondere könnte nach Ablauf von fünf Jahren die Beseitigung von grenzunterschreitenden großwüchsigen Arten i.S. von § 16 Abs. 1 Nr. 5 NRG BW, auf die sich auch nicht die Verkürzungspflicht nach § 16 Abs. 3 NRG BW bezieht, nicht verlangt werden, obwohl sich gerade solche Gewächse besonders verschattend auf das Nachbargrundstück auswirken können und sie aus diesem Grunde ausdrücklich von der längeren Verjährungsfrist erfasst werden sollen (vgl. Vetter/Karremann/Kahl/Kaiser/Kaiser, Nachbarrecht Baden-Württemberg, 19. Aufl., Erl. § 26 Rn. 2; Pelka, das Nachbarrecht in Baden-Württemberg, 22. Aufl., VII, S. 142; Bruns, Nachbarrechtsgesetz Baden-Württemberg, 4. Aufl., § 26 Rn. 15; Birk, Nachbarrecht für Baden-Württemberg, 6. Aufl., S. 228). Das aber wäre mit dem von dem Landesgesetzgeber ausdrücklich verfolgten Ziel, durch Stärkung des Rechtsschutzes Hindernisse für eine effiziente Nutzung solarer Energie auf dem eigenen Grundstück zu beseitigen, nicht in Einklang zu bringen.c) Dem Ergebnis, dass § 16 Abs. 1 NRG BW einen Beseitigungsanspruch gewährt, steht nicht entgegen, dass in anderen Vorschriften, namentlich in § 23 Abs. 1 und § 25 Abs. 1 NRG BW, ausdrücklich von einem Beseitigungsverlangen die Rede ist, während § 16 Abs. 1 NRG BW nur als Gebotsnorm formuliert ist. Daraus lässt sich nicht - wie die Revision meint - die Schlussfolgerung ziehen, dass der Landesgesetzgeber durch entsprechende Formulierung klar zu erkennen gegeben habe, wenn er selbständige landesrechtliche Beseitigungsansprüche habe schaffen wollen. Die Vorschriften der § 23 Abs. 1 und § 25 Abs. 1 NRG BW treffen eine Regelung für herüberragende Zweige "abweichend von § 910 Abs. 1 BGB" und knüpfen damit notwendigerweise an den in § 910 Abs. 1 BGB enthaltenen Begriff der "Beseitigung" an. Dessen Verwendung lässt daher keine Schlussfolgerung über die Qualifizierung der übrigen gesetzlichen Regelungen zu.d) Entgegen der Auffassung der Revision hatte der Landesgesetzgeber die Gesetzgebungskompetenz, über die bloße Festlegung von Grenzabständen hinaus in § 16 Abs. 1 NRG BW einen Beseitigungsanspruch gesetzlich zu regeln. Dies folgt aus Art. 124 EGBGB, der den Landesgesetzgeber ermächtigt, das Eigentum an Grundstücken zu Gunsten der Nachbarn noch anderen als den im Bürgerlichen Gesetzbuch bestimmten Beschränkungen zu unterwerfen. Eine solche Beschränkung kann auch in der Regelung von Rechten und Pflichten eines Nachbarn bei der Nichteinhaltung von Grenzabständen bestehen. Nicht berechtigt wäre der Landesgesetzgeber allerdings, Inhalt und Umfang des Anspruchs wegen einer unmittelbar von § 1004 Abs. 1 Satz 1 BGB erfassten Eigentumsbeeinträchtigung abweichend vom Bürgerlichen Gesetzbuch zu regeln (vgl. Senat, Urteil vom 22. Februar 2019 - V ZR 136/18, NJW-RR 2019, 590 Rn. 21). Eine solche Regelung hat der Landesgesetzgeber aber nicht getroffen.2. Rechtsfehlerfrei und von der Revision nicht angegriffen nimmt das Berufungsgericht an, dass die Voraussetzungen für einen Beseitigungsanspruch gemäß § 16 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe a NRG BW erfüllt sind, da es sich bei den auf dem Grundstück der Beklagten befindlichen Zypressen um Gewächse im Sinne dieser Vorschrift handelt, die den vorgeschriebenen Grenzabstand von 4 Metern nicht einhalten.3. Rechtlich zutreffend ist auch die Auffassung des Berufungsgerichts, dass der Kläger die grenzunterschreitende Bepflanzung nicht aufgrund des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses zu dulden hat.a) Nach der Rechtsprechung des Senats wirkt sich der Gedanke von Treu und Glauben im Rahmen eines nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses hauptsächlich als Schranke der Rechtsausübung aus. Dies kann u.a. dazu führen, dass der Grundstückseigentümer eine bestimmte Nutzung seines Grundstücks durch den Nachbarn dulden muss. Allerdings haben die Rechte und Pflichten von Grundstücksnachbarn insbesondere durch die Vorschriften der §§ 905 ff. BGB und die Bestimmungen der Nachbarrechtsgesetze der Länder eine ins Einzelne gehende Sonderregelung erfahren. Daneben kommt eine allgemeine Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme aus dem Gesichtspunkt des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses nur zum Tragen, wenn ein über die gesetzlichen Regelungen hinausgehender billiger Ausgleich der widerstreitenden Interessen dringend geboten erscheint (vgl. Senat, Urteil vom 8. Februar 2013 - V ZR 56/12, NJW-RR 2013, 650 Rn. 6; Urteil vom 20. September 2019 - V ZR 218/18, BGHZ 223, 155 Rn. 21). Von diesen Grundsätzen geht das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei aus.b) Entgegen der Ansicht der Revision ist ein Beseitigungsanspruch aus § 16 Abs. 1 NRG BW nicht im Hinblick auf das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis ausgeschlossen, wenn es an einer - über die Nichteinhaltung des gesetzlichen Mindestabstandes hinausgehenden - Eigentumsbeeinträchtigung i.S.d. § 1004 Abs. 1 BGB des Nachbargrundstücks fehlt. Ein solches Erfordernis besteht für den Beseitigungsanspruch aus § 16 Abs. 1 NRG BW gerade nicht und kann auch nicht unter Hinweis auf das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis als zusätzliches Tatbestandsmerkmal verlangt werden. Denn die Grundsätze des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses dienen nicht dazu, eine gesetzgeberische Entscheidung zu korrigieren. Daher vermag allein der Umstand, dass dem Kläger an dem zur Grenze hin gelegenen, im Miteigentum aller Wohnungseigentümer stehenden Grundstücksteil kein Nutzungsrecht zusteht, eine Beschränkung des Beseitigungsanspruchs nicht zu rechtfertigen.Das Berufungsgericht überspannt auch nicht - wie die Revision meint - die Substantiierungsanforderungen, wenn es annimmt, ein zwingender Ausnahmefall, der das Recht des Klägers auf Einhaltung des Grenzabstandes beschränken könnte, sei nicht vorgetragen. Soweit die Revision auf das vorinstanzliche Vorbringen der Beklagten verweist, die Bäume seien äußerst schmal und ein Schattenwurf sei aufgrund ihrer Lage nicht zu befürchten, geht das Berufungsgericht, dessen tatrichterliche Würdigung im Revisionsverfahren nur eingeschränkt nachprüfbar ist (vgl. Senat, Urteil vom 8. Februar 2013 - V ZR 56/12, NJW-RR 2013, 650 Rn. 8; Urteil vom 13. Juli 2018 - V ZR 308/17, NJW-RR 2019, 78 Rn. 13), rechtsfehlerfrei davon aus, dass sich aus diesem Vorbringen ein zwingender Ausnahmefall nicht ergibt.4. Der Beseitigungsanspruch nach § 16 Abs. 1 Nr. 4 NRG BW ist nicht verjährt; denn die zehnjährige Verjährungsfrist des § 26 NRG BW ist noch nicht abgelaufen. Ohne Rechtsfehler und von der Revision auch nicht beanstandet nimmt das Berufungsgericht schließlich an, dass der Anspruch nicht verwirkt ist und auch kein Verstoß gegen das Schikaneverbot gemäß § 226 BGB vorliegt.5. Da dem Kläger bereits ein Beseitigungsanspruch aus § 16 Abs. 1 Nr. 4 NRG BW zusteht, hat das Berufungsgericht zu Recht offengelassen, ob daneben auch die Voraussetzungen des in § 1004 Abs. 1 BGB geregelten Beseitigungsanspruchs vorliegen, der eine - nicht schon durch die Unterschreitung eines bestimmten Grenzabstandes begründete (vgl. Senat, Urteil vom 10. Juni 2005 - V ZR 251/04, ZMR 2013, 395 Rn. 12; Beschluss vom 4. März 2010 - V ZB 130/09, NJW-RR 2010, 807 Rn. 24; Staudinger/Albrecht, BGB [2018], Art. 124 EGBGB Rn. 35; a.A. Staudinger/Thole, BGB [2019], § 1004 Rn. 128 u. 198; BeckOGK/Spohnheimer, BGB [01.02.2021], § 1004 Rn. 97) - Eigentumsbeeinträchtigung verlangt.III.Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.StresemannSchmidt-RäntschWeinlandGöbelHaberkamp
bundesgerichtshof
bgh_021-2020
20.02.2020
Zur Haftung für Kundenbewertungen bei Amazon Ausgabejahr 2020 Erscheinungsdatum 20.02.2020 Nr. 021/2020 Urteil vom 20. Februar 2020 - I ZR 193/18 Der unter anderem für Ansprüche aus dem Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb zuständige I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat entschieden, dass den Anbieter eines auf der Online-Handelsplattform Amazon angebotenen Produkts für Bewertungen des Produkts durch Kunden grundsätzlich keine wettbewerbsrechtliche Haftung trifft. Sachverhalt: Der Kläger ist ein eingetragener Wettbewerbsverein. Die Beklagte vertreibt Kinesiologie-Tapes. Sie hat diese Produkte in der Vergangenheit damit beworben, dass sie zur Schmerzbehandlung geeignet seien, was jedoch medizinisch nicht gesichert nachweisbar ist. Die Beklagte hat deshalb am 4. November 2013 gegenüber dem Kläger eine strafbewehrte Unterlassungserklärung abgegeben. Die Beklagte bietet ihre Produkte auch bei der Online-Handelsplattform Amazon an. Dort wird für jedes Produkt über die EAN (European Article Number) eine diesem Produkt zugewiesene ASIN (Amazon-Standard-Identifikationsnummer) generiert, die sicherstellen soll, dass beim Aufruf eines bestimmten Produkts die Angebote sämtlicher Anbieter dieses Produkts angezeigt werden. Käuferinnen und Käufer können bei Amazon die Produkte bewerten. Amazon weist eine solche Bewertung ohne nähere Prüfung dem unter der entsprechenden ASIN geführten Produkt zu. Das hat zur Folge, dass zu einem Artikel alle Kundenbewertungen angezeigt werden, die zu diesem - unter Umständen von mehreren Verkäufern angebotenen - Produkt abgegeben wurden. Am 17. Januar 2017 bot die Beklagte bei Amazon Kinesiologie-Tapes an. Unter diesem Angebot waren Kundenrezensionen abrufbar, die unter anderem die Hinweise "schmerzlinderndes Tape!", "This product is perfect for pain…", "Schnell lässt der Schmerz nach", "Linderung der Schmerzen ist spürbar", "Die Schmerzen gehen durch das Bekleben weg" und "Schmerzen lindern" enthielten. Der Kläger forderte von der Beklagten die Zahlung einer Vertragsstrafe. Die Löschung der Kundenrezensionen lehnte Amazon auf Anfrage der Beklagten ab. Der Kläger begehrt Unterlassung und Zahlung der Vertragsstrafe sowie der Abmahnkosten. Die Beklagte habe sich die Kundenrezensionen zu Eigen gemacht und hätte auf ihre Löschung hinwirken müssen. Falls dies nicht möglich sei, dürfe sie die Produkte bei Amazon nicht anbieten Bisheriger Prozessverlauf: Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Es bestehe kein Anspruch aus § 8 Abs. 1, § 3a* UWG in Verbindung mit § 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 HWG. Die Berufung des Klägers hatte keinen Erfolg. Zwar seien die in den Kundenrezensionen enthaltenen gesundheitsbezogenen Angaben irreführend. Sie stellten aber keine Werbung dar. Zumindest wäre eine solche Werbung der Beklagten nicht zuzurechnen. Entscheidung des Bundesgerichtshofs: Der Bundesgerichtshof hat die Revision des Klägers zurückgewiesen. Das Berufungsgericht hat mit Recht angenommen, dass die Beklagte für Kundenbewertungen der von ihr bei Amazon angebotenen Produkte keine wettbewerbsrechtliche Haftung trifft. Ein Unterlassungsanspruch des Klägers ergibt sich nicht aus der Vorschrift des § 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 und Satz 2 HWG, die Werbung für Medizinprodukte mit irreführenden Äußerungen Dritter verbietet. Die Kundenbewertungen sind zwar irreführende Äußerungen Dritter, weil die behauptete Schmerzlinderung durch Kinesiologie-Tapes medizinisch nicht gesichert nachweisbar ist. Die Beklagte hat mit den Kundenbewertungen aber nicht geworben. Nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen des Berufungsgerichts hat sie weder selbst aktiv mit den Bewertungen geworben oder diese veranlasst, noch hat sie sich die Kundenbewertungen zu eigen gemacht, indem sie die inhaltliche Verantwortung dafür übernommen hat. Die Kundenbewertungen sind vielmehr als solche gekennzeichnet, finden sich bei Amazon getrennt vom Angebot der Beklagten und werden von den Nutzerinnen und Nutzern nicht der Sphäre der Beklagten als Verkäuferin zugerechnet. Die Beklagte traf auch keine Rechtspflicht, eine Irreführung durch die Kundenbewertungen gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 und 2 Fall 2 Nr. 1 UWG zu verhindern. Durch ihr Angebot auf Amazon wird keine Garantenstellung begründet. Von ausschlaggebender Bedeutung ist dabei, dass Kundenbewertungssysteme auf Online-Marktplätzen gesellschaftlich erwünscht sind und verfassungsrechtlichen Schutz genießen. Das Interesse von Verbraucherinnen und Verbrauchern, sich zu Produkten zu äußern und sich vor dem Kauf über Eigenschaften, Vorzüge und Nachteile eines Produkts aus verschiedenen Quellen, zu denen auch Bewertungen anderer Kunden gehören, zu informieren oder auszutauschen, wird durch das Grundrecht der Meinungs- und Informationsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG geschützt. Einer Abwägung mit dem Rechtsgut der öffentlichen Gesundheit, die als Gemeinschaftsgut von hohem Rang einen Eingriff in dieses Grundrecht rechtfertigen könnte, bedarf es hier nicht, weil Anhaltspunkten für eine Gesundheitsgefährdung bei dem Angebot von Kinesiologie-Tapes fehlen. Vorinstanzen: LG Essen - Urteil vom 30. August 2017 - 42 O 20/17 OLG Hamm - Urteil vom 11. September 2018 - 4 U 134/17 Die maßgeblichen Vorschriften lauten: § 3a UWG Unlauter handelt, wer einer gesetzlichen Vorschrift zuwiderhandelt, die auch dazu bestimmt ist, im Interesse der Marktteilnehmer das Marktverhalten zu regeln, und der Verstoß geeignet ist, die Interessen von Verbrauchern, sonstigen Marktteilnehmern oder Mitbewerbern spürbar zu beeinträchtigen. § 5 Abs. 1 Satz 1 und 2 Fall 2 Nr. 1 UWG Unlauter handelt, wer eine irreführende geschäftliche Handlung vornimmt, die geeignet ist, den Verbraucher oder sonstigen Marktteilnehmer zu einer geschäftlichen Entscheidung zu veranlassen, die er andernfalls nicht getroffen hätte. Eine geschäftliche Handlung ist irreführend, wenn sie unwahre Angaben enthält oder sonstige zur Täuschung geeignete Angaben über folgende Umstände enthält: 1. die wesentlichen Merkmale der Ware oder Dienstleistung wie Verfügbarkeit, Art, Ausführung, Vorteile, Risiken, Zusammensetzung, Zubehör, Verfahren oder Zeitpunkt der Herstellung, Lieferung oder Erbringung, Zwecktauglichkeit, Verwendungsmöglichkeit, Menge, Beschaffenheit, Kundendienst und Beschwerdeverfahren, geographische oder betriebliche Herkunft, von der Verwendung zu erwartende Ergebnisse oder die Ergebnisse oder wesentlichen Bestandteile von Tests der Waren oder Dienstleistungen; § 8 Abs. 1 UWG Wer eine nach § 3 oder § 7 unzulässige geschäftliche Handlung vornimmt, kann auf Beseitigung und bei Wiederholungsgefahr auf Unterlassung in Anspruch genommen werden. Der Anspruch auf Unterlassung besteht bereits dann, wenn eine derartige Zuwiderhandlung gegen § 3 oder § 7 droht. § 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 HWG Außerhalb der Fachkreise darf für Arzneimittel, Verfahren, Behandlungen, Gegenstände oder andere Mittel nicht geworben werden mit Äußerungen Dritter, insbesondere mit Dank-, Anerkennungs- oder Empfehlungsschreiben, oder mit Hinweisen auf solche Äußerungen, wenn diese in missbräuchlicher, abstoßender oder irreführender Weise erfolgen. Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Karlsruhe, den 20. Februar 2020 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Urteil des I. Zivilsenats vom 20.2.2020 - I ZR 193/18 -
Tenor Die Revision gegen das Urteil des 4. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Hamm vom 11. September 2018 wird auf Kosten des Klägers zurückgewiesen.Von Rechts wegen. Tatbestand Der Kläger, der Verband Sozialer Wettbewerb e.V., ist ein eingetragener Verein, zu dessen satzungsmäßigen Aufgaben die Wahrung der gewerblichen Interessen seiner Mitglieder gehört.Die Beklagte vertreibt Kinesiologie-Tapes. Im Jahre 2013 bewarb sie die Tapes mit der Angabe, diese seien zur Schmerzbehandlung geeignet. Da dies medizinisch nicht gesichert nachweisbar ist, gab die Beklagte gegenüber dem Kläger auf dessen Abmahnung eine strafbewehrte Unterlassungserklärung ab. Sie verpflichtete sich dazu, zukünftig für Kinesiologie-Tapes und insbesondere für das Produkt "Gitter Tape" nicht mehr mit Werbeaussagen wie "Kleben Sie den Schmerz einfach weg", "Schmerzlinderung", "Schmerzen können ohne Medikamente gelindert bis geheilt werden" und "Perfekt für Schmerz" zu werben. Nach einem Verstoß gegen die Unterlassungsverpflichtung im Februar 2014 einigten sich die Parteien für zukünftige Vertragsverletzungen auf eine Vertragsstrafe von 1.500 €.Die Beklagte bietet ihre Produkte auch auf der Online-Handelsplattform Amazon (im Folgenden: Amazon) an. Dort wird für jedes Produkt über die EAN (European Article Number) eine diesem Produkt zugewiesene ASIN (Amazon-Standard-Identifikationsnummer) generiert, die sicherstellen soll, dass beim Aufruf eines bestimmten Produkts die Angebote sämtlicher Anbieter dieses Produkts angezeigt werden. Käuferinnen und Käufer können bei Amazon die Produkte bewerten. Amazon weist eine solche Bewertung ohne nähere Prüfung dem unter der entsprechenden ASIN geführten Produkt zu. Das hat zur Folge, dass zu einem Artikel alle Kundenbewertungen angezeigt werden, die zu diesem - unter Umständen von mehreren Verkäufern angebotenen - Produkt abgegeben wurden.Am 17. Januar 2017 bot die Beklagte bei Amazon Kinesiologie-Tapes an. Unter diesem Angebot waren Kundenrezensionen abrufbar, die unter anderem die Hinweise "Schmerzlinderndes Tape!", "This product is perfect for pain...", "Schnell lässt der Schmerz nach", "Linderung der Schmerzen ist spürbar", "Die Schmerzen gehen durch das Bekleben weg" und "Schmerzen lindern" enthielten. Auf Anfrage der Beklagten lehnte Amazon die Löschung der Kundenrezensionen ab. Der Kläger forderte von der Beklagten eine Vertragsstrafe von 4.500 €.Der Kläger hat beantragt, die Beklagte zu verurteilen, I. es bei Meidung näher bezeichneter Ordnungsmittel zu unterlassen, im geschäftlichen Verkehr für ein Nasara Original Kinesiologie-Tape mit der Angabe zu werben:1. "Schmerzlinderndes Tape!", 2. "perfect for pain...", 3. "Schnell lässt der Schmerz nach", 4. "Linderung der Schmerzen ist spürbar", 5. "Die Schmerzen gehen durch das Bekleben weg", 6. "Schmerzen lindern", jeweils sofern dies geschieht, wie in Anlage K 8 wiedergegeben; II. an den Kläger 4.500 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Zustellung der Klage zu zahlen; III. an den Kläger weitere 1.141,90 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Zustellung der Klage zu zahlen.Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers ist ohne Erfolg geblieben (OLG Hamm, Urteil vom 11. September 2018 - 4 U 134/17, juris). Mit seiner vom Berufungsgericht zugelassenen Revision, deren Zurückweisung die Beklagte beantragt, verfolgt der Kläger seine Klageanträge weiter. Gründe A. Das Berufungsgericht hat die Klageansprüche als unbegründet angesehen und dazu ausgeführt:Der Tatbestand der Marktverhaltensregelung des § 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 HWG sei nicht erfüllt. Die beanstandeten gesundheitsbezogenen Angaben in den Kundenbewertungen seien zwar irreführend. Die Kundenbewertungen stellten jedoch keine Werbung dar. Zumindest könne die Werbung der Beklagten nicht zugerechnet werden. Ein Verstoß gegen wettbewerbsrechtliche Verkehrspflichten im Sinne von § 3 Abs. 2 UWG komme nicht in Betracht, weil die Äußerungen in den Bewertungen keine der Beklagten zurechenbare Werbung darstellten. Die Frage der Zumutbarkeit von Prüfpflichten könne damit offenbleiben. Eine Irreführung, die der Beklagten zuzurechnen wäre, sei ebenfalls nicht feststellbar. Ein Anspruch auf Zahlung einer Vertragsstrafe sei mangels Werbung nicht gegeben. Damit bestehe auch kein Anspruch auf Zahlung von Abmahnkosten.B. Die gegen diese Beurteilung gerichtete Revision des Klägers hat keinen Erfolg. Die Annahme des Berufungsgerichts, dem Kläger stünden die geltend gemachten Ansprüche unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt zu, hält der revisionsrechtlichen Nachprüfung stand.I. Mit Recht hat das Berufungsgericht einen Unterlassungsanspruch des Klägers aus § 8 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Nr. 2, § 3 Abs. 1, § 3a UWG in Verbindung mit § 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 HWG abgelehnt. Die Beklagte hat mit den Kundenbewertungen nicht geworben.1. Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 HWG darf außerhalb der Fachkreise für Arzneimittel, Verfahren, Behandlungen, Gegenstände oder andere Mittel nicht mit Äußerungen Dritter, insbesondere mit Dank-, Anerkennungs- oder Empfehlungsschreiben, oder mit Hinweisen auf solche Äußerungen geworben werden, wenn diese in missbräuchlicher, abstoßender oder irreführender Weise erfolgen. Nach § 11 Abs. 1 Satz 2 HWG gilt das Werbeverbot entsprechend für Medizinprodukte, zu denen auch Kinesiologie-Tapes gehören (vgl. § 3 Nr. 1 Buchst. b MPG). Der Begriff der Werbung gemäß § 1 Abs. 1 HWG umfasst alle produkt- oder leistungsbezogenen Aussagen, die darauf angelegt sind, den Absatz des beworbenen Produkts oder der beworbenen Leistung zu fördern (vgl. BGH, Urteil vom 26. März 2009 - I ZR 213/06, BGHZ 180, 355 Rn. 13 - Festbetragsfestsetzung; Doepner in Doepner/Reese, HWG, 3. Aufl., § 1 Rn. 51 mwN). Das Berufungsgericht hat das dem Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher dienende Werbeverbot des § 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 HWG zutreffend als Marktverhaltensregelung im Sinne von § 3a UWG angesehen (zu § 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 HWG vgl. BGH, Urteil vom 1. Februar 2018 - I ZR 82/17, GRUR 2018, 627 Rn. 13 = WRP 2018, 827 - Gefäßgerüst, mwN).2. Die beanstandeten Kundenbewertungen, die Behauptungen über eine schmerzlindernde Wirkung der von der Beklagten angebotenen Kinesiologie-Tapes enthalten, sind Äußerungen Dritter. Sie erfolgen in irreführender Weise, weil die behauptete Wirkung medizinisch nicht gesichert nachweisbar ist.3. Die Beklagte hat mit diesen Kundenbewertungen jedoch nicht für die von ihr angebotenen Kinesiologie-Tapes geworben. Für eine Werbung im Sinne des § 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 HWG genügt es nicht, dass das Angebot der Beklagten für die irreführenden Kundenbewertungen adäquat kausal war. Der Tatbestand des § 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 HWG erfordert vielmehr, dass die Beklagte es darauf angelegt hat, mit den irreführenden Kundenbewertungen ihren Absatz zu fördern. Das ist nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen des Berufungsgerichts nicht der Fall.a) Die Beklagte hat mit den Kundenbewertungen nicht selbst geworben. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hat sie die beanstandeten Angaben auch nicht (mittelbar) veranlasst.b) Die Kundenbewertungen sind ihr auch nicht deswegen als eigene Werbehandlung zuzurechnen, weil sie sich diese zu eigen gemacht hätte.aa) Für die Beurteilung, ob eine wegen wettbewerbswidriger Werbung in Anspruch genommene Person sich fremde Äußerungen zu eigen macht, kommt es entscheidend darauf an, ob sie nach außen erkennbar die inhaltliche Verantwortung für die Äußerungen Dritter übernimmt oder den zurechenbaren Anschein erweckt, sie identifiziere sich mit ihnen. Ob dies der Fall ist, ist aus der Sicht eines verständigen Durchschnittsnutzers auf der Grundlage einer Gesamtbetrachtung aller relevanten Umstände zu beurteilen (zur Haftung eines Portalbetreibers für fremde Inhalte vgl. BGH, Urteil vom 19. März 2015 - I ZR 94/13, GRUR 2015, 1129 Rn. 25 = WRP 2015, 1326 - Hotelbewertungsportal, mwN; Urteil vom 4. April 2017 - VI ZR 123/16, GRUR 2017, 844 Rn. 18 = WRP 2017, 806; zur Haftung für Hyperlinks vgl. BGH, Urteil vom 18. Juni 2015 - I ZR 74/14, GRUR 2016, 209 Rn. 13 = WRP 2016, 187 - Haftung für Hyperlink; Ohly in Ohly/Sosnitza, UWG, 7. Aufl., § 8 Rn. 115a).Dieser Maßstab gilt entgegen der Auffassung der Revision auch im Heilmittelwerberecht. Die Bedeutung und das Ausmaß der Bedrohung der durch das Heilmittelwerbegesetz geschützten Rechtsgüter durch eine unangemessen beeinflussende Werbung sowie Sinn und Tragweite des Werbeverbots gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 HWG führen zwar zu einem weiten Anwendungsbereich von § 1 Abs. 1 HWG und zu einem strengen Maßstab bei der Beurteilung der Zulässigkeit von Werbung im Gesundheitswesen (vgl. BGH, Urteil vom 6. Juli 2006 - I ZR 145/03, GRUR 2006, 949 Rn. 22 = WRP 2006, 1370 - Kunden werben Kunden; BGHZ 180, 355 Rn. 17 - Festbetragsfestsetzung; BGH, Urteil vom 6. Februar 2013 - I ZR 62/11, GRUR 2013, 649 Rn. 15 = WRP 2013, 772 - Basisinsulin mit Gewichtsvorteil, mwN). Das rechtfertigt aber keine Ausweitung der Haftung für Äußerungen Dritter. Die einer Werbung für Heilmittel mit Äußerungen Dritter innewohnende spezifische Gesundheitsgefahr, der die Vorschrift des § 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 HWG entgegenwirken will (vgl. Doepner in Doepner/Reese aaO § 11 I 1 Nr. 11 Rn. 10), entfällt bei Äußerungen Dritter, die der Verkehr nicht als Werbung wahrnimmt, weil der Händler des Arzneimittels oder des Medizinprodukts sich die Angaben nicht zu eigen macht.bb) Danach hat die Beklagte sich die beanstandeten Kundenbewertungen nicht zu eigen gemacht. Die Kundenbewertungen sind als solche gekennzeichnet, finden sich bei Amazon getrennt vom Angebot der Beklagten und werden von den Nutzern nicht der Sphäre der Beklagten als Verkäuferin zugerechnet. Die gegen die entsprechenden Feststellungen des Berufungsgerichts gerichteten Angriffe der Revision haben keinen Erfolg.(1) Das Berufungsgericht hat festgestellt, die Kundenbewertungen seien einer ständigen, auch kurzfristigen Veränderung unterzogen, die der Anbieter nicht beeinflussen könne. Eine einzige negative Bewertung könne sämtliche positiven Bewertungen in Frage stellen und gegenstandslos erscheinen lassen. Die Kundenbewertungen, die grafisch eindeutig vom jeweiligen Angebot abgesetzt seien, stellten sich aus Sicht des angesprochenen Verkehrskreises als von der Produktbeschreibung und der Produktwerbung unabhängig dar. Es könne erwartet werden, dass der durchschnittlich informierte Verbraucher in den Grundzügen mit dem Bewertungssystem von Amazon vertraut sei, das unabhängig von direkten Einflussmöglichkeiten der jeweiligen Händler geführt und durch Amazon auf Verstöße überwacht werde. Der Verbraucher habe gerade deshalb ein Interesse an den Kundenbewertungen, weil sie nicht der Sphäre des Anbieters zugeordnet würden. Nach dem Konzept des Bewertungssystems sollten die Kundenbewertungen einer unabhängigen Verbraucherbefragung nahekommen. Für den Verbraucher entstehe damit gerade nicht der Eindruck, dass die Kundenrezensionen Teil des Angebots oder Werbung für das Angebot des Händlers seien.(2) Diese Feststellungen des Tatgerichts können in der Revision nur darauf überprüft werden, ob das Berufungsgericht bei seiner Würdigung einen falschen rechtlichen Maßstab angelegt, gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstoßen oder wesentliche Umstände unberücksichtigt gelassen hat (st.Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 24. Januar 2019 - I ZR 200/17, GRUR 2019, 631 Rn. 33 = WRP 2019, 736 - Das beste Netz, mwN). Solche Rechtsfehler vermag die Revision nicht aufzuzeigen.(3) Ohne Erfolg rügt sie einen Verstoß gegen § 286 ZPO mit der Begründung, die Kundenbewertungen erschienen tatsächlich als Teil des in mehrere gleichartige Gliederungspunkte zerfallenden Angebots der Beklagten. Damit ersetzt sie lediglich die Würdigung des Tatgerichts durch ihre eigene, ohne einen Rechtsfehler aufzuzeigen. Dasselbe gilt für die Auffassung der Revision, die Beklagte trete unmittelbar als Werbende hervor, weil sie ihre Ware bewusst in den Zusammenhang positiv wertender Äußerungen Dritter stelle und sie dort belasse.(4) Soweit die Revision darauf abstellt, dass die Beklagte in der Vergangenheit mehrfach selbst mit den beanstandeten Aussagen geworben hat, erfordert das keine andere Beurteilung. Die Annahme, es sei nicht unwahrscheinlich, dass die Kunden jenen Werbeversprechen der Beklagten Glauben geschenkt und gerade deshalb die teilweise sogar wortgleichen Bewertungen bei Amazon abgegeben hätten, findet keine Grundlage in den Feststellungen des Berufungsgerichts und ist als neuer Vortrag in der Revisionsinstanz unbeachtlich (§ 559 Abs. 1 ZPO). Auf die von der Revision aufgeworfene Frage des Missbrauchs durch gefälschte Bewertungen kommt es im Streitfall nicht an. Das Berufungsgericht hat keine entsprechenden Feststellungen getroffen.(5) Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts bleibt es mithin dabei, dass die angesprochenen Verkehrskreise die Kundenbewertungen nicht der Sphäre der Beklagten zuordnen (so auch LG Magdeburg, Urteil vom 18. Januar 2019 - 36 O 48/18, juris Rn. 33). Es handelt sich (aus Sicht der Nutzer von Amazon) vielmehr um persönliche Einschätzungen anderer Kunden, denen keine der Beklagten zurechenbare Irreführungsgefahr zukommt. In diesem Rahmen erzeugte Fehlvorstellungen sind hinzunehmen (vgl. LG Heilbronn, Urteil vom 11. Juli 2017 - 21 O 5/17, juris Rn. 89). Überdies ist einem Kundenbewertungssystem immanent, dass es neben positiven auch negative Bewertungen hervorbringt; das wirkt einer möglichen Irreführung und damit einer Gesundheitsgefährdung zusätzlich entgegen (vgl. Ring in Bülow/Ring/Artz/Brixius, HWG, 5. Aufl., § 11 Abs. 1 S. 1 Nr. 11 Rn. 5).c) Die Revision beruft sich ohne Erfolg darauf, die Kundenbewertungen seien der Beklagten nach den Grundsätzen aus der Senatsentscheidung "Herstellerpreisempfehlung bei Amazon" (BGH, Urteil vom 3. März 2016 - I ZR 110/15, GRUR 2016, 961 = WRP 2016, 1102) als Werbung zuzurechnen. Gegenstand dieser Entscheidung war das Angebot einer Händlerin auf Amazon. Über dem darin angegebenen Kaufpreis war eine höhere und durchgestrichene "unverbindliche Preisempfehlung" des Herstellers angebracht, die zum Angebotszeitpunkt tatsächlich nicht bestand. Die Angabe einer unverbindlichen Preisempfehlung war ebenso wie ihre Veränderung nur dem Plattformbetreiber selbst und nicht der die Plattform nutzenden Händlerin möglich. Allerdings entstand für die Nutzer der Plattform der Eindruck, die Angabe der unverbindlichen Preisempfehlung sei Teil des von der beklagten Händlerin veröffentlichten Angebots und stamme von dieser. Der Senat hat angenommen, indem die Händlerin dem Plattformbetreiber die Möglichkeit eingeräumt habe, auf das Erscheinungsbild ihres Angebots Einfluss zu nehmen, ohne sich ein vertragliches Entscheidungs- oder Kontrollrecht vorzubehalten, habe sie die Gewähr für die Richtigkeit der vom Plattformbetreiber vorgenommenen Angaben übernommen (BGH, GRUR 2016, 961 Rn. 40 - Herstellerpreisempfehlung bei Amazon). Diese Überlegungen können nicht auf Angaben in Kundenbewertungen übertragen werden, die der Händler nicht - auch nicht mittelbar - veranlasst hat und die ihm aus Sicht der Nutzer der Plattform nicht zuzurechnen sind. Allein der Umstand, dass der Händler bei Erstellung des Angebots von dem Bewertungssystem bei Amazon und von positiven Bewertungen für das von ihm eingestellte Produkt Kenntnis hat, führt nicht zu einer Zurechnung dieser Kundenbewertungen als Werbung, solange der Händler nicht den Anschein erweckt, er mache sie sich zu eigen. Ein solches Zueigenmachen ist nach den Feststellungen des Berufungsgerichts aus Sicht des maßgeblichen Verkehrs nicht gegeben (siehe oben Rn. 19).d) Die Grundsätze aus der Senatsentscheidung "Angebotsmanipulation bei Amazon" (BGH, Urteil vom 3. März 2016 - I ZR 140/14, GRUR 2016, 936 = WRP 2016, 1107) sind ebenfalls nicht einschlägig. Diese Entscheidung zum Markenrecht betraf das Angebot eines Händlers auf Amazon Marketplace. Auf dieser Verkaufsplattform können nach den Feststellungen des Berufungsgerichts in jenem Rechtsstreit Angebote für ein bestimmtes Produkt durch andere Händler geändert werden, was in Händlerkreisen bekannt sei. Im Angebot des beklagten Händlers war die Produktbeschreibung durch Dritte nachträglich verändert worden und verletzte in der geänderten Form ein Kennzeichenrecht des Klägers. Der Senat hat angenommen, der Händler habe als Störer eine Überwachungs- und Prüfpflicht für mögliche Veränderungen der Produktbeschreibungen seines Angebots durch Dritte, wenn der Plattformbetreiber derartige Angebotsänderungen zulasse. Für den Inhalt des von ihm veröffentlichten Angebots treffe den Händler aus Sicht des Verkehrs unmittelbar die Verantwortung (BGH, GRUR 2016, 936 Rn. 18 und 28 - Angebotsmanipulation bei Amazon). Auch diese Ausführungen beziehen sich auf die inhaltliche Ausgestaltung des Angebots selbst und sind nicht auf - wie im Streitfall - außerhalb des Angebots stehende Kundenbewertungen übertragbar, die sich der Händler nicht zu eigen macht.II. Zutreffend hat das Berufungsgericht auch einen Unterlassungsanspruch des Klägers gegen die Beklagte wegen einer irreführenden geschäftlichen Handlung gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Fall 2 Nr. 1 UWG abgelehnt.1. Nach § 5 Abs. 1 Satz 1 UWG handelt unlauter, wer eine irreführende geschäftliche Handlung vornimmt, die geeignet ist, den Verbraucher oder sonstigen Marktteilnehmer zu einer geschäftlichen Entscheidung zu veranlassen, die er andernfalls nicht getroffen hätte. Nach § 5 Abs. 1 Satz 2 UWG ist eine geschäftliche Handlung irreführend, wenn sie unwahre Angaben enthält oder sonstige - nachfolgend aufgezählte - zur Täuschung geeignete Angaben enthält. Nach § 5 Abs. 1 Satz 2 Fall 2 Nr. 1 UWG ist eine geschäftliche Handlung irreführend, wenn sie sonstige zur Täuschung geeignete Angaben über die wesentlichen Merkmale der Ware wie - unter anderem - Vorteile, Risiken, Zwecktauglichkeit, Verwendungsmöglichkeit oder von der Verwendung zu erwartende Ergebnisse enthält.2. Die Angaben in den Kundenbewertungen über eine schmerzlindernde Wirkung der von der Beklagten angebotenen Kinesiologie-Tapes sind irreführend, weil diese Wirkung medizinisch nicht gesichert nachweisbar ist.3. Die Beklagte haftet für die irreführenden Kundenbewertungen aber nicht als Täterin oder Teilnehmerin. Eine deliktsrechtliche Verantwortung der Beklagten ist weder unter dem Gesichtspunkt eines aktiven Tuns noch unter dem Gesichtspunkt eines pflichtwidrigen Unterlassens begründet.a) Für die Haftung als Täter oder Teilnehmer einer deliktischen Handlung wie eines Wettbewerbsverstoßes gelten die strafrechtlichen Grundsätze zur Täterschaft und Teilnahme. Täter ist danach, wer die Zuwiderhandlung selbst oder in mittelbarer Täterschaft begeht (§ 25 Abs. 1 StGB). Mittäterschaft (vgl. § 830 Abs. 1 Satz 1 BGB) erfordert eine gemeinschaftliche Begehung, also ein bewusstes und gewolltes Zusammenwirken. Maßgebliches Kriterium für die Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme ist die Tatherrschaft. Danach ist Täter, wer den zum Erfolg führenden Kausalverlauf beherrscht, während als Teilnehmer verantwortlich ist, wer einem mit Tatherrschaft handelnden Dritten Hilfe leistet oder dessen Tatentschluss hervorruft. Diese Grundsätze gelten auch, wenn die Prüfung der Umstände des Einzelfalls ergibt, dass der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit in einem Unterlassen liegt (vgl. BGH, Urteil vom 10. Januar 2019 - I ZR 267/15, GRUR 2019, 813 Rn. 107 = WRP 2019, 1013 - Cordoba II, mwN).b) Die Beklagte hat nicht selbst, durch einen anderen oder in bewusstem und gewolltem Zusammenwirken mit einem anderen eine irreführende geschäftliche Handlung begangen. Aktiv gehandelt haben die Kunden, die zu dem von der Beklagten bei Amazon eingestellten Angebot Bewertungen abgegeben haben. Eine mittelbare Täterschaft scheitert an der fehlenden Kontrolle (Tatherrschaft) der Beklagten über das Handeln der Kunden. Ein für die Annahme von Mittäterschaft erforderliches bewusstes und gewolltes Zusammenwirken der Beklagten mit den die Bewertungen abgebenden Kundinnen und Kunden hat das Berufungsgericht ebenfalls nicht festgestellt.c) Für eine Haftung der Beklagten als Teilnehmerin fehlt es schon an einer rechtswidrigen Haupttat. Die Abgabe der Bewertungen ist wegen der fehlenden Absatzförderungsabsicht der Kunden keine geschäftliche Handlung (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 UWG) und damit kein Wettbewerbsverstoß, an dem die Beklagte im Sinne von §§ 26, 27 StGB beteiligt sein könnte (zur Teilnehmerhaftung vgl. BGH, Urteil vom 5. Oktober 2017 - I ZR 232/16, GRUR 2018, 438 Rn. 21 = WRP 2018, 420 - Energieausweis, mwN). Eine Anstiftung scheidet auch deshalb aus, weil die Beklagte die Kundenbewertungen nach den Feststellungen des Berufungsgerichts nicht veranlasst hat.d) Nach den Umständen des Streitfalls ist die Beklagte auch nicht unter dem Gesichtspunkt eines pflichtwidrigen Unterlassens verantwortlich. Ihr oblag keine Rechtspflicht, eine Irreführung durch die Kundenbewertungen abzuwenden.aa) Ein Unterlassen kann positivem Tun nur gleichgestellt werden, wenn der Täter rechtlich dafür einzustehen hat, dass der tatbestandliche Erfolg nicht eintritt, und dieses Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestands durch ein Tun entspricht. Erforderlich ist eine Garantenstellung des Täters, die ihn nach einer wertenden Betrachtung verpflichtet, den deliktischen Erfolg abzuwenden. Eine Garantenstellung kann sich aus vorhergehendem gefährdenden Tun (Ingerenz), Gesetz, Vertrag oder der Inanspruchnahme von Vertrauen ergeben. Sie muss gegenüber dem außenstehenden Dritten bestehen, der aus der Verletzung der Pflicht zur Erfolgsabwendung Ansprüche herleitet (vgl. BGH, Urteil vom 6. April 2000 - I ZR 67/98, GRUR 2001, 82, 83 [juris Rn. 31] = WRP 2000, 1263 - Neu in Bielefeld I; Urteil vom 28. Juni 2007 - I ZR 153/04, GRUR 2008, 186 Rn. 21 = WRP 2008, 220 - Telefonaktion; Urteil vom 18. Juni 2014 - I ZR 242/12, BGHZ 201, 344 Rn. 16 - Geschäftsführerhaftung, mwN; zur Beihilfe durch Unterlassen vgl. BGH, Urteil vom 22. Juli 2010 - I ZR 139/08, GRUR 2011, 152 Rn. 34 = WRP 2011, 223 - Kinderhochstühle im Internet I; vgl. auch BGH, Urteil vom 30. Juli 2015 - I ZR 104/14, GRUR 2015, 1223 Rn. 43 = WRP 2015, 1501 - Posterlounge; Köhler/Feddersen in Köhler/Bornkamm/Feddersen, UWG, 38. Aufl., § 8 Rn. 2.16; Ohly in Ohly/Sosnitza aaO § 8 Rn. 117; Hühner, GRUR-Prax 2013, 459, 460 f.).Ob eine Garantenstellung besteht, die es rechtfertigt, das Unterlassen der Erfolgsabwendung dem Herbeiführen des Erfolgs gleichzustellen, ist nicht nach abstrakten Maßstäben zu bestimmen. Mit der Qualifizierung einer Tätigkeit als vorangegangenes gefährliches Verhalten ist für sich genommen noch kein Unwerturteil verbunden. Auch erlaubte, sozial erwünschte oder verfassungsrechtlich besonders geschützte Tätigkeiten können Gefahrenquellen eröffnen und Abwendungspflichten mit sich bringen (Goldmann in Harte/Henning, UWG, 4. Aufl., § 8 Rn. 384). Es gibt jedoch keinen Automatismus dergestalt, dass ein Garant ohne weiteres für jede rechtswidrige Handlung Dritter einzustehen hat. Wie weit die jeweilige Garantenpflicht geht, bestimmt sich nach allen Umständen des konkreten Einzelfalls. Dabei bedarf es einer Abwägung unter Berücksichtigung der Interessenlage und den konkreten Verantwortungsbereichen der Beteiligten sowie der Möglichkeit und Zumutbarkeit von entsprechenden Kontroll- oder Sicherungsmaßnahmen (vgl. BGH, Urteil vom 10. Juli 2012 - VI ZR 341/10, NJW 2012, 3439 Rn. 19 mwN; Goldmann in Harte/Henning aaO § 8 Rn. 385; Löffler in Festschrift Bornkamm, 2014, S. 37, 47 f.). In diese Abwägung können auch übergeordnete Aspekte wie die soziale Nützlichkeit eines Geschäftsmodells oder rechtliche Grundwertungen wie der Schutz der Presse- und Meinungsfreiheit durch Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG, aber auch der vom Heilmittelwerbegesetz verfolgte Gesundheitsschutz einfließen (vgl. Goldmann in Harte/Henning aaO § 8 Rn. 386 mwN).bb) Im Streitfall könnte eine Garantenstellung der Beklagten daraus resultieren, dass sie ihre Kinesiologie-Tapes, für die sie drei Jahre zuvor wettbewerbswidrig geworben hatte, auf Amazon angeboten hat. Das Angebot von Produkten auf Online-Verkaufsplattformen mit Kundenbewertungssystemen birgt regelmäßig die Gefahr, dass Produktbewertungen abgegeben werden, die aufgrund von irreführenden Angaben vom Wettbewerbsrecht geschützte Interessen von Marktteilnehmern verletzen können (zur Gefahr von Rechtsverletzungen beim Online-Handel durch die Änderung der Produktbeschreibung durch Dritte vgl. BGH, GRUR 2016, 936 Rn. 22 f. - Angebotsmanipulation bei Amazon). Ob ein solches Angebot eine wettbewerbsrechtliche Verkehrspflicht begründet, die zu einer Garantenstellung aus Ingerenz führt, und welche Garantenpflichten daraus folgen (zur Einordnung wettbewerbsrechtlicher Verkehrspflichten als Garantenpflichten aus Ingerenz vgl. Goldmann in Harte/Henning aaO § 8 Rn. 387; Büscher/Hohlweck, UWG, § 8 Rn. 161; Ohly in Ohly/Sosnitza aaO § 8 Rn. 117; Döring, WRP 2007, 1131, 1136), hängt von den Umständen des Einzelfalls ab.(1) Gegen eine Garantenstellung der Beklagten spricht, dass die hier als wettbewerbswidrig beanstandeten Kundenbewertungen aus Bewertungsmöglichkeiten resultieren, die als regelmäßiger Bestandteil von Online-Marktplätzen und wichtiger Beitrag zur Verbraucherinformation im Online-Handel gesellschaftlich erwünscht sind. Das gilt auch für Kundenbewertungen von Medizinprodukten, wenn diese auf Amazon angeboten und verkauft werden dürfen. Die Sozialadäquanz von Kundenbewertungssystemen folgt daraus, dass ihr Nutzen im Online-Handel wegen der damit einhergehenden verbesserten Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten für Verbraucherinnen und Verbraucher die mit ihnen ebenfalls verbundene Steigerung der Gefahr einer Verletzung von durch das Wettbewerbsrecht geschützten Interessen Dritter regelmäßig ausgleicht (zu Garantenpflichten bei der Setzung von Links vgl. Spindler, MMR 2002, 495, 501).(2) Einer Garantenstellung der Beklagten für die Kundenbewertungen steht weiter entgegen, dass die unter ihrem Angebot von Kinesiologie-Tapes abrufbaren Bewertungen verfassungsrechtlich von der Meinungs- und Informationsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG geschützt sind. Die Möglichkeit, ein im Internet angebotenes Produkt zu bewerten und sich mit Hilfe von Bewertungen anderer zu informieren, eröffnet ein Kommunikations- und Informationsforum für Verbraucherinnen und Verbraucher, das ihrer Information im Vorfeld einer geschäftlichen Entscheidung dient und unabhängig von den werbenden Angaben des Verkäufers ist. Der Umstand, dass diese Informationen erkennbar subjektiv gefärbt sind und ihnen deshalb eine Gefahr der Fehl- und Falschinformation innewohnt, wird dabei erkannt, aber ebenso in Kauf genommen und bei der geschäftlichen Entscheidung berücksichtigt wie die systemimmanente Gefahr gefälschter Bewertungen. Diese Verbraucherkommunikation im Internet, die maßgeblich durch Elemente der Stellungnahme und des Dafürhaltens geprägt ist, fällt in den Schutzbereich der Meinungs- und Informationsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG (vgl. BVerfG, Beschluss vom 4. August 2016 - 1 BvR 2619/13, juris Rn. 13) sowie des Art. 10 Abs. 1 Satz 1 EMRK und Art. 11 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (zur besonderen Bedeutung des Internets für die Meinungs- und Informationsfreiheit vgl. EuGH, Urteil vom 8. September 2016 - C-160/15, GRUR 2016, 1152 Rn. 45 = WRP 2016, 1347 - GS Media; Urteil vom 29. Juli 2019 - C-516/17, GRUR 2019, 940 Rn. 81 = WRP 2019, 1162 - Spiegel Online). Einer Abwägung mit dem Rechtsgut der öffentlichen Gesundheit, die als Gemeinschaftsgut von hohem Rang einen Eingriff in dieses Grundrecht rechtfertigen könnte (vgl. BVerfGE 107, 186, 196 [juris Rn. 42]), bedarf es hier nicht, weil Anhaltspunkte für eine Gesundheitsgefährdung bei dem Angebot von Kinesiologie-Tapes fehlen.(3) Der Meinungsaustausch anhand von Produktbewertungen ist schließlich geeignet, den freien Preis- und Leistungswettbewerb zu fördern. Dabei ist insbesondere das Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher zu berücksichtigen, unter mehreren Konkurrenzprodukten ein nach Preis und Leistung geeignet erscheinendes Erzeugnis auszuwählen (zu diesem Interesse bei der Beurteilung einer Herkunftstäuschung im Sinne von § 4 Nr. 3 Buchst. a UWG vgl. BGH, Urteil vom 24. Januar 2013 - I ZR 136/11, GRUR 2013, 951 Rn. 36 = WRP 2013, 1188 - Regalsystem). Diesem Interesse dienen Kundenbewertungssysteme. Sie sollen nach den Feststellungen des Berufungsgerichts einer unabhängigen Verbraucherbefragung nahekommen und können so eine entsprechend informierte Entscheidung begünstigen.cc) Bei der gebotenen Abwägung im Rahmen der Beurteilung, ob eine Garantenstellung vorliegt, die Abwendungspflichten auslöst, überwiegen die Umstände, die gegen eine Garantenstellung der Beklagten für Kundenbewertungen sprechen. Von ausschlaggebender Bedeutung ist dabei neben der Sozialadäquanz von Kundenbewertungssystemen deren grundrechtliche Dimension. Das Interesse von Verbraucherinnen und Verbrauchern, sich zu Produkten zu äußern und sich vor dem Kauf über Eigenschaften, Vorzüge und Nachteile eines Produkts aus verschiedenen Quellen, zu denen auch Bewertungen anderer Kunden gehören, zu informieren oder auszutauschen, wird durch die Meinungs- und Informationsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG, Art. 10 Abs. 1 Satz 1 EMRK und Art. 11 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verstärkt. Unter Berücksichtigung dieser grundrechtlichen Wertung trifft die Beklagte keine Rechtspflicht, irreführende Kundenbewertungen zu verhindern.4. Gibt dagegen der Anbieter selbst irreführende oder gefälschte Kundenbewertungen ab, bezahlt er dafür oder können ihm aus anderen Gründen die Kundenbewertungen als Werbung zugerechnet werden, haftet er als Täter, gegebenenfalls Mittäter, eines Wettbewerbsverstoßes (zur Haftung nach § 5a Abs. 6 UWG vgl. OLG Hamm, WRP 2011, 501, 505 [juris Rn. 70]; OLG Frankfurt, WRP 2019, 643, 645 f. [juris Rn. 24 bis 27]; Köhler in Köhler/Bornkamm/Feddersen aaO § 5a Rn. 7.35 und 7.76; Lichtnecker, GRUR 2013, 135, 139; Gräbig, GRUR-Prax 2019, 197; Pukas, WRP 2019, 1421 ff.). Das ist hier jedoch nicht der Fall (dazu oben Rn. 18 bis 23).III. Zutreffend hat das Berufungsgericht danach auch den Anspruch auf Zahlung einer Vertragsstrafe sowie der Abmahnkosten mangels eines Wettbewerbsverstoßes der Beklagten als unbegründet angesehen.C. Eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 Abs. 3 AEUV ist nicht veranlasst (vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982 - 283/81, Slg. 1982, 3415 Rn. 21 = NJW 1983, 1257 - Cilfit u.a.; Urteil vom 1. Oktober 2015 - C-452/14, GRUR Int. 2015, 1152 Rn. 43 - Doc Generici, mwN). Im Streitfall stellt sich keine entscheidungserhebliche Frage zur Auslegung des Unionsrechts.D. Nach alledem ist die Revision des Klägers mit der Kostenfolge aus § 97 Abs. 1 ZPO zurückzuweisen.Koch Löffler Schwonke Feddersen Schmaltz Vorinstanzen:LG Essen, Entscheidung vom 30.08.2017 - 42 O 20/17 -OLG Hamm, Entscheidung vom 11.09.2018 - I-4 U 134/17 -
bundesgerichtshof
bgh_002-2019
09.01.2019
Urteilsverkündung im Verfahren 1 StR 347/18 Ausgabejahr 2019 Erscheinungsdatum 09.01.2019 Nr. 002/2019 Im Revisionsverfahren (1 StR 347/18) gegen das Urteil des Landgerichts Bochum vom 5. Oktober 2017 - 365 Js 335/12 2 KLs 8/16 verkündet der 1. Strafsenat am 10. Januar 2019 um 10.00 Uhr das Urteil. Karlsruhe, den 9. Januar 2019 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Urteil des 1. Strafsenats vom 10.1.2019 - 1 StR 347/18 - Beschluss des 1. Strafsenats vom 9.1.2019 - 1 StR 347/18 -
Tenor Gemäß § 169 Abs. 3 Satz 1 GVG in der Fassung des Gesetzes zur Erweiterung der Medienöffentlichkeit in Gerichtsverfahren (EMöGG) vom 8. Oktober 2017 werden bei der Verkündung einer Entscheidung Ton- und Fernseh-Rundfunkaufnahmen sowie Ton- und Filmaufnahmen zum Zweck der öffentlichen Vorführung oder der Veröffentlichung ihres Inhalts unter folgenden Auflagen zugelassen:1. Zugelassen sind höchstens zwei TV- bzw. Filmkameras auf Stativen an festgelegten Plätzen im Sitzungssaal. Es sind geräuscharme Kameras zu verwenden.2. Der Aufbau der Kameras ist spätestens 10 Minuten vor Beginn der Verkündung einer Entscheidung abzuschließen.3. Während der Eröffnung der Urteilsgründe sind die Kameras an ihren Plätzen zu belassen. Soweit aus technischen Gründen eine fortwährende Bedienung der Kameras unabdingbar ist, darf je Kamera eine Person bei der Kamera verbleiben. Ein Hin- und Herlaufen dieser Person ist zu unterlassen.4. Während der Eröffnung der Urteilsgründe sind die Kameras ausschließlich auf die Richterbank zu richten. Kameraschwenks sind nur innerhalb des Bereichs der Richterbank zulässig. Aufnahmen der Verfahrensbeteiligten und der Zuhörer sind nicht zugelassen.5. Nach Ende der Eröffnung der Urteilsgründe sind die Kameras unverzüglich zu entfernen. Den Anweisungen des Gerichtspersonals (insbesondere Sitzungswachtmeister, Mitarbeiter der Pressestelle) ist Folge zu leisten. Gründe I.Nach § 169 Abs. 3 Satz 1 GVG kann das Gericht für die Verkündung von Entscheidungen in besonderen Fällen Ton- und Fernseh-Rundfunkaufnahmen sowie Ton- und Filmaufnahmen zum Zwecke der öffentlichen Vorführung oder der Veröffentlichung ihres Inhalts zulassen. Zur Wahrung schutzwürdiger Interessen der Beteiligten oder Dritter sowie eines ordnungsgemäßen Ablaufs des Verfahrens können die Aufnahmen oder deren Übertragung teilweise untersagt oder von der Einhaltung von Auflagen abhängig gemacht werden (§ 169 Abs. 3 Satz 2 GVG).Die Entscheidung steht danach im Ermessen des Gerichts. Abzuwägen sind dabei das Informationsinteresse der Öffentlichkeit an dem gerichtlichen Verfahren und die schutzwürdigen Interessen der Beteiligten (vgl. BT-Drucks. 18/10144, S. 17). Die Abwägung und Ausübung des Ermessens unter Berücksichtigung der in den Stellungnahmen der Verteidigung vom 9. Januar 2019 und 31. Oktober 2018 genannten Einwände, führt vorliegend zu der im Tenor genannten Zulassung der Aufnahmen. Es kann dahinstehen, ob das Steuergeheimnis im Einzelfall eine Untersagung der Aufnahmen oder die Anordnung weitergehender Auflagen gebieten könnte; denn "besondere persönliche Daten" des Angeklagten oder im Sinne des § 30 Abs. 2 AO geschützte Daten werden nicht Gegenstand bei der Verkündung der Entscheidung sein.Für eine Gefährdung des Angeklagten infolge der Aufzeichnung oder Wiedergabe der Verkündung bestehen keine Anhaltspunkte.II.Foto-, Bild-, Fernseh- und Tonaufnahmen vor Beginn und außerhalb des Termins zur Verkündung einer Entscheidung (vorbehaltlich einer anderweitigen sitzungspolizeilichen oder hausrechtlichen Anordnung) bleiben unberührt.Raum Bellay Fischer Hohoff Pernice
bundesgerichtshof
bgh_074-2019
04.06.2019
Bundesgerichtshof bestätigt Zurückweisung des Antrags auf vorläufige Zwangslizenz für Cholesterinsenker Ausgabejahr 2019 Erscheinungsdatum 04.06.2019 Nr. 074/2019 Urteil vom 4. Juni 2019 - X ZB 2/19 Sachverhalt: Die Antragstellerinnen vertreiben in Deutschland das Arzneimittel Praluent, das den Wirkstoff Alirocumab enthält. Dabei handelt es sich um einen monoklonalen Antikörper, der gegen das Proprotein Convertase-Subtilisin-Kexin Typ 9 (PCSK9) gerichtet ist. Dieses Protein beeinträchtigt den Abbau zu hoher Spiegel von Lipoproteinen niedriger Dichte (LDL-Cholesterinspiegeln); Alirocumab hemmt das PCSK9-Protein und bewirkt damit eine Verringerung des LDL-Cholesterinwerts im Blut. Die Antragsgegnerin ist Inhaberin des europäischen Patents 2 215 124, das antigenbindende Proteine gegen das Protein PCSK9 betrifft. Das Europäische Patentamt hat das Patent nach Einspruch in geänderter Fassung aufrechterhalten; über die gegen diese Entscheidung eingelegten Beschwerden ist noch nicht entschieden worden. Die Antragsgegnerin vertreibt unter der Bezeichnung Repatha ein Arzneimittel, das den ebenfalls gegen das Protein PCSK9 gerichteten Antikörper Evolocumab enthält. Die Antragsgegnerin hat die Antragstellerinnen wegen Verletzung ihres Patents vor dem Landgericht Düsseldorf u.a. auf Unterlassung in Anspruch genommen. Bisheriger Prozessverlauf: Im Juli 2018 haben die Antragstellerinnen vor dem Bundespatentgericht Klage auf Erteilung einer Zwangslizenz nach § 24 PatG erhoben und zugleich beantragt, ihnen die Benutzung der Erfindung durch das Arzneimittel Praluent in vier näher bezeichneten Abgabeformen im Wege einer einstweiligen Verfügung nach § 85 PatG vorläufig zu gestatten. Das Patentgericht hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zurückgewiesen, da die Antragstellerinnen sich nicht innerhalb eines angemessenen Zeitraums erfolglos bemüht hätten, von der Antragsgegnerin eine vertragliche Lizenz für Praluent zu erhalten, und auch nicht glaubhaft gemacht hätten, dass das öffentliche Interesse die Erteilung einer Zwangslizenz wegen dem Arzneimittel Repatha überlegener therapeutischer Eigenschaften von Praluent, insbesondere wegen einer Senkung des Mortalitätsrisikos, gebiete (Urteil veröffentlicht in Mitteilungen der Deutschen Patentanwälte 2019, 117). Mit der Beschwerde verfolgen die Antragstellerinnen den Antrag auf vorläufige Gestattung der Benutzung der patentgeschützten Erfindung weiter. Entscheidung des Bundesgerichtshofs: Der unter anderem für das Patentrecht zuständige X. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat die Entscheidung des Bundespatentgerichts bestätigt. Er sieht wie die Vorinstanz keine ausreichenden Bemühungen der Antragstellerinnen während eines angemessenen Zeitraums um die vertragliche Einräumung einer Lizenz an dem Patent. Welche Bemühungen nach § 24 Abs. 1 Nr. 1 PatG erforderlich sind und über welchen Zeitraum sie sich erstrecken müssen, ist eine Frage des Einzelfalls. Im Streitfall haben die Antragstellerinnen erst spät überhaupt ihr Interesse an einer Lizenz bekundet und lediglich einen sehr niedrigen Lizenzsatz angeboten. Auf das Antwortschreiben der Antragsgegnerin, die eine Lizenzvergabe nicht schlechthin abgelehnt hat, haben sie bis zur Entscheidung des Patentgerichts nicht reagiert. Weitere, während des Beschwerdeverfahrens übersandte Schreiben hat der Bundesgerichtshof ebenfalls nicht als ernsthaftes Bemühen um eine vertragliche Einigung angesehen. Der Bundesgerichtshof hat ferner wie das Patentgericht ein die Erteilung einer Zwangslizenz gebietendes öffentliches Interesse verneint. Maßgeblich hierfür war die Erwägung, dass nicht glaubhaft gemacht ist, dass Praluent gegenüber dem Medikaments Repatha der Antragsgegnerin greifbare therapeutische Vorteile bietet. Praluent und Repatha beruhen auf dem gleichen Wirkungsmechanismus. Dieser begünstigt den Cholesterinabbau und ermöglicht eine deutliche Absenkung des Cholesterinspiegels, die nach den Ergebnissen der dazu durchgeführten Studien dazu führt, dass das Risiko eines schweren kardiovaskulären Vorfalls wie eines koronaren Herztods, eines Herzinfarkts, eines Schlaganfalls oder einer instabilen Angina um etwa 15 % gesenkt wird. Da diese bedeutsame pharmakologische Wirkung von beiden Antikörpern erzielt wird, kann sie allein das öffentliche Interesse an der begehrten Zwangslizenz nicht begründen. Wie das Patentgericht sieht auch der Bundesgerichtshof nicht als glaubhaft gemacht an, dass die Gabe von Praluent die Mortalitätsrate mit diesem Wirkstoff behandelter Hypercholesterinämie-Patienten senkt. Nach den Ergebnissen der zu Praluent durchgeführten klinischen Studie haben zwar in der Praluent-Gruppe weniger Patienten einen koronaren Herztod erlitten oder sind wegen eines kardiovaskulären Krankheitsbilds verstorben als in der Kontrollgruppe. Nach anerkannten biostatistischen Grundsätzen sind diese Ergebnisse aber statistisch ebensowenig signifikant wie die unterschiedlichen (nicht nach Todesursache unterscheidenden) Gesamtzahlen der Todesfälle, sondern können auch auf Zufall beruhen. Es gibt auch sonst keinen Anhalt dafür, dass Praluent im Vergleich zu Repatha trotz übereinstimmendem Wirkungsmechanismus und trotz gleicher Wirksamkeit hinsichtlich des Risikos eines schweren kardiovaskulären Vorfalls – der wiederum das Risiko eines weiteren, tödlichen Infarkts oder Schlaganfalls erhöht – die Mortalitätsrate von Patienten senkt, die mit einem PCSK9-Hemmer behandelt werden.. Schließlich hat der Bundesgerichtshof auch nicht als glaubhaft gemacht angesehen, dass die Möglichkeit, Praluent niedriger als Repatha zu dosieren, die Erteilung einer Zwangslizenz gebietet. Angewendete Vorschriften: § 24 Abs. 1 Patentgesetz (PatG) Die nicht ausschließliche Befugnis zur gewerblichen Benutzung einer Erfindung wird durch das Patentgericht im Einzelfall nach Maßgabe der nachfolgenden Vorschriften erteilt (Zwangslizenz), sofern 1.der Lizenzsucher sich innerhalb eines angemessenen Zeitraumes erfolglos bemüht hat, vom Patentinhaber die Zustimmung zu erhalten, die Erfindung zu angemessenen geschäftsüblichen Bedingungen zu benutzen, und 2.das öffentliche Interesse die Erteilung einer Zwangslizenz gebietet. § 85 Abs. 1 PatG In dem Verfahren wegen Erteilung der Zwangslizenz kann dem Kläger auf seinen Antrag die Benutzung der Erfindung durch einstweilige Verfügung gestattet werden, wenn er glaubhaft macht, dass die Voraussetzungen des § 24 Abs. 1 bis 6 vorliegen und dass die alsbaldige Erteilung der Erlaubnis im öffentlichen Interesse dringend geboten ist. Vorinstanz: BPatG – Urteil vom 6. September 2018 – 3 LiQ 1/18 (EP) Karlsruhe, den 4. Juni 2019 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Urteil des X. Zivilsenats vom 4.6.2019 - X ZB 2/19 -
Tenor Die Beschwerde gegen das Urteil des 3. Senats (Nichtigkeitssenats) des Bundespatentgerichts vom 6. September 2018 wird auf Kosten der Antragstellerinnen zurückgewiesen.Von Rechts wegen. Tatbestand Die Antragstellerinnen vertreiben in Deutschland das Arzneimittel Praluent, das den Wirkstoff Alirocumab enthält. Dabei handelt es sich um einen monoklonalen Antikörper, der gegen die Proproteinkonvertase Subtilisin/Kexin Typ 9 (PCSK9) gerichtet ist. Diese am Fettstoffwechsel beteiligte Serinprotease beeinträchtigt den Abbau zu hoher Spiegel von Lipoproteinen niedriger Dichte (LDL-Cholesterin - LDL-C); ein überhöhter LDL-C-Wert gilt als einer der Hauptrisikofaktoren für Atherosklerose und wird üblicherweise durch die Gabe von Statinen gesenkt. Alirocumab wirkt demgegenüber als PCSK9-Hemmer und bewirkt damit (mittelbar) eine Verringerung des LDL-Cholesterinwerts im Blut.Bei Fettstoffwechselstörungen wird zwischen primären, insbesondere durch einen erblichen Stoffwechseldefekt ausgelösten Störungen und sekundären unterschieden, die durch verschiedene Krankheiten wie Diabetes mellitus oder eine Lebererkrankung verursacht werden. Praluent ist als 75 mg/ml- oder 150 mg/ml-Injektionslösung jeweils in einer Fertigspritze oder in einem Fertigpen (einem Werkzeug mit automatisiertem Einstechen der Injektionsnadel in das subkutane Gewebe) für die Behandlung von Erwachsenen mit primärer Hypercholesterinämie sowie von gemischter Dyslipidämie (bei der sowohl die Cholesterin- als auch die Triglycerinwerte erhöht sind) zugelassen. Auf Empfehlung der Europäischen Arzneimittelbehörde (EMA) hat die Europäische Kommission die Zulassung am 11. März 2019 auf die Behandlung von Erwachsenen mit bestehender atherosklerotischer kardiovaskulärer Erkrankung zur Reduktion des kardiovaskulären Risikos durch Verringerung der LDL-C-Werte erweitert.Die Antragsgegnerin ist Inhaberin des am 22. August 2008 angemeldeten europäischen Patents 2 215 124, das antigenbindende Proteine gegen PCSK9 betrifft. Der Hinweis auf die Patenterteilung ist am 24. Februar 2016 veröffentlicht worden. Die Einspruchsabteilung des Europäischen Patentamts hat das Patent mit Beschluss vom 30. November 2018 in geänderter Fassung aufrechterhalten; über die gegen diese Entscheidung eingelegten Beschwerden ist noch nicht entschieden worden.Die Antragsgegnerin hat die Antragstellerinnen vor dem Landgericht Düsseldorf wegen Verletzung des Streitpatents u.a. auf Unterlassung in Anspruch genommen. Nachdem die Verhandlung zwischenzeitlich im Hinblick auf das anhängige Einspruchsverfahren ausgesetzt worden war, hat am 30. April 2019 ein Termin zur Fortsetzung der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht stattgefunden.Die Antragsgegnerin vertreibt unter der Bezeichnung Repatha ihrerseits ein Arzneimittel, das den ebenfalls als PCSK9-Hemmer wirkenden Antikörper Evolocumab enthält. Für sämtliche Indikationen von Praluent ist auch Repatha zugelassen.Mit Schriftsatz vom 12. Juli 2018 haben die Antragstellerinnen Klage auf Erteilung einer Zwangslizenz am Streitpatent erhoben und zugleich beantragt, ihnen die Benutzung der geschützten Erfindung zur Behandlung von Erwachsenen mit primärer Hypercholesterinämie (heterozygote familiäre und nicht familiäre) oder gemischter Dyslipidämie durch das Arzneimittel Praluent in den vier genannten Abgabeformen vorläufig zu gestatten.Das Patentgericht hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zurückgewiesen (BPatG, Mitt. 2019, 117). Dagegen wenden sich die Antragstellerinnen mit ihrer Beschwerde, wobei sie die begehrte vorläufige Gestattung zuletzt im Hauptantrag noch auf die Benutzung der geschützten Erfindung zur Behandlung von Erwachsenen mit bestehender atherosklerotischer kardiovaskulärer Erkrankung zur Reduktion des kardiovaskulären Risikos erweitert haben und hilfsweise beantragen, ihnen die Benutzung der Erfindung zur Behandlung mit dem Arzneimittel Praluent von Erwachsenen mit primärer (heterozygoter familiärer und nicht familiärer) Hypercholesterinämie oder gemischter Dyslipidämie oder von Erwachsenen mit bestehender atherosklerotischer kardiovaskulärer Erkrankung zur Reduktion des kardiovaskulären Risikos vorläufig zu gestatten, die 1. trotz einer hochintensiven Statin-Behandlung über bis zu vier Wochen mit 40 mg oder mehr Atorvastatin täglich oder 20 mg oder mehr Rosuvastatin täglich oder der maximal verträglichen Dosis eines dieser Wirkstoffe einen LDL-C-Wert von 100 mg/dl aufweisen und/oder 2. innerhalb von vier Wochen bis zwölf Monaten vor Beginn der Behandlung mit einem PCSK9-Inhibitor wegen Myokardinfarkt oder instabiler Angina Pectoris in einem Krankenhaus behandelt wurden und/oder 3. unter Repatha einen LDL-C-Wert unter 25 mg/dl aufweisen und/oder 4. zuvor Praluent 75 mg eingenommen haben und/oder 5. trotz Behandlung mit Repatha einen LDL-C-Wert von über 70 mg/dl aufweisen und/oder 6. eine Behandlung mit Repatha aufgrund von Nebenwirkungen nicht fortsetzen können und/oder 7. eine Behandlung mit Repatha aufgrund nicht ausreichender Senkung des LDL-C-Wertes oder aufgrund von Nebenwirkungen abgebrochen haben und für die eine Behandlung mit einem PCSK9-Inhibitor weiterhin indiziert ist.Die Antragsgegnerin verteidigt das Urteil des Patentgerichts, bittet um Zurückweisung auch des Hilfsantrags und beantragt hilfsweise die Anordnung der Verpflichtung der Antragstellerin zur Rechnungslegung und zur Sicherheitsleistung. Gründe Das Rechtsmittel ist zulässig, bleibt aber in der Sache ohne Erfolg.I. Das Patentgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:Die Antragstellerinnen hätten sich nicht innerhalb eines angemessenen Zeitraums bemüht, von der Antragsgegnerin die Zustimmung zur Benutzung der Erfindung zu angemessenen geschäftsüblichen Bedingungen zu erhalten. Als eine solche Bemühung komme erst das Lizenzangebot der Antragstellerinnen mit anwaltlichem Schreiben vom 20. Juni 2018 in Betracht. Das Ersuchen der Antragstellerinnen um eine Lizenz sei damit erst drei Wochen vor Einreichung des Antrags auf einstweilige Verfügung und nur wenig mehr als zwei Monate vor der mündlichen Verhandlung erfolgt. Ein derart kurzer Zeitraum sei nur in besonderen Fallgestaltungen angemessen, die im Streitfall nicht vorgelegen hätten. Die Antragsgegnerin sei mit einem eigenen, unmittelbar konkurrierenden Produkt auf dem Markt und habe bereits in Verfahren in den USA deutlich gemacht, dass sie eine Lizenz nicht oder nur unter besonderen Umständen vergeben wolle. Die Antragstellerinnen hätten auch deshalb nicht davon ausgehen dürfen, in kürzester Zeit den Abschluss eines Lizenzvertrages erreichen zu können, weil das Lizenzgesuch nur einen sehr niedrigen Lizenzsatz von 2 % vorgesehen habe und nach seinem Inhalt und seiner schroffen Tonlage eine eher ablehnende Reaktion habe erwarten lassen. Zudem hätten die Antragstellerinnen nicht näher erläutert, weshalb sich das Streitpatent als nicht rechtsbeständig erweisen würde, obwohl die Einspruchsabteilung in ihrem Zwischenbescheid vom 13. Dezember 2017 den gegenteiligen Standpunkt eingenommen hatte.Die Antragstellerinnen hätten auch nicht glaubhaft gemacht, dass das öffentliche Interesse die Erteilung der Zwangslizenz gebiete. Es bestünden Zweifel, ob Praluent die behaupteten therapeutischen Eigenschaften aufweise und das Mortalitätsrisiko der behandelten Patienten signifikant senken könne. Mit den vorgetragenen Ergebnissen der klinischen Studie (Odyssey-Outcomes-Studie) sei nicht nachvollziehbar belegt, dass durch die Verabreichung von Praluent im Vergleich zur Placebo-Kontrollgruppe im Beobachtungszeitraum eine signifikante Reduzierung der Gesamtheit der Todesfälle (Gesamtmortalität) habe erreicht werden können. Zwar seien nach den Ergebnissen der Studie in der Placebo-Gruppe von 9462 Teilnehmern 392 Patienten verstorben, während in der - gleich großen - mit Praluent behandelten Gruppe nur 334 und damit 58 Patienten weniger verstorben seien. Bedenken gegen die Aussagekraft dieses Befundes ergäben sich allerdings daraus, dass sowohl bei den koronar bedingten Todesfällen (CHD Death) mit einem P-Wert von 0,38 als auch bei der Gesamtheit der kardiovaskulären Todesfälle (CV Death) mit einem P-Wert von 0,15 jeweils nur eine - da P > 0,05 - statistisch nicht signifikante Reduktion der Todesfälle ermittelt worden sei. Da diese nicht signifikanten Werte in den für die Gesamtmortalität ermittelten P-Wert von 0,026 einflössen, bestünden Bedenken, ob es sich bei diesem, unter der 5-%-Schwelle liegenden Wert tatsächlich um einen signifikanten Wert handele. Diese Bedenken würden im Übrigen auch von den beiderseitigen Parteisachverständigen Prof. Dr. P. und Prof. Dr. F. geteilt.Letztlich könne die Frage der behaupteten therapeutischen Wirkung von Praluent dahingestellt bleiben. Selbst unter der Annahme, dass sich nach der Odyssey-Outcomes-Studie die Gesamtmortalität gegenüber der Kontrollgruppe durch die Gabe von Alirocumab generell um 15 % und bei Hochrisikopatienten sogar um 29 % reduziert habe, hätten die Antragstellerinnen nicht glaubhaft gemacht, dass Praluent therapeutische Eigenschaften aufweise, die Repatha nicht oder nicht in gleichem Maße besitze. Dagegen spreche bereits, dass die Studien zu Praluent (Odyssey-Outcomes-Studie) und zu Repatha (Fourier-Studie) jeweils als Placebokontrollierte Doppelblindstudien angelegt gewesen seien, bei denen jeweils die Wirkungsweise des in dem Medikament enthaltenen monoklonalen Antikörpers gegenüber einer Standardtherapie mit Statinen untersucht worden sei. Derartige Studien können einen direkten Wirkungsvergleich der beiden Antikörper, wie er in einer Äquivalenzstudie untersucht werde, bei der ein einheitliches Patientenkollektiv unter einem einheitlichen Studiendesign entweder den einen oder den anderen Antikörper als Wirkstoff erhalte, nicht ersetzen.Maßgebend hierfür sei vor allem, dass in den genannten Studien unterschiedliche Patientenkollektive behandelt worden seien. Bei den in der Odyssey-Outcomes-Studie untersuchten Patienten habe das akute Koronarsyndrom durchschnittlich erst 2,6 Monate zurückgelegen, während sich bei den Patienten der Fourier-Studie ein kardiovaskuläres Ereignis durchschnittlich bereits vor 3,3 Jahren ereignet und damit ein wesentlich geringeres Mortalitätsrisiko bestanden habe. Die Studien hätten sich zudem in ihrem Studiendesign unterschieden, so dass sich ein unmittelbarer Vergleich der Ergebnisse ebenso verbiete wie Hoch- oder Umrechnungen.Es sei auch nicht glaubhaft, dass ein öffentliches Interesse an der weiteren Verfügbarkeit von Praluent aufgrund dessen Verfügbarkeit in zwei unterschiedlichen Dosierungen und der damit gegenüber Repatha eröffneten Möglichkeit der Gabe einer deutlich geringeren Dosis oder wegen struktureller Unterschiede der monoklonalen Antikörper Alirocumab und Evolocumab bestehe. Beide Antikörper bänden selektiv an diejenige PSCK9-Region, die mit der extrazellulären Domäne des LDL-Rezeptor-Proteins (LDLR) interagiere, und verhinderten auf diese Weise eine PCSK9-LDLR-Wechselwirkung und einen endosomatischen Abbau des Rezeptorproteins. Zwar gebe es strukturelle Unterschiede in der Antigenbindungsstelle, da sich die jeweiligen Epitope lediglich in zwei von zwanzig Aminosäuren überlappten. Auswirkungen auf die Wirksamkeit oder Nebenwirkungen des Antikörpers hätten die Antragstellerinnen jedoch nicht glaubhaft gemacht.Gleiches gelte hinsichtlich möglicher Unverträglichkeitsreaktionen oder eines Nichtansprechens von Patienten auf Repatha. Einzelfälle, in denen Patienten auf Repatha nicht oder nur schlecht angesprochen hätten oder Nebenwirkungen aufgetreten seien, während dies bei der Gabe von Praluent nicht der Fall gewesen sei, belegten nicht, dass der unterschiedliche Behandlungserfolg auf gegenüber Praluent nachteilige Eigenschaften von Repatha zurückzuführen sei.II. Diese Beurteilung hält der Überprüfung im Beschwerdeverfahren auch hinsichtlich der zuletzt gestellten Fassung des Hauptantrags stand.1. Rechtsfehlerfrei ist das Patentgericht zu der Beurteilung gelangt, die Antragstellerinnen hätten keine ausreichenden Bemühungen um eine rechtsgeschäftliche Lizenz zu angemessenen geschäftsüblichen Bedingungen entfaltet.a) Da die Erteilung einer Zwangslizenz tief in das grundsätzliche Recht des Patentinhabers eingreift, frei zu entscheiden, ob und gegebenenfalls unter welchen Bedingungen er einem Dritten die Benutzung der erfindungsgemäßen technischen Lehre gestatten möchte (§ 9 PatG), setzt § 24 PatG nicht nur voraus, dass das öffentliche Interesse sachlich die Erteilung der Zwangslizenz gebietet. Der hoheitliche Eingriff in das dem Patentinhaber verliehene Ausschließlichkeitsrecht durch die staatliche Gewährung der Zwangslizenz muss vielmehr auch deswegen erforderlich sein, weil sich der Patentinhaber dem "milderen Mittel" der vertraglichen Einräumung einer Benutzungsgestattung zu angemessenen Bedingungen verweigert hat.Diese - damit anders als nach früherem Recht nicht prozessuale, sondern materielle - Voraussetzung für die Erteilung einer patentrechtlichen Zwangslizenz muss zwar nicht zwingend schon im Zeitpunkt der Einreichung der Zwangslizenzklage vorliegen; entsprechend allgemeinen Grundsätzen reicht es vielmehr aus, wenn sie am Schluss der mündlichen Verhandlung erfüllt ist. Aus dem gesetzlichen Erfordernis, dass sich das Bemühen über einen angemessenen Zeitraum hinweg erstreckt haben muss, ergibt sich aber, dass es nicht ausreicht, wenn sich der Lizenzsucher während des Verfahrens gewissermaßen "in letzter Minute" zur Zahlung einer angemessenen Lizenz bereit erklärt. Vielmehr muss er über einen gewissen Zeitraum hinweg in einer der jeweiligen Situation angemessenen Weise versucht haben, sich mit dem Patentinhaber über die Erteilung einer Lizenz zu einigen. Welcher Zeitraum und welche Maßnahmen hierzu erforderlich sind, ist eine Frage des Einzelfalls (BGH, Urteil vom 11. Juli 2017 - X ZB 2/17, BGHZ 215, 214 Rn. 19 - Raltegravir).Dabei wird der Zeitraum, den der Lizenzsucher dem Patentinhaber lassen muss, um die Frage nach dem Ob einer Lizenzierung zu klären und gegebenenfalls die angemessenen Bedingungen einer Lizenzierung zu verhandeln, maßgeblich einerseits durch die Dringlichkeit der Entscheidung über eine vertragliche Lizenzvergabe, andererseits aber auch durch die Komplexität der Entscheidungssituation und dadurch bestimmt, ob und zu welchem Zeitpunkt der Lizenzsucher dem Patentinhaber diejenigen Informationen zur Verfügung stellt, die dieser billigerweise erwarten kann, bevor er eine Entscheidung über den Abschluss eines Lizenzvertrages und gegebenenfalls dessen Bedingungen trifft.b) Danach lässt es keinen Rechtsfehler erkennen, dass das Patentgericht es für unzureichend gehalten hat, dass die Antragstellerinnen der Antragsgegnerin erstmals mit Schreiben vom 20. Juni 2018 den Abschluss eines Lizenzvertrages angeboten haben, obwohl ein solches Angebot zu einem deutlich früheren Zeitpunkt hätte gemacht werden können. Dies fällt, wie das Patentgericht gleichfalls zutreffend angenommen hat, umso stärker ins Gewicht, als das Schreiben das Angebot - mit dem Bemerken, dies sei eher zu hoch denn zu niedrig bemessen - nur dahin näher konkretisierte, dass eine für einen patentgeschützten Arzneimittelwirkstoff (sehr) niedrige Lizenzgebühr von 2 % angeboten wurde und diese Lizenzgebühr zudem nur für in Deutschland hergestellte oder in den Verkehr gebrachte Praluent-Produkte gezahlt werden sollte, und als die Antragstellerinnen, ohne die angekündigte Antwort der Antragsgegnerin abzuwarten, bereits gut drei Wochen später die Zwangslizenzklage eingereicht und beim Patentgericht den Antrag auf vorläufige Benutzungsgestattung angebracht haben. Unter diesen Umständen hatte die Antragsgegnerin keinen Anlass, im Schreiben der Antragstellerinnen vom 20. Juni 2018 den ernstgemeinten Versuch zu erkennen, mit ihr zu einer vertraglichen Einigung zu angemessenen Bedingungen zu gelangen.Dies schloss zwar noch nicht aus, dass die Antragstellerinnen bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung vom 6. September 2018 vor dem Patentgericht den Anforderungen des § 24 Abs. 1 Nr. 1 PatG genügten, erhöhte aber in Anbetracht des bis dahin verbleibenden kurzen Zeitraums die Anforderungen an ein der Situation und dem Zeitrahmen angemessenes Bemühen. An solchen angemessenen Bemühungen haben es die Antragstellerinnen aber schon deshalb fehlen lassen, weil sie vor der mündlichen Verhandlung vom 6. September 2018 nicht mehr ihrerseits auf das Antwortschreiben der Antragsgegnerin vom 24. Juli 2018 geantwortet haben.Ein weiteres Bemühen der Antragstellerinnen wäre zwar entbehrlich gewesen, wenn die Antragsgegnerin in ihrem Schreiben vom 24. Juni 2018 die Erteilung einer Lizenz schlechthin verweigert hätte und damit weitere Verhandlungen aussichtslos geworden wären (vgl. Benkard/Rogge/Kober-Dehm, PatG, 11. Aufl. (2015), § 24 Rn. 13). Eine solche Verweigerung ist dem Schreiben aber - entgegen der Ansicht der Antragstellerinnen - nicht zu entnehmen. Die Antragsgegnerin hat darin zwar ausgeführt, es sei ihre grundsätzliche Unternehmenspolitik, bei Vertrieb eines eigenen patentgemäßen Produktes keine Lizenzen an Wettbewerber zu erteilen. Sie hat aber zugleich darauf hingewiesen, dass eine Ausnahme in Erwägung gezogen werden könne, wenn außergewöhnliche Umstände vorlägen, und deren Vorliegen von einer Überprüfung der Behauptung der Antragstellerinnen abhängig gemacht, dass eine Zwangslizenz tatsächlich dem öffentlichen Interesse diene. Die Notwendigkeit einer solchen Überprüfung hat sie damit begründet, dass die Antikörper der Parteien die PCSK9-LDLR-Interaktion über denselben Wirkungsmechanismus blockierten und von der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) zur Behandlung der gleichen Krankheiten und der gleichen Patienten zugelassen seien. Keine Zulassungsbehörde habe die Daten der Odyssey-Outcomes-Studie analysiert oder sei gar zu der Schlussfolgerung gelangt, dass Praluent gegenüber Repatha einen Vorteil biete. Sie, die Antragsgegnerin, hätte die Gewährung von Zugriff auf diese Dokumente erwartet, wenn die Antragstellerinnen der Auffassung wären, die Studiendaten stützten ihre gegenteilige Behauptung. Ohne einen solchen Zugang - der in einem Verfahren in den USA mit Vertraulichkeitsverpflichtung angeordnet worden sei - könne die Behauptung, die Verfügbarkeit von Praluent sei im Patienteninteresse, nicht geprüft werden.Danach kann ein erfolgloses Bemühen der Antragstellerinnen nicht schon deshalb angenommen werden, weil sich die Antragsgegnerin dem Abschluss eines Lizenzvertrages von vornherein verweigert hat. Vielmehr haben es die Antragstellerinnen an einem hinreichenden Bemühen fehlen lassen, weil sie Verhandlungen zum Abschluss eines Lizenzvertrages erst spät mit einem inhaltlich wenig entgegenkommenden Angebot aufgenommen und vor der mündlichen Verhandlung vor dem Patentgericht nicht mehr auf das Antwortschreiben der Antragsgegnerin geantwortet haben.c) Auch die weitere Korrespondenz zwischen den Parteien nach der mündlichen Verhandlung vor dem Patentgericht rechtfertigt keine andere Bewertung.Die Antragstellerinnen haben auf das Schreiben der Antragsgegnerin vom 24. Juni 2018 erst mit Schreiben vom 21. November 2018, also überhaupt erst zweieinhalb Monate nach Zurückweisung des Antrags auf vorläufige Benutzungsgestattung und unmittelbar vor der am 28. November 2018 beginnenden Verhandlung vor der Einspruchsabteilung, reagiert. In diesem Schreiben erläutern die Antragstellerinnen nochmals ihr - vom Patentgericht für nicht durchgreifend erachtetes - Vorbringen im Zwangslizenzverfahren zu den Ergebnissen der Odyssey-Outcomes-Studie, gehen aber weder auf die Forderung der Antragsgegnerin ein, ihr weitere Daten zugänglich zu machen, noch bessern sie ihr Lizenzangebot sonst nach. Diese Reaktion war nicht nur deutlich zu spät, sondern auch inhaltlich unzureichend.Da ein forschender Arzneimittelhersteller das Ziel hat, mit einem patentgeschützten Erzeugnis einen angemessenen Deckungsbeitrag zu den Gesamtkosten seiner Forschungs- und Entwicklungstätigkeit zu erwirtschaften, entspricht es häufig, wenn nicht regelmäßig seinem Interesse, keine Lizenzen an Wettbewerber zu vergeben, die ein dem eigenen Produkt gleichwertiges Konkurrenzerzeugnis auf den Markt bringen wollen. Gleichwohl ist die Lizenzvergabe auch aus seiner Sicht vernünftig, wenn nicht gar geboten, wenn das Konkurrenzerzeugnis wesentliche überlegene Eigenschaften aufweist und seine Verfügbarkeit daher nicht nur im Patienteninteresse ist, sondern deshalb gegebenenfalls auch die Gewährung einer Zwangslizenz rechtfertigt, die der Hersteller durch eine vertragliche Gestattung der Benutzung der geschützten Erfindung abwenden kann. Aus der Sicht des Patentinhabers und potentiellen Lizenzgebers kommt es deshalb entscheidend darauf an, ob das zu lizenzierende Erzeugnis solche Eigenschaften aufweist. Ein "williger Lizenznehmer", der sich in angemessener Weise um eine Lizenz zu angemessenen, üblichen Bedingungen bemüht, wird dieses Interesse anerkennen und dem Patentinhaber diejenigen Informationen zur Verfügung stellen, die er ihm zumutbarerweise zur Verfügung stellen kann, um eine behauptete Überlegenheit des eigenen Produkts zu verifizieren. Dabei werden die Parteien - wie auch sonst bei Lizenzverhandlungen - gegebenenfalls Abreden über die vertrauliche Behandlung geheimhaltungsbedürftiger Informationen treffen, die sowohl dem Erkenntnisinteresse des Patentinhabers als auch dem Geheimhaltungsinteresse des Lizenzsuchers angemessen Rechnung tragen.Vor diesem Hintergrund kann es jedenfalls nicht als angemessenes Bemühen angesehen werden, dass die Antragstellerinnen auch nach der mündlichen Verhandlung vor dem Patentgericht nicht zumindest in eine Erörterung des Interesses der Antragsgegnerin an weiteren Daten, die möglicherweise - positiv oder negativ - weiteren Aufschluss über einen signifikanten Einfluss der Gabe von Praluent auf das Mortalitätsrisiko geben konnten, eingetreten sind.d) Nach der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung des Europäischen Patentamtes am 30. November 2018, an deren Ende das Streitpatent im Wesentlichen aufrechterhalten wurde, und dem Antwortschreiben der Antragsgegnerin vom 19. Dezember 2018 haben sich die Antragstellerinnen - erst wieder mehrere Monate später - mit Schreiben vom 2. April 2019 bei der Antragsgegnerin gemeldet. Darin wiederholen die Antragstellerinnen lediglich ihre Bereitschaft, einen Lizenzvertrag abschließen zu wollen, beschränken ihr Angebot aber weiterhin auf den deutschen Teil des Streitpatents und erhöhen auch die erstmals mit Schreiben vom 20. Juni 2018 angebotene Lizenzgebühr von 2 % nicht, obwohl die "massiven Zweifel an der Rechtsbeständigkeit" des Streitpatents, mit denen sie diese eher geringe Höhe der angebotenen Lizenzgebühr begründet hatten, durch die Entscheidung der Einspruchsabteilung des Europäischen Patentamtes gerade nicht bestätigt wurden. Darin kann ebenso wenig ein ernsthaftes Bemühen der Antragstellerinnen um den Abschluss eines Lizenzvertrages gesehen werden, wie dies bereits bei ihren vorangegangenen Schreiben der Fall gewesen ist.2. Zutreffend hat es das Patentgericht ferner als nicht glaubhaft gemacht angesehen, dass das öffentliche Interesse im Streitfall die Erteilung einer Zwangslizenz gebietet.a) Ein die Erteilung einer Zwangslizenz gebietendes öffentliches Interesse kann zu bejahen sein, wenn ein Arzneimittel zur Behandlung schwerer Erkrankungen therapeutische Eigenschaften aufweist, die die auf dem Markt erhältlichen Mittel nicht oder nicht in gleichem Maße besitzen, oder wenn bei seinem Gebrauch unerwünschte Nebenwirkungen vermieden werden, die bei Verabreichung der anderen Therapeutika in Kauf genommen werden müssen. Eine Zwangslizenz kann hingegen grundsätzlich nicht zugesprochen werden, wenn das öffentliche Interesse mit anderen, im Wesentlichen gleichwertigen Ausweichpräparaten befriedigt werden kann (BGH, Urteil vom 5. Dezember 1995 - X ZR 26/92, BGHZ 131, 247, 254 ff. - Interferongamma; BGHZ 215, 214 Rn. 39 - Raltegravir).b) Praluent und das von der Antragsgegnerin vertriebene Erzeugnis Repatha beruhen, wie das Patentgericht näher ausgeführt hat und von der Beschwerde auch nicht bezweifelt wird, auf dem gleichen Wirkungsmechanismus. Die monoklonalen Antikörper Alirocumab und Evolocumab binden jeweils selektiv an diejenige Region der Serinprotease PSCK9, die mit der extrazellulären Domäne des LDL-Rezeptor-Proteins interagiert, und verhindern auf diese Weise eine Wechselwirkung zwischen Proproteinkonvertase und Rezeptorprotein und dessen endosomatischen Abbau. Dies begünstigt wiederum den Cholesterinabbau und ermöglicht eine deutliche Absenkung des Cholesterinspiegels, die nach den Ergebnissen der Fourier-Studie und der Odyssey-Outcomes-Studie dazu führt, dass das Risiko eines schweren kardiovaskulären Vorfalls (Major Adverse Cardiovascular Event - MACE), wie eines koronaren Herztods, eines Herzinfarkts, eines Schlaganfalls oder einer instabilen Angina pectoris, um etwa 15 % gesenkt wird. Da diese bedeutsame pharmakologische Wirkung von beiden Antikörpern erzielt wird, kann sie allein jedoch das öffentliche Interesse an der begehrten Zwangslizenz nicht begründen.c) Zu Recht hat das Patentgericht angenommen, dass die Antragstellerinnen mit den Ergebnissen der Odyssey-Outcomes-Studie nicht glaubhaft gemacht haben, dass die Gabe von Praluent die Mortalitätsrate mit diesem Wirkstoff behandelter Hypercholesterinämie-Patienten senkt.aa) Es steht außer Streit, dass zwar nach den Ergebnissen der Odyssey-Outcomes-Studie in der Praluent-Gruppe numerisch weniger Patienten einen koronaren Herztod erlitten oder wegen eines kardiovaskulären Krankheitsbilds verstorben sind als in der Kontrollgruppe, dass diese Ergebnisse aber statistisch nicht signifikant sind. Es kann daher nach den Grundsätzen evidenzbasierter Medizin nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, dass es sich um ein Zufallsergebnis handelt, so wie es auf Zufall beruhen kann, dass nach den Ergebnissen der Fourier-Studie (bei der das Mortalitätsrisiko wegen des gewählten Beobachtungszeitraums geringer war) in der Repatha-Gruppe die Quote der kardiovaskulären Todesfälle sogar größer war als in der dortigen Kontrollgruppe.bb) Vor diesem Hintergrund hält es der Nachprüfung im Beschwerdeverfahren stand, dass das Patentgericht der in der Odyssey-Outcomes-Studie ausgewiesenen, gegenüber der Kontrollgruppe numerisch niedrigeren Gesamtmortalitätsrate nicht diejenige Bedeutung beigemessen hat, die ihr die Antragstellerinnen beimessen wollen.(1) Von wesentlicher Bedeutung ist dabei, dass die Odyssey-Outcomes-Studie die Erreichung primärer und sekundärer Endpunkte untersucht und nur die koronaren und kardiovaskulären Todesursachen zu den hierarchisch vorgelagerten sekundären Endpunkten gehören, während die Gesamtzahl der (nicht nach Ursachen unterschiedenen) Todesfälle im Beobachtungszeitraum (Gesamtmortalität) nur als nachgeordneter sekundärer Endpunkt berücksichtigt worden ist. Unter einem Endpunkt einer klinischen Studie wird ein (vorab gesetzter) Wirksamkeitsparameter verstanden, dessen Erreichung über den Erfolg der Studie entscheidet. Wie die Antragsgegnerin insbesondere durch die Erklärung von Prof. Dr. M. (AG-B7) und die dieser beigefügten Anlagen glaubhaft gemacht hat und - jedenfalls im Grundsatz - auch von den Antragstellerinnen nicht in Abrede gestellt wird, muss bei der sachgerechten Auswertung klinischer Studien mit einer Mehrzahl vordefinierter Endpunkte das Risiko berücksichtigt werden, dass mit der Zahl der Endpunkte die Gefahr falschpositiver Schlussfolgerungen steigt.In den Richtlinien der US Food and Drug Administration (FDA) wird dieses Problem an einem Beispiel erläutert, in dem bei nur einem Endpunkt und einem Schwellwert für statistische Signifikanz von 0,05 ein 5-prozentiges Risiko besteht, dass es sich um ein falschpositives Ergebnis handelt, während bei zwei Endpunkten und einem individuellen Schwellwert für die statistische Signifikanz von 0,05 ein rund 10-prozentiges Risiko besteht, dass bei einem der beiden Endpunkte ein falschpositives Ergebnis vorliegt (vgl. FDA, Multiple Endpoints in Clinical Trials, Draft Guidance for Industry, January 2017, S. 7, Z. 258 ff.; Anl. 4 zu AG-B7).Diesem Problem der "Multiplizität" kann durch eine Anpassung des Schwellwertes entsprechend der Anzahl der Endpunkte Rechnung getragen werden. Im Beispielsfall mit zwei Endpunkten ist dies etwa nach der Bonferroni-Methode ein Schwellwert von 0,025 anstelle von 0,05 (vgl. zur Bonferroni-Methode und weiteren statistischen Methoden zur Bereinigung des Problems der Mulitiplizität: FDA, aaO, S. 24 f.). Ein anderer Ansatz, das Problem der Multiplizität zu bereinigen, liegt in einem hierarchischen Testverfahren, bei dem für die Endpunkte vorab eine Reihenfolge festgelegt wird. Anders als etwa die Bonferroni-Methode erfordert ein solches hierarchisches Testverfahren keine Reduktion des Schwellwerts für den P-Wert. Dem Problem der Multiplizität wird stattdessen u.a. dadurch Rechnung getragen, dass kein in der Hierarchie niedrigerer Endpunkt als statistisch signifikant angesehen wird, wenn bei einem darüber liegenden Endpunkt die Signifikanzschwelle nicht erreicht wurde (FDA, aaO, S. 29 ff. "The Fixed-Sequence Method"; Erklärung M. , AG-B7 Rn. 22 f.).(2) Bei der Odyssey-Outcomes-Studie ist ein solches hierarchisches Testverfahren zugrunde gelegt worden. In der in erster Instanz erörterten Präsentation von Ergebnissen der Studie ist deshalb der P-Wert von 0,026 für die Gesamtmortalitätsrate als "nominaler" P-Wert bezeichnet (HE19, Folie 33).Dem entspricht die Behandlung des sekundären Endpunkts "Gesamtmortalität" in der geänderten Zusammenfassung der Merkmale des Arzneimittels (Summary of Product Characteristics - SmPC) für Praluent durch die Europäische Arzneimittelagentur (HE-B2). Während die EMA darin aufgrund der Odyssey-Outcomes-Studie eine signifikante Senkung des Risikos für den primären kombinierten Endpunkt (zusammengefasst als MACE-Plus) bestehend aus "Tod durch instabile Angina mit erforderlicher Hospitalisierung, ischämiebedingtes koronares Revaskularisierungsverfahren" (zusammengefasst als KHK-Ereignis bezeichnet), "nichttödlicher Myokardinfarkt" (MI), "ischämischer Schlaganfall" und "instabile Angina" sowie für die weiteren kombinierten sekundären Endpunkte Risiko für ein KHK-Ereignis, schwerwiegendes KHK-Ereignis, kardiovaskuläres Ereignis und den kombinierten Endpunkt "Gesamtmortalität, nichttödlicher MI und nichttödlicher ischämischer Schlaganfall" einen signifikanten Einfluss feststellt, wird hinsichtlich des sekundären Endpunktes "Gesamtmortalität" lediglich ausgeführt, dass "auch eine nur nominal statistisch signifikante Reduktion der Gesamtmortalität bei hierarchischer Testung beobachtet" worden sei. Entsprechend ist auch in Tabelle 3 der Zusammenfassung der den sekundären Endpunkten "Tod durch KHK" sowie "kardiovaskulärer Tod" mit P-Werten von 0,3824 sowie 0,1528 (und damit über 0,05) nachgeordnete sekundäre Endpunkt "Gesamtmortalität" mit einem P-Wert von 0,026 durch eine Fußnote als lediglich "nominal signifikant" gekennzeichnet und wird in der Beschreibung der Odyssey-Outcomes-Studie ausgeführt, dass eine "nur" nominal statistisch signifikante Reduktion der Gesamtmortalität bei hierarchischer Testung beobachtet worden sei (HE-B2, S. 17 letzter Abs.: "A reduction of allcause mortality was also observed, with only nominal statistical significance by hierarchical testing [HR 0,85, 95 % Cl: 0,73, 0,98].").Noch deutlicher wird die statistische Bewertung einer aufgrund der Hierarchie der Endpunkte nur "nominalen" Signifikanz in dem im "The New England Journal of Medicine" veröffentlichten Bericht von G.G. Schwartz et al. über die Odyssey-Outcomes-Studie, in dem in Tabelle 2 in einer Fußnote hinsichtlich der einzelnen sekundären Endpunkte Tod aufgrund koronarer Herzkrankheit, kardiovaskulären Ursachen und beliebigen Ursachen ausgeführt wird, dass die Breiten der Konfidenzintervalle nicht wegen Multiplizität bereinigt worden seien und daher die Intervalle für die Endpunkte nicht zu Kausalableitungen verwendet werden sollten (G.G. Schwartz et al., "Alirocumab and Cardiovascular Outcomes after Acute Coronary Syndrome", NEJM 2018, 2097, 2103 [HE-B3], Tab. 2, Fn. §: "The widths of the confidence intervals for the secondary end points were not adjusted for multiplicity, so the intervals for the outcomes listed below this outcome should not be used to infer definitive treatment effects."). In Tabelle 2 sind hinsichtlich der nichtsignifikanten sekundären Endpunkte Tod aufgrund koronarer Herzkrankheit, kardiovaskulärer Ursachen und beliebiger Ursachen überhaupt keine P-Werte angegeben; in einer weiteren Fußnote wird dies als "Abbruch der hierarchischen Analyse in Einklang mit dem hierarchischen Prüfplan" erläutert.Im Einklang mit dieser Bewertung stehen schließlich weitere vorgelegte Quellen (Szarek et al., "Alirocumab Reduces Total Nonfatal Cardiovascular and Fatal Events", Journal of the American College of Cardiology (JACC) 2019, 387, 395 [HE-B6]; Pocock et al., "Critical Appraisal of the 2018 ACC Scientific Sessions Late-Breaking Trials From a Statistician's Perspective", JACC 2018, 1107, 1108 [AG8]; Genest, "The Cat Has 9 Lives, Until it Dies", JACC 2019, 397 f. [HE-B10]; Sabatine et al., "Evolocumab and Clinical Outcomes in Patients with Cardiovascular Disease", NEJM 2017, 1713, 1715: "... significance level 0,05.", 1718 Tab. 2, Fn. *: "Given the hierarchical nature of the statistical testing, the P values for the primary and key secondary end points should be considered significant, whereas all other P values should be considered exploratory" [AG-B6]).cc) Es ist hiernach unschädlich, dass das Patentgericht - in einer möglicherweise nur missverständlichen Formulierung - davon gesprochen hat, die statistisch nicht signifikanten P-Werte für koronare und kardiovaskuläre Todesfälle seien in den P-Wert für die Gesamtmortalität "eingeflossen". Entscheidend ist vielmehr, dass der nominal signifikante P-Wert für die Gesamtmortalität nicht hinreichend verlässlich auf einen Kausalzusammenhang zwischen der Gabe von Praluent und einer Verringerung der Gesamtsterberate schließen lässt.Auch der Parteigutachter P. der Antragstellerinnen hat es, worauf das Patentgericht zutreffend hingewiesen hat, im Übrigen als "etwas unklar" bezeichnet, wodurch die Reduktion der Gesamtmortalitätsrate bei der Praluent-Gruppe in der Odyssey-Outcomes-Studie bedingt sei. Soweit es im Gutachten P. als "wahrscheinlicher" als eine Ursache in einem bisher nicht bekannten Effekt bezeichnet wird, dass eine Reihe von Todesfällen unzutreffenderweise nicht als kardiovaskulär klassifiziert worden seien (HE-Q39, S. 5), ist nicht erkennbar, auf welchen empirischen Befund sich diese Wahrscheinlichkeitsaussage stützen könnte. Sie steht auch in einem gewissen Widerspruch zu dem Vorbringen der Beschwerde, es sei "völlig plausibel", dass Praluent bei Hochrisikopatienten auch die nicht unmittelbar kardiovaskulär bedingte Mortalität senke.d) Die Antragstellerinnen haben auch nicht in anderer Weise glaubhaft gemacht, dass Praluent gegenüber Repatha trotz übereinstimmendem Wirkungsmechanismus und trotz gleicher Wirksamkeit hinsichtlich des Risikos eines schweren kardiovaskulären Vorfalls überlegene Eigenschaften aufweist.Solche gegebenenfalls die Erteilung einer Zwangslizenz gebietenden überlegene Eigenschaften eines Arzneimittels müssen allerdings nicht zwingend durch nach anerkannten wissenschaftlichen Grundsätzen statistisch signifikante Ergebnisse einer klinischen Studie nachgewiesen sein. Der Nachweis des die Erteilung einer Zwangslizenz gebietenden öffentlichen Interesses kann vielmehr grundsätzlich auch mit jedem anderen prozessual zulässigen Beweismittel erbracht werden, und entsprechendes gilt im Verfahren auf vorläufige Benutzungsgestattung für die Glaubhaftmachung des hierfür erforderlichen dringenden öffentlichen Interesses. Überlegene Eigenschaften von Praluent sind jedoch auch dann nicht glaubhaft gemacht, wenn die vorgetragenen tatsächlichen und wissenschaftlichen Befunde in ihrer Gesamtheit betrachtet werden.aa) Ohne Erfolg rügt die Beschwerde die - wissenschaftlicher Konvention entsprechende - Berücksichtigung der Endpunktehierarchie als "formalistische Einwände" und wendet gegen die Beurteilung des Patentgerichts ein, aus den numerischen Werten für koronare Herztode, kardiovaskuläre Tode oder Todesfälle insgesamt ergebe sich ein "stimmiges Bild", weil die Sterblichkeit in der Praluent-Gruppe stets gegenüber der Kontrollgruppe reduziert gewesen sei. Es liegt auf der Hand, dass die bloße - nicht nach Todesursache unterscheidende - Gesamtzahl der Todesfälle eine mortalitätssenkende Wirkung von Praluent nicht einmal plausibel erscheinen ließe, läge bei der betroffenen Patientengruppe nicht auch die Anzahl der kardiovaskulär bedingten Todesfälle unter der Kontrollgruppe. Eine nominelle Signifikanz bei den - per definitionem hinsichtlich ihrer Ursache unspezifizierten - Todesfällen kann hingegen nicht die fehlende Signifikanz hinsichtlich der - kardiovaskulären und damit krankheitsspezifischen - Todesfälle ersetzen. Daran ändert auch der für sich genommene zutreffende Hinweis der Beschwerde nichts, dass sich die Anzahl der Vorkommnisse im Verhältnis zur Grundgesamtheit reziprok proportional auf den P-Wert auswirkt.bb) Es kommt hinzu, dass in der bereits erwähnten Arbeit von Szarek et al. bei der Diskussion der Ergebnisse der Odyssey-Outcomes-Studie die klinische Bedeutung der nur nominal statistisch signifikanten Verringerung der Gesamtrate der Todesfälle gerade damit begründet wird, dass die Wirkung von Praluent besonders eindrucksvoll hervortrete, wenn die Gesamtzahl der tödlichen und nichttödlichen kardiovaskulären Vorfälle (so auch der Titel der Arbeit) betrachtet werde (HE-B6, S. 394 r. Sp. unten). Aus den numerischen Werten lasse sich ableiten, dass ein nichttödlicher kardiovaskulärer Vorfall mit einem erhöhten Risiko eines letalen Ausgangs assoziiert sei, welches bei einem zweiten oder weiteren Vorfall größer sei als bei dem ersten, weshalb Szarek et al. die Beziehung zwischen nichttödlichen und tödlichen Vorfällen als bedeutsame Erwägung für die Interpretation der Daten bezeichnen (HE-B6, S. 395 l. Sp.). Reduziert aber Praluent das Versterbensrisiko, weil es das Risiko eines schweren kardiovaskulären Vorfalls und deshalb auch das Risiko senkt, an einem zweiten oder folgenden derartigen Vorfall zu versterben, ist nicht glaubhaft gemacht, dass es sich nicht um die Wirkung eines PSCK9-Hemmers, sondern um eine spezifische Wirkung gerade des Antikörpers Alirocumab handelt, die der Antikörper Evolocumab nicht aufweist, mit dem nach den Ergebnissen der Fourier-Studie das Risiko von tödlichen kardiovaskulären Vorfällen und nichttödlichen Vorfällen (Myokardinfarkt, Schlaganfall, Krankenhausaufnahme wegen instabiler Angina, koronare Revaskularisation) ebenfalls signifikant gesenkt werden konnte (vgl. Sabatine et al., "Evolocumab and Clinical Outcomes in Patients with Cardiovascular Disease", NEJM 2017, 1713, 1718 Table 2 [Anlage HE Q 42]: "Outcome Primary end point: cardiovascular death, myocardial infarcation, stroke, hospitalization for unstable angina or coronary revascularization: Evolocumab 1344 Patienten (9,8 % der Patienten), Placebo 1563 (11,3 %); Hazard Ratio 0,85 (0,79 - 0,92); P-Value <0,001").cc) Daran ändert auch die Stellungnahme von Szarek vom 28. Mai 2019 (HE-B17) nichts, in der dieser die bei der Odyssey-Outcomes-Studie und der Fourier-Studie jeweils in der Wirkstoffgruppe und der Placebo-Gruppe eingetretenen Todesfälle miteinander vergleicht und zu dem Ergebnis kommt, dass das Risiko des Versterbens in den Placebo-Gruppen beider Studien nur minimal unterschiedlich gewesen sei (bei Odyssey-Outcomes: 14,56 und bei Fourier 14,23 Todesfälle pro 1.000 Patientenjahren), während bei den Wirkstoffgruppen die Anzahl der Todesfälle bei Alirocumab etwa 17 % niedriger sei als bei Evolocumab (bei Odyssey-Outcomes: 12,36 und bei Fourier 14,83 Todesfälle pro 1.000 Patientenjahren) (HE-B17, Rn. 10 ff.). Denn der daraus von Szarek gezogene Schluss, dass die sich aus diesem Vergleich ergebende signifikante Reduzierung der Gesamtmortalität unter Alirocumab bei Evolocumab wahrscheinlich nicht beobachtet worden wäre, selbst wenn es in der Odyssey-Outcomes-Studie anstelle von Alirocumab angewendet worden wäre, lässt unberücksichtigt, dass in den Studien jeweils unterschiedliche Patientenkollektive behandelt wurden (in der Odyssey-Outcomes-Studie lag das akute Koronarsyndrom durchschnittlich erst 2,6 Monate zurück, während sich dieses bei den Patienten der Fourier-Studie im Durchschnitt bereits vor 3,3 Jahren ereignet hatte) und sich zudem das Design beider Studien unterschieden hat, was einen direkten Vergleich der Ergebnisse beider Studien ausschließt, wie auch das Patentgericht bereits unter Bezugnahme auf die Parteigutachter der Antragstellerinnen C. und P. zu- treffend ausgeführt hat.dd) Das Patentgericht hat weiterhin zu Recht angenommen, die Antragstellerinnen hätten nicht glaubhaft gemacht, dass ein öffentliches Interesse an der weiteren Verfügbarkeit von Praluent aufgrund dessen geringerer Dosierbarkeit gegenüber Repatha besteht.(1) Dabei hat es berücksichtigt, dass Praluent in der Odyssey-Outcomes-Studie in Dosierungen von 75 mg oder 150 mg und damit in geringeren Dosierungen verabreicht worden ist, als dies mit Repatha in der Fourier-Studie erfolgt ist, bei der Verabreichungen in Dosierungen von 140 mg oder 420 mg gegeben worden sind. Repatha könne jedoch, wenn erforderlich, mittels einer einfachen Spritze gleichfalls in einer geringeren Dosierung verabreicht werden. Zudem stelle sich im Hinblick auf die als "Ebbinghaus-Studie" bezeichnete Substudie der Fourier-Studie die Frage, ob eine solche geringere Dosierung überhaupt erforderlich sei, da auch bei LDL-C-Werten von kleiner als 25 mg/dl keine unerwünschten Nebenwirkungen beobachtet worden seien, was eine Dosisreduktion bei Repatha obsolet mache.(2) Auch wenn es entgegen der Annahme des Patentgerichts praktisch nicht möglich sein mag, Repatha zuverlässig in geringeren Dosierungen zu verabreichen, als es durch die Konfektionierung des Arzneimittels als gebrauchsfertige Injektionslösung in Form eines Fertigpens, einer Fertigspritze oder eine Patrone für einen automatisierten Mini-Dosierer mit jeweils 140 mg vorgegeben ist, ändert dies nichts daran, dass die Antragstellerinnen nicht glaubhaft gemacht haben, dass die Gabe von Repatha in der Dosierung von 140 mg bei einer Gruppe von Patienten zu unerwünschten Nebenwirkungen führt, die bei einer Behandlung mit Praluent nicht auftreten, weil Praluent nicht nur in einer Dosierung von 140 mg, sondern auch in einer Dosierung von 75 mg erhältlich ist und daher in dieser geringeren Dosierung auch verabreicht werden kann.Die Antragstellerinnen tragen insoweit vor, dass bei einigen Patienten bei der Behandlung mit Repatha in der Dosierung von 140 mg das Risiko bestehe, dass der LDL-C-Wert unter den physiologisch normalen Wert von 15 bis 20 mg/dl abgesenkt werde. Ihrem Vorbringen ist aber bereits nicht zu entnehmen, bei wie vielen Patienten nach der Gabe des Arzneimittels in einer Dosierung von 140 mg eine Absenkung der LDL-C-Werte unter den physiologisch normalen Wert beobachtet werden konnte. Wie auch in der mündlichen Verhandlung angesprochen, ergibt sich aus den Darlegungen der Antragstellerinnen zudem nicht, ob ein Einpendeln der LDL-C-Werte im physiologischen Bereich nicht zumindest dadurch erreicht werden kann, dass die Gabe von Statin, das im Rahmen einer Standardtherapie bei einem akuten Koronarsyndrom zur Lipidsenkung zunächst verabreicht wird und auch nach der zusätzlichen Gabe eines PCSK9-Antikörpers regelmäßig weiterhin zum Einsatz kommt (vgl. Gutachten P. , HE-Q39, S. 3), reduziert wird.Zudem belegen die Ausführungen des Parteigutachters der Antragstellerinnen P. nicht, dass sehr niedrige LDL-C-Werte zu erhöhten gesundheit- lichen Risiken führen. Seinem Gutachten ist vielmehr zu entnehmen, dass sehr niedrige LDL-C-Werte auch unter 10 mg/dl, die durch den Einsatz von PCSK9-Antikörpern zum ersten Mal erreicht werden konnten, einen absoluten Nutzen hätten, der allerdings bei sehr niedrigen LDL-Cholesterinspiegel deutlich sinke.P. weist ferner darauf hin, dass nicht klar sei, ob ein ganz niedriger LDL- Cholesterinspiegel mit anderen erhöhten Risiken zusammenhänge, wie beispielsweise hämorrhagischen Schlaganfällen, wofür es Hinweise aus Statinstudien gebe. Aus den bisher vorgelegten Daten zu den PCSK9-Hemmern gebe es hierzu kein Signal, wobei die Beobachtungszeit aber noch zu kurz sei, um eine abschließende Aussage treffen zu können (HE-Q39, S. 3).Zudem hat sich die Hypothese, dass ein niedriger LDL-Cholesterinspiegel das Risiko negativer Auswirkungen auf die kognitiven Fähigkeiten der Patienten erhöht, durch die als "Ebbinghaus-Studie" bezeichnete Substudie zur Fourier-Studie auch im Hinblick auf 661 Patienten, deren tiefster LDL-Cholesterin-Spiegel unterhalb von 25 mg/dl lag, nicht bestätigt (Guigliano et al., "Cognitive Function in a Randomized Trial of Evolocumab", NEJM 2018, 633 "Abstract" und 641, re. Sp. erster Abs., letzter Satz; AG 11), worauf auch das Patentgericht bereits hingewiesen hat.ee) Rechtsfehlerfrei hat das Patentgericht schließlich ein öffentliches Interesse auch unter dem Gesichtspunkt möglicher Unverträglichkeitsreaktionen oder eines Nichtansprechens auf Repatha als nicht glaubhaft gemacht angesehen.(1) Einzelfälle, in denen Patienten auf Repatha nicht oder nur schlecht angesprochen hätten oder Nebenwirkungen aufgetreten seien, während dies bei der Gabe von Praluent nicht der Fall gewesen sei, belegen nach den Ausführungen des Patentgerichts nicht, dass der unterschiedliche Behandlungserfolg auf nachteilige Eigenschaften von Repatha zurückzuführen ist, die Praluent nicht aufweist. Vielmehr seien in den von den Antragstellerinnen angeführten Fällen als zumindest gleichermaßen mögliche Ursachen für den unterschiedlichen Erfolg auch Mängel bei der Kooperation der Patienten oder Fehler bei der Verabreichung der Injektion als mögliche Ursachen in Betracht gekommen.(2) Die Antragstellerinnen halten dem entgegen, dass sich in der Praxis gezeigt habe, dass es Patienten gebe, bei denen die LDL-C-Konzentration mit Repatha nicht ausreichend habe reduziert werden können oder die die Behandlung aufgrund von Nebenwirkungen hätten abbrechen müssen, während mit Praluent der gewünschte Erfolg eingetreten oder unerwünschte Nebenwirkungen ausgeblieben seien. Mit diesem Vorbringen können sie schon deshalb nicht durchdringen, weil dadurch andere Ursachen für den unterschiedlichen Behandlungserfolg von Repatha und Praluent, wie sie nach den Feststellungen des Patentgerichts ebenfalls in Betracht kommen, nicht ausgeschlossen werden. Zudem fehlt es an konkreten Angaben, in welchen Fällen sich der von den Antragstellerinnen vorgetragene unterschiedliche Behandlungserfolg eingestellt haben soll.III. Die Beschwerde hat schließlich auch mit dem Hilfsantrag keinen Erfolg.Unabhängig von der Frage, ob der Hilfsantrag im Beschwerdeverfahren noch zur Entscheidung gestellt werden kann und ob er, insbesondere, da er offen lässt, wie die Beschränkung der Benutzungsgestattung auf bestimmte Patientengruppen beim Vertrieb von Praluent verwirklicht werden soll, dem Erfordernis der Bestimmtheit eines Antrags auf den Erlass einer einstweiligen Verfügung nach § 99 Abs. 1 PatG i.V.m. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO genügt, ist er jedenfalls nicht begründet.1. Die Antragstellerinnen haben nicht dargelegt, dass sie sich über die mit dem Hauptantrag angestrebte vorläufige Benutzungsgestattung hinaus zumindest in angemessener Zeit erfolglos um eine rechtsgeschäftliche Lizenz zu angemessenen Bedingungen hinsichtlich der im Hilfsantrag genannten Benutzungsfälle bemüht haben. Von daher fehlt es aus den genannten Gründen auch insoweit an hinreichenden Bemühungen um eine rechtsgeschäftliche Lizenz.2. Zudem haben die Antragstellerinnen nicht glaubhaft gemacht, dass das öffentliche Interesse in den im Hilfsantrag genannten Fällen die Erteilung einer Zwangslizenz gebietet, wie sich gleichfalls aus den Ausführungen zum Hauptantrag ergibt.IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 122 Abs. 4 und § 121 Abs. 2 PatG sowie § 97 Abs. 1 ZPO.Meier-Beck Grabinski Bacher Kober-Dehm Marx Vorinstanz:Bundespatentgericht, Entscheidung vom 06.09.2018 - 3 LiQ 1/18 -
bundesgerichtshof
bgh_071-2023
24.04.2023
Bundesgerichtshof entscheidet über die Unwirksamkeit der formularmäßigen Abtretung von Ansprüchen des Käufers an die Finanzierungsbank in einem Dieselverfahren Ausgabejahr 2023 Erscheinungsdatum 24.04.2023 Nr. 071/2023 Urteil vom 24. April 2023 – VIa ZR 1517/22 Der vom Präsidium des Bundesgerichtshofs vorübergehend als Hilfsspruchkörper eingerichtete VIa. Zivilsenat (vgl. Pressemitteilung Nr. 141/2021 vom 22. Juli 2021) hat entschieden, dass die in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen einer Finanzierungsbank enthaltene Klausel über die Sicherungsabtretung von Ansprüchen des Käufers und Darlehensnehmers gegen den Verkäufer und Hersteller eines Dieselfahrzeugs Ansprüche auf Schadensersatz aus unerlaubter Handlung erfasst und unwirksam ist. Sachverhalt und bisheriger Prozessverlauf: Der Kläger nimmt die beklagte Fahrzeugherstellerin wegen der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung auf Schadensersatz in Anspruch. Im März 2019 erwarb der Kläger von der Beklagten als Verkäuferin einen Mercedes GLC 250 für 55.335,89 € als Neuwagen. Das Fahrzeug ist mit einem Dieselmotor der Baureihe OM 651 (Schadstoffklasse EURO 6) ausgestattet Der Kläger leistete eine Anzahlung in Höhe von 9.140 € an die Beklagte. Den Kaufpreis finanzierte er im Übrigen in Höhe von 46.195,89 € teilweise noch valutierend bei einer Bank (künftig Darlehensgeberin). Dem Darlehensvertrag lagen die Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Darlehensgeberin zugrunde. Dort hieß es unter anderem: "II. Sicherheiten Der Darlehensnehmer räumt dem Darlehensgeber zur Sicherung aller gegenwärtigen und bis zur Rückzahlung des Darlehens noch entstehenden sowie bedingten und befristeten Ansprüche des Darlehensgebers aus der Geschäftsverbindung einschließlich einer etwaigen Rückabwicklung, gleich aus welchem Rechtsgrund, Sicherheiten gemäß nachstehenden Ziffern 1-3 ein. […] […] 3. Abtretung von sonstigen Ansprüchen Der Darlehensnehmer tritt ferner hiermit folgende – gegenwärtige und zukünftige – Ansprüche an den Darlehensgeber ab, […] [der] diese Abtretung annimmt: […] - gegen die [Beklagte] […], gleich aus welchem Rechtsgrund. Ausgenommen von der Abtretung sind Gewährleistungsansprüche aus Kaufvertrag des Darlehensnehmers gegen die […] [Beklagte] oder einen Vertreter der […] [Beklagten]. Der Darlehensnehmer hat dem Darlehensgeber auf Anforderung jederzeit die Namen und Anschriften der Drittschuldner mitzuteilen. […] 6. Rückgabe der Sicherheiten Der Darlehensgeber verpflichtet sich, nach Wegfall des Sicherungszweckes (alle Zahlungen unanfechtbar erfolgt) sämtliche Sicherungsrechte (Abschnitt II. Ziff. […] 3) zurückzuübertragen […] Bestehen mehrere Sicherheiten, hat der Darlehensgeber auf Verlangen des Darlehensnehmers schon vorher nach […] [seiner] Wahl einzelne Sicherheiten oder Teile davon freizugeben, falls deren realisierbarer Wert 120% der gesicherten Ansprüche des Darlehensgebers überschreitet […]" Der Kläger hat die Beklagte in den Vorinstanzen unter dem Gesichtspunkt des Rücktritts vom Kaufvertrag und unter dem Gesichtspunkt einer deliktischen Schädigung wegen des Inverkehrbringens des Fahrzeugs auf Zahlung nebst Verzugszinsen an sich sowie auf Freistellung von restlichen Darlehensraten, Zug um Zug gegen Übergabe und Übertragung des Anwartschaftsrechts auf Rückübereignung des Fahrzeugs, in Anspruch genommen. Weiter hat er auf Feststellung des Annahmeverzugs und die Erstattung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten angetragen. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen, das Berufungsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit seiner vom Berufungsgericht zugelassenen Revision hat der Kläger seine zweitinstanzlich gestellten Anträge weiterverfolgt, soweit er sie auf eine unerlaubte Handlung der Beklagten durch das Inverkehrbringen des Fahrzeugs stützt. Entscheidung des Bundesgerichtshofs: Der Bundesgerichtshof hat das Urteil des Berufungsgerichts aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Das Berufungsgericht hat zwar rechtsfehlerfrei erkannt, bei der Sicherungsabtretung von Ansprüchen gegen die Beklagte "gleich aus welchem Rechtsgrund" handele es sich um eine vorformulierte Allgemeine Geschäftsbedingung, die Bestandteil des Darlehensvertrags geworden ist. Es hat aber unzutreffend angenommen, die Abtretungsklausel sei wirksam, so dass der Kläger nicht aktivlegitimiert sei. Die Abtretungsklausel ist so zu verstehen, mit Ausnahme von Gewährleistungsansprüchen aus Kaufvertrag erfasse sie jedenfalls sämtliche mit dem Erwerb des Fahrzeugs in Zusammenhang stehenden Ansprüche des Klägers gegen die Beklagte. Damit sind auch solche Forderungen erfasst, die dem Darlehensnehmer als Verbraucher im Rahmen des von § 355 Abs. 3 Satz 1, § 358 Abs. 4 Satz 5 BGB geregelten Rückabwicklungsverhältnisses nach Widerruf der auf Abschluss des Darlehensvertrags gerichteten Willenserklärung gegen die Beklagte erwachsen. So verstanden hält die Abtretungsklausel einer Inhaltskontrolle nach § 307 Abs. 1 und 2 Nr. 1, §§ 134, 361 Abs. 2 Satz 1, § 355 Abs. 3 Satz 1, § 358 Abs. 4 Satz 5 BGB ohne Wertungsmöglichkeit nicht stand, weil sie zulasten des Klägers als Verbraucher und Vertragspartner zweier verbundener Verträge von zu seinen Gunsten zwingenden Vorschriften abweicht. Nach § 358 Abs. 4 Satz 1 BGB in der auf das Vertragsverhältnis zwischen dem Kläger und der Darlehensgeberin geltenden Fassung findet in Fällen, in denen wie hier der Kaufvertrag über das Fahrzeug und der Allgemein-Verbraucherdarlehensvertrag verbundene Verträge im Sinne des § 358 Abs. 3 BGB darstellen, im Falle des Widerrufs unter anderem § 355 Abs. 3 Satz 1 BGB Anwendung, demzufolge die empfangenen Leistungen unverzüglich zurückzugewähren sind. Dabei tritt nach § 358 Abs. 4 Satz 5 BGB der Darlehensgeber im Verhältnis zum Verbraucher (hier dem Darlehensnehmer und Käufer) hinsichtlich der Rechtsfolgen des Widerrufs in die Rechte und Pflichten des Unternehmers aus dem verbundenen Vertrag (hier des Verkäufers) ein, wenn das Darlehen dem Unternehmer (hier dem Verkäufer) bei Wirksamwerden des Widerrufs bereits zugeflossen ist. § 358 Abs. 4 Satz 5 BGB ordnet unter der Voraussetzung, dass das Darlehen bereits an den Unternehmer (hier den Verkäufer) geflossen ist, eine gesetzliche Schuldübernahme bzw. einen gesetzlichen Schuldnerwechsel und einen Anspruchsübergang an. Infolge dieser gesetzlichen Schuldübernahme ist der Darlehensgeber aufgrund der (halb-)zwingenden Vorgabe des § 358 Abs. 4 Satz 5 BGB zugunsten des Verbrauchers (hier des Darlehensnehmers und Käufers) mit dem Wirksamwerden des Widerrufs verpflichtet, eine aus eigenen Mitteln des Darlehensnehmers und Käufers an den Unternehmer (hier den Verkäufer) geleistete Anzahlung an den Darlehensnehmer zu erstatten. Die von der Darlehensgeberin in den Darlehensvertrag eingeführte Abtretungsklausel weicht von diesen zugunsten des Klägers zwingenden gesetzlichen Vorgaben ab. Sie führt in Fällen, in denen die Beklagte als Verkäuferin den Kaufpreis vereinnahmt hat, das Widerrufsrecht aber noch fortbesteht und vom Käufer und Darlehensnehmer später ausgeübt wird, dazu, dass der Käufer und Darlehensnehmer entgegen § 358 Abs. 4 Satz 5 BGB eine von ihm aus eigenen Mitteln erbrachte Anzahlung auch dann nicht einredefrei herausverlangen oder mit einem Anspruch auf Rückgewähr der Anzahlung auch dann nicht gegen einen Anspruch des Darlehensgebers auf Wertersatz aufrechnen kann, wenn er seiner gesetzlichen Vorleistungspflicht auf Rückgabe des Fahrzeugs genügt hat. Denn auch in diesem Fall dient die zunächst gegen die Beklagte begründete und im Wege des Schuldnerwechsels gegen die Darlehensgeberin fortbestehende Forderung auf Rückgewähr der Anzahlung, wenn sie nicht schon wegen einer Vereinigung von Schuldner und Gläubiger der Forderung erlischt, nach den Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Darlehensgeberin der Sicherung aller Ansprüche der Darlehensgeberin und damit im Falle des Widerrufs auch der Sicherung eines vom Verkäufer auf die Darlehensgeberin übergeleiteten Anspruchs auf Wertersatz. Der aufgrund der Sicherungsabtretung nicht aktivlegitimierte Käufer und Darlehensnehmer müsste daher auch dann, wenn er seiner Vorleistungspflicht im Hinblick auf das Fahrzeug genügt hätte, mit der Leistung von Wertersatz wegen der Nutzung des Fahrzeugs in Vorleistung treten, ohne sich nach dem Fälligwerden seiner Forderungen aus dem Rückgewährschuldverhältnis von dieser Leistungspflicht durch eine Aufrechnung mit seinem Anspruch auf Rückgewähr der Anzahlung befreien zu können. Darin läge mit der Folge der Unwirksamkeit der Klausel eine Verschlechterung der Position des Käufers und Darlehensnehmers gegenüber den gesetzlichen Vorgaben zur Rückabwicklung verbundener Verträge nach Widerruf. Die wegen ihrer Abweichung von der zugunsten des Klägers als Käufer und Darlehensnehmer zwingenden gesetzlichen Vorgabe ohne Wertungsmöglichkeit unwirksame formularmäßige Sicherungsabtretung sämtlicher Ansprüche gegen die Beklagte mit Ausnahme solcher aus kaufrechtlicher Gewährleistung kann nicht mit der Maßgabe aufrechterhalten werden, dass andere Ansprüche als solche aus einem Rückgewährschuldverhältnis nach Widerruf und damit solche aus einer unerlaubten Handlung der Beklagten wirksam abgetreten sind. Ein solches Verständnis liefe auf eine geltungserhaltende Reduktion hinaus, die nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs unzulässig ist. Darauf, dass der Kläger hier seine auf Abschluss des Darlehensvertrags gerichtete Willenserklärung nicht widerrufen hat, sondern aus unerlaubter Handlung gegen die Beklagte vorgeht, kommt es nicht an. Die Klausel ist zu weit gefasst. Damit ist sie insgesamt unwirksam und der Kläger ohne Rücksicht auf einen Widerruf möglicher Inhaber von Ansprüchen aus unerlaubter Handlung gegen die Beklagte. Das Berufungsgericht wird nach Zurückverweisung nunmehr in der Sache zu klären haben, ob die Beklagte dem Kläger aus unerlaubter Handlung haftet. Die maßgeblichen Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs lauten: § 134 Gesetzliches Verbot Ein Rechtsgeschäft, das gegen ein gesetzliches Verbot verstößt, ist nichtig, wenn sich nicht aus dem Gesetz ein anderes ergibt. § 307 Inhaltskontrolle (1) 1Bestimmungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen sind unwirksam, wenn sie den Vertragspartner des Verwenders entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligen. 2Eine unangemessene Benachteiligung kann sich auch daraus ergeben, dass die Bestimmung nicht klar und verständlich ist. (2) Eine unangemessene Benachteiligung ist im Zweifel anzunehmen, wenn eine Bestimmung 1. mit wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung, von der abgewichen wird, nicht zu vereinbaren ist oder 2. wesentliche Rechte oder Pflichten, die sich aus der Natur des Vertrags ergeben, so einschränkt, dass die Erreichung des Vertragszwecks gefährdet ist. (3) 1Die Absätze 1 und 2 sowie die §§ 308 und 309 gelten nur für Bestimmungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen, durch die von Rechtsvorschriften abweichende oder diese ergänzende Regelungen vereinbart werden. 2Andere Bestimmungen können nach Absatz 1 Satz 2 in Verbindung mit Absatz 1 Satz 1 unwirksam sein. § 355 Widerrufsrecht bei Verbraucherverträgen […] (3) 1Im Falle des Widerrufs sind die empfangenen Leistungen unverzüglich zurückzugewähren. […] § 358 Mit dem widerrufenen Vertrag verbundener Vertrag (Fassung vom 11. März 2016) […] (4) 1Auf die Rückabwicklung des verbundenen Vertrags sind unabhängig von der Vertriebsform § 355 Absatz 3 und, je nach Art des verbundenen Vertrags, die §§ 357 bis 357b entsprechend anzuwenden. […] 5Der Darlehensgeber tritt im Verhältnis zum Verbraucher hinsichtlich der Rechtsfolgen des Widerrufs in die Rechte und Pflichten des Unternehmers aus dem verbundenen Vertrag ein, wenn das Darlehen dem Unternehmer bei Wirksamwerden des Widerrufs bereits zugeflossen ist. § 361 Weitere Ansprüche, abweichende Vereinbarungen und Beweislast […] (2) 1Von den Vorschriften dieses Untertitels darf, soweit nicht ein anderes bestimmt ist, nicht zum Nachteil des Verbrauchers abgewichen werden. […] Vorinstanzen: Landgericht Stuttgart – Urteil vom 8. April 2021 – 24 O 283/20 Oberlandesgericht Stuttgart – Urteil vom 28. September 2022 – 23 U 2239/21 Karlsruhe, den 24. April 2023 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Urteil des VIa. Zivilsenats vom 24.4.2023 - VIa ZR 1517/22 -
Die im Falle des Verbunds eines Kaufvertrags mit einem Allgemein-Verbraucherdarlehensvertrag in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen des Darlehensgebers enthaltene Bestimmung"3. Abtretung von sonstigen AnsprüchenDer Darlehensnehmer tritt ferner hiermit folgende - gegenwärtige und zukünftige - Ansprüche an den Darlehensgeber ab, [der] diese Abtretung annimmt:[...]- gegen die [...] [Verkäuferin] gleich aus welchem Rechtsgrund. Ausgenommen von der Abtretung sind Gewährleistungsansprüche aus Kaufvertrag des Darlehensnehmers gegen die [...] [Verkäuferin]. Der Darlehensnehmer hat dem Darlehensgeber auf Anforderung jederzeit die Namen und Anschriften der Drittschuldner mitzuteilen."unterliegt nach § 307 Abs. 3 Satz 1 BGB der richterlichen Inhaltskontrolle und ist im Verkehr mit Verbrauchern gemäß § 307 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2, §§ 134, 361 Abs. 2 Satz 1, § 358 Abs. 4 Satz 5 BGB unwirksam (Anschluss an BGH, Urteil vom 20. März 2018 - XI ZR 309/16, BGHZ 218, 132). Tenor Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 23. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 28. September 2022 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als die Berufung des Klägers betreffend seine deliktische Schädigung durch das Inverkehrbringen des in seinen Berufungsanträgen näher bezeichneten Fahrzeugs zurückgewiesen worden ist.Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.Von Rechts wegen Tatbestand Der Kläger nimmt die beklagte Fahrzeugherstellerin wegen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen in einem Kraftfahrzeug auf Schadensersatz in Anspruch.Am 7. März 2019 erwarb der Kläger von der Beklagten als Verkäuferin auf Vermittlung eines Händlers einen Mercedes GLC 250 zu einem Kaufpreis von 55.335,89 € als Neuwagen. Das Fahrzeug ist mit einem Dieselmotor der Baureihe OM 651 (Schadstoffklasse: EURO 6c) ausgestattet. Der Kläger leistete eine Anzahlung in Höhe von 9.140 € an die Beklagte. Den Kaufpreis finanzierte er im Übrigen in Höhe von 46.195,89 € teilweise noch valutierend bei der Mercedes-Benz Bank AG (künftig Darlehensgeberin). Dem Darlehensvertrag, der als Darlehensvermittler denselben Händler nannte, war eine Widerrufsinformation beigefügt, die den Kaufvertrag über das Fahrzeug als verbundenen Vertrag auswies. Dem Darlehensvertrag lagen weiter die Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Darlehensgeberin zugrunde. Dort hieß es unter anderem:"II. SicherheitenDer Darlehensnehmer räumt dem Darlehensgeber zur Sicherung aller gegenwärtigen und bis zur Rückzahlung des Darlehens noch entstehenden sowie bedingten und befristeten Ansprüche des Darlehensgebers aus der Geschäftsverbindung einschließlich einer etwaigen Rückabwicklung, gleich aus welchem Rechtsgrund, Sicherheiten gemäß nachstehenden Ziffern 1-3 ein. [...][...]3. Abtretung von sonstigen AnsprüchenDer Darlehensnehmer tritt ferner hiermit folgende - gegenwärtige und zukünftige - Ansprüche an den Darlehensgeber ab, [...] [der] diese Abtretung annimmt:- gegen den Schädiger und den Halter des schadenverursachenden Fahrzeuges sowie deren Haftpflichtversicherer auf Ausgleich für Beschädigung oder Zerstörung des Finanzierungsobjektes.- gegen den Kaskoversicherer auf Ausgleich für Beschädigung, Zerstörung oder Abhandenkommen des Finanzierungsobjektes.- gegen den Verkäufer für den Fall einer Rückgängigmachung des finanzierten Vertrages oder Herabsetzung der Vergütung.- gegen die Daimler AG [Beklagte], Mercedes-Benz Leasing GmbH, Mercedes-Benz Mitarbeiter-Fahrzeuge Leasing GmbH oder einen Vertreter der Daimler AG, gleich aus welchem Rechtsgrund. Ausgenommen von der Abtretung sind Gewährleistungsansprüche aus Kaufvertrag des Darlehensnehmers gegen die Daimler AG [Beklagte] oder einen Vertreter der Daimler AG. Der Darlehensnehmer hat dem Darlehensgeber auf Anforderung jederzeit die Namen und Anschriften der Drittschuldner mitzuteilen.[...]6. Rückgabe der SicherheitenDer Darlehensgeber verpflichtet sich, nach Wegfall des Sicherungszweckes (alle Zahlungen unanfechtbar erfolgt) sämtliche Sicherungsrechte (Abschnitt II. Ziff. [...] 3) zurückzuübertragen [...] Bestehen mehrere Sicherheiten, hat der Darlehensgeber auf Verlangen des Darlehensnehmers schon vorher nach [...] [seiner] Wahl einzelne Sicherheiten oder Teile davon freizugeben, falls deren realisierbarer Wert 120% der gesicherten Ansprüche des Darlehensgebers überschreitet. [...]"Der Kläger hat die Beklagte in den Vorinstanzen erstens unter dem Gesichtspunkt des Rücktritts vom Kaufvertrag und zweitens unter dem Gesichtspunkt einer deliktischen Schädigung wegen des Inverkehrbringens des Fahrzeugs auf Zahlung nebst Verzugszinsen an sich sowie auf Freistellung von restlichen Darlehensraten Zug um Zug gegen Übergabe und Übertragung des Anwartschaftsrechts auf Rückübereignung des Fahrzeugs in Anspruch genommen. Hilfsweise hat er anstelle der Zahlung an sich Zahlung an die Darlehensgeberin begehrt. Weiter hat er auf Feststellung des Annahmeverzugs und die Zahlung, hilfsweise die Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten angetragen. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen, das Berufungsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit seiner vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seine zweitinstanzlich gestellten Anträge weiter, soweit er sie auf eine unerlaubte Handlung der Beklagten durch das Inverkehrbringen des Fahrzeugs stützt. Gründe A.Das angefochtene Urteil unterliegt aufgrund der beschränkten Zulassung durch das Berufungsgericht, der der Revisionsangriff entspricht, der revisionsrechtlichen Nachprüfung nur insoweit, als das Berufungsgericht die auf eine deliktische Schädigung des Klägers durch das Inverkehrbringen des Fahrzeugs gestützten Hauptanträge des Klägers und seinen Hilfsantrag zurückgewiesen hat.Das Berufungsgericht, das vertragliche Ansprüche aus Rücktritt vom Kaufvertrag an der fehlenden Fristsetzung zur Nacherfüllung und deliktische Ansprüche an der fehlenden Aktivlegitimation aufgrund der Abtretung der Ansprüche an die Darlehensgeberin hat scheitern lassen, hat in den Gründen des Berufungsurteils ausgeführt, die Revision sei zur Sicherung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung im Hinblick auf die abweichende Rechtsauffassung des Oberlandesgerichts Naumburg (Urteil vom 15. Oktober 2021 - 8 U 24/21, juris Rn. 3) zur Abtretungsklausel in Darlehensverträgen der Darlehensgeberin zuzulassen, das die "uferlose" Abtretung sämtlicher Schadensersatzansprüche gleich aus welchem Rechtsgrund an die darlehensgewährende Bank gemäß § 307 Abs. 1 Satz 1, § 305c Abs. 1 BGB für unwirksam erachtet hat. Da die Frage der Wirksamkeit der Abtretung nur für deliktische Ansprüche des Klägers von Bedeutung ist, hat das Berufungsgericht die Zulassung auf diesen Klagegrund beschränkt. Die Eingrenzung der Rechtsmittelzulassung kann sich bei - wie hier - uneingeschränkter Zulassung im Tenor auch aus den Entscheidungsgründen des Berufungsurteils ergeben. Dies kann der Fall sein, wenn die Zulassung nur wegen einer bestimmten Rechtsfrage ausgesprochen wird. Bezieht sich die Rechtsfrage, zu deren Klärung das Berufungsgericht die Revision zugelassen hat, auf einen abtrennbaren Teil des Streitstoffs, ist die Entscheidung grundsätzlich so auszulegen, dass die Revision lediglich beschränkt auf diesen Teil des Streitgegenstands zugelassen worden ist (vgl. BGH, Urteil vom 13. August 2020 - III ZR 148/19, WM 2020, 1862 Rn. 13). So verhält es sich hier.Die Beschränkung der Zulassung ist auch wirksam. Zwar ist eine Beschränkung der Zulassung auf andere Rechtsfragen, Anspruchselemente oder einzelne von mehreren Anspruchsgrundlagen nicht zulässig (vgl. BGH, Urteil vom 13. August 2020 - III ZR 148/19, WM 2020, 1862 Rn. 13). Die vom Kläger einerseits auf den gewährleistungsrechtlich gerechtfertigten Rücktritt vom Kaufvertrag und andererseits auf das Inverkehrbringen des Fahrzeugs gestützten Ansprüche betreffen aber unterschiedliche Streitgegenstände und stehen nicht lediglich in Anspruchsgrundlagenkonkurrenz. Die Einheitlichkeit des Klageziels genügt nicht, um einen einheitlichen Streitgegenstand anzunehmen. Eine Mehrheit von Streitgegenständen liegt vielmehr vor, wenn die materiell-rechtliche Regelung die zusammentreffenden Ansprüche durch eine Verselbständigung der einzelnen Lebensvorgänge erkennbar unterschiedlich ausgestaltet.Das ist hier der Fall. Das auf die Rückabwicklung infolge des Rücktritts vom Kaufvertrag gestützte Begehren ist mit einem mit einer deliktischen Schädigung begründeten Begehren auf Schadensersatz wegen des Inverkehrbringens des Fahrzeugs nicht identisch. Zwar haben beide Begehren in dem Abschluss des Kaufvertrags über das Fahrzeug einen gemeinsamen Tatsachenkern. Darin erschöpft sich aber ihre Gemeinsamkeit. Während es für das Entstehen des Rückgewähranspruchs aus § 437 Abs. 2 Nr. 2 Fall 1, §§ 440, 323 Abs. 1 BGB vor allem auf den zeitlich deutlich später - hier mit der Klageschrift - erklärten Rücktritt ankommt, ist der im Zusammenhang mit dem Schadensersatzanspruch zur Entscheidung gestellte Lebensvorgang mit dem Zustandekommen des Kaufvertrags abgeschlossen. Maßgebliche Bedeutung kommt ferner dem Umstand zu, dass die materiell-rechtlichen Regelungen die zusammentreffenden Ansprüche durch eine Verselbständigung der einzelnen Lebensvorgänge erkennbar auch auf der Rechtsfolgenseite unterschiedlich ausgestalten. Während im Falle des Rücktritts die sich aus dem Rückgewährschuldverhältnis ergebenden Verpflichtungen der Parteien gemäß § 348 Satz 1 BGB Zug um Zug zu erfüllen sind und der Einwand nach § 348 Satz 2 BGB in Verbindung mit §§ 320, 322 BGB im Prozess nur auf Einrede zu berücksichtigen ist, umfasst der deliktische Schadensersatzanspruch auch weitere Nachteile und hat der Geschädigte erlangte Vorteile nach den Grundsätzen der Vorteilsausgleichung herauszugeben, so dass er Schadensersatz nur Zug um Zug gegen Herausgabe dieses Vorteils verlangen kann, ohne dass es einer entsprechenden Einrede des Schädigers bedarf (vgl. im Einzelnen BGH, Urteil vom 5. Juli 2016 - XI ZR 254/15, BGHZ 211, 189 Rn. 26 f.; zu einer Mehrheit von Streitgegenständen schon bei einem auf mehrere Mängel der Kaufsache gestützten Rücktritt BGH, Urteil vom 20. Januar 2016 - VIII ZR 77/15, NJW 2016, 2493 Rn. 14 und 23; Beschluss vom 5. Juli 2022 - VIII ZR 137/21, NJW 2022, 3010 Rn. 26; zur wirksamen Beschränkung der Revisionszulassung noch BGH, Beschluss vom 26. Januar 2021 - VIII ZR 357/20, juris Rn. 10 f.).B.Die Revision hat Erfolg.I.Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung - soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung - im Wesentlichen ausgeführt:Der Kläger sei, soweit er sein Begehren auf eine unerlaubte Handlung der Beklagten stütze, nicht aktivlegitimiert, weil er etwa bestehende deliktische Ansprüche an die Darlehensgeberin abgetreten habe. Die in den Darlehensvertrag einbezogene Abtretungsklausel erfasse die geltend gemachten deliktischen Ansprüche und halte einer Kontrolle nach den §§ 305 ff. BGB stand. Weder sei sie - weil bankenüblich - überraschend im Sinne von § 305c Abs. 1 BGB noch benachteilige sie den Kläger unangemessen im Sinne von § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB. Die Klausel sei auch nicht unklar. Eine bloße Sicherungsabtretung berühre zwar regelmäßig nicht die Befugnis des Abtretenden, das übertragene Recht gerichtlich oder außergerichtlich geltend zu machen. Vom Vorliegen der hierfür erforderlichen Einziehungsermächtigung sei bei der sogenannten stillen Sicherungsabtretung grundsätzlich auszugehen, wenn keine Tatsachen vorgetragen seien, die im Einzelfall auf eine von der Regel abweichende Abrede hindeuteten. Aufgrund der Offenlegung der Sicherungsabtretung könne der Kläger aber nicht Zahlung an sich verlangen, sondern nur noch Leistung an die Darlehensgeberin. Auch der Hilfsantrag scheitere an der fehlenden Aktivlegitimation. Insoweit verlange der Kläger keine Zahlung an die Darlehensgeberin, sondern Freistellung von den zu zahlenden Darlehensraten, soweit er das Darlehen noch nicht zurückgezahlt habe. Da der Kläger Schadensersatz nicht verlangen könne, sei weder der Annahmeverzug der Beklagten festzustellen noch seien dem Kläger die beantragten Nebenforderungen zuzuerkennen.II.Diese Ausführungen halten revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht stand. Der Kläger ist entgegen der Rechtsmeinung des Berufungsgerichts aktivlegitimiert, weil die vereinbarte Sicherungsabtretung sämtlicher Ansprüche gegen die im vierten Spiegelstrich ausdrücklich und speziell benannte Beklagte mit Ausnahme etwaiger Gewährleistungsansprüche aus Kaufvertrag einer Inhaltskontrolle nicht standhält und unwirksam ist.1. Im Ausgangspunkt zutreffend hat das Berufungsgericht angenommen, bei der Sicherungsabtretung von Ansprüchen gegen die Beklagte "gleich aus welchem Rechtsgrund" handele es sich um eine vorformulierte Allgemeine Geschäftsbedingung im Sinne von § 305 Abs. 1 Satz 1 BGB, die gemäß § 305 Abs. 2 BGB Bestandteil des Darlehensvertrags geworden sei.2. Diese Allgemeine Geschäftsbedingung unterliegt nach § 307 Abs. 3 Satz 1 BGB der Inhaltskontrolle.Nach § 307 Abs. 3 Satz 1 BGB sind Gegenstand der Inhaltskontrolle solche Bestimmungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen, durch die von Rechtsvorschriften abweichende oder diese ergänzende Regelungen vereinbart werden (st. Rspr., vgl. nur BGH, Urteil vom 20. Oktober 2015 - XI ZR 166/14, BGHZ 207, 176 Rn. 16 mwN). Die Klausel, die der Senat ohne Bindung an die Auslegung des Berufungsgerichts selbst auslegen kann (vgl. BGH, Urteil vom 14. Mai 2019 - XI ZR 345/18, BGHZ 222, 74 Rn. 38; Urteil vom 15. November 2022 - XI ZR 551/21, NJW 2023, 296 Rn. 19), ist so zu verstehen, mit Ausnahme von Gewährleistungsansprüchen aus Kaufvertrag erfasse sie sämtliche mit dem Erwerb des Fahrzeugs in Zusammenhang stehenden Ansprüche des Klägers gegen die Beklagte (so OLG Nürnberg, Urteil vom 7. Juni 2021 - 5 U 247/20, BeckRS 2021, 29939 Rn. 29; OLG Stuttgart, Urteil vom 9. Februar 2022 - 23 U 1890/21, juris Rn. 36; noch weiter OLG Naumburg, Urteil vom 15. Oktober 2021 - 8 U 24/21, juris Rn. 3). Aus der Sicht eines verständigen und redlichen Vertragspartners bietet ihr Wortlaut, der im vierten Spiegelstrich eine besondere Regelung für Ansprüche gegen die Beklagte ohne Rücksicht auf und ohne Einschränkung betreffend den Rechtsgrund enthält, keinen greifbaren Anhaltspunkt dafür, dass auf einem bestimmten Entstehungsgrund beruhende Forderungen - mit Ausnahme solcher wegen einer kaufrechtlichen Gewährleistung - vom Anwendungsbereich der Klausel ausgenommen sein könnten. Damit sind auch solche Forderungen erfasst, die dem Darlehensnehmer als Verbraucher im Rahmen des von § 355 Abs. 3 Satz 1, § 358 Abs. 4 Satz 5 BGB geregelten Rückabwicklungsverhältnisses nach Widerruf der auf Abschluss des Darlehensvertrags gerichteten Willenserklärung gegen die Beklagte erwachsen (vgl. BGH, Urteil vom 20. März 2018 - XI ZR 309/16, BGHZ 218, 132 Rn. 11), aufgrund der Klausel in Abweichung von der gesetzlichen Vorgabe aber nicht mit dem Wirksamwerden des Widerrufs und nach Erfüllung der Vorleistungspflicht im Hinblick auf das Fahrzeug ohne eine vorherige Rückabtretung gegen die an die Stelle der Beklagten tretende Darlehensgeberin durchgesetzt werden können. Die ausdrückliche namentliche Benennung der Beklagten als Anspruchsgegnerin und der explizite Verzicht einer Eingrenzung der von der Klausel erfassten Ansprüche ihrem Entstehensgrunde nach schließen die von der Beklagten vertretene Interpretation aus, wegen der vorangestellten Abtretung von Ansprüchen "gegen den Verkäufer für den Fall einer Rückgängigmachung des finanzierten Vertrages" seien Ansprüche aus § 355 Abs. 3 Satz 1, § 358 Abs. 4 Satz 5 BGB von der Klausel systematisch nicht erfasst. Dass die Beklagte in Satz 1 der Klausel auch und gerade als Verkäuferin (namentlich) angesprochen ist, ergibt sich im Gegenteil systematisch aus Satz 2 der Klausel, der Ansprüche gegen die Beklagte aus kaufrechtlicher Gewährleistung von der Abtretung ausnimmt.3. Die so zu verstehende Klausel hält einer Inhaltskontrolle nach § 307 Abs. 1 und 2 Nr. 1, §§ 134, 361 Abs. 2 Satz 1, § 355 Abs. 3 Satz 1, § 358 Abs. 4 Satz 5 BGB ohne Wertungsmöglichkeit nicht stand. Sie weicht zulasten des Klägers als Verbraucher und Vertragspartner zweier verbundener Verträge von einseitig zwingenden Vorschriften ab (vgl. BGH, Urteil vom 21. April 2009 - XI ZR 78/08, BGHZ 180, 257 Rn. 33; Urteil vom 17. Dezember 2013 - XI ZR 66/13, BGHZ 199, 281 Rn. 10; Urteil vom 27. Januar 2015 - XI ZR 174/13, NJW 2015, 1440 Rn. 17; Urteil vom 20. Oktober 2015 - XI ZR 166/14, BGHZ 207, 176 Rn. 30 f.; Urteil vom 20. März 2018 - XI ZR 309/16, BGHZ 218, 132 Rn. 18; Urteil vom 17. November 2020 - XI ZR 294/19, BGHZ 227, 343 Rn. 19). Dass der Kaufvertrag und der Darlehensvertrag verbundene Verträge sind, ergibt sich aus dem vom Berufungsgericht zitierten Darlehensvertrag (vgl. BGH, vom 8. Juni 2021 - XI ZR 165/20, NJW 2021, 2807 Rn. 13 ff.). Nach dem in dem maßgeblichen Zeitpunkt des Abschlusses des Darlehensvertrags geltenden Recht (vgl. BGH, Urteil vom 30. März 2010 - XI ZR 200/09, BGHZ 185, 133 Rn. 30; Urteil vom 25. Juni 2014 - VIII ZR 344/13, BGHZ 201, 363 Rn. 31; Urteil vom 27. Januar 2022 - III ZR 3/21, NJW 2022, 1314 Rn. 23), das im Übrigen in seinem hier bedeutsamen Teil dem jetzt geltenden Recht entspricht, verstößt die Klausel gegen § 361 Abs. 2 Satz 1, § 355 Abs. 3 Satz 1, § 358 Abs. 4 Satz 5 BGB.a) Nach § 358 Abs. 4 Satz 1 BGB in der zwischen dem 21. März 2016 und dem 27. Mai 2022 geltenden Fassung (künftig aF) findet in Fällen, in denen wie hier der Kaufvertrag über das Fahrzeug und der Allgemein-Verbraucherdarlehensvertrag (§ 491 Abs. 2 Satz 1 BGB) verbundene Verträge im Sinne des § 358 Abs. 3 BGB darstellen (vgl. BGH, Urteil vom 8. Juni 2021 - XI ZR 165/20, NJW 2021, 2807 Rn. 13 ff.), im Falle des Widerrufs unter anderem § 355 Abs. 3 Satz 1 BGB Anwendung, demzufolge die empfangenen Leistungen unverzüglich zurückzugewähren sind. Dabei tritt nach § 358 Abs. 4 Satz 5 BGB der Darlehensgeber im Verhältnis zum Verbraucher (hier dem Darlehensnehmer und Käufer) hinsichtlich der Rechtsfolgen des Widerrufs in die Rechte und Pflichten des Unternehmers aus dem verbundenen Vertrag (hier des Verkäufers) ein, wenn das Darlehen dem Unternehmer (hier dem Verkäufer) bei Wirksamwerden des Widerrufs bereits zugeflossen ist. § 358 Abs. 4 Satz 5 BGB ordnet unter der Vor-aussetzung, dass das Darlehen bereits an den Unternehmer (hier den Verkäufer) geflossen ist, eine gesetzliche Schuldübernahme bzw. einen gesetzlichen Schuldnerwechsel und einen Anspruchsübergang an (vgl. BGH, Urteil vom 3. März 2016 - IX ZR 132/15, BGHZ 209, 179 Rn. 29, 33; Urteil vom 4. April 2017 - II ZR 179/16, NJW 2017, 2675 Rn. 18 f.; Urteil vom 26. März 2019 - XI ZR 228/17, NJW 2019, 2780 Rn. 22; Urteil vom 14. Februar 2023 - XI ZR 537/21, WM 2023, 506 Rn. 25, zur Veröffentlichung bestimmt in BGHZ; Beschluss vom 3. Dezember 2019 - XI ZR 100/19, juris).Infolge dieser gesetzlichen Schuldübernahme ist der Darlehensgeber aufgrund der (halb-)zwingenden Vorgabe des § 358 Abs. 4 Satz 5 BGB zugunsten des Verbrauchers (hier des Darlehensnehmers und Käufers) mit dem Wirksamwerden des Widerrufs verpflichtet, eine aus eigenen Mitteln des Darlehensnehmers und Käufers an den Unternehmer (hier den Verkäufer) geleistete Anzahlung an den Darlehensnehmer zu erstatten (vgl. BGH, Urteil vom 4. April 2017 - II ZR 179/16, NJW 2017, 2675 Rn. 18). Im Gegenzug kann der Darlehensgeber, sofern keine anderweitigen vertraglichen Vereinbarungen zwischen ihm und dem Unternehmer (hier dem Verkäufer) bestehen, den Unternehmer, der in sonstiger Weise ohne Rechtsgrund die Befreiung von seiner Verbindlichkeit gegenüber dem Darlehensnehmer und Käufer erlangt hat, im Wege der Durchgriffskondiktion nach § 812 Abs. 1 Satz 1 Fall 2 BGB in Anspruch nehmen (BGH, Urteil vom 26. März 2019 - XI ZR 228/17, NJW 2019, 2780 Rn. 23).Gemäß § 361 Abs. 2 Satz 1 BGB darf von den Vorschriften des Untertitels 2 Widerrufsrecht bei Verbraucherverträgen des Titels 5 des Buchs 2 Abschnitt 5 des Bürgerlichen Gesetzbuchs nicht zum Nachteil des Verbrauchers, mithin des Klägers, abgewichen werden. Bei den gesetzlichen Vorgaben für das Widerrufsrecht handelt es sich um halbzwingendes Recht zu Gunsten des Verbrauchers (vgl. BGH, Urteil vom 13. Januar 2009 - XI ZR 118/08, NJW-RR 2009, 709 Rn. 17; Urteil vom 15. Mai 2014 - III ZR 368/13, NJW 2014, 2857 Rn. 36; Urteil vom 21. Februar 2017 - XI ZR 381/16, NJW-RR 2017, 886 Rn. 17; Urteil vom 25. April 2017 - XI ZR 108/16, NJW 2017, 2102 Rn. 21).b) Die von der Darlehensgeberin in den Darlehensvertrag eingeführte Abtretungsklausel weicht von diesen (halb-)zwingenden gesetzlichen Vorgaben ab. Sie führte in - nach ihrem Wortlaut nicht ausgenommenen - Fällen, in denen die Beklagte als Verkäuferin den Kaufpreis vereinnahmt hat, das Widerrufsrecht aber noch fortbesteht und vom Käufer und Darlehensnehmer später ausgeübt wird, dazu, dass der Käufer und Darlehensnehmer entgegen § 358 Abs. 4 Satz 5 BGB eine von ihm aus eigenen Mitteln erbrachte Anzahlung auch dann nicht einredefrei herausverlangen oder mit einem Anspruch auf Rückgewähr der Anzahlung auch dann nicht gegen einen Anspruch des Darlehensgebers auf Wertersatz gemäß § 358 Abs. 4 Satz 1 Halbsatz 2 BGB aF in Verbindung mit § 357 Abs. 7 BGB in der vom 13. Juni 2014 bis zum 27. Mai 2022 geltenden Fassung (künftig aF) aufrechnen kann, wenn er seiner Vorleistungspflicht nach § 358 Abs. 4 Satz 1 BGB aF in Verbindung mit § 357 Abs. 4 Satz 1 BGB (dazu BGH, Urteil vom 27. Oktober 2020 - XI ZR 498/19, BGHZ 227, 253 Rn. 29; Urteil vom 25. Oktober 2022 - XI ZR 44/22, WM 2022, 2332 Rn. 42) genügt hat.Dabei kann im Ergebnis offenbleiben, ob aufgrund der auch im Falle einer Sicherungsabtretung vollwirksamen (Voraus-)Abtretung, deren Fortbestand durch einen Widerruf nicht berührt würde (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Januar 2018 - XI ZR 298/17, NJW 2018, 1390 Rn. 20), der Käufer und Darlehensnehmer aufgrund der von der Darlehensgeberin vorformulierten Abtretungsklausel schon deshalb eine Anzahlung von der Darlehensgeberin nicht zurückverlangen könnte, weil sich mit dem Widerruf die der Darlehensgeberin vorausabgetretene Forderung (auf Rückgewähr der Anzahlung) und die auf die Darlehensgeberin übergeleitete Schuld (wiederum auf Rückgewähr der Anzahlung) in der Person der Darlehensgeberin vereinigte und damit durch Konfusion erlösche (vgl. zu der Regel des Erlöschens eines Schuldverhältnisses durch Konfusion und zu den Ausnahmen BGH, Urteil vom 23. April 2009 - IX ZR 19/08, NJW-RR 2009, 1059 Rn. 19 ff.; Urteil vom 18. Oktober 2022 - XI ZR 606/20, WM 2022, 2421 Rn. 35; zur Konfusion bei einer Sicherungsabtretung vgl. einerseits OLG Düsseldorf, NJW-RR 1999, 1406, 1407; Staudinger/Busche, BGB, 2022, § 398 Rn. 31; MünchKommBGB/Fetzer, 9. Aufl., Vor § 362 Rn. 4; MünchKommBGB/Kieninger, 9. Aufl., § 398 Rn. 18, 112; Ganter in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl., § 69 Rn. 187, aber auch Rn. 158; Reiff/Schneider in Prölss/Martin, VVG, 31. Aufl., ALB § 9 Rn. 42; Servatius, JuS 2006, 1060, 1063; und andererseits Federlin in Kümpel/Mülbert/Früh/Seyfried, Bankrecht und Kapitalmarktrecht, 6. Aufl., Teil 8 Rn. 8.538; Dauner-Lieb/Langen/Kreße, BGB Schuldrecht, 4. Aufl., § 398 Rn. 8; Freckmann/Rösler, ZfIR 2011, 739, 748).Selbst dann, wenn die Forderung auf Rückgewähr der Anzahlung trotz der Vereinigung von Gläubiger und Schuldner in einer Person fortbestünde, wäre der Käufer und Darlehensnehmer durch die Abtretungsklausel unangemessen benachteiligt. Denn in diesem Fall diente die zunächst gegen die Beklagte begründete und im Wege des Schuldnerwechsels gegen die Darlehensgeberin fortbestehende Forderung auf Rückgewähr der Anzahlung nach den Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Darlehensgeberin der Sicherung aller Ansprüche der Darlehensgeberin und damit im Falle des Widerrufs auch der Sicherung eines vom Verkäufer auf die Darlehensgeberin übergeleiteten Anspruchs auf Wertersatz gemäß § 358 Abs. 4 Satz 1, § 357 Abs. 7 BGB aF (vgl. BGH, Urteil vom 27. Oktober 2020 - XI ZR 498/19, BGHZ 227, 253 Rn. 31 ff.; Urteil vom 10. November 2020 - XI ZR 426/19, WM 2021, 44 Rn. 23). Der aufgrund der Sicherungsabtretung nicht aktivlegitimierte Käufer und Darlehensnehmer müsste daher auch dann, wenn er seiner Vorleistungspflicht im Hinblick auf das Fahrzeug genügt hätte, über die in § 357 Abs. 4 BGB geregelte und lediglich das Fahrzeug betreffende Vorleistungspflicht hinaus mit der Leistung von Wertersatz in Vorleistung treten, ohne sich nach dem Fälligwerden seiner Forderungen aus dem Rückgewährschuldverhältnis (BGH, Urteil vom 10. November 2020, aaO, Rn. 23 ff.; Freitag/Rösch, WM 2023, 253) von dieser Leistungspflicht durch eine Aufrechnung mit seinem Anspruch auf Rückgewähr der Anzahlung befreien zu können. Darin läge mit der Folge der Unwirksamkeit der Klausel eine Verschlechterung der Position des Käufers und Darlehensnehmers gegenüber der Vorgabe des § 358 Abs. 4 Satz 5 BGB, die ihn von der Ausübung seines Widerrufsrechts abhalten könnte (vgl. BGH, Urteil vom 20. März 2018 - XI ZR 309/16, BGHZ 218, 132 Rn. 19).Diese Verschlechterung würde entgegen der Rechtsmeinung der Beklagten nicht aufgewogen, wenn der Käufer und Darlehensnehmer seiner Inanspruchnahme auf Gewähr von Wertersatz einen aufschiebend bedingten Anspruch auf Rückgewähr des abgetretenen Anspruchs auf Rückgewähr der Anzahlung aus dem Sicherungsvertrag nach § 273 BGB entgegenhalten könnte (vgl. BGH, Urteil vom 18. Juli 2014 - V ZR 178/13, NJW 2014, 3772 Rn. 27 f., insoweit nicht abgedruckt in BGHZ 202, 150). Die mit der Erhebung der Einrede nach § 273 BGB verbundenen materiell-rechtlichen Rechtsfolgen sind den Rechtsfolgen, die nach § 389 BGB an die Aufrechnung geknüpft sind, nicht gleichwertig (vgl. einerseits BGH, Urteil vom 26. September 2013 - VII ZR 2/13, NJW 2014, 55 Rn. 46; andererseits BGH, Urteil vom 6. Mai 1981 - IVa ZR 170/80, BGHZ 80, 269, 278 f.).Darauf, ob sich die Darlehensgeberin (auch) den Einwand der Treuwidrigkeit entgegenhalten lassen müsste, wenn sie einer Aufrechnung des Käufers und Darlehensnehmers den Mangel der Gegenseitigkeit der Forderungen entgegenhielte, kommt es entgegen der Auffassung der Beklagten nicht an. Einwände gegen die Rechtsausübung des Verwenders betreffen die Ausübungskontrolle und setzen eine wirksame Klausel voraus, so dass die Prüfung anhand der §§ 307 ff. BGB Vorrang vor der Prüfung anhand des § 242 BGB genießt. Der Anwendungsbereich einer Klausel kann mithin nicht unter Verweis auf § 242 BGB eingeschränkt werden, um sie im Sinne einer geltungserhaltenden Reduktion auf den gerade noch wirksamen Inhalt zurückzuführen (vgl. BGH, Urteil vom 18. März 2015 - VIII ZR 185/14, BGHZ 204, 302 Rn. 19).Ob schließlich in Fällen, in denen das verbundene Geschäft nicht im stationären Handel geschlossen wird, ein in der Widerrufsinformation der Darlehensgeberin vorformulierter Hinweis auf die Wertersatzpflicht des Käufers und Darlehensnehmers hinter den Anforderungen des § 357 Abs. 7 Nr. 2 BGB aF zurückbliebe und damit für diesen Fall eine Wertersatzpflicht nicht bestünde, ist ohne Belang. Denn der Verwender einer aus mehreren Teilen bestehenden Klausel, deren einer Teil nur Bestand haben kann, wenn der andere Teil unwirksam ist, kann sich wegen des Gebotes der Transparenz vorformulierter Vertragsbedingungen (§ 307 Abs. 1 Satz 2 BGB) nicht zu seinen Gunsten auf die Unwirksamkeit des anderen Klauselteils berufen. Nichts anderes kann bei äußerlich getrennten Klauseln gelten, die inhaltlich aufeinander bezogen sind (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Oktober 1994 - VIII ARZ 3/94, BGHZ 127, 245, 253 f.; Urteil vom 9. Oktober 2014 - III ZR 32/14, NJW 2015, 328 Rn. 34 mwN).c) Die wegen ihrer Abweichung von der zugunsten des Klägers als Käufer und Darlehensnehmer zwingenden Vorgabe der § 355 Abs. 3 Satz 1, § 358 Abs. 4 Satz 5 BGB ohne Wertungsmöglichkeit unwirksame formularmäßige Sicherungsabtretung sämtlicher Ansprüche gegen die Beklagte mit Ausnahme solcher aus kaufrechtlicher Gewährleistung kann nicht mit der Maßgabe aufrechterhalten werden, dass andere Ansprüche als solche aus einem Rückgewährschuldverhältnis nach Widerruf und damit solche aus einer unerlaubten Handlung der Beklagten wirksam abgetreten sind. Ein solches Verständnis liefe auf eine geltungserhaltende Reduktion hinaus, die nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs unzulässig ist (BGH, Urteil vom 27. Januar 2015 - XI ZR 174/13, NJW 2015, 1440 Rn. 18; Urteil vom 20. Oktober 2015 - XI ZR 166/14, BGHZ 207, 176 Rn. 32, jeweils mwN). Die Klausel kann auch nicht in einen inhaltlich zulässigen und einen inhaltlich unzulässigen Teil zerlegt werden (vgl. BGH, Urteil vom 20. März 2018 - XI ZR 309/16, BGHZ 218, 132 Rn. 20).d) Ob die formularmäßige Sicherungsabtretung auch wegen eines Verstoßes gegen das Transparenzgebot oder, entsprechend den Ausführungen der Revision, aus anderen Gründen einer Inhaltskontrolle nicht standhält, bedarf hiernach keiner Entscheidung.C.Das Berufungsurteil ist deshalb bezüglich des mit einer unerlaubten Handlung begründeten Hauptantrags und des Hilfsantrags, der ohne abschlägige Entscheidung über den Hauptantrag nicht zur Entscheidung steht (vgl. BGH, Urteil vom 29. Juni 2021 - VI ZR 52/18, NJW 2021, 3130 Rn. 31), gemäß § 562 Abs. 1 ZPO aufzuheben, da es sich nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt (§ 561 ZPO). Insbesondere hat das Berufungsgericht keine tragfähigen Feststellungen getroffen, die eine Haftung der Beklagten wegen einer deliktischen Schädigung des Klägers aus sonstigen Gründen ausschlössen. Wegen des Fehlens entsprechender Feststellungen kann der Senat umgekehrt auch nicht in der Sache selbst entscheiden (§ 563 Abs. 3 ZPO). Die Sache ist daher zur neuen Verhandlung und Entscheidung in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).MengesMöhringGötzRensenVogt-Beheim
bundesgerichtshof
bgh_151-2019
21.11.2019
Urteil des Landgerichts Lüneburg im Zusammenhang mit der kriminellen Vereinigung "Diebe im Gesetz" rechtskräftig Ausgabejahr 2019 Erscheinungsdatum 21.11.2019 Nr. 151/2019 Beschluss vom 17. Oktober 2019 - 3 StR 570/18 Das Landgericht Lüneburg hat die Angeklagten A., S. und Z. wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung, den Angeklagten A. des Weiteren wegen Betruges und Urkundenfälschung zu mehrjährigen Freiheitsstrafen bzw. einer Bewährungsstrafe verurteilt. Die Angeklagten E. und W. hat es des Betruges und der Urkundenfälschung, den Angeklagten D. der Beihilfe zum Betrug schuldig gesprochen und auch insoweit mehrjährige Freiheitsstrafen bzw. eine Bewährungsstrafe festgesetzt. Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat die hiergegen gerichteten Revisionen der Angeklagten D., E., S. und Z. weitgehend verworfen. Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen beteiligten sich die Angeklagten A., S. und Z. über mehrere Jahre als Rädelsführer an der kriminellen Vereinigung "Diebe im Gesetz", eine nach dem "Diebesgesetz" streng hierarchisch organisierte Bruderschaft, die ihren Mittelpunkt in Hannover hatte. Ein wesentliches Element des "Diebesgesetzes" war die strenge Abschottung der Bruderschaft nach außen und die Solidarität der Mitglieder nach innen; zu den verbindlich festgesetzten Zielen gehörte es, Vermögensstraftaten zu begehen, wobei die Beute zum größten Teil bei den Mitgliedern verblieb und im Übrigen der Gemeinschaftskasse, dem "Obschtschak" zugeführt wurde. Zur Durchführung der Straftaten bediente sich die Vereinigung z.T. auch nicht der Bruderschaft angehöriger Personen, hier der Angeklagten E. und D.. Konkret hat das Landgericht für die Zeit von August 2013 bis Februar 2014 zehn Fälle des gewerbsmäßigen Betruges, meist im Zusammenhang mit Leasinggeschäften, festgestellt. Die Angeklagten haben mit ihren Rechtsmitteln die Verletzung formellen und materiellen Rechts gerügt. Die Überprüfung durch den 3. Strafsenat hat weitgehend keinen Rechtsfehler ergeben. Das Verfahren vor dem Landgericht ist rechtsfehlerfrei geführt worden. Die von ihm getroffenen Feststellungen tragen im Wesentlichen die Schuldsprüche. Diese waren lediglich betreffend die Angeklagten S. und Z. auf Rädelsführerschaft in einer kriminellen Vereinigung zu ändern, betreffend den Angeklagten D. wegen einer offensichtlichen Unrichtigkeit zu berichtigen. Auch die verhängten Strafen sind weitgehend nicht zu beanstanden. Lediglich hinsichtlich des Angeklagten E. hat der Senat wegen einer Diskrepanz zwischen Urteilstenor und -gründen die Gesamtfreiheitsstrafe neu festgesetzt. Das Urteil ist damit rechtskräftig. Vorinstanz: LG Lüneburg - 21 KLs/6403 Js 39314/13 (4/14) - Urteil vom 7. Dezember 2017 Karlsruhe, den 21. November 2019 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Beschluss des 3. Strafsenats vom 17.10.2019 - 3 StR 570/18 -
Tenor 1. Die Revisionen der Angeklagten Z. und S. gegen das Urteil des Landgerichts Lüneburg vom 7. Dezember 2017 werden verworfen; jedoch werden die Schuldsprüche dahin geändert, dass diese Angeklagten jeweils der Rädelsführerschaft in einer kriminellen Vereinigung schuldig sind.2. Auf die Revisionen der Angeklagten D. und E. wird das Urteil des Landgerichts Lüneburg vom 7. Dezember 20 a) soweit es den Angeklagten D. betrifft, im Schuld- spruch dahin berichtigt, dass dieser der Beihilfe zum Betrug in sechs Fällen schuldig ist; b) soweit es den Angeklagten E. betrifft, im Straf- ausspruch dahin geändert, dass die Gesamtfreiheitsstrafe auf drei Jahre und sechs Monate festgesetzt wird.3. Die weitergehenden Revisionen der Angeklagten D. und E. werden verworfen.4. Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen. Gründe Das Landgericht hat die Angeklagten Z. und S. we- gen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung zu Freiheitsstrafen von drei Jahren und sechs Monaten (Z. ) und einem Jahr und sechs Monaten unter Aussetzung der Strafvollstreckung zur Bewährung (S. ) verurteilt. Den Angeklagten E. hat es wegen Betruges in neun Fällen sowie versuchten Betruges in Tateinheit mit Urkundenfälschung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt, den Angeklagten D. we- gen Beihilfe zum Betrug in "sieben" Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Ferner hat die Strafkammer Einziehungsentscheidungen getroffen. Dagegen wenden sich die Beschwerdeführer mit ihren Revisionen, die sie auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts stützen. Die Angeklagten Z. , S. und E. haben darüber hinaus Verfahrensrügen erhoben. Die Revisionen der Angeklagten Z. und S. sind unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO, jedoch sind die Schuldsprüche zu ändern. Die Rechtsmittel der Angeklagten E. und D. haben mit der Sachrüge den aus der Beschluss- formel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen erweisen sie sich als unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.1. Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen belegen eine Stellung der Angeklagten Z. und S. als Rädelsführer der Vereinigung (vgl. UA S. 139); dies war auch im Schuldspruch des Urteils zum Ausdruck zu bringen. Der Senat fasst ihn entsprechend für beide Angeklagte neu (vgl. BGH, Urteil vom 22. Januar 2015 - 3 StR 233/14, NJW 2015, 1540 Rn. 59 mwN).2. Betreffend den Angeklagten D. ist der Urteilstenor hinsichtlich der Anzahl der Taten von sieben auf sechs zu berichtigen. Es handelt sich um ein offensichtliches Verkündungsversehen. Dem Landgericht ist ein Fehler allein bei der Zählung der abgeurteilten Fälle unterlaufen. Ein solcher darf berichtigt werden, wenn er für alle Verfahrensbeteiligten offensichtlich ist und seine Behebung darum auch nicht den entfernten Verdacht einer inhaltlichen Änderung des Urteils begründen kann (vgl. BGH, Beschluss vom 15. April 2005 - 2 StR 92/05, juris Rn. 2 mwN).Dies ist hier der Fall. Nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen hat sich der Angeklagte D. wegen Beihilfe zum Betrug in nur sechs Fällen schuldig gemacht. Das Landgericht selbst hat in den schriftlichen Urteilsgründen ausdrücklich klargestellt, dass es sich lediglich um "ein Redaktionsversehen (Zählfehler!) bei der Übertragung des Beratungsergebnisses in den Tenor" gehandelt hat (UA S. 140).3. Der Angeklagte E. ist nach dem Urteilstenor zu einer Gesamt- freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt worden. Die Urteilsgründe nennen demgegenüber eine Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten (UA S. 149). Durch die Annahme eines offenkundigen Schreibversehens kann dieser Widerspruch nicht aufgelöst werden. Denn die Strafzumessungsgründe lassen eine Strafe in der einen wie in der anderen Höhe zu und bieten deshalb keinen Anhaltspunkt dafür, welche der beiden Strafen das Landgericht für angemessen erachtet hat. Da nicht zu erkennen ist, worauf der Widerspruch beruht, kann der Strafausspruch keinen Bestand haben. Der Senat setzt in entsprechender Anwendung von § 354 Abs. 1 StPO die niedrigere der beiden Gesamtstrafen fest; denn es ist auszuschließen, dass das Tatgericht auf eine noch niedrigere Strafe erkannt hätte (st. Rspr., vgl. etwa BGH, Beschluss vom 10. Oktober 2018 - 5 StR 459/18, juris Rn. 1 mwN).4. Die Kostenentscheidung hinsichtlich der Angeklagten Z. und S. folgt aus § 473 Abs. 1 StPO. Angesichts des geringen Teilerfolgs der Revisionen der Angeklagten E. und D. ist es nicht unbillig, auch sie mit den gesamten Kosten und Auslagen ihrer Rechtsmittel zu belasten (§ 473 Abs. 1 und 4 StPO).Schäfer Gericke Wimmer Tiemann Hoch
bundesgerichtshof
bgh_039-2020
17.04.2020
Entscheidungsverkündungstermin in der Sache I ZR 139/15 (Urheberrechtlicher Schutz militärischer Lageberichte) am 30. April 2020, 9.30 Uhr Ausgabejahr 2020 Erscheinungsdatum 17.04.2020 Nr. 039/2020 Der unter anderem für das Urheberrecht zuständige I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs wird am 30. April 2020 seine Entscheidung zu der Frage verkünden, ob die Bundesrepublik Deutschland die Veröffentlichung militärischer Lageberichte unter Berufung auf das Urheberrecht untersagen kann. Die mündliche Verhandlung fand am 9. Januar 2020 statt (siehe Pressemitteilung Nr. 3/2020 vom 3. Januar 2020). Sachverhalt: Die Klägerin ist die Bundesrepublik Deutschland, die im vorliegenden Verfahren durch das Bundesministerium der Verteidigung vertreten wird. Dieses lässt wöchentlich einen militärischen Lagebericht über die Auslandseinsätze der Bundeswehr und Entwicklungen im Einsatzgebiet erstellen. Die Berichte werden unter der Bezeichnung "Unterrichtung des Parlaments" (UdP) an ausgewählte Abgeordnete des deutschen Bundestages, Referate im Bundesministerium der Verteidigung und anderen Bundesministerien, sowie dem Bundesministerium der Verteidigung nachgeordneten Dienststellen versendet. Sie sind als Verschlusssache "VS - Nur für den Dienstgebrauch" eingestuft. Daneben veröffentlicht die Klägerin gekürzte Fassungen der UdP als "Unterrichtung der Öffentlichkeit (UdÖ)". Die Beklagte betreibt das Onlineportal der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung. Sie beantragte im Jahr 2012 unter Berufung auf das Informationsfreiheitsgesetz die Einsichtnahme in sämtliche UdP aus der Zeit zwischen dem 1. September 2001 und dem 26. September 2012. Nach Ablehnung dieses Antrags gelangte die Beklagte auf unbekanntem Weg an einen Großteil der Berichte und veröffentlichte diese unter der Bezeichnung "Afghanistan-Papiere" als eingescannte Einzelseiten im Internet. Die Klägerin hat die Beklagte auf Unterlassung in Anspruch genommen, weil die Veröffentlichung ihr Urheberrecht an den Berichten verletze. Bisheriger Prozessverlauf: Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Die Berufung der Beklagten ist ohne Erfolg geblieben. Mit ihrer Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter. Der Bundesgerichtshof hatte das Verfahren mit Beschluss vom 1. Juni 2017 ausgesetzt und dem Gerichtshof der Europäischen Union verschiedene Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt (dazu Pressemitteilung Nr. 87/17 vom 1. Juni 2017). Der Bundesgerichtshof hatte hierzu ausgeführt, die vom Berufungsgericht bislang getroffenen Feststellungen rechtfertigten zwar nicht die Annahme, dass die UdP die Anforderungen an den urheberrechtlichen Schutz von Schriftwerken erfüllten. Eine Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht, um diesem Gelegenheit zur Nachholung entsprechender Feststellungen zu geben, scheide jedoch aus, wenn ein Eingriff in das Urheberrecht von den in Betracht kommenden urheberrechtlichen Schrankenregelungen der Berichterstattung über Tagesereignisse (§ 50 UrhG) oder des Zitatrechts (§ 51 UrhG) gedeckt oder unter Berücksichtigung der Grundrechte der Informationsfreiheit (Art. 5 Abs.1 Satz 1 GG; Art. 11 Abs. 1 Satz 2 EU-Grundrechtecharta) oder der Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 11 Abs. 1 Satz 2 EU-Grundrechtecharta) gerechtfertigt sei. In diesem Fall sei die Klage durch den Bundesgerichtshof abzuweisen. Es stellten sich insoweit Fragen zur Auslegung von Art. 2 Buchst. a, Art. 3 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat über diese Fragen durch Urteil vom 29. Juli 2019 (C-469/17, GRUR 2019, 934 - Funke Medien) entschieden. Der Bundesgerichtshof wird nun, nachdem er die mündliche Verhandlung in dem Rechtsstreit am 9. Januar 2020 fortgesetzt hatte, am 30. April 2020 seine Entscheidung verkünden. Die maßgeblichen Vorschriften lauten: § 50 UrhG: Zur Berichterstattung über Tagesereignisse durch Funk oder durch ähnliche technische Mittel, in Zeitungen, Zeitschriften und in anderen Druckschriften oder sonstigen Datenträgern, die im Wesentlichen Tagesinteressen Rechnung tragen, sowie im Film, ist die Vervielfältigung, Verbreitung und öffentliche Wiedergabe von Werken, die im Verlauf dieser Ereignisse wahrnehmbar werden, in einem durch den Zweck gebotenen Umfang zulässig. § 51 UrhG: Zulässig ist die Vervielfältigung, Verbreitung und öffentliche Wiedergabe eines veröffentlichten Werkes zum Zweck des Zitats, sofern die Nutzung in ihrem Umfang durch den besonderen Zweck gerechtfertigt ist. Zulässig ist dies insbesondere, wenn 1. einzelne Werke nach der Veröffentlichung in ein selbständiges wissenschaftliches Werk zur Erläuterung des Inhalts aufgenommen werden, 2. Stellen eines Werkes nach der Veröffentlichung in einem selbständigen Sprachwerk angeführt werden, 3. einzelne Stellen eines erschienenen Werkes der Musik in einem selbständigen Werk der Musik angeführt werden. Von der Zitierbefugnis gemäß den Sätzen 1 und 2 umfasst ist die Nutzung einer Abbildung oder sonstigen Vervielfältigung des zitierten Werkes, auch wenn diese selbst durch ein Urheberrecht oder ein verwandtes Schutzrecht geschützt ist. Art. 5 Abs. 1 GG: Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt. Artikel 11 Abs. 1 EU-Grundrechtecharta: Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben. Art. 2 Buchst. a Richtlinie 2001/29 EG: Die Mitgliedstaaten sehen für die Urheber in Bezug auf ihre Werke das ausschließliche Recht vor, die unmittelbare oder mittelbare, vorübergehende oder dauerhafte Vervielfältigung auf jede Art und Weise und in jeder Form ganz oder teilweise zu erlauben oder zu verbieten. § 3 Abs. 1 Richtlinie 2001/29/EG: Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass den Urhebern das ausschließliche Recht zusteht, die drahtgebundene oder drahtlose öffentliche Wiedergabe ihrer Werke einschließlich der öffentlichen Zugänglichmachung der Werke in der Weise, dass sie Mitgliedern der Öffentlichkeit von Orten und zu Zeiten ihrer Wahl zugänglich sind, zu erlauben oder zu verbieten. Art. 5 Abs. 3 Buchst. c und Buchst. d Richtlinie 2001/29/EG: Die Mitgliedstaaten können in den folgenden Fällen Ausnahmen oder Beschränkungen in Bezug auf die in den Artikeln 2 und 3 vorgesehenen Rechte vorsehen: … c) für die Vervielfältigung durch die Presse, die öffentliche Wiedergabe oder die Zugänglichmachung von veröffentlichten Artikeln zu Tagesfragen wirtschaftlicher, politischer oder religiöser Natur oder von gesendeten Werken oder sonstigen Schutzgegenständen dieser Art, sofern eine solche Nutzung nicht ausdrücklich vorbehalten ist und sofern die Quelle, einschließlich des Namens des Urhebers, angegeben wird, oder die Nutzung von Werken oder sonstigen Schutzgegenständen in Verbindung mit der Berichterstattung über Tagesereignisse, soweit es der Informationszweck rechtfertigt und sofern – außer in Fällen, in denen sich dies als unmöglich erweist – die Quelle, einschließlich des Namens des Urhebers, angegeben wird; d) für Zitate zu Zwecken wie Kritik oder Rezensionen, sofern sie ein Werk oder einen sonstigen Schutzgegenstand betreffen, das bzw. der der Öffentlichkeit bereits rechtmäßig zugänglich gemacht wurde, sofern – außer in Fällen, in denen sich dies als unmöglich erweist – die Quelle, einschließlich des Namens des Urhebers, angegeben wird und sofern die Nutzung den anständigen Gepflogenheiten entspricht und in ihrem Umfang durch den besonderen Zweck gerechtfertigt ist. Vorinstanzen: LG Köln - Urteil vom 2. Oktober 2014 - 14 O 333/13 OLG Köln - Urteil vom 12. Juni 2015 - 6 U 5/15 Karlsruhe, den 17. April 2020 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Urteil des I. Zivilsenats vom 30.4.2020 - I ZR 139/15 - Beschluss des I. Zivilsenats vom 1.6.2017 - I ZR 139/15 -
BundesgerichtshofRichtlinie 2001/29/EG Art. 2 Buchst. a, Art. 3 Abs. 1, Art. 5 Abs. 2 und 3 Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden zur Auslegung von Art. 2 Buchst. a, Art. 3 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft (ABl. Nr. L 167 vom 22. Juni 2001, S. 10) folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:1. Lassen die Vorschriften des Unionsrechts zum ausschließlichen Recht der Urheber zur Vervielfältigung (Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/29/EG) und zur öffentlichen Wiedergabe einschließlich der öffentlichen Zugänglichmachung (Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29/EG) ihrer Werke und den Ausnahmen oder Beschränkungen dieser Rechte (Art. 5 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2001/29/EG) Umsetzungsspielräume im nationalen Recht?2. In welcher Weise sind bei der Bestimmung der Reichweite der in Art. 5 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2001/29/EG vorgesehenen Ausnahmen oder Beschränkungen des ausschließlichen Rechts der Urheber zur Vervielfältigung (Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/29/EG) und zur öffentlichen Wiedergabe einschließlich der öffentlichen Zugänglichmachung (Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29/EG) ihrer Werke die Grundrechte der EU-Grundrechtecharta zu berücksichtigen?3. Können die Grundrechte der Informationsfreiheit (Art. 11 Abs. 1 Satz 2 EU-Grundrechtecharta) oder der Pressefreiheit (Art. 11 Abs. 2 EU-Grundrechtecharta) Ausnahmen oder Beschränkungen des ausschließlichen Rechts der Urheber zur Vervielfältigung (Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/29/EG) und zur öffentlichen Wiedergabe einschließlich der öffentlichen Zugänglichmachung (Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29/EG) ihrer Werke außerhalb der in Art. 5 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2001/29/EG vorgesehenen Ausnahmen oder Beschränkungen rechtfertigen?BGH, Beschluss vom 1. 6. 2017 – I ZR 139/15 – Afghanistan Papiere; OLG Köln (lexetius.com/2017,1823)Der I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 9. Februar 2017 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Büscher, die Richter Prof. Dr. Koch, Dr. Löffler, die Richterin Dr. Schwonke und den Richter Feddersen beschlossen:I. Das Verfahren wird ausgesetzt.II. Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden zur Auslegung von Art. 2 Buchst. a, Art. 3 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft (ABl. Nr. L 167 vom 22. Juni 2001, S. 10) folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:1. Lassen die Vorschriften des Unionsrechts zum ausschließlichen Recht der Urheber zur Vervielfältigung (Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/29/EG) und zur öffentlichen Wiedergabe einschließlich der öffentlichen Zugänglichmachung (Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29/EG) ihrer Werke und den Ausnahmen oder Beschränkungen dieser Rechte (Art. 5 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2001/29/EG) Umsetzungsspielräume im nationalen Recht?2. In welcher Weise sind bei der Bestimmung der Reichweite der in Art. 5 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2001/29/EG vorgesehenen Ausnahmen oder Beschränkungen des ausschließlichen Rechts der Urheber zur Vervielfältigung (Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/29/EG) und zur öffentlichen Wiedergabe einschließlich der öffentlichen Zugänglichmachung (Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29/EG) ihrer Werke die Grundrechte der EU- Grundrechtecharta zu berücksichtigen?3. Können die Grundrechte der Informationsfreiheit (Art. 11 Abs. 1 Satz 2 EU-Grundrechtecharta) oder der Pressefreiheit (Art. 11 Abs. 2 EU-Grundrechtecharta) Ausnahmen oder Beschränkungen des ausschließlichen Rechts der Urheber zur Vervielfältigung (Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/29/EG) und zur öffentlichen Wiedergabe einschließlich der öffentlichen Zugänglichmachung (Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29/EG) ihrer Werke außerhalb der in Art. 5 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2001/29/EG vorgesehenen Ausnahmen oder Beschränkungen rechtfertigen?[1] Gründe: A. Die Klägerin ist die Bundesrepublik Deutschland. Sie lässt wöchentlich einen militärischen Lagebericht über die Auslandseinsätze der Bundeswehr und die Entwicklungen im Einsatzgebiet gemäß § 6 Abs. 1 des Gesetzes über die parlamentarische Beteiligung bei der Entscheidung über den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Ausland (Parlamentsbeteiligungsgesetz – ParlBG) erstellen.[2] Die Berichte werden von der Klägerin unter der Bezeichnung "Unterrichtung des Parlaments" (UdP) an ausgewählte Abgeordnete des Deutschen Bundestages, Referate im Bundesministerium der Verteidigung und in anderen Bundesministerien sowie dem Bundesministerium der Verteidigung nachgeordnete Dienststellen übersandt. Die UdP sind gemäß § 4 Abs. 2 des Gesetzes über die Voraussetzungen und das Verfahren von Sicherheitsüberprüfungen des Bundes (Sicherheitsüberprüfungsgesetz – SÜG) als Verschlusssache "VS-NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH" eingestuft, die niedrigste von vier Geheimhaltungsstufen. Daneben veröffentlicht die Klägerin gekürzte Fassungen der UdP als "Unterrichtung der Öffentlichkeit" (UdÖ).[3] Die Beklagte betreibt unter der Internetadresse "www. 'de" das Onlineportal der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung. Am 27. September 2012 beantragte sie unter Berufung auf das Gesetz zur Regelung des Zugangs zu Informationen des Bundes (Informationsfreiheitsgesetz – IFG) die Einsichtnahme in sämtliche UdP aus der Zeit vom 1. September 2001 bis zum 26. September 2012. Der Antrag wurde durch Bescheid vom 25. Oktober 2012 mit der Begründung, das Bekanntwerden der Informationen könne nachteilige Auswirkungen auf sicherheitsempfindliche Belange der Bundeswehr haben, gemäß § 3 Nr. 1 Buchst. b IFG abgelehnt. Zugleich wurde in dem Bescheid auf die regelmäßig erscheinende UdÖ hingewiesen, die eine nicht die Sicherheitsinteressen der Bundeswehr berührende Version der UdP darstelle.[4] Die Beklagte gelangte auf unbekanntem Weg an einen Großteil der UdP, wobei sich der Kreis der Übermittler auf Bedienstete der Klägerin oder Bundestagsabgeordnete beschränken lässt. Seit dem 27. November 2012 veröffentlicht die Beklagte die von ihr als "Afghanistan-Papiere" bezeichneten UdP aus den Jahren 2005 bis 2012 im Internet, die dort als eingescannte Einzelseiten betrachtet werden können.[5] Die Klägerin ist der Ansicht, die Beklagte verletze damit das Urheberrecht an diesen Berichten. Sie hat die Beklagte auf Unterlassung in Anspruch genommen.[6] Das Landgericht hat die Beklagte antragsgemäß verurteilt (LG Köln, GRUR-RR 2015, 55). Das Berufungsgericht hat die Berufung der Beklagten mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Beklagte unter Androhung von Ordnungsmitteln verurteilt wird, die auf dem als Anlage K 1 beigefügten Datenträger befindlichen und über den [angegebenen] Pfad seitenweise abrufbaren, als "Afghanistan Papiere" bezeichneten Schriftstücke ganz oder in Teilen ohne Zustimmung der Klägerin im Internet zu veröffentlichen und/oder veröffentlichen zu lassen und/oder zu vervielfältigen und/oder vervielfältigen zu lassen und/oder öffentlich zugänglich zu machen und/oder öffentlich zugänglich machen zu lassen, wenn dies geschieht, wie unter der [angegebenen] Internetadresse geschehen (OLG Köln, GRUR-RR 2016, 59).[7] Mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision, deren Zurückweisung die Klägerin beantragt, verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf Abweisung der Klage weiter.[8] B. Der Erfolg der Revision hängt von der Auslegung von Art. 2 Buchst. a, Art. 3 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2001/29/EG zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft ab. Vor einer Entscheidung über die Revision der Beklagten ist deshalb das Verfahren auszusetzen und gemäß Art. 267 Abs. 1 Buchst. b und Abs. 3 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union einzuholen.[9] I. Das Berufungsgericht hat angenommen, der von der Klägerin erhobene Unterlassungsanspruch sei begründet, weil die Beklagte das Urheberrecht an den UdP widerrechtlich verletzt habe. Dazu hat es ausgeführt:[10] Die von der Beklagten zum Abruf im Internet eingestellten Texte seien als Schriftwerke urheberrechtlich geschützt. Es handele sich nicht um amtliche Werke, die keinen urheberrechtlichen Schutz genössen. Die Klägerin sei berechtigt, einen Unterlassungsanspruch wegen unbefugter Veröffentlichung, Vervielfältigung und öffentlichen Zugänglichmachung der Texte geltend zu machen. Die Beklagte habe die UdP veröffentlicht, vervielfältigt und öffentlich zugänglich gemacht. Der Eingriff in das Urheberrecht sei nicht von einer Schrankenregelung gedeckt. Da die Beklagte sich darauf beschränkt habe, die militärischen Lageberichte in systematisierter Form im Internet einzustellen und zum Abruf bereitzuhalten, handele es sich weder um eine Berichterstattung über Tagesereignisse noch lägen die Voraussetzungen des Zitatrechts vor.[11] Die erforderliche Abwägung der betroffenen Grundrechte der Parteien habe im Rahmen der Auslegung und Anwendung der urheberrechtlichen Schrankenregelungen zu erfolgen. Auf Seiten der Beklagten seien die Presse- und die Informationsfreiheit zu berücksichtigen, auf Seiten der Klägerin deren Verwertungs- und Geheimhaltungsinteressen. Die Grundrechte der Beklagten überwögen die Rechte der Klägerin nicht in dem Sinne, dass die Veröffentlichung der gesamten und ungekürzten UdP vom Zweck des Zitatrechts gedeckt sei. Dabei sei zu berücksichtigen, dass die Klägerin die Dokumente in Gestalt der UdÖ bereits zum größten Teil für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht und dem Informationsinteresse damit in hohem Maße entsprochen habe. Dagegen präsentiere die Beklagte den Lesern ihrer Internetseite keine Informationen zu den in den UdP behandelten Themen. Sie setze sich nicht etwa in der Weise mit den UdP auseinander, dass sie einzelnen Abschnitten der UdP die entsprechenden Abschnitte der UdÖ gegenüberstelle und die Diskrepanzen zwischen den UdP und den UdÖ im Rahmen einer Analyse erörtere. Die Klägerin habe die Geheimhaltung bestimmter Informationen damit begründet, dass die UdP sicherheitsempfindliche Belange der Bundeswehr beträfen. Dies überzeuge ohne weiteres, soweit eine Bedrohungslage oder die Rolle handelnder Personen eingeschätzt und bewertet oder Strategien der Bundeswehr oder Details ihrer Einsatzstärke dargestellt würden. Im Übrigen müsse der Klägerin insoweit ein entsprechendes und nicht in jedem Einzelfall zu begründendes Beurteilungsermessen eingeräumt werden.[12] II. Der von der Klägerin geltend gemachte Unterlassungsanspruch (§ 97 Abs. 1 UrhG) setzt voraus, dass die Beklagte das Urheberrecht an den UdP widerrechtlich verletzt hat.[13] Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass die UdP gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 UrhG als Schriftwerke urheberrechtlich geschützt sein können. Es hat ferner mit Recht angenommen, dass es sich bei den UdP nicht um amtliche Werke im Sinne von § 5 Abs. 1 oder 2 UrhG handelt, die keinen urheberrechtlichen Schutz genießen. Seine Beurteilung, die Klägerin sei berechtigt, einen Unterlassungsanspruch wegen unbefugter Veröffentlichung (§ 12 UrhG), Vervielfältigung (§ 16 UrhG) und öffentlicher Zugänglichmachung (§ 19a UrhG) der Texte geltend zu machen, und die Beklagte habe die UdP veröffentlicht, vervielfältigt und öffentlich zugänglich gemacht, lässt keinen Rechtsfehler erkennen.[14] Die vom Berufungsgericht bislang getroffenen Feststellungen rechtfertigen zwar nicht seine Annahme, dass die UdP tatsächlich die Anforderungen an den urheberrechtlichen Schutz von Schriftwerken erfüllen; das Berufungsgericht hat nicht festgestellt, durch welche konkreten Merkmale die schöpferische Eigentümlichkeit der von der Beklagten veröffentlichten UdP bestimmt wird. Eine Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht, um diesem Gelegenheit zur Nachholung entsprechender Feststellungen zu geben, scheidet jedoch aus, wenn ein Eingriff in das Urheberrecht an den UdP jedenfalls von den hier in Betracht kommenden urheberrechtlichen Schrankenregelungen der Berichterstattung über Tagesereignisse (§ 50 UrhG) oder des Zitatrechts (§ 51 UrhG) gedeckt ist oder unter Berücksichtigung der von der Beklagten geltend gemachten Grundrechte der Informationsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG; Art. 11 Abs. 1 Satz 2 EU-Grundrechtecharta) oder der Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 11 Abs. 2 EU-Grundrechtecharta) gerechtfertigt ist. In diesem Fall wäre die Sache zur Endentscheidung reif und hätte der Senat das Berufungsurteil aufzuheben, die landgerichtliche Entscheidung abzuändern und die Klage abzuweisen.[15] III. Im Zusammenhang mit der Frage, ob ein – für die rechtliche Nachprüfung in der Revisionsinstanz zu unterstellender – Eingriff in das Urheberrecht an den UdP gerechtfertigt ist, stellen sich Fragen zur Auslegung von Art. 2 Buchst. a, Art. 3 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2001/29/EG, die nicht zweifelsfrei zu beantworten sind.[16] 1. Das im Streitfall betroffene Veröffentlichungsrecht des Urhebers (§ 12 UrhG) liegt als Urheberpersönlichkeitsrecht zwar außerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie 2001/29/EG (vgl. Erwägungsgrund 19 der Richtlinie 2001/29/EG). Die hier in Rede stehenden ausschließlichen Rechte des Urhebers zur Vervielfältigung (Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/29/EG) und zur öffentlichen Wiedergabe einschließlich der öffentlichen Zugänglichmachung (Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29/EG) seines Werkes, sind dagegen durch die Richtlinie 2001/29/EG auf Unionsebene harmonisiert. Darüber hinaus regelt die Richtlinie 2001/29/EG die Ausnahmen und Beschränkungen in Bezug auf die von ihr erfassten Verwertungsrechte und so auch in Bezug auf das Recht des Urhebers zur Vervielfältigung und zur öffentlichen Wiedergabe einschließlich der öffentlichen Zugänglichmachung seines Werkes für dessen Nutzung in Verbindung mit der Berichterstattung über Tagesereignisse (Art. 5 Abs. 3 Buchst. c Fall 2 der Richtlinie 2001/29/EG) und für Zitate zu Zwecken wie Kritik oder Rezensionen (Art. 5 Abs. 3 Buchst. d der Richtlinie 2001/29/EG). Die im deutschen Recht vorgesehenen Schranken des Rechts des Urhebers zur Vervielfältigung (§ 15 Abs. 1 Nr. 1, § 16 UrhG) und zur öffentlichen Wiedergabe einschließlich der öffentlichen Zugänglichmachung (§ 15 Abs. 2 Satz 1 und 2 Nr. 2, § 19a UrhG) seines Werkes zur Berichterstattung über Tagesereignisse (§ 50 UrhG) oder zum Zwecke des Zitats (§ 51 UrhG) beruhen auf diesen Bestimmungen der Richtlinie 2001/29/EG und sind daher richtlinienkonform auszulegen.[17] 2. Bei einer allein am Wortlaut von Art. 5 Abs. 3 Buchst. c Fall 2 und Art. 5 Abs. 3 Buchst. d der Richtlinie 2001/29/EG ausgerichteten richtlinienkonformen Auslegung der §§ 50, 51 UrhG, kann sich die Beklagte nicht mit Erfolg auf die Schrankenregelungen der Berichterstattung über Tagesereignisse oder des Zitatrechts berufen, weil nach den Feststellungen des Berufungsgerichts deren Voraussetzungen nicht erfüllt sind.[18] a) Nach Art. 5 Abs. 3 Buchst. c Fall 2 der Richtlinie 2001/29/EG können die Mitgliedstaaten für die Nutzung von Werken in Verbindung mit der Berichterstattung über Tagesereignisse in Bezug auf das in Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/29/EG vorgesehene Vervielfältigungsrecht und das in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29/EG vorgesehene Recht der öffentlichen Wiedergabe einschließlich der öffentlichen Zugänglichmachung Ausnahmen und Beschränkungen vorsehen, soweit es der Informationszweck rechtfertigt und sofern – außer in Fällen, in denen sich dies als unmöglich erweist – die Quelle, einschließlich des Namens des Urhebers, angegeben wird.[19] Der deutsche Gesetzgeber hat diese Bestimmung mit § 50 und § 63 Abs. 1 und 2 Satz 1 UrhG ins nationale Recht umgesetzt. Nach § 50 UrhG ist zur Berichterstattung über Tagesereignisse durch Funk oder durch ähnliche technische Mittel, in Zeitungen, Zeitschriften und in anderen Druckschriften oder sonstigen Datenträgern, die im Wesentlichen Tagesinteressen Rechnung tragen, sowie im Film, die Vervielfältigung und öffentliche Wiedergabe von Werken, die im Verlauf dieser Ereignisse wahrnehmbar werden, in einem durch den Zweck gebotenen Umfang zulässig. Für den Fall, dass ein Werk oder ein Teil eines Werkes nach § 50 UrhG vervielfältigt oder öffentlich wiedergegeben wird, besteht nach Maßgabe von § 63 Abs. 1 und 2 Satz 1 UrhG die Verpflichtung zur Angabe der Quelle.[20] Die Beklagte hat die UdP dadurch, dass sie diese im Internet eingestellt hat, nicht im Sinne von Art. 5 Abs. 3 Buchst. c Fall 2 der Richtlinie 2001/29/EG in Verbindung mit einer Berichterstattung über Tagesereignisse vervielfältigt und öffentlich wiedergegeben. Die Vervielfältigung und öffentliche Wiedergabe der UdP durch die Beklagte steht jedenfalls nicht in Verbindung mit einer Berichterstattung. Es kann danach offenbleiben, ob im Streitfall ein Tagesereignis betroffen ist.[21] Die Beklagte hat sich nach den Feststellungen des Berufungsgerichts darauf beschränkt, die militärischen Lageberichte in systematisierter Form im Internet einzustellen und zum Abruf bereitzuhalten. Darin liegt keine Berichterstattung. Die Beklagte hat damit weder selbst über die militärische Lage berichtet noch hat sie die Schilderung der militärischen Lage durch die Verfasser der Berichte analysiert oder kommentiert und damit ihrerseits zum Gegenstand der Berichterstattung gemacht. Sie hat sich in Verbindung mit der Vervielfältigung und der öffentlichen Zugänglichmachung der UdP auch nicht etwa in der Weise mit den Diskrepanzen zwischen den UdP und den UdÖ auseinandergesetzt, dass sie einzelnen Abschnitten der UdP die entsprechenden Abschnitte der UdÖ gegenübergestellt hat. Die Revision macht ohne Erfolg geltend, zentrales Anliegen der Beklagten sei es gewesen, die UdP dadurch, dass sie diese im Volltext ins Internet stellt und mit der Einladung zur Partizipation verbindet, in ein Netzwerk journalistischer Berichterstattung einzubinden. Eine eigene Berichterstattung der Beklagten wird damit auch von der Revision nicht behauptet.[22] b) Nach Art. 5 Abs. 3 Buchst. d der Richtlinie 2001/29/EG können die Mitgliedstaaten für Zitate zu Zwecken wie Kritik oder Rezensionen in Bezug auf das in Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/29/EG vorgesehene Vervielfältigungsrecht und das in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29/EG vorgesehene Recht der öffentlichen Wiedergabe einschließlich der öffentlichen Zugänglichmachung Ausnahmen und Beschränkungen vorsehen, sofern sie ein Werk betreffen, das der Öffentlichkeit bereits rechtmäßig zugänglich gemacht wurde, sofern – außer in Fällen, in denen sich dies als unmöglich erweist – die Quelle, einschließlich des Namens des Urhebers, angegeben wird und sofern die Nutzung den anständigen Gepflogenheiten entspricht und in ihrem Umfang durch den besonderen Zweck gerechtfertigt ist.[23] Der deutsche Gesetzgeber hat diese Bestimmung mit § 51 und § 63 Abs. 1 und 2 UrhG ins nationale Recht umgesetzt. Nach § 51 Satz 1 UrhG ist die Vervielfältigung eines veröffentlichten Werks zum Zwecke des Zitats zulässig, sofern die Nutzung in ihrem Umfang durch den besonderen Zweck gerechtfertigt ist. Für den Fall, dass ein Werk oder ein Teil eines Werkes nach § 51 UrhG vervielfältigt oder öffentlich wiedergegeben wird, besteht nach Maßgabe von § 63 Abs. 1 und 2 UrhG die Verpflichtung zur Angabe der Quelle.[24] Die Beklagte kann sich nicht mit Erfolg auf die Schrankenregelung des Art. 5 Abs. 3 Buchst. d der Richtlinie 2001/29/EG berufen. Sie hat die UdP weder für Zitatzwecke vervielfältigt oder öffentlich wiedergegeben noch waren die UdP zum Zeitpunkt ihrer Vervielfältigung und öffentlichen Wiedergabe durch die Beklagte der Öffentlichkeit bereits rechtmäßig zugänglich gemacht worden.[25] aa) Die Beklagte hat die UdP nach den Feststellungen des Berufungsgerichts nicht zum Zwecke des Zitats vervielfältigt und öffentlich wiedergegeben.[26] (1) Die Zitatfreiheit soll die geistige Auseinandersetzung mit fremden Werken erleichtern. Die Verfolgung eines Zitatzwecks erfordert daher, dass der Zitierende eine innere Verbindung zwischen dem fremden Werk und eigenen Gedanken herstellt und das Zitat als Belegstelle oder Erörterungsgrundlage für selbstständige Ausführungen des Zitierenden erscheint. Es genügt nicht, wenn die Verwendung des fremden Werkes allein zum Ziel hat, dieses Dritten – etwa zu Informationszwecken – leichter zugänglich zu machen (zu § 51 UrhG vgl. BGH, Urteil vom 30. November 2011 – I ZR 212/10, GRUR 2012, 819 Rn. 12 und 28 = WRP 2012, 1418 – Blühende Landschaften; Urteil vom 17. Dezember 2015 – I ZR 69/14, GRUR 2016, 368 Rn. 25 = WRP 2016, 485 – Exklusivinterview, jeweils mwN).[27] (2) Die Beklagte hat sich nach den Feststellungen des Berufungsgerichts darauf beschränkt, die militärischen Lageberichte in systematisierter Form im Internet einzustellen und zum Abruf bereitzuhalten. Nach den vom Berufungsgericht in Bezug genommenen Feststellungen des Landgerichts gibt es keine eigenen Ausführungen der Beklagten, für die die auf dem Online-Portal eingestellten Berichte als Belegstelle oder Erörterungsgrundlage dienen könnten. Die Beklagte hat demnach keine innere Verbindung zwischen den fremden Schriftwerken und eigenen Gedanken hergestellt. Die Vervielfältigung und öffentliche Zugänglichmachung der UdP diente somit keinem Zitatzweck. Dafür genügt es nicht, dass die Beklagte mit dem Einstellen der Berichte im Internet – wie die Revision geltend macht – das Ziel verfolgt, der Öffentlichkeit bedeutsame Informationen zugänglich zu machen.[28] bb) Darüber hinaus waren die UdP zum Zeitpunkt ihrer Vervielfältigung und öffentlichen Wiedergabe durch die Beklagte der Öffentlichkeit nicht bereits rechtmäßig zugänglich gemacht worden.[29] (1) Ein Werk ist der Öffentlichkeit rechtmäßig zugänglich gemacht worden, wenn es ihr mit Zustimmung des Berechtigten zugänglich gemacht worden ist.[30] (2) Das Berufungsgericht hat zutreffend angenommen, dass die UdP nicht dadurch veröffentlicht – also der Öffentlichkeit mit Zustimmung des Berechtigten zugänglich gemacht (vgl. § 6 Abs. 1 UrhG) – worden sind, dass die Klägerin sie an ausgewählte Abgeordnete des Deutschen Bundestages, Referate im Bundesministerium der Verteidigung und in anderen Bundesministerien sowie an dem Bundesministerium der Verteidigung nachgeordnete Dienststellen übersandt hat. Die Klägerin hat die UdP damit lediglich einem abgegrenzten Personenkreis und nicht der Öffentlichkeit zugänglich gemacht (vgl. BGH, Urteil vom 19. März 2014 – I ZR 35/13, GRUR 2014, 974 Rn. 57 = WRP 2014, 1198 – Porträtkunst). Sie hat ferner durch die Einstufung der UdP als "Verschlusssache" im Sinne von § 4 Abs. 2 SÜG deutlich gemacht, dass die Berichte nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind (vgl. Hoeren/Herring, MMR 2011, 143, 144).[31] (3) Die UdP sind auch nicht dadurch veröffentlicht worden, dass die Klägerin der Öffentlichkeit – wie die Revision geltend macht – die mit den UdP nahezu identischen UdÖ zugänglich gemacht hat. Die Annahme des Berufungsgerichts, im Blick auf die zwischen den UdP und den UdÖ bestehenden Unterschiede könne in der Veröffentlichung der UdÖ keine Veröffentlichung der UdP gesehen werden, lässt keinen Rechtsfehler erkennen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob – wie die Revision geltend macht – die allein in den UdP und nicht in den UdÖ enthaltenen Textteile keinen Werkcharakter haben. Das Veröffentlichungsrecht umfasst das Recht des Urhebers zu bestimmen, wie sein Werk zu veröffentlichen ist (vgl. § 12 Abs. 1 UrhG). Daraus folgt, dass in der Veröffentlichung der gekürzten Fassung eines Schriftwerks auch dann keine Veröffentlichung der vollständigen Fassung des Schriftwerks liegt, wenn die allein in der vollständigen Fassung enthaltenen Textteile für sich genommen keinen Werkcharakter haben.[32] 3. Es stellt sich allerdings die Frage, ob eine widerrechtliche Verletzung des ausschließlichen Rechts der Klägerin zur Vervielfältigung und öffentlichen Zugänglichmachung der UdP ausscheidet, weil die der Klägerin nach Art. 2 Buchst. a und Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29/EG (§§ 16, 19a UrhG) zustehenden Befugnisse oder die – hier allein in Betracht kommenden – Schrankenregelungen der Art. 5 Abs. 3 Buchst. c Fall 2, Art. 5 Abs. 3 Buchst. d der Richtlinie 2001/29/EG (§§ 50, 51 UrhG) im Lichte der im Streitfall betroffenen Grundrechte und Interessen auszulegen und anzuwenden sind, und die von der Beklagten geltend gemachte Behinderung der Informationsfreiheit und der Pressefreiheit durch das Urheberrecht an den UdP schwerer wiegt als der Schutz von Verwertungsinteressen und Geheimhaltungsinteressen der Klägerin.[33] Die Revision macht insoweit geltend, die Schrankenregelungen der Berichterstattung über Tagesereignisses und insbesondere des Zitatrechts seien im Falle einer investigativen Veröffentlichung amtlicher Dokumente auf der Internetseite eines Presseorgans extensiv auszulegen oder analog anzuwenden, wenn diese Veröffentlichung – wie im Streitfall – dem Zweck diene, die Öffentlichkeit auf eine faktische Kriegsführung aufmerksam zu machen und zu einer Auseinandersetzung mit den Dokumenten aufzufordern. Jedenfalls bestehe in einem solchen Fall die Verpflichtung, über diese Schrankenregelungen hinaus eine Einzelfallabwägung der betroffenen Grundrechte vorzunehmen. Der ebenfalls ins Internet eingestellten und vom Berufungsgericht nicht berücksichtigten Einleitung der Beklagten sei zu entnehmen, dass sie die UdP im Rahmen eines investigativen Konzepts veröffentlicht habe. Die Veröffentlichung der UdP habe es der Öffentlichkeit ermöglichen sollen, die Unterschiede zwischen den UdÖ und den UdP zu erfassen und daraus eigene Schlussfolgerungen zu ziehen. Es sei ureigene Sache der Presse zu bestimmen, ob sie Texte im Wege einzelner Zitate veröffentliche oder der Öffentlichkeit das Material im Volltext zur Verfügung stelle und die Veröffentlichung mit einer Einleitung interaktiv gestalte.[34] a) Zunächst stellt sich die Frage, ob die hier in Rede stehenden Vorschriften des Unionsrechts zum Vervielfältigungsrecht (Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/29/EG) und zum Recht der öffentlichen Wiedergabe einschließlich der öffentlichen Zugänglichmachung (Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29/EG) des Urhebers und zu den Ausnahmen oder Beschränkungen dieser Rechte (Art. 5 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2001/29/EG) Umsetzungsspielräume im nationalen Recht lassen (Vorlagefrage 1).[35] aa) Diese Frage ist entscheidungserheblich, weil nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts innerstaatliche Rechtsvorschriften, die eine Richtlinie der Europäischen Union in deutsches Recht umsetzen, grundsätzlich nicht am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes, sondern allein am Unionsrecht und damit auch an den durch dieses gewährleisteten Grundrechten zu messen sind, soweit die Richtlinie den Mitgliedstaaten keinen Umsetzungsspielraum überlässt, sondern zwingende Vorgaben macht (BVerfG, Urteil vom 31. Mai 2016 – 1 BvR 1585/13, GRUR 2016, 690 Rn. 115 = WRP 2016, 822). Für die Auslegung und Anwendung der Vorschriften des Urheberrechtsgesetzes, die die hier in Rede stehenden Vorschriften der Richtlinie 2001/29/EG zum Vervielfältigungsrecht und zum Recht der öffentlichen Wiedergabe einschließlich der öffentlichen Zugänglichmachung des Urhebers und zu den Ausnahmen oder Beschränkungen dieser Rechte in deutsches Recht umsetzen, sind daher grundsätzlich allein die durch das Unionsrecht gewährleisteten Grundrechte und nicht die Grundrechte des Grundgesetzes maßgeblich, soweit die Richtlinie 2001/29/EG den Mitgliedstaaten für die Umsetzung dieser Vorschriften zwingende Vorgaben macht.[36] In diesem Fall kommt es für die Auslegung und Anwendung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften ferner nicht auf die Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) an. Die Gewährleistungen der EMRK, der im nationalen Recht der Rang von einfachem Bundesrecht zukommt, und die Rechtsprechung des EGMR dienen zwar auf der Ebene des nationalen Verfassungsrechts als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte des Grundgesetzes (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26. Februar 2008 – 1 BvR 1602/07, 1 BvR 1606/07 und 1 BvR 1626/07, BVerfGE 120, 180, 200 f., mwN). Richtlinien der Europäischen Union sind dagegen allein anhand der durch die EU-Grundrechtecharta garantierten Grundrechte auszulegen, da die EMRK, solange die Union ihr nicht beigetreten ist, kein Rechtsinstrument darstellt, das förmlich in die Unionsrechtsordnung übernommen wurde (vgl. EuGH, Urteil vom 26. Februar 2013 – C-617/10, NJW 2013, 1415 Rn. 44 – Åkerberg Fransson; Urteil vom 15. Februar 2016 – C-601/15, NVwZ 2016, 1789 Rn. 45 bis 48; Urteil vom 21. Dezember 2016 – C-203/15 und C-698/15, GRUR Int. 2017, 165 Rn. 127 bis 129; Urteil vom 5. April 2017 – C-217/15 und C-350/15, juris Rn. 15, jeweils mwN). Entgegen der Ansicht der Revision käme es danach für die Auslegung und Anwendung der hier in Rede stehenden Vorschriften des Urheberrechtsgesetzes, soweit diese zwingende Vorgaben der Richtlinie 2001/29/EG in deutsches Recht umsetzen, nicht auf die nach Art. 10 Abs. 1 Satz 1 EMRK gewährleistete Freiheit der Meinungsäußerung und das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 10. Januar 2013 in der Rechtssache "Ashby Donald u. a. /Frankreich" (36769/08, GRUR 2013, 859) an.[37] bb) Nach Ansicht des Senats hat die Richtlinie 2001/29/EG die in ihr geregelten Verwertungsrechte der Urheber vollständig harmonisiert (zum Verbreitungsrecht der Urheber vgl. BGH, Urteil vom 22. Januar 2009 – I ZR 247/03, GRUR 2009, 840 Rn. 19 f. = WRP 2009, 1127 – Le-Corbusier-Möbel II, mwN).[38] Den Mitgliedstaaten steht es nach Art. 5 Abs. 2 bis 4 der Richtlinie 2001/29/EG zwar frei, ob sie in den dort genannten Fällen Ausnahmen oder Beschränkungen in Bezug auf diese Verwertungsrechte vorsehen. Sie dürfen jedoch zum einen in keinem anderen Fall eine Ausnahme oder Beschränkung schaffen, da diese in der Richtlinie erschöpfend aufgeführt sind (vgl. Erwägungsgrund 32 Satz 1 der Richtlinie). Sie müssen zum anderen, wenn sie eine Ausnahme oder Beschränkung einführen, deren Voraussetzungen vollständig umsetzen, da eine inkohärente Umsetzung dem Harmonisierungsziel der Richtlinie zuwiderliefe (vgl. Erwägungsgrund 32 Satz 4 der Richtlinie; EuGH, Urteil vom 3. September 2014 – C-201/13, GRUR 2014, 972 Rn. 16 – Deckmyn und Vrijheidsfonds/Vandersteen u. a., mwN).[39] b) Sodann stellt sich die Frage, in welcher Weise bei der Bestimmung der Reichweite der in Art. 5 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2001/29/EG vorgesehenen Ausnahmen oder Beschränkungen des ausschließlichen Rechts des Urhebers zur Vervielfältigung (Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/29/EG) und zur öffentlichen Wiedergabe einschließlich der öffentlichen Zugänglichmachung (Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29/EG) seines Werkes die Grundrechte der EU-Grundrechtecharta zu berücksichtigen sind (Vorlagefrage 2). Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob die Grundrechte der Informationsfreiheit (Art. 11 Abs. 1 Satz 2 EU-Grundrechtecharta) oder der Pressefreiheit (Art. 11 Abs. 2 EU-Grundrechtecharta) Ausnahmen oder Beschränkungen des ausschließlichen Rechts des Urhebers zur Vervielfältigung (Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/29/EG) und zur öffentlichen Wiedergabe einschließlich der öffentlichen Zugänglichmachung (Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29/EG) seines Werkes außerhalb der in Art. 5 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2001/29/EG vorgesehenen Ausnahmen oder Beschränkungen rechtfertigen können (Vorlagefrage 3). Nach Ansicht des Senats sollten insoweit folgende Grundsätze gelten:[40] Bei der Auslegung und Anwendung der hier in Rede stehenden Bestimmungen der Richtlinie 2001/29/EG und des ihrer Umsetzung dienenden nationalen Rechts sind nach Art. 51 Abs. 1 Satz 1 EU-Grundrechtecharta die dort aufgeführten Grundrechte zu beachten.[41] Dabei ist zu berücksichtigen, dass die den Urhebern von der Richtlinie 2001/29/EG eingeräumten Ausschließlichkeitsrechte und die in Bezug auf diese Rechte vorgesehenen Ausnahmen oder Beschränkungen bereits das Ergebnis einer vom Richtliniengeber vorgenommenen Abwägung zwischen dem Interesse der Urheber an einer möglichst umfassenden und uneingeschränkten Ausschließlichkeitsbefugnis und den Interessen der Allgemeinheit an einer möglichst umfassenden und uneingeschränkten Nutzung der urheberrechtlich geschützten Werke sind (zum deutschen Urheberrecht vgl. BGH, Urteil vom 24. Januar 2002 – I ZR 102/99, BGHZ 150, 5, 8 f. – Verhüllter Reichstag; Urteil vom 20. März 2003 – I ZR 117/00, BGHZ 154, 260, 264 f. – Gies-Adler).[42] Daher haben die Gerichte bei der Auslegung und Anwendung der Verwertungsbefugnisse der Urheber und der Schrankenbestimmungen die in der Richtlinie zum Ausdruck kommende Interessenabwägung in einer Weise nachzuvollziehen, die den durch Art. 17 Abs. 2 EU-Grundrechtecharta verbrieften Schutz des geistigen Eigentums des Urhebers ebenso wie etwaige damit konkurrierende Grundrechtspositionen der Nutzer beachtet und im Wege einer Abwägung in ein angemessenes Gleichgewicht bringt (zum deutschen Urheberrecht vgl. BGHZ 154, 260, 265 – Gies-Adler; BVerfG, Beschluss vom 19. Juli 2011 – 1 BvR 1916/09, BVerfGE 129, 78, 101 f., mwN; BVerfG, GRUR 2016, 690 Rn. 122; vgl. auch EuGH, Urteil vom 29. Januar 2008 – C-275/06, Slg. 2008, I-271 = GRUR 2008, 241 Rn. 68 – Promusicae; Urteil vom 27. März 2014 – C-314/12, GRUR 2014, 468 Rn. 46 = WRP 2014, 540 – UPC Telekabel).[43] Dabei kann beispielsweise ein gesteigertes öffentliches Interesse an der öffentlichen Zugänglichmachung eines geschützten Werkes unter Umständen schon bei der Auslegung der dem Urheber zustehenden Befugnisse, in jedem Fall aber bei der Auslegung der Schrankenbestimmungen berücksichtigt werden und im Einzelfall dazu führen, dass eine enge, am Gesetzeswortlaut orientierte Auslegung einer großzügigeren, dem Informationsinteresse der Allgemeinheit genügenden Interpretation weichen muss (vgl. BGHZ 150, 5, 8 – Verhüllter Reichstag; BGHZ 154, 260, 265 – Gies-Adler).[44] Dagegen kommt eine außerhalb der urheberrechtlichen Verwertungsbefugnisse und Schrankenbestimmungen angesiedelte allgemeine Interessenabwägung aus Sicht des Senats nicht in Betracht. Angesichts der ausdrücklichen Regelung der Richtlinie würde eine von der Auslegung und Anwendung der urheberrechtlichen Vorschriften losgelöste Grundrechtsabwägung durch die Gerichte in das vom Richtliniengeber im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit bereits allgemein geregelte Verhältnis von Urheberrecht und Schrankenregelung übergreifen (zum deutschen Urheberrecht vgl. BGHZ 154, 260, 266 f. – Gies-Adler; BVerfG, Kammerbeschluss vom 17. November 2011 – 1 BvR 1145/11, GRUR 2012, 389 Rn. 14 mwN).[45] c) Im Streitfall wären nach diesen Maßstäben bei der Auslegung und Anwendung der Verwertungsrechte und der Schrankenregelungen das der Klägerin von den Urhebern eingeräumte ausschließliche Recht der Vervielfältigung und der öffentlichen Zugänglichmachung der UdP und das Interesse der Klägerin an einer Geheimhaltung der für die Sicherheit der Bundeswehr bedeutsamen Informationen auf der einen Seite und die durch Art. 11 Abs. 1 und 2 EU- Grundrechtecharta gewährleisteten Grundrechte der Informationsfreiheit (hier in Form der Freiheit, Informationen ohne behördliche Eingriffe weiterzugeben) und der Medienfreiheit (hier in Gestalt der Pressefreiheit) auf der anderen Seite gegeneinander abzuwägen und in ein angemessenes Gleichgewicht zu bringen.[46] Dabei kommt den von der Beklagten geltend gemachten Grundrechten der Informationsfreiheit und der Pressefreiheit ein besonders hoher Rang zu, da die umfassende und wahrheitsgemäße Information der Bürger durch die Presse eine Grundvoraussetzung des Prozesses demokratischer Meinungs- und Willensbildung ist; diese Grundrechte gewinnen bei einem Konflikt mit anderen Rechtsgütern zudem besonderes Gewicht, wenn sie Angelegenheiten betreffen, die die Öffentlichkeit wesentlich berühren (zu Art. 5 Abs. 1 GG: BVerfG, Beschluss vom 3. Dezember 1985 – 1 BvR 15/84, BVerfGE 71, 206, 220 mwN).[47] Das von der Klägerin beanspruchte ausschließliche Recht zur Veröffentlichung, Vervielfältigung und öffentlichen Zugänglichmachung der UdP muss nicht deshalb von vornherein hinter dem von der Beklagten geltend gemachten öffentlichen Interesse an der Wiedergabe der Dokumente zurücktreten, weil amtliche Dokumente keinen oder nur einen eingeschränkten Urheberrechtsschutz genießen (aA Hoeren/Herring, MMR 2011, 500, 503). Der Umstand, dass es sich bei den UdP um amtlichen Zwecken dienende Berichte handelt, die von Staatsbediensteten in Erfüllung ihrer Dienstpflichten geschaffen wurden, berührt weder die Urheberrechtsfähigkeit der Berichte noch das Bestehen von Verwertungsrechten auf Seiten der Verfasser oder des Dienstherrn (vgl. Ramsauer, AnwBl 2013, 410, 413).[48] Bei amtlichen Werken ist die Kollisionslage mit der Informationsfreiheit und der Pressefreiheit allerdings nicht dadurch geprägt, dass das Interesse der staatlichen Stellen darauf gerichtet ist, dem Urheber einen gerechten Lohn für seine Schöpfung zu sichern. Die UdP werden von Staatsbediensteten in Erfüllung ihrer Dienstpflichten erstellt. Die Verfasser der Berichte werden nicht über eine wirtschaftliche Verwertung der Berichte, sondern über ihre Dienstbezüge entlohnt. Auch im Streitfall dient die Geltendmachung der Urheberrechte durch die Klägerin nicht der Wahrung wirtschaftlicher Interessen, sondern der Geheimhaltung bestimmter Berichtsinhalte. Das steht jedoch der Gewährung von Urheberrechtsschutz nicht entgegen (aA Hoeren/Herring, MMR 2011, 500, 503; Nieland, K & R 2013, 285, 288). Das Urheberrechtsgesetz schützt mit dem Veröffentlichungsrecht (§ 12 UrhG) auch das Interesse des Urhebers an einer Geheimhaltung des Inhalts seines Werkes (vgl. KG Berlin, GRUR-RR 2008, 188, 190; Schack, Urheber- und Urhebervertragsrecht, 7. Aufl., Rn. 364; aA Nieland, K & R 2013, 285, 288).[49] Es kann nach Ansicht des Senats zum jetzigen Zeitpunkt offenbleiben, ob unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des vorliegenden Falles dem Geheimhaltungsinteresse der Klägerin oder dem Veröffentlichungsinteresse der Beklagten größeres Gewicht beizumessen ist. Der Senat neigt zu der Annahme, dass das von der Beklagten behauptete, gesteigerte öffentliche Interesse an der Wiedergabe der – unterstellt – urheberrechtlich geschützten Schriftwerke nicht zu einer Auslegung der Schrankenregelungen der Berichterstattung über Tagesereignisse und des Zitatrechts führen kann, die nicht mehr vom Wortlaut dieser Regelungen gedeckt ist und dem klar erkennbaren Willen des Richtliniengebers widerspricht. Dies wäre nach Ansicht des Senats aber der Fall, wenn die Schrankenregelung des Art. 5 Abs. 3 Buchst. c Fall 2 (§ 50 UrhG) dahin ausgelegt würde, dass sie Werke erfasst, die – wie die UdP – nicht in Verbindung mit einer Berichterstattung vervielfältigt oder öffentlich wiedergegeben werden, oder die Schrankenregelung des Art. 5 Abs. 3 Buchst. d der Richtlinie 2001/29/EG (§ 51 UrhG) dahin ausgelegt würde, dass sie Werke erfasst, die – wie die UdP – nicht zu Zitatzwecken vervielfältigt und öffentlich wiedergegeben werden und zum Zeitpunkt der Vervielfältigung oder öffentlichen Wiedergabe der Öffentlichkeit nicht bereits rechtmäßig zugänglich gemacht worden sind.
bundesgerichtshof
bgh_101-2022
01.07.2022
Bundesgerichtshof zur materiellen Verfassungsmäßigkeit von § 16a NachbarG Bin (Grenzüberschreitende Wärmedämmung von Bestandsgebäuden) Ausgabejahr 2022 Erscheinungsdatum 01.07.2022 Nr. 101/2022 Urteil vom 1. Juli 2022 - V ZR 23/21 Der unter anderem für das Nachbarrecht zuständige V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat sich in seinem heute verkündeten Urteil mit der Frage befasst, ob die Regelung in § 16a Abs. 1 des Nachbargesetzes des Landes Berlin (NachbarG BIn), die eine grenzüberschreitende nachträgliche Wärmedämmung von Bestandsbauten erlaubt, mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Sachverhalt: Die Parteien sind Eigentümer benachbarter Grundstücke in Berlin. Das auf dem Grundstück der Beklagten stehende Gebäude ist ca. 7, 5 m niedriger als das Gebäude der Klägerin. Diese will Im Rahmen einer Fassadensanierung den seit 1906 nicht mehr sanierten grenzständigen Giebel ihres Gebäudes mit einer 16 cm starken mineralischen Dämmung versehen und in diesem Umfang über die Grenze zum Grundstück der Beklagten hinüberbauen. Bisheriger Prozessverlauf: Das Amtsgericht hat die Beklagte verurteilt, die Überbauung ihres Grundstücks zum Zwecke der Wärmedämmung der grenzständigen Giebelwand des klägerischen Gebäudes zu dulden. Das Landgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der von dem Landgericht zugelassenen Revision wollte die Beklagte die Abweisung der Klage erreichen. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs: Die Revision hatte keinen Erfolg. 1. Der Anspruch des Grundstückseigentümers aus § 16a NachbarG BIn auf Duldung einer grenzüberschreitenden Wärmedämmung hat einzig zur Voraussetzung, dass die Überbauung zum Zwecke der Dämmung eines bereits bestehenden, entlang der Grundstücksgrenze errichteten Gebäudes erfolgt. Diese Voraussetzung ist vorliegend gegeben. 2. Der Bundesgerichtshof hat im Ergebnis nicht beanstandet, dass das Berufungsgericht die Verfassungsmäßigkeit von § 16a NachbarG BIn bejaht und seine Entscheidung auf diese Norm gestützt hat. Der Senat hatte keinen Anlass, seinerseits das Verfahren auszusetzen und gemäß Art. 100 Abs. 1 GG eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen, weil er von der Verfassungswidrigkeit der Norm nicht überzeugt ist. a) Gegen die formelle Verfassungsmäßigkeit von § 16a NachbarG BIn bestehen keine Bedenken, insbesondere ist die Gesetzgebungskompetenz des Landes Berlin gegeben. Der Senat hat bereits in seinem zu § 23a Abs. "1 NachbarG NW ergangenen Urteil vom 12. November 2021 (V ZR 115/20) entschieden, dass Regelungen, die den Grundstückseigentümer zur Duldung einer nachträglichen grenzüberschreitenden Wärmedämmung des Nachbargebäudes verp?ichten, aufgrund des Vorbehalts in Art. 124 EGBGB von der Gesetzgebungskompetenz der Länder umfasst sind (siehe hierzu die Pressemitteilung Nr. 210/2021). b) Der Senat hat allerdings Zweifel an der materiellen Verfassungsmäßigkeit von § 16a NachbarG, namentlich an der Vereinbarkeit der Norm mit Art. 14 Abs. 1 GG. In den Regelungen anderer Bundesländer wird der Duldungsanspruch durchweg von weiteren Voraussetzungen abhängig gemacht, etwa davon, dass der Überbau die Benutzung oder beabsichtigte Benutzung des Grundstücks des Nachbarn nicht oder nur geringfügig beeinträchtigt oder dass eine vergleichbare Wärmedämmung auf andere Weise (etwa durch eine Innendämmung) mit vertretbarem Aufwand nicht vorgenommen werden kann. Der Berliner Gesetzgeber hat auf solche Regelungen bewusst verzichtet, um die Handhabung der Vorschrift möglichst einfach zu gestalten und nicht durch den möglichen Streit über weitere Voraussetzungen, insbesondere über unbestimmte Rechtsbegriffe, zu belasten. Im Hinblick auf diesen ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers und den eindeutigen Wortlaut von § 16a NachbarG BIn können Voraussetzungen und Einschränkungen des Duldungsanspruchs, wie sie die Nachbarrechtsgesetze anderer Bundesländer enthalten (vgl. "etwa 5 23a Abs. 1 NachbarG NW), der Norm auch nicht unter Rückgriff auf "allgemeine 'Rechtsgrundsätze" oder im Wege der verfassungskonformen Auslegung entnommen werden. c) Eine Vorlage von § 16a NachbarG Bln kam gleichwohl nicht in Betracht. Denn die Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur zulässig, wenn das Fachgericht an der Verfassungsmäßigkeit eines entscheidungserheblichen Gesetzes nicht nur zweifelt, sondern - vorbehaltlich einer verfassungskonformen Auslegung - von der Verfassungswidrigkeit überzeugt ist. Dies ist nicht der Fall. § 16a NachbarG BIn zielt auf Energieeinsparungen bei bestehenden Wohngebäuden ab und der Senat hat keine Zweifel, dass die Regelung zur Erreichung dieses Ziels geeignet und erforderlich ist. Fraglich erscheint allerdings, ob die Norm im engeren Sinne verhältnismäßig ist, namentlich ob sie die Interessen des duldungspflichtigen Nachbarn noch in einer Weise berücksichtigt, dass der gesetzgeberische Gestaltungsspielraum eingehalten ist. Da § 16a NachbarG BIn keine Einschränkungen des Duldungsanspruchs im Hinblick auf den Umfang der Beeinträchtigung des Nachbarn und die Zumutbarkeit der Überbauung für diesen vorsieht, ist dem Tatrichter eine Einzelfallbetrachtung selbst besonders gelagerten Ausnahmefällen verwehrt. So wäre der Duldungsanspruch etwa auch dann gegeben, wenn die grenzüberschreitende Dämmung dazu führt, dass der Platz auf dem Nachbargrundstück- nicht mehr ausreicht, um Mülltonnen oder Fahrräder abzustellen oder über einen Weg zwischen den Häusern zur Straße zu bringen. Allerdings werden die Interessen des von der Überbauung betroffenen Nachbarn in § 16a NachbarG BIn zumindest in einem gewissen Umfang berücksichtigt. So ist der duldungsverpflichtete Nachbar berechtigt, die Beseitigung des Überbaus zu verlangen, wenn und soweit er selbst zulässigerweise an die Grenzwand anbauen Will, auch wird dem Begünstigten des Wärmeschutzüberbaus auferlegt, die Wärmedämmung in einem ordnungsgemäßen und funktionsgerechten Zustand zu erhalten und die wärmegedämmte Grenzwand zu. unterhalten und schließlich ist das Recht so zügig und schonend wie möglich auszuüben und darf nicht zur Unzeit geltend gemacht werden. Zudem ist der duldungspflichtige Nachbar für die Beeinträchtigung der Benutzung seines Grundstücks durch eine Geldrente zu entschädigen. In der Gesamtschau erscheint es dem Senat durchaus möglich, dass § 16a NachbarG BIn noch als verhältnismäßig anzusehen ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Regelung aus Sicht des Gesetzgebers nicht allein das Verhältnis zweier Grundstückseigentümer untereinander betrifft, deren Individualinteressen zum Ausgleich zu bringen sind, sondern vor allem dem Klimaschutz und damit einem anerkannten Gemeinwohlbelang dient, dem über das aus Art. 20a GG abgeleitete Klimaschutzgebot Verfassungsrang zukommt (vgl. hierzu BVerfGE 157, 30). Das wirtschaftliche Interesse des Grundstückseigentümers an der Einsparung von Energie durch eine grenzüberschreitende Dämmung seines Bestandsgebäudes wird nicht als solches, sondern deswegen höher gewichtet als das entgegenstehende Interesse des Nachbarn an der vollständigen Nutzung seines Grundstücks‚ weil es sich mit dem - Interesse der Allgemeinheit an der möglichst raschen Dämmung von Bestandsgebäuden deckt. Zwar erscheint dem Senat bedenklich, dass individuelle Interessen des Nachbarn selbst dann keine Berücksichtigung finden, wenn im Einzelfall die Annahme einer Unzumutbarkeit der Duldungsverpflichtung naheläge. Es ist aber nicht zu verkennen, dass der Streit zwischen den Nachbarn über die Frage, ob ein solcher Ausnahmefall vorliegt, bei jeder einzelnen Maßnahme zu einer unter Umständen Jahre währenden Verzögerung oder sogar dazu führen kann, dass der Grundstückseigentümer von der Dämmung seines Gebäudes ganz absieht. Der Senat hält es daher für nicht ausgeschlossen, dass der generalisierende Ansatz des Berliner Landesgesetzgebers, den Duldungsanspruch klar und einfach zu regeln, um auf das Ganze gesehen die Durchführung möglichst vieler und rascher Dämmmaßnahmen zu erreichen, noch zulässig ist, auch wenn damit für den jeweiligen Nachbarn im Einzelfall gewisse - unter Umständen auch erhebliche - Härten verbunden sein mögen. Vorinstanzen: AG Pankow/Weißensee - Urteil vom 24. Januar 2018 - 7 C245/17 LG Berlin 1 - Urteil vom 28. Januar 2021 - 65 S 52/18 Die maßgeblichen Vorschriften lauten: § 16a NachbarG BIn Wärmeschutzüberbau der Grenzwand (1) Der Eigentümer eines Grundstücks hat die Überbauung seines Grundstücks für Zwecke der Wärmedämmung zu dulden, wenn das zu dämmende Gebäude auf dem Nachbargrundstück bereits besteht. (2) Im Falle des Wärmeschutzüberbaus ist der duldungsverpflichtete Nachbar berechtigt,-die Beseitigun9de's Überbaus zu verlangen, wenn und soweit er selbst zulässigerweise an die Grenzwand anbauen will. (3) Der Begünstigte des Wärmeschutzüberbaus muss die Wärmedämmung in einem ordnungsgemäßen und funktionsgerechten Zustand erhalten. Er ist zur baulichen Unterhaltung der wärmegedämmten Grenzwand verpflichtet. (4) § 17 Absatz3 gilt entsprechend. (5) § 912 Absatz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches gilt entsprechend. § 912 BGB Überbau; Duldungspflicht (1) Hat der Eigentümer eines Grundstücks bei der Errichtung eines Gebäudes über die Grenze gebaut, ohne dass ihm Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit zur Last fällt, so hat der Nachbar den Überbau zu dulden, es sei denn, dass er vor oder sofort nach der Grenzüberschreitung Widerspruch erhoben hat. (2) Der Nachbar ist durch eine Geldrente zu entschädigen. Für die Höhe der Rente ist die Zeit der Grenzüberschreitung maßgebend. Art. 124 EGBGB Nachbarschaftsrecht Unberührt bleiben die landesgesetzlichen Vorschriften. welche das Eigentum an Grundstücken zugunsten der Nachbarn "noch anderen als den im Bürgerlichen Gesetzbuch bestimmten Beschränkungen unterwerfen. Dies gilt insbesondere auch von den Vorschriften, nach welchen Anlagen sowie Bäume und Sträucher nur in einem bestimmten Abstand von der Grenze gehalten werden dürfen. Karlsruhe, den 1. Juli 2022 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Urteil des V. Zivilsenats vom 1.7.2022 - V ZR 23/21 -
1. Der gegen den Nachbarn gerichtete Anspruch des Grundstückseigentümers aus § 16a NachbarG Bln auf Duldung einer grenzüberschreitenden Wärmedämmung hat einzig zur Voraussetzung, dass die Überbauung zum Zwecke der Dämmung eines bereits bestehenden, an der Grundstücksgrenze errichteten Gebäudes erfolgt. Einschränkungen des Duldungsanspruchs, wie sie die Nachbarrechtsgesetze anderer Bundesländer enthalten, können der Regelung nicht unter Rückgriff auf "allgemeine Rechtsgrundsätze" oder im Wege der verfassungskonformen Auslegung entnommen werden.2. Zur materiellen Verfassungsmäßigkeit von § 16a NachbarG Bln. Tenor Die Revision gegen das Urteil des Landgerichts Berlin - Zivilkammer 65 - vom 28. Januar 2021 wird auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen.Von Rechts wegen Tatbestand Die Parteien sind Eigentümer benachbarter Grundstücke in Berlin. Das auf dem Grundstück der Beklagten stehende Gebäude ist ca. 7,5 m niedriger als das direkt angrenzende Gebäude der Klägerin, dessen Giebelwand seit 1906 nicht mehr saniert wurde. Die Klägerin beabsichtigt, im Rahmen einer Fassadensanierung den Giebel ihrer Grenzwand mit einer 16 cm starken mineralischen Dämmung zu versehen. Für die Dauer der Arbeiten will sie zu deren Durchführung ein sog. hängendes Gerüst über dem Dach des Gebäudes der Beklagten anbringen.Das Amtsgericht hat die Beklagte verurteilt, die Überbauung ihres Grundstücks zum Zwecke der Wärmedämmung der grenzständigen Giebelwand des klägerischen Gebäudes, die Anbringung eines hängenden Gerüsts für die Dauer von drei Monaten und das Betreten des Dachs des Gebäudes der Beklagten durch die Klägerin zur Durchführung der Sanierungs- und Wärmedämmungsarbeiten zu dulden. Das Landgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der von dem Landgericht zugelassenen Revision, deren Zurückweisung die Klägerin beantragt, will die Beklagte die Abweisung der Klage erreichen. Gründe I.Das Berufungsgericht, dessen Entscheidung u.a. in WuM 2021, 382 veröffentlicht ist, meint, die Beklagte sei nach § 16a NachbarG Bln verpflichtet, das Anbringen der Wärmedämmung an der grenzständigen Giebelwand des klägerischen Gebäudes zu dulden. Die Norm sei formell verfassungsgemäß, denn dem Land habe im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung die Gesetzgebungskompetenz zu ihrem Erlass zugestanden. Die Regelung sei auch materiell verfassungsgemäß. Sie begünstige nicht einseitig die Interessen des dämmenden Eigentümers, sondern sei vor dem Hintergrund der allgemein anerkannten Notwendigkeit der Steigerung der Energieeffizienz und der Senkung des Energiebedarfs zu sehen. Der Landesgesetzgeber habe bewusst auf unbestimmte Rechtsbegriffe verzichtet. Zwar sehe die Vorschrift keine Einschränkungen der Duldungspflicht vor; diese folgten aber aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen. So müsse der dämmende Eigentümer den Grundsatz von Treu und Glauben berücksichtigen und die Eigentumsrechte des Nachbarn wahren. Dessen Duldungspflicht entfalle deshalb, wenn eine Innendämmung eine adäquate Alternative darstelle. Ausdrücklich geregelt sei zudem das Recht des Nachbarn, die Beseitigung des Überbaus zu verlangen, wenn und soweit er selbst zulässigerweise an die Grenzwand anbauen wolle. Auch werde dem dämmenden Eigentümer die Unterhaltungspflicht für den Wärmeschutzüberbau auferlegt. Die Verweisung auf § 17 Abs. 3 NachbarG Bln stelle die zügige und schonende Ausübung des Überbaurechts sicher, die Verweisung auf § 912 Abs. 2 BGB die Entschädigungspflicht. Die materiellen Voraussetzungen von § 16a NachbarG Bln lägen hier vor. Bei der Wand handele es sich um eine Grenzwand, und das Gebäude stehe bereits seit mehr als 100 Jahren. Eine Innendämmung stelle nach dem Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahme keine adäquate Alternative zum Anbringen einer Außendämmung dar. Der Anspruch auf Duldung des hängenden Gerüsts für die Dauer der Arbeiten und des Betretens des Dachs zu deren Durchführung folge aus § 17 Abs. 1 und 2 NachbarG Bln.II.Diese Erwägungen halten rechtlicher Nachprüfung im Ergebnis stand.1. Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch aus § 16a NachbarG Bln auf Duldung der Überbauung ihres Grundstücks zum Zwecke der Wärmedämmung der grenzständigen Giebelwand des klägerischen Gebäudes.a) Nach § 16a Abs. 1 NachbarG Bln in der Fassung vom 17. Dezember 2009 (Wärmeschutzüberbau der Grenzwand) hat der Eigentümer eines Grundstücks die Überbauung seines Grundstücks für Zwecke der Wärmedämmung zu dulden, wenn das zu dämmende Gebäude auf dem Nachbargrundstück bereits besteht.b) Das Berufungsgericht geht im Ergebnis zutreffend davon aus, dass die Tatbestandsvoraussetzungen dieser Norm vorliegen. Die Klägerin beabsichtigt, ein bereits bestehendes, an der Grundstücksgrenze errichtetes Gebäude (vgl. zu dem Begriff der "Grenzwand" Senat, Urteil vom 12. November 2021 - V ZR 25/21, ZfIR 2022, 229 Rn. 16) zu dämmen und für die Zwecke der Wärmedämmung auf das Grundstück der Beklagten zu überbauen. Weitere Voraussetzungen hat der Duldungsanspruch nach dem Wortlaut von § 16a Abs. 1 NachbarG Bln nicht.2. Es ist im Ergebnis rechtlich nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht die Verfassungsmäßigkeit von § 16a NachbarG Bln bejaht und seine Entscheidung auf diese Norm gestützt hat. Eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 100 Abs. 1 GG, die nunmehr durch den Senat erfolgen müsste, ist nicht veranlasst.a) Gegen die formelle Verfassungsmäßigkeit von § 16a NachbarG Bln bestehen keine Bedenken, insbesondere ist die Gesetzgebungskompetenz des Landes Berlin gegeben. Wie der Senat inzwischen in einem zu § 23a NachbarG NW ergangenen Urteil entschieden hat, sind Regelungen, die den Grundstückseigentümer zur Duldung einer nachträglichen grenzüberschreitenden Wärmedämmung des Nachbargebäudes verpflichten, aufgrund des Vorbehalts in Art. 124 EGBGB von der Gesetzgebungskompetenz der Länder umfasst. Auf die dortige Begründung, die auf § 16a NachbarG Bln übertragbar ist, wird verwiesen (Senat, Urteil vom 12. November 2021 - V ZR 115/20, NZM 2022, 149 Rn. 18 ff.).b) Der Senat hat allerdings Zweifel an der materiellen Verfassungsmäßigkeit von § 16a NachbarG, namentlich an der Vereinbarkeit der Norm mit Art. 14 Abs. 1 GG.aa) Bei dem Recht auf Eigentum aus Art. 14 Abs. 1 GG handelt es sich um ein normgeprägtes Grundrecht. Die konkrete Reichweite des Schutzes durch die Eigentumsgarantie ergibt sich erst aus der Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums, die nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG Sache des Gesetzgebers ist (vgl. BVerfGE 143, 246 Rn. 218 mwN). Dabei hat er sowohl der grundgesetzlichen Anerkennung des Privateigentums durch Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG als auch der Sozialpflichtigkeit des Eigentums (Art. 14 Abs. 2 GG) Rechnung zu tragen. Das Wohl der Allgemeinheit, an dem sich der Gesetzgeber hierbei zu orientieren hat, ist nicht nur Grund, sondern auch Grenze für die Beschränkung der Eigentümerbefugnisse. Der Gesetzgeber hat die schutzwürdigen Interessen des Eigentümers und die Belange des Gemeinwohls in einen gerechten Ausgleich und in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen und sich dabei im Einklang mit allen anderen Verfassungsnormen zu halten. Insbesondere muss jede Inhalts- und Schrankenbestimmung den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten (vgl. BVerfGE 143, 246 Rn. 268 mwN).Dies gilt auch für die gesetzliche Regelung von Rechtsverhältnissen zwischen zwei privaten Grundrechtsträgern. So hat das Bundesverfassungsgericht etwa zum Wohnraummietrecht entschieden, dass es Aufgabe des Gesetzgebers ist, die Befugnisse von Mieter und Vermieter zuzuordnen und abzugrenzen. Er muss die schutzwürdigen Interessen beider Seiten berücksichtigen und in ein ausgewogenes Verhältnis bringen und hat dabei mehrere Gesichtspunkte zu beachten. Er muss den Vorgaben Rechnung tragen, die sich einerseits aus der grundgesetzlichen Anerkennung des Privateigentums durch Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG und andererseits aus der verbindlichen Richtschnur des Art. 14 Abs. 2 GG ergeben, und berücksichtigen, dass sich Vermieter und Mieter gleichermaßen auf das Grundrecht aus Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG berufen können (BVerfG, NJW 2011, 1723 Rn. 29 mwN).bb) Dem Senat erscheint zweifelhaft, ob der Berliner Landesgesetzgeber diesen Anforderungen bei der Ausgestaltung von § 16a NachbarG Bln gerecht geworden ist, insbesondere ob er die grundrechtlich geschützten Interessen des von dem Überbau betroffenen Nachbarn ausreichend berücksichtigt hat. Denn die Norm sieht - anders als entsprechende Regelungen anderer Länder - keine Einschränkungen oder Ausnahmen von der Duldungspflicht vor (vgl. schon Senat, Urteil vom 2. Juni 2017 - V ZR 196/16, NZM 2017, 855 Rn. 8; siehe auch MüKoBGB/Brückner, 8. Aufl., § 912 Rn. 49: "dürfte unverhältnismäßig sein"). Der Anspruch des Grundstückseigentümers aus § 16a NachbarG BIn auf Duldung einer grenzüberschreitenden Wärmedämmung hat - wie bereits dargelegt - seinem Wortlaut nach einzig zur Voraussetzung, dass die Überbauung zum Zwecke der Dämmung eines bereits bestehenden, an der Grundstücksgrenze errichteten Gebäudes erfolgt.(1) Damit unterscheidet sich die durch den Gesetzgeber für Berlin getroffene Regelung von den durchweg ausführlicheren Regelungen anderer Bundesländer, die die Duldungspflicht teils an weitere Voraussetzungen knüpfen, teils in bestimmten Fällen einschränken.(a) So sehen die Regelungen in nahezu allen anderen Ländern vor, dass der Überbau die Benutzung oder (zulässige) beabsichtigte Benutzung des Grundstücks des Nachbarn nicht oder nur geringfügig beeinträchtigen darf (§ 7c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 NRG BW; Art. 46a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BayAGBGB; § 19a Abs. 1 Nr. 3 Satz 1 BbgNRG; § 74a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 HBO; § 10a Abs. 1 Nr. 3b NachbarG HE; § 21a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 NNachbG; § 23a Abs. 1 Satz 1 NachbarG NW; § 19a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3c NachbarG SL; § 15 Abs. 1 Nr. 3 NachbarG SH; § 14a Abs. 1 Nr. 3 ThürNRG). Dies wird teilweise dahingehend konkretisiert, dass die Überbauung in der Tiefe ein bestimmtes Maß nicht überschreiten darf, das zumeist 25 cm (§ 7c Abs. 1 Satz 2 NRG BW; § 19a Abs. 1 Nr. 3 Satz 2 BbgNRG; § 21a Abs. 1 Satz 1 NNachbG; § 23a Abs. 1 Satz 2 NachbarG NW; § 19a Abs. 1 Satz 2 NachbarG SL; § 15 Abs. 2 Satz 1 NachbarG SH; § 14a Abs. 1 Satz 2 ThürNRG), teils aber auch nur 20 cm beträgt (§ 74a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 HBO). Ergänzend wird teilweise bestimmt, dass der Nachbar die Überbauung nur zu dulden hat, wenn die Wärmedämmung über die Bauteileanforderungen in der Energieeinsparverordnung in der jeweils geltenden Fassung nicht hinausgeht (§ 10a NachbarG HE, § 23a Abs. 1 Satz 1 NachbarG NW und § 19a NachbarG SL).(b) In der Mehrzahl der anderen Länder ist der Überbau nur zu dulden, wenn eine vergleichbare Wärmedämmung auf andere Weise (als durch Außendämmung) mit vertretbarem Aufwand nicht vorgenommen werden kann (Art. 46a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BayAGBGB; § 19a Abs. 1 Nr. 2 BbgNRG; § 74a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 HBO; § 10a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 NachbarG HE; § 21a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 NNachbG; § 23a Abs. 1 Satz 1 NachbarG NW; § 19a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 NachbarG SL; § 15 Abs. 2 Satz 1 NachbarG SH; § 14a Abs. 1 Nr. 3 ThürNRG).(c) Die meisten landesrechtlichen Regelungen sehen vor, dass die für die Wärmedämmung verwendeten Bauteile nach öffentlich-rechtlichen Vorschriften zulässig oder zugelassen sein müssen (§ 7c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 NRG BW, Art. 24a Abs. 1 BremAGBGB; § 14a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ThürNRG und § 19a Abs. 1 Nr. 1 BbgNRG; § 74a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 HBO) bzw. öffentlich-rechtlichen Vorschriften nicht widersprechen dürfen (Art. 46a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BayAGBGB; § 21a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 NNachbG; § 15 Abs. 1 Nr. 2 NachbG SH).(2) Mit diesen Voraussetzungen soll nach den Vorstellungen der jeweiligen Landesgesetzgeber eine ausgewogene und verhältnismäßige Regelung erreicht werden. So heißt es etwa in der Begründung des Entwurfs zu § 10a NachbarG HE (LT-Drs. 18/855 S. 5 f.):"Mit der neuen Regelung ... wird erstmals eine Duldungspflicht des Grundstückseigentümers oder Nutzungsberechtigten von übergreifenden Bauteilen des Nachbargrundstücks, die der Wärmedämmung dienen, eingeführt. Dies bedeutet zwar einen Eingriff in das Eigentumsrecht des in Anspruch genommenen Nachbarn. Die Duldungspflicht ist aber ... an enge Voraussetzungen geknüpft. Es muss gewährleistet sein, dass das Grundstück des betroffenen Nachbarn nicht über Gebühr in Anspruch genommen wird. Einerseits darf der Bauherr nur eine solche Wärmedämmung anbringen, die dem energetischen Standard für die Änderung oder Erweiterung von Bestandsbauten entspricht. Weitergehende und aufwendigere Dämmmaßnahmen, die über den Mindeststandard der Energieeinsparverordnung in der jeweils geltenden Fassung hinausgehen und möglicherweise eine stärkere Beeinträchtigung des Nachbargrundstücks zur Folge hätten, hat der betroffene Nachbar, dessen in Art. 14 des Grundgesetzes geschütztes Eigentumsrecht berührt ist, nicht zu dulden. Andererseits soll der Nachbar den Bauherrn nur dann auf eine andere Art der Wärmedämmung verweisen können, wenn diese mit der vorgesehenen Ausführung vergleichbar ist und mit vertretbarem Aufwand vorgenommen werden kann. Dabei ist zu berücksichtigen, dass insbesondere die Anbringung einer Innendämmung je nach Gebäude und gerade bei Vorliegen von Wasser-, Abwasser- und sonstigen Versorgungsleitungen im Bereich der Außenwand nur mit einem ganz erheblichen Aufwand oder gar nicht möglich und auch bauphysikalisch wegen kaum zu beseitigender Wärmebrücken nicht in jedem Fall sinnvoll ist. Auch ist es in der Regel nicht sachgerecht, den Bauherren auf den Einsatz von extrem dünnen Hochleistungs-Dämmstoffen zu verweisen. Diese sind zum einen sehr teuer und damit nicht wirtschaftlich, zum anderen ... auch gegen Beschädigungen sehr empfindlich. Weiterhin darf die Nutzung des betroffenen Grundstücks nicht oder nur geringfügig beeinträchtigt werden. Eine nur geringfügige Beeinträchtigung wird in der Regel dann nicht mehr vorliegen, wenn der Nachbar seinerseits nach den öffentlich-rechtlichen Vorschriften bis zur gemeinsamen Grundstücksgrenze bauen darf. Eine Duldungspflicht kommt daher grundsätzlich nur bei der einseitigen Grenzwand in Betracht. Ob etwa bei versetzten Gebäuden (zum Beispiel bei versetzt gebauten Reihenhäusern) oder bei unterschiedlichen Gebäudehöhen eine andere Betrachtung geboten ist, muss der konkreten Abwägung der beiderseitigen Interessen und geschützten Rechtsgüter im Einzelfall vorbehalten bleiben. Ferner dürfen die übergreifenden Bauteile öffentlich-rechtlichen Vorschriften nicht widersprechen. Dies gilt nicht nur für das übergreifende Bauteil selbst, sondern auch für seine Befestigung bzw. Anbringung."Ähnliche Ausführungen finden sich in den Gesetzesbegründungen anderer Länder (vgl. etwa in Brandenburg, LT-Drs. 5/8050 S. 3 f.; in Niedersachsen, LT-Drs. 17/1259 S. 5; in Nordrhein-Westfalen, LT-Drs. 15/853 S. 8 f.; im Saarland, LT-Drs. 15/1214 S. 82; in Schleswig-Holstein, LT-Umdruck 19/6067 S. 5 f.; und in Thüringen, LT-Drs. 6/1173 S. 9 f.).(3) Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner die Überbauung im Luftraum gemäß § 7b NRG BW betreffenden Kammerentscheidung die materielle Verfassungsmäßigkeit dieser Norm im Hinblick auf die differenzierten Vorgaben zur Duldungspflicht des Nachbarn in dieser Vorschrift und vor allem auch zu deren inhaltlicher und zeitlicher Begrenzung (solange die Benutzung seines Grundstücks nicht oder nur unwesentlich beeinträchtigt wird) bejaht (BVerfG, ZfIR 2008, 108 Rn. 54). Ebenso hat der Senat die Regelung in § 23a NachbarG NW schon deshalb als verhältnismäßig angesehen, weil die Duldungspflicht hinsichtlich des Überbaus danach nur besteht, wenn eine vergleichbare Wärmedämmung auf andere Weise mit vertretbarem Aufwand nicht vorgenommen werden kann, die Überbauung die Benutzung des Grundstücks nicht oder nur unwesentlich beeinträchtigen darf und ein finanzieller Ausgleich nach Maßgabe von § 23a Abs. 5 NachbarG NW erfolgen muss (Senat, Urteil vom 12. November 2021 - V ZR 115/20, NZM 2022, 149 Rn. 29).(4) Der gegen den Nachbarn gerichtete Anspruch des Grundstückseigentümers aus § 16a NachbarG Bln auf Duldung einer grenzüberschreitenden Wärmedämmung hat einzig zur Voraussetzung, dass die Überbauung zum Zwecke der Dämmung eines bereits bestehenden, an der Grundstücksgrenze errichteten Gebäudes erfolgt. Einschränkungen des Duldungsanspruchs, wie sie die Nachbarrechtsgesetze anderer Bundesländer enthalten, können der Regelung nicht unter Rückgriff auf "allgemeine Rechtsgrundsätze" oder im Wege der verfassungskonformen Auslegung entnommen werden. Deshalb kam es hier nicht auf die Frage - zu der das Berufungsgericht Beweis erhoben hat - an, ob die Klägerin die Dämmung ihres Gebäudes auf andere, die Rechte der Beklagten nicht tangierende Weise, hätte erreichen können.(a) Die Grenzen verfassungskonformer Auslegung ergeben sich grundsätzlich aus dem ordnungsgemäßen Gebrauch der anerkannten Auslegungsmethoden. Eine Norm ist nur dann für verfassungswidrig zu erklären, wenn keine nach den anerkannten Auslegungsgrundsätzen zulässige und mit der Verfassung vereinbare Auslegung möglich ist. Lassen der Wortlaut, die Entstehungsgeschichte, der Gesamtzusammenhang der einschlägigen Regelung und deren Sinn und Zweck mehrere Deutungen zu, von denen eine zu einem verfassungsmäßigen Ergebnis führt, so ist diese geboten. Die Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung endet allerdings dort, wo sie mit dem Wortlaut und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch träte. Anderenfalls könnten die Gerichte der rechtspolitischen Entscheidung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers vorgreifen oder diese unterlaufen. Das Ergebnis einer verfassungskonformen Auslegung muss demnach nicht nur vom Wortlaut des Gesetzes gedeckt sein, sondern auch die prinzipielle Zielsetzung des Gesetzgebers wahren. Das gesetzgeberische Ziel darf nicht in einem wesentlichen Punkt verfehlt oder verfälscht werden (zum Ganzen BVerfGE 138, 64 Rn. 86). Diese Vorgaben gelten uneingeschränkt auch dann, wenn sich ein Fachgericht mit der Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung bei Prüfung der Voraussetzungen eines Normenkontrollverfahrens nach Art. 100 Abs. 1 GG auseinandersetzen muss (BVerfGE 138, 64 Rn. 87).(b) Nach diesen Maßstäben wäre eine verfassungskonforme Auslegung von § 16a NachbarG Bln nicht möglich. Denn die Regelung enthält nach ihrem eindeutigen Wortlaut keine der in den Gesetzen anderer Länder enthaltenen Voraussetzungen und Einschränkungen der Duldungspflicht des Nachbarn beim Überbau zu Zwecken der Wärmedämmung, und hierbei handelt es sich um eine bewusste Entscheidung des Berliner Landesgesetzgebers.Der ursprüngliche Entwurf (LT-Drs. 16/2594) sah in Anlehnung an § 19 BbgNRG einen Überbau nur im Luftraum über dem Nachbargrundstück vor und auch dies nur unter bestimmten Voraussetzungen:"§ 15aEinseitige GrenzwandDer Eigentümer eines Grundstücks hat Bauteile, die in den Luftraum seines Grundstücks übergreifen, zu dulden, wenn1. nach den öffentlich-rechtlichen Vorschriften auf dem Nachbargrundstück nur bis an die Grenze gebaut werden darf,2. die übergreifenden Bauteile öffentlich-rechtlich zulässig oder zugelassen worden sind,3. sie die Benutzung seines Grundstücks nicht oder nur unwesentlich beeinträchtigen und4. sie nicht zur Vergrößerung der Nutzfläche dienen."Der Berliner Senat gab zu diesem Entwurf eine Stellungnahme ab (abrufbar unter www.parlament-berlin.de/ados/16/BauWohn/vorgang/bw16-0157-v-st-senat.pdf), in der es u.a. heißt:"Die Bedingung, dass die Benutzung des anderen (duldungsverpflichteten) Grundstücks nicht oder nur unwesentlich durch den Überbau beeinträchtigt werden darf, führt vorhersehbar zu Streit über die Baumaßnahmen zur energetischen Sanierung von Altbauten. Der unbestimmte Rechtsbegriff würde erst durch konkretisierende Rechtsprechung die Konturen erhalten, die den Bauwilligen die anzustrebende Planungssicherheit verschaffen."In der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bauen und Wohnungen des Berliner Abgeordnetenhauses (Drs. 16/2817) erhielt der Entwurf von § 16a NachbarG Bln sodann die Fassung, die schließlich angenommen (PlenProt 16/51 S. 5302) und im Gesetz- und Verordnungsblatt veröffentlicht wurde (GVOBl. 2009 S. 870). Der Landesgesetzgeber hat folglich bewusst davon Abstand genommen, die Duldungspflicht von weiteren Voraussetzungen abhängig zu machen, namentlich davon, dass die Benutzung des Nachbargrundstücks durch den Überbau nicht oder nur unwesentlich beeinträchtigt wird. Damit scheidet eine (verfassungskonforme) Auslegung der Vorschrift dahingehend, dass die Duldungspflicht von weiteren als den im Gesetz genannten Voraussetzungen abhängig ist, aus. Denn eine solche Auslegung liefe dem erkennbaren gesetzgeberischen Ziel, die Handhabung der Vorschrift möglichst einfach zu gestalten und nicht durch den möglichen Streit über weitere Voraussetzungen, insbesondere über unbestimmte Rechtsbegriffe, zu belasten, zuwider.(c) Ebenso wenig können entsprechende Voraussetzungen und Einschränkungen der Duldungspflicht nach § 16a NachbG Bln aus den Regeln des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses abgeleitet werden (aA Postier, Das Nachbarrecht in Berlin, 2. Aufl., § 16a Anm. 2). Diese Regeln betreffen nämlich lediglich die einzelfallbezogene Anwendung von § 242 BGB, und sie erlauben es nicht, die nachbarrechtlichen Regelungen in ihr Gegenteil zu verkehren (st. Rspr., vgl. Senat, Urteil vom 12. November 2021 - V ZR 115/20, NZM 2022, 149 Rn. 21 mwN). Dementsprechend kann die gesetzlich geregelte Duldungspflicht des Nachbarn hinsichtlich des Überbaus zum Zwecke der Wärmedämmung nicht unter Anwendung der Regeln des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses - noch dazu entgegen dem ausdrücklich erklärten Willen des Landesgesetzgebers - generell von weiteren Voraussetzungen abhängig gemacht oder allgemein für bestimmte Konstellationen eingeschränkt oder ausgeschlossen werden.cc) Eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht kommt gleichwohl nicht in Betracht.(1) Die Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG setzt voraus, dass das Fachgericht an der Verfassungsmäßigkeit eines entscheidungserheblichen Gesetzes nicht nur zweifelt, sondern - vorbehaltlich einer verfassungskonformen Auslegung - von der Verfassungswidrigkeit überzeugt ist; hat das Gericht lediglich Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes, ist die Vorlage unzulässig (st. Rspr., vgl. etwa BVerfGE 138, 64 Rn. 82, 84 mwN; vgl. auch Senat, Urteil vom 12. November 2021 - V ZR 115/20, NZM 2022, 149 Rn. 6).(2) Nach diesem Maßstab wäre eine Vorlage von § 16a NachbarG Bln unzulässig. Denn der Senat ist ungeachtet der dargestellten Zweifel, ob der Landesgesetzgeber seinen von Art. 14 Abs. 1 GG eröffneten Gestaltungsspielraum eingehalten hat, von der Verfassungswidrigkeit der Norm nicht überzeugt.(a) Die Regelung in § 16a NachbarG Bln dient dem Ziel, die energetische Sanierung von bestehenden Gebäuden, insbesondere von Altbauten, zu erleichtern; die nachträgliche Wärmedämmung einer Grenzwand soll auch in dem Fall ermöglicht werden, dass sie einen Überbau auf das Nachbargrundstück mit sich bringt (Drs. 16/2594 S. 2). Die Regelung zielt folglich auf Energieeinsparungen bei bestehenden Wohngebäuden ab und dient dadurch mittelbar dem Klimaschutz (so ausdrücklich etwa die Gesetzesbegründungen in Niedersachsen, LT-Drs. 17/1259 S. 4 und Schleswig-Holstein, LT-Umdruck 19/6067 S. 4). Der Landesgesetzgeber verfolgt damit ein dem Wohl der Allgemeinheit dienendes Ziel, dem über das aus Art. 20a GG abgeleitete Klimaschutzgebot Verfassungsrang zukommt (vgl. hierzu BVerfGE 157, 30).(b) Der Senat hat keine Zweifel, dass die in § 16a NachbarG BIn getroffene Regelung zur Erreichung dieses Ziels geeignet und erforderlich ist. Jedenfalls durfte der Landesgesetzgeber nach Auffassung des Senats im Rahmen seines gesetzgeberischen Beurteilungsspielraums - unausgesprochen, aber erkennbar - davon ausgehen, dass mit der nachträglichen Dämmung von Bestandsgebäuden, insbesondere bei Altbauten, deren Energieverbrauch gesenkt werden kann und damit angesichts der derzeit in Deutschland noch vorherrschenden Beheizung von Wohngebäuden mit fossilen Energieträgern zugleich der für das Klima schädliche Ausstoß von Kohlendioxid. Auch die Annahme, dass die nachträgliche Dämmung von Bestandsgebäuden erleichtert wird, wenn bei Grenzwänden ein Anspruch gegen den Nachbarn auf Duldung des mit der Dämmung verbundenen Überbaus besteht, hält sich im Rahmen des gesetzgeberischen Beurteilungsspielraums.(aa) Entgegen der von der Revision in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat vertretenen Auffassung fehlt es § 16a NachbarG BIn nicht deshalb an der Erforderlichkeit, weil sich das Ziel der Senkung des Energieverbrauchs von Bestandsgebäuden in manchen Fällen gleichermaßen durch eine Innendämmung von Grenzwänden, und damit ohne Belastung des Nachbarn, erreichen ließe. Eine Innendämmung wird - wie die vorliegenden, auf durchgeführter Beweisaufnahme beruhenden Feststellungen des Berufungsgerichts zeigen - aufgrund ihrer bauphysikalischen Folgen (Gefahr der Erhöhung des Feuchtegehalts der Außenwand) nicht immer eine adäquate Alternative zu einer Außendämmung darstellen. Aber auch dort, wo die Innendämmung technisch adäquat ist, stellt sie kein gleich geeignetes Mittel zur Erreichung des Zieles einer raschen Dämmung von Bestandsgebäuden dar. Denn der Grundstückseigentümer kann, wenn die Wohnungen vermietet sind, die Innendämmung nur mit Zustimmung seiner Mieter durchführen, die er gegebenenfalls zunächst jeweils gerichtlich erstreiten muss. Ist das Gebäude in Wohnungseigentum aufgeteilt, stellt sich die Innendämmung als eine Maßnahme dar, die das Sondereigentum der einzelnen Wohnungseigentümer betrifft. Selbst wenn eine solche Maßnahme, was hier keiner Klärung bedarf, durch die Wohnungseigentümer beschlossen werden könnte, stünde den einzelnen Wohnungseigentümern der Rechtsweg gegen einen solchen Beschluss offen, was ebenfalls zu einer erheblichen Verzögerung führen kann. Der Gesetzgeber hält sich daher nach Auffassung des Senats im Rahmen des ihm zustehenden Beurteilungsspielraums, wenn er davon ausgeht, dass zu einer Außendämmung von Bestandsgebäuden keine gleich geeignete, vor allem keine gleich rasche und für den dämmenden Eigentümer gleich rechtssichere Alternative besteht.(bb) Ebenso wenig steht die Geeignetheit der Regelung deshalb in Frage, weil § 16a NachbarG Bln, anders als die Mehrzahl der in den anderen Bundesländern getroffenen Regelungen, keine Anforderungen an die technische Eignung und öffentlich-rechtliche Zulässigkeit der für die Dämmung verwendeten Materialien der Dämmung vorsieht. Zwar erscheint denkbar, dass ein Grundstückseigentümer, etwa wegen geringerer Anschaffungskosten, für die Dämmung nicht zugelassene Materialien verwendet, die im Ergebnis zu einer geringeren Energieeinsparung führen. Das allein lässt eine Regelung, die die Einhaltung öffentlich-rechtlicher Vorschriften zur Voraussetzung hat, aber nicht als besser geeignet erscheinen. Denn Eigentümer werden möglicherweise von der Dämmung ganz absehen, wenn sie damit rechnen müssen, mit dem Nachbarn über die verwendeten Materialien streiten zu müssen. Zudem wäre eine solche Regelung nicht grundrechtsschonender, denn es ist nicht ersichtlich, weshalb die Eigentumsinteressen des Nachbarn dadurch beeinträchtigt werden, dass der überbauende Eigentümer für die Dämmung Materialien verwendet, die hierfür nicht oder noch nicht zugelassen sind.(c) Fraglich kann daher nur sein, ob die getroffene Regelung im engeren Sinne verhältnismäßig ist, namentlich ob sie die Interessen des duldungspflichtigen Nachbarn noch in einer Weise berücksichtigt, dass der gesetzgeberische Gestaltungsspielraum eingehalten ist. Der Senat hält dies jedenfalls nicht für ausgeschlossen.(aa) Zwar erscheint bedenklich, dass § 16a NachbarG Bln keine Einschränkungen des Duldungsanspruchs im Hinblick auf den Umfang der Beeinträchtigung des Nachbarn und die Zumutbarkeit der Überbauung für diesen vorsieht und dem Tatrichter somit eine Einzelfallbetrachtung selbst in besonders gelagerten Ausnahmefällen verwehrt ist. So wäre der Duldungsanspruch etwa auch dann gegeben, wenn die grenzüberschreitende Dämmung bei engen baulichen Verhältnissen dazu führte, dass der Platz auf dem Nachbargrundstück nicht mehr ausreicht, um Mülltonnen oder Fahrräder abzustellen oder über einen Weg zwischen den Häusern zur Straße zu bringen.(bb) Die Interessen des von der Überbauung betroffenen Nachbarn werden aber nicht gänzlich ausgeblendet, sondern zumindest in einem gewissen Umfang berücksichtigt.(α) Nach § 16a Abs. 2 NachbarG Bln ist der duldungsverpflichtete Nachbar im Falle des Wärmeschutzüberbaus berechtigt, die Beseitigung des Überbaus zu verlangen, wenn und soweit er selbst zulässigerweise an die Grenzwand anbauen will. Durch diese Regelung wird in einem gewissen Umfang sichergestellt, dass der duldungspflichtige Nachbar in der Benutzung seines Grundstücks nicht über Gebühr beeinträchtigt wird. Die Bebauung seines Grundstücks bleibt ihm als intensivste Form der Grundstücksnutzung ungeachtet des Überbaus uneingeschränkt möglich. Dem Berufungsgericht ist auch in der Annahme beizutreten, dass diese Rückbauverpflichtung des überbauenden Eigentümers eine gewisse "selbstregulierende" Wirkung entfalten dürfte. Steht nämlich zum Zeitpunkt des Überbaus bereits fest bzw. hat der Nachbar bereits ankündigt, dass er in naher Zukunft selbst an die Grenzwand anbauen will, wird sich die Wärmedämmung aus Sicht des Eigentümers des Bestandsgebäudes in vielen Fällen nicht mehr als lohnend darstellen, weil sie ohnehin alsbald zurückzubauen wäre und damit zusätzlich zu den dann nicht amortisierten Kosten der Dämmung noch Kosten für den Rückbau anfielen.(β) Durch § 16a Abs. 3 NachbarG Bln wird dem Begünstigten des Wärmeschutzüberbaus auferlegt, die Wärmedämmung in einem ordnungsgemäßen und funktionsgerechten Zustand zu erhalten und die wärmegedämmte Grenzwand zu unterhalten. Allerdings folgt dies in dem Fall, dass die Wand - wie hier - allein auf dem Grundstück des dämmenden Eigentümers steht, schon daraus, dass dieser alleiniger Eigentümer der Wand und der überbauten Dämmung ist. Denn bei einem - hier nach § 16a Abs. 1 NachbarG Bln - rechtmäßigen oder sonst nach § 912 BGB zu duldenden Überbau gehört der überbaute Teil des Bauwerks nicht dem Eigentümer des überbauten Grundstücks, sondern entsprechend § 95 Abs. 1 Satz 2 BGB dem Eigentümer des Stammgrundstücks (vgl. Senat, Urteil vom 27. März 2015 - V ZR 216/13, BGHZ 204, 364 Rn. 32 mwN).(γ) Nach § 16a Abs. 4 i.V.m. § 17 Abs. 3 NachbarG Bln ist das Recht so zügig und schonend wie möglich auszuüben und darf nicht zur Unzeit geltend gemacht werden. Die Duldungspflicht des Nachbarn wird durch diese Regelung zwar nicht an weitere Voraussetzungen geknüpft, denn sie betrifft allein die Rechtsfolgenseite der Norm, nämlich die Ausübung des Rechts zur nachträglichen grenzüberschreitenden Wärmedämmung. Immerhin ist der Nachbar aber davor geschützt, dass der überbauende Nachbar die Dämmung etwa zur Nachtzeit anbringt oder die Ausführung der Arbeiten ohne Grund in die Länge zieht.(δ) Von besonderem Gewicht für die Frage der Verhältnismäßigkeit von § 16a NachbarG Bln ist schließlich, dass der duldungspflichtige Nachbar für die Beeinträchtigung der Benutzung seines Grundstücks zu entschädigen ist. Nach § 16a Abs. 5 NachbarG BIn findet § 912 Abs. 2 BGB entsprechende Anwendung. Gemäß Satz 1 dieser Norm ist der Nachbar durch eine Geldrente zu entschädigen. Für die Höhe der Rente ist nach Satz 2 die Zeit der Grenzüberschreitung maßgebend. Die Geldrente nach § 912 Abs. 2 BGB hat die Funktion, den Nutzungsverlust des betroffenen Eigentümers auszugleichen (Senat, Urteil vom 5. Dezember 2003 - V ZR 447/01, NJW 2004, 1798, 1801 mwN). Der Anspruch auf die Überbaurente besteht selbst dann, wenn die Beeinträchtigung geringfügig ist, weil die - wenn auch ggf. geringe - Rente auf der Grundlage der überbauten Fläche und deren Wert zu berechnen ist (vgl. Senat, Urteil vom 12. Oktober 2018 - V ZR 81/18, NZM 2019, 422 Rn. 15).(d) In der Gesamtschau erscheint es dem Senat durchaus möglich, dass § 16a NachbarG Bln insgesamt noch als verhältnismäßig anzusehen ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Regelung aus Sicht des Gesetzgebers nicht allein das Verhältnis zweier Grundstückseigentümer untereinander betrifft, deren Individualinteressen zum Ausgleich zu bringen sind. Sie dient vielmehr vor allem dem Klimaschutz und damit einem anerkannten Gemeinwohlbelang mit Verfassungsrang; im Interesse künftiger Generationen ist der Gesetzgeber verfassungsrechtlich sogar verpflichtet, in allen Lebensbereichen Anreize für die Entwicklungen zu schaffen, die den rechtzeitigen Übergang zur Klimaneutralität ermöglichen (vgl. BVerfGE 157, 30 Rn. 248). Ein solcher Anreiz soll hier gesetzt werden. Das wirtschaftliche Interesse des Grundstückseigentümers an der Einsparung von Energie durch eine grenzüberschreitende Dämmung seines Bestandsgebäudes wird nicht als solches, sondern deswegen höher gewichtet als das entgegenstehende Interesse des Nachbarn an der vollständigen Nutzung seines Grundstücks, weil es sich mit dem Interesse der Allgemeinheit an der möglichst raschen Dämmung von Bestandsgebäuden deckt. Zwar erscheint dem Senat bedenklich, dass das individuelle Interesse des Nachbarn selbst dann keine Berücksichtigung findet, wenn im Einzelfall die Annahme einer Unzumutbarkeit der Duldungsverpflichtung naheläge. Es ist aber nicht zu verkennen, dass der Streit zwischen den Nachbarn über die Frage, ob ein solcher Ausnahmefall vorliegt, zu einer unter Umständen Jahre währenden Verzögerung der jeweiligen Maßnahme oder sogar dazu führen kann, dass der Grundstückseigentümer von der Dämmung seines Gebäudes ganz absieht. Der Senat hält es daher für nicht ausgeschlossen, dass der generalisierende Ansatz des Berliner Landesgesetzgebers, den Duldungsanspruch klar und einfach zu regeln, um auf das Ganze gesehen die Durchführung möglichst vieler und rascher Dämmmaßnahmen zu erreichen, noch zulässig ist, auch wenn damit für den jeweiligen Nachbarn im Einzelfall gewisse - unter Umständen auch erhebliche - Härten verbunden sein mögen.2. Richtig ist auch, dass die Klägerin einen Anspruch darauf hat, dass die Beklagte die Anbringung eines hängenden Gerüsts für die Dauer von drei Monaten und das Betreten des Dachs des zum Grundstück der Klägerin grenzständigen Seitenflügels des Gebäudes der Beklagten durch die Klägerin zur Durchführung der Sanierungs- und Wärmedämmungsarbeiten duldet. Dieser Anspruch folgt aus dem sog. Hammerschlagsrecht nach § 17 Abs. 1 und 2 NachbarG Bln.a) Nach § 17 Abs. 1 NachbarG Bln muss der Eigentümer eines Grundstücks dulden, dass sein Grundstück einschließlich der Bauwerke von dem Nachbarn zur Vorbereitung und Durchführung von Bau-, Instandsetzungs- und Unterhaltungsarbeiten auf dem Nachbargrundstück vorübergehend betreten und benutzt wird, wenn und soweit 1. die Arbeiten anders nicht oder nur mit unverhältnismäßig hohen Kosten durchgeführt werden können, 2. die mit der Duldung verbundenen Nachteile oder Belästigungen nicht außer Verhältnis zu dem von dem Berechtigten erstrebten Vorteil stehen und 3. das Vorhaben öffentlich-rechtlich zulässig ist. Das Recht zur Benutzung umfasst nach § 17 Abs. 2 NachbarG Bln die Befugnis, auf oder über dem Grundstück Gerüste und Geräte aufzustellen sowie die zu den Arbeiten erforderlichen Baustoffe über das Grundstück zu bringen.b) Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts ist es nicht möglich, die Dämmung an der Giebelwand des klägerischen Gebäudes anzubringen, ohne ein Gerüst über dem Seitenflügel des Gebäudes der Beklagten zu errichten und hierzu das Grundstück der Beklagten zu betreten. Indem die Klägerin ein hängendes Gerüst errichten will, das das Gebäude der Beklagten nicht berührt, trägt sie dem Erfordernis einer schonenden Ausübung des Hammerschlagsrechts Rechnung. Sie hat ihre Absicht, ein solches Gerüst zu errichten, der Beklagten angezeigt. Es begegnet rechtlich auch keinen Bedenken, dass das Berufungsgericht die Unwägbarkeiten bei der Ausführung von Baumaßnahmen dieser Art als allgemein bekannt (§ 291 ZPO) voraussetzt und im Hinblick darauf für die Maßnahmen eine Zeitdauer von drei Monaten veranschlagt.c) Die hinsichtlich dieser Feststellungen von der Beklagten erhobene Verfahrensrüge der Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) hat der Senat geprüft und nicht für durchgreifend erachtet (§ 564 Satz 1 ZPO).III.Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.BrücknerHaberkampHamdorfMalikLaube
bundesgerichtshof
bgh_078-2022
01.06.2022
Keine Kürzung des Heimentgelts bei coronabedingten Besuchs- und Ausgangsbeschränkungen Ausgabejahr 2022 Erscheinungsdatum 01.06.2022 Nr. 078/2022 Beschluss vom 28. April 2022 – III ZR 240/21 Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 28. April 2022 über die Frage entschieden, ob Bewohner einer stationären Pflegeeinrichtung wegen Besuchs- und Ausgangsbeschränkungen, die im Rahmen der Bekämpfung der COVID-19-Pandemie hoheitlich angeordnet wurden, zu einer Kürzung des Heimentgelts berechtigt sind. Sachverhalt: Die Parteien streiten über rückständige Heimkosten sowie die Räumung und Herausgabe eines Zimmers in einem Seniorenwohnheim. Die Parteien schlossen im Jahr 2017 einen Vertrag über die Unterbringung und vollstationäre Pflege der Beklagten in einem vom Kläger betriebenen Seniorenwohn- und Pflegeheim. Die Beklagte war in den Pflegegrad 3 eingestuft. Seit dem 19. März 2020 hielt sie sich nicht mehr in der Pflegeeinrichtung auf, da ihr Sohn sie im Hinblick auf die durch das neuartige SARS-CoV-2-Virus verursachte Pandemie zu sich nach Hause geholt hatte. Das ihr in dem Pflegeheim zugewiesene Zimmer räumte sie allerdings nicht. Für die Monate Mai bis August 2020 erbrachte sie auf das sich inzwischen auf 3.294,49 € belaufende beziehungsweise im August 2020 auf 3.344,07 € angestiegene Monatsentgelt lediglich Zahlungen in Höhe von insgesamt 1.162,18 €. Nachdem die Klägerin die Beklagte vergeblich unter Fristsetzung zur Zahlung aufgefordert hatte, erklärte sie mit Schreiben vom 20. Juli 2020 die Kündigung des Pflegevertrags aus wichtigem Grund zum 31. August 2020. Bisheriger Prozessverlauf: Das Landgericht hat die Beklagte zur Räumung und Herausgabe des von ihr weiterhin belegten Zimmers sowie – unter Anrechnung der vertraglich vereinbarten Pauschale von 25 Prozent für ersparte Aufwendungen ab dem vierten Abwesenheitstag – zur Zahlung von 8.877,13 € nebst Zinsen verurteilt. Die Berufung der Beklagten hat keinen Erfolg gehabt. Die Beklagte beabsichtigt, gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts "das Rechtsmittel der Nichtzulassungsbeschwerde" einzulegen, und begehrt dafür gemäß § 78b Abs. 1 ZPO die Bestellung eines Notanwalts, da auf ihre Anfrage keiner der beim Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwälte zu einer Vertretung bereit gewesen sei. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs: Der III. Zivilsenat hat den Antrag der Beklagten, ihr einen Notanwalt beizuordnen, abgelehnt. Die Beiordnung eines Notanwalts für die beabsichtigte Nichtzulassungsbeschwerde scheidet aus, weil ein Revisionszulassungsgrund im Sinne des § 543 Abs. 2 ZPO offensichtlich nicht vorliegt. Die Zulassung der Revision ist insbesondere nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache nach § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO geboten. Der von der Beklagten geltend gemachte Entgeltkürzungsanspruch besteht unzweifelhaft nicht. Nach § 7 Abs. 2 des Wohn- und Betreuungsvertragsgesetzes (WBVG) i.V.m. Nr. 2.1 des Pflegevertrages war die Klägerin verpflichtet, der Beklagten ein bestimmtes Zimmer als Wohnraum zu überlassen sowie die vertraglich vereinbarten Pflege- und Betreuungsleistungen nach dem allgemein anerkannten Stand fachlicher Erkenntnisse zu erbringen. Diese den Schwerpunkt des Pflegevertrags bildenden Kernleistungen konnten trotz pandemiebedingt hoheitlich angeordneter Besuchs- und Ausgangsbeschränkungen weiterhin in vollem Umfang erbracht werden. Eine Entgeltkürzung gemäß § 10 Abs. 1 WBVG wegen Nicht- oder Schlechtleistung scheidet daher von vornherein aus. Es kommt aber auch keine Herabsetzung des Heimentgelts wegen Störung der Geschäftsgrundlage nach § 313 Abs. 1 BGB in Betracht. Durch die Besuchs- und Ausgangsbeschränkungen hat sich die Geschäftsgrundlage für den zwischen den Parteien bestehenden Pflegevertrag nicht schwerwiegend geändert (siehe zu den Voraussetzungen einer Vertragsanpassung bei einer pandemiebedingten schwerwiegenden Änderung der Geschäftsgrundlage BGH, Urteile vom 12. Januar 2022 – XII ZR 8/21, MDR 2022, 147 Rn. 41 ff; vom 16. Februar 2022 – XII ZR 17/21, ZIP 2022, 532 Rn. 27 ff und vom 2. März 2022 – XII ZR 36/21, juris Rn. 28 ff [jeweils Gewerberaummiete]). Die Besuchs- und Ausgangsbeschränkungen dienten primär dem Gesundheitsschutz sowohl der (besonders vulnerablen) Heimbewohner als auch der Heimmitarbeiter, ohne den Vertragszweck in Frage zu stellen. Ein Festhalten am unveränderten Vertrag war der Beklagten daher zumutbar, zumal die zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie angeordneten Einschränkungen sozialer Kontakte ("Lockdown") das gesamte gesellschaftlichen Zusammenleben, also auch Nichtheimbewohner, erfassten. Vorinstanzen: Landgericht Amberg - Urteil vom 30. März 2021 – 12 O 725/20 Oberlandesgericht Nürnberg - Beschluss vom 11. Oktober 2021 – 4 U 129/21 Die maßgeblichen Vorschriften lauten: § 78b ZPO – Notanwalt (1) Insoweit eine Vertretung durch Anwälte geboten ist, hat das Prozessgericht einer Partei auf ihren Antrag durch Beschluss für den Rechtszug einen Rechtsanwalt zur Wahrnehmung ihrer Rechte beizuordnen, wenn sie einen zu ihrer Vertretung bereiten Rechtsanwalt nicht findet und die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung nicht mutwillig oder aussichtslos erscheint. § 313 Abs. 1 BGB – Störung der Geschäftsgrundlage (1) Haben sich Umstände, die zur Grundlage des Vertrags geworden sind, nach Vertragsschluss schwerwiegend verändert und hätten die Parteien den Vertrag nicht oder mit anderem Inhalt geschlossen, wenn sie diese Veränderung vorausgesehen hätten, so kann Anpassung des Vertrags verlangt werden, soweit einem Teil unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der vertraglichen oder gesetzlichen Risikoverteilung, das Festhalten am unveränderten Vertrag nicht zugemutet werden kann. § 10 WBVG – Nichtleistung oder Schlechtleistung (1) Erbringt der Unternehmer die vertraglichen Leistungen ganz oder teilweise nicht oder weisen sie nicht unerhebliche Mängel auf, kann der Verbraucher unbeschadet weitergehender zivilrechtlicher Ansprüche bis zu sechs Monate rückwirkend eine angemessene Kürzung des vereinbarten Entgelts verlangen. Karlsruhe, den 1. Juni 2022 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Beschluss des III. Zivilsenats vom 28.4.2022 - III ZR 240/21 -
Im Rahmen der Bekämpfung der COVID 19-Pandemie hoheitlich angeordnete Besuchs- und Ausgangsbeschränkungen berechtigen Bewohner eines Pflegeheims nicht zur Entgeltkürzung nach § 10 Abs. 1 WBVG. Sie stellen grundsätzlich auch keine schwerwiegende Änderung der Geschäftsgrundlage im Sinne des § 313 Abs. 1 BGB dar. Tenor Der Antrag der Beklagten, ihr einen Notanwalt zur Wahrung ihrer Rechte in dem Verfahren über die Rechtsbeschwerde beziehungsweise Nichtzulassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg - 4. Zivilsenat - vom 11. Oktober 2021 - 4 U 1292/21 - beizuordnen, wird abgelehnt. Gründe I.Die Parteien streiten über rückständige Heimkosten sowie die Räumung und Herausgabe eines Zimmers in einem Seniorenwohnheim.Unter dem 30. März 2017 schlossen die Parteien einen Vertrag über die Unterbringung und vollstationäre Pflege der Beklagten in einem vom Kläger betriebenen Seniorenwohn- und Pflegeheim. Auf der Grundlage einer Einstufung der Beklagten in den Pflegegrad 3 betrug das anfänglich vereinbarte monatliche Gesamtentgelt 3.048,68 € (Tagessatz: 100,22 €).Seit dem 19. März 2020 hielt sich die Beklagte nicht mehr in der Pflegeeinrichtung auf, da ihr Sohn sie im Hinblick auf die durch das neuartige SARS-CoV-2-Virus verursachte Pandemie zu sich nach Hause geholt hatte. Das ihr in dem Pflegeheim zugewiesene Zimmer räumte sie allerdings nicht. Für die Monate Mai bis August 2020 erbrachte sie auf das - durch zwischenzeitlich vorgenommene Preisanpassungen auf 3.294,49 € beziehungsweise im August 2020 auf 3.344,07 € angestiegene - Monatsentgelt lediglich Zahlungen in Höhe von insgesamt 1.162,18 €. Nachdem der Kläger die Beklagte vergeblich unter Fristsetzung zur Zahlung aufgefordert hatte, erklärte er mit Schreiben vom 20. Juli 2020 die Kündigung des Pflegevertrags aus wichtigem Grund zum 31. August 2020.Das Landgericht hat die Beklagte zur Räumung und Herausgabe des von ihr weiterhin belegten Zimmers sowie - unter Anrechnung der vertraglich vereinbarten Pauschale von 25 Prozent für ersparte Aufwendungen ab dem vierten Abwesenheitstag - zur Zahlung von 8.877,13 € nebst Zinsen verurteilt. Die gegen die Verurteilung zur Räumung und Herausgabe des Zimmers gerichtete Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht im Beschlusswege gemäß § 522 Abs. 1 ZPO als unzulässig verworfen. Im Übrigen hat es die Berufung durch Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO als unbegründet zurückgewiesen.Die Beklagte beabsichtigt, gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts "das Rechtsmittel der Nichtzulassungsbeschwerde" einzulegen, und begehrt dafür die Bestellung eines Notanwalts, da keiner der beim Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwälte zu ihrer Vertretung bereit gewesen sei.II.Der Antrag der Beklagten auf Beiordnung eines Notanwalts ist unbegründet. Nach § 78b Abs. 1 ZPO hat das Gericht, soweit eine Vertretung durch Anwälte geboten ist, einer Partei, die einen zu ihrer Vertretung bereiten Rechtsanwalt nicht findet, auf ihren Antrag einen Notanwalt beizuordnen, wenn die Rechtsverfolgung nicht aussichtslos erscheint. Letzteres ist im vorliegenden Fall nicht erfüllt.1. Der Senat legt den Antrag der Beklagten zu ihren Gunsten dahingehend aus, dass die Entscheidung des Berufungsgerichts insgesamt angegriffen werden soll, also auch insoweit, als die Berufung der Beklagten als unzulässig verworfen worden ist und deshalb gemäß § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO (auch) die Rechtsbeschwerde als statthafter Rechtsbehelf in Betracht kommt.2. Soweit das Oberlandesgericht die Berufung der Beklagten als unzulässig verworfen hat, ist die Rechtsbeschwerde zwar gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthaft, aber nicht zulässig. Die Bewertung des Berufungsgerichts, dass die Berufungsbegründung nicht den Anforderungen des § 520 Abs. 1, Abs. 3 Satz 2 ZPO genügt, gibt keinen Anlass für die Bejahung eines Zulassungsgrundes. Die Sache hat weder grundsätzliche Bedeutung noch ist eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich (§ 574 Abs. 2 ZPO).3. Die Beiordnung eines Notanwalts für die beabsichtigte Nichtzulassungsbeschwerde scheidet ebenfalls aus, weil kein Revisionszulassungsgrund im Sinne des § 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO ersichtlich ist.a) Auf die behauptete Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) kann sich die Beklagte nicht berufen, weil ihre Prozessbevollmächtigte auf die gemäß § 522 Abs. 1, 2 ZPO gesetzte Stellungnahmefrist keine eigene Erklärung abgegeben und sich die von der Beklagten selbst verfasste Stellungnahme auch nicht zu Eigen gemacht hat (GA I 143), so dass diese wegen des vor den Oberlandesgerichten herrschenden Anwaltszwangs (§ 78 Abs. 1 Satz 1 ZPO) prozessual unbeachtlich war. Handelt im Anwaltsprozess die nicht postulationsfähige Partei selbst, ist die durch sie vorgenommene Prozesshandlung unwirksam (Zöller/Althammer, ZPO, 34. Aufl., § 78 Rn. 12).b) Soweit das Berufungsgericht eine Entgeltkürzung im Hinblick auf die im Rahmen der Bekämpfung der COVID-19-Pandemie aus Gründen des Gesundheitsschutzes (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) hoheitlich angeordneten Besuchs- und Ausgangsbeschränkungen abgelehnt hat, ist die Zulassung der Revision entgegen der Auffassung der Beklagten nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache nach § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO geboten. Der von der Beklagten geltend gemachte Entgeltkürzungsanspruch besteht unzweifelhaft nicht.Nach § 7 Abs. 2 WBVG i.V.m. Nr. 2.1 des Pflegevertrages war der Kläger verpflichtet, der Beklagten das Zimmer 203 als Wohnraum zu überlassen (Nr. 3 des Vertrages) sowie die vertraglich vereinbarten Pflege- und Betreuungsleistungen (Nr. 8 ff des Vertrages) nach dem allgemein anerkannten Stand fachlicher Erkenntnisse zu erbringen. Diese den Schwerpunkt des Pflegevertrags bildenden Kernleistungen konnten trotz pandemiebedingt hoheitlich angeordneter Besuchs- und Ausgangsbeschränkungen weiterhin in vollem Umfang erbracht werden. Eine Entgeltkürzung gemäß § 10 Abs. 1 WBVG wegen Nicht- oder Schlechtleistung scheidet daher von vornherein aus. Es kommt aber auch keine Herabsetzung des Heimentgelts wegen Störung der Geschäftsgrundlage nach § 313 Abs. 1 BGB in Betracht. Durch die Besuchs- und Ausgangsbeschränkungen hat sich die Geschäftsgrundlage für den zwischen den Parteien bestehenden Pflegevertrag nicht schwerwiegend geändert (vgl. zu den Voraussetzungen einer Vertragsanpassung bei einer pandemiebedingten schwerwiegenden Änderung der Geschäftsgrundlage BGH, Urteile vom 12. Januar 2022 - XII ZR 8/21, MDR 2022, 147 Rn. 41 ff; vom 16. Februar 2022 - XII ZR 17/21, ZIP 2022, 532 Rn. 27 ff und vom 2. März 2022 - XII ZR 36/21, juris Rn. 28 ff [jeweils Gewerberaummiete]). Die Besuchs- und Ausgangsbeschränkungen dienten - wie bereits das Landgericht ausgeführt hat - primär dem Gesundheitsschutz sowohl der (besonders vulnerablen) Heimbewohner als auch der Heimmitarbeiter, ohne den Vertragszweck in Frage zu stellen. Ein Festhalten am unveränderten Vertrag war der Beklagten daher zumutbar, zumal die zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie angeordneten Einschränkungen sozialer Kontakte ("Lockdown") das gesamte gesellschaftliche Zusammenleben, also auch Nichtheimbewohner, erfassten.HerrmannReiterArendBöttcherHerr
bundesgerichtshof
bgh_025-2019
28.02.2019
Urteil gegen die Rapperin "Schwesta Ewa" rechtskräftig Ausgabejahr 2019 Erscheinungsdatum 28.02.2019 Nr. 025/2019 Urteil vom 28. Februar 2019 – 1 StR 604/17 Das Landgericht hat die Angeklagte wegen Steuerhinterziehung in 18 Fällen, Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger in zwei Fällen, davon in einem Fall wegen Versuchs und in Tateinheit mit Missbrauch von Ausweispapieren, sowie Körperverletzung in 35 Fällen, darunter zwei Fälle der schweren (richtig: gefährlichen) Körperverletzung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Im Übrigen hat es die Angeklagte freigesprochen. Nach den Feststellungen des Landgerichts gelangte die Angeklagte, eine ehemalige Prostituierte, unter dem Künstlernamen "Schwesta Ewa" als Rapperin zu einer gewissen Popularität mit beständigen Einnahmen. Dies nahm sie zum Anlass, neben dem "Musik-Business" nicht mehr selbst der Prostitution nachzugehen, sondern ihre langjährigen Erfahrungen als Prostituierte nunmehr dahin zu nutzen, die Prostitutionsausübung anderer Frauen zu organisieren und an den Erträgen zu partizipieren. Dieses Vorhaben setzte sie u.a. dadurch um, dass sie mit jungen Frauen aus einer Clique, die sich um sie gebildet hatte, sog. Prostitutionsreisen durchführte. Dabei lag die Organisation bei ihr, während die jungen Frauen der Prostitution nachgingen. Absprachegemäß wurden die nach Abzug der Kosten aus der Prostitutionstätigkeit verbleibenden Einnahmen zwischen der Angeklagten und der jeweiligen Prostituierten hälftig aufgeteilt. Die jungen Frauen waren mit der Art und Weise der Durchführung der Prostitutionsausübung und der Aufteilung der Erlöse einverstanden. Die Angeklagte gab die aus den Prostitutionsreisen erzielten Einnahmen in ihren Steuererklärungen nicht an; hierdurch verkürzte sie Einkommensteuer und Umsatzsteuer. Zudem schlug die zu Jähzorn neigende Angeklagte die sie begleitenden jungen Frauen in insgesamt 35 Fällen. Die Angeklagte beanstandet ihre Verurteilung mit einer auf die Sachrüge gestützten Revision. Die Staatsanwaltschaft und eine der jungen Frauen, die sich dem Verfahren als Nebenklägerin angeschlossen hat, wenden sich mit ihren Revisionen gegen den Teilfreispruch. Sie beanstanden mit Verfahrens- und Sachrügen, dass die Angeklagte nicht auch wegen Zuhälterei und Menschenhandels verurteilt worden ist. Sie machen insbesondere geltend, die jungen Frauen seien finanziell ausgebeutet worden und hätten nicht freiwillig gehandelt. Der Bundesgerichtshof hat die Revision der Angeklagten als unbegründet verworfen. Auch die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin hatten keinen Erfolg; der Freispruch vom Vorwurf der Zuhälterei und des Menschenhandels ist rechtsfehlerfrei. Ebenso wenig hatte die Staatsanwaltschaft mit einer Verfahrensbeanstandung Erfolg, mit der sie gerügt hatte, dass eine die weitere Aussage verweigernde Zeugin nicht in Beugehaft genommen worden ist. Damit ist das Urteil gegen die Angeklagte rechtskräftig. Vorinstanz: LG Frankfurt am Main – Urteil vom 20. Juni 2017 – 5-02 KLs 6/17 6360 Js 209626/16 Karlsruhe, den 28. Februar 2019 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Urteil des 1. Strafsenats vom 28.2.2019 - 1 StR 604/17 -
Tenor 1. Die Revision der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 20. Juni 2017 wird mit der Maßgabe verworfen, dass die Angeklagte, soweit sie wegen zweier Fälle der schweren Körperverletzung verurteilt worden ist, der gefährlichen Körperverletzung in zwei Fällen schuldig ist.2. Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin M. gegen das vorbezeichnete Urteil werden verworfen.3. Die Angeklagte hat die Kosten ihres Rechtsmittels und die den Nebenklägerinnen hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.4. Die Staatskasse trägt die Kosten der Revision der Staatsanwaltschaft und die hierdurch der Angeklagten entstandenen notwendigen Auslagen.5. Die Nebenklägerin M. hat die Kosten ihrer Revision und die hierdurch der Angeklagten entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.6. Die sofortige Beschwerde der Nebenklägerin M. ge- gen die Kosten- und Auslagenentscheidung im vorbezeichneten Urteil wird kostenpflichtig verworfen.Von Rechts wegen. Gründe Das Landgericht hat die Angeklagte wegen Steuerhinterziehung in 18 Fällen, Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger in zwei Fällen, davon in einem Fall wegen Versuchs und in Tateinheit mit Missbrauch von Ausweispapieren, Körperverletzung in 35 Fällen, darunter zwei Fälle der schweren Körperverletzung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Im Übrigen hat es die Angeklagte freigesprochen.Die Angeklagte wendet sich mit ihrer auf die Sachrüge gestützten Revision gegen ihre Verurteilung. Mit ihrer auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten, vom Generalbundesanwalt nicht vertretenen Revision zuungunsten der Angeklagten beanstandet die Staatsanwaltschaft den Teilfreispruch von den Vorwürfen der Zuhälterei und des Menschenhandels. Die Nebenklägerin M. erhebt mit ihrer Revision eine Verfahrensrüge und rügt im Übrigen die Verletzung materiellen Rechts; zudem wendet sie sich mit einer Beschwerde gegen die Kosten- und Auslagenentscheidung des Urteils. Abgesehen von der Abänderung des Schuldspruchs zugunsten der Angeklagten bezüglich zweier Körperverletzungsdelikte bleiben sämtliche Rechtsmittel ohne Erfolg.I.Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:1. Die als Dreijährige mit ihrer Mutter von Polen nach Deutschland gezogene Angeklagte begann bereits im Alter von 17 Jahren, als Prostituierte zu arbeiten. Da sie aufgrund ihrer Herkunft aus sozial und finanziell schwierigen Verhältnissen häufig Erfahrungen mit Ausgrenzung und Gewalt gemacht hatte, nahm sie die Prostitution früh als Möglichkeit wahr, auch ohne Berufsausbildung Geld verdienen und sich mit Geld Anerkennung und eine Lebensgrundlage verschaffen zu können.Nach einigen Jahren begann die Angeklagte unter dem Künstlernamen "Sc. " eine Karriere als "Rapperin". Ihre Titel handelten vornehmlich und verherrlichend vom Prostituierten- und Zuhältermilieu, schnellem Geld, Luxusgütern und Gewalt. Hierdurch gelangte sie in den einschlägig interessierten Kreisen zumeist jüngerer Fans zu einer gewissen Popularität mit beständigen Einnahmen. Dies nahm die Angeklagte zum Anlass, nicht mehr selbst der Prostitution nachzugehen, sondern neben dem "Musik-Business" ihre langjährigen Erfahrungen als Prostituierte nunmehr dahin zu nutzen, an der Prostitutionsausübung anderer Frauen, zu der sie organisatorische Beiträge leistete, zu partizipieren. Außerdem war sie in der von ihrem Lebensgefährten betriebenen "St. Bar" in F. in herausgehobener Position tätig.2. Die "St. Bar" entwickelte sich alsbald zu einer Anlaufstelle ihrer jungen weiblichen Fans. Einige von diesen legten es dabei darauf an, in eine Beziehung zu der von ihnen idolisierten Angeklagten zu treten. Manche versuchten dies dadurch zu erreichen, dass sie sich als Stammgäste in der Bar aufhielten. Andere nahmen über soziale Medien Kontakt zu der Angeklagten auf, die mitunter auch Einladungen aussprach. Im Laufe der Zeit entstand so um die Angeklagte eine Clique junger Frauen, die sich unter anderem durch ein einheitliches, vom Auftreten der Angeklagten geprägtes Outfit - lange blonde Haare, Leggings, Taschen und Schuhe von Gucci - auszeichnete und die die Angeklagte ebenso wie deren in Songs und Auftritten dargestellten Lebensstil idolisierte. Zu dieser Clique gehörten zeitweise auch die Nebenklägerinnen M. und S. und die Zeuginnen W. , H. und Wy. .Die der Clique angehörenden jungen Frauen konnten in der "St. Bar" ohne Bezahlung Getränke konsumieren. Auch übernahm die Angeklagte für sie häufig die Bezahlung für Feiern, Mode und Frisuren und ließ manche der jungen Frauen auch in zwei Wohnungen übernachten, über die sie verfügte. Auf diese Weise häuften sich allmählich bei einigen von ihnen hohe Schulden bei der Angeklagten an, deren Rückführung die Angeklagte verlangte. Hierzu bot die Angeklagte jedenfalls der Nebenklägerin M. und der Zeugin H. an, zur Schuldentilgung gemeinsam mit ihr nach einem bestimmten Geschäftsmodell Geld durch Prostitution auf Reisen in anderen Städten zu verdienen. Außerdem zeigte sie ihnen sowie der Nebenklägerin S. und der Zeugin W. Möglichkeiten auf, mit bestimmten Freiern in Kontakt zu kommen. Die Nebenklägerinnen M. und S. wie auch die Zeugin H. waren be- reits zuvor und unabhängig von der Angeklagten der Prostitution nachgegangen. Sie waren ohnehin von sich aus zur Fortsetzung der Prostitution bereit gewesen, um Schulden zu tilgen oder darüber hinaus an Geld zu gelangen. Die noch 17 Jahre alte Zeugin W. hatte sich bis dahin noch nicht prostituiert, hatte aber "massiv den Wunsch an die Angeklagte herangetragen", für sie der Prostitution nachzugehen. Ihr zeigte die Angeklagte zunächst in zwei Fällen die Möglichkeit auf, mittels Prostitution Geld zu verdienen. Später bot die Angeklagte der dann volljährigen Zeugin W. , die keine Schulden bei ihr hatte, ge- meinsame Prostitutionsreisen an.3. Das von der Angeklagten neben ihrer Musikerkarriere betriebene Geschäftsmodell umfasste die Prostitutionsausübung in Hotels und auch in Kundenwohnungen während regelmäßig wochenweiser Aufenthalte in anderen Städten. Die Angeklagte war dabei dafür zuständig, den äußeren Rahmen der Aufenthalte zu organisieren und vor allem die Freier zu beschaffen, während eine andere Frau die eigentliche Prostituiertentätigkeit ausübte. Die Angeklagte gab keine verbindlich zu erbringenden Sexualleistungen vor. Sie schaltete in einschlägigen Internetportalen für sexuelle Dienstleistungen Anzeigen, die sog. Profile, in denen die Prostituierten mit einer für Freier möglichst ansprechenden Legende ausgestattet wurden. Jedem der Profile war eine bestimmte Mobilfunknummer für die Kontaktaufnahme zugewiesen. Die Angeklagte führte mit ihrem Pkw die notwendigen Fahrten durch, buchte Hotelzimmer für Unterkunft und Prostitutionsausübung und sorgte für die Verpflegung und notwendiges Arbeitszubehör wie Kondome und Gleitcreme. Auch war es ihre Aufgabe, die Anrufe auf den Mobiltelefonen entgegenzunehmen und die Termine zu organisieren. Die Telefonate erledigte die Angeklagte regelmäßig aus ihrem im Hotelbereich parkenden Fahrzeug heraus; gleichzeitig hielt sie sich bereit, die Prostituierten bei Konflikten mit ihren Freiern zu schützen. Hinsichtlich der Geschäftskosten für die Prostitutionsreisen war die Angeklagte mit den Prostituierten jeweils dahin übereingekommen, dass die nach Abzug der Kosten von den mit den Freiern erzielten Umsätzen verbleibenden Nettoerlöse zwischen der jeweiligen Prostituierten und der Angeklagten hälftig geteilt wurden. Den Zeuginnen W. und H. sowie der Nebenklägerin M. war dieses Geschäftsmo- dell nach Organisation, Ablauf und Aufgabenverteilung ebenso recht, wie sie die Aufteilung der Erlöse für angemessen hielten.Wegen Ungeschicklichkeiten oder vermeintlichen Fehlern dieser drei Frauen schlug die zu spontanen Gewaltausbrüchen und Beschimpfungen neigende Angeklagte insbesondere im Verlauf der Prostitutionsreisen häufig auf diese ein.4. Der Nebenklägerin M. , die die Angeklagte auf dem Oktoberfest 2015 in Mü. kennengelernt hatte, vermittelte die Angeklagte zunächst zwei Gelegenheiten, sich zu prostituieren. Den ersten Kontakt stellte sie zu dem als impotent geltenden Freier "I. " her, den zweiten Kontakt zu einem 83 Jahre alten Mann in einer Art Escortservice mit zwei weiteren Frauen.Als die Nebenklägerin Schulden bei der Angeklagten angehäuft hatte, über die sie keinen genauen Überblick hatte, wollte sie diese durch Prostitution abzahlen. Mitte 2016 schlug sie deshalb der Angeklagten vor, nach deren Geschäftsmodell mit dieser gemeinsam auf Prostitutionsreise zu gehen. Bei einer dann entsprechend durchgeführten Prostitutionsreise vom 11. bis 25. August 2016 schlug die Angeklagte immer wieder mit der flachen Hand in Form heftiger Ohrfeigen auf die Nebenklägerin M. ein. Es kam täglich zu mindestens einem ohrfeigenartigen Schlag. Die Schläge dienten dabei nicht dazu, die ohnehin durchgehend zur Prostitution bereite Nebenklägerin M. gefügig zu machen oder zu halten. Vielmehr reagierte die zu Gewaltausbrüchen neigende Angeklagte auf diese Weise spontan ihren Jähzorn ab, der sich während der Prostitutionsreise aufgrund von angeblichen Ungeschicklichkeiten oder vermeintlichen Fehlern der Nebenklägerin ergab.5. Die 17-jährige Zeugin W. identifizierte sich insbesondere mit der unkritischen Darstellung von Prostitution und Zuhälterei in den Texten und Auftritten der Angeklagten und hatte daher für sich selbst den Entschluss gefasst, "anschaffen zu gehen". Die Angeklagte empfahl ihr aber wegen ihres Alters und ihrer Unerfahrenheit zunächst, damit noch zu warten. Als die Zeugin weiterhin darauf drängte, sich zu prostituieren, eröffnete ihr die Angeklagte zwei Gelegenheiten hierzu. Im einen Fall vermittelte sie auch der Zeugin W. den Freier "I. ", bei dem sich die einstündige Begegnung gegen Zahlung von 150 Euro auf den Austausch von Zungenküssen und Berührungen beschränkte. Im zweiten Fall vermittelte ihr die Angeklagte den bereits genannten 83-jährigen Freier, der gewöhnlich immer in Begleitung von drei jungen Prostituierten zunächst in die Spielbank gehen und sich dort eine der Prostituierten zum Oralsex aussuchen wollte. Um ihr den Zugang zur Spielbank und den Kundentermin auch für den Fall einer Zugangskontrolle zu ermöglichen, überließ die Angeklagte der Zeugin W. den Ausweis einer bereits volljährigen Freundin. Auf- grund akuter Herzprobleme des Freiers beschränkte sich der Termin auf gemeinsames Essen und Roulettespielen auf dessen Kosten.Nachdem die Zeugin volljährig geworden war, traf sie im August 2016 in Mü. mit der Angeklagten zusammen, um zusammen mit ihr nach deren Geschäftsmodell Geld aus der Prostitution zu verdienen, was wie geplant stattfand. Anfang September 2016 wurde eine weitere Prostitutionsreise durchgeführt.Während dieser zweiten Prostitutionsreise versetzte die Angeklagte der Zeugin W. in drei Fällen jeweils mit der flachen Hand ohrfeigenähnliche Schläge. Auch diese Schläge dienten nicht dazu, die Zeugin, die durchgehend zur Prostitution bereit war, gefügig zu machen oder zu halten. Vielmehr reagierte die Angeklagte auch hier nur spontan ihren Jähzorn ab.6. Die ebenfalls zur Clique um die Angeklagte gehörende Zeugin H. war bereits als Prostituierte tätig gewesen, als sie die Angeklagte kennenlernte. Sie häufte bei der Angeklagten Schulden an, die diese mit 3.000 Euro bezifferte. Zwar hatte die Zeugin H. "keine rechte Neigung" mehr, sich weiter wie bisher zu prostituieren. Sie hatte sich aber nie endgültig von der Prostitutionsausübung abgewendet und war weiter grundsätzlich bereit, erforderlichenfalls Geld auch durch Prostitution zu verdienen. Sie kam deshalb im April 2016 mit der Angeklagten überein, gemeinsam mit ihr nach deren Geschäftsmodell auf Prostitutionsreise zu gehen.Im Zeitraum vom 27. April bis 4. Mai 2016 und vom 12. bis 19. Mai 2016 fanden Prostitutionsreisen nach Mü. und Stu. statt, an denen die Zeugin Wy. als weitere Prostituierte teilnahm. Nach diesen Reisen war die Zeugin H. zwar schuldenfrei; da wegen der Aufrechnung mit den Schul- den ihr hälftiger Anteil am Nettoerlös aber weitgehend aufgebraucht war, erhielt sie von der Angeklagten nur einen geringen überschießenden Betrag ausgezahlt.Im Verlauf der Prostitutionsreisen schlug die Angeklagte - auch hier allein um ihren Jähzorn abzureagieren - die Zeugin H. täglich mindestens einmal mit der flachen Hand in Form von Ohrfeigen. In einem Fall schlug sie aus Verärgerung mit einem hochhackigen Schuh und fügte dadurch der Zeugin H. eine blutende Wunde hinter dem Ohr zu.Im Anschluss an die zweite Prostitutionsreise fuhr die Angeklagte die Zeuginnen H. und Wy. zu einem Bordell in K. , wo diese sich weiter prostituieren wollten. Sie hatten dort die Hälfte ihrer Einnahmen an die Bordellbetreiberin abzugeben. Die Angeklagte hingegen war über die Herstellung des Kontakts hinaus weder organisatorisch eingebunden noch an den Einnahmen beteiligt.Als im weiteren Verlauf des Jahres 2016 die Zeugin H. erneut Kon- takt zur Angeklagten aufgenommen und sich eine Zeit lang in deren Wohnung aufgehalten hatte, trat die wieder einmal spontan jähzornige Angeklagte ihr gegen den Kopf, so dass die Zeugin H. schmerzhaft gegen eine Tischkante prallte.7. Die Nebenklägerin S. hatte ebenfalls bereits Erfahrungen mit der Prostitution gemacht, bevor sie Kontakt mit der Angeklagten aufnahm. Sie wohnte dann in einer von der Angeklagten zur Verfügung gestellten Wohnung. Nachdem sie die Kosten für Kaution und Miete nicht bestreiten konnte, kam sie auf die Idee, das benötigte Geld mit Prostitution zu verdienen. Die Angeklagte hielt sie vom Aussehen und der psychischen Belastbarkeit her aber nicht für geeignet, nach ihrem Geschäftsmodell erfolgreich Prostitutionsreisen zu absolvieren. Sie vermittelte ihr allerdings zwei andere Gelegenheiten, bei denen sie sich durch Prostitution Geld verdienen konnte.8. Obwohl die Angeklagte im Zeitraum von 2014 bis September 2016 neben Einnahmen aus ihrer Musikertätigkeit die Hälfte der Nettoerlöse aus den Prostitutionsreisen für sich vereinnahmt hatte, verschwieg sie diese gegenüber den Finanzbehörden. In ihrer Einkommensteuererklärung 2014 wie auch der Umsatzsteuerjahreserklärung 2014 gab die Angeklagte die von ihr aus den Prostitutionsreisen vereinnahmten Beträge nicht an. Sie verkürzte hierdurch 3.294 Euro Einkommensteuer und 9.229,94 Euro Umsatzsteuer.Für die Monate Januar 2015 bis Januar 2016 sowie April, Mai, August und September 2016 gab die Angeklagte entgegen ihrer steuerlichen Verpflichtung keine Umsatzsteuervoranmeldungen ab und verschwieg für diese Voranmeldungszeiträume ihre Umsätze aus Musikertätigkeit und Prostitutionsreisen. Hierdurch verkürzte sie monatlich Umsatzsteuerbeträge zwischen 737,65 Euro (Dezember 2015) und 3.054,76 Euro (Mai 2016).Gegen die für die Jahre 2015 und 2016 dann ergangenen Umsatzsteuerbescheide, in denen die verkürzten Steuerbeträge berücksichtigt wurden, legte die Angeklagte Einspruch ein. Sie kündigte aber deren Rücknahme an und bezahlte sämtliche für die Jahre 2014 bis 2016 festgesetzten Steuern.II.Von den Vorwürfen des Menschenhandels gemäß § 232 Abs. 1 Satz 2 StGB aF zum Nachteil der Nebenklägerin S. und der Zeugin W. , der Zuhälterei gemäß § 181a Abs. 1 StGB zum Nachteil der Nebenklägerin M. sowie der Zuhälterei gemäß § 181a Abs. 1 StGB und des Menschenhandels gemäß § 232 Abs. 1 Satz 2 StGB aF zum Nachteil der Zeugin H. (Fälle 27 bis 30 der Anklageschrift) hat das Landgericht die Angeklagte freigesprochen.Nach den Feststellungen des Landgerichts brachte die Angeklagte die Nebenklägerin S. nicht zur Aufnahme oder Fortsetzung der Prostitution oder sonst zu sexuellen Handlungen. Die Nebenklägerin war bereits freiwillig zur Ausübung der Prostitution bereit und hatte die Angeklagte schon zuvor darauf angesprochen, sich zum Geldverdienen mit deren Hilfe erneut prostituieren zu wollen.Die Zeugin W. war ebenfalls bereits freiwillig zur Ausübung der Prostitution bereit. Sie hatte für sich selbst den Entschluss gefasst, "anschaffen zu gehen", und in dem festen Wunsch, mit Hilfe der Angeklagten Prostituierte zu werden, den Kontakt mit dieser aufgenommen.Auch die Nebenklägerin M. war zuvor als Prostituierte tätig. Die mit der Angeklagten durchgeführte und von vornherein nur auf einen kurzen Zeitraum angelegte Prostitutionsreise ging auf den Vorschlag der Nebenklägerin zurück. Sie unterwarf sich freiwillig dem in ihren Augen erfolgreichen und lukrativen Geschäftsmodell der Angeklagten. Die Schläge gegen die Nebenklägerin M. dienten nicht dem Zweck, diese zur Aufnahme oder Fortsetzung der Prostitution anzuhalten.Nach den Feststellungen hatte sich die Zeugin H. , die sich zuvor prostituiert hatte, nie endgültig von der Prostitutionsausübung abgewandt. Sie war weiter grundsätzlich bereit, erforderlichenfalls Geld durch Prostitution zu verdienen, und war, weil sie keine andere Idee zur Rückzahlung der Schulden hatte, mit der Angeklagten übereingekommen, den nötigen Betrag durch Prostitution auf einer Prostitutionsreise zu verdienen. Sie unterwarf sich für einen kurzen Zeitraum von Prostitutionsreisen freiwillig dem Geschäftsmodell der Angeklagten.III.1. Die auf die Sachrüge gestützte Revision der Angeklagten führt lediglich zu einer Abänderung des Schuldspruchs im Hinblick auf eine unrichtige Bezeichnung eines der verwirklichten Straftatbestände. Der Schuldspruch ist dahingehend abzuändern, dass die Angeklagte in den beiden als "schwere Körperverletzung" bezeichneten Fällen der Körperverletzung wegen "gefährlicher Körperverletzung" schuldig ist.2. Im Übrigen hat die Nachprüfung des Urteils auf die Sachrüge keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben.a) Die Feststellungen werden von einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung getragen.b) Soweit das Landgericht davon ausgegangen ist, dass die Hinterziehung von Einkommensteuer 2014 und Umsatzsteuer 2014 tateinheitlich begangen wurde, weil die Angeklagte die Steuererklärungen zum selben Zeitpunkt abgab und in diesen übereinstimmende Unrichtigkeiten zu den Steuergrundlagen enthalten waren, steht dies zwar nicht im Einklang mit der geänderten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu den Konkurrenzen in Fällen der Steuerhinterziehung (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Januar 2018 - 1 StR 535/17, NZWiSt 2019, 28, 29 ff.). Der Senat kann aber ausschließen, dass das Landgericht eine andere Gesamtstrafe verhängt hätte, wenn es insoweit von Tatmehrheit (§ 53 StGB) statt von Tateinheit (§ 52 StGB) ausgegangen wäre. Die unrichtige Beurteilung des Konkurrenzverhältnisses lässt den Verkürzungsumfang und den Unrechtsgehalt der Taten unberührt.Dasselbe gilt, soweit das Landgericht die Angeklagte für die Nichtabgabe von monatlichen Umsatzsteuervoranmeldungen in den Jahren 2015 und 2016 jeweils wegen selbständiger Taten der Steuerhinterziehung durch Unterlassen (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO) verurteilt und nicht geprüft hat, ob sich die Angeklagte auch wegen Nichtabgabe der Umsatzsteuerjahreserklärungen für die Jahre 2015 und 2016 schuldig gemacht hat. Da eine Verurteilung insoweit nicht erfolgt ist, ist der Unrechtsgehalt der Nichtabgabe der Umsatzsteuervoranmeldungen hierdurch auch nicht als solcher aus Vortaten mitbestraft (vgl. dazu BGH, Urteil vom 13. Juli 2017 - 1 StR 536/16, BGHR AO § 370 Abs. 1 Konkurrenzen 25).c) Die Strafzumessung weist keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten auf.IV.Die zuungunsten der Angeklagten eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft, die wirksam auf den Teilfreispruch von den Tatvorwürfen zum Nachteil der Nebenklägerinnen M. und S. sowie der Zeuginnen W. und H. und den nach Auffassung der Revision damit im Zusammenhang ste- henden Schuldspruch wegen Körperverletzungsdelikten beschränkt ist, bleibt ohne Erfolg.1. Die Verfahrensrügen dringen nicht durch.a) Die Rüge, das Landgericht habe den Beweisantrag der Staatsanwaltschaft vom 13. Juni 2017 auf erneute Vernehmung der Zeugin H. rechts- fehlerhaft zurückgewiesen, hat keinen Erfolg.aa) Mit der Rüge beanstandet die Revision der Staatsanwaltschaft die Einstufung der Zeugin H. als völlig ungeeignetes Beweismittel durch das Landgericht. Sie trägt vor, dass die Zeugin bereits am Vortag im Rahmen der Hauptverhandlung vernommen worden sei, während der Befragung durch den Vorsitzenden aber unvermittelt bekundet habe, nun keine weiteren Angaben mehr machen zu wollen. Sie habe der Angeklagten verziehen und werde es außerhalb der Verhandlung mit ihr klären. Es gehöre sich nicht, eine Freundin anzuschwärzen. Nachdem der Vorsitzende sodann die Verhängung eines Ordnungsgeldes von 500 Euro angedroht habe, habe sie erklärt, sie würde auch bei 1.000 Euro bei ihrer Aussageverweigerung bleiben. Es sei dann ein Ordnungsgeld von 300 Euro verhängt worden. Einen vor dem Beweisantrag zunächst gestellten Antrag auf erneute Ladung der Zeugin H. habe das Land- gericht ebenfalls zurückgewiesen. Als Begründung sei dabei genannt worden, dass die Aufklärungspflicht nicht gebiete, die Zeugin zum wiederholten Mal zu laden, um zu versuchen, sie entgegen ihrem Entschluss, nicht mehr auszusagen, zu einer ergänzenden Aussage zu bewegen. Sie habe sich definitiv nach Androhung und Festsetzung eines Ordnungsgeldes entschieden, nicht weiter auszusagen. Zuvor sei sie bereits durch den Vorsitzenden in einer ca. 45 Minuten dauernden Befragung umfangreich vernommen worden. Zudem habe die Zeugin Wy. als Begleiterin der Angeklagten und der Zeugin H. bei der Reise im April/Mai 2016 zu den Arbeitsbedingungen und der persönlichen Beziehung zwischen der Angeklagten und der Zeugin H. eingehend ausge- sagt.Die Staatsanwaltschaft vertritt in ihrer Revision die Auffassung, das Landgericht hätte die Zeugin H. bei dieser Sachlage nicht als völlig unge- eignetes Beweismittel im Sinne des § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO behandeln dürfen, ohne vorher gegen sie gemäß § 70 Abs. 2 StPO Beugehaft anzudrohen und erforderlichenfalls auch zu verhängen.bb) Es bestehen bereits Bedenken, ob die Rüge den Darlegungsanforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügt.Nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO sind bei Verfahrensrügen die auf die jeweilige Angriffsrichtung bezogenen Verfahrenstatsachen so vorzutragen, dass das Revisionsgericht allein anhand der Revisionsbegründung die einzelnen Rügen darauf überprüfen kann, ob ein Verfahrensfehler vorliegen würde, wenn die behaupteten Tatsachen erwiesen wären (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 2. November 2010 - 1 StR 544/09, BGHR StPO § 344 Abs. 2 Satz 2 Anforderungen 1 mwN).Wird in der Revision die Ablehnung eines Antrags auf Vernehmung eines bereits angehörten Zeugen geltend gemacht, muss mitgeteilt werden, dass und wozu der Zeuge in der Hauptverhandlung bereits ausgesagt hat. Denn nur dann kann geprüft werden, ob es sich nicht um einen bloßen Antrag auf Wiederholung einer bereits durchgeführten Beweisaufnahme oder auf Feststellung ihres Inhalts handelt (vgl. BGH, Beschluss vom 1. Juni 2015 - 4 StR 21/15, NStZ 2015, 540, 541). Die Revision der Staatsanwaltschaft versäumt es hier, darzulegen, wozu die Zeugin H. bereits ausgesagt hat. Sie trägt lediglich vor, die Zeugin sei noch nicht abschließend zu allen Themenkomplexen, zu denen sie im Zusammenhang mit den angeklagten Taten Angaben hätte machen können, gehört worden, und benennt die ihrer Auffassung nach noch aufklärungsbedürftigen Umstände. Sie teilt aber nicht mit, dass die Zeugin H. in ihrer Ver- nehmung bekundet hatte, sich im Januar 2016 bei einer A. prostituiert zu haben, und legt im Rahmen dieser Rüge auch den von einer Sitzungsstaatsanwältin zur Vernehmung der Zeugin H. verfassten Gedächtnisvermerk (RB S. 59) nicht vor.cc) Die Rüge ist jedenfalls unbegründet.Als völlig ungeeignet im Sinne von § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO ist ein Beweismittel nur dann einzustufen, wenn das Gericht ohne Rücksicht auf das bisher gewonnene Beweisergebnis feststellen kann, dass sich mit ihm das in dem Beweisantrag in Aussicht gestellte Ergebnis nach sicherer Lebenserfahrung nicht erzielen lässt. Die absolute Ungeeignetheit des Beweismittels muss sich dabei aus dem Beweismittel im Zusammenhang mit der Beweisbehauptung selbst ergeben (vgl. BGH, Beschlüsse vom 27. Mai 2009 - 1 StR 218/09, NStZ 2010, 52 und vom 6. März 2008 - 5 StR 617/07, NStZ 2008, 351, 352, jeweils mwN).Ausgehend von diesen Maßstäben ist die Ablehnung des Beweisantrages rechtlich nicht zu beanstanden. Das Landgericht hat sich unter sorgfältiger Berücksichtigung der besonderen Umstände die durch Tatsachen belegte Überzeugung verschafft, dass die Zeugin H. nicht mehr zu verwertbaren sachdienlichen Angaben bereit sein werde. Das Landgericht hat deshalb die Zeugin rechtsfehlerfrei als völlig ungeeignetes Beweismittel angesehen (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Oktober 1981 - 3 StR 140/81 (S), juris).In Fällen einer angekündigten Aussageverweigerung muss der Tatrichter alle gebotenen Schritte unternehmen, um sich von der Irrtumsfreiheit, Ernsthaftigkeit und Endgültigkeit der Weigerung zu überzeugen (vgl. BGH, Urteil vom 15. Juli 1998 - 2 StR 173/98, BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Ungeeignetheit 18). Diesem Erfordernis ist das Landgericht nachgekommen. Zwar liegt hier nicht der Fall vor, dass ein Zeuge bereits bei mehreren Vernehmungsversuchen an verschiedenen Verhandlungstagen die Aussage verweigert hatte (vgl. BGH, Urteil vom 15. Juli 1998 aaO). Vielmehr hat die Zeugin H. aus der Verneh- mung heraus angegeben, nichts weiter auszusagen. Das Landgericht durfte hier aber deshalb von einer ernsthaften und endgültigen Verweigerung einer weiteren Aussage der Zeugin ausgehen, weil diese in Kenntnis aller Umstände auch unter dem Eindruck eines bereits verhängten Ordnungsgeldes stehend definitiv entschieden hatte, selbst dann nicht weiter auszusagen, wenn noch ein höheres Ordnungsgeld verhängt würde.Das Landgericht war auch nicht gehalten, gemäß § 70 Abs. 2 StPO gegen die Zeugin Beugehaft zu verhängen. Allerdings wird es bei der Prüfung, ob die Weigerung ernsthaft und endgültig ist, für den Tatrichter regelmäßig erforderlich sein, bei bedeutsamen Beweisthemen und gewichtigen Tatvorwürfen zulässige Erzwingungsmaßregeln nicht nur zu verhängen, sondern auch zu vollstrecken (vgl. BGH, Urteil vom 15. Juli 1998 aaO). Die Ermessensentscheidung, im vorliegenden Fall keine Beugehaft gegen die Zeugin zu verhängen, ist jedoch rechtsfehlerfrei. Das Landgericht durfte neben der Entschiedenheit der Aussageverweigerung auch den Umständen Gewicht beimessen, dass die Bedeutung der Aussage der Zeugin angesichts der bereits erfolgten Vernehmung durch den Vorsitzenden und die ergänzenden Angaben der Zeugin Wy. gemindert war und zudem die Aussagen der drei weiteren als Geschädigte vernommenen Zeuginnen Rückschlüsse auf die Verhältnisse und Umstände im Fall der Zeugin H. ermöglichten. Mit entsprechender Begründung hatte das Landgericht bereits zuvor den Antrag auf erneute Ladung der Zeugin zurückgewiesen und dabei darauf hingewiesen, dass die Zeugin durch den Vorsitzenden umfangreich vernommen worden sei und die Zeugin Wy. als Beglei- terin der Angeklagten und der Zeugin H. bei der Prostitutionsreise im April/Mai 2016 zu den Arbeitsbedingungen und der persönlichen Beziehung zwischen der Angeklagten und der Zeugin H. ausgesagt habe. Damit hat das Landgericht in zulässiger Weise von der Verhängung von Beugehaft abgesehen.b) Die Rüge, die Staatsanwaltschaft sei in ihrem Fragerecht aus § 240 Abs. 2 StPO verletzt worden, weil die Zeugin H. ohne vorherige Anhörung der Staatsanwaltschaft entlassen worden sei, ist bereits unzulässig. Sie genügt nicht den Darlegungsanforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO.Die Revision nennt statt konkreter Fragen, zu denen die Zeugin H. noch hätte befragt werden sollen, lediglich Themenkomplexe. Sie legt auch nicht dar, welche Antworten von der Zeugin zu erwarten waren und wie sich diese Antworten auf das Beweisergebnis ausgewirkt hätten. Angesichts der Weigerung der Zeugin, weiter auszusagen, hätte es zudem der Darlegung von Umständen bedurft, aufgrund derer eine Aussagebereitschaft hinsichtlich der durch die Staatsanwaltschaft an sie gerichteten Fragen zu erwarten gewesen wäre.c) Die auf eine Verletzung des § 261 StPO gestützte Rüge, das Landgericht habe es unterlassen, sich im Urteil mit den in der Hauptverhandlung verlesenen Rechnungen der R. GmbH erschöpfend auseinanderzusetzen, ist un- begründet.Die Revision macht geltend, bei umfassender Berücksichtigung dieser Rechnungen über die Kosten der Profile der Prostituierten hätte sich ergeben, dass die Angeklagte den Zeuginnen H. und M. höhere Beträge als geschehen hätte auskehren müssen, was für die Frage einer finanziellen Ausbeutung im Sinne des § 181a Abs. 1 StGB von Bedeutung sei.Damit zeigt sie indes keinen Rechtsfehler in der Beweiswürdigung auf. Das Landgericht hat sich mit den Rechnungen der R. GmbH in dem erforder- lichen Umfang auseinandergesetzt. Die Rechnungen wurden in die - hier zulässige und gebotene - Schätzung der Einkünfte und Umsätze der Angeklagten aus dem Prostitutionsgewerbe eingestellt. Das Landgericht durfte insoweit bei der von ihm vorgenommenen Schätzung den Angaben des als Zeugen gehörten Finanzbeamten P. , die in den Urteilsgründen näher dargelegt sind, fol- gen. Hierbei durfte es insbesondere berücksichtigen, dass die Zahl der Freier geschwankt habe und auch je nach Stadt unterschiedlich groß gewesen sei. Diesen Umstand lässt die Revision der Staatsanwaltschaft außer Betracht, die jeweils von zehn Freiern täglich ausgeht und zudem sämtliche für die Zeiträume der Prostitutionsreisen geschalteten Profile ausnahmslos der Zeugin H. bzw. der Nebenklägerin M. zuweist.2. Auch die Sachrüge bleibt ohne Erfolg. Der Teilfreispruch hält rechtlicher Nachprüfung stand.a) Die Urteilsgründe genügen den Anforderungen an ein freisprechendes Urteil.aa) Ein freisprechendes Urteil muss aus sich heraus verständlich sein und so viele Angaben enthalten, dass dem Revisionsgericht eine sachlichrechtliche Prüfung ermöglicht wird. Hierbei muss das Tatgericht, wenn - wie hier - ein Angeklagter aus tatsächlichen Gründen freigesprochen wird, zunächst diejenigen Tatsachen feststellen, die es für erwiesen erachtet, bevor es in der Beweiswürdigung darlegt, aus welchen Gründen die für einen Schuldspruch erforderlichen weiteren Feststellungen nicht getroffen werden konnten. Dabei hat es vor allem diejenigen Gesichtspunkte zu erörtern, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden (§ 267 Abs. 1 Satz 1 StPO) und die entweder festgestellt oder nicht festgestellt werden können (vgl. BGH, Urteile vom 17. März 2005 - 5 StR 461/04, wistra 2005, 311 und vom 16. Juni 2016 - 1 StR 50/16, juris Rn. 9, jeweils mwN).bb) Diese Anforderungen erfüllt das angefochtene Urteil. Es nennt, untergliedert nach den einzelnen Tatvorwürfen, hinsichtlich derer ein Freispruch erfolgte, jeweils den Tatvorwurf, die diesbezüglich getroffenen Feststellungen sowie die Erwägungen, aufgrund derer keine Verurteilung erfolgen konnte. Bezüglich der getroffenen Feststellungen war das Landgericht nicht gehindert, zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Feststellungen, die Grundlage der Verurteilung wegen der Körperverletzungsdelikte waren, Bezug zu nehmen.b) Die Beweiswürdigung hält rechtlicher Nachprüfung stand.Entgegen der Auffassung der Revision der Staatsanwaltschaft ist die Beweiswürdigung weder lückenhaft noch widersprüchlich. Die von der Strafkammer gezogenen Schlussfolgerungen sind möglich, zwingend brauchen sie nicht zu sein (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 11. Februar 2016 - 3 StR 436/15, juris Rn. 20). Es ist auch nicht geboten, für jede einzelne Feststellung einen Beleg in den Urteilsgründen zu erbringen; denn dies stellt sich letztlich als überflüssige Beweisdokumentation dar (vgl. BGH, Beschluss vom 16. November 2017 - 3 StR 469/17, juris, mwN). Wie bereits bei der Verfahrensrüge betreffend die Rechnungen der R. GmbH dargelegt, ist auch die Beweiswürdigung hinsichtlich der bei den Prostitutionsreisen angefallenen Einnahmen und Ausgaben rechtsfehlerfrei.c) Der Teilfreispruch wird von den Feststellungen getragen.aa) Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen begründen keine Strafbarkeit der Angeklagten wegen Menschenhandels zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung gemäß § 232 Abs. 1 Satz 2 StGB aF.Nach den Feststellungen sind die Nebenklägerin S. sowie die Zeu- ginnen W. und H. nicht im Sinne von § 232 Abs. 1 Satz 2 StGB aF zur Aufnahme oder Fortsetzung der Prostitution gebracht worden, weil sie zu dieser bereits zuvor unabhängig von der Einwirkung der Angeklagten entschlossen waren. Der Umstand, dass von der Angeklagten hinsichtlich bestehender Schulden Rückforderungsansprüche geltend gemacht wurden, reicht für die Tatbestandsverwirklichung nicht aus. Ein omnimodo facturus könnte selbst dann nicht mehr "vom Täter" zu einer bestimmten Handlung gebracht werden, wenn er von diesem bedrängt würde (vgl. LK-StGB/Kudlich, 12. Aufl., § 232 Rn. 25). Soweit die Revision geltend macht, die Zeuginnen seien nicht aus freiem Entschluss (vgl. dazu BGH, Urteil vom 18. April 2007 - 2 StR 571/06, StraFo 2007, 340) der Prostitution nachgegangen, setzt sie sich in Widerspruch zu den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen. Die Zeugin H. hatte nach den Feststellungen zwar "keine rechte Neigung" mehr, sich weiter zu prostituieren, hatte aber nach der Schließung der "St. Bar" keine andere Idee als die, den Betrag für die Rückzahlung der Schulden bei der Angeklagten durch Prostitution zu verdienen. Die Annahme der Revision, die Angeklagte habe eine finanzielle Abhängigkeit der Zeugin bei gleichzeitiger Rückforderung der Schulden zu einem Zeitpunkt geschaffen, zu dem diese nicht mehr in der"St. Bar" arbeiten konnte, was für die Fortsetzung der Prostitution zumin- dest mitursächlich gewesen sei, beruht auf urteilsfremden Erwägungen.bb) Die Feststellungen begründen auch keine Strafbarkeit der Angeklagten wegen ausbeuterischer Zuhälterei gemäß § 181a Abs. 1 Nr. 1 StGB.Der Begriff der Ausbeutung verlangt ein planmäßiges und eigensüchtiges Ausnutzen der Prostitutionsausübung als Erwerbsquelle, das zu einer spürbaren Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage der Prostituierten führt (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 9. April 2002 - 4 StR 66/02, NStZ-RR 2002, 232, 233). Solches hat das Landgericht für die Nebenklägerin M. und die Zeugin H. nicht festgestellt.Zwar stellt ein Einvernehmen mit der Prostituierten für sich allein das Merkmal der Ausbeutung nicht in Frage (vgl. BGH aaO). Das Landgericht hat jedoch nicht festgestellt, dass die Angeklagte über die bloße Partizipation am Erlös hinaus ein Herrschafts- oder Abhängigkeitsverhältnis, d.h. eine überlegene Stellung gegenüber abhängigen Prostituierten, ausgenutzt hat. Soweit die Angeklagte für die Zeuginnen M. und H. Kontakte zu dem Freier "I. ", zu dem 83-jährigen Freier und für die Prostitution in K. Kontakte hergestellt hat, konnten die Prostituierten den hierfür erlangten Erlös behalten. Nach den Feststellungen nahm die Angeklagte auch während der Prostitutionsreisen keine überlegene Stellung gegenüber den Zeuginnen M. und H. ein. Die Aufgaben auf den Prostitutionsreisen waren jeweils im Einvernehmen mit den Zeuginnen arbeitsteilig aufgeteilt und nur auf einen kurzen Zeitraum angelegt.Das Landgericht hat - auf der Grundlage einer saldierenden Betrachtung (vgl. dazu Renzikowski in MüKo-StGB, 3. Aufl., § 181a StGB, Rn. 25) - auch keine spürbare Verschlechterung der Vermögenslage auf Seiten der Zeuginnen M. und H. festgestellt. Vielmehr trat sogar eine Verbesserung der Ver- mögenslage der Zeuginnen ein, weil diese infolge der Prostitutionsreisen von Schulden befreit wurden, die sie zuvor bei der Angeklagten angesammelt hatten.V.Die Revision der Nebenklägerin M. hat keinen Erfolg.1. Das Rechtsmittel ist zulässig. Es ist dahin auszulegen, dass die Nebenklägerin allein beanstandet, die Angeklagte sei rechtsfehlerhaft nicht auch wegen des sie zur Nebenklage berechtigenden Tatvorwurfs der Zuhälterei verurteilt worden.2. Die von der Nebenklägerin erhobene Verfahrensrüge entspricht nicht den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO und ist daher bereits nicht zulässig erhoben.Mit der Verfahrensrüge beanstandet die Nebenklägerin die Verletzung ihrer Rechte als Nebenklägerin und macht einen Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren geltend. Die Revision rügt, die Nebenklägerin habe trotz beantragter umfassender Akteneinsicht nur partielle Akteneinsicht in die polizeilichen Vernehmungsprotokolle erhalten, zudem seien ihr entgegen §§ 201, 203 StPO weder die Anklageschrift noch der Eröffnungsbeschluss übermittelt worden. Darüber hinaus sei ihr die Einsichtnahme in "wesentliche entscheidungserhebliche Mitschnitte" aus Telefonüberwachungsmaßnahmen über Gespräche zwischen der Angeklagten und ihr verwehrt worden.Dies genügt den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO an eine zulässige Verfahrensrüge (vgl. BGH, Beschluss vom 2. November 2010 - 1 StR 544/09, BGHR StPO § 344 Abs. 2 Satz 2 Anforderungen 1 mwN) nicht. Die Revision trägt die Tatsachen, die die seitens der Vertreterin der Nebenklägerin beantragte Akteneinsicht einschließlich der Überlassung der Anklageschrift und des Eröffnungsbeschlusses betreffen, nur unvollständig vor. Sie teilt den mit Verfügung des Vorsitzenden vom 24. Mai 2017 abgelehnten Antrag der Nebenklägervertreterin auf Gewährung von Akteneinsicht vom 18. Mai 2017 ebenso wenig mit wie deren weiteren Antrag vom 31. Mai 2017 auf Übermittlung der Anklageschrift, Überlassung des Eröffnungsbeschlusses und der Besetzungsmitteilung des Gerichts und einer vollständigen Ablichtung der Protokolle der polizeilichen bzw. richterlichen Vernehmung der Nebenklägerin M. sowie diese betreffende Durchsuchungsberichte. Das Schreiben des Vorsitzenden vom 1. Juni 2017, mit dem diesem Antrag teilweise stattgegeben wurde, teilt die Revision ebenfalls nicht mit; sie gibt auch nicht an, welche Vernehmungsprotokolle mit welchem Inhalt daraufhin übermittelt und ob weitere Aktenbestandteile vom Landgericht zur Verfügung gestellt wurden. Der Mitteilung dieser Tatsachen hätte es schon deshalb bedurft, weil - wie die Angeklagte selbst vorträgt - das Akteneinsichtsgesuch zunächst wegen Geheimschutzinteressen der Angeklagten und von möglicherweise Geschädigten (vgl. § 406e Abs. 2 StPO) zurückgewiesen worden war; der Beschluss des Landgerichts vom 24. Mai 2017 weist hierzu ausdrücklich auf die in den Akten enthaltenen Daten zum steuerlichen Verhalten der Angeklagten sowie zu intimen Daten einer Vielzahl weiterer Personen hin, darunter solcher der Zeuginnen S. , W. , H. und Wy. . Ohne Kenntnis von diesen Tatsachen kann der Senat nicht prüfen, ob die behaupteten Verfahrensfehler vorliegen. Soweit mit der Verfahrensrüge geltend gemacht wird, der Nebenklägerin sei die Einsichtnahme in aufgezeichnete Telefongespräche verwehrt worden, fehlt es für die Zulässigkeit der Beanstandung zudem an der Darlegung des wesentlichen Inhalts dieser Gespräche. Soweit die Revision beanstandet, der Nebenklägerin seien die Anklageschrift und der Eröffnungsbeschluss nicht mitgeteilt worden, fehlt es schließlich an der erforderlichen Mitteilung, dass sowohl die Anklageschrift als auch der Eröffnungsbeschluss in der Hauptverhandlung verlesen wurden.3. Auch die Sachrüge bleibt ohne Erfolg. Der Freispruch der Angeklagten vom Vorwurf der Zuhälterei betreffend die Nebenklägerin M. aus tatsäch- lichen Gründen ist rechtlich nicht zu beanstanden.Den Anforderungen an ein freisprechendes Urteil genügen die Urteilsgründe. Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen rechtfertigen keine Verurteilung der Angeklagten wegen ausbeuterischer Zuhälterei zum Nachteil der Nebenklägerin M. gemäß § 181a Abs. 1 Nr. 1 StGB. Wegen der Einzelhei- ten wird auf die Ausführungen zur Revision der Staatsanwaltschaft verwiesen.Entgegen der Auffassung der Revision der Nebenklägerin - insoweit über das Vorbringen der Staatsanwaltschaft hinaus - rechtfertigen die Feststellungen auch keine Verurteilung wegen dirigierender Zuhälterei gemäß § 181a Abs. 1 Nr. 2 StGB. Der Tatbestand der dirigierenden Zuhälterei setzt in allen Begehungsweisen eine bestimmende Einflussnahme auf die Prostitutionsausübung voraus; eine bloße Unterstützung reicht nicht. Das Verhalten muss vielmehr geeignet sein, die Prostituierte in Abhängigkeit vom Täter zu halten, ihre Selbstbestimmung zu beeinträchtigen, sie zu nachhaltigerer Prostitutionsausübung anzuhalten oder ihre Entscheidungsfreiheit in sonstiger Weise nachhaltig zu beeinflussen (vgl. BGH, Beschluss vom 9. April 2002 - 4 StR 66/02, NStZ-RR 2002, 232 mwN).Dies war hier nicht der Fall. Nach den Feststellungen wurden die Prostitutionsreisen einvernehmlich durchgeführt, nachdem die Nebenklägerin M. , der das Geschäftsmodell der Angeklagten bekannt geworden war, dieser vorgeschlagen hatte, gemeinsam auf Prostitutionsreise zu gehen. Die ohrfeigenähnlichen Schläge, die die Angeklagte der Nebenklägerin auf diesen Reisen versetzte, dienten nicht dazu, die Nebenklägerin, die ohnehin durchgehend zur Prostitution bereit war, im Hinblick auf die Prostitution gefügig zu machen oder zu halten. Vielmehr reagierte nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen die zu Gewaltausbrüchen neigende Angeklagte auf diese Weise lediglich spontan ihren Jähzorn ab. Die Angeklagte hat somit die Nebenklägerin M. weder überwacht noch Zeit, Ort, Ausmaß oder andere Umstände der Prostitutionsausübung bestimmt noch Maßnahmen getroffen, die die Nebenklägerin davon abhalten sollten, die Prostitution aufzugeben. Soweit die Revision geltend macht, die Nebenklägerin M. habe mangels anderweitiger Erwerbsquellen gar keine andere Möglichkeit gehabt, als die bei der Angeklagten angehäuften Schulden in der festgestellten Weise bei der Angeklagten abzuarbeiten, ergibt sich daraus nichts anderes.VI.Die sofortige Beschwerde der Nebenklägerin M. gegen die Kosten- entscheidung im vorbezeichneten Urteil ist zu verwerfen, weil diese Entscheidung der Sach- und Rechtslage entspricht.Das Landgericht hat der Angeklagten lediglich die Hälfte der Auslagen der Nebenklägerin auferlegt. Dies ist rechtlich nicht zu beanstanden. Die Angeklagte wurde lediglich wegen eines Teils der die Nebenklägerin M. betref- fenden Taten verurteilt. Mithin war ihr auch nur ein dem entsprechender Anteil der Kosten aufzuerlegen (§ 472 Abs. 1 Satz 1 StPO).VII.Die Kosten- und Auslagenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 und 2 StPO. Auch angesichts des geringfügigen Teilerfolgs der Revision der Angeklagten in Form der Abänderung des Schuldspruchs wegen unrichtiger Bezeichnung zweier Fälle der gefährlichen Körperverletzung als schwere Körperverletzung, ist es nicht unbillig im Sinne des § 473 Abs. 4 StPO, die Angeklagte mit den gesamten Kosten ihres Rechtsmittels zu belasten.Raum Jäger Bellay Fischer Pernice
bundesgerichtshof
bag_9-22
24.02.2022
24.02.2022 9/22 - Persönliche Assistenz für Menschen mit Behinderungen - Diskriminierung wegen des Alters? Die Parteien streiten über die Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG*. Die Beklagte ist ein Assistenzdienst. Sie bietet Menschen mit Behinderungen Beratung, Unterstützung sowie Assistenzleistungen in verschiedenen Bereichen des Lebens (sog. Persönliche Assistenz) an. Assistenzleistungen nach § 78 SGB IX werden für Menschen mit Behinderungen zur selbstbestimmten und eigenständigen Bewältigung des Alltags einschließlich der Tagesstrukturierung erbracht. Sie umfassen insbesondere Leistungen für die allgemeinen Erledigungen des Alltags wie die Haushaltsführung, die Gestaltung sozialer Beziehungen, die persönliche Lebensplanung, die Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben, die Freizeitgestaltung einschließlich sportlicher Aktivitäten sowie die Sicherstellung der Wirksamkeit der ärztlichen und ärztlich verordneten Leistungen. Sie beinhalten die Verständigung mit der Umwelt in diesen Bereichen. Assistenzleistungen, die oft von mehreren Personen in Schichten, teilweise rund um die Uhr, geleistet werden, können von einem Assistenz- oder Pflegedienst erbracht oder durch die leistungsberechtigte assistenznehmende Person – im sog. Arbeitgebermodell – selbst organisiert werden. Die Kosten werden in beiden Fällen vom zuständigen öffentlich-rechtlichen Leistungs-/Kostenträger getragen. Ausweislich des von der Beklagten im Juli 2018 veröffentlichten Stellenangebots suchte eine 28jährige Studentin „weibliche Assistentinnen“ in allen Lebensbereichen des Alltags, die „am besten zwischen 18 und 30 Jahre alt sein“ sollten. Die im März 1968 geborene Klägerin bewarb sich am 5. August 2018 ohne Erfolg auf diese Stellenausschreibung. Mit ihrer Klage hat die Klägerin die Beklagte auf Zahlung einer Entschädigung in Anspruch genommen. Sie hat die Auffassung vertreten, die Beklagte habe sie im Bewerbungsverfahren entgegen den Vorgaben des AGG wegen ihres Alters benachteiligt und sei ihr deshalb nach § 15 Abs. 2 AGG zur Zahlung einer Entschädigung verpflichtet. Die ausdrücklich an Assistentinnen im Alter „zwischen 18 und 30“ Jahren gerichtete Stellenausschreibung der Beklagten begründe die Vermutung, dass sie, die Klägerin bei der Stellenbesetzung wegen ihres – höheren – Alters nicht berücksichtigt und damit wegen ihres Alters diskriminiert worden sei. Die unterschiedliche Behandlung wegen des Alters sei bei Leistungen der Assistenz nach § 78 SGB IX unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt gerechtfertigt. Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Ansicht vertreten, die Ungleichbehandlung wegen des Alters sei nach dem AGG gerechtfertigt. Bei der Beurteilung einer etwaigen Rechtfertigung seien nicht nur die Bestimmungen des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK), sondern auch zu berücksichtigen, dass die eine persönliche Assistenz in Anspruch nehmenden Leistungsberechtigten nach § 8 Abs. 1 SGB IX** ein Wunsch- und Wahlrecht auch im Hinblick auf das Alter der Assistenten/innen hätten. Nur so sei eine selbstbestimmte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zu erreichen. Das Arbeitsgericht hat der Klage teilweise stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung der Beklagten die Klage vollständig abgewiesen. Mit ihrer Revision verfolgt die Klägerin ihr Begehren auf Zahlung einer Entschädigung weiter. Die Beklagte begehrt die Zurückweisung der Revision. Da die Entscheidung des Rechtsstreits davon abhängt, ob die durch die Stellenausschreibung bewirkte unmittelbare Benachteiligung wegen des Alters nach den Bestimmungen des AGG gerechtfertigt ist und sich im Hinblick auf die Auslegung dieser Bestimmungen in Übereinstimmung mit den Vorgaben der Richtlinie 2000/78/EG Fragen der Auslegung von Unionsrecht stellen, ersucht der Achte Senat des Bundesarbeitsgerichts den Gerichtshof der Europäischen Union, die folgende Frage zu beantworten: Können Art. 4 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1, Art. 7 und/oder Art. 2 Abs. 5 der Richtlinie 2000/78/EG – im Licht der Vorgaben der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Charta) sowie im Licht von Art. 19 des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) – dahin ausgelegt werden, dass in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens eine unmittelbare Benachteiligung wegen des Alters gerechtfertigt werden kann? Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 24. Februar 2022 – 8 AZR 208/21 (A) – Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Köln, Urteil vom 27. Mai 2020 – 11 Sa 284/19 – *§ 15 AGG (1) Bei einem Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot ist der Arbeitgeber verpflichtet, den hierdurch entstandenen Schaden zu ersetzen. … (2) Wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, kann der oder die Beschäftigte eine angemessene Entschädigung in Geld verlangen. Die Entschädigung darf bei einer Nichteinstellung drei Monatsgehälter nicht übersteigen, wenn der oder die Beschäftigte auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre. **§ 8 Abs. 1 SGB IX Bei der Entscheidung über die Leistungen und bei der Ausführung der Leistungen zur Teilhabe wird berechtigten Wünschen des Leistungsberechtigten entsprochen. Dabei wird auch auf die persönliche Lebenssituation, das Alter, das Geschlecht, die Familie sowie die religiösen und weltanschaulichen Bedürfnisse der Leistungsberechtigten Rücksicht genommen; …
Tenor I. Der Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Art. 267 AEUV um Vorabentscheidung über die Frage ersucht: Können Art. 4 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1, Art. 7 und/oder Art. 2 Abs. 5 der Richtlinie 2000/78/EG – im Licht der Vorgaben der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Charta) sowie im Licht von Art. 19 des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) – dahin ausgelegt werden, dass in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens eine unmittelbare Benachteiligung wegen des Alters gerechtfertigt werden kann? II. Das Revisionsverfahren wird bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über das Vorabentscheidungsersuchen ausgesetzt. Leitsatz Der Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Art. 267 AEUV um Vorabentscheidung über die Frage ersucht: Können Art. 4 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1, Art. 7 und/oder Art. 2 Abs. 5 der Richtlinie 2000/78/EG – im Licht der Vorgaben der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Charta) sowie im Licht von Art. 19 des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) – dahin ausgelegt werden, dass in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens eine unmittelbare Benachteiligung wegen des Alters gerechtfertigt werden kann? Entscheidungsgründe 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1, Art. 7 und Art. 2 Abs. 5 der Richtlinie 2000/78/EG im Licht von Art. 19 des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (im Folgenden UN-BRK) sowie im Licht der Vorgaben der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden Charta). 2 Das Vorabentscheidungsersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Klägerin und einem Assistenzdienst, der Menschen mit Behinderung Beratung, Unterstützung und Leistungserbringung anbietet (im Folgenden Beklagte). Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin wegen einer Benachteiligung wegen ihres Alters im Rahmen eines Stellenbesetzungsverfahrens eine Entschädigung zu zahlen. A. Rechtlicher Rahmen I. Völkerrecht 3 In der UN-BRK heißt es auszugsweise:          „Präambel          Die Vertragsstaaten dieses Übereinkommens –          …                 c) bekräftigend, dass alle Menschenrechte und Grundfreiheiten allgemein gültig und unteilbar sind, einander bedingen und miteinander verknüpft sind und dass Menschen mit Behinderungen der volle Genuss dieser Rechte und Freiheiten ohne Diskriminierung garantiert werden muss,          …                 h) ebenso in der Erkenntnis, dass jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung eine Verletzung der Würde und des Wertes darstellt, die jedem Menschen innewohnen,          …                 j) in Anerkennung der Notwendigkeit, die Menschenrechte aller Menschen mit Behinderungen, einschließlich derjenigen, die intensivere Unterstützung benötigen, zu fördern und zu schützen,          …                 n) in der Erkenntnis, wie wichtig die individuelle Autonomie und Unabhängigkeit für Menschen mit Behinderungen ist, einschließlich der Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen,          …                                   haben Folgendes vereinbart:                            Artikel 1          Zweck           Zweck dieses Übereinkommens ist es, den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern.                            …                                   Artikel 3          Allgemeine Grundsätze          Die Grundsätze dieses Übereinkommens sind:          a)     die Achtung der dem Menschen innewohnenden Würde, seiner individuellen Autonomie, einschließlich der Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, sowie seiner Unabhängigkeit;          b)     die Nichtdiskriminierung;          c)     die volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und Einbeziehung in die Gesellschaft;          d)     die Achtung vor der Unterschiedlichkeit von Menschen mit Behinderungen und die Akzeptanz dieser Menschen als Teil der menschlichen Vielfalt und der Menschheit;          …                                   Artikel 5          Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung          (1) Die Vertragsstaaten anerkennen, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, vom Gesetz gleich zu behandeln sind und ohne Diskriminierung Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz und gleiche Vorteile durch das Gesetz haben.          …                 (4) Besondere Maßnahmen, die zur Beschleunigung oder Herbeiführung der tatsächlichen Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderungen erforderlich sind, gelten nicht als Diskriminierung im Sinne dieses Übereinkommens.          …                                   Artikel 12          Gleiche Anerkennung vor dem Recht          …                 (2) Die Vertragsstaaten anerkennen, dass Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen gleichberechtigt mit anderen Rechts- und Handlungsfähigkeit genießen.          …                                   Artikel 19          Unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft          Die Vertragsstaaten dieses Übereinkommens anerkennen das gleiche Recht aller Menschen mit Behinderungen, mit gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen in der Gemeinschaft zu leben, und treffen wirksame und geeignete Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen den vollen Genuss dieses Rechts und ihre volle Einbeziehung in die Gemeinschaft und Teilhabe an der Gemeinschaft zu erleichtern, indem sie unter anderem gewährleisten, dass          a)     Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben;          b)     Menschen mit Behinderungen Zugang zu einer Reihe von gemeindenahen Unterstützungsdiensten zu Hause und in Einrichtungen sowie zu sonstigen gemeindenahen Unterstützungsdiensten haben, einschließlich der persönlichen Assistenz, die zur Unterstützung des Lebens in der Gemeinschaft und der Einbeziehung in die Gemeinschaft sowie zur Verhinderung von Isolation und Absonderung von der Gemeinschaft notwendig ist;          c)     gemeindenahe Dienstleistungen und Einrichtungen für die Allgemeinheit Menschen mit Behinderungen auf der Grundlage der Gleichberechtigung zur Verfügung stehen und ihren Bedürfnissen Rechnung tragen.“ II. Unionsrecht 4 In der Charta ist unter anderem bestimmt:          „Artikel 1          Würde des Menschen          Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.                            …                                   Artikel 7          Achtung des Privat- und Familienlebens          Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihrer Kommunikation.          …                                   Artikel 21          Nichtdiskriminierung          (1) Diskriminierungen insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung sind verboten.          …                                   Artikel 26          Integration von Menschen mit Behinderung          Die Union anerkennt und achtet den Anspruch von Menschen mit Behinderung auf Maßnahmen zur Gewährleistung ihrer Eigenständigkeit, ihrer sozialen und beruflichen Eingliederung und ihrer Teilnahme am Leben der Gemeinschaft.“ 5 In der Richtlinie 2000/78/EG heißt es auszugsweise:          „Artikel 1                   Zweck                    Zweck dieser Richtlinie ist die Schaffung eines allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten.                                     Artikel 2          Der Begriff ‚Diskriminierung‘          …                 (5) Diese Richtlinie berührt nicht die im einzelstaatlichen Recht vorgesehenen Maßnahmen, die in einer demokratischen Gesellschaft für die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit, die Verteidigung der Ordnung und die Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit und zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig sind.                   …                                                     Artikel 4          Berufliche Anforderungen          (1) Ungeachtet des Artikels 2 Absätze 1 und 2 können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass eine Ungleichbehandlung wegen eines Merkmals, das im Zusammenhang mit einem der in Artikel 1 genannten Diskriminierungsgründe steht, keine Diskriminierung darstellt, wenn das betreffende Merkmal aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt.                   …                                                     Artikel 5          Angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderung          Um die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes auf Menschen mit Behinderung zu gewährleisten, sind angemessene Vorkehrungen zu treffen. …                                              Artikel 6                   Gerechtfertigte Ungleichbehandlung wegen des Alters                   (1) Ungeachtet des Artikels 2 Absatz 2 können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass Ungleichbehandlungen wegen des Alters keine Diskriminierung darstellen, sofern sie objektiv und angemessen sind und im Rahmen des nationalen Rechts durch ein legitimes Ziel, worunter insbesondere rechtmäßige Ziele aus den Bereichen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt und berufliche Bildung zu verstehen sind, gerechtfertigt sind und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind.                   Derartige Ungleichbehandlungen können insbesondere Folgendes einschließen:                   a)     die Festlegung besonderer Bedingungen für den Zugang zur Beschäftigung und zur beruflichen Bildung sowie besonderer Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, einschließlich der Bedingungen für Entlassung und Entlohnung, um die berufliche Eingliederung von Jugendlichen, älteren Arbeitnehmern und Personen mit Fürsorgepflichten zu fördern oder ihren Schutz sicherzustellen;          b)     die Festlegung von Mindestanforderungen an das Alter, die Berufserfahrung oder das Dienstalter für den Zugang zur Beschäftigung oder für bestimmte mit der Beschäftigung verbundene Vorteile;          c)     die Festsetzung eines Höchstalters für die Einstellung aufgrund der spezifischen Ausbildungsanforderungen eines bestimmten Arbeitsplatzes oder aufgrund der Notwendigkeit einer angemessenen Beschäftigungszeit vor dem Eintritt in den Ruhestand.          …                                                     Artikel 7                   Positive und spezifische Maßnahmen                   (1) Der Gleichbehandlungsgrundsatz hindert die Mitgliedstaaten nicht daran, zur Gewährleistung der völligen Gleichstellung im Berufsleben spezifische Maßnahmen beizubehalten oder einzuführen, mit denen Benachteiligungen wegen eines in Artikel 1 genannten Diskriminierungsgrunds verhindert oder ausgeglichen werden.                   (2) Im Falle von Menschen mit Behinderung steht der Gleichbehandlungsgrundsatz weder dem Recht der Mitgliedstaaten entgegen, Bestimmungen zum Schutz der Gesundheit und der Sicherheit am Arbeitsplatz beizubehalten oder zu erlassen, noch steht er Maßnahmen entgegen, mit denen Bestimmungen oder Vorkehrungen eingeführt oder beibehalten werden sollen, die einer Eingliederung von Menschen mit Behinderung in die Arbeitswelt dienen oder diese Eingliederung fördern.“          III. Nationales Recht 6 Im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (im Folgenden GG) ist unter anderem bestimmt:          „Artikel 1          (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.          (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.          …                                   Artikel 2          (1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.          …“     7 Die einschlägigen Bestimmungen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (im Folgenden AGG) lauten:          „§ 1             Ziel des Gesetzes          Ziel des Gesetzes ist, Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen.          …                 § 3               Begriffsbestimmungen          (1) Eine unmittelbare Benachteiligung liegt vor, wenn eine Person wegen eines in § 1 genannten Grundes eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde. …                            § 5               Positive Maßnahmen          Ungeachtet der in den §§ 8 bis 10 … benannten Gründe ist eine unterschiedliche Behandlung auch zulässig, wenn durch geeignete und angemessene Maßnahmen bestehende Nachteile wegen eines in § 1 genannten Grundes verhindert oder ausgeglichen werden sollen.          …                 § 7               Benachteiligungsverbot          (1) Beschäftigte dürfen nicht wegen eines in § 1 genannten Grundes benachteiligt werden; …          § 8               Zulässige unterschiedliche Behandlung wegen beruflicher Anforderungen          (1) Eine unterschiedliche Behandlung wegen eines in § 1 genannten Grundes ist zulässig, wenn dieser Grund wegen der Art der auszuübenden Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern der Zweck rechtmäßig und die Anforderung angemessen ist.          …                 § 10             Zulässige unterschiedliche Behandlung wegen des Alters          Ungeachtet des § 8 ist eine unterschiedliche Behandlung wegen des Alters auch zulässig, wenn sie objektiv und angemessen und durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt ist. Die Mittel zur Erreichung dieses Ziels müssen angemessen und erforderlich sein. Derartige unterschiedliche Behandlungen können insbesondere Folgendes einschließen:                   1.     die Festlegung besonderer Bedingungen für den Zugang zur Beschäftigung und zur beruflichen Bildung sowie besonderer Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, einschließlich der Bedingungen für Entlohnung und Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses, um die berufliche Eingliederung von Jugendlichen, älteren Beschäftigten und Personen mit Fürsorgepflichten zu fördern oder ihren Schutz sicherzustellen,          2.     die Festlegung von Mindestanforderungen an das Alter, die Berufserfahrung oder das Dienstalter für den Zugang zur Beschäftigung oder für bestimmte mit der Beschäftigung verbundene Vorteile,          3.     die Festsetzung eines Höchstalters für die Einstellung auf Grund der spezifischen Ausbildungsanforderungen eines bestimmten Arbeitsplatzes oder auf Grund der Notwendigkeit einer angemessenen Beschäftigungszeit vor dem Eintritt in den Ruhestand,          …                          § 15             Entschädigung und Schadensersatz          (1) Bei einem Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot ist der Arbeitgeber verpflichtet, den hierdurch entstandenen Schaden zu ersetzen. …          (2) Wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, kann der oder die Beschäftigte eine angemessene Entschädigung in Geld verlangen. …“ 8 Im Sozialgesetzbuch Erstes Buch – Allgemeiner Teil – (im Folgenden SGB I) heißt es auszugsweise:          „§ 33           Ausgestaltung von Rechten und Pflichten          Ist der Inhalt von Rechten oder Pflichten nach Art oder Umfang nicht im einzelnen bestimmt, sind bei ihrer Ausgestaltung die persönlichen Verhältnisse des Berechtigten oder Verpflichteten, sein Bedarf und seine Leistungsfähigkeit sowie die örtlichen Verhältnisse zu berücksichtigen, soweit Rechtsvorschriften nicht entgegenstehen. Dabei soll den Wünschen des Berechtigten oder Verpflichteten entsprochen werden, soweit sie angemessen sind.“ 9 Im Sozialgesetzbuch Neuntes Buch – Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen – (im Folgenden SGB IX) ist unter anderem bestimmt:          „§ 8             Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten          (1) Bei der Entscheidung über die Leistungen und bei der Ausführung der Leistungen zur Teilhabe wird berechtigten Wünschen der Leistungsberechtigten entsprochen. Dabei wird auch auf die persönliche Lebenssituation, das Alter, das Geschlecht, die Familie sowie die religiösen und weltanschaulichen Bedürfnisse der Leistungsberechtigten Rücksicht genommen; im Übrigen gilt § 33 des Ersten Buches. …          § 78             Assistenzleistungen          (1) Zur selbstbestimmten und eigenständigen Bewältigung des Alltages einschließlich der Tagesstrukturierung werden Leistungen für Assistenz erbracht. Sie umfassen insbesondere Leistungen für die allgemeinen Erledigungen des Alltags wie die Haushaltsführung, die Gestaltung sozialer Beziehungen, die persönliche Lebensplanung, die Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben, die Freizeitgestaltung einschließlich sportlicher Aktivitäten sowie die Sicherstellung der Wirksamkeit der ärztlichen und ärztlich verordneten Leistungen. Sie beinhalten die Verständigung mit der Umwelt in diesen Bereichen.          …“     B. Das Ausgangsverfahren 10 Die Beklagte bietet Menschen mit Behinderung unter anderem Assistenzleistungen in verschiedenen Bereichen des Lebens (sog. Persönliche Assistenz) an. Diese Leistungen werden gemäß § 78 Abs. 1 SGB IX zur selbstbestimmten und eigenständigen Bewältigung des Alltags einschließlich der Tagesstrukturierung erbracht und umfassen insbesondere Leistungen für die allgemeinen Erledigungen des Alltags wie die Haushaltsführung, die Gestaltung sozialer Beziehungen, die persönliche Lebensplanung, die Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben, die Freizeitgestaltung einschließlich sportlicher Aktivitäten. Sie beinhalten die Verständigung mit der Umwelt in diesen Bereichen. Im Einklang mit Art. 19 UN-BRK ist mit diesen Assistenzleistungen das gleiche Recht aller Menschen mit Behinderungen zu gewährleisten, mit gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen in der Gemeinschaft zu leben und dabei unter anderem die Entscheidungsmöglichkeit zu haben, wo und mit wem sie leben. Im Rahmen der Persönlichen Assistenz ist sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderung in den vollen Genuss dieses Rechts kommen und dabei ihre volle Einbeziehung in die Gemeinschaft und Teilhabe an der Gemeinschaft erleichtert wird. 11 Die Beklagte veröffentlichte im Juli 2018 ein Stellenangebot, wonach die 28-jährige Studentin A. weibliche Assistentinnen in allen Lebensbereichen des Alltags suchte, die „am besten zwischen 18 und 30 Jahre alt sein“ sollten. 12 Die im März 1968 geborene Klägerin bewarb sich auf diese Stellenausschreibung und erhielt von der Beklagten eine Absage. Nach erfolgloser außergerichtlicher Geltendmachung hat die Klägerin die Beklagte mit ihrer Klage auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG in Anspruch genommen. 13 Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, die Beklagte habe sie im Bewerbungsverfahren entgegen den Vorgaben des AGG wegen ihres Alters benachteiligt und sei ihr deshalb nach § 15 Abs. 2 AGG zur Zahlung einer Entschädigung verpflichtet. Die ausdrücklich an Assistentinnen im Alter „zwischen 18 und 30 Jahren“ gerichtete Stellenausschreibung der Beklagten begründe die Vermutung, dass sie, die Klägerin, im Bewerbungsverfahren wegen ihres – höheren – Alters nicht berücksichtigt und damit diskriminiert worden sei. Die Beklagte habe diese Vermutung auch nicht widerlegt. Die unterschiedliche Behandlung wegen des Alters sei im Assistenzdienst unter keinem Gesichtspunkt gerechtfertigt. Sie sei weder nach § 8 Abs. 1 AGG noch nach § 10 AGG zulässig. Ein bestimmtes Alter sei für das Vertrauensverhältnis im Assistenzdienst nicht von Relevanz; im Gegenteil, in einem Fall wie hier könne die Persönliche Assistenz durch einen Menschen mittleren Alters aufgrund größerer Lebenserfahrung erhebliche Vorteile für den behinderten Menschen haben. Bei benachteiligungsfreier Auswahlentscheidung hätte sie, die Klägerin, die Stelle erhalten müssen. Sie habe Erfahrung und sei für die ausgeschriebene Stelle bestens geeignet gewesen. 14 Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Ansicht vertreten, eine etwaige Ungleichbehandlung wegen des Alters sei nach § 8 Abs. 1 AGG bzw. nach § 10 AGG gerechtfertigt. Die Assistenztätigkeit betreffe eine höchstpersönliche, allumfassende Alltagsbegleitung mit einer in der Regel ständigen und vollkommenen Abhängigkeit der assistenznehmenden Person von der Assistenzperson und ein ständiges Zusammensein. Im vorliegenden Fall sei ein bestimmtes Alter eine höchstpersönliche Voraussetzung zur Befriedigung der höchstpersönlichen Bedürfnisse der Assistenznehmerin A., damit diese adäquat am sozialen Leben als Studentin an einer Universität teilnehmen könne. 15 Beim Zugang von Menschen mit Behinderung zur Persönlichen Assistenz müsse – wie § 8 Abs. 1 SGB IX dies vorsehe – den berechtigten Wünschen und subjektiven Bedürfnissen der jeweiligen assistenznehmenden Person Rechnung getragen werden, da diese durch die Persönliche Assistenz ständig in ihrer Privat- und Intimsphäre betroffen werde. Vor diesem Hintergrund sei der berechtigte Wunsch der assistenznehmenden Person nach einem bestimmten Alter der Persönlichen Assistenz als wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung im Sinne von § 8 Abs. 1 AGG anzusehen. Nur so könne der in § 78 Abs. 1 SGB IX angeführte Zweck der Assistenzleistungen, der Ausfluss des durch das Grundgesetz geschützten Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 GG) sei, erreicht werden. Die Anforderung sei auch angemessen. Eine unterschiedliche Behandlung wegen des Alters sei hier auch nach § 10 AGG zulässig, da sie objektiv und angemessen und durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt sei und die Mittel zur Erreichung des Ziels der Persönlichen Assistenz im Sinne von § 78 SGB IX angemessen und erforderlich seien. C. Vorbemerkungen I. Zum Ausgangspunkt des Vorabentscheidungsersuchens 16 Der Senat geht davon aus, dass eine Situation wie die des Ausgangsverfahrens grundsätzlich in den Geltungsbereich der Richtlinie 2000/78/EG fällt, da sie Auswahlkriterien für den Zugang zu Erwerbstätigkeit im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchstabe a der Richtlinie 2000/78/EG betrifft. Die Charta findet auf einen Rechtsstreit wie den des Ausgangsverfahrens Anwendung, da mit dem AGG die Richtlinie 2000/78/EG im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta im deutschen Recht durchgeführt wird und da der Rechtsstreit eine Person betrifft, die im Rahmen des Zugangs zu einer Beschäftigung eine Ungleichbehandlung wegen ihres Alters erfahren hat (vgl. auch EuGH 17. April 2018 – C-414/16, EU:C:2018:257 – [Egenberger] Rn. 49). 17 Die Klägerin ist durch die Absage der Beklagten unmittelbar benachteiligt worden im Sinne von § 3 Abs. 1 AGG sowie im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchstabe a der Richtlinie 2000/78/EG. Auch hat sie diese unmittelbare Benachteiligung wegen ihres Alters erfahren. Die Stellenausschreibung der Beklagten, mit der eine Person im Alter zwischen ungefähr 18 und 30 Jahren gesucht wurde, begründet die Vermutung, dass das Alter der Klägerin (mit)ursächlich für die Ablehnung war. Diese Vermutung hat die Beklagte nicht widerlegt. 18 Dabei geht der Senat mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs davon aus, dass sich sowohl aus dem Titel und den Erwägungsgründen als auch aus dem Inhalt und der Zielsetzung der Richtlinie 2000/78/EG ergibt, dass diese einen allgemeinen Rahmen schaffen soll, der gewährleistet, dass jeder „in Beschäftigung und Beruf“ gleichbehandelt wird, indem sie dem Betroffenen einen wirksamen Schutz vor Diskriminierungen aus einem der in ihrem Art. 1 genannten Gründe bietet (vgl. etwa EuGH 10. Februar 2022 – C-485/20, EU:C:2022:85 – [HR Rail] Rn. 26 mwN; 21. Oktober 2021 – C-824/19, EU:C:2021:862 – [Komisia za zashtita ot diskriminatsia] Rn. 35; 12. Oktober 2010 – C-499/08, EU:C:2010:600 – [Ingeniørforeningen i Danmark] Rn. 19), zu denen unter anderem das Alter zählt. Die Richtlinie 2000/78/EG konkretisiert in dem von ihr erfassten Bereich das nunmehr in Art. 21 der Charta niedergelegte allgemeine Diskriminierungsverbot (vgl. etwa EuGH 10. Februar 2022 – C-485/20, EU:C:2022:85 – [HR Rail] Rn. 27 mwN; 17. April 2018 – C-414/16, EU:C:2018:257 – [Egenberger] Rn. 47). 19 Nach den Bestimmungen der Richtlinie 2000/78/EG sowie nach Art. 21 der Charta kann die Klägerin, die Beschäftigung sucht, einen wirksamen Schutz vor Diskriminierung wegen ihres Alters beanspruchen. Menschen mit Behinderung, die – wie die 28-jährige Studentin A. – eine Persönliche Assistenz suchen, können nach Art. 21 der Charta einen wirksamen Schutz vor Diskriminierung wegen ihrer Behinderung beanspruchen. Zudem greift zu ihren Gunsten Art. 26 der Charta ein. 20 In diesem Spannungsfeld, in dem sowohl die Klägerin als auch die betroffene Person mit Behinderung Schutz vor Diskriminierung beanspruchen können, hat der Senat zu prüfen, ob im Ausgangsrechtsstreit eine unmittelbare Benachteiligung wegen des Alters gerechtfertigt ist. Wie in der strukturell besonderen Situation der Persönlichen Assistenz das Recht des Menschen mit Behinderung, der Persönliche Assistenz benötigt und eine solche mit einer Stellenausschreibung sucht, und das Recht des Menschen, der – wie die Klägerin des Ausgangsverfahrens – Beschäftigung sucht und dabei nicht diskriminiert werden darf, zum Ausgleich zu bringen sind, kann ohne Vorabentscheidungsersuchen nicht beurteilt werden. Falls die unmittelbare Benachteiligung der Klägerin wegen ihres Alters nicht gerechtfertigt sein sollte, hätte sie einen Anspruch auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG. 21 Soweit der Senat seinen Ausführungen eine bestimmte Auslegung der Bestimmungen der Richtlinie 2000/78/EG zugrunde legt, wird der Gerichtshof, sofern diese Auslegung unzutreffend sein sollte, über die Beantwortung der Vorlagefrage hinaus um einen entsprechenden Hinweis gebeten. II. Zur Situation bei Persönlicher Assistenz 22 Aus der Sicht des Senats ist es zur rechtlichen Beurteilung bedeutsam, sich zunächst die besondere Situation Persönlicher Assistenz vor Augen zu führen, die im Folgenden unter Berücksichtigung einschlägiger Bestimmungen des nationalen Sozialrechts dargestellt wird. 23 In Deutschland werden Leistungen der Persönlichen Assistenz im Sinne von unter anderem § 78 SGB IX nach verschiedenen rechtlichen Vorgaben in Abhängigkeit von dem individuellen Assistenzbedarf von unterschiedlichen Leistungsträgern (unter anderem gesetzliche Rehabilitationsträger – wie die gesetzlichen Krankenkassen, die Bundesagentur für Arbeit, die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung -, Pflegekassen, Integrationsämter, staatliche Kinder- und Jugendhilfe, staatliche Sozialhilfe) bewilligt und finanziert. Dabei können die durch die oben genannten Leistungsträger bewilligten Leistungen der Persönlichen Assistenz organisatorisch in unterschiedlichen Modellen erbracht werden: Teilweise werden sie von den assistenznehmenden Menschen mit Behinderung im sogenannten Arbeitgebermodell selbst organisiert und abgerechnet, teilweise bedienen sich die assistenznehmenden Personen der organisatorischen Hilfe einer Assistenzgenossenschaft bzw. von Assistenz- oder Pflegediensten, die die Personalsuche und Arbeitgebereigenschaft in Abstimmung mit ihnen für sie übernehmen. Konkret wird die Persönliche Assistenz häufig durch Teams im Schichtdienst erbracht. 24 Die Persönliche Assistenz betrifft sämtliche Lebensbereiche und reicht – zwangsläufig – tief in die Privat- und Intimsphäre der assistenzbedürftigen/-nehmenden Person hinein. Dies gilt unabhängig davon, ob Persönliche Assistenz „rund um die Uhr“ oder in einem geringeren Umfang erbracht wird. Je nach den Umständen des Einzelfalls kann Bedarf an Persönlicher Assistenz in der Wohnung, im Familienhaushalt, bei der Arbeit, in der Ausbildung oder Schule, bei Arztbesuchen und Behördengängen, in der Freizeit, bei Treffen im Familien- und Freundeskreis, bei Besuchen von etwa Theater, Kino, Restaurants, Clubs, beim Sport, auch im Urlaub und auf Reisen bestehen. Konkret geht es unter anderem um Mobilität in allen Bereichen, Begleitung im Straßenverkehr, Assistenz im Haushalt und beim Einkauf, Assistenz bei der Körperpflege und -hygiene einschließlich der Begleitung bei Toilettengängen und Unterstützung beim An- und Ausziehen. Die Assistentinnen und Assistenten haben regelmäßig Einblick in alle Lebensbereiche der betroffenen Person, teilweise auch in solche, die ansonsten weder engen Freunden noch Angehörigen zugänglich sind (vgl. Köpcke Soziale Arbeit 2016, 289, 290). In einer Situation wie der des Ausgangsfalls kann sich Assistenz in der Universität auf die Aufnahme und Verarbeitung der Studieninhalte beziehen und konkret beispielsweise das Anfertigen von Mitschriften einschließen. Bei jedem Zusammentreffen mit anderen Studierenden ist – je nach den Umständen des Einzelfalls – zwangsläufig Persönliche Assistenz erforderlich, die damit integraler Bestandteil des universitären Lebens des betroffenen Menschen mit Behinderung, hier der 28-jährigen Studentin A. ist. 25 Persönliche Assistenz für Menschen mit Behinderung ist eine Dienstleistung, die Selbstbestimmung (vgl. oben Rn. 9 zu § 78 SGB IX), Teilhabe und Inklusion ermöglicht (vgl. Müller Persönliche Assistenz S. 15 f., 22 ff.). Das Konzept der Persönlichen Assistenz basiert auf dem Leitbild der Selbstbestimmung und unterscheidet sich grundlegend von einer Versorgung durch institutionalisierte stationäre oder ambulante Einrichtungen und Pflegedienste. Persönliche Assistenz ist darauf gerichtet, Menschen mit Behinderung zu befähigen, ihr eigenes Leben selbstbestimmt zu gestalten und zu organisieren; soweit dabei Anspruch auf staatliche Leistungen besteht, sollen die erforderlichen Ressourcen für ein selbstbestimmtes Leben zur Verfügung gestellt werden (Müller Persönliche Assistenz S. 53 f.). In diesem Zusammenhang werden im Schrifttum auf Seiten der assistenznehmenden Person die Personalkompetenz (selbstbestimmte Personalauswahl), die Anleitungskompetenz (Kompetenz, das ausgewählte Personal – abgestimmt auf die je eigenen Erfahrungen mit der Beeinträchtigung – selbst anzuleiten) und die Organisationskompetenz (Kompetenz, die Einsatzorte und -zeiten und den Umfang der Dienstleistung selbst zu bestimmen) als einige der zentralen Elemente des Konzepts der Persönlichen Assistenz genannt (vgl. etwa Müller Persönliche Assistenz S. 21 f.; Köpcke Soziale Arbeit 2016, 289, 290, jeweils mwN). III. Zu § 8 Abs. 1 SGB IX in Verbindung mit § 33 SGB I – Wunsch- und Wahlrecht des Menschen mit Behinderung 26 In Deutschland ist bei der Entscheidung über die Leistungen und bei der Ausführung der Leistungen zur Teilhabe nach § 8 Abs. 1 SGB IX in Verbindung mit § 33 SGB I berechtigten Wünschen der Leistungsberechtigten zu entsprechen, soweit sie angemessen sind. Nach § 8 Abs. 1 SGB IX in Verbindung mit § 33 SGB I ist unter anderem auf die persönliche Lebenssituation, das Alter, das Geschlecht, die Familie sowie die religiösen und weltanschaulichen Bedürfnisse der Leistungsberechtigten Rücksicht zu nehmen. Nach der Gesetzesbegründung zu § 78 Abs. 2 SGB IX (BT-Drs. 18/9522 S. 262) sind bei der Gestaltung der Leistungen der Persönlichen Assistenz die Wünsche der Leistungsberechtigten zu berücksichtigen, soweit sie angemessen sind. In diesem Rahmen kann die leistungsberechtigte Person über den Leistungsanbieter sowie in Absprache mit ihm über die Person des Assistenten oder der Assistentin, über Art, Zeiten, Ort und Ablauf der Assistenzleistungen entscheiden. 27 Mit dem Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten soll dem Anspruch behinderter Menschen auf eine möglichst weitgehend selbstbestimmte und eigenverantwortliche Gestaltung ihrer Lebensumstände Rechnung getragen und die Eigenverantwortlichkeit der Betroffenen sowie ihre Motivation zur Teilhabe gestärkt werden (BT-Drs. 14/5074 S. 94, 100). 28 Als berechtigt werden Wünsche angesehen, die sich an den vom Leistungsrecht vorgegebenen Rahmen und die mit der Leistung verfolgten Zielsetzungen sowie an sonstige Vorgaben halten, etwa an das für die Rehabilitationsträger geltende Gebot der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit sowie die Pflicht, Leistungen nur in geeigneten Einrichtungen zu erbringen. Entscheidend ist demnach, dass den Wünschen keine derartigen Vorgaben entgegenstehen (Joussen in LPK-SGB IX 6. Aufl. § 8 Rn. 6 mwN). IV. Zur Einbindung Persönlicher Assistenz im Rahmen der Bestimmungen der UN-BRK, der Charta und im einschlägigen nationalen Recht 1. Einbindung Persönlicher Assistenz in der UN-BRK 29 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist die Richtlinie 2000/78/EG nach Möglichkeit in Übereinstimmung mit der UN-BRK, die Bestandteil der Unionsrechtsordnung ist, auszulegen (EuGH 11. September 2019 – C-397/18, EU:C:2019:703 – [Nobel Plastiques Ibérica] Rn. 39 f. mwN). 30 Nach Art. 19 UN-BRK („Unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft“) anerkennen die Vertragsstaaten der UN-BRK das gleiche Recht aller Menschen mit Behinderungen, mit gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen in der Gemeinschaft zu leben. Die Vertragsstaaten treffen wirksame und geeignete Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen den vollen Genuss dieses Rechts und ihre volle Einbeziehung in die Gemeinschaft und Teilhabe an der Gemeinschaft zu erleichtern. Dies schließt wirksame und geeignete Maßnahmen ein, damit Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt die Möglichkeit haben unter anderem zu entscheiden, mit wem sie leben. In diesem Kontext wird gewährleistet, dass Menschen mit Behinderungen Zugang zu einer Reihe von Unterstützungsdiensten haben, einschließlich der Persönlichen Assistenz, die zur Unterstützung des Lebens in der Gemeinschaft und der Einbeziehung in die Gemeinschaft sowie zur Verhinderung von Isolation und Absonderung von der Gemeinschaft notwendig ist. Art. 19 UN-BRK enthält nach Auffassung des Senats konkrete Vorgaben zur Verwirklichung der in der Präambel der UN-BRK aufgezeigten grundlegenden Vorgaben der Menschenrechte einschließlich der Menschenwürde, für deren vollen Genuss nach der Präambel die individuelle Autonomie und Unabhängigkeit der Menschen mit Behinderungen notwendig ist. Hierzu gehört auch die Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen. 31 In den zu Art. 19 UN-BRK vom UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen unter der Überschrift „Zum selbstbestimmten Leben und Inklusion in die Gemeinschaft“ verabschiedeten Allgemeinen Bemerkungen ist definiert, dass „Selbstbestimmt Leben“ bedeutet, dass „Menschen mit Behinderungen alle notwendigen Mittel gewährt werden, die es ihnen ermöglichen, Wahlfreiheit und Kontrolle über ihr Leben auszuüben und alle Entscheidungen, die ihr Leben betreffen, zu treffen. Persönliche Autonomie und Selbstbestimmung sind von grundlegender Bedeutung für ein selbstbestimmtes Leben; dies umfasst auch Zugang zu Beförderung, Informationen, Kommunikation und persönlicher Assistenz, Wohnort, Tagesablauf, Gewohnheiten, menschenwürdige Beschäftigung, persönliche Beziehungen, Kleidung, Ernährung, Körperpflege und Gesundheitsversorgung, religiöse Aktivitäten, kulturelle Aktivitäten sowie sexuelle und reproduktive Rechte. Diese Aktivitäten stehen im Zusammenhang mit der Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung: Es geht darum, wo wir leben und mit wem, was wir essen, ob wir gerne ausschlafen oder abends gerne spät ins Bett gehen, ob wir lieber drinnen oder draußen sind, eine Tischdecke und Kerzen auf dem Tisch mögen, Haustiere halten oder Musik hören. Diese Handlungen und Entscheidungen machen uns aus. Selbstbestimmt Leben ist ein wesentlicher Bestandteil der individuellen Autonomie und Freiheit und bedeutet nicht automatisch, alleine zu leben. Selbstbestimmt Leben sollte auch nicht ausschließlich als die Fähigkeit interpretiert werden, alltägliche Tätigkeiten selbst auszuführen. Stattdessen sollte selbstbestimmtes Leben im Einklang mit Artikel 3 (a) des Übereinkommens, in dem die Achtung der dem Menschen innewohnenden Würde und seiner individuellen Autonomie verankert ist, als Freiheit zur Wahlfreiheit und Kontrolle verstanden werden. Selbstbestimmung als eine Form der persönlichen Autonomie bedeutet, dass Menschen mit Behinderungen nicht ihrer Wahl- und Gestaltungsmöglichkeiten hinsichtlich ihres persönlichen Lebensstils und ihres Alltags beraubt werden“ (vgl. Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen Allgemeine Bemerkung Nr. 5 zu Art. 19 UN-BRK – CRPD/C/GC/5 – veröffentlicht am 27. Oktober 2017 Abschnitt II Nr. 16 Buchstabe a). 32 Durch die gleiche Anerkennung vor dem Recht (Art. 12 UN-BRK) wird sichergestellt, „dass alle Menschen mit Behinderungen das Recht haben, ihre Rechts- und Handlungsfähigkeit uneingeschränkt auszuüben und so das gleiche Recht auf Wahlfreiheit und Kontrolle über ihr eigenes Leben haben, indem sie entscheiden, wo, mit wem und wie sie leben wollen, sowie das Recht auf Unterstützung im Einklang mit ihrem Willen und ihren Präferenzen. Für die vollständige Verwirklichung des Übergangs zu unterstützter Entscheidungsfindung und für die Umsetzung der in Artikel 12 [UN-BRK] verankerten Rechte ist es unerlässlich, dass Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit haben, ihre Wünsche und ihre Präferenzen zu entwickeln und auszudrücken, damit sie ihre Rechts- und Handlungsfähigkeit gleichberechtigt ausüben können. Damit dies erreicht werden kann, müssen sie ein Teil der Gemeinschaft sein. Darüber hinaus sollte bei der Ausübung der Rechts- und Handlungsfähigkeit Unterstützung mittels eines gemeindenahen Ansatzes, der die Wünsche und Präferenzen von Menschen mit Behinderungen respektiert, geleistet werden“ (vgl. Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen Allgemeine Bemerkung Nr. 5 zu Art. 19 UN-BRK – CRPD/C/GC/5 – veröffentlicht am 27. Oktober 2017 Abschnitt IV Nr. 80). 33 Zudem spricht nach Auffassung des Senats viel dafür, dass bei der Ausgestaltung der Persönlichen Assistenz im Sinne von § 78 SGB IX auch die in Art. 3 UN-BRK niedergelegten allgemeinen Grundsätze zu beachten sind, nämlich die Achtung der dem Menschen innewohnenden Würde und seiner individuellen Autonomie, sowie der in Art. 1 UN-BRK beschriebene Zweck des Übereinkommens, den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern. 2. Zu den einschlägigen Vorgaben der Charta 34 Auf der Ebene des Unionsrechts wirkt sich aus Sicht des Senats aus, dass die Richtlinie 2000/78/EG, die in dem von ihr erfassten Bereich das nunmehr in Art. 21 der Charta niedergelegte allgemeine Diskriminierungsverbot konkretisiert (vgl. Rn. 18), nicht nur im Licht von Art. 21 der Charta, sondern auch von Art. 26 der Charta auszulegen ist, wonach die Union den Anspruch von Menschen mit Behinderung auf Maßnahmen zur Gewährleistung ihrer Eigenständigkeit, ihrer sozialen und beruflichen Eingliederung und ihrer Teilnahme am Leben der Gemeinschaft anerkennt und achtet (vgl. etwa EuGH 21. Oktober 2021 – C-824/19, EU:C:2021:862 – [Komisia za zashtita ot diskriminatsia] Rn. 33). Zudem kann sich in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens auch Art. 7 der Charta auswirken, wonach jede Person das Recht auf Achtung ihres Privatlebens sowie ihrer Wohnung hat. Auch insoweit geht es – wie bereits unter Rn. 4 ausgeführt – um die Gewährleistung der Menschenwürde im Sinne von unter anderem Art. 1 der Charta. 3. Zu Vorgaben im nationalen Recht der Bundesrepublik Deutschland 35 Nach § 78 Abs. 1 SGB IX (vgl. oben Rn. 9) werden Leistungen für Assistenz zur selbstbestimmten und eigenständigen Bewältigung des Alltags einschließlich der Tagesstrukturierung erbracht. Sie umfassen insbesondere Leistungen für die allgemeinen Erledigungen des Alltags wie die Haushaltsführung, die Gestaltung sozialer Beziehungen, die persönliche Lebensplanung, die Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben, die Freizeitgestaltung einschließlich sportlicher Aktivitäten sowie die Sicherstellung der Wirksamkeit der ärztlichen und ärztlich verordneten Leistungen. Sie beinhalten die Verständigung mit der Umwelt in diesen Bereichen. Dabei ist nach § 8 Abs. 1 SGB IX in Verbindung mit § 33 SGB I unter anderem auf die persönliche Lebenssituation, das Alter, das Geschlecht, die Familie sowie die religiösen und weltanschaulichen Bedürfnisse der Leistungsberechtigten Rücksicht zu nehmen (vgl. oben Rn. 8 f.). Diese Bestimmungen sind im Licht von Art. 19 UN-BRK und dem hinter dieser Bestimmung stehenden menschenrechtlichen Ansatz der UN-BRK zu verstehen. Zudem sind, soweit der Anwendungsbereich des Unionsrechts betroffen ist, die oben genannten Bestimmungen der Charta zu berücksichtigen. D. Zur Vorlagefrage 36 Für die Frage, ob die für eine etwaige Rechtfertigung der Benachteiligung der Klägerin wegen des Alters relevanten Regelungen über das Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten – hier der assistenznehmenden Person – im deutschen Sozialgesetzbuch (§ 8 Abs. 1 SGB IX in Verbindung mit § 33 SGB I) mit der Richtlinie 2000/78/EG vereinbar sind oder nicht, kommt es nach Auffassung des Senats auf das Ziel an, das mit diesen Regelungen bei der Erbringung von Leistungen der Persönlichen Assistenz verfolgt wird. Anhand dieses Ziels ist festzustellen, unter welchen Richtlinienbestimmungen diese Maßnahme zu prüfen ist (vgl. EuGH 12. Januar 2010 – C-341/08, EU:C:2010:4 – [Petersen] Rn. 36 f.). 37 Mit dem Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten soll dem Anspruch behinderter Menschen auf eine möglichst weitgehend selbstbestimmte und eigenverantwortliche Gestaltung ihrer Lebensumstände Rechnung getragen und die Eigenverantwortlichkeit der Betroffenen sowie ihre Motivation zur Teilhabe gestärkt werden (vgl. oben Rn. 27). Da die Persönliche Assistenz sämtliche Lebensbereiche betrifft und zwangsläufig tief in die Privat- und Intimsphäre der assistenzbedürftigen/-nehmenden Person hineinreicht (vgl. Rn. 24), ist es nach Auffassung des Senats zur Gewährleistung der Menschenwürde (Art. 1 der Charta, Art. 1 GG) erforderlich, die Wünsche des jeweiligen Menschen mit Behinderung für die eigene Lebensgestaltung bei Persönlichen Assistenzleistungen zu respektieren und in den Mittelpunkt zu stellen. Deshalb benötigen Menschen mit Behinderung aus Sicht des Senats weitgehende Freiheit in der Auswahl der sie begleitenden Menschen. Wie auch Menschen ohne Behinderung müssen sie die Wahl haben, mit wem sie ihr Leben teilen wollen. Der Senat ist deshalb der Auffassung, dass die Wünsche des jeweiligen Menschen mit Behinderung bei Persönlichen Assistenzleistungen nach einem bestimmten Alter und einem bestimmten Geschlecht der Assistenzperson – soweit im Einzelfall angemessen – zu respektieren sind. 38 Dabei macht es aus Sicht des Senats für die hier zu beurteilende Frage der Rechtfertigung der von der Klägerin erfahrenen unmittelbaren Benachteiligung wegen ihres Alters keinen Unterschied, ob die assistenznehmende Person mit Behinderung im sogenannten Arbeitgebermodell selbst ihre Persönliche Assistenz organisiert oder ob – wie hier – eine Assistenzgenossenschaft bzw. ein Assistenz- oder Pflegedienst (vgl. oben Rn. 23) dies in Abstimmung mit ihr für sie organisiert. 39 Nach allem stellt sich für den Senat die Frage, ob es mit den Vorgaben der Richtlinie 2000/78/EG vereinbar ist, wenn Menschen mit Behinderung im Verfahren der Stellenbesetzung für eine Persönliche Assistenz eine altersbezogene Präferenz zum Auswahlkriterium erheben, obwohl nach Art. 2 Abs. 2 Buchstabe a der Richtlinie 2000/78/EG (bzw. § 3 Abs. 1 AGG) eine unmittelbare Benachteiligung wegen des Alters verboten ist. Dabei beschränkt der Senat seine Frage zur Auslegung des Unionsrechts nicht auf die in der Vorlagefrage genannten Bestimmungen. Soweit aus der Sicht des Gerichtshofs für einen Fall, wie er dem Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens zugrunde liegt, eine andere Bestimmung des Unionsrechts von Bedeutung sein sollte, sind ausdrücklich alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts erwünscht, die bei der Entscheidung des beim Senat anhängigen Verfahrens von Bedeutung sein können. I. Zu Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG 40 Nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG kann eine Ungleichbehandlung wegen eines Merkmals, das im Zusammenhang mit einem der in Art. 1 der Richtlinie 2000/78/EG genannten Diskriminierungsgründe – darunter unter anderem das Alter – steht, keine Diskriminierung darstellen, wenn das betreffende Merkmal aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt. Nach der im 23. Erwägungsgrund der Richtlinie 2000/78/EG zum Ausdruck gebrachten Anforderung kann eine solche Rechtfertigung nur unter sehr begrenzten Bedingungen gegeben sein. Der Umsetzung von unter anderem Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG in das nationale Recht dient § 8 Abs. 1 AGG. Nach § 8 Abs. 1 AGG ist die unterschiedliche Behandlung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes – darunter unter anderem das Alter – zulässig, wenn dieser Grund wegen der Art der auszuübenden Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt. 41 In unionsrechtskonformer enger Auslegung von § 8 Abs. 1 AGG kann nicht der Grund im Sinne von § 1 AGG, auf den die Ungleichbehandlung gestützt ist, sondern nur ein mit diesem Grund im Zusammenhang stehendes Merkmal eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellen (vgl. etwa EuGH 15. Juli 2021 – C-795/19, EU:C:2021:606 – [Tartu Vangla] Rn. 32 mwN; 14. März 2017 – C-188/15, EU:C:2017:204 – [Bougnaoui und ADDH] Rn. 37 mwN; 12. Januar 2010 – C-229/08, EU:C:2010:3 – [Wolf] Rn. 35). Dabei kann das betreffende Merkmal nach dem Wortlaut von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG selbst eine solche Anforderung nur „aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung“ darstellen. Der Begriff „wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung“ im Sinne dieser Bestimmung verweist auf eine Anforderung, die von der Art der betreffenden beruflichen Tätigkeit oder den Bedingungen ihrer Ausübung objektiv vorgegeben ist. Er kann sich hingegen nicht auf subjektive Erwägungen – wie etwa den Willen des Arbeitgebers, besonderen Kundenwünschen zu entsprechen – erstrecken (vgl. EuGH 14. März 2017 – C-188/15, EU:C:2017:204 – [Bougnaoui und ADDH] Rn. 39 f.). Die Rechtmäßigkeit einer Ungleichbehandlung nach Maßgabe dieser Vorschrift hängt – soweit ersichtlich – vom objektiv überprüfbaren Vorliegen eines direkten Zusammenhangs zwischen der aufgestellten beruflichen Anforderung und der fraglichen Tätigkeit ab (vgl. insoweit vermutlich übertragbar EuGH 17. April 2018 – C-414/16, EU:C:2018:257 – [Egenberger] Rn. 63 zu Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG). 42 Zwar spricht aus Sicht des Senats einiges dafür, dass die Gewährleistung des Rechts auf ein selbstbestimmtes Leben nach den eigenen Präferenzen, auf individuelle Autonomie und Freiheit zur Wahlfreiheit und Kontrolle ein „rechtmäßiger Zweck“ im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG und damit im Sinne von § 8 Abs. 1 AGG ist. Der Senat kann allerdings nicht beurteilen, ob der von einem Menschen mit Behinderung im Rahmen seines Selbstbestimmungsrechts geäußerte Wunsch, die Person, die die benötigte und mit einer Stellenausschreibung gesuchte Persönliche Assistenz leistet, solle ein wunschgemäßes Alter haben, ein Merkmal im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG ist und ob eine Alterspräferenz eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung sein kann. Dies könnte fraglich sein, denn der jeweilige konkrete Wunsch ist nicht verallgemeinerbar und als solcher nicht von der Art der beruflichen Tätigkeit der Persönlichen Assistenz oder den Bedingungen ihrer Ausübung objektiv vorgegeben. Bei der Personalauswahl für Persönliche Assistenz kann sich der Wunsch eines jungen Menschen mit Behinderung zwar – wie hier – auf eine etwa gleichaltrige Person richten, der Wunsch eines anderen jungen Menschen mit Behinderung mag sich aber eher auf eine Person im Alter der Eltern richten. Der jeweilige Wunsch beruht auf subjektiven Prioritäten für die eigene, selbstbestimmte Lebensgestaltung des jeweiligen Menschen. Dieses Selbstbestimmungsrecht zu achten und ihm bei der Personalauswahl für Persönliche Assistenz zu entsprechen, soweit die Wünsche berechtigt und angemessen sind (vgl. Rn. 8 f. zu § 8 Abs. 1 SGB IX und § 33 SGB I), ist aus Sicht des Senats unerlässlich. Ob dies allerdings im Rahmen von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG möglich ist und welche Vorgaben in solch einem Fall für die Prüfung der Angemessenheit zu berücksichtigen sind, ist bisher – soweit ersichtlich – nicht geklärt. II Zu Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG 43 Nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2000/78/EG können die Mitgliedstaaten ungeachtet des Art. 2 Abs. 2 dieser Richtlinie vorsehen, dass Ungleichbehandlungen wegen des Alters keine Diskriminierung darstellen, sofern sie objektiv und angemessen sind und im Rahmen des nationalen Rechts durch ein legitimes Ziel, worunter insbesondere rechtmäßige Ziele aus den Bereichen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt und berufliche Bildung zu verstehen sind, gerechtfertigt sind und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind. Der Umsetzung von Art. 6 der Richtlinie 2000/78/EG in das nationale Recht dient § 10 AGG. Nach § 10 Satz 1 AGG ist eine unterschiedliche Behandlung wegen des Alters zulässig, wenn sie objektiv und angemessen und durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt ist. Nach § 10 Satz 2 AGG müssen die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sein. Sowohl in Art. 6 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2000/78/EG als auch in § 10 Satz 3 AGG sind dazu mögliche „derartige“ zulässige „Ungleichbehandlungen“ bzw. „unterschiedliche Behandlungen“ mit dem Zusatz „insbesondere“ aufgeführt. 44 Zu Art. 6 der Richtlinie 2000/78/EG hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, dass die Mitgliedstaaten nicht nur bei der Entscheidung darüber, welches konkrete Ziel von mehreren sie im Bereich der Arbeits- und Sozialpolitik verfolgen wollen, sondern auch bei der Festlegung der zu seiner Erreichung geeigneten Maßnahmen über ein weites Ermessen verfügen, wobei Haushaltserwägungen zwar den sozialpolitischen Entscheidungen eines Mitgliedstaats zugrunde liegen können, sie aber nicht als solche das mit der jeweiligen Arbeits- und Sozialpolitik verfolgte Ziel darstellen dürfen (vgl. etwa EuGH 15. April 2021 – C-511/19, EU:C:2021:274 – [Olympiako Athlitiko Kentro Athinon] Rn. 30, 34 mwN). Allerdings darf das den Mitgliedstaaten offenstehende weite Ermessen bei der Entscheidung, welches konkrete Ziel von mehreren im Bereich der Sozial- und Arbeitspolitik verfolgt werden soll und welche Maßnahmen zu dessen Erreichung geeignet sind, nicht dazu führen, dass der Grundsatz des Verbots der Diskriminierung aus Gründen des Alters ausgehöhlt wird (vgl. etwa EuGH 3. Juni 2021 – C-914/19, EU:C:2021:430 – [Ministero della Giustizia (Notaires)] Rn. 30; 12. Oktober 2010 – C–499/08, EU:C:2010:600 – [Ingeniørforeningen i Danmark] Rn. 33 mwN). 45 Der Senat kann nicht beurteilen, ob in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der es um eine kombinierte Mindest- und Höchstaltersgrenze geht („am besten zwischen 18 und 30 Jahre alt“), Art. 6 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2000/78/EG eingreifen kann. Insoweit könnte zu erwägen sein, dass es ein „legitimes Ziel“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2000/78/EG sein kann, wenn der nationale Gesetzgeber mit dem Wunsch- und Wahlrecht von Menschen mit Behinderungen bei der Erbringung von Leistungen der Persönlichen Assistenz das Ziel verfolgt, dem Anspruch behinderter Menschen auf eine möglichst weitgehend selbstbestimmte und eigenverantwortliche Gestaltung ihrer Lebensumstände Rechnung zu tragen und die Eigenverantwortlichkeit der Betroffenen sowie ihre Motivation zur Teilhabe zu stärken (vgl. oben Rn. 27). Zudem stellt sich die Frage, welche Vorgaben gegebenenfalls im Hinblick auf die Prüfung der Angemessenheit und Erforderlichkeit zu beachten sind. 46 Im Übrigen wird – auch wenn hier nach den Umständen des Falls nicht von unmittelbarer Bedeutung – nur der Vollständigkeit halber darauf hingewiesen, dass in der strukturell besonderen Situation der Persönlichen Assistenz subjektive Wünsche nicht nur im Hinblick auf das Alter der Assistenzperson eine Rolle spielen können, sondern dass auch andere der in Art. 1 der Richtlinie 2000/78/EG sowie § 1 AGG genannten Diskriminierungsgründe betroffen sein können. § 8 Abs. 1 SGB IX nennt insofern neben dem Alter das Geschlecht sowie die religiösen und weltanschaulichen Bedürfnisse. Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG, der ausschließlich das Alter betrifft, könnte eine Diskriminierung wegen anderer Gründe allerdings nicht rechtfertigen. III. Zu Art. 7 der Richtlinie 2000/78/EG 47 Nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG hindert der Gleichbehandlungsgrundsatz die Mitgliedstaaten nicht daran, zur Gewährleistung der völligen Gleichstellung im Berufsleben spezifische Maßnahmen beizubehalten oder einzuführen, mit denen Benachteiligungen wegen eines in Art. 1 der Richtlinie 2000/78/EG genannten Diskriminierungsgrundes verhindert oder ausgeglichen werden. Der Umsetzung von Art. 7 der Richtlinie 2000/78/EG in das nationale Recht dient § 5 AGG. Nach § 5 AGG ist ungeachtet der in den §§ 8 bis 10 AGG benannten Gründe eine unterschiedliche Behandlung auch zulässig, wenn durch geeignete und angemessene Maßnahmen bestehende Nachteile wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes verhindert oder ausgeglichen werden sollen. Allerdings geht es nach Art. 7 der Richtlinie 2000/78/EG um die Gleichstellung im Berufsleben, was in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens nicht Ziel der Persönlichen Assistenz für die hier betroffene Assistenznehmerin ist. 48 Vor diesem Hintergrund möchte der Senat wissen, ob Art. 7 der Richtlinie 2000/78/EG gleichwohl, soweit die Bestimmung im Licht von Art. 19 UN-BRK und dem dahinter stehenden menschenrechtlichen Ansatz der UN-BRK (vgl. hierzu Rn. 35) sowie im Licht der Garantien der Art. 1, Art. 7, Art. 21 und Art. 26 der Charta (vgl. hierzu Rn. 4, 18, 34) zu verstehen ist, für eine Rechtfertigung der Benachteiligung wegen des Alters in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens von Bedeutung sein kann. Insoweit könnte sich nach Auffassung des Senats zudem auswirken, dass die Vertragsstaaten der UN-BRK nach Art. 5 Abs. 1 UN-BRK anerkennen, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, vom Gesetz gleich zu behandeln sind und ohne Diskriminierung Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz und gleiche Vorteile durch das Gesetz haben, wobei Art. 5 Abs. 4 UN-BRK ausdrücklich zu besonderen Maßnahmen ermächtigt, die zur Beschleunigung oder Herbeiführung der tatsächlichen Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderungen erforderlich sind (EuGH 9. März 2017 – C-406/15, EU:C:2017:198 – [Milkova] Rn. 48 ff.). IV. Zu Art. 2 Abs. 5 der Richtlinie 2000/78/EG 49 Nach Art. 2 Abs. 5 der Richtlinie 2000/78/EG berührt diese Richtlinie nicht die im einzelstaatlichen Recht vorgesehenen Maßnahmen, die in einer demokratischen Gesellschaft unter anderem zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig sind. Der Rechtsprechung des Gerichtshofs kann insoweit entnommen werden, dass die in Art. 2 Abs. 5 der Richtlinie 2000/78/EG genannten Gründe – wie der Schutz der Rechte und Freiheiten anderer – als Möglichkeiten der „Rechtfertigung“ betrachtet werden können (vgl. EuGH 22. Januar 2019 – C-193/17, EU:C:2019:43 – [Cresco Investigation] Rn. 52: „susceptible d’être justifiée sur le fondement de l’article 2, paragraphe 5, de la directive 2000/78“ bzw. „auf der Grundlage des Art. 2 Abs. 5 … der Richtlinie 2000/78 gerechtfertigt sein kann“). 50 Vor diesem Hintergrund möchte der Senat wissen, ob sich aus Art. 2 Abs. 5 der Richtlinie 2000/78/EG in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens eine Rechtfertigung der Benachteiligung der Klägerin wegen des Alters ergeben kann. 51 Auch insoweit könnte sich auswirken, dass Persönliche Assistenzleistungen dem in Art. 19 UN-BRK und dem im nationalen Recht im SGB IX enthaltenen Recht von Menschen mit Behinderung auf Selbständigkeit und Autonomie (vgl. oben Rn. 3, 30 f., 33, 42) gerecht werden müssen. Da es einem Menschen ohne Behinderung im Alter der 28-jährigen Studentin A. unzweifelhaft freisteht, autonom darüber zu entscheiden, mit Menschen welchen Alters das tägliche Leben geteilt werden soll, spricht aus Sicht des Senats viel dafür, dass Menschen mit Behinderung ein solches freies Bestimmungsrecht auch im Hinblick auf die Persönliche Assistenz gewährleistet sein muss. Menschen mit Behinderung wird nach der Präambel der UN-BRK der volle Genuss der Menschenrechte und Grundfreiheiten ohne Diskriminierung garantiert. Zudem ist nach Art. 1 UN-BRK der volle und gleichberechtigte Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle Menschen mit Behinderung zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten. Auch ist die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern. Vor diesem Hintergrund möchte der Senat wissen, ob insoweit auch ein Wunsch- und Wahlrecht – wie in § 8 Abs. 1 SGB IX – im Hinblick auf das Alter bei der Besetzung der Stelle zur Persönlichen Assistenz eingeschlossen ist. Besondere Bedeutung könnte dabei auch hier den Garantien in Art. 1, Art. 7, Art. 21 und Art. 26 der Charta (vgl. Rn. 4, 18, 34) zukommen.              Schlewing                  Winter                  Berger                                    F. Rojahn                  Schirp
bundesarbeitsgericht
bag_31-23
29.06.2023
29.06.2023 31/23 - Offene Videoüberwachung - Verwertungsverbot In einem Kündigungsschutzprozess besteht grundsätzlich kein Verwertungsverbot in Bezug auf solche Aufzeichnungen aus einer offenen Videoüberwachung, die vorsätzlich vertragswidriges Verhalten des Arbeitnehmers belegen sollen. Das gilt auch dann, wenn die Überwachungsmaßnahme des Arbeitgebers nicht vollständig im Einklang mit den Vorgaben des Datenschutzrechts steht. Der Kläger war bei der Beklagten zuletzt als Teamsprecher in der Gießerei beschäftigt. Die Beklagte wirft ihm ua. vor, am 2. Juni 2018 eine sog. Mehrarbeitsschicht in der Absicht nicht geleistet zu haben, sie gleichwohl vergütet zu bekommen. Nach seinem eigenen Vorbringen hat der Kläger zwar an diesem Tag zunächst das Werksgelände betreten. Die auf einen anonymen Hinweis hin erfolgte Auswertung der Aufzeichnungen einer durch ein Piktogramm ausgewiesenen und auch sonst nicht zu übersehenden Videokamera an einem Tor zum Werksgelände ergab nach dem Vortrag der Beklagten aber, dass der Kläger dieses noch vor Schichtbeginn wieder verlassen hat. Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis der Parteien außerordentlich, hilfsweise ordentlich. Mit seiner dagegen erhobenen Klage hat der Kläger ua. geltend gemacht, er habe am 2. Juni 2018 gearbeitet. Die Erkenntnisse aus der Videoüberwachung unterlägen einem Sachvortrags- und Beweisverwertungsverbot und dürften daher im Kündigungsschutzprozess nicht berücksichtigt werden. Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Die hiergegen gerichtete Revision der Beklagten hatte vor dem Zweiten Senat des Bundesarbeitsgerichts bis auf einen Antrag betreffend ein Zwischenzeugnis Erfolg. Sie führte zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht. Dieses musste nicht nur das Vorbringen der Beklagten zum Verlassen des Werksgeländes durch den Kläger vor Beginn der Mehrarbeitsschicht zu Grunde legen, sondern ggf. auch die betreffende Bildsequenz aus der Videoüberwachung am Tor zum Werksgelände in Augenschein nehmen. Dies folgt aus den einschlägigen Vorschriften des Unionsrechts sowie des nationalen Verfahrens- und Verfassungsrechts. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Überwachung in jeder Hinsicht den Vorgaben des Bundesdatenschutzgesetzes bzw. der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) entsprach. Selbst wenn dies nicht der Fall gewesen sein sollte, wäre eine Verarbeitung der betreffenden personenbezogenen Daten des Klägers durch die Gerichte für Arbeitssachen nach der DSGVO nicht ausgeschlossen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Datenerhebung wie hier offen erfolgt und vorsätzlich vertragswidriges Verhalten des Arbeitnehmers in Rede steht. In einem solchen Fall ist es grundsätzlich irrelevant, wie lange der Arbeitgeber mit der erstmaligen Einsichtnahme in das Bildmaterial zugewartet und es bis dahin vorgehalten hat. Der Senat konnte offenlassen, ob ausnahmsweise aus Gründen der Generalprävention ein Verwertungsverbot in Bezug auf vorsätzliche Pflichtverstöße in Betracht kommt, wenn die offene Überwachungsmaßnahme eine schwerwiegende Grundrechtsverletzung darstellt. Das war vorliegend nicht der Fall. Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 29. Juni 2023 – 2 AZR 296/22 – Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Niedersachsen, Urteil vom 6. Juli 2022 – 8 Sa 1149/20 – Hinweis: Der Senat hat drei ähnlich gelagerte Verfahren auf die Revision der Beklagten ebenfalls an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Tenor 1. Auf die Revision der Beklagten wird – unter Zurückweisung der Revision im Übrigen – das Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen vom 6. Juli 2022 – 8 Sa 1149/20 – aufgehoben, soweit es den Kündigungsschutzanträgen des Klägers stattgegeben und den Auflösungsantrag der Beklagten abgewiesen hat. 2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten des Revisionsverfahrens – an eine andere Kammer des Landesarbeitsgerichts zurückverwiesen. Leitsatz 1. In einem Kündigungsschutzprozess besteht nach Maßgabe der Datenschutz-Grundverordnung und der Zivilprozessordnung grundsätzlich kein Verwertungsverbot in Bezug auf solche Aufzeichnungen aus einer offenen Videoüberwachung, die vorsätzlich vertragswidriges Verhalten des Arbeitnehmers belegen sollen. Das gilt auch dann, wenn die Überwachungsmaßnahme des Arbeitgebers nicht vollständig im Einklang mit den Vorgaben des Datenschutzrechts steht. 2. Den Betriebsparteien fehlt die Regelungsmacht, ein über das formelle Verfahrensrecht der Zivilprozessordnung hinausgehendes Verwertungsverbot zu begründen, oder die Möglichkeit des Arbeitgebers wirksam zu beschränken, in einem Individualrechtsstreit Tatsachenvortrag über betriebliche Geschehnisse zu halten. Tatbestand 1 Die Parteien streiten vorrangig über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung. 2 Der Kläger war bei der Beklagten zuletzt als Teamsprecher in der Gießerei beschäftigt. Die Beklagte wirft ihm ua. vor, am 2. Juni 2018 (Samstag) eine sog. Mehrarbeitsschicht in der Absicht nicht geleistet zu haben, sie gleichwohl vergütet zu bekommen. Nach dem übereinstimmenden Vortrag beider Parteien hat der Kläger zwar an diesem Tag zunächst das Werksgelände betreten. Die auf einen anonymen Hinweis hin erfolgte Auswertung der Aufzeichnungen der durch ein Piktogramm ausgewiesenen und auch sonst nicht zu übersehenden Videokamera an Tor 5 zum Werksgelände ergab nach dem Vorbringen der Beklagten aber, dass der Kläger dieses vor Schichtbeginn wieder verlassen hat. 3 Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis der Parteien – nach Anhörung des Betriebsrats – mit Schreiben vom 5. Oktober 2019 außerordentlich fristlos und mit weiterem Schreiben vom 9. Oktober 2019 ordentlich zum 31. Dezember 2019. 4 Dagegen hat sich der Kläger rechtzeitig mit der vorliegenden Klage gewandt und ua. behauptet, er habe am 2. Juni 2018 gearbeitet. Die Erkenntnisse der Beklagten aus der Videoüberwachung unterlägen einem Sachvortrags- und Beweisverwertungsverbot. Dessen ungeachtet sei der Betriebsrat nicht ordnungsgemäß angehört worden. Die Beklagte habe die Erklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB für die außerordentliche Kündigung nicht eingehalten. 5 Der Kläger hat zuletzt beantragt          1.     festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 5. Oktober 2019 nicht aufgelöst wurde,          2.     festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 9. Oktober 2019 nicht aufgelöst wurde,          3.     die Beklagte zu verurteilen, ihm ein qualifiziertes Zwischenzeugnis zu erteilen,          4.     hilfsweise für den Fall des Unterliegens mit dem Antrag zu 3. die Beklagte zu verurteilen, ihm ein qualifiziertes Endzeugnis zu erteilen. 6 Die Beklagte hat Klageabweisung sowie in zweiter Instanz hilfsweise beantragt,          das Arbeitsverhältnis gegen Zahlung einer Abfindung, deren Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, aber 50.000,00 Euro brutto nicht überschreiten sollte, zum 31. Dezember 2019 aufzulösen. 7 Der Kläger hat beantragt,          den Auflösungsantrag abzuweisen. 8 Die Beklagte hat zur Begründung der Kündigungen behauptet, der Kläger sei am 2. Juni 2018 lediglich im Werk erschienen, um seine Anwesenheit zur Ableistung der Mehrarbeitsschicht vorzutäuschen. Jedenfalls rechtfertige sein wahrheitswidriges Prozessvorbringen die Auflösung des Arbeitsverhältnisses. 9 Die Vorinstanzen haben der Klage mit den Anträgen zu 1. bis 3. stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat zudem den Auflösungsantrag der Beklagten abgewiesen. Mit ihrer Revision begehrt die Beklagte weiterhin die Klageabweisung, hilfsweise die gerichtliche Auflösung des Arbeitsverhältnisses der Parteien. Entscheidungsgründe 10 Die Revision der Beklagten ist überwiegend begründet. 11 I. Die Revision ist insgesamt zulässig. Das gilt auch in Bezug auf den Antrag auf Erteilung eines qualifizierten Zwischenzeugnisses. Insoweit bedurfte es keiner gesonderten Begründung iSv. § 72 Abs. 5 ArbGG iVm. § 551 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 ZPO, weil die Beklagte davon ausgeht, der Senat könne die Kündigungsschutzanträge des Klägers selbst abweisen. Träfe dies zu, wäre nach der vom Landesarbeitsgericht zugrunde gelegten Rechtsprechung des Siebten Senats (BAG 4. November 2015 – 7 AZR 933/13 – Rn. 39) kein Raum mehr für die Erteilung eines qualifizierten Zwischenzeugnisses. Denn eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts nach § 563 Abs. 3 ZPO wird mit ihrer Verkündung rechtskräftig (§ 705 Satz 1 ZPO). 12 II. Die Revision der Beklagten ist hinsichtlich des Antrags auf Erteilung eines qualifizierten Zwischenzeugnisses allerdings unbegründet, weil ihre Berufung mangels der insoweit erforderlichen gesonderten Begründung iSv. § 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG iVm. § 520 Abs. 3 Satz 2 ZPO unzulässig war. Das Urteil eines Landesarbeitsgerichts wird regelmäßig nicht bereits mit der Verkündung rechtskräftig. Deshalb ist der Arbeitgeber nach der vorgenannten Rechtsprechung des Siebten Senats auch zur beantragten Erteilung eines qualifizierten Zwischenzeugnisses zu verurteilen, wenn das Berufungsgericht das Arbeitsverhältnis der Parteien für aufgelöst erachtet. 13 III. Im Übrigen ist die Revision der Beklagten begründet. Das Landesarbeitsgericht hat ihre Berufung gegen das klagestattgebende erstinstanzliche Urteil mit rechtsfehlerhafter Begründung bezüglich der Kündigungsschutzanträge zurück- und ihren Auflösungsantrag abgewiesen. Da der Senat nicht selbst abschließend über den vorrangigen Antrag gegen die außerordentliche Kündigung entscheiden kann, ist das Berufungsurteil insoweit aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO) und die Sache – einschließlich des unbeschiedenen Hilfsantrags auf Erteilung eines qualifizierten Endzeugnisses – zur neuen Verhandlung und Entscheidung an eine andere Kammer des Landesarbeitsgerichts zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 ZPO). 14 1. Das vom Berufungsgericht keiner Auslegung entsprechend § 133 BGB unterzogene, noch im Streit befindliche Klagebegehren ist dahin zu verstehen, dass der Kläger zunächst zwei Anträge nach § 4 Satz 1 KSchG gestellt hat. Mit einem Hauptantrag wendet er sich gegen die außerordentliche, mit einem unechten Hilfsantrag gegen die ordentliche Kündigung (vgl. BAG 27. September 2022 – 2 AZR 508/21 – Rn. 12; 10. Dezember 2020 – 2 AZR 308/20 – Rn. 9, BAGE 173, 233). 15 2. Das Landesarbeitsgericht hat – der Sache nach – dem vorrangigen Antrag gegen die außerordentliche Kündigung rechtsfehlerhaft mit der Begründung entsprochen, es mangele an einem wichtigen Grund iSv. § 626 Abs. 1 BGB. 16 a) Das Berufungsgericht hat im Ausgangspunkt zu Recht angenommen, dass bereits das dem Kläger von der Beklagten vorgeworfene Verhalten am 2. Juni 2018 (Erschleichen von Vergütung hinsichtlich einer nicht abgeleisteten Mehrarbeitsschicht) – wäre es unstreitig oder erwiesen – einen wichtigen Grund iSv. § 626 Abs. 1 BGB für eine außerordentliche fristlose Kündigung bilden könne. 17 b) Des Weiteren ist das Landesarbeitsgericht zutreffend davon ausgegangen, dass auch der dringende Verdacht eines solchen Verhaltens einen wichtigen Grund darstellen kann. 18 c) Allerdings hat das Berufungsgericht zu Unrecht gemeint, der Kläger habe das Vorbringen der Beklagten – ungeachtet des möglichen Eingreifens eines Sachvortragsverwertungsverbots – ausreichend bestritten, wonach er die Mehrarbeitsschicht am 2. Juni 2018 in Täuschungsabsicht nicht abgeleistet habe. Das Landesarbeitsgericht hat die Grundsätze der abgestuften Darlegungslast verkannt, die eingreifen, wenn der Arbeitgeber Vortrag zu einer negativen Tatsache (hier: die Nichtableistung der Schicht nach vorherigem Vorspiegeln der Präsenz) halten muss (vgl. BAG 16. Dezember 2021 – 2 AZR 356/21 – Rn. 31 ff.). 19 aa) Nach dem übereinstimmenden Vorbringen beider Parteien hat der Kläger sich verbindlich für die Mehrarbeitsschicht am 2. Juni 2018 gemeldet und das Werksgelände vor Schichtbeginn mithilfe seines Werksausweises unter Auslösung einer elektronischen Anwesenheitserfassung durch ein Drehkreuz an Tor 5 betreten. Für den von der Beklagten behaupteten Kündigungsvorwurf ist es ohne rechtliche Bedeutung, ob er seinen Namen anschließend selbst in eine vor Ort ausliegende Anwesenheitsliste eingetragen oder die Eintragung durch eine andere Person veranlasst hat. Allein entscheidend ist das Vorspiegeln einer Präsenz in der Absicht, die Schicht ohne Rechtfertigung nicht abzuleisten. 20 bb) Letzteres war nach dem Vorbringen der Beklagten der Fall, weil der Kläger das Werksgelände noch vor Beginn der Mehrarbeitsschicht wieder verlassen und es anschließend vor oder doch während der Schicht nicht erneut betreten haben soll. Damit hat die Beklagte ihrer primären Darlegungslast dafür genügt, dass der Kläger die Mehrarbeitsschicht nicht abgeleistet haben kann (Negativum). 21 cc) Hierauf hätte es dem Kläger im Rahmen einer sekundären Darlegungslast oblegen, substantiiert vorzutragen, welche tatsächlichen Umstände für das Positivum – das ordnungsgemäße Ableisten der Mehrarbeitsschicht – sprechen. Dazu hätte er zunächst konkret darlegen müssen, ob er durchgehend auf dem Werksgelände geblieben sein oder dieses zwar noch einmal verlassen, aber rechtzeitig wieder betreten haben möchte. Daran fehlt es bislang. Das Landesarbeitsgericht hat auch keine Tatsachen festgestellt, die dem Kläger eine Festlegung unzumutbar gemacht hätten (vgl. BGH 8. Januar 2019 – II ZR 139/17 – Rn. 32). Dagegen spricht, dass er nach seinem eigenen Vorbringen nur in seltenen Ausnahmefällen das Werksgelände noch vor einem Schichtbeginn – zunächst – wieder verlassen haben möchte. Deshalb müsste ihm dies ggf. in Erinnerung geblieben sein. Es tritt hinzu, dass nach dem eigenen Vorbringen des Klägers lediglich am mit einem Pförtner besetzten Haupteingang ein Zutritt zum Werksgelände ohne Verwendung des Werksausweises zur Freischaltung eines Drehkreuzes bei gleichzeitiger elektronischer Anwesenheitserfassung möglich ist. Der Kläger hätte daher ggf. – nach der Lebenserfahrung glaubhaft (vgl. BGH 19. April 2001 – I ZR 238/98 – zu II 1 der Gründe) – erläutern müssen, warum ihm der überaus ungewöhnliche Wiederzutritt zum Werksgelände über den Haupteingang nicht mehr erinnerlich sein könnte. Ohne entsprechendes Vorbringen ist der Vortrag der Beklagten zum Nichtableisten der Mehrarbeitsschicht in Täuschungsabsicht durch den Kläger nach § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden anzusehen. 22 d) Angesichts eines unzureichenden Bestreitens des Vorwurfs der Nichtableistung der Mehrarbeitsschicht in Täuschungsabsicht durch den Kläger hätte das Landesarbeitsgericht nicht nur ein Beweiserhebungs-, sondern vorrangig ein Sachvortragsverwertungsverbot (zu dessen Wirkung vgl. BAG 23. August 2018 – 2 AZR 133/18 – Rn. 16, BAGE 163, 239) betreffend das Vorbringen der Beklagten prüfen müssen, aus dem sie das Fehlen einer Arbeitsleistung des Klägers am 2. Juni 2018 ableitet. Indes greift weder ein Sachvortrags- noch ein Beweiserhebungsverbot ein. Das Berufungsgericht musste vielmehr nach Maßgabe von Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. e iVm. Abs. 3 und ggf. Abs. 4 iVm. Art. 23 Abs. 1 Buchst. f und j DSGVO iVm. § 3 BDSG sowie den Vorgaben der Zivilprozessordnung (§§ 138, 286, 371 ff. ZPO) nicht nur das Vorbringen der Beklagten über das vorzeitige Verlassen des Werksgeländes durch den Kläger seiner Entscheidung zugrunde legen, sondern ggf. auch die betreffende Bildsequenz aus der Überwachung an Tor 5 in Augenschein nehmen. 23 aa) Die Frage, ob die Gerichte für Arbeitssachen erhebliches Prozessvorbringen der Parteien und ggf. deren Beweisantritte bei ihrer Entscheidungsfindung berücksichtigen dürfen bzw. müssen, beantwortet sich nach Inkrafttreten der DSGVO nach deren Vorschriften. Die DSGVO regelt die Zulässigkeit von Datenverarbeitungen auch im Verfahren vor den nationalen Zivilgerichten. 24 (1) Nach Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. e DSGVO ist die Verarbeitung personenbezogener Daten rechtmäßig, wenn sie für die Wahrnehmung einer Aufgabe erforderlich ist, die im öffentlichen Interesse liegt oder in Ausübung öffentlicher Gewalt erfolgt, die dem Verantwortlichen übertragen wurde. Gemäß Art. 6 Abs. 3 Satz 1 Buchst. b DSGVO kann die Rechtsgrundlage für entsprechende Verarbeitungen durch das Recht des Mitgliedstaats festgelegt werden, dem der Verantwortliche unterliegt. Dieses muss nach Art. 6 Abs. 3 Satz 4 DSGVO ein im öffentlichen Interesse liegendes Ziel verfolgen und in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten legitimen Zweck stehen. Davon ist auszugehen, wenn die Zivilgerichte (EuGH 2. März 2023 – C-268/21 – [Norra Stockholm Bygg] Rn. 32) – zu denen nach unionsrechtlichem Verständnis auch die Gerichte für Arbeitssachen gehören (zu einem Kündigungsschutzprozess als zivilrechtliche Streitigkeit iSd. Brüssel Ia-VO vgl. BAG 7. Mai 2020 – 2 AZR 692/19 – Rn. 16) – die ihnen durch das nationale Recht übertragenen gerichtlichen Befugnisse ausüben (EuGH 4. Mai 2023 – C-60/22 – [Bundesrepublik Deutschland] Rn. 73). 25 (2) Erfolgt diese Verarbeitung zu einem anderen Zweck als zu demjenigen, zu dem die Daten erhoben wurden, ist das nach Art. 6 Abs. 4 DSGVO iVm. deren Erwägungsgrund 50 insbesondere zulässig, wenn die zweckändernde Verarbeitung auf dem Recht eines Mitgliedstaats beruht und in einer demokratischen Gesellschaft eine notwendige und verhältnismäßige Maßnahme zum Schutz der in Art. 23 Abs. 1 DSGVO genannten Ziele darstellt. Ausweislich des Erwägungsgrundes 50 ist der Verantwortliche zum Schutz dieser wichtigen Ziele des allgemeinen öffentlichen Interesses berechtigt, die personenbezogenen Daten ungeachtet dessen weiterzuverarbeiten, ob sich die Verarbeitung mit den Zwecken, für die die personenbezogenen Daten ursprünglich erhoben wurden, vereinbaren ließ (EuGH 2. März 2023 – C-268/21 – [Norra Stockholm Bygg] Rn. 33). Zu den in Art. 6 Abs. 4 DSGVO normierten Zielen gehören nach Art. 23 Abs. 1 Buchst. f DSGVO der „Schutz der Unabhängigkeit der Justiz und der Schutz von Gerichtsverfahren“, wobei dieses Ziel nicht nur den Schutz der Rechtspflege vor internen oder externen Eingriffen, sondern auch eine ordnungsgemäße Rechtspflege gewährleistet. Darüber hinaus stellt nach Art. 23 Abs. 1 Buchst. j DSGVO die Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche ebenfalls ein Ziel dar, das eine Verarbeitung personenbezogener Daten zu einem anderen Zweck als demjenigen rechtfertigen kann, zu dem sie erhoben wurden (vgl. EuGH 2. März 2023 – C-268/21 – [Norra Stockholm Bygg] Rn. 38). Insoweit ist es unerheblich, ob deren Verarbeitung auf einer materiell-rechtlichen oder verfahrensrechtlichen Vorschrift des nationalen Rechts beruht (vgl. EuGH 2. März 2023 – C-268/21 – [Norra Stockholm Bygg] Rn. 40). Den vorstehenden unionsrechtlichen Vorgaben genügen – was zu beurteilen Sache der deutschen Gerichte ist (vgl. EuGH 2. März 2023 – C-268/21 – [Norra Stockholm Bygg] Rn. 39, 53) – die §§ 138, 286, 355 ff. ZPO. Diese Vorschriften des nationalen Rechts verpflichten die Parteien zu einem substantiierten und wahrheitsgemäßen Vorbringen und das Gericht zu dessen vollständiger Berücksichtigung und ggf. einer tatrichterlichen Würdigung auch im Hinblick auf eine etwaige Beweisaufnahme. Sie stellen nach Art. 6 Abs. 3 Satz 1 Buchst. b DSGVO erforderliche Rechtsgrundlagen für entsprechende Verarbeitungen im gerichtlichen Verfahren dar. 26 (3) Die – ggf. zweckändernde – Verarbeitung von personenbezogenen Daten durch das Gericht kommt selbst dann in Betracht, wenn die vor- oder außergerichtliche Erhebung dieser Daten durch eine Prozesspartei sich nach Maßgabe der DSGVO oder des nationalen Datenschutzrechts – wie vom Landesarbeitsgericht angenommen – als rechtswidrig darstellt. Dies folgt ohne das Erfordernis eines darauf bezogenen Vorabentscheidungsverfahrens des Gerichtshofs der Europäischen Union nach Art. 267 Abs. 3 AEUV in aller Eindeutigkeit (acte clair) aus Art. 17 DSGVO. Nach dessen Abs. 1 Buchst. d sind zwar personenbezogene Daten zu löschen, wenn sie unrechtmäßig verarbeitet wurden, wozu nach Art. 4 Nr. 2 DSGVO auch ihre rechtswidrige Erhebung zählt. Von dem Recht auf Löschung unrechtmäßig verarbeiteter Daten besteht nach Art. 17 Abs. 3 Buchst. e DSGVO jedoch insoweit eine Ausnahme, wie die weitere Verarbeitung der fraglichen Daten zur Geltendmachung, Ausübung oder Verteidigung von Rechtsansprüchen „erforderlich“ ist. Dazu hat der Gerichtshof klargestellt, dass das Recht auf Schutz personenbezogener Daten kein uneingeschränktes Recht ist, sondern – wie in Erwägungsgrund 4 der DSGVO ausgeführt – im Hinblick auf seine gesellschaftliche Funktion gesehen und unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips gegen andere Grundrechte abgewogen werden muss (EuGH 24. September 2019 – C-136/17 – [GC ua.] Rn. 57; Bäcker in Kühling/Buchner DSGVO 3. Aufl. Art. 13 Rn. 68). Selbst wenn Art. 17 Abs. 3 Buchst. e DSGVO keine Rechtsgrundlage für die weitere Verarbeitung in diesen Fällen darstellte, läge der notwendige Erlaubnistatbestand in Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. e iVm. Abs. 3 und ggf. Abs. 4 iVm. Art. 23 Abs. 1 Buchst. f und j DSGVO iVm. § 3 BDSG iVm. den oben genannten Normen der Zivilprozessordnung (§§ 138, 286, 355 ff. ZPO). 27 bb) Der Senat muss im Streitfall nicht abschließend darüber befinden, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen ein verfahrensrechtliches Verwertungsverbot für Tatsachen eingreifen kann, von denen ein Arbeitgeber durch eine unrechtmäßige Datenverarbeitung Kenntnis erlangt hat. Ein Sachvortrags- oder Beweisverwertungsverbot kommt – gerade auch im Geltungsbereich der DSGVO – nur in Betracht, wenn die Nichtberücksichtigung von Vorbringen oder eines Beweismittels wegen einer durch Unionsrecht oder Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Rechtsposition des Arbeitnehmers zwingend geboten ist. Dies ist bei einer von ihm vorsätzlich begangenen Pflichtverletzung, die von einer offenen Überwachungsmaßnahme erfasst wurde, regelmäßig nicht der Fall. 28 (1) Der Senat kann zugunsten des von einer offenen Videoüberwachung betroffenen Arbeitnehmers unterstellen, dass – obwohl es eher zweifelhaft erscheint – das Merkmal der Erforderlichkeit in Art. 17 Abs. 3 Buchst. e DSGVO eine volle Verhältnismäßigkeitsprüfung bedingt. Da die Vorschrift andernfalls leerliefe und Art. 47 Abs. 2 GRC das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz und insbesondere auf ein faires Verfahren verbürgt, wonach die Parteien eines Zivilprozesses grds. in der Lage sein müssen, ihr Rechtschutzziel hinreichend zu begründen und unter Beweis zu stellen (vgl. EuGH 2. März 2023 – C-268/21 – [Norra Stockholm Bygg] Rn. 53), könnte sich die gerichtliche Verarbeitung von rechtswidrig durch den Arbeitgeber erhobenen personenbezogenen Daten des klagenden Arbeitnehmers jedenfalls nur als unangemessen (unverhältnismäßig im engeren Sinn) darstellen, wenn sich die Überwachungsmaßnahme nach Unionsrecht als schwerwiegende Verletzung von Art. 7 und Art. 8 GRC erwiese und andere mögliche Sanktionen für den Arbeitgeber (zB Schadenersatz nach Art. 82 DSGVO und Verhängung von Geldbußen nach Art. 83 DSGVO) gänzlich unzureichend wären. 29 (2) Andererseits kann – was aber ebenfalls fraglich erscheint – zugunsten des klagenden Arbeitnehmers unterstellt werden, dass sich unter Geltung von Art. 17 Abs. 3 Buchst. e DSGVO in verfassungskonformer Auslegung des nationalen Verfahrensrechts ausnahmsweise das Verbot für das Gericht ergeben kann, Sachvortrag oder Beweismittel zu verwerten, die im Zug einer das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 1 Abs. 1 GG) des Arbeitnehmers verletzenden Datenverarbeitung vom Arbeitgeber erlangt wurden. Ein solcher Tatbestand führte dazu, dass es an einer Rechtsgrundlage im mitgliedstaatlichen Verfahrensrecht iSv. Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. e iVm. Abs. 3 Satz 1 Buchst. b DSGVO fehlte (Rn. 24 f.). Dies hätte wiederum zur Folge, dass auch eine unionsrechtliche Ermächtigung für die Datenverarbeitung durch ein Gericht nicht vorhanden wäre. 30 (a) Ein Verwertungsverbot kommt in Betracht, wenn dies wegen einer durch das Grundgesetz geschützten Rechtsposition einer Prozesspartei zwingend geboten ist. Das setzt in aller Regel voraus, dass die betroffenen Schutzzwecke des bei der Gewinnung verletzten Grundrechts der Verwertung der Erkenntnis oder des Beweismittels im Rechtsstreit entgegenstehen und deshalb die Verwertung selbst einen Grundrechtsverstoß darstellen würde. Dies ist der Fall, wenn das nach Art. 1 Abs. 3 GG unmittelbar an die Grundrechte gebundene Gericht ohne Rechtfertigung in eine verfassungsrechtlich geschützte Position einer Prozesspartei eingriffe, indem es eine Persönlichkeitsrechtsverletzung durch einen Privaten perpetuierte oder vertiefte. Jenseits der sie treffenden Pflicht, ungerechtfertigte Grundrechtseingriffe zu unterlassen, können die Gerichte allenfalls dann wegen einer verfassungsrechtlichen Schutzpflicht gehalten sein, einer Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch Private aktiv zu begegnen und Sachvortrag oder Beweisantritte einer Partei aus Gründen der Generalprävention außer Acht zu lassen, wenn andernfalls die verletzte Schutznorm in den betreffenden Fällen leerliefe (BAG 23. August 2018 – 2 AZR 133/18 – Rn. 14, BAGE 163, 239). 31 (b) Ein auf Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 1 Abs. 1 GG gestütztes Verwertungsverbot scheidet – selbst unter Berücksichtigung der vom Senat zugunsten des betroffenen Arbeitnehmers unterstellten Vorgaben aus Art. 17 Abs. 3 Buchst. e DSGVO – regelmäßig in Bezug auf solche Bildsequenzen aus einer offenen Videoüberwachung aus, die vorsätzlich begangene Pflichtverletzungen zulasten des Arbeitgebers zeigen (sollen), ohne dass es auf die Rechtmäßigkeit der gesamten Überwachungsmaßnahme ankäme. 32 (aa) Die Beeinträchtigung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung eines Arbeitnehmers durch eine offene Überwachungsmaßnahme wird zum einen durch die Verhaltenshemmung (psychischer Anpassungsdruck) und zum anderen durch die Verdinglichung des gleichwohl gezeigten Verhaltens samt der darin liegenden Gefahr der Verbreitung der Aufzeichnung bewirkt. Anders als bei einer verdeckten Überwachungsmaßnahme geht es bei einer für ihn erkennbaren Überwachung nicht um den Schutz vor einer (heimlichen) Ausspähung, sondern vielmehr „nur“ um Entfaltungs-, Dokumentations- und Verbreitungsschutz. Ein Verwertungsverbot kommt lediglich in Betracht, wenn und soweit der Arbeitnehmer bezogen auf diese Zwecke schutzwürdig ist. Hieran fehlt es, wenn der Arbeitgeber durch die vorhandenen Daten von einer vorsätzlich begangenen Pflichtverletzung Kenntnis erlangt und auf diese reagieren will. Der Arbeitnehmer wurde durch die vorangegangene Überwachung und Aufzeichnung seines Verhaltens nicht daran gehindert, selbstbestimmt zu handeln. Er hat sich vielmehr – trotz seiner Kenntnis von der Überwachung – für die Begehung einer Vorsatztat zulasten des Arbeitgebers entschieden. Zwar wurde dieses Verhalten dokumentiert und damit eine Verbreitung ermöglicht. Doch muss der Arbeitnehmer diese – von ihm angesichts der Offenheit der Überwachung erkennbare – Folge hinnehmen, soweit die betreffende Bildsequenz dazu verwendet wird, den „Tatbeweis“ in einem Kündigungsschutzprozess zu führen, also lediglich der Durchsetzung rechtlich geschützter Belange des Arbeitgebers dienen soll (vgl. EGMR 27. Mai 2014 – 10764/09 – [De la Flor Cabrera/Spanien]; Niemann JbArbR Bd. 55 S. 41, 60). Das grundgesetzlich verbürgte Recht auf informationelle Selbstbestimmung kann nicht zu dem alleinigen Zweck in Anspruch genommen werden, sich der Verantwortung für vorsätzlich rechtswidriges Handeln zu entziehen (vgl. BAG 23. August 2018 – 2 AZR 133/18 – Rn. 30, BAGE 163, 239; BGH 24. November 1981 – VI ZR 164/79 – zu II 2 b der Gründe). Datenschutz ist kein Tatenschutz. 33 (bb) Aspekte der Generalprävention könnten allenfalls dann zu einem Verwertungsverbot in Bezug auf vorsätzliches Fehlverhalten des Arbeitnehmers führen, wenn sich die Überwachungsmaßnahme des Arbeitgebers als solche trotz ihrer offenen Durchführung als schwerwiegende Verletzung des durch Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Rechts darstellt (denkbar zB bei offener Überwachung von Toiletten oder Umkleideräumen oder offener Dauerüberwachung ohne Rückzugsmöglichkeit, vgl. BAG 23. August 2018 – 2 AZR 133/18 – Rn. 35, BAGE 163, 239). Das entspricht angesichts der zugunsten des Arbeitnehmers unterstellten Vorgaben in Art. 17 Abs. 3 Buchst. e DSGVO iVm. Art. 7 und Art. 8 GRC (Rn. 28) mit hinreichender Deutlichkeit dem Unionsrecht, was der Senat ohne ein darauf bezogenes Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 Abs. 3 AEUV entscheiden kann. 34 cc) Ein Verbot, inkriminierte Bildsequenzen aus einer offenen Videoüberwachung in Augenschein zu nehmen, besteht schließlich nicht deshalb, weil sie womöglich gar kein Verhalten des Arbeitnehmers zeigen, das eine vorsätzliche Verletzung der Rechtsgüter des Arbeitgebers darstellt oder doch auf eine solche hindeutet. Da Art. 103 Abs. 1 GG und Art. 47 Abs. 2 GRC grds. gebieten, einem erheblichen Beweisantritt nachzugehen, darf eine Beweiserhebung nicht auf die bloße Möglichkeit ihrer Grundrechtswidrigkeit hin unterbleiben. Auch insofern bestehen für den betroffenen Arbeitnehmer ausreichende andere Schutzmechanismen. Ergibt die Inaugenscheinnahme „rein gar nichts“ iSd. Arbeitgebers, verliert dieser nicht nur den Prozess. Vielmehr kann in der weiteren Verarbeitung – eindeutig – irrelevanter Sequenzen und deren Einführung in einen Rechtsstreit eine schwerwiegende Persönlichkeitsrechtsverletzung liegen, für die er unter den Voraussetzungen von § 823 Abs. 1 BGB iVm. Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 1 Abs. 1 GG eine Geldentschädigung (BAG 23. August 2018 – 2 AZR 133/18 – Rn. 36, BAGE 163, 239) oder nach Art. 82 DSGVO immateriellen Schadenersatz schuldet (EuGH 4. Mai 2023 – C-300/21 – [Österreichische Post]). 35 dd) Im vorliegenden Rechtsstreit waren die – vermeintlichen – Erkenntnisse der Beklagten aus der Videoüberwachung an Tor 5 zum Werksgelände ebenso zu berücksichtigen, wie die Bildsequenz, die den Kläger beim vorzeitigen Verlassen des Werksgeländes zeigen soll, ggf. als Beweismittel in Augenschein zu nehmen wäre. 36 (1) Es handelte sich um eine offene, durch zumindest ein Piktogramm ausgewiesene und auch sonst nicht zu übersehende Videoüberwachung. Es ist rechtlich ohne Bedeutung, dass das Piktogramm – über das Monitoring hinaus – nicht gesondert auf eine Aufzeichnung und Speicherung der Bildsequenzen hingewiesen hat und die Beklagte ihren Informationspflichten aus Art. 13 Abs. 1 und Abs. 2 DSGVO möglicherweise nicht vollständig nachgekommen sein mag. Der Kläger musste jedenfalls damit rechnen, dass auch eine Aufzeichnung und Speicherung seines „Passierverhaltens“ erfolgen könnte. Er wurde nicht heimlich „ausgespäht“, sondern hat sich einer Erfassung seiner möglichen vorsätzlichen Pflichtverletzung „sehenden Auges“ ausgesetzt. Anders hätte es allenfalls gelegen, wenn die Beklagte ihn in Bezug auf die Erfassung und Speicherung von vorsätzlichen Pflichtverletzungen „in Sicherheit gewiegt“ hätte (vgl. BAG 23. August 2018 – 2 AZR 133/18 – Rn. 44, BAGE 163, 239). Dafür ist indes nichts festgestellt. Anderes folgt nicht aus dem – streitigen und überdies unsubstantiierten – Vorbringen des Klägers, dem Betriebsrat sei mitgeteilt worden, dass die Videoüberwachung dazu bestimmt sei, Dienstfremden und Mitarbeitern, die Probleme mit ihrem Werksausweis hätten, die Möglichkeit zu geben, über eine Klingel den Werkschutz zu kontaktieren, damit dieser das Werkstor aus der Ferne öffnen könne. Dem lässt sich schon nicht entnehmen, dass dies dem Betriebsrat als alleiniger Zweck der Videoüberwachung – zumal auch des Ausgangs vom Werksgelände – eröffnet worden sei. Dessen ungeachtet ist weder dargetan noch sonst ersichtlich, dass die Beklagte dem Betriebsrat erklärt hat, es erfolge ein reines Videomonitoring bzw. die Aufzeichnungen der Kameras sollten nicht ggf. zur Aufdeckung von vorsätzlichen Pflichtverletzungen genutzt werden. 37 (2) Zwar hat das Landesarbeitsgericht nicht festgestellt, welchen genauen Erfassungsbereich die Kameras an Tor 5 zum Werksgelände hatten. Doch kann das Vorliegen einer zu einem ständigen Anpassungs- und Leistungsdruck führenden Dauer- oder Totalüberwachung ausgeschlossen werden. Die Arbeitnehmer wurden im Wesentlichen nur beim Durchschreiten des Tores – bei Betreten des Werksgeländes zudem beim Vorhalten ihres Werksausweises vor das Kartenlesegerät – für eine kurze Zeit gefilmt. Ihre Intim- oder Privatsphäre wurde dabei nicht tangiert. Eine schwere Grundrechtsverletzung folgt auch nicht daraus, dass die Beklagte möglicherweise lange mit der erstmaligen Sichtung des Bildmaterials zugewartet und es bis dahin vorgehalten hat (vgl. BAG 23. August 2018 – 2 AZR 133/18 – Rn. 30, 33, BAGE 163, 239). 38 (3) Mit der Verwertung der betreffenden Bildsequenz im vorliegenden Rechtsstreit ist keine Zweckänderung iSv. Art. 6 Abs. 4 DSGVO verbunden. Der maßgebliche abstrakte Zweck der Datenerhebung (Schutz der berechtigten Interessen der Beklagten und widrigenfalls Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche) stimmt mit dem Zweck der Datenverarbeitung im vorliegenden Verfahren (Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche) überein (vgl. Schulz in Gola/Heckmann DSGVO/BDSG 3. Aufl. Art. 6 DSGVO Rn. 135). Selbst wenn eine Zweckänderung vom Eigentums- hin zum Vermögensschutz vorläge, ergibt die – vom nationalen Gericht vorzunehmende (vgl. EuGH 2. März 2023 – C-268/21 – [Norra Stockholm Bygg] Rn. 48) – Abwägung der wechselseitigen Interessen, dass die Grundrechtspositionen des Klägers aus Art. 7 und Art. 8 GRC nicht das durch Art. 47 Abs. 2 GRC garantierte, in concreto besonders hoch zu bewertende Recht der Beklagten auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz gegenüber einem – vermeintlich – vorsätzlichen Fehlverhalten ihres Arbeitnehmers überwiegen. 39 IV. Der Senat kann aufgrund der bisher vom Landesarbeitsgericht getroffenen Feststellungen nicht selbst abschließend über den vorrangigen Klageantrag gegen die außerordentliche fristlose Kündigung entscheiden. Das Berufungsurteil stellt sich insoweit nicht deshalb als im Ergebnis richtig dar (§ 561 ZPO), weil die Beklagte – wie das Arbeitsgericht angenommen hat – mit ihrem Vorbringen im Rechtsstreit aus betriebsverfassungsrechtlichen Gründen ausgeschlossen wäre, da sie es dem Betriebsrat bei der Anhörung nach § 102 BetrVG nicht unterbreitet hatte. Für den Kündigungsvorwurf und die darauf bezogene Einlassung des Gremiums spielt es keine erhebliche Rolle, ob der Kläger sich in der ausliegenden Anwesenheitsliste in seiner Eigenschaft als Teamsprecher selbst bestätigt oder eine entsprechende Eintragung durch einen anderen Teamsprecher veranlasst hat (Rn. 19). Schon gar nicht handelt es sich um zwei verschiedene Kündigungssachverhalte. 40 V. Die damit erforderliche Zurückverweisung umfasst den Antrag gegen die ordentliche Kündigung, den Auflösungsantrag der Beklagten und den Antrag auf Erteilung eines qualifizierten Endzeugnisses. Dagegen ist der Rechtsstreit hinsichtlich der Erteilung eines qualifizierten Zwischenzeugnisses rechtskräftig abgeschlossen (Rn. 12). 41 VI. Für das fortgesetzte Berufungsverfahren sind folgende weitere Hinweise veranlasst: 42 1. Das Landesarbeitsgericht wird zunächst über den vorrangigen Antrag gegen die außerordentliche Kündigung vom 5. Oktober 2019 zu befinden haben, die – ungeachtet der weiteren von der Beklagten angeführten Kündigungssachverhalte – schon durchgreifen dürfte, wenn davon auszugehen sein sollte, der Kläger habe die Mehrarbeitsschicht am 2. Juni 2018 in der Absicht überhaupt nicht geleistet, sie gleichwohl von der Beklagten vergütet zu bekommen (Rn. 16). 43 a) Dabei wird das Berufungsgericht zu beachten haben, dass das Vorbringen der Beklagten zum Erschleichen der Vergütung für die Mehrarbeitsschicht am 2. Juni 2018 durch den Kläger nach dessen bisheriger Einlassung gemäß § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden anzusehen ist, weil er es weder ausreichend substantiiert bestritten hat (Rn. 18 ff.) noch zu seinen Gunsten ein Sachvortragsverwertungsverbot eingreift (Rn. 22 ff.). 44 b) Um der ihn treffenden sekundären Darlegungslast zu genügen, müsste der Kläger sich zunächst festlegen, ob er am 2. Juni 2018 zwar das Werksgelände vor Schichtbeginn verlassen, es jedoch ebenfalls noch vor Schichtbeginn „unbemerkt“ wieder betreten haben, oder ob er durchgängig auf dem Werksgelände geblieben sein möchte. Der Beklagten obläge sodann (nur) der Nachweis, dass diese Darstellung nicht zutrifft (vgl. BAG 16. Dezember 2021 – 2 AZR 356/21 – Rn. 31 f.). 45 c) Sollte der Kläger behaupten, er sei durchgängig auf dem Werksgelände verblieben, hätte das Landesarbeitsgericht nach §§ 371 ff. ZPO Beweis durch Inaugenscheinnahme der inkriminierten, keinem Verwertungsverbot unterliegenden (Rn. 22 ff.) Bildsequenz aus der Videoüberwachung an Tor 5 zu der gegenteiligen Behauptung der Beklagten zu erheben, der Kläger habe das Gelände vor Schichtbeginn wieder verlassen. Sollte sich dies erweisen, wäre schon deshalb davon auszugehen, dass die Darstellung der Beklagten zum Kündigungsvorwurf (Nichtableisten der Schicht in Täuschungsabsicht) zutrifft. Der Kläger könnte sich nicht in prozessual zulässiger Weise dahin einlassen, er habe das Werksgelände nicht verlassen; sollte er es doch verlassen haben, habe er es noch vor Schichtbeginn wieder betreten. 46 d) Sollte der Kläger nach der Zurückverweisung substantiiert darlegen, dass er das Werksgelände zwar zunächst wieder verlassen, es aber „unbemerkt“ noch vor Schichtbeginn – wann, durch welchen Eingang? – wieder betreten und sodann – nach rechtzeitigem Erreichen der Gießerei? – ordnungsgemäß gearbeitet habe, wird das Landesarbeitsgericht – ohne dass es auf die von der Beklagten vorgelegte Bildsequenz aus der Videoüberwachung an Tor 5 ankäme – nach § 286 Abs. 1 ZPO zu würdigen haben, ob es die Behauptung der Beklagten für erwiesen erachtet, der Kläger habe das Werksgelände am 2. Juni 2018 nicht wieder betreten. Dabei wird das Berufungsgericht zu beachten haben, dass für eine Überzeugungsbildung iSd. § 286 Abs. 1 ZPO ein für das praktische Leben brauchbarer Grad von Gewissheit genügt, der verbleibenden Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen. Das Gericht muss ggf. begründen, warum es Restzweifel nicht überwinden konnte. Insbesondere darf es das Nichterreichen eines ausreichenden Grads an Gewissheit nicht allein darauf stützen, es seien andere Erklärungen theoretisch denkbar (vgl. BAG 11. Juni 2020 – 2 AZR 442/19 – Rn. 62, BAGE 171, 66). Dementsprechend wird sich das Landesarbeitsgericht die volle Überzeugung iSd. Vorbringens der Beklagten ggf. auch allein dadurch verschaffen können, dass es das gegenteilige Vorbringen des Klägers zum Wiedereintritt durch den Haupteingang zwar für ausreichend substantiiert, aber für nicht glaubhaft, weil jeder inneren Wahrscheinlichkeit entbehrend, erachtet (vgl. BGH 22. November 1994 – XI ZR 219/93 – zu II f der Gründe). In diesem Zusammenhang könnte es auch eine Rolle spielen, wenn der Kläger des vorliegenden Rechtsstreits sowie die Kläger der vom Senat am selben Tag entschiedenen Parallelverfahren – 2 AZR 297/22 und 2 AZR 298/22 – das Werksgelände zwar in kurzen Abständen vor Beginn der Mehrarbeitsschicht durch Tor 5 verlassen haben, es aber jeweils „unbemerkt“ rechtzeitig durch ein anderes Tor wieder betreten haben wollen. 47 e) Sollte der Kläger substantiiert dartun, dass er das Werksgelände vor Schichtbeginn durch ein Drehkreuz wieder betreten haben möchte, wären die Behauptung und ggf. ein entsprechender Beweisantritt der Beklagten prozessual beachtlich, dass dies nach der elektronischen Anwesenheitserfassung und der Videoüberwachung ausgeschlossen werden kann. Es stellt bereits keine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Klägers dar, wenn er von einer Überwachungsmaßnahme nicht erfasst wurde. Auch war mit der elektronischen Anwesenheitserfassung und einer offenen Videoüberwachung an den Toren zum Werksgelände keine schwerwiegende Grundrechtsverletzung verbunden (Rn. 33, 37). 48 f) Anders als vom Landesarbeitsgericht angenommen, ist es der Beklagten nicht aus betriebsverfassungsrechtlichen Gründen verwehrt, Daten, die sie mithilfe der elektronischen Anwesenheitserfassung gewonnen hat, in das Verfahren einzuführen. 49 aa) Das Berufungsgericht hat seine Auffassung auf eine am 17. Oktober 2007 für das Werk H abgeschlossene Betriebsvereinbarung über die Einführung einer elektronischen Anwesenheitserfassung (BV 2007) gestützt, wonach „keine personenbezogene Auswertung von Daten erfolgt“. Durch den Abschluss dieser Betriebsvereinbarung, deren weiterer Inhalt sich aus dem angefochtenen Urteil allerdings nicht erschließt, habe die Beklagte den Kläger im Sinne einer „berechtigten Privatheitserwartung“ in Sicherheit gewiegt. Dies gelte selbst für den Fall, dass der Betriebsrat der Auswertung der Kartenlesegeräte nachträglich zugestimmt habe, da die Betriebsvereinbarung den Arbeitnehmern – so das Landesarbeitsgericht – „eigene Rechte“ einräume. 50 bb) Es kann unterstellt werden, dass die BV 2007 die vom Landesarbeitsgericht herangezogene Regelung enthält. Diese konnte in Bezug auf die dem Kläger vorgeworfene Arbeitszeitmanipulation jedoch keine berechtigte Privatheitserwartung begründen oder den Kläger bezüglich der Begehung und Ahndung seiner vermeintlichen Arbeitszeitmanipulation „in Sicherheit wiegen“ (vgl. Rn. 36). 51 (1) Die Vorinstanz ist begründungslos davon ausgegangen, dass durch die BV 2007 auch eine vorsätzliche Pflichtverletzung der rechtlichen Ahndung entzogen werden soll. Eine solche Auslegung begegnet schon deshalb Bedenken, weil die Vereitelung von Sanktionen auch für schwere Pflichtverletzungen kaum mit dem in § 2 Abs. 1 BetrVG genannten „Wohl des Betriebs“ als Ziel der Zusammenarbeit zwischen den Betriebsparteien vereinbar wäre. Von der Regelung in der vom Berufungsgericht verstandenen Weise begünstigt wäre – ohne ersichtlichen Grund – auch der vertragswidrig handelnde Vorsatztäter. 52 (2) Das Landesarbeitsgericht muss dem Inhalt der BV 2007 aber nicht weiter nachgehen. Selbst wenn diese entsprechend seiner Sichtweise auszulegen wäre, würde ein Verstoß der Beklagten gegen das dort bestimmte „Auswertungsverbot“ nicht dazu führen, dass es den Gerichten für Arbeitssachen verwehrt wäre, die in den Rechtsstreit eingeführten Erkenntnisse ihrer Entscheidung zugrunde zu legen. 53 (a) Den Betriebsparteien fehlt die Regelungsmacht, ein über das formelle Verfahrensrecht der Zivilprozessordnung hinausgehendes Verwertungsverbot zu begründen oder die Möglichkeit des Arbeitgebers wirksam zu beschränken, in einem Individualrechtsstreit Tatsachenvortrag über betriebliche Geschehnisse zu halten (zweifelnd bereits BAG 31. Januar 2019 – 2 AZR 426/18 – Rn. 68, BAGE 165, 255) und diesen unter Beweis zu stellen. Es kann dahinstehen, ob und ggf. in welchem Umfang sich der Arbeitgeber gegenüber dem Betriebsrat überhaupt verpflichten kann, Erkenntnisse aus einer Datenverarbeitung nicht zu nutzen. Die Betriebsparteien sind zwar berechtigt, im Rahmen ihrer Zuständigkeit die betriebsverfassungsrechtlichen Beteiligungsrechte auszugestalten und ggf. zu erweitern. Dabei sind sie nicht auf die in § 88 BetrVG genannten Regelungsgegenstände beschränkt. Die Aufzählung der dort genannten Angelegenheiten ist nicht abschließend. Den Betriebsparteien fehlt jedoch die Befugnis zu Eingriffen in das gerichtliche Verfahren. Dieses steht nicht zu ihrer Disposition. Vielmehr obliegt seine Ausgestaltung dem Gesetzgeber. Allein dieser ist befugt, den gerichtlichen Verfahrensablauf zu bestimmen (vgl. BAG 18. August 2009 – 1 ABR 49/08 – Rn. 20, BAGE 131, 358). Dazu gehört auch die in §§ 138, 286 Abs. 1 ZPO bestimmte Möglichkeit, Tatsachenstoff in das Verfahren einzuführen und unter Beweis zu stellen, sowie die darauf bezogene Würdigung durch das Gericht. 54 (b) Es tritt hinzu, dass das Recht zur – hier vorrangig erklärten – außerordentlichen Kündigung des Arbeitsvertrags gemäß § 626 BGB im Voraus weder verzicht- noch erheblich erschwerbar und eine gegenteilige Regelung nach § 134 BGB nichtig ist (BAG 15. März 1991 – 2 AZR 516/90 – zu II 2 d aa der Gründe; 28. Oktober 1971 – 2 AZR 15/71 – zu II 2 b der Gründe; 18. Dezember 1961 – 5 AZR 104/61 – zu 1 der Gründe). Zumindest auf eine erhebliche Erschwerung des Rechts zur außerordentlichen Kündigung liefe aber ein Verbot für den Arbeitgeber hinaus, Erkenntnisse aus einer Überwachungsmaßnahme, die auf ein Verhalten hindeuten (sollen), das „an sich“ geeignet ist, einen wichtigen Grund iSv. § 626 BGB zu bilden, in einen Kündigungsschutzprozess einzuführen. Denn dabei handelt es sich regelmäßig um die zuverlässigsten Erkenntnisquellen (vgl. BAG 23. August 2018 – 2 AZR 133/18 – Rn. 27, BAGE 163, 239). 55 (c) Nach alledem kann dahinstehen, ob ein in einer Betriebsvereinbarung bestimmtes Verbot für den Arbeitgeber, Erkenntnisse aus einer – zumal offenen – Überwachungsmaßnahme in einen Kündigungsschutzprozess einzuführen, die auf eine vorsätzliche Pflichtverletzung eines Arbeitnehmers hindeuten, auch unionsrechtswidrig wäre. Dafür dürfte sprechen, dass die DSGVO nach ihrem Art. 1 Abs. 1 eine grundsätzlich vollständige Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften zum Schutz personenbezogener Daten sicherstellen soll, und die Mitgliedstaaten bzw. die Betriebsparteien, wenn sie von einer Öffnungsklausel wie derjenigen in Art. 88 Abs. 1 DSGVO Gebrauch machen, ihr Ermessen unter den Voraussetzungen und innerhalb der Grenzen der Bestimmungen der DSGVO ausüben müssen und deshalb nur Rechtsvorschriften bzw. Kollektivvereinbarungen erlassen dürfen, die nicht gegen den Inhalt und die Ziele der DSGVO (ua. Schutz des freien Datenverkehrs) verstoßen. Das betrifft namentlich die in Art. 6 DSGVO enthaltenen Vorgaben (vgl. EuGH 30. März 2023 – C-34/21 – [Hauptpersonalrat der Lehrerinnen und Lehrer] Rn. 51, 59, 68 ff. und 79). Der Vorschrift ist es ausweislich ihres Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. f aber fremd, dass bestimmte Verarbeitungen von personenbezogenen Daten trotz eines – bei Vorsatztaten besonders hohen – berechtigten Interesses des Verantwortlichen ungeachtet einer einzelfallbezogenen Abwägung ausgeschlossen sind. Ebenso erscheint zweifelhaft, ob es sich bei solchen Verwertungsverboten um geeignete und besondere Maßnahmen zur Wahrung ua. der berechtigten Interessen und der Grundrechte der betroffenen Arbeitgeber iSv. Art. 88 Abs. 2 DSGVO handelt (vgl. EuGH 30. März 2023 – C-34/21 – [Hauptpersonalrat der Lehrerinnen und Lehrer] Rn. 64). 56 g) Das Landesarbeitsgericht wird auch nicht aufklären müssen, ob bei der Einrichtung der Videoüberwachung – soweit es auf die daraus gewonnenen Erkenntnisse überhaupt ankommen sollte – Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats missachtet wurden. Der Schutzzweck von § 87 Abs. 1 Nr. 6 und § 77 BetrVG gebietet ein Verwertungsverbot jedenfalls dann nicht, wenn die Verwertung der Information bzw. des Beweismittels – wie hier – nach allgemeinen Grundsätzen zulässig ist (vgl. BAG 20. Oktober 2016 – 2 AZR 395/15 – Rn. 36, BAGE 157, 69; 22. September 2016 – 2 AZR 848/15 – Rn. 44, BAGE 156, 370). 57 h) Falls das Landesarbeitsgericht zwar nicht von einer „Tat“ durch den Kläger überzeugt sein, aber einen entsprechenden dringenden Verdacht bejahen sollte, wäre zu prüfen, ob der Kläger – wofür alles spricht – dazu ordnungsgemäß angehört worden ist (zu den Anforderungen vgl. BAG 25. April 2018 – 2 AZR 611/17 – Rn. 31 f.). 58 i) Schließlich wäre ggf. zu erörtern, ob die Beklagte die Erklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB gewahrt und den Betriebsrat – wofür entgegen der Auffassung des Arbeitsgerichts alles spricht – ordnungsgemäß iSv. § 102 Abs. 1 BetrVG zu der beabsichtigten außerordentlichen Kündigung angehört hat. 59 2. Sollte das Berufungsgericht dem Hauptantrag gegen die außerordentliche fristlose Kündigung vom 5. Oktober 2019 stattgeben, fiele der unechte Hilfsantrag gegen die ordentliche Kündigung vom 9. Oktober 2019 zur Entscheidung an. Insofern wird ggf. zu beachten sein, dass die Erklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB für eine ordentliche Tat-, aber auch Verdachtskündigung nicht gilt (vgl. BAG 31. Januar 2019 – 2 AZR 426/18 – Rn. 31, BAGE 165, 255). 60 3. Falls das Landesarbeitsgericht dem gegen die ordentliche Kündigung gerichteten unechten Hilfsantrag ebenfalls stattgeben sollte, fiele der von der Beklagten zweitinstanzlich zulässigerweise zu Protokoll gestellte Auflösungsantrag nach § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG zur Entscheidung an. Zwar spricht vieles dafür, dass die Beklagte die darauf bezogene Begründung nicht wirksam in das Verfahren eingeführt hat. Die Antragsbegründung hat sie weder zu Protokoll des Berufungsgerichts gegeben noch in einem gemäß § 46g Satz 1 ArbGG als elektronisches Dokument (dazu Siegmund NJW 2023, 1681, 1683) bei Gericht eingegangenen Schriftsatz ausgeführt. Dies bedarf indes keiner Entscheidung. Die Beklagte kann ihren den Auflösungsantrag begründenden, bisher nur im Termin übergebenen (Papier-)Schriftsatz im fortgesetzten Berufungsverfahren elektronisch einreichen. Der Auflösungsantrag dürfte sich als erfolgreich erweisen, wenn der dazu zweitinstanzlich und im Revisionsverfahren von der Beklagten gehaltene Vortrag zum wahrheitswidrigen Prozessvorbringen des Klägers unstreitig bleibt oder bewiesen wird. 61 4. Schließlich wird das Landesarbeitsgericht nach § 139 Abs. 1 Satz 2 ZPO auf eine Klarstellung hinzuwirken haben, ob der Kläger den Antrag auf Erteilung eines qualifizierten Endzeugnisses tatsächlich nur für den – nicht eingetretenen (Rn. 12) – Fall des Unterliegens mit dem Antrag auf Erteilung eines qualifizierten Zwischenzeugnisses oder vielmehr für den Fall des Unterliegens mit einem der Kündigungsschutzanträge oder gegen den Auflösungsantrag der Beklagten, also der Beendigung des Arbeitsverhältnisses, zur Entscheidung gestellt hat. 62 5. Bei der Kostenentscheidung für die erste Instanz wird das Landesarbeitsgericht – auch dann, wenn es die Berufung der Beklagten insgesamt zurück- und ihren im zweiten Rechtszug gestellten Auflösungsantrag abweisen sollte – zu beachten haben, dass der Kläger einen zunächst gestellten allgemeinen Feststellungsantrag zurückgenommen (§ 269 Abs. 3 Satz 2 ZPO) und das Arbeitsgericht darüber hinaus zwei vermeintliche weitere allgemeine Feststellungsanträge rechtskräftig als unzulässig abgewiesen hat. Diese „Anträge“ mögen den Gebührenstreitwert für die erste Instanz nicht erhöht haben. Doch bedeutet dies nicht, dass sich die teilweise Klagerücknahme bzw. Klageabweisung nicht kraft Bildung eines fiktiven Kostenstreitwerts zulasten des Klägers auswirken müsste (vgl. Niemann NZA 2019, 65, 71). Hinsichtlich des zurückgenommenen Antrags könnte anderes gelten, wenn es sich – wofür vieles spricht – nicht um einen Haupt-, sondern einen unechten Hilfsantrag gehandelt haben sollte. Zudem wird das Berufungsgericht über die Kosten des zweitinstanzlichen Verfahrens und der Revision zu entscheiden haben.              Koch                  Schlünder                  Niemann                                    Mertz                  Alex
bundesarbeitsgericht
bag_20-22
25.05.2022
25.05.2022 20/22 - Mindestlohn nicht gegen Insolvenzanfechtung gesichert Bei Insolvenz des Arbeitgebers kann der Insolvenzverwalter nach Maßgabe der §§ 129 ff. InsO vom Arbeitnehmer das zu bestimmten Zeitpunkten ausbezahlte Arbeitsentgelt zu Gunsten der Insolvenzmasse zurückfordern. Dies dient der gemeinschaftlichen Befriedigung der Insolvenzgläubiger nach den insolvenzrechtlichen Verteilungsregeln. Der Rückgewähranspruch umfasst das gesamte Arbeitsentgelt einschließlich des gesetzlichen Mindestlohns. Der Gesetzgeber hat den Mindestlohn nicht anfechtungsfrei gestellt. Die beklagte Arbeitnehmerin erhielt in den letzten beiden Monaten vor dem Insolvenzantrag – und damit in von § 131 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 InsO erfassten Zeiträumen – unter Angabe des Verwendungszwecks für zwei Monate ihr Arbeitsentgelt von dem Konto der Mutter ihres damals bereits zahlungsunfähigen Arbeitgebers. Am 1. Dezember 2016 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Arbeitgebers eröffnet. Der auf Rückgewähr klagende Insolvenzverwalter hat die Zahlungen wegen sog. Inkongruenz angefochten. Nach Ansicht der Beklagten ist eine Anfechtung in Höhe des Existenzminimums bzw. in Höhe des Mindestlohns unzulässig. Das Landesarbeitsgericht hat der Klage teilweise stattgegeben. Die Voraussetzungen einer Anfechtung nach § 131 InsO seien zwar erfüllt, der Mindestlohn könne aber nicht zurückgefordert werden. Hiergegen hat sich der Kläger mit seiner Revision gewandt. Die Beklagte hat Anschlussrevision erhoben und die vollständige Abweisung der Klage verlangt. Nur die Revision des Klägers hatte vor dem Sechsten Senat des Bundesarbeitsgerichts Erfolg. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts und der Beklagten ist die Klage in voller Höhe begründet. Eine grundsätzliche Einschränkung der Insolvenzanfechtung ist verfassungsrechtlich nicht geboten. Der Schutz des Existenzminimums des Arbeitnehmers wird durch die Pfändungsschutzbestimmungen der Zivilprozessordnung und das Sozialrecht gewährleistet. Der insolvenzrechtliche Rückgewähranspruch bezieht sich uneingeschränkt auch auf den gesetzlichen Mindestlohn. Wurde dieser durch Zahlung erfüllt, enden die Rechtswirkungen des Mindestlohngesetzes. Einen Ausschluss der Anfechtbarkeit oder einen besonderen Vollstreckungsschutz hat der Gesetzgeber nicht vorgesehen. Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 25. Mai 2022 – 6 AZR 497/21 – Vorinstanz: Hessisches Landesarbeitsgericht, Urteil vom 19. Oktober 2021 – 12 Sa 587/21 –
Tenor 1. Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 19. Oktober 2021 – 12 Sa 587/21 – teilweise aufgehoben. 2. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Gießen vom 13. April 2021 – 5 Ca 188/20 – abgeändert und wie folgt gefasst: Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 3.280,62 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 29. Dezember 2019 zu zahlen. 3. Die Anschlussrevision der Beklagten wird zurückgewiesen. 4. Der Kläger hat die durch die Anrufung des Amtsgerichts Gießen entstandenen Kosten zu tragen. Die übrigen Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte. Leitsatz Die Insolvenzanfechtung von Arbeitsentgelt umfasst auch den auf den gesetzlichen Mindestlohn entfallenden Bestandteil. Tatbestand 1 Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte Arbeitsentgelt, welches sie durch eine Zahlung über das Konto der Mutter ihres insolventen Arbeitgebers erlangt hat, an die Insolvenzmasse zurückgewähren muss. 2 Die Beklagte stand in einem Arbeitsverhältnis zu Herrn K (im Folgenden Schuldner). Ein schriftlicher Arbeitsvertrag existierte nicht. Am 25. August 2016 und am 26. September 2016 erhielt sie auf ihr Konto Überweisungen vom Konto der Mutter des Schuldners in Höhe von jeweils 1.640,31 Euro. Als Verwendungszweck wurde „Lohn August“ bzw. „Lohn September“ angegeben. Als Zahlende war der Name der Mutter des Schuldners angegeben. Die Höhe der Zahlungen entsprach dem geschuldeten Nettoarbeitsentgelt. 3 Das Konto der Mutter des Schuldners hatte sich am 16. Juli 2016 noch mit 7,87 Euro im Soll befunden. Am 18. Juli 2016 wurde darauf eine Bareinzahlung aus dem Vermögen des Schuldners in Höhe von 4.350,00 Euro geleistet. Bis zum 10. Oktober 2016 erfolgten weitere Bareinzahlungen und Umbuchungen von Seiten des Schuldners auf das Konto seiner Mutter. Zudem nahmen Schuldner des Schuldners Überweisungen auf das Konto der Mutter vor. 4 Am 12. Oktober 2016 wurde die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Schuldners beantragt. Zu diesem Zeitpunkt betrugen seine Verbindlichkeiten 3.610.889,73 Euro. Bei Auszahlung des Arbeitsentgelts der Beklagten für die Monate August und September 2016 über das Konto seiner Mutter war der Schuldner bereits zahlungsunfähig. Am 12. Juli 2016 hatten sich seine fälligen Verbindlichkeiten noch auf 1.122.551,65 Euro belaufen. 5 Mit Beschluss des Insolvenzgerichts vom 1. Dezember 2016 wurde das Verfahren eröffnet und der Kläger zum Insolvenzverwalter bestellt. 6 Mit Schreiben vom 5. Dezember 2019 focht der Kläger die für die Monate August und September 2016 erfolgten Entgeltzahlungen gegenüber der Beklagten an. Diese wies die mit der Anfechtung verbundene Rückzahlungsaufforderung zurück. Gegen den vom Kläger daraufhin erwirkten Mahnbescheid, welcher ihr am 28. Dezember 2019 zugestellt worden ist, hat die Beklagte Widerspruch eingelegt. Das Amtsgericht Gießen, an das der Rechtsstreit zur Durchführung des streitigen Verfahrens abgegeben worden war, hat den beschrittenen Rechtsweg rechtskräftig für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit an das Arbeitsgericht Gießen verwiesen. 7 Mit seiner Klage hat der Kläger von der Beklagten die Zahlung der ihr über das Konto der Mutter des Schuldners insgesamt überwiesenen Summe von 3.280,62 Euro an die Insolvenzmasse begehrt. Die Leistungen seien nach § 131 Abs. 1 Nr. 1 bzw. Nr. 2 InsO anfechtbar. Die Beklagte habe innerhalb der danach maßgeblichen Zeiträume vor dem Eröffnungsantrag die angefochtenen Zahlungen abweichend vom vereinbarten bzw. üblichen Erfüllungsweg und damit als inkongruente Leistungen erhalten. 8 Der Kläger hat beantragt,          die Beklagte zu verurteilen, an ihn 3.280,62 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen. 9 Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Es liege schon keine inkongruente Deckung iSv. § 131 InsO vor. Die fraglichen Entgeltzahlungen seien aus dem Vermögen der Mutter des Schuldners erfolgt. Es habe sich daher nicht um einen Vermögensbestandteil des Schuldners gehandelt, der im Rahmen der Anfechtung zurückgefordert werden könne. Zudem sei zwischen den Parteien nicht festgelegt worden, auf welchem Zahlungsweg das Entgelt zu entrichten sei. Letztlich handle es sich um ein Bargeschäft iSv. § 142 InsO, welches nicht nach § 131 InsO anfechtbar sei. 10 Dessen ungeachtet stehe der verfassungsrechtlich gebotene Schutz des Existenzminimums einer Anfechtung entgegen. Bei pünktlichen Entgeltzahlungen, auch wenn sie von Dritten geleistet werden, könne der Arbeitnehmer keine staatliche Hilfe in Anspruch nehmen und sei daher bezogen auf das Existenzminimum schutzbedürftig. Zumindest müsse ihm der gesetzliche Mindestlohn verbleiben. Auch dieser diene der Existenzsicherung des Arbeitnehmers. 11 Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die hiergegen gerichtete Berufung des Klägers hat das Landesarbeitsgericht das Urteil des Arbeitsgerichts teilweise abgeändert und der Klage in Höhe des den Mindestlohn übersteigenden Anteils des Nettoentgelts stattgegeben. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter. Die Beklagte begehrt mit ihrer Anschlussrevision die vollständige Klageabweisung. Entscheidungsgründe 12 Die zulässige Revision ist begründet. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts ist die Klage vollumfänglich begründet. Der Kläger hat gemäß § 143 Abs. 1 Satz 1 InsO gegenüber der Beklagten als Anfechtungsgegnerin einen Anspruch auf Rückgewähr der Entgeltzahlungen für die Monate August 2016 und September 2016 zur Insolvenzmasse. Die Voraussetzungen einer Anfechtung wegen inkongruenter Deckung nach § 131 Abs. 1 Nr. 1 bzw. Nr. 2 InsO sind erfüllt. Das verfassungsrechtlich gebotene Existenzminimum der Beklagten ist ungeachtet der Anfechtung gesichert. Der Rückgewähranspruch umfasst das erhaltene Arbeitsentgelt einschließlich des auf den gesetzlichen Mindestlohn entfallenden Anteils. Demzufolge ist die zulässig erhobene Anschlussrevision unbegründet. 13 I. Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend erkannt, dass die streitbefangenen Nettoentgeltzahlungen nach § 129 Abs. 1 iVm. § 131 Abs. 1 Nr. 1 bzw. Nr. 2 InsO anfechtbar sind. Der Kläger hat demzufolge gemäß § 143 Abs. 1 InsO einen Anspruch auf Rückgewähr zur Insolvenzmasse (BAG 27. Februar 2014 – 6 AZR 367/13 – Rn. 38). 14 1. Die Insolvenzgläubiger wurden durch die angefochtenen Zahlungen vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens iSd. § 129 Abs. 1 InsO benachteiligt. 15 a) Wenn eine Zahlung von dem Konto eines Dritten an den Anfechtungsgegner erfolgt, liegt die Rechtshandlung des Schuldners in der an den Dritten gerichteten Anweisung, zugunsten des Anfechtungsgegners eine Überweisung auszuführen. Die Gläubigerbenachteiligung äußert sich in der Weggabe der Zahlungsmittel an den Anfechtungsgegner, durch die entweder das auf dem Konto des Dritten befindliche Treugut des Schuldners vermindert und zugleich das für seine Verbindlichkeiten haftende Vermögen verkürzt wird oder der Dritte seine Verbindlichkeiten gegenüber dem Schuldner tilgt und dieser dadurch unter Verkürzung des haftenden Vermögens seine Forderung gegen den Dritten verliert (BGH 12. April 2018 – IX ZR 88/17 – Rn. 10). Demgegenüber liegt eine gläubigerbenachteiligende Rechtshandlung bei einer Überweisung von einem Konto eines Dritten nicht vor, wenn dieser auf Veranlassung des Schuldners, ohne dazu diesem gegenüber verpflichtet zu sein, dessen Verbindlichkeiten aus eigenen Mitteln begleicht (Anweisung auf Kredit). Schließlich fehlt es an einer die Gläubiger benachteiligenden Rechtshandlung, sofern der Dritte ohne Veranlassung und nähere Kenntnis des Schuldners im ausschließlichen Interesse der Befriedigung des Anfechtungsgegners aus eigenem Vermögen die Überweisungen vornimmt (BGH 12. September 2019 – IX ZR 16/18 – Rn. 17). 16 b) Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts hat der Schuldner vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens das Konto seiner Mutter mit Bareinzahlungen, Umbuchungen und Überweisungsgutschriften eigener Schuldner finanziell ausgestattet und damit die Zahlung des Entgelts an die Beklagte über dieses Konto ermöglicht. Das Landesarbeitsgericht hat unter Bezugnahme auf das arbeitsgerichtliche Urteil dessen Auffassung geteilt, dass sich aus den Kontobewegungen letztlich eine Zahlung aus dem Vermögen des Schuldners und nicht aus dem Vermögen seiner Mutter ergebe. Die für eine Anfechtung erforderliche Gläubigerbenachteiligung sei wegen Verminderung der Insolvenzmasse gegeben. Diese lebensnahe Würdigung des Sachverhalts begegnet keinen revisionsrechtlichen Bedenken. Es handelt sich um die gleichsam klassische Verschiebung von Vermögenswerten auf eine dritte Person, um über diese eine bevorzugte Befriedigung eines Gläubigers zulasten der übrigen Gläubiger zu ermöglichen (vgl. BAG 18. Oktober 2018 – 6 AZR 506/17 – Rn. 23; Spelge RdA 2016, 1, 14 mwN). Der Schuldner hat damit eine mittelbare Zuwendung veranlasst. Solche Zuwendungen sind im Allgemeinen so zu behandeln, als habe der befriedigte Gläubiger sie unmittelbar vom Schuldner erworben (BAG 13. November 2014 – 6 AZR 869/13 – Rn. 12, BAGE 150, 22). 17 2. Die Voraussetzungen einer Anfechtung nach § 131 Abs. 1 Nr. 1 bzw. Nr. 2 InsO sind erfüllt. 18 a) Nach § 131 Abs. 1 InsO ist eine Rechtshandlung, die einem Insolvenzgläubiger eine Befriedigung gewährt oder ermöglicht hat, die er nicht oder nicht in der Art oder nicht zu der Zeit zu beanspruchen hatte (inkongruente Deckung), anfechtbar. Die Inkongruenz ist zu dem Zeitpunkt zu beurteilen, in dem die Rechtshandlung iSv. § 140 Abs. 1 InsO vorgenommen wurde. Dabei unterscheidet das Recht des Gläubigers, die Leistung zu fordern, kongruente und inkongruente Rechtshandlungen (BGH 6. Dezember 2018 – IX ZR 143/17 – Rn. 18, BGHZ 220, 280). Was ein Gläubiger beanspruchen kann und wozu der Schuldner verpflichtet ist, ist keine spezifisch insolvenzrechtliche, sondern eine materiell-rechtliche Frage. Haben die Vertragsparteien nicht alle Fragen rechtsgeschäftlich geregelt, ist auf die entsprechenden gesetzlichen Regeln zurückzugreifen. Soweit rechtsgeschäftliche Regelungen möglich sind, ist immer nur maßgeblich, was die Vertragsparteien tatsächlich – ausdrücklich oder konkludent – vereinbart haben, nicht was sie hätten vereinbaren können. Maßstab ist allein die objektive Rechtslage. Es kommt nicht darauf an, welche Vorstellungen die Parteien hatten, insbesondere müssen sie die Inkongruenz weder erkannt noch fahrlässig nicht erkannt haben. Daher spielt auch der gute Glaube beider Parteien, dass die Deckung in vollem Umfang dem Schuldverhältnis entspreche, keine Rolle. Nicht in der Art geschuldet sind sämtliche Befriedigungen, die mit dem geschuldeten Leistungsprogramm nicht im Einklang stehen, also nach dem Inhalt des Schuldverhältnisses von der tatsächlich geschuldeten Leistung abweichen (BGH 12. September 2019 – IX ZR 16/18 – Rn. 21; ebenso BAG 22. Oktober 2015 – 6 AZR 758/14 – Rn. 18 ff.). 19 b) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und des Bundesgerichtshofs sind nicht geschuldete Direktzahlungen, die ein Dritter auf Anweisung des Schuldners erbringt und die die Insolvenzgläubiger benachteiligen, dem Empfänger gegenüber als inkongruente Deckung anfechtbar (BAG 22. Oktober 2015 – 6 AZR 758/14 – Rn. 18 ff.; 13. November 2014 – 6 AZR 632/13 – Rn. 13; 13. November 2014 – 6 AZR 869/13 – Rn. 15 ff., BAGE 150, 22; 21. November 2013 – 6 AZR 159/12 – Rn. 13, BAGE 146, 323; BGH 9. November 2017 – IX ZR 319/16 – Rn. 8; 17. Dezember 2015 – IX ZR 287/14 – Rn. 16, BGHZ 208, 243). Hat der Gläubiger keinen Anspruch darauf, dass seine Forderung in der gewählten Art durch einen Dritten erfüllt wird, liegt darin regelmäßig eine nicht unerhebliche Abweichung vom vereinbarten Erfüllungsweg (zur Konstellation einer dreiseitigen Abrede vgl. BAG 22. Oktober 2015 – 6 AZR 538/14 – Rn. 14, BAGE 153, 163; 21. November 2013 – 6 AZR 159/12 – Rn. 14, BAGE 146, 323). Eine mittelbare Zahlung ist nicht nur dann inkongruent, wenn eine durch den Schuldner selbst vorgenommene Zahlung anfechtbar wäre. Darum ist unerheblich, dass keine Anfechtung nach § 131 InsO möglich gewesen wäre, wenn das Entgelt vom Schuldner über dessen Geschäftskonto zum Fälligkeitszeitpunkt gezahlt worden wäre, weil dann nach § 142 InsO das Bargeschäftsprivileg gegriffen hätte (BAG 13. November 2014 – 6 AZR 869/13 – Rn. 24, aaO). Ebensowenig kommt es darauf an, ob eine Zahlung von einem eigenen Reservekonto des Schuldners kongruent gewesen wäre, wie die Beklagte annimmt. 20 c) Die Kongruenz zwischen Anspruch und Deckungsleistung ist im Interesse der Gläubigergleichbehandlung nach strengen Maßstäben zu beurteilen. Doch schaden lediglich geringfügige Abweichungen von der nach dem Inhalt des Anspruchs typischen und gesetzmäßigen Erfüllung, die der Verkehrssitte (§§ 157, 242 BGB) oder Handelsbräuchen (§ 346 HGB) entsprechen, nicht (BGH 12. September 2019 – IX ZR 16/18 – Rn. 24; vgl. auch BAG 21. November 2013 – 6 AZR 159/12 – Rn. 11 mwN, BAGE 146, 323). Ist das der Fall, ist die Befriedigung ungeachtet der Abweichung kongruent. Ist die Abweichung dagegen mehr als geringfügig, liegt eine inkongruente Deckung vor (BAG 22. Oktober 2015 – 6 AZR 538/14 – Rn. 14, BAGE 153, 163). 21 d) Nach diesen Voraussetzungen sind die über das Konto der Mutter des Schuldners erhaltenen Entgeltzahlungen nach § 131 Abs. 1 Nr. 1 bzw. Nr. 2 InsO als inkongruente Deckung anfechtbar. 22 aa) Die Beklagte konnte die Befriedigung der Entgeltforderung nicht in dieser Art beanspruchen. Dabei kann zugunsten der Beklagten davon ausgegangen werden, dass mit dem Schuldner keine Vereinbarung bzgl. der Art der Erfüllung der Entgeltforderungen getroffen war. Dies führt jedoch nicht zur Annahme, dass die Arbeitsvertragsparteien eine Erfüllung über das Konto der Mutter des Schuldners vorgesehen hätten. Mangels vertraglicher Regelung gilt vielmehr der gesetzliche Normalfall, wonach die Entgeltforderung unmittelbar durch den Arbeitgeber erfüllt wird (vgl. § 611 Abs. 1 BGB, seit 1. April 2017 § 611a Abs. 2 BGB). Der vom Schuldner gewählte Erfüllungsweg weicht hiervon nicht nur geringfügig ab. Durch die Einschaltung seiner Mutter als Zahlungsmittlerin hat er eine dritte Person einbezogen. Dies entspricht nicht der Verkehrssitte, sondern stellt im Gegenteil einen ungewöhnlichen Erfüllungsweg dar, welcher keine Veranlassung im arbeitsvertraglichen Austauschverhältnis findet. 23 bb) Soweit die Rechtsprechung verlangt, dass der Gläubiger erkennen konnte, dass es sich um eine Leistung des Schuldners handelt (BAG 13. November 2014 – 6 AZR 869/13 – Rn. 15, BAGE 150, 22), muss auf die hiergegen gerichtete Kritik (vgl. LAG Köln 6. März 2015 – 4 Sa 726/14 – zu A II 1 der Gründe) nicht eingegangen werden. Die Erkennbarkeit ist hier schon wegen der Nennung des Namens der Mutter des Schuldners als derjenigen, von der die Zahlung herrührte, sowie der Angabe des Verwendungszwecks der Überweisung („Lohn September“) gegeben. Unerheblich ist, ob der Beklagten die Abweichung vom üblichen Zahlungsweg „verdächtig“ vorkam. § 131 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 InsO enthalten ein derartiges ungeschriebenes subjektives Tatbestandsmerkmal nicht (BAG 13. November 2014 – 6 AZR 869/13 – Rn. 28, aaO). 24 cc) Der zeitliche Rahmen des § 131 Abs. 1 Nr. 1 bzw. Nr. 2 InsO ist gewahrt. 25 (1) Nach § 140 Abs. 1 InsO ist für die Anfechtbarkeit einer Rechtshandlung grundsätzlich der Zeitpunkt maßgeblich, in dem ihre rechtlichen Wirkungen eintreten. Es kommt darauf an, wann eine Rechtsposition begründet worden ist, die bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens ohne die Anfechtung beachtet werden müsste. Bei mittelbaren Zuwendungen ist auf die Weiterleitung der Gelder abzustellen. Erfolgt diese durch Überweisung, ist die maßgebliche Rechtsposition begründet, wenn der Anspruch des Leistungsempfängers gegen seine Bank auf Gutschrift des für ihn bestimmten Geldbetrags entsteht. Das entspricht dem Tag der Wertstellung (BGH 28. Januar 2021 – IX ZR 64/20 – Rn. 28; vgl. auch BAG 20. September 2017 – 6 AZR 58/16 – Rn. 11 ff., BAGE 160, 182; 3. Juli 2014 – 6 AZR 451/12 – Rn. 16; HK-InsO/Thole 10. Aufl. § 140 Rn. 4). 26 (2) Die Entgeltzahlung für den Monat September ist am 26. September 2016 und damit gemäß § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO im letzten Monat vor dem am 12. Oktober 2016 gestellten Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens auf dem Konto der Beklagten eingegangen. Die Entgeltzahlung für den Monat August erfolgte am 25. August 2016 und damit innerhalb der Frist des § 131 Abs. 1 Nr. 2 InsO. Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts war der Schuldner zu diesem Zeitpunkt bereits zahlungsunfähig. 27 dd) Die Anwendbarkeit des § 131 InsO wird nicht durch § 142 InsO in der bis zum 4. April 2017 geltenden, hier noch maßgeblichen Fassung ausgeschlossen. Das sog. Bargeschäftsprivileg greift nicht bei inkongruenten Deckungen (vgl. BAG 13. November 2014 – 6 AZR 868/13 – Rn. 17 ff.; BGH 17. Dezember 2015 – IX ZR 287/14 – Rn. 21 mwN, BGHZ 208, 243). Auf § 142 Abs. 2 Satz 3 InsO in der ab dem 5. April 2017 geltenden Fassung (nF) kommt es nicht an (vgl. hierzu BGH 10. März 2022 – IX ZR 4/21 – Rn. 13 ff.). Erst durch diese Vorschrift wird ein Bargeschäft fingiert, wenn ein objektiver Betrachter aus der Sicht des Arbeitnehmers als Empfänger nicht erkennen konnte, dass ein Dritter die Leistung bewirkt hat (BGH 10. März 2022 – IX ZR 4/21 – Rn. 29). Darum verfängt der Hinweis der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat auf diese Rechtsprechung nicht. Die hier streitbefangene Anfechtung unterfällt nach Art. 103j Abs. 1 EGInsO noch dem bis zum 4. April 2017 geltenden Anfechtungsrecht, weil das Insolvenzverfahren am 1. Dezember 2016 und damit vor dem 5. April 2017 eröffnet wurde. Ohnehin sind auch im Anwendungsbereich des § 142 Abs. 2 Satz 3 InsO nF die Anforderungen an die Erkennbarkeit nicht zu hoch anzusetzen, so dass es genügt, wenn aus Kontoauszügen erkennbar ist, dass nicht der Arbeitgeber gezahlt hat. Das gilt unabhängig davon, dass es für den Arbeitnehmer bedeutungslos sein mag, wer das geschuldete Arbeitsentgelt zahlt (vgl. BGH 10. März 2022 – IX ZR 4/21 – Rn. 31). 28 3. Entgegen der Auffassung der Beklagten stehen dem aus § 143 Abs. 1 InsO folgenden Rückgewähranspruch verfassungsrechtliche Vorgaben nicht entgegen. 29 a) § 131 Abs. 1 InsO verletzt weder Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem durch Art. 20 Abs. 1 GG gewährleisteten Sozialstaatsprinzip noch die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG (vgl. zu Fällen inkongruenter Deckung durch Zwangsvollstreckung BAG 8. Mai 2014 – 6 AZR 722/12 – Rn. 23 ff.; 27. Februar 2014 – 6 AZR 367/13 – Rn. 19 ff., 27 ff.). Die von der Anschlussrevision bzgl. Art. 3 Abs. 1 GG bei pünktlichen Entgeltzahlungen vorgebrachten Bedenken verfangen nicht. Eine unzulässige Gleichbehandlung mit anderen Gläubigergruppen ist nicht erkennbar. Der Verweis auf die Möglichkeit anderer Gläubiger, bei ausbleibender oder verspäteter Entgeltzahlung Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen, lässt außer Acht, dass Arbeitnehmer bei pünktlichen Lohnzahlungen zunächst keinen Bedarf für solche Leistungen haben. Entsteht der Bedarf später, entstehen auch sozialrechtliche Ansprüche zu seiner Befriedigung. Der Umstand, dass andere Gläubiger über andere Sicherungsmöglichkeiten als Arbeitnehmer, wie zB einen Eigentumsvorbehalt verfügen, ist auf die unterschiedliche Ausgestaltung der Rechtsverhältnisse mit dem Schuldner zurückzuführen. Etwaigen Vorteilen stehen dabei auch Nachteile, wie der fehlende Anspruch auf Insolvenzgeld, gegenüber. Der Gesetzgeber durfte bei Vornahme einer Gesamtschau im bis zum 4. April 2017 geltenden Anfechtungsrecht daher von einer unterschiedlichen Behandlung der Gläubigergruppen absehen. Das stand im Einklang mit dem von ihm bei Schaffung der Insolvenzordnung verfolgten Ziel der gleichmäßigen Gläubigerbefriedigung, dem ua. die Abschaffung des Arbeitnehmerprivilegs des § 59 KO dient. Das bedingt grundsätzlich die einheitliche Anwendung der anfechtungsrechtlichen Vorschriften der Insolvenzordnung auf alle betroffenen Gläubigergruppen einschließlich der Arbeitnehmer (BAG 8. Mai 2014 – 6 AZR 722/12 – Rn. 11; vgl. zu § 130 InsO BAG 6. Oktober 2011 – 6 AZR 262/10 – Rn. 11, BAGE 139, 235). 30 b) Die verfassungsrechtlich gebotene Absicherung des Existenzminimums ist nicht durch eine Einschränkung der Insolvenzanfechtung, sondern durch die im Falle der Durchsetzung des Rückgewähranspruchs eingreifenden Pfändungsschutzbestimmungen der Zivilprozessordnung sowie durch das Sozialrecht gewährleistet. 31 aa) Der Senat hat erstmals in seiner Entscheidung vom 29. Januar 2014 (- 6 AZR 345/12 – Rn. 17 ff., BAGE 147, 172) die Frage aufgeworfen, ob zumindest bei kongruenten Deckungen das aus Art. 1 Abs. 1 iVm. Art. 20 Abs. 1 GG folgende Grundrecht auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums iVm. Art. 12 Abs. 1 GG zu einer verfassungskonformen Einschränkung der Insolvenzanfechtung in dem Sinne führen könnte, dass das sich aus der Tabelle des § 850c ZPO ergebende Existenzminimum anfechtungsfrei zu stellen wäre. Dies wurde damit begründet, dass bei pünktlicher Zahlung des Arbeitsentgelts sozialversicherungsrechtliche Schutzlücken bestünden und der Arbeitnehmer dem Risiko einer Insolvenzanfechtung nicht vorbeugen könne. Es handelte sich um eine Aufforderung zur Diskussion (vgl. Fischermeier ZInsO 2015, 1237, 1241). In Rechtsprechung und Literatur sind diese Überlegungen mehrheitlich auf Kritik gestoßen (zB BGH 10. Juli 2014 – IX ZR 192/13 – Rn. 29, BGHZ 202, 59; Blank NZA 2016, 1123, 1125 f.; Stiller EWiR 2016, 23, 24; Windel ZIP 2014, 2167, 2171 f.; Klinck Anm. AP InsO § 133 Nr. 2; zustimmend Wroblewski in Däubler/Wroblewski Das Insolvenzhandbuch für die Praxis 5. Aufl. Teil 1 Rn. 77; Zwanziger DB 2014, 2391, 2394; offen Huber EWiR 2014, 291, 292). 32 bb) Der Senat hatte bislang keine Veranlassung, tragend zu beurteilen, ob er das Existenzminimum in verfassungsrechtlich ausreichender Weise durch die Vorschriften zur Insolvenzanfechtung in der bis zum 4. Juli 2017 maßgeblichen Fassung als ausreichend gewährleistet ansieht. In den von ihm zu entscheidenden Fällen kam eine etwaige Anfechtungssperre schon deshalb nicht in Betracht, weil jeweils inkongruente Deckungen vorlagen (Erhalt des Entgelts erst durch Zwangsvollstreckung bzw. entsprechender Drohung). Eine Absicherung des Existenzminimums durch Sozialleistungen wäre deshalb möglich gewesen (vgl. BAG 18. Oktober 2018 – 6 AZR 506/17 – Rn. 37; 26. Oktober 2017 – 6 AZR 511/16 – Rn. 26 ff., BAGE 161, 21; 8. Mai 2014 – 6 AZR 722/12 – Rn. 21; kritisch LAG Köln 6. März 2015 – 4 Sa 726/14 – juris-Rn. 53). Nach Prüfung der vorgebrachten Argumente hält der Senat an der Überlegung, das im Entgelt enthaltene Existenzminimum anfechtungsfrei zu stellen, nicht fest. Dieses Minimum war bereits nach der bis zum 4. Juli 2017 geltenden Rechtslage ausreichend gewährleistet. 33 (1) Der Senat hat bereits in seiner Entscheidung vom 29. Januar 2014 (- 6 AZR 345/12 – Rn. 27 ff., BAGE 147, 172) darauf hingewiesen, dass der Insolvenzverwalter bei der Durchsetzung des insolvenzrechtlichen Rückgewähranspruchs den Beschränkungen des Zwangsvollstreckungsrechts unterfällt und das „aktuelle“ Existenzminimum insbesondere bei Gehaltspfändungen durch §§ 850 ff. ZPO gesichert ist. Es erscheine jedoch fraglich, ob für die verfassungsrechtliche Beurteilung danach zu differenzieren sei, ob der Zugriff des Staates bzw. der vom Staat durch seine Rechtsvorschriften vermittelte und von den staatlichen Gerichten sowie dem staatlichen Zwangsapparat durchzusetzende Zugriff der Gläubiger auf das Existenzminimum „sofort oder nachgelagert“ erfolgt.  34 (2) Nach Auffassung des Senats reicht es zum Schutz des Existenzminimums aus, wenn dieses im Rahmen einer etwaigen Zwangsvollstreckung und damit „nachgelagert“ vor dem Zugriff des Insolvenzverwalters gesichert ist (idS auch HK-InsO/Thole 10. Aufl. § 133 Rn. 24; Klinck DB 2014, 2455, 2462; Lütcke NZI 2014, 350, 351). Das Existenzminimum ist auch bei pünktlicher Entgeltzahlung im Vollstreckungsverfahren, nicht aber bereits im Erkenntnisverfahren, in dem über die Insolvenzanfechtung gestritten wird, zu gewährleisten und gewährleistet. Die Pfändungsschutzbestimmungen für Arbeitsentgelt dienen gerade der Sicherung der Existenzgrundlage des Arbeitnehmers und damit des Existenzminimums (vgl. BAG 29. Januar 2014 – 6 AZR 345/12 – Rn. 21, BAGE 147, 172; BGH 11. Mai 2006 – IX ZR 247/03 – Rn. 22, BGHZ 167, 363). Hinzu treten ggf. sozialrechtliche Ansprüche. 35 (a) Die Erhebung des Anspruchs aus § 143 Abs. 1 InsO, gleich auf welchen Anfechtungstatbestand er gestützt wird, bedroht die Existenz des Arbeitnehmers als Anfechtungsgegner noch nicht, sondern zwingt ihn allenfalls zur Führung eines Prozesses, falls er vom Insolvenzverwalter auf Zahlung verklagt wird und sich verteidigen will. Dafür kann er ggf. nach §§ 114 ff. ZPO Prozesskostenhilfe erhalten. Während des Erkenntnisverfahrens hat er hinsichtlich der Klageforderung noch keinen Vermögensabfluss hinzunehmen. Erst wenn der Arbeitnehmer zur Zahlung verurteilt wird, stellt sich bezogen auf seine dann aktuelle finanzielle Situation die Frage, ob er die Forderung des Insolvenzverwalters unproblematisch erfüllen kann oder ob eine Existenzgefährdung eintreten könnte. Beim Empfang unentgeltlicher Leistungen, zu denen es insbesondere in der Insolvenz des das Arbeitsentgelt zahlenden Dritten kommen kann, wird eine solche Gefährdung typischerweise schon deshalb nicht zu befürchten sein, weil sich der Arbeitnehmer ggf. auf Entreicherung berufen kann (§ 143 Abs. 2 InsO). Bei Anfechtungen nach §§ 130 bis 133 InsO besteht bei ausreichenden finanziellen Reserven ebenfalls keine besondere Schutzwürdigkeit des Arbeitnehmers. Eine Privilegierung gegenüber anderen Gläubigern ist dann nicht verfassungsrechtlich zu rechtfertigen, weil deren Rechte (ebenfalls) von Art. 14 Abs. 1 GG geschützt sind und die gemeinschaftliche Befriedigung den Interessen aller Gläubiger dient (vgl. BVerfG 23. Mai 2006 – 1 BvR 2530/04 – Rn. 34, BVerfGE 116, 1). Droht hingegen eine Existenzgefährdung, wird der Arbeitnehmer durch die Schutzbestimmungen der Zivilprozessordnung vor einem Verlust des Existenzminimums bewahrt (vgl. Klinck Anm. AP InsO § 133 Nr. 2; Cranshaw jurisPR-InsR 14/2021 Anm. 2 zu C II und D). Dieser Schutz differenziert nach dem Vollstreckungsobjekt und berücksichtigt im Falle der Pfändung von Arbeitseinkommen auch etwaige Unterhaltsverpflichtungen (§ 850c Abs. 2 ZPO). Damit ist sichergestellt, dass das Existenzminimum des Arbeitnehmers stets gedeckt ist, auch wenn erfolgreich angefochtenes Arbeitsentgelt – im Ergebnis ratenweise – der Masse zurückgewährt werden muss. 36 (b) Zudem ist der existenzielle Schutz des Arbeitnehmers nicht durch eine Beschränkung der Insolvenzanfechtung, sondern durch das Sozialrecht zu gewährleisten (vgl. Blank NZA 2016, 1123, 1125 f.). Dementsprechend steht dem Arbeitnehmer nach Erfüllung des Rückforderungsanspruchs nicht nur ein Anspruch auf quotale Befriedigung des dann nach § 144 Abs. 1 InsO wiederauflebenden Anspruchs auf Arbeitsentgelt zu. Ggf. kann er zusätzlich staatliche Unterstützungsleistungen beantragen. So besteht uU noch ein Anspruch auf Insolvenzgeld (vgl. hierzu BAG 26. Oktober 2017 – 6 AZR 511/16 – Rn. 36 ff., BAGE 161, 21). Sollte der Arbeitnehmer dennoch durch die (teilweise) Erfüllung des Rückforderungsanspruchs in eine finanzielle Schieflage geraten, kann er Sozialhilfe beanspruchen. 37 (c) Angesichts dieser vollstreckungsrechtlichen und sozialen Absicherung ist es in der Gesamtschau zur Sicherung des Existenzminimums verfassungsrechtlich nicht geboten, den Arbeitnehmer grundsätzlich vor einer insolvenzrechtlichen Anfechtung des Entgelts in Höhe der Tabellenwerte des § 850c ZPO zu bewahren. Dies wäre auch nicht systemkonform, denn damit würde eine auf die konkrete Existenzsicherung zum Zeitpunkt einer bestimmten Zahlungsverpflichtung zugeschnittene Regelung des Zwangsvollstreckungsrechts zu einem abstrakten Maßstab des Anfechtungsrechts umgewandelt. Ein solcher Ansatz stünde außerdem im Widerspruch zu der auf Gläubigergleichbehandlung ausgerichteten Konzeption der Insolvenzordnung und zum Schutzmechanismus des Sozialversicherungsrechts. Die Existenzsicherung eines Gläubigers obliegt nicht in erster Linie der Gläubigergemeinschaft, sondern der Solidargemeinschaft. Die Schaffung eines anderen Schutzkonzepts bliebe dem Gesetzgeber vorbehalten (vgl. zur Grundsicherung BVerfG 9. Februar 2010 – 1 BvL 1/09 ua. – Rn. 133, BVerfGE 125, 175). Dies gilt auch angesichts des Umstands, dass der Arbeitnehmer trotz staatlicher Unterstützungsleistungen im Einzelfall gezwungen sein könnte, selbst einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu stellen (§§ 305 ff. InsO). Der Gesetzgeber hat in Kenntnis der Diskussion um die Sicherung des Existenzminimums der Arbeitnehmer (vgl. BT-Drs. 18/7054 S. 14) bei der zum 5. April 2017 in Kraft getretenen Reform des Insolvenzanfechtungsrechts keinen Ausschluss des Arbeitsentgelts von der Insolvenzanfechtung angeordnet. Dies hat die Rechtsprechung zu akzeptieren. Die von der Anschlussrevision angeführten Sachverständigenaussagen im Gesetzgebungsprozess, welche sich für eine solche Beschränkung der Insolvenzanfechtung ausgesprochen hatten, können die gesetzgeberische Entscheidung nicht in Frage stellen. Ob das Arbeitsentgelt insgesamt anfechtungsfrei zu stellen ist, ist entgegen der Annahme der Beklagten keine Frage des Verfassungsrechts, sondern eine rechtspolitische Entscheidung, die allein vom Gesetzgeber getroffen werden könnte. 38 4. Hinsichtlich der Höhe des Rückgewähranspruchs ist die Anfechtung entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts auch bzgl. des auf den gesetzlichen Mindestlohn entfallenden Anteils des Entgeltanspruchs nicht ausgeschlossen. Der Gesetzgeber hat den Mindestlohn nicht vor Anfechtbarkeit geschützt. 39 a) Der Mindestlohnanspruch aus § 1 Abs. 1 MiLoG ist ein gesetzlicher Anspruch, der eigenständig neben den arbeits- oder tarifvertraglichen Entgeltanspruch tritt (BAG 21. Dezember 2016 – 5 AZR 374/16 – Rn. 16, BAGE 157, 356). Erfüllung iSv. § 362 Abs. 1 BGB tritt beim Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn – wie in jedem Schuldverhältnis – ein, wenn die geschuldete Leistung bewirkt wird. Bei einer Geldschuld wird die geschuldete Leistung mangels anderer Vereinbarung nur dann bewirkt, wenn der Gläubiger den Geldbetrag, den er beanspruchen kann, endgültig zur freien Verfügung übereignet oder überwiesen erhält. Darf er den Betrag nicht behalten, tritt der Leistungserfolg nicht ein. Daher erfüllt der Arbeitgeber den Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn durch die im arbeitsvertraglichen Austauschverhältnis erbrachten Entgeltzahlungen nur, soweit diese dem Arbeitnehmer endgültig verbleiben (BAG 25. Mai 2016 – 5 AZR 135/16 – Rn. 27 ff., BAGE 155, 202). 40 b) In der Literatur wird vor diesem Hintergrund angenommen, die bundesgesetzlich und damit gleichrangig neben der Insolvenzordnung geregelte Sicherung des durch Arbeitsleistung erworbenen Existenzminimums durch den Mindestlohn gelte auch im Insolvenzverfahren des Arbeitgebers und schließe die Insolvenzanfechtung hinsichtlich der in der Leistung des Arbeitsentgelts enthaltenen Erfüllung des gesetzlichen Mindestlohnanspruchs aus (ErfK/Müller-Glöge 22. Aufl. Einführung InsO Rn. 24e; vgl. auch ErfK/Franzen MiLoG § 1 Rn. 3). 41 c) Dieser Auffassung folgt der Senat nicht. Es gelten auch bzgl. des gesetzlichen Mindestlohns uneingeschränkt die allgemeinen Grundsätze bzgl. der Anfechtbarkeit von Entgeltzahlungen (noch offengelassen von BAG 26. Oktober 2017 – 6 AZR 511/16 – Rn. 25). 42 aa) Der „endgültige Verbleib“ des Mindestlohns beim Arbeitnehmer ist nur eine Voraussetzung für die Erfüllung iSv. § 362 Abs. 1 BGB und beinhaltet diesbezüglich die Abgrenzung zur Leistung unter Vorbehalt (BeckOGK/Looschelders Stand 1. März 2022 BGB § 362 Rn. 40; vgl. auch Bayreuther NZA 2014, 865, 868). Wurde der Mindestlohnanspruch in diesem Sinne nach § 362 Abs. 1 BGB erfüllt, endet die Rechtswirkung des Mindestlohngesetzes, weil die Forderung dann erloschen ist. Der erhaltene Mindestlohn wird Bestandteil des Vermögens des Arbeitnehmers, aus dem heraus ggf. ein Rückgewähranspruch nach § 143 Abs. 1 InsO zu erfüllen ist. Der Rückgewähranspruch ist ein eigenständiger gesetzlicher Anspruch (vgl. BAG 24. Oktober 2013 – 6 AZR 466/12 – Rn. 16 ff.), welcher bereits erfüllte Forderungen aus dem Vermögen des Gläubigers wieder zur Insolvenzmasse ziehen kann. Das ist das Wesen des Insolvenzanfechtungsrechts. Der Gesetzgeber hat weder in der Insolvenzordnung noch im Mindestlohngesetz eine anderweitige Regelung bzgl. der Anfechtbarkeit des Mindestlohns getroffen, obwohl das Mindestlohngesetz am 16. August 2014 in Kraft getreten ist (BGBl. I S. 1348) und deshalb während des Gesetzgebungsverfahrens bzgl. der Änderungen des Anfechtungsrechts durch das Gesetz zur Verbesserung der Rechtssicherheit bei Anfechtungen nach der Insolvenzordnung und nach dem Anfechtungsgesetz vom 29. März 2017 (BGBl. I S. 654) bereits geltendes Recht war (vgl. Henning Anm. NZI 2021, 776, 779). Der Mindestlohn hat auch im Zwangsvollstreckungsrecht keinen besonderen Schutz erfahren. Hieraus folgt, dass die Insolvenzanfechtung nach dem Willen des Gesetzgebers bezogen auf den Mindestlohn keinen Einschränkungen unterliegt (ebenso Cranshaw jurisPR-InsR 14/2021 Anm. 2 zu C VI). 43 bb) Dies widerspricht nicht dem Sinn und Zweck des gesetzlichen Mindestlohns. Ausweislich der Gesetzesbegründung soll der allgemeine Mindestlohn lediglich verhindern, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu Arbeitsentgelten beschäftigt werden, die jedenfalls unangemessen sind und den in Art. 2 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 GG zum Ausdruck kommenden elementaren Gerechtigkeitsanforderungen nicht genügen. Zudem sollen die sozialen Sicherungssysteme entlastet werden (vgl. BT-Drs. 18/1558 S. 28; zu weitergehenden Zielsetzungen vgl. BeckOK ArbR/Greiner Stand 1. März 2022 MiLoG § 1 Rn. 1; HK-MiLoG/Schubert 2. Aufl. Einleitung Rn. 46; Thüsing in Thüsing MiLoG/AEntG 2. Aufl. Einleitung Rn. 37). Letztere sind zur umfassenden Existenzsicherung des Arbeitnehmers einschließlich seiner etwaigen Unterhaltsverpflichtungen berufen (vgl. Riechert/Nimmerjahn MiLoG 2. Aufl. Einführung Rn. 103). Der Gesetzgeber hat sich bzgl. der ursprünglichen Höhe des Mindestlohns nur an der Pfändungsfreigrenze für einen alleinstehenden Vollzeitbeschäftigten bei durchschnittlicher Wochenarbeitszeit orientiert und wollte diese übertreffen (vgl. BT-Drs. 18/1558 S. 28). Das Mindestlohngesetz soll daher nicht umfassend die gesamte Existenz des Arbeitnehmers auf Dauer absichern, sondern nur die Mindesthöhe des Entgelts bestimmen. Dies dient letztlich zwar auch der Existenzsicherung, beinhaltet aber keine Sicherung gegen eine Insolvenzanfechtung, deren Folgen durch den Vollstreckungsschutz und sozialrechtliche Ansprüche abgemildert werden. 44 5. Entgegen der Auffassung der Beklagten ist daher ohne Belang, ob in ihrem Fall durch die Pfändungsfreigrenzen ein höherer Betrag als der Mindestlohn geschützt wurde. Dies wäre nur von Bedeutung, falls die Anfechtung von Arbeitsentgelt bzgl. des Existenzminimums grundsätzlich unzulässig wäre und deshalb die Höhe des anfechtungsfreien Betrags bestimmt werden müsste. Wie dargelegt, ist dies nicht der Fall. 45 6. Unionsrechtliche Vorgaben gebieten keine auf das Existenzminimum bezogene Anfechtungssperre. Die Richtlinie 2008/94/EG bezweckt zwar einen Schutz des Arbeitnehmers bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers. Dieser Schutz soll aber nicht durch Beschränkung des Anfechtungsrechts, sondern durch Garantieeinrichtungen erfolgen, welche die Befriedigung gar nicht erst erfüllter Ansprüche sicherstellen (vgl. Art. 3 RL 2008/94/EG). Dabei können die Mitgliedstaaten nach Art. 4 RL 2008/94/EG die Zahlungspflicht der Garantieeinrichtungen begrenzen. Die Vorgaben der Richtlinie hat der deutsche Gesetzgeber durch die Vorschriften über den Insolvenzgeldanspruch in §§ 165 ff. SGB III umgesetzt (BAG 6. September 2018 – 6 AZR 367/17 – Rn. 31, BAGE 163, 271). Der Anspruch auf Insolvenzgeld wird durch Anfechtung nicht reduziert, sondern nur dahingehend beeinflusst, dass er erst durch die Rückgewähr des Erlangten zur Masse entsteht (BAG 26. Oktober 2017 – 6 AZR 511/16 – Rn. 36, BAGE 161, 21). Dem Arbeitnehmer verbleibt damit auch bei einer erfolgreichen Anfechtung der durch die Richtlinie gewährleistete Schutz. Die Problematik des Anlaufs der Nachfrist des § 324 Abs. 3 Satz 2 SGB III (vgl. hierzu BAG 26. Oktober 2017 – 6 AZR 511/16 – Rn. 37, aaO; 29. Januar 2014 – 6 AZR 345/12 – Rn. 34, BAGE 147, 172) begründet keinen Entfall der Anfechtbarkeit. Bei Ablehnung einer Insolvenzgeldzahlung wegen Fristversäumnis wäre vielmehr zu prüfen, ob das Erfordernis der Fristwahrung mit der Richtlinie vereinbar ist (vgl. zum Streitstand EuArbRK/Kolbe 4. Aufl. RL 2008/94/EG Art. 4 Rn. 15; Gagel/Peters-Lange SGB III § 165 Stand Dezember 2021 Rn. 4a ff.). 46 7. Die Berufung der Beklagten auf Art. 4 Ziff. 1 der Europäischen Sozialcharta (ESC) führt zu keinem anderen Ergebnis. 47 a) Um die wirksame Ausübung des Rechts auf ein gerechtes Arbeitsentgelt zu gewährleisten, verpflichten sich in dieser Regelung die Vertragsparteien der Charta, das Recht der Arbeitnehmer auf ein Arbeitsentgelt anzuerkennen, welches ausreicht, um ihnen und ihren Familien einen angemessenen Lebensstandard zu sichern. Unabhängig davon, wie das Arbeitsentgelt zu bemessen ist, welches den Arbeitnehmern und ihren Familien einen angemessenen Lebensstandard sichern soll, kommt Art. 4 ESC für die in den Mitgliedsländern tätigen Arbeitnehmer kein verbindlicher Rechtscharakter zu. Diese Vorschrift hat keine unmittelbare Wirkung für den einzelnen Bürger (BAG 24. März 2004 – 5 AZR 303/03 – zu I 4 der Gründe, BAGE 110, 79; vgl. zur RESC EuArbRK/Schubert 4. Aufl. RESC Einl. Rn. 33 mwN; Treber in Schlachter/Heuschmid/Ulber Arbeitsvölkerrecht § 13 Rn. 51). Art. 4 Ziff. 1 ESC weist zudem keinen Bezug zu insolvenzrechtlichen Verteilungsgrundsätzen auf, sondern bezieht sich allein auf die Höhe des geschuldeten Arbeitsentgelts. 48 b) Demgegenüber sieht Art. 25 der revidierten und für die Bundesrepublik Deutschland zum 1. Mai 2021 in Kraft getretenen ESC (RESC) die Verpflichtung der Vertragsparteien vor, bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers die Forderungen der Arbeitnehmer „aus Arbeitsverträgen oder Arbeitsverhältnissen durch eine Garantieeinrichtung oder durch jede andere wirksame Form des Schutzes“ zu sichern. Die Regelung orientiert sich ua. an der Insolvenzschutzrichtlinie der Europäischen Union (EuArbRK/Schubert 4. Aufl. RESC Art. 25 Rn. 1 mwN). Dies spricht für ein gleichlaufendes Verständnis. Mangels Anwendbarkeit im vorliegenden Fall, dem ein Anfechtungstatbestand aus dem Jahr 2016 zu Grunde liegt, bedarf es hierzu jedoch keiner Entscheidung. 49 8. Der Rückforderungsbetrag ist mit Prozesszinsen nach §§ 291, 288 Abs. 1 Satz 2, § 187 Abs. 1 BGB seit dem Folgetag der Rechtshängigkeit zu verzinsen (vgl. BAG 19. Mai 2021 – 5 AZR 378/20 – Rn. 30). Dies ist hier der 29. Dezember 2019, da der Mahnbescheid am 28. Dezember 2019 zugestellt wurde (§ 696 Abs. 3 ZPO). 50 II. Der Kläger hat die Kosten, die durch die Verweisung des Rechtsstreits entstanden sind, nach § 17b Abs. 2 Satz 2 GVG zu tragen. Die übrigen Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte aufgrund ihres vollumfänglichen Unterliegens nach § 91 Abs. 1 Satz 1, § 97 Abs. 1 ZPO zu tragen.              Spelge                  Wemheuer                  Krumbiegel                                     Steinbrück                   Klapproth
bundesarbeitsgericht
bsg_19 - 2022
19.05.2022
Kosten für Ersatzbeschaffung einer Waschmaschine aus Sozialhilfe anzusparen Ausgabejahr 2022 Nummer 19 Datum 19.05.2022 Die Kosten für die Neuanschaffung auch größerer Haushaltsgeräte (sogenannte „weiße Ware“) nach einem Verschleiß des Altgeräts sind im Regelsatz des SGB XII enthalten. Es besteht kein Anspruch auf einen einmaligen Zuschuss gegen den Sozialhilfeträger. Dies hat der 8. Senat des Bundessozialgerichts am 19. Mai 2022 entschieden (B 8 SO 1/21 R). Die klagende Sozialhilfeempfängerin hatte ihre nicht mehr funktionstüchtige Waschmaschine entsorgt und erfolglos die Gewährung eines Zuschusses für ein Neugerät beantragt. Während des Berufungsverfahrens hat sie ein Neugerät zum Preis von 299 Euro erworben und dafür teilweise vom Warenhaus ausgestellte Gutscheine eingelöst. Den Restbetrag von 99,90 Euro hat sie gegenüber dem Sozialhilfeträger als Zuschuss verlangt. Die gegen die Ablehnung ihres Antrags gerichtete Klage blieb in beiden Instanzen ohne Erfolg. Das Bundessozialgericht hat diese Entscheidungen bestätigt. Die Gewährung eines Zuschusses für die Anschaffung von Haushaltsgeräten ist gesetzlich nur bei einer Erstausstattung vorgesehen. Im Fall der Ersatzbeschaffung sind hingegen aus dem Regelsatz Ansparungen vorzunehmen, ohne dass darin ein Verstoß gegen Verfassungsrecht zu sehen ist. Eine gegebenenfalls auftretende Bedarfsunterdeckung kann durch die Gewährung eines Darlehens vermieden werden. Bei der Ermittlung des Regelbedarfs sind die durchschnittlichen Ausgaben für Waschmaschinen, Wäschetrockner, Geschirrspül- und Bügelmaschinen vollständig berücksichtigt worden. Die Darlehensregelung im SGB XII enthält Auslegungsspielräume für Härtefälle. Es wird eine am individuellen Existenzsicherungsbedarf ausgerichtete und grundrechtliche Belange des Hilfebedürftigen berücksichtigende Darlehensgewährung sichergestellt. Die Rückzahlung selbst und ihre Höhe werden in das pflichtgemäße Ermessen des Sozialhilfeträgers gestellt. Die Höhe der monatlichen Rückzahlung ist zudem auf 5% der Regelbedarfsstufe 1 - derzeit 22 Euro 45 Cent - gedeckelt. Hinweis auf Rechtsvorschriften: Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe (SGB XII) § 31 Abs 1 Nr 1 SGB XII Einmalige Bedarfe (1) Leistungen zur Deckung von Bedarfen für 1. Erstausstattungen für die Wohnung einschließlich Haushaltsgeräten,… werden gesondert erbracht. § 37 SGB XII Ergänzende Darlehen (1) Kann im Einzelfall ein von den Regelbedarfen umfasster und nach den Umständen unabweisbar gebotener Bedarf auf keine andere Weise gedeckt werden, sollen auf Antrag hierfür notwendige Leistungen als Darlehen erbracht werden. … (4) 1Für die Rückzahlung von Darlehen Absatz 1 können von den monatlichen Regelsätzen Teilbeträge bis zur Höhe von jeweils 5 vom Hundert der Regelbedarfsstufe 1 nach der Anlage zu § 28 einbehalten werden. …
Bundessozialgericht Urteil vom 19.05.2022, B 8 SO 1/21 R Sozialhilfe - Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung - einmaliger Bedarf - Wohnungserstausstattung - Anschaffung einer neuen Waschmaschine - Ersatzbeschaffung - ergänzendes Darlehen - Verfassungsmäßigkeit Leitsätze1. Ein Zuschuss für die Anschaffung von langlebigen Haushaltsgeräten ("weiße Ware") kommt nur bei Erstausstattung, nicht bei Ersatzbeschaffung in Betracht. 2. In der Sozialhilfe ist die Gewährung eines ergänzenden Darlehens zur Bedarfsdeckung verfassungsrechtlich unbedenklich, weil bei Festlegung der Rückzahlungsmodalitäten ausreichende Spielräume für Härtefälle bestehen. TenorDie Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 23. März 2021 wird zurückgewiesen.  Außergerichtliche Kosten sind auch für das Revisionsverfahren nicht zu erstatten. TatbestandIm Streit ist ein Zuschuss für die Anschaffung einer Waschmaschine in Höhe von (noch) 99,90 Euro.  Die alleinstehende Klägerin bezog Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II). 2015 gewährte ihr die Deutsche Rentenversicherung (DRV) Berlin-Brandenburg rückwirkend ab 1.1.2014 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung bis zum Erreichen der Altersgrenze 2017; seit dem 1.8.2015 erhält sie vom Beklagten ergänzend Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsleistungen) nach dem Vierten Kapitel des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII).  Im Rahmen eines Umzugs um den Jahreswechsel 2011/2012 entsorgte die Klägerin ihre alte, nicht mehr funktionstüchtige Waschmaschine und wusch die Wäsche seitdem mit der Hand, gelegentlich in einem Waschsalon. Im Herbst 2015 machte sie beim Beklagten erfolglos geltend, ihr sei nach Verschlechterung des Gesundheitszustands ein Zuschuss für die Anschaffung einer Waschmaschine zu gewähren (Bescheid vom 11.11.2015; Widerspruchsbescheid unter Beteiligung sozial erfahrener Dritter vom 27.1.2016).  Die hiergegen gerichtete Klage hat die Klägerin während des Berufungsverfahrens auf einen Betrag von 99,90 Euro begrenzt, nachdem sie eine Waschmaschine zum Preis von 299 Euro erworben und dabei verschiedene Gutscheine eingesetzt hatte. Die Klage hat keinen Erfolg gehabt (Urteil des Sozialgerichts <SG> Berlin vom 21.7.2017; Urteil des Landessozialgerichts <LSG> Berlin-Brandenburg vom 23.3.2021). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, ein Anspruch auf Leistungen für Wohnungserstausstattung bestehe nicht. Es handele sich um einen Erhaltungs- bzw Ersatzbedarf der gesetzgeberischen Konzeption, durch den der im Regelbedarf enthaltene Ansparbetrag auch dann abgedeckt werden müsse, wenn es sich um größere Anschaffungen handele. Die Gerichte seien im Übrigen nicht befugt, weitergehende Anspruchsnormen zu schaffen, die nicht im Gesetz vorgesehen seien. Mit ihrer Revision rügt die Klägerin eine Verletzung von § 31 Abs 1 Nr 1 SGB XII. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) habe hinsichtlich langlebiger existenznotwendiger Gebrauchsgüter (sog "weiße Ware") auf die Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung und der Gewährung eines Zuschusses hingewiesen, um ggf einer Unterdeckung der Regelbedarfe zu begegnen. Im Wege einer verfassungskonformen Auslegung müssten auch Ersatzbeschaffungen der im Regelsatz nicht realitätsgerecht abgebildeten Kosten langlebiger Gebrauchsgüter über § 31 Abs 1 Nr 1 SGB XII möglich sein oder ein Rechtsanspruch auf ein im Ergebnis nicht rückzahlbares Anschaffungsdarlehen nach § 37 SGB XII bestehen. Zur weiteren Begründung hat sie ein Kurzgutachten von L vom 30.9.2021 sowie eine Stellungnahme und ein Kurzgutachten von B vom 29.10.2021 bzw vom 9.5.2022 vorgelegt.  Die Klägerin beantragt, die Urteile des Sozialgerichts Berlin vom 21. Juli 2017 und des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 23. März 2021 sowie den Bescheid des Beklagten vom 11. November 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. Januar 2016 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihr 99,90 Euro zu zahlen.  Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.  Er hält die angegriffenen Entscheidungen für zutreffend.  EntscheidungsgründeDie zulässige Revision ist nicht begründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz <SGG>). Zu Recht hat das LSG entschieden, dass die Klägerin keinen Anspruch auf den begehrten einmaligen Zuschuss hat. Der angefochtene Bescheid des Beklagten ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.  Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 11.11.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.1.2016 (§ 95 SGG), mit dem der Beklagte es abgelehnt hat, der Klägerin den beantragten Zuschuss (im Sinne einer nicht zurückzuzahlenden Leistung, vgl BSG vom 9.12.2016 - B 8 SO 15/15 R - SozR 4-3500 § 90 Nr 8 RdNr 1) für Wohnungserstausstattung zu gewähren. Der Anspruch auf Leistungen zur Deckung von Wohnbedarfen in Form eines einmaligen Zuschusses ist im Sinne eines eigenständigen Streitgegenstands abtrennbar (vgl zur Abtrennbarkeit des Streitgegenstands von den laufenden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nur Bundessozialgericht <BSG> vom 19.5.2009 - B 8 SO 8/08 R - BSGE 103, 181 = SozR 4-3500 § 42 Nr 2, RdNr 14; BSG vom 9.6.2011 - B 8 SO 3/10 R - RdNr 9). Ihr Begehren verfolgt die Klägerin zu Recht mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 4 SGG) gerichtet auf die Zahlung von (noch) 99,90 Euro, weil sich der Anspruch von vornherein auf eine Geldleistung richtet (§ 10 Abs 3 SGB XII).  Der angefochtene Bescheid ist formell rechtmäßig. Der Beklagte ist sachlich (§ 46b SGB XII in der Normfassung des Gesetzes zur Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 20.12.2012 <BGBl I 2783> iVm § 2 Abs 1 des Gesetzes zur Ausführung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch Berlin <AG-SGB XII> in der Normfassung vom 7.9.2005 <GVBl S 467>) und auf Grundlage des vom LSG festgestellten tatsächlichen Aufenthalts der Klägerin im Stadtgebiet B örtlich (§ 98 Abs 1 SGB XII iVm § 1 Abs 1 AG-SGB XII) zuständig für die begehrte Leistung.  Der angefochtene Bescheid ist auch materiell rechtmäßig.  Ein Anspruch nach §§ 42 Nr 2, 31 Abs 1 Nr 1 SGB XII (in der bis 31.12.2015 geltenden Normfassung des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24.3.2011, BGBl I 453) besteht nicht. Danach werden Leistungen für Erstausstattungen für die Wohnung einschließlich Haushaltsgeräten gesondert, dh neben dem Regelsatz (§§ 42 Nr 1 SGB XII iVm der Anlage zu § 28 SGB XII), erbracht. Die nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des LSG hilfebedürftige und unabhängig von der Arbeitsmarktlage und ohne Aussicht auf Besserung des Leistungsvermögens dauerhaft voll erwerbsgeminderte, alleinstehende Klägerin war leistungsberechtigt nach dem Vierten Kapitel des SGB XII (§ 19 Abs 2, §§ 41 ff SGB XII; zur fehlenden Bindungswirkung der Bescheide des Rentenversicherungsträgers im Gerichtsverfahren und der Erforderlichkeit gerichtlicher Feststellungen zur Erwerbsminderung vgl nur BSG vom 23.3.2010 - B 8 SO 17/09 R - BSGE 106, 62 = SozR 4-3500 § 82 Nr 6, RdNr 16; BSG vom 25.4.2013 - B 8 SO 21/11 R - SozR 4-3500 § 43 Nr 3 RdNr 15). Zu den berücksichtigungsfähigen Bedarfen rechnen auch die zusätzlichen Bedarfe nach dem Zweiten Abschnitt des Dritten Kapitels (§ 42 Nr 2 iVm § 31 Abs 1 Nr 1 SGB XII).  Für die Gewährung eines Zuschusses für die Ersatzbeschaffung eines Haushaltsgeräts, das verschleißbedingt nicht mehr gebrauchstüchtig ist, bietet § 31 Abs 1 Nr 1 SGB XII aber keine Rechtsgrundlage. Die Gewährung eines Zuschusses für die Anschaffung von Haushaltsgeräten kommt nur in Betracht, wenn es sich um einen Fall der Erstausstattung handelt (vgl zuletzt BSG vom 16.2.2022 - B 8 SO 14/20 R - RdNr 15 für SozR 4 vorgesehen mwN). An dieser Rechtsprechung hält der Senat auch unter Berücksichtigung der Argumentation der Klägerin fest.  Leistungen nach § 31 Abs 1 Nr 1 SGB XII für Wohnungserstausstattung können zwar auch für einen erneuten Bedarfsanfall (Ersatzbeschaffung) als "Wohnungserstausstattung" gewährt werden. Nach den bindenden, von der Klägerin nicht mit Verfahrensrügen abgegriffenen Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) wurde der Untergang der alten Waschmaschine der Klägerin und damit der Ersetzungsbedarf vorliegend aber durch Abnutzung über einen längeren Zeitraum ausgelöst. Damit fehlt es an einer erheblichen vom durchschnittlichen Bedarf abweichenden speziellen Bedarfslage, die für einen Anspruch auf "Erstausstattung" in Fällen der Ersatzbeschaffung Voraussetzung wäre (vgl BSG vom 6.8.2014 - B 4 AS 57/13 R - SozR 4-4200 § 23 Nr 18 RdNr 16 f).   Daran ändert der Umstand nichts, dass die Klägerin den abnutzungs- und verschleißbedingten Verlust der Waschmaschine zunächst selbst kompensiert hat; denn der Bedarf ist nicht erst entstanden, als die Klägerin zu einer Kompensation des Defekts der Waschmaschine aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in der Lage war. Der Anspruch auf Leistungen der Erstausstattung iS des § 31 Abs 1 Nr 1 SGB XII entfällt zwar alleine durch Zeitablauf nicht, solange ein ungedeckter Bedarf besteht. Er ist nicht zeitlich, sondern bedarfsbezogen zu verstehen (vgl BSG vom 20.8.2009 - B 14 AS 45/08 R - SozR 4-4200 § 23 Nr 5 RdNr 14 f; BSG vom 19.9.2008 - B 14 AS 64/07 R - BSGE 101, 268 = SozR 4-4200 § 23 Nr 2, RdNr 19). Gerade deshalb führt aber allein der Zeitablauf und/oder das Hinzutreten weiterer Umstände, die für sich genommen keinen eigenständigen Bedarf auf Erstausstattung im dargestellten Sinne auslösen, nicht zum Entstehen des Anspruchs.  Nach Einbeziehung der einmaligen Beihilfen nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) in die Regelleistung geht der Gesetzgeber im Sinne einer typisierenden Betrachtung davon aus, dass alle wohnraumbezogenen Bedarfe, die nicht im Zusammenhang mit der spezifischen Situation der Erstausstattung stehen, von der Regelleistung umfasst werden (vgl BSG vom 6.8.2014 - B 4 AS 57/13 R -SozR 4-4200 § 23 Nr 18 RdNr 18; BSG vom 24.2.2011 - B 14 AS 75/10 R - SozR 4-4200 § 23 Nr 11 RdNr 18; zur Übertragbarkeit der von den für das SGB II zuständigen Senaten des BSG entwickelten Grundsätze auf das SGB XII vgl BSG vom 16.2.2022 - B 8 SO 14/20 R - für SozR 4 vorgesehen; BSG vom 20.12.2017 - B 8 SO 59/17 B). Bei vorübergehenden Spitzen eines vom Regelbedarf umfassten Bedarfs kommt nur die Gewährung eines Darlehens (§ 37 Abs 1 SGB XII) in Betracht (vgl BSG vom 6.8.2014 - B 4 AS 57/13 R - SozR 4-4200 § 23 Nr 18 RdNr 18 unter Hinweis auf BVerfGE vom 9.2.2010 - 1 BvL 1/09 ua - BVerfGE 125, 175 = SozR 4-4200 § 20 Nr 12, RdNr 207; vgl zur Darlehensgewährung nach § 37 SGB XII auch BSG vom 18.7.2019 - B 8 SO 4/18 R - SozR 4-3500 § 54 Nr 19 RdNr 18), wie es hier im Widerspruchsbescheid von dem Beklagten angeboten worden ist.  Zu einer erweiternden Auslegung des § 31 Abs 1 Nr 1 SGB XII, wonach die Kosten für die Anschaffung von langlebigen und deshalb typischerweise teuren Haushaltsgeräten (sog weiße Ware) auch dann als Zuschuss zahlen zu wären, wenn die Neuanschaffung verschleißbedingt notwendig wird, sieht sich der Senat nicht gedrängt. Weder an der Verfassungsmäßigkeit der Höhe der Regelleistung für sich genommen, die hier für das Jahr 2015 auf der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) 2008 bzw im Zeitpunkt der Selbstbeschaffung der Waschmaschine im Frühjahr 2018 auf der EVS 2013 beruht, noch an der Verfassungsmäßigkeit des dargestellten Konzepts, eine ggf auftretende Unterdeckung wegen der Ersatzbeschaffung von Wohnungsausstattung einschließlich der Haushaltsgeräte (nur) durch die Gewährung eines Darlehens zu kompensieren, hat der Senat Zweifel (vgl zur Verfassungsmäßigkeit der Höhe, Bemessung und Fortschreibung <§ 28a SGB XII> des Regelsatzes nach 2010 BVerfG vom 23.7.2014 - 1 BvL 10/12, 1 BvL 12/12, 1 BvR 1691/13 - BVerfGE 137, 34 = SozR 4-4200 § 20 Nr 20; für die Jahre 2014, 2015 und 2016 vgl BSG vom 8.4.2019 - B 8 SO 42/17 BH - RdNr 6 mwN; zur Fortschreibung der Regelsätze nach 2016 vgl BSG vom 24.1.2018 - B 14 AS 374/17 B; BSG vom 1.9.2021 - B 8 SO 24/21 BH).  In der Regelleistung ist ein pauschaler, den Durchschnittsbedarf in üblichen Bedarfssituationen widerspiegelnder (vgl BVerfG vom 9.2.2010 - 1 BvL 1/09, 3/09, 4/09 - BVerfGE 125, 175, = SozR 4-4200 § 20 Nr 12, RdNr 204) Einzelbetrag für Innenausstattung, Haushaltsgeräte und Haushaltsgegenstände enthalten (Abteilung 05 für Erwachsene; im Einzelnen Schwabe, ZfF 2015, 1 ff; ders, ZfF 2018, 1 ff). Die Ausgaben für Waschmaschinen, Wäschetrockner, Geschirrspül- und Bügelmaschinen (EVS 2008 laufende Nummer 23, Code 0531 200, vgl BT-Drucks 17/3404, S 56 bzw EVS 2013 laufende Nummer 24, Code 0531 200, BT-Drucks 18/9984, S 39; vgl auch Statistisches Bundesamt Fachserie 15 Heft 7, 2013, EVS Haushaltsbuch, S 48 Rubrik N/09 <Waschmaschinen ohne Installationskosten>, abrufbar unter www.destatis.de) sind dabei zu 100 Prozent berücksichtigt worden. Gegen diese gesetzgeberische Konzeption, wonach Bedürftige Mittel zur Bedarfsdeckung eigenverantwortlich ausgleichen und ansparen müssen, hat auch das BVerfG aus verfassungsrechtlicher Sicht ausdrücklich keine Einwände (BVerfG vom 23.7.2014 - 1 BvL 10/12, 1 BvL 12/12, 1 BvR 1691/13 - BVerfGE 137, 34 = SozR 4-4200 § 20 Nr 20, RdNr 119; vgl auch BVerfG vom 9.2.2010 - 1 BvL 1/09 ua - BVerfGE 125, 175 =  SozR 4-4200 § 20 Nr 12, RdNr 205 am Ende).  Soweit das BVerfG darauf hingewiesen hat, dass aus der statistischen Berechnung des Regelbedarfs in Orientierung an den auf der Grundlage einer Stichprobe berechneten Verbrauchsausgaben eines Teils der Bevölkerung die Gefahr folgen könne, dass mit der Festsetzung der Gesamtsumme für den Regelbedarf die Kosten für einzelne bedarfsrelevante Güter nicht durchgängig gedeckt seien (vgl dazu auch BR-Drucks 559/03, S 196 und BT-Drucks 15/1514, S 61 zu § 38 SGB XII des Entwurfs, jetzt § 37 SGB XII), und dem entweder der Gesetzgeber durch zusätzliche Ansprüche auf Zuschüsse zur Sicherung des existenznotwendigen Bedarfs oder die Sozialgerichte durch die verfassungskonforme Auslegung anspruchsbegründender Normen begegnen könnten (BVerfG vom 23.7.2014 - 1 BvL 10/12, 1 BvL 12/12, 1 BvR 1691/13 - BVerfGE 137, 34 = SozR 4-4200 § 20 Nr 20, RdNr 115 f, 120; zur Kritik vgl Borchert, SGb 2015, 657), folgt daraus vorliegend keine andere rechtliche Würdigung. Die vom BVerfG in diesem Zusammenhang geäußerten Zweifel an der Darlehensregelung im SGB II, die mit einer Reduzierung der existenzsichernden Leistung in Höhe von zehn Prozent durch Aufrechnung der Darlehensschuld ab dem Folgemonat der Auszahlung verbunden ist (vgl dazu Schmidt-De Caluwe in: Deutscher Sozialgerichtstag <Hrsg>, Sozialrecht - Tradition und Zukunft 2013, 39, 58 ff; Guttenberger, NZS 2021, 201, 205; Conradis info also 2021, 104, 107 f), sind auf das SGB XII nicht übertragbar; denn die dortigen Regelungen zur Rückzahlung und ihren Modalitäten sind so ausgestaltet, dass Auslegungsspielräume im Einzelfall bestehen, um Härten abzufangen (vgl bereits BSG vom 18.7.2019 - B 8 SO 4/18 R - SozR 4-3500 § 54 Nr 19 RdNr 18).  Eine zuschussweise Gewährung, wie sie die Klägerin begehrt, kommt auf Grundlage von § 37 Abs 1 SGB XII zwar nicht in Betracht (vgl BSG vom 18.7.2019 - B 8 SO 4/18 R - SozR 4-3500 § 54 Nr 19 RdNr 18). Liegen die Tatbestandsvoraussetzungen vor, hat der Hilfebedürftige in aller Regel einen Anspruch auf das Darlehen ("soll"); eine Leistungsversagung kann nur in atypischen Ausnahmefällen erfolgen, die angesichts der Tatsache, dass der die darlehnsweise Gewährung auslösende Bedarf zum existenznotwendigen Bedarf gehört, kaum denkbar sind. Auch im Fall der Klägerin war für eine solche Ausnahme nichts ersichtlich, wie der Beklagte zutreffend erkannt hat.  Entscheidend für die vorzunehmende verfassungsrechtliche Gesamtschau ist aber, dass § 37 Abs 4 Satz 1 SGB XII im Anschluss an die Darlehensgewährung keine zwingende Aufrechnung vorsieht, sondern die Rückzahlungsmodalitäten unter einen umfassenden Ermessensvorbehalt stellt. Sowohl die Frage, ob das Darlehen überhaupt zurückgezahlt werden muss, steht im pflichtgemäßen Ermessen des Sozialhilfeträgers als auch die Frage, zu welchem Zeitpunkt eine Rückzahlung ggf durch Einbehalt von der laufenden Leistung zu beginnen hat, und schließlich auch die Frage, in welcher Höhe Teilbeträge zurückzuzahlen sind. Erfolgt ein Einbehalt von der laufenden Leistung, ist dieser auf fünf Prozent der Regelbedarfsstufe 1 - das sind derzeit 22 Euro 45 Cent monatlich - beschränkt, kann aber im Ermessensweg auch niedriger festzusetzen sein. Der Anspruch auf die Ausübung pflichtgemäßen, dh alle individuellen Umstände des Einzelfalls erfassenden Ermessens (§ 39 Abs 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil - <SGB I>) ist gerichtlich voll überprüfbar. Damit bestehen die vom BVerfG geforderten Auslegungsspielräume für Härtefälle (vgl BVerfG vom 5.11.2019 - 1 BvL 7/16 - BVerfGE 152, 68 = SozR 4-4200 § 31a Nr 3, RdNr 190) und es wird auf gesetzlicher Grundlage ein am individuellen Existenzsicherungsbedarf ausgerichtetes und grundrechtliche Belange des Hilfebedürftigen berücksichtigendes Verwaltungshandeln sichergestellt.  Auch ein Anspruch auf Grundlage von § 42 Nr 1 iVm § 27a Abs 4 Satz 1 Alt 2 SGB XII aF (abweichende Festlegung des individuellen Bedarfs im Einzelfall) kommt nicht in Betracht, da ein lediglich einmalig auftretender Bedarf nicht dem Anwendungsbereich dieser Norm unterfällt, die einen laufenden höheren Bedarf voraussetzt (vgl BSG vom 24.6.2021 - B 7 AY 5/20 R - RdNr 20, für SozR 4 vorgesehen = InfAuslR 2022, 19).  Auch aus § 73 SGB XII ergibt sich der geltend gemachte Anspruch nicht. Der Anwendungsbereich dieser Norm ist nicht eröffnet, da keine atypische Bedarfslage gegeben ist; denn bei den Kosten für die Waschmaschine handelt es sich um solche Kosten, die dem Regelbedarf zuzuordnen sind (vgl zur Abgrenzung der atypischen Bedarfslage des § 73 SGB XII von den Regelbedarfen BSG vom 16.12.2010 - B 8 SO 7/09 R - BSGE 107, 169 = SozR 4-3500 § 28 Nr 6, RdNr 13 mwN; BSG vom 29.5.2019 - B 8 SO 8/17 R - SozR 4-4200 § 24 Nr 8 RdNr 14).  Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Krauß                        Richter Dr. Bieresborn                            Luik                                  ist wegen Urlaubs an der                                  Unterschrift gehindert                                  Krauß
bundessozialgericht
bsg_33 - 2022
13.10.2022
Sozialwahlen in der landwirtschaftlichen Sozialversicherung gültig Ausgabejahr 2022 Nummer 33 Datum 13.10.2022 Die Sozialwahlen zur Vertreterversammlung in der landwirtschaftlichen Sozialversicherung im Jahr 2017 sind fehlerfrei ausschließlich in der landwirtschaftlichen Unfallversicherung durchgeführt worden. Sie sind deshalb gültig und nicht zu wiederholen. Dies hat der 2. Senat des Bundessozialgerichts heute entschieden (B 2 U 6/22 R). Der Kläger war Eigentümer land- und forstwirtschaftlicher Flächen und als Selbstständiger ohne fremde Arbeitskräfte bei der beklagten Sozialversicherung Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau versichert. Er reichte als Listenvertreter eine „Freie Liste“ zur Sozialwahl 2017 in der Gruppe der Selbstständigen ohne fremde Arbeitskräfte ein. Bei der Wahl erhielt die Liste ein Mandat. Das Bundessozialgericht hat die Wahlanfechtungsklage gegen die im Jahr 2017 durchgeführte Wahl zur Vertreterversammlung in der Gruppe der Selbstständigen ohne Arbeitskräfte abgewiesen. Die Wahl ist fehlerfrei im Zweig der landwirtschaftlichen Unfallversicherung durchgeführt worden. Der damit verbundene Wahlausschluss der in den anderen Zweigen der landwirtschaftlichen Sozialversicherung (Alter, Krankheit und Pflege) versicherten Alters- und Erwerbsminderungsrentner steht im Einklang mit den Wahlvorschriften (§ 47 Abs 3 Nr 2 SGB IV). Die Beschränkung auf erwerbstätige Wahlberechtigte in der Gruppe der Selbstständigen ohne fremde Arbeitskräfte ist sachlich gerechtfertigt. Sie dient auch nach der Fusionierung der einzelnen Zweige der landwirtschaftlichen Sozialversicherung zu einem bundeseinheitlichen Verbundträger zum 1. Januar 2013 dem Schutz der Gruppe der Solo-Selbstständigen in der landwirtschaftlichen Sozialversicherung als einer im Kern berufsständischen Solidargemeinschaft. Hinweise zur Rechtslage: Viertes Buch Sozialgesetzbuch – Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung § 44 Zusammensetzung der Selbstverwaltungsorgane (idF des Gesetzes vom 12.4.2012, BGBl. I S. 579 mWv 1.1.2013) (1) Die Selbstverwaltungsorgane setzen sich zusammen 1. … 2. bei der Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau je zu einem Drittel aus Vertretern der versicherten Arbeitnehmer (Versicherten), der Selbständigen ohne fremde Arbeitskräfte und der Arbeitgeber, 3. … § 46 Wahl der Vertreterversammlung (idF des Gesetzes vom 12.4.2012, BGBl. I S. 579 mWv 1.1.2013) (1) Die Versicherten und die Arbeitgeber wählen die Vertreter ihrer Gruppen in die Vertreterversammlung getrennt auf Grund von Vorschlagslisten; das Gleiche gilt bei der Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau für die Selbständigen ohne fremde Arbeitskräfte. … § 47 Gruppenzugehörigkeit (idF Gesetzes vom 23. Dezember 1976, BGBl. I S. 3845, zuletzt geändert durch Gesetz vom 20.11.2015, BGBl. I S. 2010) (1) Zur Gruppe der Versicherten gehören 1. … 2. bei den Trägern der Unfallversicherung die versicherten Personen, die regelmäßig mindestens zwanzig Stunden im Monat eine die Versicherung begründende Tätigkeit ausüben, und die Rentenbezieher, die der Gruppe der Versicherten unmittelbar vor dem Ausscheiden aus der versicherten Tätigkeit angehört haben, … (2) Zur Gruppe der Arbeitgeber gehören 1. die Personen, die regelmäßig mindestens einen beim Versicherungsträger versicherungspflichtigen Arbeitnehmer beschäftigen… 2. bei den Trägern der Unfallversicherung auch die versicherten Selbständigen und ihre versicherten Ehegatten oder Lebenspartner, soweit Absatz 3 nichts Abweichendes bestimmt, und die Rentenbezieher, die der Gruppe der Arbeitgeber unmittelbar vor dem Ausscheiden aus der versicherten Tätigkeit angehört haben, … (3) Zur Gruppe der Selbständigen ohne fremde Arbeitskräfte gehören bei der Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau 1. die versicherten Selbständigen ohne fremde Arbeitskräfte und ihre versicherten Ehegatten oder Lebenspartner; dies gilt nicht für Personen, die in den letzten zwölf Monaten sechsundzwanzig Wochen als Arbeitnehmer in der Land- oder Forstwirtschaft unfallversichert waren, 2. die Rentenbezieher, die der Gruppe der Selbständigen ohne fremde Arbeitskräfte unmittelbar vor dem Ausscheiden aus der versicherten Tätigkeit angehört haben. (4) … (5) Rentenbezieher im Sinne der Vorschriften über die Selbstverwaltung ist, wer eine Rente aus eigener Versicherung von dem jeweiligen Versicherungsträger bezieht.
Bundessozialgericht Urteil vom 13.10.2022, B 2 U 6/22 R Wahlanfechtungsklage - Sozialwahl in der landwirtschaftlichen Sozialversicherung - kein Wahlrecht für Bezieher von Versichertenrenten aus der Alterssicherung der Landwirte ohne unfallrechtliche Verletztenrente oder Fortbestehen der Versicherung - kein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz LeitsätzeEs ist mit dem Gleichheitssatz vereinbar, dass die Bezieher von Versichertenrenten aus der Alterssicherung der Landwirte in der Gruppe der Selbstständigen ohne fremde Arbeitskräfte bei den Sozialwahlen in der landwirtschaftlichen Sozialversicherung weder aktiv noch passiv wahlberechtigt sind, wenn sie aus der landwirtschaftlichen Unfallversicherung keine Verletztenrente erhalten oder dort nicht mehr versichert sind. TenorAuf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 28. Januar 2022 - L 9 U 173/18 - aufgehoben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 9. August 2018 - S 11 R 246/17 - zurückgewiesen.  Der Kläger trägt auch die Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens. TatbestandDie Beteiligten streiten darüber, ob die Sozialwahl 2017 zur Vertreterversammlung der Beklagten in der Gruppe der Selbstständigen ohne fremde Arbeitskräfte fehlerhaft ausschließlich im Zweig der landwirtschaftlichen Unfallversicherung durchgeführt wurde und wiederholt werden muss.  Der Kläger war Eigentümer land- und forstwirtschaftlicher Flächen und als Selbstständiger ohne fremde Arbeitskräfte bei der Beklagten versichert. Er reichte als Listenvertreter die "Freie Liste E, H, S, B, M" zur Sozialwahl 2017 in der Gruppe der Selbstständigen ohne fremde Arbeitskräfte ein. Anders als der Wahlausschuss ließ der Bundeswahlausschuss die Vorschlagsliste zu. Sie erhielt bei der Wahl in der Gruppe der Selbstständigen ohne fremde Arbeitskräfte ein Mandat. Das SG hat die Wahlanfechtungsklage abgewiesen (Urteil vom 9.8.2018). Dagegen hat das LSG auf die Berufung des Klägers festgestellt, dass die im Jahr 2017 in der Gruppe der Selbstständigen ohne fremde Arbeitskräfte durchgeführte Wahl zur Vertreterversammlung der Beklagten ungültig ist und wiederholt werden muss (Urteil vom 28.1.2022): Zu Unrecht habe der Wahlausschuss die Sozialwahl nur in der landwirtschaftlichen Unfallversicherung durchgeführt und dadurch die Alters- und Erwerbsminderungsrentner, die in den anderen Zweigen der landwirtschaftlichen Sozialversicherung (LSV) versichert gewesen seien, von ihrem aktiven und passiven Wahlrecht ausgeschlossen. Zwar hätten in der Vergangenheit Sozialwahlen nur in der landwirtschaftlichen Unfallversicherung stattgefunden, weil die Vertreterversammlungen der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften zugleich die Vertreterversammlungen der anderen Zweige der LSV gewesen seien (sog Organleihe). Mit der Neuorganisation eines bundeseinheitlichen Sozialversicherungsträgers für alle vier Zweige der landwirtschaftlichen Unfall-, Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung zum 1.1.2013 finde eine Beschränkung des Wahlrechts auf die landwirtschaftliche Unfallversicherung im Gesetz aber keine Stütze mehr. Der Wahlfehler wiege schwer und sei mandatsrelevant.  Mit ihrer Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 47 Abs 3 Nr 2 SGB IV. Die Sozialwahl sei auch 2017 allein im Zweig der gesetzlichen Unfallversicherung durchzuführen gewesen. Der Gesetzgeber habe das Wahlrecht weder mit der Neuorganisation der LSV zum 1.1.2013 noch zu einem späteren Zeitpunkt geändert. Die Beklagte beantragt, das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 28. Januar 2022 - L 9 U 173/18 - aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 9. August 2018 - S 11 R 246/17 - zurückzuweisen. Der Kläger, der dem angefochtenen Urteil beipflichtet, beantragt, die Revision der Beklagten zurückzuweisen. EntscheidungsgründeDie Revision der Beklagten ist begründet (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG). Zu Unrecht hat das LSG das erstinstanzliche Urteil aufgehoben, die Sozialwahl 2017 in der Gruppe der Selbstständigen ohne fremde Arbeitskräfte für ungültig erklärt und deren Wiederholung angeordnet. Die Wahlanfechtungsklage ist zulässig (dazu A.), aber unbegründet (dazu B.). Denn es liegt kein Wahlfehler vor.  Der Senat ist nicht gehindert, das klageabweisende Urteil des SG zu bestätigen, obwohl weder die gewählten Vertreter noch der Bundeswahlbeauftragte zum Verfahren beigeladen worden sind. Gemäß § 75 Abs 2 Alt 1 SGG sind Dritte zu einem Rechtsstreit beizuladen, wenn sie an dem streitigen Rechtsverhältnis derart beteiligt sind, dass die Entscheidung auch ihnen gegenüber nur einheitlich ergehen kann. Es kann dahinstehen, ob diese Voraussetzung hier vorliegt (in diesem Sinne BSG Urteil vom 23.4.1975 - 2/8 RU 62/73 - BSGE 39, 244, 252 = SozR 5334 Art 3 § 1 Nr 1 S 10 <noch zum Selbstverwaltungsgesetz - SVwG>) oder aufgrund der Besonderheiten des Wahlanfechtungsverfahrens nicht erfüllt ist (so BSG Urteile vom 8.9.2015 - B 1 KR 28/14 R - BSGE 119, 286 = SozR 4-2400 § 48 Nr 2, RdNr 9; vom 14.10.1992 - 14a/6 RKa 58/91 - BSGE 71, 175, 180 f = SozR 3-1500 § 55 Nr 14 S 26 und vom 23.9.1982 - 8 RK 19/82 - BSGE 54, 104, 105 f = SozR 2100 § 57 Nr 1 S 2). Denn die Zurückweisung der Sache an das LSG wegen einer unterlassenen notwendigen Beiladung ist nicht erforderlich, wenn sich im Revisionsverfahren ergibt, dass die zu treffende Entscheidung aus Sicht des Revisionsgerichts die potentiell Beizuladenden weder verfahrens- noch materiell-rechtlich benachteiligt (vgl BSG Urteile vom 20.3.2018 - B 2 U 13/16 R - BSGE 125, 219 = SozR 4-2700 § 2 Nr 41, RdNr 23-24 mwN und vom 24.10.2013 - B 13 R 35/12 R - SozR 4-2600 § 118 Nr 12 RdNr 18; Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 75 RdNr 13c mwN; Straßfeld in Roos/Wahrendorf/Müller, SGG, 2. Aufl 2022, § 75 RdNr 342). Dies ist hier der Fall, weil die Klageabweisung in keine Rechtsposition der gewählten Vertreter oder des Bundeswahlbeauftragten eingreift. Insoweit bedurfte es auch keiner Beiladung mit Zustimmung der potentiell Beizuladenden im Revisionsverfahren (§ 168 Satz 2 SGG). A. Die statthafte Wahlanfechtungsklage ist zulässig. Gegenstand der Wahlanfechtung ist allein "die Wahl" (§ 57 Abs 2 SGB IV) als solche, nicht dagegen der Beschluss des Wahlausschusses, auf dem der vermeintliche Wahlfehler beruht (BSG Urteil vom 8.9.2015 - B 1 KR 28/14 R - BSGE 119, 286 = SozR 4-2400 § 48 Nr 2, RdNr 13 mwN). Der Kläger hat die Anfechtung im ersten Rechtszug zulässigerweise auf die Wahl in der Gruppe der Selbstständigen ohne fremde Arbeitskräfte beschränkt. Die Möglichkeit, den gerichtlichen Prüfungsumfang im Rahmen der Dispositionsmaxime (§ 123 SGG) von sich aus zu begrenzen, ist mit der objektiv-rechtlichen Zielsetzung des Wahlanfechtungsverfahrens vereinbar, das vorrangig den gesetzmäßigen Ablauf der Wahl und die gesetzmäßige Zusammensetzung des zu wählenden Organs im öffentlichen Interesse sichern und subjektive Rechte allenfalls nachrangig schützen soll (BSG Urteile vom 14.10.1992 - 14a/6 RKa 58/91 - BSGE 71, 175 = SozR 3-1500 § 55 Nr 14 = juris RdNr 24 und grundlegend vom 14.6.1984 - 1/8 RK 18/83 - BSGE 57, 42 = SozR 2100 § 48 Nr 1 = juris RdNr 30; vgl auch BVerfG Beschluss vom 23.11.1993 - 2 BvC 15/91 - BVerfGE 89, 291, 298 = juris RdNr 37 und vom 1.9.2009 - 2 BvR 1928/09 - BVerfGK 16, 153 = juris RdNr 11). Die Teilanfechtung der Wahl zur Vertreterversammlung ist zulässig, weil sie sich auf abgrenzbare Teile der gesamten Wahl bezieht, dh der angegriffene Teil - hier der Wahl in der Gruppe der Selbstständigen ohne fremde Arbeitskräfte - nicht in einem untrennbaren rechtlichen Zusammenhang mit den übrigen Teilen - hier den Wahlen in den übrigen Gruppen der Versicherten und Arbeitgeber - steht. Denn nach § 46 Abs 1 SGB IV wählen die Versicherten, Arbeitgeber und Selbstständigen ohne fremde Arbeitskräfte die Vertreter ihrer Gruppen in die Vertreterversammlung getrennt aufgrund gesonderter Vorschlagslisten. Die Wahlen erfolgen damit unabhängig voneinander; Fehler bei der Wahl in einer Gruppe wirken sich nicht auf die Wahlen in den übrigen Gruppen aus (Schmitt, SGb 2022, 403, 406). Diese rechtliche Eigenständigkeit der Wahlen in den jeweiligen Gruppen rechtfertigt die Zulässigkeit entsprechender Teilanfechtungsklagen in Wahlprüfungsverfahren (so im Ergebnis auch BSG Urteile vom 8.9.2015 - B 1 KR 28/14 R - BSGE 119, 286 = SozR 4-2400 § 48 Nr 2; vom 13.9.2005 - B 2 U 21/04 R - SozR 4-2400 § 57 Nr 2 sowie vom 15.11.1973 - 3 RK 57/72 - BSGE 36, 242, 243 = SozR Nr 1 zu § 7 SVwG; vgl auch BAG Beschluss vom 12.2.1960 - 1 ABR 13/59 - BetrR 1960,188 = juris RdNr 9 f).  Von Amts wegen zu berücksichtigende Verfahrenshindernisse, die einer Sachentscheidung entgegenstehen könnten, liegen nicht vor. Die Wahlanfechtungsklage ist statthaft, weil der Kläger Entscheidungen bzw Maßnahmen angreift, die sich unmittelbar auf das Wahlverfahren beziehen (§ 57 Abs 1 SGB IV). Denn er rügt, bestimmte Rentenbezieher seien von der Wahl rechtswidrig ausgeschlossen worden. Er gehört auch zum Kreis der Anfechtungsberechtigten iS des § 57 Abs 2 SGB IV. Nach dieser Vorschrift können die in § 48 Abs 1 SGB IV genannten Personen und Vereinigungen, der Bundeswahlbeauftragte und der zuständige Landeswahlbeauftragte die Wahl durch Klage gegen den Versicherungsträger anfechten. Als Selbstständiger ohne fremde Arbeitskräfte zählt der Kläger zu den anfechtungsberechtigten Personen, die § 48 Abs 1 Nr 4 SGB IV bezeichnet. Die einmonatige Klagefrist hat er eingehalten (§ 57 Abs 3 Satz 2 SGB IV); ein Vorverfahren war nicht durchzuführen (§ 78 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGG iVm § 57 Abs 3 Satz 3 SGB IV). B. Die Wahlanfechtungsklage ist unbegründet. Die Wahl zur Vertreterversammlung in der Gruppe der Selbstständigen ohne fremde Arbeitskräfte durfte nicht für ungültig erklärt werden, weil kein Wahlfehler vorliegt (dazu I.) und die Wahlvorschriften mit höherrangigem Recht vereinbar sind (dazu II.). Infolgedessen durfte auch keine Wahlwiederholung angeordnet werden (dazu III.). I. Wahlfehler sind alle Verletzungen von Wahlrechtsvorschriften. Ausgenommen sind solche Rechtsverstöße, die das Ergebnis der Wahl nicht beeinflusst haben können (sog mandatsirrelevante Wahlmängel, BSG Urteile vom 8.9.2015 - B 1 KR 28/14 R - BSGE 119, 286 = SozR 4-2400 § 48 Nr 2, RdNr 27; vom 16.12.2003 - B 1 KR 26/02 R - BSGE 92, 59 = SozR 4-2400 § 48 Nr 1, RdNr 22; vom 28.1.1998 - B 6 KA 98/96 R - BSGE 81, 268, 270 f = SozR 3-2500 § 80 Nr 3 S 22 und vom 14.6.1984 - 1/8 RK 18/83 - BSGE 57, 42, 45 = SozR 2100 § 48 Nr 1 S 5; Rauber, Wahlprüfung in Deutschland, 2005, S 73; vgl auch die Begründung zum Regierungsentwurf eines § 58 SGB IV, BT-Drucks 7/4122, S 36: "Zu § 58 ist zu bemerken, daß in Übereinstimmung mit dem geltenden Recht eine Wahlanfechtung keinen Erfolg haben kann, wenn durch den Verstoß das Wahlergebnis nicht geändert oder beeinflußt werden konnte; ein ausdrücklicher Hinweis hierauf im Gesetz erscheint entbehrlich"). Mit seiner Entscheidung, die Wahl zur Vertreterversammlung in der Gruppe der Selbstständigen ohne fremde Arbeitskräfte ausschließlich im Zweig der Landwirtschaftlichen Unfallversicherung durchzuführen, hat der Wahlausschuss der Beklagten keine bundesrechtlichen (§ 162 SGG) Wahlvorschriften verletzt.  Nach § 45 Abs 2 Satz 1 Halbsatz 1 SGB IV in seiner bis zum 24.6.2020 geltenden Fassung (der Neubekanntmachung des SGB IV vom 12.11.2009, BGBl I 3710) sind die Sozialversicherungswahlen frei und geheim. Die Versicherten und die Arbeitgeber wählen die Vertreter ihrer Gruppen in die Vertreterversammlung getrennt aufgrund von Vorschlagslisten; das Gleiche gilt bei der Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau zusätzlich für die Selbstständigen ohne fremde Arbeitskräfte (§ 46 Abs 1 SGB IV idF des Gesetzes zur Neuordnung der Organisation der landwirtschaftlichen Sozialversicherung - LSV-Neuordnungsgesetz - LSV-NOG vom 12.4.2012, BGBl I 579). Zu deren Gruppe gehören gemäß § 47 Abs 3 SGB IV idF des LSV-NOG die versicherten Selbstständigen ohne fremde Arbeitskräfte und ihre versicherten Ehegatten oder Lebenspartner; dies gilt nicht für Personen, die in den letzten zwölf Monaten 26 Wochen als Arbeitnehmer in der Land- oder Forstwirtschaft unfallversichert waren (Nr 1) sowie die Rentenbezieher, die der Gruppe der Selbstständigen ohne fremde Arbeitskräfte unmittelbar vor dem Ausscheiden aus der versicherten Tätigkeit angehört haben (Nr 2). Wer gleichzeitig die Voraussetzungen der Zugehörigkeit zu den Gruppen der Versicherten und der Arbeitgeber oder der Selbstständigen ohne fremde Arbeitskräfte desselben Versicherungsträgers erfüllt, gilt nur als zur Gruppe der Arbeitgeber oder der Gruppe der Selbstständigen ohne fremde Arbeitskräfte gehörig (§ 47 Abs 4 SGB IV). Rentenbezieher im Sinne der Vorschriften über die Selbstverwaltung ist, wer eine Rente aus eigener Versicherung von dem jeweiligen Versicherungsträger bezieht (§ 47 Abs 5 SGB IV). Wahlberechtigt bzw wählbar unter jeweils weiteren Voraussetzungen ist, wer am Tag der Wahlausschreibung (Stichtag für die Wählbarkeit) bzw an dem in der Wahlausschreibung bestimmten Tag (Stichtag für das Wahlrecht) bei dem Versicherungsträger zu einer der Gruppen gehört, aus deren Vertretern sich die Selbstverwaltungsorgane des Versicherungsträgers zusammensetzen (§ 50 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB IV und § 51 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB IV). Die Selbstverwaltungsorgane (Vertreterversammlung und Vorstand, § 31 Abs 1 Satz 1 SGB IV) setzen sich bei der Beklagten - in Abweichung vom Regelfall der paritätischen Besetzung durch Versicherte und Arbeitgeber (§ 29 Abs 2 SGB IV) - je zu einem Drittel aus Vertretern der versicherten Arbeitnehmer (Versicherten), der Selbstständigen ohne fremde Arbeitskräfte und der Arbeitgeber zusammen (sog Drittelparität, § 44 Abs 1 Nr 2 SGB IV).  Das BSG hat sich noch nicht mit der Frage beschäftigt, ob Bezieher einer Versichertenrente aus der Alterssicherung der Landwirte (AdL) auch dann in der Gruppe der Selbstständigen ohne fremde Arbeitskräfte aktiv und passiv wahlberechtigt sind, wenn sie weder in der landwirtschaftlichen Unfallversicherung versichert sind noch Verletztenrente aus der landwirtschaftlichen Unfallversicherung erhalten (sog unversicherte AdL-Einfachrentner). Während das SG Kassel (Beschluss vom 13.4.2017 - S 9 U 3/17 ER - juris) und der 2. Senat des Hessischen LSG (Beschluss vom 12.5.2017 - L 2 AR 1/17 B ER - juris) die Frage im einstweiligen Rechtschutzverfahren verneint haben, hat sie - anders als zuvor das SG (Urteile vom 9.8.2018 - S 11 R 246/17, S 11 R 248/17 und S 11 R 250/17, alle juris) - der 9. Senat des Hessischen LSG bejaht (Hessisches LSG Urteile vom 28.1.2022 - L 9 U 173/18, L 9 U 174/18 und L 9 U 175/18, alle juris). Der zuletzt genannten Ansicht hat sich ein Teil der Literatur angeschlossen (Bünnemann in BeckOK Sozialrecht, Stand 1.6.2022, § 47 RdNr 17; Palsherm, jurisPK-SGB IV, Stand 10.3.2022, § 47 SGB RdNr 39.1). Überwiegend wird die Wahlberechtigung jedoch abgelehnt (Becher/Plate, Selbstverwaltungsrecht der Sozialversicherung, Stand Juni 2021, § 44 Anm 3.1; Rombach, Leitfaden zu den Sozialversicherungswahlen, 2. Aufl 2022, S 39; ders in Hauck/Noftz, SGB IV, Februar 2022, § 44 RdNr 14a; ders, WzS 2022, 114, 115; kritisch auch Roßkopf, NZS 2022, 548; vgl auch die Stellungnahme des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages vom 8.5.2017 über Fragen zur Selbstverwaltung der landwirtschaftlichen Sozialversicherung - WD 6 - 3000 - 028/17 sowie das Schreiben des BMAS vom 16.4.2016). Diese Auffassung trifft zu.  Der Wahlausschuss der Beklagten hat den Kreis der Personen, die gemäß § 47 Abs 3 Nr 2 SGB IV zur Gruppe der Selbstständigen ohne fremde Arbeitskräfte gehören, richtig bestimmt. Es handelt sich dabei um Personen, die am jeweiligen Stichtag (1.4.2016 bzw 1.1.2017) eine (Verletzten-)Rente aus eigener Versicherung als vorläufige Entschädigung (§ 62 Abs 1 SGB VII) oder auf unbestimmte Zeit (§ 62 Abs 2 SGB VII) von der Beklagten beziehen (§ 47 Abs 5 SGB IV) und der Gruppe der Selbstständigen ohne fremde Arbeitskräfte unmittelbar vor dem Ausscheiden aus der versicherten Tätigkeit angehört haben. Damit hat sie die Bezieher einer Regelaltersrente (§ 11 ALG), vorzeitigen Altersrente (§ 12 ALG) und Rente wegen Erwerbsminderung (§ 13 ALG), die zugleich weder eine Verletztenrente von der Beklagten erhielten noch in der landwirtschaftlichen Unfallversicherung versichert waren, zu Recht aus der Gruppe der Selbstständigen ohne fremde Arbeitskräfte mit der Folge ausgeschlossen, dass sie in dieser Gruppe weder wahlberechtigt noch wählbar waren. Das ergibt die Auslegung des § 47 Abs 3 Nr 2 SGB IV nach Wortlaut (dazu insbesondere 1.), Systematik (dazu insbesondere 2.), Entstehungsgeschichte (dazu insbesondere 3.) sowie Sinn und Zweck der Norm (dazu insbesondere 4.) in der Gesamtbetrachtung (dazu 5.). 1. Im Rahmen der sprachlich-grammatikalischen Wortlautinterpretation ist nicht nur die Bedeutung (Semantik) einzelner Wörter oder Rechtsbegriffe zu analysieren (dazu a), sondern der gesamte (Rechts-)Satz, in dem der auslegungsbedürftige Begriff verwendet wird (dazu b). Daraus ergibt sich, dass das Gesetz die Gruppenzugehörigkeit eng an das Unfallversicherungsrecht koppelt, indem es an die "versicherte Tätigkeit" entsprechend den Regeln der allgemeinen Unfallversicherung anknüpft, um den erfassten Personenkreis zu präzisieren (dazu c). a) Isoliert betrachtet erfasst der Wortsinn des Ausdrucks "Rentenbezieher" in § 47 Abs 3 Nr 2 SGB IV alle Personen, die am jeweiligen Stichtag aus einem Stammrecht einen regelmäßig zahlbaren Einzelanspruch auf einen bestimmten Geldbetrag haben (zur Unterscheidung zwischen Renten-Stammrecht und -zahlungsanspruch BSG Urteile vom 23.6.2020 - B 2 U 5/19 R - BSGE 130, 226 = SozR 4-2700 § 202 Nr 1, RdNr 16 f und vom 25.5.2018 - B 13 R 3/17 R - SozR 4-1300 § 48 Nr 35 RdNr 14 mwN). Allerdings begrenzt schon § 47 Abs 5 SGB IV dieses weite Wortverständnis auf Versichertenrenten ("Rente aus eigener Versicherung") von dem jeweiligen Versicherungsträger ("Träger der Sozialversicherung", § 29 Abs 1 SGB IV) und schließt damit alle anderen Renten außerhalb der Sozialversicherung sowie deren Hinterbliebenenrenten (§§ 14 bis 16 ALG, §§ 46 bis 49 SGB VI und §§ 65 bis 67 SGB VII) von vornherein aus (Rombach in Hauck/Noftz, SGB IV, Februar 2022, §  47 RdNr 18; Stäbler in Krauskopf, Soziale KV, PV, SGB IV, 114. EL April 2022, § 47 RdNr 12; Woltjen in jurisPK-SGB IV, Stand 1.3.2016, § 47 RdNr 42; Zabre in Kreikebohm/Dünn, SGB IV, 4. Aufl 2022, § 47 RdNr 11). b) Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass der Rechtsbegriff des Rentenbeziehers in § 47 Abs 3 Nr 2 SGB IV - anders als zB in § 47 Abs 1 Nr 3 SGB IV - durch einen nachfolgenden Nebensatz näher erläutert und dort auf solche Personen beschränkt wird, "die der Gruppe der Selbständigen ohne fremde Arbeitskräfte unmittelbar vor dem Ausscheiden aus der versicherten Tätigkeit angehört haben". Bezugspunkt des Nebensatzes ist danach die "versicherte Tätigkeit", die der gegenwärtige Rentenbezieher in der Vergangenheit aufgegeben haben muss. Dabei sind der Begriff der versicherten Tätigkeit und das Faktum ihrer Aufgabe sowohl entstehungszeitlich als auch geltungszeitlich eng mit dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung assoziiert: Als § 47 SGB IV (idF des Art 1 Sozialgesetzbuch IV - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung - vom 23.12.1976, BGBl I 3845) am 1.7.1977 in Kraft trat, vermittelte die "versicherte Tätigkeit" Unfallversicherungsschutz, und ihre Aufgabe war notwendige Voraussetzung für den Eintritt des Versicherungs- und Leistungsfalls bei bestimmten Berufskrankheiten sowie für die Gewährung von Übergangsleistungen (§ 3 Abs 2 BKVO). c) Diese enge Verbindung mit dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung stellte § 47 Abs 3 SGB IV in seiner bis zum 31.12.2012 geltenden Ursprungsfassung zusätzlich dadurch sicher, dass er ausdrücklich nur Rentenbezieher "bei den Trägern der landwirtschaftlichen Unfallversicherung, mit Ausnahme der Gartenbau-Berufsgenossenschaft" erfasste. Damit war gesetzlich klargestellt, dass sich der Begriff des Rentenbeziehers allein auf die landwirtschaftliche Unfallversicherung bezog und alle übrigen Rentner ausschloss. Die Verknüpfung mit dem Unfallversicherungsrecht hat sich nicht aus Anlass der Neuorganisation der LSV erledigt. Angesichts der fortdauernden Bezugnahme auf die zwischenzeitlich legal definierte "versicherte Tätigkeit" in § 8 Abs 1 Satz 1 SGB VII (idF des Gesetzes zur Einordnung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung in das Sozialgesetzbuch - Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz - UVEG vom 7.8.1996, BGBl I 1254, mWv 1.1.1997) ist sie im Gegenteil zu einer stillschweigenden Verweisung erstarkt. Denn die Verwendung eines legal definierten Begriffs darf in aller Regel als konkludente Verweisung auf diese Definition verstanden werden (Debus, Verweisungen in deutschen Rechtsnormen, 2008, S 55). Insoweit beschränkt sich die zum 1.1.2013 vorgenommene Änderung in § 47 Abs 3 SGB IV auf die durch Art 1 § 1 LSV-NOG vorgegebene Neubezeichnung der LSV.  Der Gesetzeswortlaut erfasst zudem nur den Rentenbezieher, der unmittelbar vor Ausscheiden aus der versicherten Tätigkeit zur Gruppe der Selbstständigen ohne fremde Arbeitskräfte gehörte, dh entweder versicherter Selbstständiger ohne fremde Arbeitskräfte oder dessen versicherter Ehegatte bzw Lebenspartner war (§ 47 Abs 3 Nr 1 SGB IV). Um den Kreis der fremden von den nichtfremden Arbeitskräften (Bünnemann in BeckOK Sozialrecht, Stand 1.6.2022, § 47 SGB IV RdNr 15; Krause in GK-SGB IV, 2. Aufl 1992, § 47 RdNr 55; Winkler in ders, SGB IV, 3. Aufl 2020, § 47 RdNr 9; Zabre in Kreikebohm/Dünn, SGB IV, 4. Aufl 2022, § 47 RdNr 9) abzugrenzen, greift die Praxis ebenfalls auf unfallversicherungsrechtliche Maßstäbe zurück, nämlich die Legaldefinition des Familienangehörigen in § 2 Abs 1 Nr 1 Buchst b iVm Abs 4 SGB VII (Becher/Plate, Selbstverwaltungsrecht der Sozialversicherung, Stand Juni 2021, § 47 Anm 3; Palsherm in jurisPK-SGB IV, Stand 10.3.2022, § 47 RdNr 37; Rombach in Hauck/Noftz, Stand Februar 2022, SGB IV, § 47 RdNr 13). War die betreffende Person unmittelbar vor der Tätigkeitsaufgabe versicherter Selbstständiger ohne fremde Arbeitskräfte oder dessen versicherter Ehegatte bzw Lebenspartner, gehört sie dennoch nicht zu dieser, sondern zur Gruppe der Versicherten, wenn sie in den letzten zwölf Monaten vor dem Ausscheiden aus der versicherten Tätigkeit 26 Wochen als Arbeitnehmer in der Land- oder Forstwirtschaft unfallversichert gewesen ist. Auch dies belegt die enge Verknüpfung mit dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung.  Insgesamt enthält der Gesetzeswortlaut des § 47 Abs 3 SGB IV somit deutliche Hinweise darauf, dass die Gruppenzugehörigkeit an das Unfallversicherungsrecht gekoppelt ist: Die Verwendung des Begriffs der versicherten Tätigkeit und die Notwendigkeit ihrer Aufgabe, die konkludente Verweisung auf ihre Legaldefinition in § 8 Abs 1 Satz 1 SGB VII, der ursprüngliche Bezug zu den Trägern der landwirtschaftlichen Unfallversicherung, die Legaldefinition des Familienangehörigen in § 2 Abs 4 SGB VII und der unfallversicherungsrechtlich geprägte Ausschlusstatbestand in § 47 Abs 3 Nr 2 Halbsatz 2 SGB IV. Von diesen Bezügen auf das Unfallversicherungsrecht ist zum 1.1.2013 mit der Schaffung der Beklagten als Verbundträgerin nur der direkte Verweis auf die Träger der landwirtschaftlichen Unfallversicherung entfallen, wobei einschränkend zu berücksichtigen ist, dass die Beklagte auch Unfallversicherungsträgerin ist und insofern die Bezeichnung landwirtschaftliche Unfallversicherung führt (§ 114 Abs 1 Satz 1 Nr 2 SGB VII). Aufgrund der fortbestehenden stillschweigenden Verweisung auf § 8 Abs 1 Satz 1 SGB VII erfasst § 47 Abs 3 Nr 2 SGB IV gleichwohl nur solche Tätigkeiten, die Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 SGB VII bzw §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO begründen. Dies legt es nahe, als "Rentenbezieher" iS des § 47 Abs 3 Nr 2 SGB IV nur Personen anzusehen, die von der Beklagten eine Verletztenrente erhalten, sofern sie der Gruppe der Selbstständigen ohne fremde Arbeitskräfte unmittelbar vor dem Ausscheiden aus der versicherten Tätigkeit angehört haben. 2. Dafür sprechen auch die systematischen Zusammenhänge des § 47 Abs 3 SGB IV zu den übrigen Absätzen der Vorschrift (dazu a) und die Wechselwirkungen insbesondere mit § 44 Abs 1 Nr 2 und Abs 3 SGB IV (dazu b). a) Bei binnensystematischer Auslegung auf der Ebene der Norm fallen die identischen Formulierungen in § 47 Abs 1 Nr 2 und Abs 2 Nr 2 SGB IV auf, die sich jeweils ausdrücklich auf die Gruppenzugehörigkeit "bei den Trägern der Unfallversicherung" beziehen. Benutzt das Gesetz einen Rechtsbegriff in vorangehenden Absätzen derselben Vorschrift in einem bestimmten Sinne, ist aus systematischer Sicht davon auszugehen, dass diese Begriffsverständnis auch den weiteren Absätzen zugrunde liegt. Denn das vom Rechtsetzer gewählte System der Textgestaltung, die Stellung eines Ausdrucks in einem systematisch gegliederten Bedeutungszusammenhang und eine bestimmte Systematik von Äußerungen prägen deren Sinngehalt. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass der Gesetzgeber mit der Verwendung gleicher Worte - jedenfalls im unmittelbaren textlichen Zusammenhang - dieselben Inhalte verbindet und einen wiederholt verwendeten Begriff - wie hier in aufeinander folgenden Absätzen - einheitlich verstanden wissen will. Dass § 47 Abs 3 Nr 2 SGB IV - anders als § 47 Abs 1 Nr 2 und Abs 2 Nr 2 SGB IV - die Träger der Unfallversicherung eingangs nicht mehr erwähnt, beruht darauf, dass die Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau als Verbundträgerin seit dem 1.1.2013 auch Trägerin der landwirtschaftlichen Unfallversicherung ist (§ 114 Abs 1 Satz 1 Nr 2 SGB VII idF des LSV-NOG) und daher eine ausdrücklich differenzierende Bezeichnung entbehrlich war. Folglich ist auch bei systematischer Betrachtung dem Ausdruck "versicherte Tätigkeit" in § 47 Abs 3 SGB IV die Bedeutung zuzumessen, die sie im Äußerungskontext der vorangehenden Absätze bereits nachweislich hat, wobei zusätzlich zu berücksichtigen ist, dass die Absätze nicht beziehungslos nebeneinander stehen, sondern § 47 Abs 2 Nr 2 SGB IV das Konkurrenzverhältnis zu § 47 Abs 3 SGB IV mit dem Einschub - "soweit Absatz 3 nichts Abweichendes bestimmt" - ausdrücklich regelt. b) Mittelbar bestätigt auch § 44 Abs 3 SGB IV dieses Ergebnis. Nach Satz 1 dieser Vorschrift wirken in den Selbstverwaltungsorganen der Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau in Angelegenheiten der Krankenversicherung der Landwirte und der Alterssicherung der Landwirte die Vertreter der Selbstständigen, die in der betreffenden Versicherung nicht versichert sind und die nicht zu den in § 51 Abs 4 SGB IV genannten Beauftragten (der Verbände) gehören, sowie die Vertreter der Arbeitnehmer nicht mit. An die Stelle der nicht mitwirkenden Vertreter der Selbstständigen treten die Stellvertreter, die in der betreffenden Versicherung versichert sind; sind solche Stellvertreter nicht in genügender Zahl vorhanden, ist die Liste der Stellvertreter (im Wege der Nachfolge) nach § 60 SGB IV zu ergänzen (Satz 2). Dass - umgekehrt - Vertreter, die ausschließlich der Krankenversicherung und/oder der Alterssicherung der Landwirte angehören, in Angelegenheiten der landwirtschaftlichen Unfallversicherung ausgeschlossen sind, ist indes ebenso wenig geregelt wie das Nachrücken unfallversicherter Stellvertreter oder Ersatzvertreter. Ein entsprechender Mitwirkungsausschluss und die Festlegung eines Nachrückverfahrens wären aber geboten und nach der gesetzlichen Konzeption zu erwarten gewesen, um das in § 44 Abs 3 SGB IV verankerte Prinzip der Selbstverwaltung durch die Betroffenen zu wahren und zu verhindern, dass Mandatsträger über Angelegenheiten der landwirtschaftlichen Unfallversicherung mitbestimmen, ohne dort selbst versichert zu sein. Aus der Inexistenz entsprechender gesetzlicher Regelungen lässt sich somit folgern, dass derartige Fallkonstellationen - nach Vorstellung des Gesetzgebers - nicht auftreten können, weil die Zugehörigkeit zur landwirtschaftlichen Unfallversicherung Grundvoraussetzung für die Mitwirkung in den Selbstverwaltungsorganen ist (Becher/Plate, Das Selbstverwaltungsrecht der Sozialversicherung, SGB IV, Stand Juni 2021, § 44 Anm 3.1; vgl auch Rombach in Hauck/Noftz, SGB IV, Stand Februar 2022, § 44 RdNr 14a). Damit kann es entgegen der Auffassung des LSG von vornherein nicht zu "Unstimmigkeiten zwischen § 44 Abs 3 SGB IV einerseits und § 47 SGB IV andererseits" kommen, die "gegebenenfalls als Folge der Schaffung eines einheitlichen Trägers zu akzeptieren und vom Gesetzgeber zu korrigieren" seien (Seite 18 des Urteils).  Zudem wird aus dem systematischen Zusammenhang des § 29 Abs 2, § 44 Abs 1 Nr 2 SGB IV mit § 47 SGB IV deutlich, dass der Status als Bezieher einer Alters- oder Erwerbsminderungsrente aus der Alterssicherung der Landwirte in der LSV gruppenübergreifend keine hinreichende Bedingung für die Zugehörigkeit zu einer Gruppe iS des § 47 SGB IV ist. Zwar sieht dessen Abs 1 Nr 3 ausdrücklich vor, dass "zur Gruppe der Versicherten … bei den Trägern der Rentenversicherung … die Rentenbezieher" gehören. Demgegenüber genügt der bloße Bezug einer Alters- oder Erwerbsminderungsrente aus der Alterssicherung der Landwirte nicht, um der Gruppe der Versicherten zugeordnet zu werden. Denn nach § 44 Abs 1 Nr 2 SGB IV setzen sich die Selbstverwaltungsorgane (Vertreterversammlung und Vorstand, § 31 Abs 1 Satz 1 SGB IV) bei der Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau - in Abweichung vom Regelfall (§ 29 Abs 2 SGB IV) - je zu einem Drittel aus Vertretern der versicherten Arbeitnehmer (Versicherten), der Selbstständigen ohne fremde Arbeitskräfte und der Arbeitgeber zusammen. Folglich können wegen der abweichenden gesetzlichen Festlegung auf Seiten der Versicherten nur "versicherte Arbeitnehmer" (als Vertretene) ihre Repräsentanten (Vertreter) in die Vertreterversammlung entsenden. Das bedeutet für die Gruppe der Versicherten, dass ihr keine Personen angehören können, die entweder keine Arbeitnehmer sind oder als Arbeitnehmer nicht versichert sind. Dies schließt erwerbslose Bezieher von Alters- und Erwerbsminderungsrenten mangels Arbeitnehmereigenschaft von vornherein aus. Dasselbe gilt für nur vorübergehend mitarbeitende Familienangehörige, die in der gesetzlichen Unfallversicherung nicht versicherungspflichtig sind. Denn der Versicherungspflichttatbestand des § 2 Abs 1 Nr 5 Buchst c SGB VII erfasst nur Personen, die im landwirtschaftlichen Unternehmen nicht nur vorübergehend mitarbeitende Familienangehörige sind.  Ausgeschlossen sind ferner Alters- und Erwerbsminderungsrentner, die zwar als "Arbeitnehmer" im Zuständigkeitsbereich der Beklagten beschäftigt und deshalb bei ihr gemäß § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII iVm § 7 Abs 1 SGB IV kraft Gesetzes unfallversichert sind, aber diese Beschäftigung nicht regelmäßig wenigstens 20 Stunden im Monat ausüben (§ 47 Abs 1 Nr 2 Halbsatz 1 SGB IV). Sind Alters- und Erwerbsminderungsrentner als Arbeitnehmer regelmäßig wenigstens 20 Stunden im Monat beschäftigt, gehören sie - vorbehaltlich der Kollisionsregel des § 47 Abs 4 SGB IV - der Gruppe der Versicherten aufgrund der Beschäftigung und nicht wegen des Bezugs von Alters- oder Erwerbsminderungsrente an (§ 47 Abs 1 Nr 2 Halbsatz 1 SGB IV). Der Gruppe der Arbeitgeber sind "bei den Trägern der Unfallversicherung" nur die Rentenbezieher zuzuordnen, die der Gruppe der Arbeitgeber unmittelbar vor dem Ausscheiden aus der versicherten Tätigkeit angehört haben (§ 47 Abs 2 Nr 2 Halbsatz 2 SGB IV). Damit sind nur die Bezieher von Renten aus der gesetzlichen Unfallversicherung und nicht auch die Alters- und Erwerbsminderungsrentner aus der Alterssicherung der Landwirte angesprochen, die nur zur Arbeitgebergruppe gehören, wenn sie - außerhalb ihres Haushalts - regelmäßig mindestens einen bei der Beklagten versicherungspflichtigen Arbeitnehmer beschäftigen. Genügt der Status als Bezieher einer Alters- oder Erwerbsminderungsrente aus der Alterssicherung der Landwirte in der LSV weder für die Zugehörigkeit zur Gruppe der Versicherten noch der Arbeitgeber, so ist anzunehmen, dass dieser Ausschluss auch für die Gruppe der Selbstständigen ohne fremde Arbeitskräfte gelten soll.  Schließlich darf bei der systematischen Auslegung des § 47 SGB IV nicht übersehen werden, dass die Vorschrift ursprünglich für eigenständige Versicherungsträger eines einzigen Versicherungszweigs konzipiert worden ist. Dies legt es nahe, die Gruppenzugehörigkeit auch bei Verbundträgern, unter deren Dach mehrere Versicherungszweige vereinigt sind (bei der Beklagten die gesetzliche Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung in der Sonderform der Alterssicherung der Landwirte sowie die soziale Pflegeversicherung, § 1 Abs 1 Satz 1 SGB IV), nach einem dieser Versicherungszweige zu bestimmen. In der LSV erfasst die landwirtschaftliche Unfallversicherung alle Unternehmen und damit alle versicherten Arbeitnehmer, während die Alterssicherung der Landwirte und die landwirtschaftliche Krankenversicherung im Allgemeinen nur die selbstständigen Unternehmer und ihre Familienangehörigen einbezieht (§ 1 Abs 1 ALG, § 2 KVLG 1989). Als einziger Versicherungszweig ist daher die landwirtschaftliche Unfallversicherung dafür prädestiniert, die im Agrarsektor Tätigen möglichst lückenlos zu erfassen. Aus dem Umstand, dass die Bezieher von Alters- und Erwerbsminderungsrenten aus der Alterssicherung der Landwirte, die nicht zugleich in der landwirtschaftlichen Unfallversicherung versichert sind, weder der Gruppe der Versicherten noch der Gruppe der Arbeitgeber angehören, lässt sich auf das allgemeine Prinzip schließen, dass diese Rentenbezieher für die Sozialwahlen zur Vertreterversammlung der Beklagten generell weder wahlberechtigt noch wählbar sind. Insofern trifft es zu, dass die Sozialwahlen in der landwirtschaftlichen Sozialversicherung nur in der Unfallversicherung durchzuführen und dort nicht versicherte Bezieher von Alters- und Erwerbsminderungsrenten ausgeschlossen sind. 3. Auch die historische Interpretation spricht für diese Sichtweise. Bis zur Errichtung der Beklagten zum 1.1.2013 als alleinigem Träger der Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau (SVLFG) durch das LSV-NOG zählten zur Gruppe der Selbstständigen ohne fremde Arbeitskräfte nur die Verletztenrentenbezieher, wie sich aus § 47 Abs 3 Nr 2 SGB IV in seiner bis zum 31.12.2012 geltenden Ursprungsfassung vom 23.12.1976 (BGBl I 3845) ergab. Danach gehörten "bei den Trägern der landwirtschaftlichen Unfallversicherung, mit Ausnahme der Gartenbau-Berufsgenossenschaft", nur die Rentenbezieher zur Gruppe der Selbstständigen ohne fremde Arbeitskräfte, die dieser Gruppe unmittelbar vor dem Ausscheiden aus der versicherten Tätigkeit angehört hatten. Damit war gesetzlich klargestellt, dass sich der Begriff des Rentenbeziehers allein auf die landwirtschaftliche Unfallversicherung bezog, die ihrerseits Verletztenrenten an Versicherte gewährte, und (alle) Alters- und Erwerbsminderungsrentner (§§ 11 bis 13 ALG) nicht gruppenzugehörig waren. Zugleich ergab sich aus § 32 SGB IV (in der Ursprungsfassung vom 23.12.1976, BGBl I 3845), dass die Organe (Vertreterversammlung und Vorstand, § 31 Abs 1 Satz 1 SGB IV) der landwirtschaftlichen Alters- und Krankenkassen zugleich die Organe der Berufsgenossenschaft waren, bei der sie jeweils errichtet waren (Gemeinsame Organe, Organidentität). Für die (landwirtschaftlichen) Pflegekassen regelte § 46 Abs 1 Satz 2 SGB XI, dass sie bei den (landwirtschaftlichen) Krankenkassen errichtet werden, deren Organe gemäß § 46 Abs 2 Satz 2 SGB XI zugleich Organe der (landwirtschaftlichen) Pflegekassen waren. Folglich fungierten die Vertreterversammlungen (§ 33 SGB IV) der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften im Wege der Organleihe mit weitgehender Personalunion (§ 44 Abs 3 SGB IV) zugleich als Vertreterversammlungen der landwirtschaftlichen Alters-, Kranken- und Pflegekassen. Die Selbstverwaltung in diesen Versicherungszweigen wurde auf die Vertretungsregelungen des § 44 Abs 3 SGB IV beschränkt (vgl Rombach in Hauck/Noftz, SGB IV, Stand Februar 2022, § 44 RdNr 14; dazu I. 2. b). Soweit daher bei der früher rechtlich selbstständigen landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft Mittel- und Ostdeutschland im Rahmen der Sozialwahlen 2005 und 2011 in der Gruppe der Selbstständigen ohne fremde Arbeitskräfte Wahlhandlungen stattfanden, waren die Bezieher von Renten aus der Alterssicherung der Landwirte weder wahlberechtigt noch wählbar (Stellungnahme des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages vom 8.5.2017 über Fragen zur Selbstverwaltung der landwirtschaftlichen Sozialversicherung - WD 6 - 3000 - 028/17, S 6 mwN). An der Beschränkung der Selbstverwaltung in der landwirtschaftlichen Alters-, Kranken- und Pflegeversicherung hat sich seither nichts geändert.  Mit Wirkung zum 1.1.2013 errichtete der Gesetzgeber allerdings die Beklagte als Trägerin für die gesamte landwirtschaftliche Sozialversicherung und gliederte in diese bundesunmittelbare Körperschaft des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung neben dem Spitzenverband der landwirtschaftlichen Sozialversicherung alle bisherigen landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften sowie alle landwirtschaftlichen Alters-, Kranken- und Pflegekassen ein (Art 1 LSV-NOG § 1 Satz 1 und § 3 Abs 1 des Gesetzes zur Errichtung der Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau vom 12.4.2012 - SVLFGG, BGBl I 579). Die bisherigen Träger der landwirtschaftlichen Sozialversicherung und der Spitzenverband der landwirtschaftlichen Sozialversicherung wurden zum 1.1.2013 aufgelöst (§ 2 Abs 3 SVLFGG). Seitdem ist die Beklagte für die Durchführung der landwirtschaftlichen Unfallversicherung, der Alterssicherung der Landwirte, der landwirtschaftlichen Krankenversicherung und der landwirtschaftlichen Pflegeversicherung allein zuständig (§ 2 SVLFGG). Zugleich hob der Gesetzgeber auch § 32 SGB IV auf (Art 7 Nr 9 LSV-NOG) und ersetzte in § 47 Abs 3 SGB IV die Worte "den Trägern der landwirtschaftlichen Unfallversicherung, mit Ausnahme der Gartenbau-Berufsgenossenschaft," durch die Worte "der Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau" (Art 7 Nr 13 LSV-NOG). Die Entwurfsverfasser begründeten dies lediglich mit "Folgeänderungen zur Schaffung eines Bundesträgers" (Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 28.11.2011, BT-Drucks 17/7916 S 48). Denn die modifizierte Organleihe nach § 32 SGB IV war mit der Errichtung eines Einheitsträgers der landwirtschaftlichen Sozialversicherung obsolet geworden und selbstständige Träger der landwirtschaftlichen Unfallversicherung einschließlich der Gartenbau-Berufsgenossenschaft existierten nicht mehr. Die Regelungen zur Durchführung der Sozialwahlen im SGB IV und in der SVWO hatten nicht nur unter Beibehaltung der Beschränkung der Selbstverwaltung in der landwirtschaftlichen Alters-, Kranken- und Pflegeversicherung nach Maßgabe des § 44 Abs 3 SGB IV Bestand. Auch § 47 Abs 3 Nr 2 SGB IV blieb mit dem einschränkenden, spezifisch unfallversicherungsrechtlichen Bezug auf die "versicherte Tätigkeit" iS des § 8 Abs 1 Satz 1 SGB VII unverändert. Auch dies spricht dafür, dass weiterhin nur die Bezieher einer Verletztenrente aus der landwirtschaftlichen Unfallversicherung zur Gruppe der Selbstständigen ohne fremde Arbeitskräfte gehören sollten. 4. Die Beschränkung der Selbstverwaltung in der landwirtschaftlichen Alters-, Kranken- und Pflegeversicherung steht im Einklang mit dem primären Sinn und Zweck der Sozialwahlen im Allgemeinen (dazu a) und der Gruppenwahl im Besonderen (dazu b), die betroffenen Zwangsmitglieder mit einem angemessenen Aufwand an Zeit und Kosten (dazu c) am Willens- und Entscheidungsprozess des Versicherungsträgers zu beteiligen (Betroffenenpartizipation) und ihre spezifischen Gruppeninteressen zu wahren (Gruppenschutzprinzip). a) Die Sozialwahlen in der LSV sollen die Partizipation der sachnah Betroffenen verwirklichen, um die Qualität der Entscheidungen und die Akzeptanz der Maßnahmen in der Versichertengemeinschaft zu steigern. Die unmittelbar Betroffenen sollen die Verwaltung des Versicherungsträgers mittragen (Verwaltungspartizipation), bei dessen Aufgabenerledigung sachkundig mitwirken, ihre Erfahrungen aus der betrieblichen Praxis in die Arbeit des Verbundträgers einbringen, die Bedarfs- und Adressatengerechtigkeit sozialstaatlicher Maßnahmen gewährleisten, den solidarischen Ausgleich zwischen den verschiedenen Interessengruppen organisieren und darauf achten, dass die Beiträge und sonstigen Mittel nach den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit sachgerecht und effizient verwendet werden. Bereits der Allgemeine Teil der Begründung zum Entwurf eines Gesetzes über die Wiederherstellung der Ehrenämter und der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung vom 20.1.1950 (Anl zur BT-Drucks Nr 444) enthielt entsprechende Aussagen zum Sinn und Zweck der Selbstverwaltung und den Sozialversicherungswahlen. Danach sollten die unmittelbar Betroffenen den Versicherungsträger "als eigene Angelegenheit mitgestalten und verwalten", und zwar "in der Form der genossenschaftlichen Selbsthilfe" (aaO, S 1). Hierfür sollte es zur "gleichberechtigten Zusammenarbeit der Arbeitnehmer und Arbeitgeber als den Trägern der gesamten Wirtschaft" in den Gremien der Sozialversicherungsträger kommen (aaO, S 2). Daraus folgte, dass den Arbeitnehmern - anders als ehedem - eine Vertretung in den Organen der Unfallversicherung nicht mehr mit dem Argument vorenthalten werden durfte, dass die Arbeitgeber die Beiträge alleine tragen (aaO, S 2). Die Mitglieder der Organe sollten "zu dem Kreis der an dem betreffenden Sozialversicherungsträger unmittelbar beteiligten Personen gehören"; ihre Aufgaben sollten "nicht fernstehenden Funktionären wirtschaftlicher Vereinigungen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber überlassen werden" (aaO, S 4). "Die in der landwirtschaftlichen Unfallversicherung vorgesehene Besetzung der Organe je zu einem Drittel mit versicherten Arbeitnehmern, Selbständigen ohne fremde Arbeitskräfte und Arbeitgebern" sollte "den besonderen Verhältnissen der Landwirtschaft Rechnung" tragen und berücksichtigen, dass "die Selbständigen ohne fremde Arbeitskräfte … den Versicherten zugerechnet werden, ihrem tatsächlichen Verhältnis nach aber als Unternehmer anzusehen sind." (aaO, S 3 f). An diesen Erwägungen hat sich seitdem nichts geändert.  Sinn und Zweck der Sozialversicherungswahlen war und ist somit die Beteiligung der betroffenen Zwangsmitglieder am Willens- und Entscheidungsprozess des Versicherungsträgers. Aus der Fülle möglicher Repräsentanten derartiger Partizipationsinteressen greift § 44 Abs 1 Nr 2 SGB IV die versicherten Arbeitnehmer (Versicherte), Arbeitgeber und Selbstständigen ohne fremde Arbeitskräfte heraus, deren spezifische Gruppeninteressen durch paritätische Mitwirkung ausgeglichen werden sollen. Diese sog Drittelparität existiert nur in der landwirtschaftlichen Sozialversicherung, die im Kern eine geschlossene, berufsständische Solidargemeinschaft von Unternehmern im primären Wirtschaftssektor ist. Sie verfügt deshalb über ein entsprechendes Klientel, weil weder eine freie Wahl der landwirtschaftlichen Krankenkasse möglich ist (§ 173 Abs 1 SGB V) noch die Zuordnung Versicherter nach dem Zufallsprinzip erfolgt, wie dies in der allgemeinen Rentenversicherung vorgesehen ist (vgl §§ 126 ff SGB VI). Damit werden die Regelungen den Besonderheiten des Agrarsektors gerecht, der strukturell durch kleinere und mittlere Familienbetriebe geprägt ist. Diese bewirtschaften ihre landwirtschaftlichen Flächen größtenteils nur durch den Betriebsinhaber (Landwirt/in) und ggf weitere Familienangehörige (zum Begriff vgl § 2 Abs 4 SGB VII). Um den daraus resultierenden besonderen sozialen Sicherungsbedürfnissen Rechnung zu tragen, schreibt § 2 Abs 2 Nr 3 SGB IV für den - als Solo-Selbstständige - besonders schutzbedürftigen Personenkreis der selbstständigen Landwirte vor, dass sie in allen Zweigen der Sozialversicherung (zwangs-)versichert sind (vgl § 2 KVLG 1989, § 2 Abs 1 Nr 5 SGB VII, § 1 Nr 1 ALG, § 20 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB IX) und regelt damit die bedeutsamste Ausnahme von dem allgemeinen Grundsatz, dass Selbstständige versicherungsfrei sind (vgl Padé, jurisPK-SGB IV, Stand 11.7.2022, § 2 RdNr 22). Aufgrund ihrer Bedeutung für die Landwirtschaft und ihrer Zwitterstellung als Versicherte, Beitragspflichtige (§§ 47, 48 KVLG 1989, § 150 Abs 1 SGB VII, § 70 ALG, § 59 SGB XI) und Betriebsleiter (mit gewissen Direktionsfunktionen und -befugnissen gegenüber Familienmitgliedern) dürfen die Selbstständigen ohne fremde Arbeitskräfte (und ihre Ehegatten bzw Lebenspartner) nicht unberücksichtigt bleiben. Sie bilden daher neben den versicherten Arbeitnehmern und den Arbeitgebern (mit fremden, versicherungspflichtigen Arbeitskräften) gemäß § 44 Abs 1 Nr 2 SGB IV eine eigene Gruppe in der LSV, die im Kern eine genossenschaftlich organisierte Selbsthilfe der Unternehmer im primären Wirtschaftssektor darstellt. Diese gruppenplurale Struktur ermöglicht es, die Erfahrungen aus der betrieblichen Praxis für die Arbeit des Verbundträgers umfassend zu nutzen, zwingt zur konstruktiven Zusammenarbeit und zum Interessenausgleich der Gruppierungen untereinander und fördert durch die Beteiligung der unmittelbar Betroffenen Akzeptanz und Verständnis für die Belange des Versicherungsträgers. Damit steht in Einklang, dass § 44 Abs 1 Nr 2 SGB IV den jeweiligen Gruppen mit den versicherten Arbeitnehmern, Arbeitgebern und Selbstständigen ohne fremde Arbeitskräfte vornehmlich aktiv Erwerbstätige zuordnet, zu denen - typisiert betrachtet - auch die Verletztenrentenbezieher gehören. Denn die Verletztenteilrente gleicht nur die schadensbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit aus und geht unausgesprochen davon aus, dass der Verletzte im Rahmen der verbliebenen Erwerbsmöglichkeiten weiter erwerbstätig ist. Dagegen unterstellt § 44 Abs 1 Nr 2 SGB IV, dass die Bezieher einer Regelaltersrente (§ 11 ALG), vorzeitigen Altersrente (§ 12 ALG) oder Rente wegen Erwerbsminderung (§ 13 ALG) - typisiert betrachtet - ihre Erwerbsbiographien beendet und den direkten Kontakt zur aktuellen Arbeitswelt verloren haben. Damit ist ihr Partizipationsinteresse an den Entscheidungen und Maßnahmen des Versicherungsträgers gemindert, weil sie ihre verfassungsfesten (Art 14 Abs 1 GG) Leistungen dem Grunde und der Höhe nach aufgrund gesetzlicher Regelungen erhalten, die durch Satzungsbeschlüsse der Vertreterversammlung weder verschlechtert noch durch Mitwirkung der Rentenbezieher verbessert werden können. Die dauernde Leistungsfähigkeit des Alterssicherungssystems stellt § 78 ALG sicher, wonach der Bund den Unterschiedsbetrag zwischen den Einnahmen und den Ausgaben der Alterssicherung der Landwirte eines Kalenderjahres trägt. Gegenüber diesen reduzierten Interessen der Rentenbezieher räumt das Gesetz den aktiven Arbeitnehmern, Arbeitgebern und sonstigen pflichtversicherten Selbstständigen eine höhere Gestaltungsmacht ein, weil sie als Versicherte und Selbstständige sowohl auf die Leistungen als auch auf die Leistungsfähigkeit des Sozialversicherungsträgers angewiesen und deshalb an dessen möglichst effizienten und effektiven Funktionieren interessiert sind, während sie als Arbeitgeber und Selbstständige ein unmittelbares Interesse an dem wirtschaftlichen Einsatz der bereitgestellten Mittel und daraus resultierenden niedrigen Beitragssätzen haben. Diese Belange sollen nicht durch die Gruppe der Rentenbezieher beeinträchtigt werden, deren Zahl sich durch den demographischen Wandel und deutlich längere Rentenbezugszeiten stetig erhöht. Deshalb sind Wahlrecht und Wählbarkeit in der landwirtschaftlichen Sozialversicherung an den Erwerbsstatus gekoppelt. b) Das Gruppenwahlrecht ist Ausdruck des Gruppenschutzprinzips, das die LSV besonders prägt. Denn die versicherten Arbeitnehmer, ihre Arbeitgeber und die Selbstständigen ohne fremde Arbeitskräfte stellen keine homogene Einheit dar, sondern haben verschiedene, teils gegenläufige Interessen. Die Gruppeneinteilung in der LSV dient somit der Durchsetzung spezifischer Gruppeninteressen im Rahmen der gemeinsamen Aufgabenwahrnehmung in der Vertreterversammlung. Die genaue Abgrenzung der Gruppen und ihrer Mitglieder gewährleistet, dass die jeweiligen Gruppeninteressen nicht durch gruppenfremde Interessen relativiert werden. Dazu käme es insbesondere in der Gruppe der Versicherten, weil ihr gemäß § 47 Abs 1 Nr 3 SGB IV alle "Rentenbezieher" aus der Alterssicherung der Landwirte zuzuordnen wären, bei denen es sich aber im Kern um ehemals versicherungspflichtige Landwirte und ihre mitarbeitenden Familienangehörigen handelt (vgl § 1 Abs 1 ALG). Deshalb begrenzt § 44 Abs 1 Nr 2 SGB IV die Mitgliedschaft in der Gruppe der Versicherten auf die aktiv erwerbstätigen, "versicherten Arbeitnehmer" und schließt erwerbslose Bezieher von Alters- oder Erwerbsminderungsrenten aus und beugt so einer Majorisierung durch deren spezifische Interessen vor. c) Der Ausschluss der nicht mehr unfallversicherten AdL-Einfachrentner soll zudem die Durchführung der Sozialversicherungswahlen in der LSV erleichtern, die durch die Drittelparität gekennzeichnet ist. Die Drittelparität erschwert die Abgrenzung zwischen den drei Gruppen und erhöht den Verwaltungsaufwand. Denn die Prüfung, ob und in welcher Gruppe welche Personen wahlberechtigt und wählbar sind, ist zeit- und kostenaufwändig und erfordert die Identifizierung von Mehrfachversicherungen, weil gemäß § 49 Abs 1 SGB IV jeder Versicherte nur eine Stimme hat. Dieser Aufwand würde durch die Beteiligung aller AdL-Rentenbezieher sehr wesentlich steigen und dadurch die Ziele einer effektiveren und wirtschaftlicheren Aufgabenerledigung in Frage stellen, die der Gesetzgeber mit der Neuorganisation der landwirtschaftlichen Sozialversicherung durch das LSV-NOG im Interesse eines eigenständigen Fortbestands dieser berufsständischen Solidargemeinschaft verfolgt hat (BT-Drucks 17/7916 S 1, 27 f). 5. Ergibt somit die Gesamtbetrachtung aller vier Auslegungskriterien, dass der Wahlausschuss der Beklagten die Wahl zur Vertreterversammlung in der Gruppe der Selbstständigen ohne fremde Arbeitskräfte zu Recht nur im Zweig der landwirtschaftlichen Unfallversicherung durchgeführt und damit die dort nicht (mehr) versicherten AdL-Einfachrentner zu Recht ausgeschlossen hat, bleibt für eine verfassungskonforme Auslegung, wie sie das LSG vorgenommen hat, kein Raum. Denn das Gebot der verfassungskonformen Gesetzesauslegung greift nur ein, wenn mehrere Normdeutungen möglich sind, die teils zu einem verfassungswidrigen, teils zu einem verfassungsmäßigen Ergebnis führen. Dann ist diejenige vorzuziehen, die mit dem Grundgesetz in Einklang steht (BVerfG Beschlüsse vom 19.9.2007 - 2 BvF 3/02 - BVerfGE 119, 247, 274 = juris RdNr 92 und vom 8.3.1972 - 2 BvR 28/71 - BVerfGE 32, 373, 383 f = juris RdNr 30). Vorliegend ist jedoch mit Blick auf das einfache Recht nur ein Normverständnis möglich. Lässt sich der Regelungsgehalt der Norm - wie hier - mit Hilfe der üblichen Auslegungsmethoden konkret erschließen, liegt - entgegen der Ansicht des Klägers - von vornherein auch kein Verstoß gegen die Grundsätze der Normenklarheit und -bestimmtheit aus Art 20 Abs 3 GG vor (BVerfG Beschlüsse vom 4.6.2012 - 2 BvL 9/08 - BVerfGE 131, 88 RdNr 91, 106 und vom 12.10.2010 - 2 BvL 59/06 - BVerfGE 127, 335 RdNr 64, jeweils mwN). II. Legt man das gewonnene Normverständnis zugrunde, so ist die Regelung des § 47 Abs 3 Nr 2 SGB IV (iVm § 50 Abs 1 Satz 1 Nr 1, § 51 Abs 1 Satz 1 Nr 1, § 44 Abs 1 Nr 2, § 29 Abs 2 SGB IV), auf deren Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, mit dem Grundrecht aus Art 3 Abs 1 GG iVm dem Demokratieprinzip (Art 20 Abs 2, Art 28 Abs 1 Satz 1 GG) vereinbar. Der Senat hält die Beschränkung der Wahl auf den Zweig der landwirtschaftlichen Unfallversicherung und den damit einhergehenden Ausschluss der AdL-Einfachrentner von der Wahl nicht für verfassungswidrig. Folglich ist das Revisionsverfahren nicht auszusetzen, um gemäß Art 100 Abs 1 Satz 1 GG eine Entscheidung des BVerfG über die Verfassungswidrigkeit der genannten Vorschriften des Bundesrechts einzuholen.  Der Ausschluss der nicht mehr unfallversicherten AdL-Einfachrentner von der Sozialwahl in der LSV ist nicht an Art 38 Abs 1 Satz 1 GG zu messen, weil diese Vorschrift unmittelbar nur für Bundestagswahlen und im Sinne einer strengen und formalen Gleichheit mittelbar auch für Landtags- und Kommunalwahlen gilt (BVerfG <Kammer> Beschluss vom 3.7.2009 - 2 BvR 1291/09 - BVerfGK 16, 31 RdNr 3 f). Für die Sozialwahlen ist stattdessen Art 3 Abs 1 GG und der dort verankerte Prüfmaßstab der Wahlgleichheit im Arbeits- und Sozialwesen heranzuziehen (BVerfG Beschluss vom 22.10.1985 - 1 BvL 44/83 - BVerfGE 71, 81 = juris RdNr 37), auch wenn § 45 Abs 2 Satz 1 Halbsatz 1 SGB IV die verfassungsrechtlichen Wahlrechtsgrundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit für Sozialwahlen gerade nicht wiederholt. Denn das aktive und passive Wahlrecht soll auch außerhalb politischer Wahlen in formal möglichst gleicher Weise ausgeübt werden können. Art 3 Abs 1 GG verwehrt dem Gesetzgeber indes nicht jede Differenzierung. Einschränkungen der Wahlgleichheit sind möglich (BVerfG Beschlüsse vom 12.7.2017 - 1 BvR 2222/12 - BVerfGE 146, 164 RdNr 121 und vom 9.4.1975 - 1 BvL 6/74 - BVerfGE 39, 247, 254), soweit sie durch die spezifischen Sachaufgaben der Sozialversicherungsträger geboten sind und die interessengerechte Selbstverwaltung einerseits sowie die effektive öffentliche Aufgabenwahrnehmung andererseits gewährleisten (BVerfG Beschlüsse vom 12.7.2017 - 1 BvR 2222/12 - BVerfGE 146, 164 RdNr 121 und vom 5.12.2002 - 2 BvL 5/98 - BVerfGE 107, 59, 99 f). Denn trotz autonomer Selbstverwaltung besteht die Hauptaufgabe der Sozialversicherungsträger in dem Vollzug einer detaillierten Sozialgesetzgebung (BVerfG Beschluss vom 9.4.1975 - 2 BvR 879/73 - BVerfGE 39, 302 = juris RdNr 69). Mit Blick auf die Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen durch Sachgründe gilt ein stufenloser, am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab, dessen Inhalt und Grenzen von gelockerten, auf das Willkürverbot beschränkten Bindungen bis hin zu strengen Verhältnismäßigkeitserfordernissen reichen können (stRspr, vgl ua BVerfG Urteil vom 19.2.2013 - 1 BvL 1/11, 1 BvR 3247/09 - BVerfGE 133, 59 RdNr 72 mwN). Die Anforderungen verschärfen sich umso mehr, je weniger Merkmale für den Einzelnen verfügbar sind, je mehr sie sich den in Art 3 Abs 3 GG genannten Merkmalen annähern oder je mehr zugleich Freiheitsrechte beeinträchtigt werden (BVerfG Urteil vom 18.7.2018 - 1 BvR 1675/16 - BVerfGE 149, 222 RdNr 64 und Beschluss vom 7.4.2022 - 1 BvL 3/18 - juris RdNr 279 und vom 26.3.2019 - 1 BvR 673/17 - BVerfGE 151, 101 RdNr 64).  Die Ungleichbehandlung der nicht mehr unfallversicherten AdL-Einfachrentner im Vergleich zu wahlberechtigten Selbstständigen ohne fremde Arbeitskräfte einschließlich ihrer Ehegatten einerseits und gleichgestellten Verletztenrentnern andererseits, ist gerechtfertigt. Die auf die Gruppe der Selbstständigen ohne fremde Arbeitskräfte erweiterte Gruppenwahl in der LSV ist dem Umstand geschuldet, dass den spezifisch berufsständischen Interessen der Solo-Selbstständigen im Agrarsektor Rechnung getragen werden soll. Damit ist eine Zusammensetzung der Vertreterversammlung nicht vereinbar, in der sich die besondere Wirtschaftsstruktur in der Landwirtschaft nicht mehr widerspiegelt, wenn berufsfernen Personengruppen ein Wahlrecht zur Vertreterversammlung eingeräumt wird. Berücksichtigt man die ausgeprägte Verrechtlichung und die staatliche Aufsicht (§ 87 SGB IV), ist die Handlungskompetenz der Vertreterversammlung ohnehin limitiert. Die Verfassungsfestigkeit der Renten auch nach dem Gesetz über die Alterssicherung der Landwirte (BVerfG Beschluss vom 23.5.2018 - 1 BvR 97/14 - BVerfGE 149, 86 = SozR 4-5868 § 21 Nr 4, juris RdNr 71 ff) und die Garantie der Leistungsfähigkeit dieses Alterssicherungssystems durch den Bund (§ 78 ALG) minimiert die rentnerbezogenen Handlungskompetenzen der Vertreterversammlung zusätzlich. Insoweit ist dem Ausschluss vom Wahlrecht kein besonders starkes Gewicht beizumessen. Alters- und Erwerbsminderungsrentnern ist es (nach Abschaffung der Hofabgabeklausel, § 21 Abs 7 ALG, auch ohne Flächenlimitierung) unbenommen, durch den Rückbehalt von Flächen die Unfallversicherungspflicht aufrechtzuerhalten und auf diese Weise - auch losgelöst vom Renteneintritt - als Erwerbstätige wahlberechtigt und wählbar zu bleiben (§ 2 Abs 1 Nr 5 Buchst a SGB VII).  Anders als die passiven Rentenbezieher aus der allgemeinen gesetzlichen Rentenversicherung, die gemäß § 47 Abs 1 Nr 3 SGB IV in der Gruppe der Versicherten wählen dürfen und dort wählbar sind, werden die AdL-Einfachrentner komplett vom Wahlrecht ausgeschlossen. Auch diese Ungleichbehandlung ist gerechtfertigt. Denn die Alterssicherung der Landwirte ist - anders als die Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung - nicht als Vollersatz des Einkommens und als Vollversicherung, sondern nur als Teilsicherung ausgestaltet, die Altenteilleistungen und Einnahmen aus der Abgabe des landwirtschaftlichen Unternehmens lediglich ergänzt (vgl dazu auch BVerfG Beschluss vom 23.5.2018 - 1 BvR 97/14, 1 BvR 2392/14 - BVerfGE 149, 86 = SozR 4-5868 § 21 Nr 4, RdNr 44, 92). Zudem müssen die Sozialwahlen im Verbundträger praktikabel bleiben. Wären alle AdL-Rentner wahlberechtigt, so müssten entsprechende Mehrfachversicherungen identifiziert und herausgefiltert werden, was den Aufwand an Kosten und Zeit ganz wesentlich steigern und die Ziele konterkarieren würde, die der Gesetzgeber mit der Neuorganisation der landwirtschaftlichen Sozialversicherung mit dem LSV-NOG verfolgt hat: eine effektivere und wirtschaftlichere Aufgabenerledigung als ehedem zu erreichen (BT-Drucks 17/7916 S 1, 27 f; dazu I. 4. c). Angesichts der überwiegend steuerfinanzierten Teilrenten der landwirtschaftlichen Alterssicherung, deren Einnahmen sich 2017 zu 79 % und 2021 zu 81 % aus Bundesmitteln speisten (Tabelle 5 des Lageberichts der Bundesregierung über die Alterssicherung der Landwirte 2021, BT-Drucks 20/151 S 9), sieht der Senat auch keine Notwendigkeit zu einer Gleichstellung mit den Vollrentnern der allgemeinen Rentenversicherung. III. Liegt somit kein Wahlfehler vor, durfte auch keine Wahlwiederholung angeordnet werden. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 154 Abs 1 VwGO. Dr. Roos                                          Hüttmann-Stoll                                  Karmanski ist an der Unterschrift gehindert Hüttmann-Stoll
bundessozialgericht
bverwg_2023-32
28.04.2023
Pressemitteilung Nr. 32/2023 vom 28.04.2023 EN Über Sanierungsmaßnahmen für Offshore-Windpark "Butendiek" muss erneut tatrichterlich entschieden werden Der Erfolg der Klage einer Umweltvereinigung auf Anordnung von Sanierungsmaßnahmen nach dem Umweltschadensgesetz setzt nicht voraus, dass die Vereinigung zuvor im behördlichen Verfahren den Eintritt eines Umweltschadens glaubhaft gemacht hat. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig mit Urteil vom gestrigen Tag entschieden. Der Kläger, eine nach dem Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz anerkannte Umweltvereinigung, begehrt die Verpflichtung des Bundesamts für Naturschutz, gegenüber der beigeladenen Betreiberin des Offshore-Windparks "Butendiek" geeignete Maßnahmen zur Sanierung eines Umweltschadens für das Vogelschutzgebiet „Östliche Deutsche Bucht“ und die geschützten Vogelarten Sterntaucher und Prachttaucher anzuordnen. Der Windpark "Butendiek" wurde 2002 genehmigt und 2015 in Betrieb genommen. Er umfasst 80 Windenergieanlagen und liegt 32,6 km westlich vor der Insel Sylt inmitten des 2005 ausgewiesenen Vogelschutzgebiets. Das Bundesamt für Naturschutz lehnte den Antrag des Klägers ab und wies dessen Widerspruch zurück. Die Klage wies das Verwaltungsgericht ab. Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Die Voraussetzungen für ein Tätigwerden des Bundesamts lägen schon deshalb nicht vor, weil die vom Kläger zur Begründung seines Antrags bis zur Entscheidung über den Widerspruch vorgebrachten Tatsachen den Eintritt eines Umweltschadens nicht glaubhaft erscheinen ließen. Die Revision des Klägers hatte Erfolg. Der vom Oberverwaltungsgericht gewählte Prüfungsmaßstab steht mit Bundesrecht nicht in Einklang. Das nach dem Umweltschadensgesetz bestehende Erfordernis, im Rahmen eines an die Behörde gerichteten Antrags auf Durchsetzung von Sanierungspflichten den Eintritt eines Umweltschadens glaubhaft zu machen, betrifft nur den Antrag im Verwaltungsverfahren und schränkt die einer Umweltvereinigung nach Maßgabe des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes verliehenen Klagerechte nicht ein. Dies hat zur Konsequenz, dass das Oberverwaltungsgericht - soweit es für die Entscheidung darauf ankommt - zu prüfen haben wird, ob sich aus den zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vorliegenden Tatsachen ein Umweltschaden ergibt. Das Bundesverwaltungsgericht hat das Urteil des Oberverwaltungsgerichts deshalb aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen, weil weitere tatsächliche Feststellungen zu treffen sind. Dabei wird es zu berücksichtigen haben, dass die Anordnung von Sanierungsmaßnahmen nach dem Umweltschadensgesetz nur insoweit in Betracht kommt, als sie nicht anlagen- oder betriebsbezogen sind. Für derartige Maßnahmen gilt vorrangig die Seeanlagenverordnung, auf deren Grundlage der Windpark genehmigt worden ist. Tatrichterlich zu würdigen sein wird auch, ob die beigeladene Betreiberin - nicht zuletzt mit Blick darauf, dass das Bundesamt für Naturschutz 2021 auf ihren Antrag Ausnahmen von gebiets- und artenschutzrechtlichen Verboten erteilt hat - ein Verschulden trifft. BVerwG 10 C 3.23 - Urteil vom 27. April 2023 Vorinstanzen: OVG Münster, OVG 21 A 49/17 - Urteil vom 11. März 2021 - VG Köln, VG 2 K 6873/15 - Urteil vom 29. November 2016 -
Urteil vom 27.04.2023 - BVerwG 10 C 3.23ECLI:DE:BVerwG:2023:270423U10C3.23.0 EN Sanierungsmaßnahmen nach dem Umweltschadensgesetz wegen Biodiversitätsschäden durch Offshore-Windpark Leitsätze: 1. Der Erfolg der Klage einer Umweltvereinigung auf Anordnung von Sanierungsmaßnahmen nach dem Umweltschadensgesetz setzt nicht voraus, dass die Vereinigung zuvor bei der zuständigen Behörde nach § 10 USchadG die Durchsetzung von Sanierungspflichten beantragt und zur Begründung des Antrags Tatsachen vorträgt, die den Eintritt eines Umweltschadens glaubhaft erscheinen lassen. 2. Der räumliche Bereich, der den natürlichen Lebensraum einer geschützten Art im Sinne des Umweltschadensrechts bildet, ist unabhängig von den Gebietsgrenzen ausgewiesener FFH- und Vogelschutzgebiete zu bestimmen. Rechtsquellen USchadG §§ 1, 2 Nr. 1, § 3 Abs. 1 Nr. 2, § 6 Nr. 2, § 7 Abs. 1 und 2 Nr. 3, §§ 10, 11 Abs. 2 BNatSchG §§ 19, 58 Abs. 1 Satz 1 UmwRG § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, § 2 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 SeeAnlV §§ 1a, 16 Abs. 2 und 3 UHRL Art. 2 Nr. 1 und 3, Art. 12 Abs. 1 und 3, Art. 16 Abs. 1 Instanzenzug VG Köln - 29.11.2016 - AZ: 2 K 6873/15 OVG Münster - 11.03.2021 - AZ: 21 A 49/17 Zitiervorschlag BVerwG, Urteil vom 27.04.2023 - 10 C 3.23 - [ECLI:DE:BVerwG:2023:270423U10C3.23.0] Urteil BVerwG 10 C 3.23 VG Köln - 29.11.2016 - AZ: 2 K 6873/15 OVG Münster - 11.03.2021 - AZ: 21 A 49/17 In der Verwaltungsstreitsache hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 27. April 2023 durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Dr. Rublack, die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Schemmer, Dr. Löffelbein, Dr. Wöckel und die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Bähr für Recht erkannt: Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 11. März 2021 wird aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen. Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten. Gründe I 1 Der Kläger, eine anerkannte Umweltvereinigung, begehrt vom Beklagten, gegenüber der Beigeladenen geeignete Maßnahmen zur Sanierung durch die Errichtung und den Betrieb des Offshore-Windparks "B." verursachter Umweltschäden am Lebensraum der Vogelarten Sterntaucher und Prachttaucher anzuordnen. 2 Der mit Bescheid des Bundesamts für Seeschifffahrt und Hydrographie vom 18. Dezember 2002 seeanlagenrechtlich genehmigte, 80 Windenergieanlagen umfassende Windpark "B." liegt 32,6 km westlich vor der Insel Sylt innerhalb der deutschen ausschließlichen Wirtschaftszone und des im April 2005 ausgewiesenen Europäischen Vogelschutzgebiets "Östliche Deutsche Bucht" sowie des im Juli 2011 ausgewiesenen Flora-Fauna-Habitat-Gebiets "Sylter Außenriff". Der Standard-Datenbogen vom 20. April 2004 weist das Vogelschutzgebiet als wichtigstes Gebiet für Sterntaucher und Prachttaucher in der deutschen Nordsee aus. 3 Der Genehmigung vom 18. Dezember 2002 lag eine Bewertung der Auswirkungen des Windparks für die Population der Seetaucher zugrunde. Artenspezifische Scheucheffekte seien zu erwarten, etwaige auftretende Störungen oder Beeinträchtigungen seien jedoch als vergleichsweise gering und damit als hinnehmbar zu bewerten. Nach mehrfacher Verlängerung der Frist für den Beginn der Bauarbeiten bis zuletzt zum 31. Dezember 2014 erfolgte bis August 2015 die Errichtung des Windparks. 4 Im Mai 2014 beantragte der Kläger gegenüber dem Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie, die weitere Errichtung und den Betrieb des Windparks zu untersagen. Diesen Antrag lehnte das Bundesamt mit Bescheid vom 1. August 2014 ab. Das Verwaltungsgericht hat die diesbezügliche Klage abgewiesen. Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung zurückgewiesen. Auf die Revision des Klägers hat das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 29. April 2021 - Az. 4 C 2.19 - das Urteil des Oberverwaltungsgerichts aufgehoben, soweit die Klage auf Verpflichtung zum Einschreiten auf der Grundlage des § 16 Abs. 3 Satz 1 der Seeanlagenverordnung abgewiesen worden ist, und den Rechtsstreit insoweit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen. 5 Mit Schreiben vom 30. April 2014 und 8. August 2014 beantragte der Kläger gegenüber dem Bundesamt für Naturschutz, wegen Umweltschäden am Lebensraum der Vogelarten Sterntaucher und Prachttaucher die erforderlichen Sanierungsmaßnahmen gegenüber der beigeladenen Vorhabenträgerin anzuordnen. Mit Bescheid vom 26. März 2015 lehnte das Bundesamt den Antrag ab. Den Widerspruch des Klägers wies es mit Bescheid vom 30. Oktober 2015 zurück. Dessen Klage hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 29. November 2016 abgewiesen. Die Berufung des Klägers hat das Oberverwaltungsgericht mit Urteil vom 11. März 2021 zurückgewiesen. Die Voraussetzungen für ein Tätigwerden der Beklagten in Gestalt der Anordnung von Schadensbegrenzungs- und Sanierungsmaßnahmen lägen schon deshalb nicht vor, weil die vom Kläger zur Begründung seines Antrags vorgebrachten Tatsachen den Eintritt eines Umweltschadens nicht glaubhaft erscheinen ließen. Das Oberverwaltungsgericht hat die Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen. 6 Mit Bescheid vom 9. März 2021 gewährte das Bundesamt für Naturschutz der Beigeladenen für die erfolgte Errichtung, den bisherigen und den zukünftigen Betrieb des Windparks im Zusammenhang mit der Beeinträchtigung der Seevogelarten Sterntaucher und Prachttaucher sowie ihres Lebensraums befristet bis Ende 2041 Ausnahmen von naturschutzrechtlichen Verboten hinsichtlich der Beeinträchtigung des Vogelschutzgebiets "Östliche Deutsche Bucht" sowie der Störung der Arten. Mit Bescheid vom 10. März 2021 ordnete das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie zur Verminderung der schifffahrtsbedingten Störwirkungen auf die Population der Seetaucher ein Verkehrslogistikkonzept und die Weiterführung des Betriebsmonitorings an. 7 Zur Begründung der vom Bundesverwaltungsgericht mit Beschluss vom 1. März 2022 - Az. 7 B 12.21 - zugelassenen Revision trägt der Kläger im Wesentlichen vor: Entscheide die Behörde - wie hier - zur Sache, schaffe sie einen vom Erfordernis der Glaubhaftmachung eines Umweltschadens im Verwaltungsverfahren entkoppelten Anknüpfungspunkt für den Erfolg einer Klage. Allen Arten von natürlichen Lebensräumen im Sinne der Umwelthaftungsrichtlinie sei gemeinsam, dass sie nach Maßgabe der Natura-2000-Richtlinien förmlich geschützt sein müssten, um Objekt eines Umweltschadens sein zu können. Errichtung und Betrieb des Windparks "B." hätten erhebliche nachteilige Auswirkungen auf die geschützten Arten Sterntaucher und Prachttaucher, indem sie eine Verschlechterung des Erhaltungszustands der Population im Vogelschutzgebiet "Östliche Deutsche Bucht" verursachten. 8 Der Kläger beantragt, das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 11. März 2021 aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen. 9 Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen. 10 Die Beigeladene beantragt, die Revision zu verwerfen, hilfsweise, die Revision zurückzuweisen. 11 Beklagte und Beigeladene verteidigen das angefochtene Urteil. Die Beigeladene hält die Revision des Klägers mangels Sachantrags für unzulässig. Auch habe er sich nicht dazu geäußert, ob er die Bescheide des Bundesamts für Naturschutz vom 9. März 2021 und des Bundesamts für Seeschifffahrt und Hydrographie vom 10. März 2021 in die Revision einbeziehe. Nach Erlass dieser Bescheide fehle für die Klage das Rechtsschutzinteresse. 12 Die Vertreterin des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht stellt keinen Antrag. Sie ist der Auffassung, der Erfolg der Klage einer Umweltvereinigung auf Anordnung von Sanierungsmaßnahmen nach dem Umweltschadensgesetz setze voraus, dass die Vereinigung zuvor bei der zuständigen Behörde zur Begründung des dort gestellten Antrags Tatsachen vortrage, die den Eintritt eines Umweltschadens glaubhaft erscheinen ließen. II 13 Die Revision des Klägers ist zulässig und begründet. Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts verstößt gegen revisibles Recht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) und stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO). Auf der Grundlage der vom Berufungsgericht getroffenen tatsächlichen Feststellungen kann über die Klage nicht abschließend entschieden werden. Die Sache war deshalb zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO). 14 A. Die Revision ist zulässig. Entgegen der Auffassung der Beigeladenen ist es unschädlich, dass der Kläger innerhalb der Revisionsbegründungsfrist keinen ausdrücklichen Sachantrag formuliert und lediglich die Zurückverweisung der Sache an das Oberverwaltungsgericht beantragt hat. Zwar fordert § 139 Abs. 3 Satz 4 Halbs. 1 VwGO im Rahmen der Revisionsbegründung einen bestimmten Antrag. Dem Antragserfordernis wird aber bereits dann entsprochen, wenn das Vorbringen Umfang und Ziel der Revision erkennen lässt (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 20. März 2019 - 4 C 5.18 - NVwZ 2020 Rn. 12 m. w. N.). Vorliegend ist nicht zweifelhaft, dass der Kläger mit der Revision sein auf die Anordnung von Sanierungsmaßnahmen gerichtetes Begehren uneingeschränkt weiterverfolgt und für den Erfolg der Klage weitere tatrichterliche Feststellungen für erforderlich hält. Die Zulässigkeit der Revision ist auch nicht in Zweifel zu ziehen, weil sich der Kläger nicht zu einer Einbeziehung der Bescheide des Bundesamts für Naturschutz vom 9. März 2021 bzw. des Bundesamts für Seeschifffahrt und Hydrographie vom 10. März 2021 geäußert hat. Schon eine Möglichkeit zur förmlichen Einbeziehung dieser Bescheide in das Revisionsverfahren ist nicht ersichtlich (vgl. § 141 Abs. 1 Satz 1 VwGO). 15 B. Die Revision ist begründet. Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts steht mit Bundesrecht nicht in Einklang und stellt sich - auf der Grundlage der bislang festgestellten Tatsachen - auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar. 16 1. Die Klage ist zulässig. Der Kläger ist als anerkannter Umweltverband nach § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UmwRG i. V. m. § 11 Abs. 2 des Gesetzes über die Vermeidung und Sanierung von Umweltschäden (Umweltschadensgesetz - USchadG) i. d. F. der Bekanntmachung vom 5. März 2021 (BGBl. I S. 346) klagebefugt. Das Rechtsschutzbedürfnis für die beantragte Anordnung von Sanierungsmaßnahmen ist durch die Bescheide vom 9. und 10. März 2021 nicht entfallen. Sanierungsmaßnahmen sehen diese nicht vor. 17 2. Über die Begründetheit der Klage muss erneut tatrichterlich verhandelt und entschieden werden. Im Grundsatz zu Recht hält das Oberverwaltungsgericht das Umweltschadensgesetz für anwendbar (hierzu a). Der vom Oberverwaltungsgericht aus § 10 USchadG abgeleitete Maßstab für die Prüfung der Begründetheit steht jedoch mit Bundesrecht nicht in Einklang (hierzu b). Maßstab für die gerichtliche Prüfung sind allein die Bestimmungen des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes (hierzu c). Zur Klärung der Begründetheit der Klage bedarf es weiterer tatsächlicher Feststellungen (hierzu d). 18 a) Die Regelungen des Umweltschadensgesetzes kommen vorliegend für die Anordnung von Sanierungsmaßnahmen ohne Anlagen- oder Betriebsbezug zur Anwendung. Für die Anordnung anlagen- oder betriebsbezogener Sanierungsmaßnahmen ist das Umweltschadensgesetz hier wegen der in § 1 Satz 1 USchadG angeordneten Subsidiarität nicht anwendbar. 19 Der Kläger verfolgt mit der Revision sein Begehren weiter, die Beklagte zu verpflichten, die Beseitigung angenommener Umweltschäden für das Vogelschutzgebiet "Östliche Deutsche Bucht" und die beiden Vogelarten Sterntaucher und Prachttaucher sowie die Beseitigung der Verschlechterung des Vogelschutzgebiets durch geeignete Maßnahmen unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts anzuordnen. Welche Maßnahmen konkret angeordnet und ergriffen werden sollen, lässt der Kläger offen. Nach dessen Erläuterung in der mündlichen Verhandlung kommen aus seiner Sicht im Grundsatz sowohl Maßnahmen mit Bezug auf den Bestand und den Betrieb des Windparks der Beigeladenen als auch solche ohne Anlagen- oder Betriebsbezug in Betracht. 20 Nach § 1 Satz 1 USchadG findet das Umweltschadensgesetz (nur) Anwendung, soweit Rechtsvorschriften des Bundes oder der Länder die Vermeidung und Sanierung von Umweltschäden nicht näher bestimmen oder in ihren Anforderungen dem Umweltschadensgesetz nicht entsprechen. Nach § 1 Satz 2 USchadG bleiben Rechtsvorschriften mit weitergehenden Anforderungen unberührt. Mit diesen Reglungen bestimmt das Umweltschadensgesetz in Einklang mit Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 (ABl. L 143 S. 56) über Umwelthaftung zur Vermeidung und Sanierung von Umweltschäden (Umwelthaftungs-Richtlinie - UHRL) einen Mindeststandard für die Vermeidung und Sanierung von Umweltschäden. Ob dieser Mindeststandard von einschlägigen bundes- oder landesrechtlichen Vorschriften übertroffen wird, bedarf einer generalisierenden Gesamtbetrachtung mit Blick auf die jeweilige Sachverhaltskonstellation. Wird der Mindeststandard übertroffen, gehen die entsprechenden bundes- oder landesrechtlichen Vorschriften dem Umweltschadensgesetz vor. Im Rahmen der generalisierenden Gesamtbetrachtung können sowohl die tatbestandlichen Voraussetzungen der Vorschriften als auch die im jeweiligen Normprogramm vorgesehenen Rechtsfolgen von ausschlaggebender Bedeutung sein (BVerwG, Urteil vom 25. November 2021 - 7 C 6.20 - BVerwGE 174, 190 Rn. 16 im Anschluss an BVerwG, Urteil vom 29. April 2021 - 4 C 2.19 - BVerwGE 172, 271 Rn. 50 f.). 21 Als weitergehende Rechtsvorschriften im Sinne des § 1 Satz 2 USchadG kommen die Regelungen des § 16 Abs. 2 und 3 der Verordnung über Anlagen seewärts der Begrenzung des deutschen Küstenmeeres (Seeanlagenverordnung - SeeAnlV) vom 23. Januar 1997 (BGBl. I S. 57), zuletzt geändert durch Änderungsverordnung vom 2. Juni 2016 (BGBl. I S. 1257, 1728) in Betracht. Die Seeanlagenverordnung ist aufgrund der Übergangsbestimmungen in § 102 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Entwicklung und Förderung der Windenergie auf See (Windenergie-auf-See-Gesetz - WindSeeG) vom 13. Oktober 2016 (BGBl. I S. 2258, 2310), zuletzt geändert durch Art. 14 des Gesetzes vom 22. März 2023 (BGBl. I Nr. 88), das hinsichtlich der Anlagen zur Erzeugung von Energie aus Wind an die Stelle der Seeanlagenverordnung getreten ist, für den nach den Bestimmungen der Seeanlagenverordnung errichteten und vor dem 1. Januar 2017 in Betrieb genommenen Windpark der Beigeladenen weiterhin anwendbar. 22 Führt eine Anlage oder ihr Betrieb zu einer Gefahr für die Meeresumwelt, kann das nach § 1a SeeAnlV zuständige Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie den Betrieb nach § 16 Abs. 3 Satz 1 SeeAnlV ganz oder teilweise bis zur Herstellung des ordnungsgemäßen Zustands untersagen, soweit sich die Gefahr auf andere Weise nicht abwenden lässt oder die Einstellung des Betriebs zur Aufklärung der Ursachen der Gefahr unerlässlich ist. Kann die Gefahr nicht auf andere Weise abgewendet werden, kann es nach § 16 Abs. 3 Satz 2 SeeAnlV die Beseitigung der Anlage anordnen. Nach § 16 Abs. 2 Satz 1 SeeAnlV kann das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie die im Einzelfall zur Durchführung der Seeanlagenverordnung erforderlichen Anordnungen treffen. Insbesondere kann es gemäß § 16 Abs. 2 Satz 2 SeeAnlV Gebote oder Verbote zur Durchsetzung der in § 14 SeeAnlV genannten Pflichten erlassen. § 14 Nr. 1 SeeAnlV verpflichtet die für eine Anlage verantwortlichen Personen sicherzustellen, dass von dieser während des Betriebs keine Gefahren für die Meeresumwelt ausgehen. 23 Im Rahmen einer generalisierenden Gesamtbetrachtung ergeben sich aus den genannten Regelungen der Seeanlagenverordnung weitergehende Anforderungen im Sinne des § 1 Satz 2 USchadG als nach den Bestimmungen des Umweltschadensgesetzes, so dass in deren Anwendungsbereich letzteres nach § 1 Satz 1 USchadG zurücktritt. Der Anwendungsbereich des § 16 Abs. 2 und 3 SeeAnlV erstreckt sich auf die Anordnung von Ge- oder Verboten bis hin zur Beseitigung der Anlage. Allen als Gegenstand einer Anordnung in Betracht kommenden Maßnahmen ist gemeinsam, dass sie nach dem Tatbestand des § 16 Abs. 2 und 3 SeeAnlV auf die Abwendung von Gefahren für die Meeresumwelt durch eine den Vorschriften der Seeanlagenverordnung unterliegende Anlage bzw. deren Betrieb gerichtet sind. Soweit angeordnete anlagen- oder betriebsbezogene Maßnahmen bewirken, dass eine bestehende Beeinträchtigung der Meeresumwelt beseitigt oder jedenfalls gemindert wird, stellen die diesbezüglichen Gefahrenabwehrmaßnahmen zugleich Maßnahmen zur (Teil-)Sanierung dieser Beeinträchtigung dar. Für auf § 16 Abs. 2 und 3 SeeAnlV gestützte Anordnungen ist allein das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie zuständig (§ 1a SeeAnlV). Demgegenüber wird die Anordnung von Maßnahmen, die keinen Anlagen- oder Betriebsbezug aufweisen, von den Tatbeständen des § 16 Abs. 2 und 3 SeeAnlV nicht erfasst. Für die Anordnung derartiger Sanierungsmaßnahmen wird das Umweltschadensgesetz, das im Bereich der deutschen ausschließlichen Wirtschaftszone durch das Bundesamt für Naturschutz vollzogen wird (§ 58 Abs. 1 Satz 1 BNatSchG), mangels einer Überschneidung des tatbestandlichen Anwendungsbereichs nicht von den Regelungen der Seeanlagenverordnung verdrängt. 24 Hinsichtlich anlagen- oder betriebsbezogener Anordnungen von auf die Sanierung von Beeinträchtigungen der Meeresumwelt gerichteten Maßnahmen überschneidet sich hingegen der tatbestandliche Anwendungsbereich des § 16 Abs. 2 und 3 SeeAnlV mit demjenigen des Umweltschadensgesetzes, das in § 7 Abs. 2 Nr. 3 die Anordnung erforderlicher Sanierungsmaßnahmen vorsieht. Insoweit sind die Regelungen des Umweltschadensgesetzes jedoch nicht anzuwenden, weil sich nach den tatbestandlichen Voraussetzungen des § 16 Abs. 2 und 3 SeeAnlV weitergehende Anforderungen an die Sanierung von Umweltschäden als nach dem umwelthaftungsrechtlichen Regelungsregime ergeben. Dies gilt zunächst mit Blick auf die Reichweite der sachlichen Anwendungsbereiche. Anordnungen nach § 16 Abs. 2 und 3 SeeAnlV beziehen sich auf das Schutzgut der Meeresumwelt. Dieser Begriff ist weit auszulegen und umfasst neben den grundlegenden Umweltelementen wie der Qualität des Meerwassers, der Hydrographie und den Sedimentverhältnissen insbesondere die Tier- und Pflanzenwelt des Meeres (näher hierzu BVerwG, Urteil vom 29. April 2021 - 4 C 2.19 - BVerwGE 172, 271 Rn. 27 f. m. w. N.). Demgegenüber beschränkt sich die Verantwortlichkeit nach dem Umweltschadensgesetz für berufliche Tätigkeiten, die - wie die Errichtung und der Betrieb eines Windparks - nicht in Anlage 1 zum Umweltschadensgesetz aufgeführt sind, nach § 3 Abs. 1 Nr. 2 USchadG i. V. m. § 19 Abs. 2 und 3 BNatSchG auf Schädigungen von bestimmten Arten und natürlichen Lebensräumen (sogenannte Biodiversitätsschäden) und damit lediglich auf einen Ausschnitt des maritimen Naturhaushalts. Darüber hinaus sind die Eingriffsvoraussetzungen nach § 16 Abs. 2 und 3 SeeAnlV mit dem Vorliegen einer Gefahr deutlich weniger streng als für die Anordnung von Sanierungsmaßnahmen nach dem Umweltschadensgesetz, die den Eintritt eines Umweltschadens voraussetzen (§ 6 Nr. 2 USchadG). Weitergehend sind die Regelungen der Seeanlagenverordnung nach ihren tatbestandlichen Voraussetzungen auch und nicht zuletzt dahingehend, als die Inanspruchnahme zur Gefahrenabwehr kein Verschulden der für die Anlage und deren Betrieb verantwortlichen Personen voraussetzt. Demgegenüber setzt die Inanspruchnahme für Schädigungen von Arten und natürlichen Lebensräumen, die durch nicht in Anlage 1 zum Umweltschadensgesetz aufgeführte berufliche Tätigkeiten verursacht werden, nach § 3 Abs. 1 Nr. 2 USchadG vorsätzliches oder fahrlässiges Handeln des Verantwortlichen voraus. 25 Demgegenüber sind weitergehende Anforderungen des Umweltschadensgesetzes hier nicht ersichtlich. Es ist nicht davon auszugehen, dass die Möglichkeiten zur Inanspruchnahme des Betreibers einer genehmigten Anlage nach § 16 Abs. 2 und 3 SeeAnlV wegen einer grundsätzlich abweichenden Bewertung der Legalisierungswirkung einer nach der Seeanlagenverordnung erteilten Genehmigung hinter denjenigen nach dem Umweltschadensgesetz zurückbleiben. Die Legalisierungswirkung der erteilten seeanlagenrechtlichen Genehmigung, die einer Haftung nach dem Umweltschadensgesetz grundsätzlich nicht entgegensteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 21. September 2017 - 7 C 29.15 - Buchholz 406.257 USchadG Nr. 1 Rn. 25), kann auch einem Einschreiten nach § 16 Abs. 2 und 3 SeeAnlV nicht generell entgegengehalten werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. April 2021 - 4 C 2.19 - BVerwGE 172, 271 Rn. 33 und 51). Darüber hinaus kann es im Rahmen der Haftung nach § 3 Abs. 1 Nr. 2 USchadG bei einer zuvor genehmigten Tätigkeit am haftungsbegründenden Verschulden des Verantwortlichen fehlen (vgl. BVerwG, Urteil vom 21. September 2017 - 7 C 29.15 - Buchholz 406.257 USchadG Nr. 1 Rn. 27), auf das es im Falle der Inanspruchnahme nach der Seeanlagenverordnung nicht ankommt. Weitere Einschränkungen der Haftung nach dem Umweltschadensgesetz ergeben sich aus § 19 Abs. 1 Satz 2 BNatSchG (siehe hierzu unten Rn. 40) und aus § 19 Abs. 5 Satz 2 BNatSchG (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 25. November 2021 - 7 C 6.20 - BVerwGE 174, 190 Rn. 30 ff.; vgl. auch EuGH, Urteil vom 9. Juli 2020 - C-297/19 [ECLI:​EU:​C:​2020:​533] - NuR 2020, 610 Rn. 36 ff.). 26 Die Subsidiarität des Umweltschadensgesetzes nach § 1 Satz 1 USchadG für die Anordnung anlagen- oder betriebsbezogener Sanierungsmaßnahmen schließt es im Übrigen aus, dass es zur Anordnung gleichgerichteter Maßnahmen im Rahmen der Zuständigkeiten des Bundesamts für Seeschifffahrt und Hydrographie nach § 1a SeeAnlV und des Bundesamts für Naturschutz nach § 58 Abs. 1 Satz 1 BNatSchG und in diesem Zusammenhang zu einer nicht erforderlichen mehrfachen oder widersprüchlichen Inanspruchnahme des Verantwortlichen kommen kann. Dies wird dem rechtsstaatlichen Gebot gerecht, Kompetenzen nur einer Behörde einzuräumen und Doppelbeauftragungen zu vermeiden (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2023 - 7 CN 1.22 - juris Rn. 23 m. w. N.). 27 b) Die Klage ist nicht bereits deshalb unbegründet, weil die vom Kläger zur Begründung seines Antrags an das Bundesamt für Naturschutz, gegenüber der Beigeladenen Sanierungsmaßnahmen anzuordnen, vorgebrachten Tatsachen nach den Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts den Eintritt eines Umweltschadens nicht glaubhaft erscheinen lassen. 28 Nach § 10 USchadG wird die zuständige Behörde zur Durchsetzung von Sanierungspflichten (§ 6 Nr. 2 USchadG) entweder von Amts wegen oder dann tätig, wenn ein von einem Umweltschaden Betroffener oder wahrscheinlich Betroffener oder - wie hier - eine anerkannte Umweltvereinigung dies beantragt und die zur Begründung des Antrags vorgebrachten Tatsachen den Eintritt eines Umweltschadens glaubhaft erscheinen lassen. Die Verpflichtung der zuständigen Behörde, zur Durchsetzung der Sanierungspflichten von Amts wegen tätig zu werden, ergibt sich hierbei bereits aus § 7 Abs. 1 USchadG und wird in § 10 USchadG lediglich klarstellend erwähnt (vgl. hierzu auch BT-Drs. 16/3806 S. 34, 40). Über die Pflicht der zuständigen Behörde zum Tätigwerden von Amts wegen hinaus räumt § 10 USchadG Betroffenen und anerkannten Umweltvereinigungen ein Initiativrecht zur Durchsetzung von Sanierungspflichten ein. Eine hierauf gestützte Initiative einer Umweltvereinigung verpflichtet die Behörde zum Tätigwerden, wenn die zur Begründung des Antrags vorgebrachten Tatsachen den Eintritt eines Umweltschadens glaubhaft erscheinen lassen. Die verwaltungsverfahrensrechtliche Regelung des § 10 USchadG setzt Art. 12 Abs. 1 und 3 der Umwelthaftungs-Richtlinie um, der - auch ausweislich des Erwägungsgrundes 25 der Richtlinie - unter anderem Nichtregierungsorganisationen, die sich für den Umweltschutz einsetzen, die Möglichkeit geben soll, angemessen zur wirksamen Umsetzung der Richtlinie beizutragen (vgl. BT-Drs. 16/3806 S. 27). § 10 USchadG dient auf dieser Grundlage der Effektivierung der Mitwirkung anerkannter Umweltvereinigungen an der Durchsetzung von Sanierungspflichten nach dem Umweltschadensgesetz und verleiht diesen hierzu eine besondere Rechtsposition in einem strukturierten Verwaltungsverfahren (vgl. Art. 12 Abs. 3 UHRL; vgl. auch § 8 Abs. 4 USchadG). § 10 USchadG trifft demgegenüber weder nach seinem Wortlaut, seiner systematischen Stellung im Umweltschadensgesetz noch nach dem dargelegten Sinn und Zweck der Regelung eine Aussage über die Zulässigkeit oder die Begründetheit der verwaltungsgerichtlichen Klage einer Umweltvereinigung, die sich vielmehr nach den Bestimmungen des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes richtet. 29 § 11 Abs. 2 USchadG verweist für Rechtsbehelfe von Umweltvereinigungen auf die Geltung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes. Die Regelung betrifft entgegen der von der Vertreterin des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht vertretenen Auffassung nicht lediglich die Klagebefugnis, sondern bestimmt sowohl ihrem Wortlaut als auch dem erklärten Willen des Gesetzgebers des Umweltschadensgesetzes nach überdies, unter welchen Voraussetzungen ein Klageverfahren begründet sein kann (BT-Drs. 16/3806, S. 28). Der Erfolg der Klage einer Umweltvereinigung auf Anordnung von Sanierungsmaßnahmen nach dem Umweltschadensgesetz setzt mithin nicht voraus, dass die Vereinigung zuvor bei der zuständigen Behörde nach § 10 USchadG die Durchsetzung von Sanierungspflichten beantragt und zur Begründung des Antrags Tatsachen vorträgt, die den Eintritt eines Umweltschadens glaubhaft erscheinen lassen. 30 c) Maßstab für die Begründetheit der Klage ist hiernach § 2 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 UmwRG. Nach dieser Vorschrift sind Rechtsbehelfe gegen Entscheidungen nach dem Umweltschadensgesetz begründet, wenn die Entscheidung gegen umweltbezogene Rechtsvorschriften verstößt, die für diese Entscheidung von Bedeutung sind. Für die auf dieser Grundlage erfolgende gerichtliche Prüfung, ob die zuständige Behörde nach den Regelungen des Umweltschadensgesetzes von Amts wegen verpflichtet ist, einem Verantwortlichen aufzugeben, erforderliche Sanierungsmaßnahmen zu ergreifen (§ 7 Abs. 2 Nr. 3 USchadG), ist die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Tatsachengericht maßgeblich. Eine Beschränkung der gerichtlichen Prüfung auf Tatsachen, die der Kläger bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens glaubhaft gemacht hat, ist gesetzlich nicht vorgesehen. 31 d) Kommen nach tatrichterlicher Feststellung aus naturschutzfachlicher Sicht Sanierungsmaßnahmen (§ 6 Nr. 2 i. V. m. § 8 USchadG) ohne Anlagen- oder Betriebsbezug in Betracht, sind die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Haftung nach § 3 Abs. 1 Nr. 2 USchadG zu prüfen. Der Senat weist hierzu auf Folgendes hin: 32 aa) Die Auslegung der Begriffe des Umweltschadens (§ 2 Nr. 1 USchadG) und der Schädigung von Arten und natürlichen Lebensräumen (§ 2 Nr. 1 Buchst. a USchadG) durch das Oberverwaltungsgericht steht entgegen der Auffassung des Klägers mit Bundesrecht in Einklang. Zu Recht geht es hierbei von einem spezifisch umwelthaftungsrechtlichen Verständnis dieser Begriffe aus. Ungeachtet der engen Bezüge, die das Umwelthaftungsrecht auf der Grundlage der Regelungen der Umwelthaftungs-Richtlinie (vgl. hierzu etwa Erwägungsgrund 3) zu den Bestimmungen der FFH- und der Vogelschutz-Richtlinie aufweist, handelt es sich um ein selbständiges Regelungsgefüge mit eigenständiger Begrifflichkeit und eigenständigem Anwendungsbereich. Die Umwelthaftungs-Richtlinie bezieht sich zwar auf Elemente der Richtlinie 2009/147/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. November 2009 (ABl. L 20 S. 7) über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten (Vogelschutz-Richtlinie - VS-RL) sowie der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 (ABl. L 206 S. 7) zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wild lebenden Tiere und Pflanzen (FFH-Richtlinie - FFH-RL), zuletzt geändert durch Art. 1 ÄndRL 2013/17/EU des Rates vom 13. Mai 2013 (ABl. L 158 S. 193). Sie wird aber nicht durch die Grenzen des dort verfolgten Schutzkonzepts beschränkt (vgl. Petersen, USchadG, 2013, § 2 Rn. 55). 33 Zutreffend nimmt das Oberverwaltungsgericht an, dass der räumliche Bereich, der den natürlichen Lebensraum einer geschützten Art im Sinne des Umweltschadensrechts bildet, unabhängig von den Gebietsgrenzen ausgewiesener FFH- oder Vogelschutzgebiete zu bestimmen ist. Natürliche Lebensräume im Sinne des Umweltschadensrechts sind nach § 2 Nr. 1 Buchst. a USchadG i. V. m. § 19 Abs. 3 BNatSchG die Lebensräume der Arten, die in Art. 4 Abs. 2 oder Anhang I der Vogelschutz-Richtlinie oder in Anhang II der FFH-Richtlinie aufgeführt sind, natürliche Lebensraumtypen von gemeinschaftlichem Interesse (die in Anhang I FFH-RL aufgeführten Lebensraumtypen; vgl. § 7 Abs. 1 Nr. 4 BNatSchG) sowie Fortpflanzungs- und Ruhestätten der in Anhang IV der FFH-Richtlinie aufgeführten Arten. Diese Bestimmung entspricht der Begriffsbestimmung der natürlichen Lebensräume in Art. 2 Nr. 3 Buchst. b UHRL. 34 Abgesehen davon, dass die genannten Regelungen schon ihrem Wortlaut nach nicht an förmliche Schutzgebietsausweisungen anknüpfen, entspricht ein schutzgebietsunabhängiges Verständnis natürlicher Lebensräume auch dem ausdrücklich erklärten Willen des Normgebers. So führt die Begründung des Regierungsentwurfs zur Umsetzung der Umwelthaftungs-Richtlinie aus, dass sich der Begriff des Umweltschadens in Bezug auf Habitate nicht auf die nach der FFH-Richtlinie auszuweisenden Gebiete beschränkt (BT-Drs. 16/3806, S. 30). Nicht minder deutlich tritt der Wille des Gesetzgebers in einer Erwiderung auf einen Vorschlag des Bundesrates, den räumlichen Anwendungsbereich des Umweltschadensgesetzes auf Natura-2000-Gebiete zu beschränken, hervor. In dieser Erwiderung legt die Bundesregierung dar, die Europäische Kommission habe auf entsprechende Anfrage klargestellt, dass sich der Schutz der Umwelthaftungs-Richtlinie in Bezug auf Arten und natürliche Lebensräume nicht auf Arten und natürliche Lebensräume innerhalb der nach der FFH- und der Vogelschutz-Richtlinie ausgewiesenen Gebiete beschränke (BT-Drs. 16/3806, S. 37 und 41; vgl. hierzu Fellenberg, in: Lütkes/Ewer, BNatSchG, 2. Aufl. 2018, § 19 Rn. 12 m. w. N.; Gellermann, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht, Stand Januar 2023, BNatSchG § 19 Rn. 12 f. m. w. N.; Petersen, USchadG, 2013, § 2 Rn. 51 ff. m. w. N.). Der Regelungswille des deutschen Gesetzgebers spiegelt denjenigen des Unionsgesetzgebers wider. Neben der von der Bundesregierung zitierten Stellungnahme der Kommission zeigt dies auch die Entstehungsgeschichte der Umwelthaftungs-Richtlinie. Ein dem Vorschlag des Bundesrates entsprechender Änderungsantrag des Ausschusses für Recht und Binnenmarkt zu Art. 2 Nr. 3 Buchst. b UHRL, wonach die Sanierungsverpflichtung für Lebensräume ausdrücklich auf ausgewiesene Natura-2000-Gebiete beschränkt bleiben sollte (vgl. Europäisches Parlament, Sitzungsdokument A5-0461/2003 Vorschlag 6), konnte sich nicht durchsetzen (vgl. hierzu auch Petersen, USchadG, 2013, § 2 Rn. 58). 35 Entgegen der Auffassung des Klägers lässt sich aus der französischen Sprachfassung der Umwelthaftungs-Richtlinie, namentlich aus der Formulierung "espèces et habitats naturels protégés" in Art. 2 Nr. 1 Buchst. a UHRL, nichts Gegenteiliges ableiten. Auch bei einem Wortlautverständnis als "geschützte Arten und geschützte natürliche Lebensräume" ergibt sich nicht, dass "geschützte natürliche Lebensräume" in dieser Regelung mit Gebieten gleichzusetzen wären, die förmlich als Vogelschutz- oder als FFH-Gebiet ausgewiesen sind. Näher liegt es vielmehr, das Wort "geschützt" als Bezugnahme auf Art. 2 Nr. 3 UHRL zu verstehen, der ausweist, zu Gunsten welcher Arten natürliche Lebensräume nach der Umwelthaftungs-Richtlinie unter Schutz gestellt werden (vgl. auch Petersen, USchadG, 2013, § 2 Rn. 57). 36 Auch der Verweis des Klägers auf die Erwägungsgründe 3 und 5 der Umwelthaftungs-Richtlinie ist nicht durchgreifend. Die im Erwägungsgrund 3 angesprochene Verflechtung der Umwelthaftungs-Richtlinie mit der FFH- und der Vogelschutz-Richtlinie, die nicht in Zweifel steht, besagt nichts über die im Einzelnen bestehenden rechtlichen Zusammenhänge. Das Bekenntnis zur einheitlichen Definition von Begriffen in Erwägungsgrund 5 der Richtlinie gilt nur für den Rückgriff auf Begrifflichkeiten aus anderen Rechtsvorschriften, wie er hinsichtlich des umwelthaftungsrechtlichen Begriffs der natürlichen Lebensräume gerade nicht stattfindet. Nicht weiter führen schließlich die Bezugnahmen des Klägers auf Entscheidungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (VGH München, Urteil vom 28. Oktober 2022 - 8 BV 20.19 18 - DVBl. 2023, 674 Rn. 46 ff.) und des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Urteil vom 25. November 2021 - 7 C 6.20 - BVerwGE 174, 190 Rn. 26). Diese Urteile setzen sich nicht mit den Voraussetzungen des Eintritts eines Umweltschadens oder dem Begriff der natürlichen Lebensräume auseinander. 37 Soweit sich die Bestimmung des natürlichen Lebensraums der Arten Sterntaucher und Prachttaucher, als dessen kleinsten räumlichen Bereich das Oberverwaltungsgericht die deutsche Nordsee benennt, als entscheidungserheblich erweisen sollte, wird die auf naturschutzfachlicher Grundlage zu ermittelnde Fläche in einer Weise einzugrenzen sein, welche in rechtlicher Hinsicht dem unionsrechtlichen Grundsatz des "effet utile" nicht zuwiderläuft. 38 Ob nachteilige Auswirkungen auf Lebensräume oder Arten erheblich im Sinne des § 19 Abs. 1 Satz 1 BNatSchG sind, wird gegebenenfalls mit Bezug auf den Ausgangszustand unter Berücksichtigung der Kriterien des Anhangs I der Umwelthaftungs-Richtlinie einzelfallbezogen zu ermitteln sein (§ 19 Abs. 5 Satz 1 BNatSchG). Die in Anhang I der Umwelthaftungs-Richtlinie genannten naturschutzfachlichen Kriterien sind hierbei nicht abschließend ("u. a."). Ergänzend kann auf der Grundlage naturschutzfachlicher Einschätzung auf Kriterien zurückgegriffen werden, die im Rahmen der Umsetzung der FFH- und der Vogelschutz-Richtlinie für maßgeblich erachtet werden (vgl. BT-Drs. 16/3806, S. 31). Die Schädigung von Arten innerhalb eines ausgewiesenen Schutzgebietes stellt zwar ein - gegebenenfalls gewichtiges - Indiz für die Feststellung der Erheblichkeit von Auswirkungen und damit für die Bejahung eines Umweltschadens dar. Dies schließt jedoch eine abweichende Beurteilung im Einzelfall - namentlich etwa mit Blick auf (hoch-)mobile Arten - nicht aus (vgl. hierzu auch Gellermann, NVwZ 2008, 828 <832 f.>). 39 Den Anregungen des Klägers zu Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 AEUV zum Begriff der natürlichen Lebensräume nach der Umwelthaftungs-Richtlinie und zum Verhältnis dieser Richtlinie zur Vogelschutz- und zur FFH-Richtlinie kann schon deshalb nicht gefolgt werden, weil die Entscheidungserheblichkeit dieser Fragestellungen im derzeitigen Verfahrensstadium offen ist. 40 bb) Eine sogenannte Enthaftung nach § 19 Abs. 1 Satz 2 BNatSchG kommt vorliegend nicht in Betracht. Nach dieser Vorschrift ist eine Schädigung von Arten und natürlichen Lebensräumen im Sinne des § 19 Abs. 1 Satz 1 BNatSchG zu verneinen, wenn die nachteiligen Auswirkungen von Tätigkeiten zuvor von der zuständigen Behörde nach den §§ 34, 35, 45 Abs. 7 oder § 67 Abs. 2 BNatSchG genehmigt wurden oder zulässig sind. Diesen tatbestandlichen Anforderungen wird weder die erteilte seeanlagenrechtliche Genehmigung vom 18. Dezember 2002 noch die mit Bescheid des Bundesamts für Naturschutz vom 9. März 2021 erfolgte Erteilung gebiets- und artenschutzrechtlicher Ausnahmen gerecht. 41 Der seeanlagenrechtlichen Genehmigung vom 18. Dezember 2002 liegt die Annahme zugrunde, dass der Windpark der Beigeladenen mit keinen erheblichen Auswirkungen verbunden sei und vorhandene Auswirkungen durch Schutzanordnungen ganz vermieden oder in einer Weise gemindert würden, dass sie hinnehmbar seien. Eine Gefährdung der Meeresumwelt sei mit ausreichender Sicherheit ausgeschlossen. Eine naturschutzrechtliche Ausnahme oder Befreiung nach den §§ 34, 35, 45 Abs. 7, § 67 Abs. 2 BNatSchG wurde auf dieser Grundlage nicht erteilt. Auch auf sonstige Weise dispensiert die Genehmigung vom 18. Dezember 2002 nicht von naturschutzrechtlichen Maßgaben. Von einer Ermittlung als nachteilig bewerteter Auswirkungen, die sehenden Auges zugelassen worden wären, kann deshalb nicht die Rede sein. Auswirkungen, die im Genehmigungsverfahren nicht erkannt, vorhergesehen oder in ihrer Tragweite unterschätzt worden sind, unterfallen § 19 Abs. 1 Satz 2 BNatSchG nicht (vgl. auch BayVGH, Urteil vom 28. Oktober 2022 - 8 BV 20.19 18 - DVBl. 2023, 674 Rn. 51; Gellermann, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht, Stand Januar 2023, BNatSchG § 19 Rn. 26 m. w. N.; Schrader, in: BeckOK Umweltrecht, Stand Januar 2023, BNatSchG § 19 Rn. 33 ff. m. w. N; Fellenberg, in: Lütkes/Ewer, BNatSchG, 2. Aufl. 2018, § 19 Rn. 12 und 29 ff. m. w. N.). 42 Auch die mit Bescheid vom 9. März 2021 gewährten gebiets- und artenschutzrechtlichen Ausnahmen führen zu keiner Enthaftung im Sinne des § 19 Abs. 1 Satz 2 BNatSchG. Dies gilt schon deshalb, weil nach dieser Vorschrift, die den insoweit gleichlautenden Art. 2 Nr. 1 Buchst. a Unterabs. 2 UHRL in innerstaatliches Recht umsetzt, die nachteiligen Auswirkungen "zuvor" und damit vor ihrem Eintritt ermittelt worden sein müssen. Einer nachträglichen Prüfung und Zulassung kommt deshalb keine haftungsfreistellende Wirkung zu (vgl. auch BayVGH, Urteil vom 28. Oktober 2022 - 8 BV 20.19 18 - DVBl. 2023 674 Rn. 37 und 52). Das Vorhaben muss in Kenntnis der nachteiligen Auswirkungen zugelassen worden sein (vgl. auch Fellenberg, in: Lütkes/Ewer, BNatSchG, 2. Aufl. 2018, § 19 Rn. 29 m. w. N.; Gärditz/Kahl, in: Kahl/Gärditz, Umweltrecht, 12. Aufl. 2021, § 4 Rn. 169). 43 cc) Eine Haftung nach § 3 Abs. 1 Nr. 2 USchadG setzt - wie dargelegt - vorsätzliches oder fahrlässiges Handeln des Verantwortlichen voraus. Ob ein derartiges schuldhaftes Handeln der Beigeladenen anzunehmen ist, bedarf tatrichterlicher Klärung. 44 Vorsätzliches oder fahrlässiges Handeln im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 2 USchadG bestimmt sich nach zivilrechtlichen Maßstäben. Vorsatz des Verantwortlichen ist dann zu bejahen, wenn dieser erhebliche nachteilige Auswirkungen seines Verhaltens auf die Erreichung oder Beibehaltung des günstigen Erhaltungszustands geschützter Lebensräume oder Arten oder die unmittelbare Gefahr solcher erheblichen nachteiligen Auswirkungen vorausgesehen und in seinen Willen aufgenommen hat. Fahrlässig handelt der Verantwortliche, wenn er erhebliche nachteilige Auswirkungen seines Verhaltens auf die Erreichung oder Beibehaltung des günstigen Erhaltungszustands geschützter Lebensräume oder Arten oder unmittelbare Gefahren solcher erheblichen nachteiligen Auswirkungen unter Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt vorhersehen und vermeiden konnte (BVerwG, Urteil vom 21. September 2017 - 7 C 29.15 - Buchholz 406.257 USchadG Nr. 1 Rn. 18 ff.). 45 Darauf, ob das zum Erfolgseintritt führende Verhalten eines Verantwortlichen rechtmäßig ist, kommt es nicht an. Auch - wie hier - genehmigte oder gesetzeskonforme Tätigkeiten sind grundsätzlich der verschuldensabhängigen Haftung nach § 3 Abs. 1 Nr. 2 USchadG unterworfen (näher hierzu BVerwG, Urteil vom 21. September 2017 - 7 C 29.15 - Buchholz 406.257 USchadG Nr. 1 Rn. 25). Die Rechtmäßigkeit eines Verhaltens und die Reichweite der Legalisierungswirkung einer Genehmigung für eine schadensverursachende berufliche Tätigkeit sind dessen ungeachtet bei der Frage nach der Haftung des Verantwortlichen von maßgeblicher Bedeutung. So wird ein Verantwortlicher, der schutzwürdig auf eine Genehmigung vertraut, bei einem von der Legalisierungswirkung der Genehmigung umfassten Verhalten regelmäßig nicht fahrlässig handeln. Eine Haftung für vermutetes Verschulden kommt ohne einen diesbezüglichen normativen Anhaltspunkt, der für die Verantwortlichkeit nach § 3 Abs. 1 Nr. 2 USchadG nicht ersichtlich ist, hierbei nicht in Betracht. Die Beurteilung eines Verhaltens als vorsätzlich oder fahrlässig ist Sache der tatrichterlichen Würdigung (BVerwG, Urteil vom 21. September 2017 - 7 C 29.15 - Buchholz 406.257 USchadG Nr. 1 Rn. 27 ff.). 46 Bei dieser tatrichterlichen Würdigung werden neben der Genehmigung vom 18. Dezember 2002 und der Reichweite deren Legalisierungswirkung (hierzu BVerwG, Urteil vom 29. April 2021 - 4 C 2.19 - BVerwGE 172, 271 Rn. 33) insbesondere auch der Bescheid des Bundesamts für Naturschutz vom 9. März 2021 sowie der Bescheid des Bundesamts für Seeschifffahrt und Hydrographie vom 10. März 2021 zu berücksichtigen sein. Ausweislich dieser Bescheide sind auf der Grundlage des Sach- und Rechtsstandes vom März 2021 zwei Fachbehörden übereinstimmend zu der Auffassung gelangt, dass unter Beachtung der jeweils erlassenen Nebenbestimmungen der Windpark der Beigeladenen weiterhin in rechtmäßiger Weise betrieben werden kann. 47 3. Wegen der Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung kann die Rüge des Klägers, das Berufungsurteil sei verfahrensfehlerhaft zustande gekommen, dahinstehen.
bundesverwaltungsgericht
bverwg_2021-18
17.03.2021
Pressemitteilung Nr. 18/2021 vom 17.03.2021 EN MPU auch nach einmaliger Trunkenheitsfahrt mit hoher Blutalkoholkonzentration und fehlenden Ausfallerscheinungen Zur Klärung von Zweifeln an der Fahreignung ist auch dann ein medizinisch-psychologisches Gutachten beizubringen, wenn der Betroffene bei einer einmaligen Trunkenheitsfahrt mit einem Kraftfahrzeug zwar eine Blutalkoholkonzentration (BAK) von weniger als 1,6 Promille aufwies, bei ihm aber trotz einer Blutalkoholkonzentration von 1,1 Promille oder mehr keine alkoholbedingten Ausfallerscheinungen festgestellt wurden. In einem solchen Fall begründen, wie § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a Alt. 2 der Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV) voraussetzt, sonst Tatsachen die Annahme von (künftigem) Alkoholmissbrauch. Die dadurch hervorgerufenen Zweifel an der Fahreignung hat die Fahrerlaubnisbehörde nach dieser Vorschrift durch die Anforderung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens zu klären. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig heute entschieden. Der Kläger begehrt die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis. Nach einer Trunkenheitsfahrt, bei der die Blutprobe eine Blutalkoholkonzentration von 1,3 Promille ergeben hatte, verurteilte ihn das Strafgericht wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr (§ 316 Abs. 1 und 2 StGB) und entzog ihm die Fahrerlaubnis. Als der Kläger bei der beklagten Stadt Kassel die Neuerteilung der Fahrerlaubnis beantragte, forderte sie ihn gestützt auf § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a FeV auf, ein medizinisch-psychologisches Gutachten zur Klärung der Frage beizubringen, ob er trotz der Hinweise auf Alkoholmissbrauch ein Fahrzeug sicher führen könne und nicht zu erwarten sei, dass er ein Kraftfahrzeug unter einem die Fahrsicherheit beeinträchtigenden Alkoholeinfluss führen werde. Weil der Kläger ein solches Gutachten nicht vorlegte, lehnte die Beklagte seinen Neuerteilungsantrag gestützt auf § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV ab. Die hiergegen gerichtete Klage hat das Verwaltungsgericht Kassel abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof das Urteil geändert und die Beklagte verpflichtet, die beantragte Fahrerlaubnis ohne vorherige Beibringung eines medizinisch-psychologischen Fahreignungsgutachtens zu erteilen. Entgegen der Auffassung der Beklagten und des Verwaltungsgerichts genüge bei der dem Kläger vorzuhaltenden einmaligen Trunkenheitsfahrt mit einer Blutalkoholkonzentration von 1,3 Promille allein das Fehlen von Ausfallerscheinungen nicht, um als sonstige Tatsache im Sinne von § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a Alt. 2 FeV die Anforderung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens zu rechtfertigen. Der Verordnungsgeber habe den Aspekt des mangelnden Wirkungsempfindens aufgrund bestehender Giftfestigkeit bereits bei der Festlegung des Grenzwertes von 1,6 Promille in § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c FeV berücksichtigt. Das Bundesverwaltungsgericht hat das Berufungsurteil geändert und die Berufung des Klägers gegen die erstinstanzliche Entscheidung zurückgewiesen. Gemäß § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV durfte die Beklagte auf die Nichteignung des Klägers schließen, da er ihr kein positives medizinisch-psychologischen Gutachten vorgelegt hatte. Sie hatte von ihm auf der Grundlage von § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a Alt. 2 FeV zu Recht die Beibringung eines solchen Gutachtens gefordert. Nach dieser Regelung ordnet die Fahrerlaubnisbehörde zur Vorbereitung von Entscheidungen über die Erteilung einer Fahrerlaubnis an, dass ein medizinisch-psychologisches Gutachten beizubringen ist, wenn sonst Tatsachen die Annahme von Alkoholmissbrauch begründen. Alkoholmissbrauch im fahrerlaubnisrechtlichen Sinne liegt vor, wenn das Führen von Fahrzeugen und ein die Fahrsicherheit beeinträchtigender Alkoholkonsum nicht hinreichend sicher getrennt werden können. Entgegen der Annahme des Berufungsgerichts steht § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c FeV der Anwendung der von der Beklagten herangezogenen Regelung nicht entgegen. Aus dem Wortlaut, der Systematik und der Entstehungsgeschichte von § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a und c FeV lässt sich nicht entnehmen, dass dem Buchstaben c eine "Sperrwirkung" in dem Sinne zukommt, dass bei einer einmaligen Trunkenheitsfahrt mit einer Blutalkoholkonzentration unter 1,6 Promille und Anhaltspunkten für eine überdurchschnittliche Alkoholgewöhnung ein Rückgriff auf § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a Alt. 2 FeV ausscheidet. Bei Personen, die aufgrund ihres Trinkverhaltens eine hohe Alkoholgewöhnung erreicht haben, besteht eine erhöhte Rückfallgefahr. Die Giftfestigkeit führt u.a. dazu, dass der Betroffene die Auswirkungen seines Alkoholkonsums auf die Fahrsicherheit nicht mehr realistisch einschätzen kann. Deshalb liegt in dem Umstand, dass der Betroffene trotz eines bei seiner Trunkenheitsfahrt mit einem Kraftfahrzeug festgestellten hohen Blutalkoholpegels keine alkoholbedingten Ausfallerscheinungen aufwies, eine aussagekräftige Zusatztatsache im Sinne von § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c Alt. 2 FeV. Dieser zusätzliche tatsächliche Umstand rechtfertigt auch mit Blick auf den Buchstaben c, der demgegenüber allein das Erreichen von 1,6 Promille genügen lässt, die Anforderung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens. Nach dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand kann von einer außergewöhnlichen Alkoholgewöhnung ausgegangen werden, wenn der Betroffene bei seiner Trunkenheitsfahrt eine Blutalkoholkonzentration von 1,1 Promille oder mehr aufwies. Außerdem muss festgestellt und dokumentiert worden sein, dass er dennoch keine alkoholbedingten Ausfallerscheinungen zeigte. Diese Voraussetzungen waren im Falle des Klägers erfüllt. Fußnote: Aus der Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV) :   § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV : Weigert sich der Betroffene, sich untersuchen zu lassen, oder bringt er der Fahrerlaubnisbehörde das von ihr geforderte Gutachten nicht fristgerecht bei, darf sie bei ihrer Entscheidung auf die Nichteignung des Betroffenen schließen.   § 13 Satz 1 FeV : Zur Vorbereitung von Entscheidungen über die Erteilung oder Verlängerung der Fahrerlaubnis oder über die Anordnung von Beschränkungen oder Auflagen ordnet die Fahrerlaubnisbehörde an, dass… 1. ein ärztliches Gutachten (§ 11 Absatz 2 Satz 3) beizubringen ist, wenn … 2. ein medizinisch-psychologisches Gutachten beizubringen ist, wenn a) … sonst Tatsachen die Annahme von Alkoholmissbrauch begründen, b) wiederholt Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss im Straßenverkehr begangen wurden, c) ein Fahrzeug im Straßenverkehr mit einer Blutalkoholkonzentration von 1,6 Promille oder mehr …. geführt wurde, … BVerwG 3 C 3.20 - Urteil vom 17. März 2021 Vorinstanzen: VGH Kassel, 2 A 641/19 - Urteil vom 22. Oktober 2019 - VG Kassel, 2 K 1637/18.KS - Urteil vom 12. November 2018 -
Urteil vom 17.03.2021 - BVerwG 3 C 3.20ECLI:DE:BVerwG:2021:170321U3C3.20.0 EN Leitsatz: Zur Klärung von Zweifeln an der Fahreignung ist ein medizinisch-psychologisches Gutachten beizubringen, wenn der Betroffene bei einer einmaligen Trunkenheitsfahrt mit einem Kraftfahrzeug zwar eine Blutalkoholkonzentration (BAK) von weniger als 1,6 Promille aufwies, bei ihm aber trotz einer BAK von 1,1 Promille oder mehr keine alkoholbedingten Ausfallerscheinungen festgestellt wurden. Bei solchen Anhaltspunkten für eine überdurchschnittliche Alkoholgewöhnung und eine damit einhergehende erhöhte Wiederholungsgefahr begründen sonst Tatsachen die Annahme von Alkoholmissbrauch (§ 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a Alt. 2 FeV). Rechtsquellen StVG § 2 Abs. 2 und 4 FeV § 11 Abs. 1 und 8, § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a und c, § 20 Abs. 1, Anlage 4 Nr. 8.1 und 8.2 Instanzenzug VG Kassel - 12.11.2018 - AZ: VG 2 K 1637/18.KS VGH Kassel - 22.10.2019 - AZ: VGH 2 A 641/19 Zitiervorschlag BVerwG, Urteil vom 17.03.2021 - 3 C 3.20 - [ECLI:DE:BVerwG:2021:170321U3C3.20.0] Urteil BVerwG 3 C 3.20 VG Kassel - 12.11.2018 - AZ: VG 2 K 1637/18.KS VGH Kassel - 22.10.2019 - AZ: VGH 2 A 641/19 In der Verwaltungsstreitsache hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 17. März 2021 durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Philipp, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Liebler, die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Kuhlmann und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Rothfuß und Dr. Kenntner für Recht erkannt: Das Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 22. Oktober 2019 wird geändert. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Kassel vom 12. November 2018 wird zurückgewiesen. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens. Gründe I 1 Der Kläger begehrt die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis. 2 Er wurde am 12. November 2016 um 02:40 Uhr als Fahrer eines Pkw im Rahmen einer Verkehrskontrolle überprüft. Da die Polizeibeamten Alkoholgeruch bemerkten, wurde beim Kläger um 03:15 Uhr eine Blutprobe entnommen; sie wies eine Blutalkoholkonzentration von 1,3 Promille auf. Im "Vorläufigen Blutalkoholgutachten" des Instituts für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Gießen und Marburg wird ergänzend ausgeführt, dass die Rückrechnung auf den Zeitpunkt des Vorfalls je nach dem zugrunde gelegten Rückrechnungswert eine Blutalkoholkonzentration von mindestens 1,35 Promille und maximal 1,62 Promille ergebe. 3 Das Amtsgericht Kassel verurteilte den Kläger wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr (§ 316 Abs. 1 und 2 StGB) rechtskräftig zu einer Geldstrafe, entzog ihm die Fahrerlaubnis (§§ 69, 69a StGB) und ordnete für die Neuerteilung eine Sperrfrist von neun Monaten an. 4 Im Mai 2017 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Neuerteilung der Fahrerlaubnis. Sie forderte ihn daraufhin gestützt auf § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a der Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV) auf, ein medizinisch-psychologisches Gutachten zur Frage beizubringen, ob er trotz der Hinweise auf Alkoholmissbrauch im Sinne der Anlage 4 ein Fahrzeug der Gruppe 1 sicher führen könne und nicht zu erwarten sei, dass er ein Kraftfahrzeug unter einem die Fahrsicherheit beeinträchtigenden Alkoholeinfluss führen werde. Der Kläger sei nach seinen Angaben im Strafverfahren selbst über den hohen Promillewert erschrocken gewesen und habe sich nicht betrunken gefühlt. Bei der Polizeikontrolle und der ärztlichen Untersuchung habe er keine alkoholbedingten Ausfallerscheinungen gezeigt. Damit lägen zusätzliche Tatsachen vor, die die Annahme künftigen Alkoholmissbrauchs begründeten. Es sei nicht auszuschließen, dass sich der Kläger auch künftig fahrtüchtig fühlen werde, obwohl er alkoholbedingt nicht in der Lage sei, ein Fahrzeug sicher zu führen. 5 Nachdem der Kläger ein solches Gutachten nicht innerhalb der gesetzten Frist beigebracht hatte, lehnte die Beklagte seinen Antrag mit Bescheid vom 19. Dezember 2017 gestützt auf § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV ab. Dass er das von ihm zu Recht geforderte medizinisch-psychologische Gutachten nicht vorgelegt habe, zeige, dass er Mängel verbergen wolle, die seine Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausschlössen. 6 Seine nach erfolglosem Widerspruch erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht Kassel abgewiesen. Die Beklagte habe zu Recht angenommen, dass zusätzliche Tatsachen die Annahme künftigen Alkoholmissbrauchs begründeten und damit die Voraussetzungen von § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a Alt. 2 FeV erfüllt seien. Nach den Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung sei von Alkoholmissbrauch u.a. dann auszugehen, wenn es - wie beim Kläger - zu einer einmaligen Fahrt unter hoher Alkoholkonzentration (ohne weitere Anzeichen einer Alkoholwirkung) gekommen sei. Von einem hohen Blutalkoholwert, dessen Erreichen oder Überschreiten auf hohe Trinkfestigkeit schließen lasse, sei ab 1,3 Promille auszugehen. Der Kläger habe ein Kraftfahrzeug mit einer Blutalkoholkonzentration von mindestens 1,35 Promille geführt. Der Verdacht einer Alkoholproblematik werde durch zusätzliche Tatsachen erhärtet. Nach den von der Polizei bei der Verkehrskontrolle getroffenen Feststellungen und dem ärztlichen Untersuchungsbericht seien beim Kläger trotz seines hohen Alkoholisierungsgrads nahezu keine alkoholbedingten Ausfallerscheinungen feststellbar gewesen. 7 Auf die Berufung des Klägers hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof die erstinstanzliche Entscheidung geändert, die angegriffenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, dem Kläger die beantragte Fahrerlaubnis ohne vorherige Beibringung eines medizinisch-psychologischen Fahreignungsgutachtens zu erteilen. Zur Begründung wird ausgeführt: Allein das Fehlen von Ausfallerscheinungen bei der einmaligen Alkoholfahrt des Klägers mit einer Blutalkoholkonzentration von 1,3 Promille genüge nicht, um als sonstige Tatsache im Sinne von § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a Alt. 2 FeV die Anforderung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens zu rechtfertigen. Diese Bestimmung sei eine Auffangregelung für Fallkonstellationen, die nicht unter § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b bis e FeV fielen. Inhalt und Grenzen ergäben sich aus dem Vergleich mit den dort erfassten anderen Fallgruppen, in denen im Zusammenhang mit Alkohol die Anordnung einer medizinisch-psychologischen Begutachtung vorgesehen sei. Eine Alkoholmissbrauch kennzeichnende hohe Alkoholkonzentration werde vom Verordnungsgeber auch beim Fehlen alkoholbedingter Ausfallerscheinungen an den in § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c FeV genannten Wert von 1,6 Promille gekoppelt. Entscheidend für die Anforderung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens nach einer Alkoholauffälligkeit im Straßenverkehr sei die Rückfallwahrscheinlichkeit. § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c FeV liege die Erwartung zugrunde, bei einer einmaligen Trunkenheitsfahrt mit einer Blutalkoholkonzentration unter 1,6 Promille führten bereits die Strafe und die Fahrerlaubnisentziehung dazu, dass der mit der Trunkenheitsfahrt dokumentierte Alkoholmissbrauch nicht mehr bestehe. Über die Absenkung dieses Grenzwertes müsse der Verordnungsgeber entscheiden. Der Verkehrsgerichtstag habe im Jahr 2016 gefordert, nach einer einmaligen Auffälligkeit im Straßenverkehr bereits ab 1,1 Promille die Anordnung einer medizinisch-psychologischen Untersuchung vorzusehen. Diesen Vorschlag habe der Verordnungsgeber bislang nicht aufgegriffen. 8 Zur Begründung ihrer Revision macht die Beklagte geltend: § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a Alt. 2 FeV sei so zu verstehen, dass diese Bestimmung, wenn es - wie hier - nur zu einer einmaligen Alkoholfahrt mit einer Blutalkoholkonzentration unter 1,6 Promille gekommen sei, die Anforderung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens gestatte, wenn zusätzliche konkrete Anzeichen für Alkoholmissbrauch vorlägen. Aus der Systematik der Buchstaben b und c folge nicht, dass eine einmalige Trunkenheitsfahrt mit einer Blutalkoholkonzentration unter 1,6 Promille im Rahmen des Buchstaben a Alternative 2 überhaupt keine Berücksichtigung finden dürfe; vielmehr dürfe dieser Umstand in eine Gesamtschau einbezogen werden. Das Bundesverwaltungsgericht habe anerkannt, dass das Fehlen von Ausfallerscheinungen, das auf eine gewisse Giftfestigkeit schließen lasse, ein relevanter Anhaltspunkt sein könne. Beim Kläger seien keine Ausfallerscheinungen aufgetreten. Das belege eine hohe Alkoholgewöhnung und spreche dafür, dass er auch in der Zukunft nicht fähig sei, seine Alkoholisierung zutreffend einzuschätzen. 9 Der Kläger verteidigt das angegriffene Urteil. 10 Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht trägt in Übereinstimmung mit dem Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur vor: Auch wenn - wissenschaftlich gesehen - das Fehlen von Ausfallerscheinungen bei einer Blutalkoholkonzentration von 1,3 Promille gegebenenfalls für eine hohe Alkoholgewöhnung sprechen könne, sei dieser Umstand nicht als zusätzliche Tatsache im Sinne von § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a Alt. 2 FeV zu werten. Der Vorrang des Buchstaben c greife auch bei einem Fehlen von Ausfallerscheinungen. Mit der dort vorgenommenen Absenkung des Promillewertes habe die Anordnung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens ab einer Blutalkoholkonzentration von 1,6 Promille auch bei Ersttätern ohne weitere Auffälligkeiten ermöglicht werden sollen. Über die Forderung des Verkehrsgerichtstags, den im Buchstaben c genannten Promillewert auf 1,1 Promille zu senken, habe das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur noch nicht abschließend entschieden. Das erfordere eine umfassende Diskussion, die noch nicht abgeschlossen sei; das Thema werde voraussichtlich in der nächsten Legislaturperiode abschließend bearbeitet. II 11 Die Revision der Beklagten ist begründet; sie führt zur Änderung des angegriffenen Berufungsurteils und zur Zurückweisung der Berufung des Klägers. Die Annahme des Berufungsgerichts, das Fehlen von Ausfallerscheinungen bei der einmaligen Trunkenheitsfahrt des Klägers mit einer Blutalkoholkonzentration von 1,3 Promille genüge nicht, um als sonstige Tatsache im Sinne von § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a Alt. 2 FeV die Anordnung der Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens zu rechtfertigen (UA S. 6), verstößt gegen Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 VwGO). Zur Klärung von Zweifeln an der Fahreignung ist ein medizinisch-psychologisches Gutachten beizubringen, wenn der Betroffene bei einer einmaligen Trunkenheitsfahrt mit einem Kraftfahrzeug zwar eine Blutalkoholkonzentration (BAK) von weniger als 1,6 Promille aufwies, bei ihm aber trotz einer BAK von 1,1 Promille oder mehr keine alkoholbedingten Ausfallerscheinungen festgestellt wurden. Bei solchen Anhaltspunkten für eine überdurchschnittliche Alkoholgewöhnung und eine damit einhergehende erhöhte Wiederholungsgefahr begründen sonst Tatsachen die Annahme von Alkoholmissbrauch (§ 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a Alt. 2 FeV). Da der Kläger das hiernach erforderliche Gutachten nicht fristgerecht beibrachte, durfte die Beklagte gemäß § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV auf seine Nichteignung zum Führen von Kraftfahrzeugen schließen. Sie musste deshalb die beantragte Neuerteilung der Fahrerlaubnis ablehnen. 12 1. Maßgeblich für die Beurteilung des vom Kläger verfolgten Verpflichtungsbegehrens auf Neuerteilung einer Fahrerlaubnis ist die Rechtslage zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung. Anwendung finden damit die rechtlichen Regelungen, die auch das Berufungsgericht zugrunde zu legen hätte, wenn es zum Zeitpunkt des revisionsgerichtlichen Urteils entschiede (stRspr, vgl. u.a. BVerwG, Urteil vom 13. Februar 2014 - 3 C 1.13 - BVerwGE 149, 74 Rn. 13 m.w.N.). Anzuwenden sind daher das Straßenverkehrsgesetz (StVG) i.d.F. vom 5. März 2003 (BGBl. I S. 310), zum maßgeblichen Zeitpunkt zuletzt geändert durch das Gesetz über Änderungen im Berufskraftfahrerqualifikationsrecht vom 26. November 2020 (BGBl. I S. 2575), sowie die Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr (Fahrerlaubnis-Verordnung - FeV) vom 13. Dezember 2010 (BGBl. I S. 1980), zum maßgeblichen Zeitpunkt zuletzt geändert durch die Verordnung über die Ausbildung und Prüfung auf Kraftfahrzeugen mit Automatikgetriebe und zur Änderung weiterer Vorschriften der Fahrerlaubnis-Verordnung vom 16. November 2020 (BGBl. I S. 2704). 13 2. Nach § 20 Abs. 1 Satz 1 FeV gelten für die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis nach vorangegangener Entziehung die Vorschriften für die Ersterteilung. Gemäß § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StVG müssen Fahrerlaubnisbewerber zum Führen von Kraftfahrzeugen geeignet sein. Die Eignung besitzt nach § 2 Abs. 4 Satz 1 StVG sowie § 11 Abs. 1 Satz 1 und 3 FeV, wer die notwendigen körperlichen und geistigen Anforderungen erfüllt und nicht erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder gegen Strafgesetze verstoßen hat. Die Anforderungen sind insbesondere dann nicht erfüllt, wenn eine Erkrankung oder ein Mangel nach Anlage 4 oder 5 zur Fahrerlaubnis-Verordnung vorliegt, wodurch die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen wird (§ 11 Abs. 1 Satz 2 FeV). Nach Nr. 8.1 der Anlage 4 zu den §§ 11, 13 und 14 FeV ist bei Alkoholmissbrauch die Eignung ausgeschlossen; er liegt vor, wenn das Führen von Fahrzeugen und ein die Fahrsicherheit beeinträchtigender Alkoholkonsum nicht hinreichend sicher getrennt werden können. Von Eignung kann gemäß Nr. 8.2 der Anlage 4 nach Beendigung des Missbrauchs ausgegangen werden; er kann angenommen werden, wenn die Änderung des Trinkverhaltens gefestigt ist. 14 3. Entgegen der Annahme des Berufungsgerichts ist der Umstand, dass bei der Trunkenheitsfahrt des Klägers und der anschließenden Blutentnahme keine alkoholbedingten Ausfallerscheinungen festgestellt wurden, obwohl die Blutprobe eine Blutalkoholkonzentration von 1,3 Promille - und damit einen Zustand, der von den Strafgerichten als absolute Fahruntüchtigkeit bewertet wird - aufgewiesen hatte, eine sonstige Tatsache im Sinne von § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a Alt. 2 FeV, die die Annahme von Alkoholmissbrauch begründet. Dieser zur hohen Blutalkoholkonzentration hinzutretende Umstand, der für die Frage bedeutsam ist, ob beim Kläger das erhöhte Risiko einer weiteren Trunkenheitsfahrt und damit eines erneuten Alkoholmissbrauchs besteht, rechtfertigte die an ihn ergangene Aufforderung, ein medizinisch-psychologisches Gutachten beizubringen. 15 a) Gemäß § 13 Satz 1 Nr. 2 FeV ordnet die Fahrerlaubnisbehörde zur Vorbereitung von Entscheidungen über die Erteilung oder Verlängerung der Fahrerlaubnis an, dass ein medizinisch-psychologisches Gutachten beizubringen ist, wenn nach dem ärztlichen Gutachten zwar keine Alkoholabhängigkeit, jedoch Anzeichen für Alkoholmissbrauch vorliegen oder sonst Tatsachen die Annahme von Alkoholmissbrauch begründen (Buchst. a), wiederholt Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss begangen wurden (Buchst. b), ein Fahrzeug im Straßenverkehr bei einer Blutalkoholkonzentration von 1,6 Promille oder einer Atemalkoholkonzentration von 0,8 mg/l oder mehr geführt wurde (Buchst. c), die Fahrerlaubnis aus einem der unter den Buchstaben a bis c genannten Gründen entzogen war (Buchst. d) oder sonst zu klären ist, ob Alkoholmissbrauch oder Alkoholabhängigkeit nicht mehr besteht (Buchst. e). 16 b) Die Beklagte war berechtigt, vom Kläger auf der Grundlage von § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a Alt. 2 FeV die Vorlage eines medizinisch-psychologischen Gutachtens zu fordern. In dem Umstand, dass der Kläger trotz des hohen Blutalkoholpegels bei der Polizeikontrolle und der anschließenden Blutentnahme nahezu keine alkoholbedingten Ausfallerscheinungen gezeigt hatte, durfte die Beklagte eine sonstige Tatsache im Sinne dieser Regelung sehen, die die Annahme von Alkoholmissbrauch begründet (ebenso OVG Magdeburg, Beschluss vom 22. April 2020 - 3 M 30/20 - Blutalkohol 2020, 241 <242>; OVG Greifswald, Beschluss vom 19. März 2019 - 3 M 291/18 - NordÖR 2019, 250 = juris Rn. 23 ff.; VGH München, Beschluss vom 11. März 2019 - 11 ZB 19.448 - juris Rn. 11 ff.; VGH Mannheim, Urteil vom 7. Juli 2015 - 10 S 116/15 - Blutalkohol 2015, 71 = juris Rn. 44 ff.; OVG Münster, Beschluss vom 21. Januar 2015 - 16 B 1374/14 - DAR 2015, 606 = juris Rn. 4 ff. sowie Dauer, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Aufl. 2021, § 13 FeV Rn. 21). 17 In der Rechtsprechung des erkennenden Senats ist geklärt, dass eine Gutachtensanforderung nur dann auf § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a Alt. 2 FeV gestützt werden kann, wenn Zusatztatsachen vorliegen, die unter Berücksichtigung der Wertungen des § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b und c FeV geeignet sind, die Annahme von Alkoholmissbrauch zu begründen. Mit den Tatbeständen des § 13 Satz 1 Nr. 2 FeV erfasst der Verordnungsgeber verschiedene Lebenssachverhalte, die die Fahrerlaubnisbehörde je selbständig zur Anordnung der Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens verpflichten. Diese Tatbestände stehen jedoch nicht beziehungslos nebeneinander. Vielmehr hat der Verordnungsgeber mit ihnen einen Rahmen geschaffen, bei dessen Ausfüllung auch die jeweils anderen Tatbestände und die ihnen zugrundeliegenden Wertungen zu berücksichtigen sind. Das gilt namentlich für die Tatbestände des § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b und c FeV. Lag die Blutalkoholkonzentration, mit der ein Fahrzeug geführt wurde, unter 1,6 Promille und wurde keine wiederholte Zuwiderhandlung im Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss begangen, ist nach diesen Bestimmungen die Anforderung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens nicht ohne Weiteres gerechtfertigt. Diese Grundentscheidung des Verordnungsgebers ist nicht anders als im Rahmen eines Regelbeispielkatalogs bei der Auslegung des Tatbestands von § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a Alt. 2 FeV zu beachten. Eine einmalig gebliebene Trunkenheitsfahrt mit einer Blutalkoholkonzentration unter 1,6 Promille genügt ohne zusätzliche aussagekräftige Umstände nicht, um als sonstige Tatsache im Sinne dieses Tatbestands die Annahme von Alkoholmissbrauch zu begründen (BVerwG, Urteil vom 6. April 2017 - 3 C 24.15 - Buchholz 442.10 § 2 StVG Nr. 24 Rn. 16). 18 Ein zusätzlicher Umstand im Sinne dieser Rechtsprechung, der als sonstige Tatsache im Sinne des § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a Alt. 2 FeV gewertet werden darf ("Zusatztatsache"), liegt entgegen dem Berufungsgericht darin, dass der Kläger trotz der bei ihm festgestellten Blutalkoholkonzentration, die nach Rückrechnung auf den Tatzeitpunkt mindestens 1,35 Promille betrug, sowohl bei der Polizeikontrolle selbst als auch bei der anschließenden Blutentnahme keine alkoholbedingten Ausfallerscheinungen gezeigt hatte. 19 aa) § 13 Satz 1 Nr. 2 FeV verpflichtet die Fahrerlaubnisbehörde, vom Betroffenen die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens zu fordern, wenn nach Maßgabe der in den Buchstaben a bis e konkretisierten Voraussetzungen berechtigte Zweifel an der Fahreignung des Betroffenen im Zusammenhang mit einer Alkoholproblematik bestehen. Das medizinisch-psychologische Gutachten dient der Klärung dieser Eignungszweifel; die sachverständige Begutachtung des Betroffenen soll der Fahrerlaubnisbehörde eine fachlich fundierte Grundlage für ihre Entscheidung über die beantragte Erteilung oder Verlängerung einer Fahrerlaubnis verschaffen. 20 Alkoholmissbrauch im fahrerlaubnisrechtlichen Sinne liegt nach Nr. 8.1 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung vor, wenn das Führen von Kraftfahrzeugen und ein die Fahrsicherheit beeinträchtigender Alkoholkonsum nicht hinreichend sicher getrennt werden. 21 Die Frage, ob ein solcher die Fahreignung ausschließender Alkoholmissbrauch zu befürchten ist, ist auf der Grundlage einer Prognose zu beantworten. Deren Gegenstand ist, ob Zweifel daran bestehen, dass der Betroffene künftig das Führen eines Kraftfahrzeugs und einen die Fahrsicherheit beeinträchtigenden Alkoholkonsum in der gebotenen Weise trennen wird. Die Regelung des § 13 FeV zielt - nicht anders als § 14 FeV in Bezug auf Betäubungsmittel - auf Gefahrenabwehr und nicht auf die Sanktionierung eines vom Betroffenen in der Vergangenheit gezeigten Fehlverhaltens im Straßenverkehr. Eine solche Sanktionierung ist regelmäßig - und so auch hier - bereits in einem Strafverfahren zur Ahndung der Straftat oder Ordnungswidrigkeit erfolgt, die der Betroffene mit der Trunkenheitsfahrt begangen hat. § 13 FeV soll für die Zukunft alkoholbedingte Risiken für die Verkehrssicherheit soweit wie möglich ausschalten. 22 Dementsprechend ist auch die Regelung des § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a Alt. 2 FeV darauf ausgerichtet, anknüpfend an einen in der Vergangenheit begangenen Alkoholmissbrauch und damit in Zusammenhang stehende Begleitumstände zu klären, ob sie durchgreifende Zweifel an der künftigen Beachtung des in der Nr. 8.1 zum Ausdruck kommenden Gebotes rechtfertigen, einen die Fahrsicherheit beeinträchtigenden Alkoholkonsum und das Führen eines Fahrzeugs zu trennen (vgl. zum Erfordernis einer Prognose wegen gelegentlichen Cannabiskonsums BVerwG, Urteil vom 11. April 2019 - 3 C 14.17 - BVerwGE 165, 215 Rn. 35 ff.; wegen des Mischkonsums von Alkohol und Cannabis BVerwG, Urteil vom 14. November 2013 - 3 C 32.12 - BVerwGE 148, 230 Rn. 16 und wegen einer Trunkenheitsfahrt auf dem Fahrrad BVerwG, Urteil vom 21. Mai 2008 - 3 C 32.07 - BVerwGE 131, 163 Rn. 14). Es geht der Sache nach um die Klärung der Frage, ob Wiederholungsgefahr besteht. Das ist zugleich entscheidend dafür, was als sonstige Tatsache im Sinne von § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a Alt. 2 FeV gewertet werden kann. 23 Für die Beantwortung der Frage, wann im Sinne von § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a Alt. 2 FeV sonst Tatsachen die Annahme von Alkoholmissbrauch begründen, ist außerdem von Bedeutung, dass es im Rahmen von § 13 FeV noch nicht um die Entscheidung über die Erteilung oder Verlängerung einer Fahrerlaubnis als solche geht, sondern um eine diese Entscheidung vorbereitende Aufklärungsmaßnahme. § 13 FeV regelt dementsprechend, in welchen Fällen einer Alkoholproblematik Eignungszweifel gerechtfertigt sind, und bestimmt, wann die Fahrerlaubnisbehörde vom Betroffenen deshalb die Beibringung eines ärztlichen (§ 13 Satz 1 Nr. 1 FeV) oder aber - wie hier - eines medizinisch-psychologischen Gutachtens (§ 13 Satz 1 Nr. 2 FeV) zu fordern hat. § 13 FeV greift demgemäß nicht erst dann, wenn die Nichteignung des Betroffenen zur Überzeugung der Fahrerlaubnisbehörde bereits feststeht. In einem solchen Fall wäre sie nicht auf die Anforderung eines ärztlichen (§ 13 Satz 1 Nr. 1 FeV) oder medizinisch-psychologischen Gutachtens (§ 13 Satz 1 Nr. 2 FeV) verwiesen, sondern dürfte den Antrag auf Neuerteilung einer Fahrerlaubnis auf der Grundlage von § 11 Abs. 7 FeV unmittelbar ablehnen. Für eine Gutachtensanforderung gemäß § 13 FeV genügen sachlich fundierte Zweifel an der Fahreignung. 24 bb) Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts steht § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c FeV, der die Fahrerlaubnisbehörde nach einer einmaligen Trunkenheitsfahrt erst ab einer Blutalkoholkonzentration von 1,6 Promille zur Anforderung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens verpflichtet, dem Rückgriff auf den Buchstaben a Alternative 2 nicht entgegen. Aus dem Wortlaut, der Systematik und der Entstehungsgeschichte von § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a und c FeV lässt sich nicht entnehmen, dass dem Buchstaben c eine "Sperrwirkung" in dem Sinne zukommt, dass nach einer einmaligen Trunkenheitsfahrt mit einer Blutalkoholkonzentration unter 1,6 Promille ein Rückgriff auf § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a Alt. 2 FeV von vornherein ausscheidet. Dies lässt außer Acht, dass nach den medizinisch-toxikologischen Erkenntnissen der Alkoholforschung, von denen sich der Verordnungsgeber bei seiner Regelung leiten ließ, bei Personen, die aufgrund ihres Trinkverhaltens eine hohe Alkoholgewöhnung erreicht haben, das deutlich erhöhte Risiko einer erneuten Trunkenheitsfahrt besteht. Ihre Giftfestigkeit führt unter anderem dazu, dass sie die Auswirkungen ihres Alkoholkonsums auf ihre Fahrsicherheit nicht mehr realistisch einschätzen können. Deshalb liegt in dem Umstand, dass ein Betroffener - wie der Kläger - trotz eines bei seiner Trunkenheitsfahrt festgestellten Blutalkoholpegels von 1,1 Promille oder mehr keine alkoholbedingten Ausfallerscheinungen aufgewiesen hat, eine Zusatztatsache im Sinne von § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a Alt. 2 FeV. Dieser zusätzliche Umstand und das dadurch indizierte Risikopotenzial rechtfertigen auch mit Blick auf den Buchstaben c, der eine Blutalkoholkonzentration von 1,6 Promille beim Führen eines Fahrzeugs genügen lässt, ohne dass es dann noch auf das Vorliegen zusätzlicher Tatsachen ankommt, die Anforderung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens. 25 (1) Bereits der Wortlaut von § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a Alt. 2 FeV ("... sonst Tatsachen ...") und die systematische Stellung der Bestimmung innerhalb der Gesamtregelung des § 13 Satz 1 Nr. 2 FeV machen deutlich, dass der Verordnungsgeber dieser Bestimmung eine Auffangfunktion jenseits der insbesondere in den Buchstaben b und c erfassten Fällen einer Alkoholproblematik zugedacht hat. Das setzt allerdings Zusatztatsachen voraus, die unter Berücksichtigung der Wertungen des § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b und c FeV die Annahme von Alkoholmissbrauch zu begründen vermögen (so bereits BVerwG, Urteil vom 6. April 2017 - 3 C 24.15 - Buchholz 442.10 § 2 StVG Nr. 24 Rn. 16). 26 (2) Auch aus der Entstehungsgeschichte der Buchstaben a und c lässt sich die "Sperrwirkung" nicht herleiten, die das Berufungsgericht der im Buchstaben c genannten Blutalkoholkonzentration von 1,6 Promille beimisst. 27 (a) Vor dem Inkrafttreten der Fahrerlaubnis-Verordnung vom 18. August 1998 (BGBl. I S. 2214) erfolgte die Beurteilung der Fahreignung auf der Grundlage der vom Bundesminister für Verkehr erlassenen Richtlinien für die Prüfung der körperlichen und geistigen Eignung von Fahrerlaubnisbewerbern und -inhabern (Eignungsrichtlinien). 28 Die Eignungsrichtlinien vom 1. Dezember 1982 (VkBl 1982 S. 496) enthielten - insoweit von der Grundstruktur her nicht anders als später die Fahrerlaubnis-Verordnung mit deren Anlage 4 - in einer Anlage 1 einen Katalog von Mängeln und Untersuchungsanlässen mit den Untersuchungsarten (Mängelkatalog). In Nr. 10 des Kataloges der Untersuchungsarten für das Führen von Kfz der Klassen 1, 2, 3, 4, 5 sowie für Fahrerlaubnisse nach § 15d StVZO war bei wiederholten Verkehrszuwiderhandlungen unter Alkoholeinfluss eine MPU vorgesehen (a.a.O. S. 501). Das wurde durch die Fußnote 7 dahingehend erweitert, dass die Anordnung einer medizinisch-psychologischen Untersuchung auch bei erstmals alkoholauffälligen Kraftfahrern mit einer Blutalkoholkonzentration von 2 Promille oder mehr in Frage kommen könne, wenn sonstige Umstände des Einzelfalls den Verdacht auf überdurchschnittliche Alkoholgewöhnung nahelegten, wie z.B. Alkoholfahrt bereits in den Tagesstunden oder unfallfrei oder unauffällig über eine längere Fahrstrecke, unauffälliges Verhalten bei der Verkehrskontrolle, Vermerk über das Fehlen gravierender alkoholtypischer Ausfallerscheinungen im Blutabnahmeprotokoll, sonstige Hinweise auf normabweichendes Trinkverhalten oder Auffälligkeiten unter Alkoholeinfluss (a.a.O. S. 502). 29 Bereits nach den Eignungsrichtlinien in der Fassung von 1982 durfte die Anordnung einer medizinisch-psychologischen Untersuchung also schon nach einer einmaligen Trunkenheitsfahrt erfolgen. Notwendige Voraussetzung dafür war damals eine Blutalkoholkonzentration von mindestens 2 Promille. Aber auch das allein wurde noch nicht als ausreichend angesehen; es mussten noch weitere Anhaltspunkte hinzukommen. Zu den relevanten Zusatzmerkmalen wurde bereits unter der Geltung der Eignungsrichtlinien eine überdurchschnittliche Alkoholgewöhnung gezählt, die etwa das Fehlen von alkoholbedingten Ausfallerscheinungen nahelege. 30 (b) Diese Vorgaben wurden mit der Änderung der Eignungsrichtlinien vom 30. Oktober 1989 (VkBl 1989 S. 786) dadurch verschärft, dass durch eine Neufassung der Fußnote 7 der dort angegebene "Schwellenwert" von 2 auf 1,6 Promille abgesenkt wurde. Dort hieß es nun, dass die Anordnung einer MPU nun auch bei erstmals alkoholauffälligen Kraftfahrern bereits mit einer Blutalkoholkonzentration von 1,6 Promille oder mehr in Betracht komme, wenn sonstige Umstände des Einzelfalls den Verdacht auf überdurchschnittliche Alkoholgewöhnung nahelegen, wie z.B. Alkoholfahrt bereits in den Tagesstunden oder unfallfrei oder unauffällig über eine längere Fahrstrecke, unauffälliges Verhalten bei der Verkehrskontrolle, Vermerke über das Fehlen gravierender alkoholtypischer Ausfallerscheinungen im Blutabnahmeprotokoll, sonstige Hinweise auf normabweichendes Trinkverhalten oder Auffälligkeiten unter Alkoholeinfluss. Bei einer Blutalkoholkonzentration von 2 Promille oder mehr komme auch ohne das Vorliegen solcher Umstände regelmäßig eine MPU in Betracht. 31 Gestützt wurde diese Absenkung auf gesicherte neue Erkenntnisse der Alkoholforschung. Mittlerweile werde in der Fachliteratur übereinstimmend davon ausgegangen, dass Blutalkoholkonzentrationen über 1,5 Promille in der Regel mit deutlich normabweichenden Trinkgewohnheiten verbunden seien. Wenn ein Fahrer mit einem solchen Alkoholisierungsgrad überhaupt noch in der Lage sei, sein Kraftfahrzeug in Gang zu setzen und - z.B. in der Großstadt - mehrere Kilometer unauffällig zu fahren, müsse er über eine ungewöhnliche Giftfestigkeit verfügen, d.h. zum Kreis der Vieltrinker gehören. Das gelte - auch ohne das Kriterium unauffälliger Fahrweise - insbesondere für Kraftfahrer mit 2 Promille und mehr. Von verschiedenen Autoren werde daher darauf hingewiesen, dass es sich bei diesem Personenkreis in der Regel nicht mehr um trinkende Fahrer, sondern um fahrende Trinker handele. Auch die Untersuchungen über die Rückfallquoten zeigten, dass diejenigen, die mit 1,6 Promille und mehr aufgefallen seien, im gleichen Zeitraum doppelt so häufig erneut auffällig würden wie Kraftfahrer mit geringeren Blutalkoholkonzentrationen. Im Interesse der Verkehrssicherheit sei es daher geboten, vor der Erteilung einer neuen Fahrerlaubnis schon nach erstmaligem Entzug wegen Alkoholauffälligkeit die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen durch eine MPU zu klären, wenn der Betroffene zu der Risikogruppe überdurchschnittlich alkoholgewöhnter Kraftfahrer gehöre. Das sei unumgänglich bei Kraftfahrern, die mit Blutalkoholkonzentrationen von 2 Promille und mehr aufgefallen seien, während es vertretbar erscheine, bei Kraftfahrern mit Blutalkoholkonzentrationen zwischen 1,6 und 1,99 Promille auf das Vorliegen zusätzlicher Anhaltspunkte für eine überdurchschnittliche Alkoholgewöhnung abzustellen (a.a.O. S. 787). 32 Die Neufassung der Fußnote 7 und die Begründung dafür zeigen, dass der Richtliniengeber in Kraftfahrern mit einer überdurchschnittlichen Alkoholgewöhnung - nach wie vor - ein erhöhtes Risiko für die Verkehrssicherheit sah. Diesem Risiko sollte nun durch ein gestuftes System bei der Anordnung einer medizinisch-psychologischen Untersuchung begegnet werden, für das der Richtliniengeber zwei unterschiedliche "Schwellenwerte" vorsah: Auf der Grundlage des damaligen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes hielt er ab einer Blutalkoholkonzentration von 2 Promille eine medizinisch-psychologische Untersuchung stets - und damit, anders als bisher, ohne Zusatzmerkmale - für zwingend erforderlich. Bereits ab einer Blutalkoholkonzentration von 1,6 Promille - und damit nicht mehr erst bei 2 Promille - durfte nun die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens gefordert werden, wenn zusätzliche Anhaltspunkte für eine überdurchschnittliche Alkoholgewöhnung vorlagen. Zu diesen Anhaltspunkten rechnet der Richtliniengeber - wie bisher - eine unauffällige Fahrweise und das Fehlen alkoholtypischer Ausfallerscheinungen bei der Blutabnahme trotz einer hohen Blutalkoholkonzentration. 33 (c) Dieses zweistufige System bei der Anforderung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens übernahm der Verordnungsgeber in die Fahrerlaubnis-Verordnung, mit der er die Richtlinie 91/439/EWG des Rates vom 29. Juli 1991 über den Führerschein (ABl. L 237 S. 1) - die sogenannte 2. Führerscheinrichtlinie - in das nationale Recht umsetzte. Dabei gliederte er das Fahrerlaubnisrecht aus der Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung (StVZO) aus und fasste es mit den bisher in Richtlinien enthaltenen Bestimmungen in der neuen Fahrerlaubnis-Verordnung zusammen (vgl. BR-Drs. 433/98 S. 209 f.). 34 Der vom Bundesministerium für Verkehr vorgelegte Entwurf der Fahrerlaubnis-Verordnung sah, die Regelungen der Eignungsrichtlinien damit inhaltlich übernehmend, in seinem § 13 Nr. 2 Buchst. c FeV vor, dass ein medizinisch-psychologisches Gutachten beizubringen sei, wenn ein Fahrzeug im Straßenverkehr mit einer Blutalkoholkonzentration von 2 Promille oder einer Atemalkoholkonzentration von 1,0 mg/l oder mehr geführt wurde. Nach § 13 Nr. 2 Buchst. d FeV in der Entwurfsfassung war eine MPU vorzulegen, wenn ein Fahrzeug im Straßenverkehr mit einer Blutalkoholkonzentration von 1,6 Promille oder einer Atemalkoholkonzentration von 0,8 mg/l oder mehr geführt wurde und weitere Umstände des Einzelfalls den Verdacht auf überdurchschnittliche Alkoholgewöhnung nahelegen (vgl. BR-Drs. 443/98 S. 26 f.). In der Entwurfsbegründung hieß es dazu, dass Absatz 1 Nummer 2 die Fälle regele, in denen ein medizinisch-psychologisches Gutachten beigebracht werden müsse. Dies sei insbesondere der Fall bei Fragestellungen im Zusammenhang mit Alkoholmissbrauch (Nummer 2 Buchstabe a), da es hierbei im Wesentlichen um die Beurteilung des Alkoholtrinkverhaltens des Betroffenen und den Umgang mit dem Alkohol gehe (Frage des kontrollierten Alkoholkonsums, Trennen von Trinken und Fahren) und eine Verhaltensprognose erforderlich sei. Nummer 2 Buchstabe b bis d übernähmen die bisherigen Zuweisungsbestimmungen aus dem Mängelkatalog der Eignungsrichtlinien des Bundes (vgl. BR-Drs. 443/98 S. 261). 35 Im Zuge der Beratungen des Entwurfs wurden diese aus den Eignungsrichtlinien übernommenen Regelungen verschärft. Nach der auf einen Vorschlag des Bundesrates zurückgehenden Neufassung von § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c FeV erfolgt die Anordnung einer medizinisch-psychologischen Untersuchung nun bereits dann, wenn ein Kraftfahrzeug mit einer Blutalkoholkonzentration von 1,6 Promille oder mehr geführt wurde. Die Absenkung des im Entwurf des § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c FeV noch vorgesehenen Promillewertes von 2 auf 1,6 Promille wurde damit begründet, dass nach einhelliger Auffassung in Wissenschaft und Literatur die bisher in der Fußnote 7 der Anlage 1 der Eignungsrichtlinien zu § 12 StVZO enthaltene Differenzierung, eine medizinisch-psychologische Untersuchung bei einer Blutalkoholkonzentration von 2,0 Promille oder mehr bzw. bei einer Blutalkoholkonzentration von 1,6 Promille bis 1,99 Promille und zusätzlichen Anhaltspunkten anzuordnen, nicht mehr dem aktuellen Forschungsstand entspreche. Vielmehr sei davon auszugehen, dass alkoholauffällige Kraftfahrer bereits mit einer Blutalkoholkonzentration ab 1,6 Promille über deutlich normabweichende Trinkgewohnheiten und eine ungewöhnliche Trinkfestigkeit verfügten. Da diese Personen doppelt so häufig rückfällig würden wie Personen mit geringeren Blutalkoholkonzentrationen, sei das Erfordernis zusätzlicher Verdachtsmomente nicht mehr vertretbar. Das Schleswig-Holsteinische Oberverwaltungsgericht habe entschieden, dass es die dem Urteil vom 7. April 1992 - 4 L 238/91 - zugrundeliegenden grundsätzlichen Ausführungen eines Gutachtens in diesem Sinne künftig in anhängigen Verfahren berücksichtigen werde. Insbesondere die obligatorische Beibringung eines Gutachtens ab einer BAK von 1,6 Promille ohne weitere Auffälligkeiten werde seitdem in der ständigen Rechtsprechung des OVG bestätigt. Das werde auch zunehmend in anderen Ländern praktiziert und sei bisher gerichtlich nicht beanstandet worden (vgl. BR-Drs. 443/98 [Beschluss] S. 5 f.). 36 Wie diese Begründung belegt, ging der Normgeber bei der Absenkung des "Schwellenwertes" nach wie vor davon aus, dass das Fehlen von Ausfallerscheinungen trotz einer hohen Blutalkoholkonzentration auf deutlich normabweichende Trinkgewohnheiten hindeute und es rechtfertige, beim Betroffenen eine deutlich erhöhte Rückfallgefahr anzunehmen. Solche Umstände begründen nach der Wertung des Verordnungsgebers - wie bisher - zugleich Zweifel an der Fahreignung. Die maßgebliche Änderung bestand darin, dass die Fahrerlaubnisbehörde aufgrund der vom Bundesrat durchgesetzten Änderung des Entwurfs bei einer erstmaligen Trunkenheitsfahrt nunmehr ohne weiteres und damit unabhängig von Zusatztatsachen eine medizinisch-psychologische Untersuchung bereits bei einer Blutalkoholkonzentration ab 1,6 Promille und nicht mehr erst ab 2,0 Promille anzuordnen hat. Die zur Begründung für diese Herabsetzung des "Schwellenwertes" angeführten neuen Erkenntnisse der Alkoholforschung dienten als Rechtfertigung dafür, weshalb bei Blutalkoholkonzentrationen von 1,6 Promille und mehr das Erfordernis von Zusatztatsachen von nun an entfallen sollte. Dagegen kann dieser Begründung ebenso wenig wie den Motiven für die in die Fahrerlaubnis-Verordnung aufgenommene Neuregelung entnommen werden, dass das Fehlen von Ausfallerscheinungen trotz einer starken Alkoholisierung - abweichend von der bisherigen und in der Begründung des Entwurfs ausdrücklich bekräftigten rechtlichen Bewertung - ab sofort nicht mehr als Zusatztatsache berücksichtigt werden dürfe. § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a Alt. 2 FeV eröffnet hierfür die Rechtsgrundlage. Der Regelungszweck des § 13 Satz 1 Nr. 2 FeV, alkoholbedingte Risiken für die Verkehrssicherheit soweit wie möglich auszuschließen, spricht daher für die Anwendungsmöglichkeit des Auffangtatbestands des Buchstaben a auf erstmalige Trunkenheitsfahrten mit einer Blutalkoholkonzentration unter 1,6 Promille und damit gegen eine "Sperrwirkung" des Buchstaben c. Unschädlich ist, dass der Verordnungsgeber keinen unteren "Schwellenwert" normiert hat. Dieser Wert kann anhand des Grenzwerts für die alkoholbedingte absolute Fahruntüchtigkeit eines Kraftfahrers im Sinne von § 315c Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a, § 316 StGB sowie auf der Grundlage der Begutachtungsrichtlinien und deren Kommentierung bestimmt werden. 37 (3) Diese systematische Zuordnung der Regelungen in § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a Alt. 2 und Buchst. c FeV steht im Einklang mit den Begutachtungsleitlinien für Kraftfahreignung, die nach der Anlage 4a zur Fahrerlaubnis-Verordnung die Grundlage für die Beurteilung der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen in medizinisch-toxikologischer Hinsicht sind. Auch ihnen lässt sich nicht entnehmen, dass aus medizinisch-toxikologischer Sicht die Aufforderung zur Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens nach einer einmaligen Trunkenheitsfahrt erst dann gerechtfertigt ist, wenn beim Betroffenen eine Blutalkoholkonzentration von mindestens 1,6 Promille festgestellt wurde. 38 Gemäß Nr. 3.13.1 der Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung (Stand: 31. Dezember 2019), die seit der Anforderung des medizinisch-psychologischen Gutachtens durch die Beklagte unverändert geblieben ist, kann (Alkohol-)Missbrauch im fahrerlaubnisrechtlichen Sinn insbesondere in folgenden Fällen angenommen werden: - in jedem Fall (ohne Berücksichtigung der Höhe der Blutalkoholkonzentration), wenn wiederholt ein Fahrzeug unter unzulässig hoher Alkoholwirkung geführt wurde, - nach einmaliger Fahrt unter hoher Alkoholkonzentration (ohne weitere Anzeichen einer Alkoholwirkung), - wenn aktenkundig belegt ist, dass es bei dem Betroffenen in der Vergangenheit im Zusammenhang mit der Verkehrsteilnahme zu einem Verlust der Kontrolle des Alkoholkonsums gekommen ist. 39 Die Trunkenheitsfahrt des Klägers ist aufgrund der bei ihm für den Tatzeitpunkt festgestellten Blutalkoholkonzentration der in den Begutachtungsleitlinien genannten zweiten Fallgruppe ("einmalige Fahrt unter hoher Alkoholkonzentration") zuzuordnen. In der ihm rund 30 Minuten nach der Verkehrskontrolle entnommenen Blutprobe wurde eine Blutalkoholkonzentration von 1,3 Promille festgestellt. Die Rückrechnung auf den Zeitpunkt des Vorfalls ergab nach dem Bericht des Instituts für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Gießen und Marburg je nach dem zugrunde gelegten Rückrechnungswert eine Blutalkoholkonzentration von mindestens 1,35 und höchstens 1,62 Promille. 40 (4) Nach dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand, wie er u.a. in den Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung und deren Kommentierung aus fachwissenschaftlicher Sicht zu entnehmen ist, kann von einer außergewöhnlichen Alkoholgewöhnung und der damit einhergehenden erhöhten Gefahr einer erneuten Trunkenheitsfahrt ausgegangen werden, wenn der Betroffene bei der zurückliegenden Trunkenheitsfahrt eine Blutalkoholkonzentration von 1,1 Promille oder mehr aufwies, er aber trotz dieser hohen Blutalkoholkonzentration keine alkoholbedingten Ausfallerscheinungen zeigte. 41 Ein erster Anhaltspunkt für die Einstufung eines solchen bei einer Trunkenheitsfahrt festgestellten Wertes als "hohe Alkoholkonzentration" im Sinne der Begutachtungsleitlinien liegt in dem Umstand, dass nach der strafgerichtlichen Rechtsprechung bei einer Blutalkoholkonzentration von 1,1 Promille von absoluter Fahruntüchtigkeit auszugehen ist (grundlegend dazu BGH, Beschluss vom 28. Juni 1990 - 4 StR 297/90 - BGHSt 37, 89 <92 ff.>). Das führt in aller Regel, ohne dass es zusätzlich noch eines alkoholbedingten Fahrfehlers bedarf, zu einer strafgerichtlichen Verurteilung wegen Trunkenheit im Verkehr nach § 316 StGB und zur Entziehung der Fahrerlaubnis wegen mangelnder Fahreignung gemäß §§ 69, 69a StGB. Der in § 69 StGB verwendete Begriff der Ungeeignetheit stimmt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs inhaltlich mit demselben in den einschlägigen Bestimmungen des Straßenverkehrs- und Fahrerlaubnisrechts überein. Maßstab für die Entziehung der Fahrerlaubnis sei deshalb entsprechend der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung auch hier die in die Zukunft gerichtete Beurteilung der Gefährlichkeit des Kraftfahrers für den öffentlichen Straßenverkehr (BGH, Großer Senat für Strafsachen, Beschluss vom 27. April 2005 - GSSt 2/04 - BGHSt 50, 93 <100>; vgl. dazu auch BVerwG, Urteil vom 6. April 2017 - 3 C 24.15 - Buchholz 442.10 § 2 StVG Nr. 24 Rn. 25). 42 Vor allem aber ist die Höhe des bei einer Trunkenheitsfahrt festgestellten Alkoholpegels nicht nur für die Beurteilung der Fahrtüchtigkeit, sondern auch für das Bestehen einer Rückfall- und Wiederholungsgefahr und damit im Rahmen von § 13 FeV für Zweifel an der (künftigen) Einhaltung des Gebots einer Trennung des Führens von Kraftfahrzeugen und einem die Fahrsicherheit beeinträchtigen Alkoholkonsum von Bedeutung. Davon hat sich - wie gezeigt - auch der Verordnungsgeber bei den in der Fahrerlaubnis-Verordnung in Bezug auf Alkoholmissbrauch getroffenen Regelungen leiten lassen. Auch er geht davon aus, mit einer hohen Alkoholgewöhnung und einer damit verbundenen ungewöhnlichen Giftfestigkeit erhöhe sich das Risiko, dass dem Betroffenen erneut Alkoholmissbrauch im fahrerlaubnisrechtlichen Sinne zur Last fallen werde. 43 Zur Konkretisierung der Höhe des für eine Anwendung von § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a Alt. 2 FeV mit Blick auf die Begutachtungsleitlinien anzusetzenden Schwellenwertes ("... einmalige Fahrt unter hoher Alkoholkonzentration"...) kann auf deren Kommentierung durch Sachverständige aus dem medizinisch-toxikologischen Bereich Bezug genommen werden (Schubert/Huetten/Reimann/Graw [Hrsg.], Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung, Kommentar, 3. Aufl. 2018). Dort wird im Abschnitt über Alkoholmissbrauch (Stephan/Brenner-Hartmann a.a.O. S. 246 ff.) zu dem in den Begutachtungsleitlinien verwendeten Begriff der "hohen Blutalkoholkonzentration" ausgeführt, dass man bei Alkoholkonzentrationen von 1,1 Promille ohne Weiteres von hohen BAK-Werten im Sinne der Begutachtungsleitlinien sprechen könne, deren Erreichen bzw. Überschreiten bereits auf eine hohe und ungewöhnliche Trinkfestigkeit schließen lasse, die durch ein über dem gesellschaftlichen Durchschnittskonsum liegendes Trinkverhalten erworben worden sein müsse (a.a.O. S. 249 m.w.N.). Das einmalige Erreichen/Überschreiten der 1,6 Promille-Grenze sei auch ohne aktive Verkehrsteilnahme als Beleg für einen gesundheitsschädigenden bzw. missbräuchlichen Umgang mit dem Alkohol anzusehen und der Bereich zwischen 1,1 und 1,6 Promille - ohne oder in Verbindung mit einer aktiven Verkehrsteilnahme - könne als Übergangsbereich gelten. Werde im Straßenverkehr - mit oder ohne Ausfallerscheinungen - ein solcher BAK-Wert erreicht, werde hierdurch der Verdacht auf längerfristigen missbräuchlichen Umgang mit Alkohol begründet (a.a.O. S. 249 f.). Es gebe empirisch keine Belege dafür, dass diese Fallgruppe (1,1 Promille und Zusatztatsachen aus vorangegangener Trunkenheitsfahrt) prognostisch günstiger zu werten sei als die Auffälligen mit einer Blutalkoholkonzentration von 1,6 Promille oder darüber (a.a.O. S. 257 f. m.w.N.). 44 (5) Eine zu einer solchen Blutalkoholkonzentration hinzutretende Zusatztatsache im Sinne von § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a Alt. 2 FeV, der Aussagekraft in Bezug auf künftigen Alkoholmissbrauch zukommt, liegt im Fehlen von alkoholbedingten Ausfallerscheinungen trotz dieser Blutalkoholkonzentration (vgl. bereits BVerwG, Urteil vom 6. April 2017 - 3 C 24.15 - Buchholz 442.10 § 2 StVG Nr. 24 Rn. 28). 45 Das kommt auch in dem Klammerzusatz zum Ausdruck, den die Begutachtungsleitlinien bei den dort als zweite Fallgruppe für Alkoholmissbrauch angeführten Fällen - "nach einmaliger Fahrt unter hoher Alkoholwirkung (ohne weitere Anzeichen einer Alkoholwirkung)" - enthalten. Dieser Klammerzusatz solle - so die Kommentierung der Begutachtungsleitlinien - deutlich machen, dass das Erreichen oder Überschreiten des nach der derzeitigen Rechtslage in § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c FeV genannten Blutalkoholwertes von 1,6 Promille für die Anordnung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens in jedem Fall für das Vorliegen einer auch bei Trinkgewohnten ungewöhnlich hohen Blutalkoholkonzentration und damit für Alkoholmissbrauch im Sinne der Begutachtungsleitlinien spricht (vgl. Stephan/Brenner-Hartmann a.a.O. S. 251). Damit soll es beim Erreichen oder Überschreiten einer Blutalkoholkonzentration von 1,6 Promille nicht mehr darauf ankommen, ob außerdem auch noch alkoholbedingte Ausfallerscheinungen fehlten. Dagegen trägt der Klammerzusatz nicht die Annahme, dass das Fehlen von alkoholbedingten Ausfallerscheinungen unterhalb eines Blutalkoholpegels von 1,6 Promille keine aussagekräftige Zusatztatsache im Rahmen von § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a Alt. 2 FeV sein kann. 46 (6) Die Voraussetzungen des § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a Alt. 2 FeV waren bei der an den Kläger gerichteten Aufforderung, ein medizinisch-psychologisches Gutachten beizubringen, erfüllt. Dabei hängt das Gewicht, das die nach dieser Bestimmung erforderliche Zusatztatsache aufweisen muss, maßgeblich davon ab, in welchem Maße die bei der Trunkenheitsfahrt festgestellte Blutalkoholkonzentration den in § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c FeV genannten Wert von 1,6 Promille unterschreitet, bei dem nach dem Buchstaben c die Anforderung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens auch ohne das Vorliegen von Zusatztatsachen zu erfolgen hat. Für die Anwendung von § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a Alt. 2 FeV ist außerdem erforderlich, dass das Vorliegen einer solchen Zusatztatsache - hier das Fehlen von alkoholbedingten Ausfallerscheinungen trotz einer hohen Blutalkoholkonzentration - im Zusammenhang mit der begangenen Trunkenheitsfahrt aktenkundig festgestellt und dokumentiert wurde. 47 Hier war im Polizeibericht über die Verkehrskontrolle vermerkt, die Fahrweise sei auf der Beobachtungsstrecke von 150 m sicher gewesen, der Kläger habe das Haltezeichen sofort beachtet und normal gebremst. Das Aussteigen aus dem Fahrzeug sei normal, die Kleidung geordnet, die Sprache und der Gang seien unauffällig gewesen; es hätten auch sonst keine Auffälligkeiten bestanden. Der Arzt, der die Blutprobe entnommen hatte, hatte in seinem Untersuchungsbericht vom 12. November 2016 angegeben, beim Kläger seien die Finger-F-Pr(obe) und die Nasen-F-Pr(obe) sicher und die Sprache deutlich, das Bewusstsein klar, der Denkablauf geordnet und die Stimmung unauffällig gewesen. Das genügt unter den hier gegebenen Umständen den oben genannten Anforderungen. 48 4. Erweist sich danach die von der Beklagten an den Kläger gerichtete Aufforderung, ein medizinisch-psychologisches Gutachten beizubringen, als rechtmäßig, war die Beklagte gemäß § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV berechtigt, von der mangelnden Eignung des Klägers zum Führen von Kraftfahrzeugen auszugehen, da er ein solches Gutachten nicht fristgerecht beigebracht hat. 49 Nach dieser Bestimmung darf die Fahrerlaubnisbehörde, wenn sich der Betroffene - wie hier - weigert, sich untersuchen zu lassen, bei ihrer Entscheidung auf die Nichteignung des Betroffenen schließen. Das setzt nach ständiger Rechtsprechung allerdings voraus, dass die Anforderung des Gutachtens formell und materiell rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig war (vgl. dazu u.a. BVerwG, Urteile vom 17. November 2016 - 3 C 20.15 - BVerwGE 156, 293 Rn. 19 und vom 28. April 2010 - 3 C 2.10 - BVerwGE 137, 10 Rn. 14, jeweils m.w.N.). 50 Das war hier bei der Anforderung des Gutachtens - aus den aufgezeigten Gründen - der Fall. Die Eintragung der strafgerichtlichen Verurteilung wegen der Trunkenheitsfahrt im Fahreignungsregister ist auch nicht tilgungsreif; sie darf zum Nachteil des Klägers verwertet werden (zur Anwendung des § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV nach Eintritt eines Verwertungsverbots gemäß § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Dezember 2020 - 3 C 5.20 -). Der Kläger hat daher zu dem für die Entscheidung über die Revision der Beklagten maßgeblichen Zeitpunkt ohne die Vorlage eines ihm eine günstige Prognose bescheinigenden medizinisch-psychologischen Gutachtens keinen Anspruch auf die beantragte Neuerteilung der Fahrerlaubnis. 51 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 und 2 VwGO.
bundesverwaltungsgericht
bverwg_2020-21
06.05.2020
Pressemitteilung Nr. 21/2020 vom 06.05.2020 EN Verfahrensbeteiligung von Kirchen bei der Bewilligung von Sonntagsarbeit Die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsens ist an Verwaltungsverfahren zur Bewilligung von Sonntagsarbeit in Callcentern zu beteiligen. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig heute entschieden. Nach dem Arbeitszeitgesetz dürfen Arbeitnehmer an Sonn- und gesetzlichen Feiertagen grundsätzlich nicht beschäftigt werden. Im Einzelfall kann die Aufsichtsbehörde unter bestimmten gesetzlichen Voraussetzungen Ausnahmen bewilligen. Nachdem der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens bekannt geworden war, dass im Freistaat Sachsen Arbeitnehmer an Sonn- und Feiertagen in Callcentern auf der Grundlage solcher Ausnahmebewilligungen beschäftigt werden, beantragte sie bei der Landesdirektion Sachsen ihre Beteiligung an allen laufenden und künftigen Bewilligungsverfahren. Die Landesdirektion lehnte diesen Antrag ab. Der nach erfolglosem Widerspruchsverfahren erhobenen Klage hat das Verwaltungsgericht stattgegeben und festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet gewesen ist, die Landeskirche an Verwaltungsverfahren zur Bewilligung von Sonntagsarbeit in Callcentern zu beteiligen. Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen. Das Bundesverwaltungsgericht hat das Berufungsurteil bestätigt. Die Klägerin ist nach § 13 Abs. 2 Satz 2 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) an Verfahren zur Bewilligung von Sonntagsarbeit in Callcentern zu beteiligen. Dem Ausgang der Bewilligungsverfahren kommt der Klägerin gegenüber rechtsgestaltende Wirkung zu. Die Vorschriften des Arbeitszeitgesetzes, die im Einzelfall Ausnahmen vom grundsätzlichen Beschäftigungsverbot an Sonn- und Feiertagen zulassen, sind gegenüber Religionsgemeinschaften drittschützend. Diese können sich auf das Grundrecht der Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG berufen, das durch die Sonn- und Feiertagsgarantie nach Art. 140 GG i.V.m. Art. 139 Weimarer Reichsverfassung (WRV) konkretisiert wird. Nach Art. 139 WRV bleiben der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt. Der darin liegende verfassungsrechtliche Schutzauftrag richtet sich nicht nur an den Gesetzgeber, sondern ist auch von den Behörden bei der Entscheidung über Ausnahmebewilligungen zu beachten. Solche Entscheidungen hat der Beklagte der Klägerin bekanntzugeben. Fußnote: Auszug aus dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland: Art. 4 (1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. (2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet. Art. 140 Die Bestimmungen der Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der deutschen Verfassung vom 11. August 1919 sind Bestandteil dieses Grundgesetzes.   Art. 139 der deutschen Verfassung vom 11. August 1919 Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt.   Auszug aus dem Verwaltungsverfahrensgesetz § 13 Beteiligte (…) (2) Die Behörde kann von Amts wegen oder auf Antrag diejenigen, deren rechtliche Interessen durch den Ausgang des Verfahrens berührt werden können, als Beteiligte hinzuziehen. Hat der Ausgang des Verfahrens rechtsgestaltende Wirkung für einen Dritten, so ist dieser auf Antrag als Beteiligter zu dem Verfahren hinzuzuziehen; soweit er der Behörde bekannt ist, hat diese ihn von der Einleitung des Verfahrens zu benachrichtigen. BVerwG 8 C 5.19 - Urteil vom 06. Mai 2020 Vorinstanzen: OVG Bautzen, 3 A 505/17 - Urteil vom 11. April 2019 - VG Dresden, 4 K 1278/16 - Urteil vom 12. April 2017 -
Urteil vom 06.05.2020 - BVerwG 8 C 5.19ECLI:DE:BVerwG:2020:060520U8C5.19.0 EN Verfahrensbeteiligung von Kirchen bei der Bewilligung von Sonntagsarbeit Leitsatz: Zu Verwaltungsverfahren über die Bewilligung von Sonntagsarbeit nach § 13 Abs. 5, § 15 Abs. 2 ArbZG sind die Kirchen nach Maßgabe des § 13 Abs. 2 Satz 2 VwVfG hinzuzuziehen. Rechtsquellen ArbZG § 9 Abs. 1, § 13 Abs. 5, § 15 Abs. 2 GG Art. 4 Abs. 1 und 2, Art. 140 i.V.m. Art. 139 WRV VwGO § 44a VwVfG § 13 Abs. 2 Satz 2, § 41 Abs. 1 Satz 1 Instanzenzug VG Dresden - 12.04.2017 - AZ: VG 4 K 1278/16 OVG Bautzen - 11.04.2019 - AZ: OVG 3 A 505/17 Zitiervorschlag BVerwG, Urteil vom 06.05.2020 - 8 C 5.19 - [ECLI:DE:BVerwG:2020:060520U8C5.19.0] Urteil BVerwG 8 C 5.19 VG Dresden - 12.04.2017 - AZ: VG 4 K 1278/16 OVG Bautzen - 11.04.2019 - AZ: OVG 3 A 505/17 In der Verwaltungsstreitsache hat der 8. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 6. Mai 2020 durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Held-Daab, die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Hoock, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Keller, die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Rublack und den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Seegmüller für Recht erkannt: Die Revision wird zurückgewiesen. Der Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens. Gründe I 1 Die klagende Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsens ist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts. Nachdem ihr bekannt geworden war, dass im Freistaat Sachsen Arbeitnehmer an Sonn- und Feiertagen in Callcentern aufgrund von Ausnahmebewilligungen nach dem Arbeitszeitgesetz beschäftigt werden, beantragte sie ihre Beteiligung an entsprechenden Bewilligungsverfahren sowie die Vorlage bereits erteilter Bewilligungsbescheide. Die Landesdirektion Sachsen lehnte die Anträge ab. Den Widerspruch der Klägerin wies sie zurück. 2 Auf die hiergegen erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet gewesen ist, die Klägerin an Genehmigungsverfahren zur Gestattung von Sonntagsarbeit in Callcentern zu beteiligen und den Beklagten verurteilt, der Klägerin alle bereits erteilten Genehmigungen zur Gestattung von Sonntagsarbeit in Callcentern vorzulegen, soweit diese noch fortwirkten. Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen. Die Klage sei mit beiden Anträgen zulässig. § 44a VwGO stehe der Zulässigkeit des Fortsetzungsfeststellungsantrags nicht entgegen. Dieser sei auch begründet. Der Anspruch der Kirchen, sie zu Verwaltungsverfahren über die Bewilligung von Sonntagsarbeit in Callcentern hinzuzuziehen, folge aus § 13 Abs. 2 Satz 2 VwVfG. Den Bewilligungsverfahren komme gegenüber den Kirchen rechtsgestaltende Wirkung zu. Die Vorschriften des Arbeitszeitgesetzes, die im Einzelfall Ausnahmen von dem grundsätzlichen Beschäftigungsverbot an Sonn- und Feiertagen zuließen, seien gegenüber den Kirchen drittschützend. Sie konkretisierten auf der Ebene des einfachen Rechts den verfassungsrechtlichen Schutzauftrag, der sich für den Gesetzgeber aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, Art. 140 GG i.V.m. Art. 139 WRV ergebe. Dieser Schutzauftrag richte sich auch an die Exekutive. Der auf Vorlage der erteilten Bewilligungen gerichtete Leistungsantrag sei ebenfalls begründet. 3 Zur Begründung der Revision macht der Beklagte geltend, der Fortsetzungsfeststellungsantrag sei nach § 44a VwGO unzulässig. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Hinzuziehung zu den in Rede stehenden Verwaltungsverfahren. Deren Ausgang habe für sie keine rechtsgestaltende Wirkung im Sinne des § 13 Abs. 2 Satz 2 VwVfG. Aus der verfassungsrechtlichen Sonn- und Feiertagsgarantie folge ein objektiv-rechtlicher Schutzauftrag, den der Gesetzgeber im Arbeitszeitgesetz in hinreichender Weise umgesetzt habe. Solange das verfassungsrechtlich gebotene Niveau des Sonntagsschutzes nicht unterschritten sei, könne die Klägerin keine subjektiv-rechtlichen Belange geltend machen. Die Beschäftigung von Arbeitnehmern in einem Teil der sächsischen Callcenter sei in der Öffentlichkeit kaum wahrnehmbar und taste das verfassungsrechtlich gebotene Regel-Ausnahme-Verhältnis nicht an. Auch der Leistungsantrag sei unbegründet. Die erteilten Bewilligungen berührten keine rechtlich geschützten Interessen der Klägerin. 4 Der Beklagte beantragt, das Urteil des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 11. April 2019 und das Urteil des Verwaltungsgerichts Dresden vom 12. April 2017 zu ändern und die Klage abzuweisen. 5 Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen. 6 Sie verteidigt das angegriffene Urteil. II 7 Die Revision ist unbegründet. Das Urteil des Berufungsgerichts verletzt kein revisibles Recht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). 8 1. Das Berufungsgericht hat den Fortsetzungsfeststellungsantrag ohne Verstoß gegen Bundesrecht für zulässig (a) und begründet (b) gehalten. 9 a) Der Antrag ist entsprechend § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO statthaft, nachdem sich das ursprüngliche Verpflichtungsbegehren der Klägerin, sie zu den Verwaltungsverfahren über die Bewilligung von Sonntagsarbeit hinzuzuziehen, mit Abschluss der Bewilligungsverfahren erledigt hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Mai 2000 - 3 C 2.00 - Buchholz 316 § 13 VwVfG Nr. 2 S. 3). Die Klägerin hat auch ein berechtigtes Interesse an der begehrten Feststellung, da eine Wiederholungsgefahr besteht. Dazu genügt die hinreichende Gefahr, dass unter im Wesentlichen unveränderten tatsächlichen und rechtlichen Umständen erneut mit einer gleichlautenden Entscheidung der Behörde gegenüber der Klägerin zu rechnen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 12. Dezember 2019 - 8 C 3.19 - NVwZ-RR 2020, 533 Rn. 15). Das ist hier der Fall. Der Beklagte hat deutlich gemacht, dass er beabsichtige, auch zukünftig die Klägerin nicht zu den in Rede stehenden Bewilligungsverfahren hinzuzuziehen. 10 § 44a Satz 1 VwGO steht der Zulässigkeit der Klage nicht entgegen. Danach können Rechtsbehelfe gegen behördliche Verfahrenshandlungen nur gleichzeitig mit den gegen die Sachentscheidung zulässigen Rechtsbehelfen geltend gemacht werden. Das gilt nach Satz 2 der Vorschrift jedoch nicht, wenn behördliche Verfahrenshandlungen vollstreckt werden können oder gegen einen Nichtbeteiligten ergehen. Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass die Ablehnung der Hinzuziehung nach § 13 Abs. 2 VwVfG zwar eine behördliche Verfahrenshandlung im Sinne des § 44a VwGO darstellt, die Klägerin als Nichtbeteiligte im Sinne des Satzes 2 der Vorschrift aber nicht auf die gegen die Sachentscheidung zulässigen Rechtsbehelfe verwiesen werden kann. 11 Der Begriff der Verfahrenshandlung erfasst jede behördliche Maßnahme, die im Zusammenhang mit einem schon begonnenen und noch nicht abgeschlossenen Verwaltungsverfahren steht und die der Vorbereitung einer regelnden Sachentscheidung dient. Hierunter fällt auch die behördliche Verweigerung einer erstrebten Verfahrenshandlung (BVerwG, Urteil vom 22. September 2016 - 2 C 16.15 - Buchholz 310 § 44a VwGO Nr. 13 Rn. 19), hier der Hinzuziehung. 12 Die Klägerin ist Nichtbeteiligte im Sinne des § 44a Satz 2 VwGO. Dieser Begriff ist im Einklang mit § 13 VwVfG auszulegen. Beteiligte im Sinne des Verwaltungsverfahrensrechts sind die in § 13 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 VwVfG Bezeichneten sowie diejenigen, die nach § 13 Abs. 2 VwVfG von der Behörde hinzugezogen worden sind (§ 13 Abs. 1 Nr. 4 VwVfG). Die Hinzuziehung wirkt konstitutiv. Erst durch sie erlangt der Nichtbeteiligte die Stellung eines am Verwaltungsverfahren Beteiligten. Personen, die erfolglos ihre Hinzuziehung zum Verfahren gemäß § 13 Abs. 2 VwVfG beantragt haben, behalten hingegen ihre Stellung als Nichtbeteiligte. Auf sie findet die Ausnahmeregelung des § 44a Satz 2 VwGO Anwendung. Dem steht der Zweck des § 44a Satz 1 VwGO nicht entgegen. Die Vorschrift dient dem Ziel der Prozessökonomie und soll verhindern, dass die sachliche Entscheidung durch die Anfechtung von Verfahrenshandlungen verzögert wird. Nur das Ergebnis behördlichen Handelns, nicht aber die Vorbereitung der Sachentscheidung soll Gegenstand der gerichtlichen Kontrolle sein (BVerwG, Urteil vom 22. September 2016 - 2 C 16.15 - Buchholz 310 § 44a VwGO Nr. 13 Rn. 17; BT-Drs. 7/910 S. 97). Doch ist bei der Anwendung von § 44a VwGO die grundrechtliche Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes in Art. 19 Abs. 4 GG zu berücksichtigen mit der Folge, dass der Ausschluss einer gerichtlichen Überprüfung von Verfahrenshandlungen für die Rechtsuchenden nicht zu unzumutbaren Nachteilen führen darf (vgl. BVerwG, Beschluss vom 14. Juli 2004 - 6 B 30.04 - juris Rn. 12 m.w.N.). Würde der entgegen seinem Antrag nicht Hinzugezogene auf ein gerichtliches Vorgehen gegen die - ihm möglicherweise gar nicht bekanntwerdende - Sachentscheidung verwiesen, wäre sein Rechtsschutz nicht ausreichend sichergestellt, so dass sein Rechtsbehelf gegen die Ablehnung der Hinzuziehung zulässig ist. 13 b) Die Annahme des Berufungsgerichts, die Klägerin könne die Hinzuziehung zu Verwaltungsverfahren zur Bewilligung von Sonntagsarbeit in Callcentern auf der Grundlage des § 1 SächsVwVfG i.V.m. § 13 Abs. 2 Satz 2 VwVfG beanspruchen, steht mit Bundesrecht in Einklang. 14 Nach § 13 Abs. 2 Satz 2 VwVfG hat die Behörde einen Dritten, für den der Ausgang des Verfahrens rechtsgestaltende Wirkung hat, auf dessen Antrag als Beteiligten zu dem Verfahren hinzuzuziehen. Eine rechtsgestaltende Wirkung liegt vor, wenn durch den möglicherweise ergehenden Verwaltungsakt zugleich und unmittelbar Rechte des Dritten begründet, aufgehoben oder geändert werden (BVerwG, Beschluss vom 29. Juni 2018 - 7 B 14.17 - juris Rn. 9). Auch bewilligende Verwaltungsakte können rechtsgestaltende Wirkung haben (vgl. Schmitz, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 13 Rn. 40). Da der Ausgang des Verfahrens offen ist, genügt die Möglichkeit, dass die rechtsgestaltende Wirkung bei einem bestimmten Verfahrensausgang eintreten wird. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Je nach Ausgang der in Rede stehenden Bewilligungsverfahren nach dem Arbeitszeitgesetz können Rechte der Klägerin aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG und Art. 140 GG i.V.m. Art. 139 WRV beeinträchtigt werden. 15 Die Klägerin als Religionsgemeinschaft kann das Grundrecht des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG für sich in Anspruch nehmen. Die Religionsfreiheit beschränkt sich nicht auf die Funktion eines Abwehrrechts, sondern gebietet auch, Raum für die aktive Betätigung der Glaubensüberzeugung und die Verwirklichung der autonomen Persönlichkeit auf weltanschaulich-religiösem Gebiet zu sichern. Die Schutzpflicht für dieses Rechtsgut trifft den Staat auch gegenüber den als Körperschaften des öffentlichen Rechts verfassten Religionsgemeinschaften. Die aus dem Grundrecht der Religionsfreiheit abzuleitende Schutzpflicht wird durch die Sonn- und Feiertagsgarantie nach Art. 140 GG i.V.m. Art. 139 WRV konkretisiert. Nach Art. 139 WRV bleiben der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt. Die Gewährleistung von Tagen der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung ist auch darauf ausgerichtet, den Grundrechtsschutz zu stärken; sie konkretisiert insofern die aus den jeweils einschlägigen Grundrechten folgenden staatlichen Schutzpflichten (BVerfG, Urteil vom 1. Dezember 2009 - 1 BvR 2857, 2858/07 - BVerfGE 125, 39 <80 f.>). Der zeitliche Gleichklang einer für alle Bereiche regelmäßigen Arbeitsruhe ist ein grundlegendes Element für die Wahrnehmung der verschiedenen Formen sozialen Lebens. Der objektivrechtliche Schutzauftrag, der in der Sonn- und Feiertagsgarantie begründet ist, ist mithin auf die Stärkung des Schutzes derjenigen Grundrechte angelegt, die in besonderem Maße auf Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung angewiesen sind. Mit der Gewährleistung rhythmisch wiederkehrender Tage der Arbeitsruhe fördert und schützt die Sonn- und Feiertagsgarantie neben anderen Grundrechten auch die Ausübung der Religionsfreiheit (BVerfG, Urteil vom 1. Dezember 2009 - 1 BvR 2857, 2858/07 - BVerfGE 125, 39 <82,84>; BVerwG, Urteil vom 26. November 2014 - 6 CN 1.13 - BVerwGE 150, 327 Rn. 15). 16 § 9 Abs. 1 ArbZG verbietet die Beschäftigung von Arbeitnehmern an Sonn- und gesetzlichen Feiertagen. § 13 Abs. 5 und § 15 Abs. 2 ArbZG definieren die Voraussetzungen, unter denen Arbeitnehmer an Sonn- und Feiertagen gleichwohl ausnahmsweise beschäftigt werden dürfen. Sie konkretisieren auf der Ebene des einfachen Rechts den verfassungsrechtlichen Schutzauftrag aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG. Der Erlass von Bewilligungen nach dem Arbeitszeitgesetz, die das Verbot der Beschäftigung von Arbeitnehmern an Sonn- und Feiertagen im Einzelfall durchbrechen, wirkt auf das Recht der Religionsgemeinschaften aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG und Art. 140 GG i.V.m. Art. 139 WRV unmittelbar rechtsgestaltend ein, weil dadurch der gesetzlich gewährleistete Schutz von Sonn- und Feiertagen jeweils gemindert wird. 17 Entgegen der Auffassung des Beklagten richtet sich der verfassungsrechtliche Schutzauftrag für den Sonn- und Feiertagsschutz nicht nur an den Gesetzgeber, sondern an alle staatlichen Organe (vgl. BVerfG, Urteil vom 1. Dezember 2009 - 1 BvR 2857, 2858/07 - BVerfGE 125, 39 <78 f., 84>). Der Gesetzgeber hat zwar das verfassungsrechtlich gebotene Mindestniveau des Sonntagsschutzes einfachrechtlich zu gewährleisten. Auch Behörden haben jedoch die verfassungsrechtlichen Vorgaben zum Sonntagsschutz bei der Anwendung der gesetzlichen Normen einschließlich des Verfahrensrechts im Einzelfall zu beachten. 18 Der Einwand des Beklagten, die Sonntagsarbeit in Callcentern sei für die Öffentlichkeit kaum wahrnehmbar und berühre deshalb das für den Sonntagsschutz geltende Regel-Ausnahme-Verhältnis nicht, rechtfertigt keine andere Bewertung und steht der Hinzuziehung der Klägerin zu Bewilligungsverfahren nicht entgegen. Der Gesetzgeber hat mit dem generellen sonntäglichen Beschäftigungsverbot des § 9 Abs. 1 ArbZG und den dazu ergangenen Ausnahmevorschriften der §§ 13, 15 ArbZG das Schutzniveau des Sonntagsschutzes gesetzlich ausgestaltet, ohne auf die öffentliche Wahrnehmbarkeit der Sonntagsarbeit abzustellen. Eine Verringerung des Schutzniveaus der Sonn- und Feiertagsgarantie bei der Erteilung von Einzelbewilligungen lässt sich aus der fehlenden öffentlichen Wahrnehmung der Sonntagsarbeit in Callcentern nicht ableiten. 19 2. Das Berufungsgericht hat ohne Verstoß gegen revisibles Recht den auf Bekanntgabe der noch fortwirkenden Bewilligungsbescheide gerichteten Leistungsantrag für zulässig und begründet gehalten. Die Klägerin kann die Bekanntgabe dieser Bewilligungsbescheide nach § 41 Abs. 1 Satz 1 VwVfG beanspruchen. Sie ist zwar nicht Beteiligte im Sinne dieser Vorschrift. Das vom Beklagten bei der Entscheidung über die Bekanntgabe auszuübende pflichtgemäße Ermessen ist der Klägerin gegenüber jedoch auf Null reduziert. 20 § 41 Abs. 1 Satz 1 VwVfG verpflichtet die Behörde zur Bekanntgabe eines Verwaltungsakts an den betroffenen Beteiligten und vermittelt diesem zugleich einen Anspruch hierauf. Die Bekanntgabepflicht ist Ausdruck des Rechtsstaatsprinzips des Art. 20 Abs. 3 GG (vgl. BVerfG, Urteil vom 24. April 1991 - 1 BvR 1341/90 - BVerfGE 84, 133 <159>). Erst die Kenntnis des Verwaltungsakts schafft die Voraussetzung für dessen von Art. 19 Abs. 4 GG gebotene effektive Kontrolle. Ob eine Person von dem Verwaltungsakt betroffen wird, folgt aus dem materiellen Recht (vgl. Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 41 Rn. 32). Für die Klägerin ergibt sich die Betroffenheit im Sinne dieser Vorschrift aus ihrer dargestellten verfassungsrechtlichen Rechtsposition. Die Stellung als Beteiligter bestimmt sich indessen nach § 13 Abs. 1 VwVfG. Dabei kann hier offenbleiben, ob auch demjenigen ein Anspruch auf Bekanntgabe nach § 41 Abs. 1 Satz 1 VwVfG zukommt, der von dem Verwaltungsakt zwar betroffen wird, eine Beteiligtenstellung im Sinne des § 13 Abs. 1 VwVfG aber nicht erlangt hat. Denn jedenfalls hat die Behörde über die Bekanntgabe des Verwaltungsakts an den zwar betroffenen, aber nicht beteiligten Dritten nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden (vgl. Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 41 Rn. 34). Dieses Verständnis der Vorschrift steht in systematischer Hinsicht mit den zu § 29 Abs. 1 Satz 1 VwVfG entwickelten Grundsätzen zur Akteneinsicht am Verfahren nicht beteiligter Dritter im Einklang. Auch insoweit besteht ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung (vgl. BVerwG, Urteile vom 16. September 1980 - 1 C 52.75 - BVerwGE 61, 15 <22> und vom 5. Juni 1984 - 5 C 73.82 - BVerwGE 69, 278 <279 f.>). Zudem wird hierdurch dem Interesse des Dritten, Kenntnis von dem ihn betreffenden Verwaltungsakt zu erlangen und gegebenenfalls den Rechtsweg zu beschreiten, Rechnung getragen. 21 Auf dieser Grundlage ist eine Ermessensreduzierung auf Null zugunsten der Klägerin anzunehmen. Sie ist unter Verletzung von § 13 Abs. 2 Satz 2 VwVfG an den vom Beklagten durchgeführten Bewilligungsverfahren zur Sonntagsarbeit nicht beteiligt worden. Im Hinblick auf die rechtsstaatliche Funktion der Bekanntgabe kann ihr die nachträgliche Kenntnisnahme der bereits ergangenen, noch wirksamen Bewilligungsbescheide im Ermessenswege nicht versagt werden, weil sie anderenfalls entgegen Art. 19 Abs. 4 GG an der sachgerechten Wahrnehmung ihrer Rechte gehindert wäre. 22 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
bundesverwaltungsgericht
bverwg_2020-57
13.10.2020
Pressemitteilung Nr. 57/2020 vom 13.10.2020 EN Gebührenbemessung nach Verwaltungsaufwand bei Informationsansprüchen rechtmäßig Eine Gebühr i.H.v. 235 € für die Herausgabe von Abschriften auf Grundlage des Informationsfreiheitsgesetzes, bei der ein Verwaltungsaufwand von ca. vier Stunden entsteht, ist nicht ermessensfehlerhaft und verletzt nicht das sog. Abschreckungsverbot. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig heute entschieden. Der Kläger ist Journalist. Er wendet sich gegen die Festsetzung einer Gebühr für die Bearbeitung eines Antrags nach dem Informationsfreiheitsgesetz. Im Dezember 2016 beantragte er beim Bundesministerium des Innern, ihm die Gesprächsvorbereitung für Bundesinnenminister de Maizière für ein Treffen mit Mark Zuckerberg zu übersenden. Das Ministerium kam dem Begehren teilweise nach und setzte hierfür auf Grundlage der Bearbeitungsdauer von knapp vier Stunden eine Gebühr i.H.v. 235 € fest. Auf die hiergegen gerichtete Klage hat das Verwaltungsgericht den Gebührenbescheid aufgehoben. Das Ministerium habe bei der Ausfüllung des geltenden Gebührenrahmens von 30 bis 500 € sein Ermessen fehlerhaft ausgeübt. Nach dem Prinzip der individuellen Gleichmäßigkeit hätte das Ministerium zunächst alle denkbaren Informationsansprüche ihrem Umfang nach gleichmäßig auf den Gebührenrahmen verteilen und den Fall des Klägers sodann in diese Spanne einordnen müssen. Die schlichte Orientierung der Gebührenhöhe am Verwaltungsaufwand genüge dem nicht. Auf die Sprungrevision des Ministeriums hat das Bundesverwaltungsgericht die Entscheidung des Verwaltungsgerichts geändert und die Klage abgewiesen. Die Gebührenbemessung entspricht den gesetzlichen Vorgaben des § 10 Abs. 2 des Informationsfreiheitsgesetzes (IFG) und der dazu ergangenen Informationsgebührenverordnung. Die hierauf gestützte Entscheidung ist ermessensgerecht. § 10 Abs. 2 IFG schreibt vor, dass die Gebührenhöhe am Verwaltungsaufwand zu orientieren ist und dass die Gebühr nicht so hoch sein darf, dass der Informationszugang nicht wirksam in Anspruch genommen werden kann (sog. Abschreckungsverbot). Dem ist das Ministerium gerecht geworden. Mit der Gebührenhöhe wird keine vollständige Kostendeckung erzielt; es werden lediglich ein Teil der Personalkosten und keine Sachkosten in Ansatz gebracht. Darüber hinaus setzt die Informationsgebührenverordnung mit ihren differenzierten Tatbeständen und verschiedenen Maximalgebühren das Abschreckungsverbot wirksam um. Der Maximalwert einiger Tarifstellen liegt wie hier bei 500 €. Andere Tarifstellen sehen zum Teil geringere Gebührenrahmen vor, keine einen höheren Maximalwert. Zudem kennt die Informationsgebührenverordnung auch gänzlich gebührenfreie Tarifstellen (etwa für einfache Auskünfte und die Herausgabe von wenigen Abschriften) und die Möglichkeit, aus Gründen der Billigkeit Gebühren abzusenken oder ganz zu erlassen. Ein Gebot, die konkrete Gebühr nach dem Prinzip der individuellen Gleichmäßigkeit zu berechnen, wie es das Verwaltungsgericht verstanden hat, lässt sich dem Gesetz nicht entnehmen. Fußnote: § 10 Abs. 2 IFG lautet: Die Gebühren sind auch unter Berücksichtigung des Verwaltungsaufwandes so zu bemessen, dass der Informationszugang nach § 1 wirksam in Anspruch genommen werden kann. BVerwG 10 C 23.19 - Urteil vom 13. Oktober 2020 Vorinstanz: VG Berlin, 2 K 95.17 - Urteil vom 29. März 2019 -
Urteil vom 13.10.2020 - BVerwG 10 C 23.19ECLI:DE:BVerwG:2020:131020U10C23.19.0 EN Gebührenhöhe für Zugang zu amtlichen Informationen Leitsätze: 1. Die Informationsgebührenverordnung (IFGGebV) stellt hinreichend differenzierte Gebührentatbestände und Gebührenrahmen zur Verfügung, die - unter Berücksichtigung der Billigkeitsklausel des § 2 IFGGebV - das Verbot prohibitiver Gebühren in § 10 Abs. 2 IFG wirksam umsetzen. 2. Ein Gebührenrahmen nach der Informationsgebührenverordnung kann ermessensgerecht so ausgefüllt werden, dass die Gebührenhöhe solange unter Berücksichtigung des Verwaltungsaufwands bestimmt wird, wie der Gebührenrahmen nicht überschritten wird, und bei umfangreicherem Verwaltungsaufwand der sich ergebende Betrag am oberen Gebührenrand gekappt wird. Rechtsquellen GG Art. 3 Abs. 1 IFG §§ 1, 10 IFGGebV §§ 1, 2 BGebG § 2 Abs. 2, § 23 Abs. 4 Instanzenzug VG Berlin - 29.03.2019 - AZ: VG 2 K 95.17 Zitiervorschlag BVerwG, Urteil vom 13.10.2020 - 10 C 23.19 - [ECLI:DE:BVerwG:2020:131020U10C23.19.0] Urteil BVerwG 10 C 23.19 VG Berlin - 29.03.2019 - AZ: VG 2 K 95.17 In der Verwaltungsstreitsache hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 13. Oktober 2020 durch den Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts Prof. Dr. Dr. h.c. Rennert, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Schemmer, die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Rublack und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Günther und Dr. Löffelbein für Recht erkannt: Das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 29. März 2019 wird geändert. Die Klage wird abgewiesen. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens. Gründe I 1 Der Kläger ist Journalist. Er wendet sich gegen die Festsetzung einer Gebühr für die Bearbeitung eines Antrags nach dem Informationsfreiheitsgesetz. 2 Im Dezember 2016 beantragte er beim Bundesministerium des Innern, ihm die Gesprächsvorbereitung für Bundesinnenminister de Maizière für ein Treffen mit Mark Zuckerberg zu übersenden. Die Beklagte gab dem Antrag teilweise statt und erhob hierfür auf Grundlage eines Verwaltungsaufwands von 3 Stunden und 55 Minuten eine Gebühr von 235 €. Der Verwaltungsaufwand sei durch die Aktenrecherche, Sichtung, Prüfung, Zusammenstellung und Schwärzung der Unterlagen sowie durch Beteiligung Dritter entstanden. Sie gehe bei der Berechnung von einem durchschnittlichen Stundensatz von 60 € für einen Beamten des höheren Dienstes aus. 3 Auf die nach erfolglos durchgeführtem Widerspruchsverfahren erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht den Gebührenbescheid aufgehoben. Zur Begründung führte es aus, dass für die begehrte Herausgabe von Abschriften ein Gebührenrahmen von 30 bis 500 € vorgesehen sei. Die Beklagte habe bei der Festsetzung der Gebühr ihr Ermessen fehlerhaft ausgeübt. Die obere Gebühr von 500 € stelle keine bloße Kappungsgrenze für eine im Übrigen nach Zeitaufwand zu berechnende Gebührenhöhe dar. Vielmehr sei die Gebührenhöhe nach dem Prinzip der individuellen Gleichmäßigkeit festzulegen. Dies erfordere, allen von einer Tarifstelle erfassten Amtshandlungen zunächst die durch den Gebührenrahmen gebildete Gebührenskala in etwa proportional zuzuordnen. Sei der Aufwand danach äußerst gering, habe sich die Festsetzung der Gebühr am unteren Rand des Gebührenrahmens, im Durchschnittsfall an der Mitte und im Falle maximalen Aufwands an der oberen Grenze zu orientieren. 4 Gegen dieses Urteil richtet sich die Sprungrevision der Beklagten, zu deren Begründung sie ausführt: Die Gebührenhöchstgrenze erlange erst dann Bedeutung, wenn die nach dem Verwaltungsaufwand berechnete Gebühr sie überschreite. Darin liege auch kein Verstoß gegen das Verbot prohibitiver Gebühren im Sinne des § 10 Abs. 2 IFG. Eine abschreckende Wirkung sei bei der streitbefangenen Gebührenhöhe nicht gegeben. 5 Die Beklagte beantragt, das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 29. März 2019 zu ändern und die Klage abzuweisen. 6 Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen. 7 Er verteidigt das angegriffene Urteil. II 8 Die Sprungrevision hat Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat mit der Annahme, die Gebührenhöhe sei zwingend nach dem Prinzip der individuellen Gleichmäßigkeit in dem von ihm verstandenen Sinne zu bestimmen, gegen Bundesrecht verstoßen (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Damit schränkt es das der Behörde eingeräumte Ermessen über seinen gesetzlich vorgesehenen Prüfauftrag (§ 114 Satz 1 VwGO) hinaus ein. 9 Es spricht viel dafür, dass die Gebührenberechnung nach dem Prinzip der individuellen Gleichmäßigkeit in dem von ihm verstandenen Sinne ermessensgerecht ist. Das Verwaltungsgericht hat aber verkannt, dass dies nicht die einzige ermessensfehlerfreie Methode der Gebührenberechnung ist. Vielmehr ist die von der Beklagten verwandte Methode ebenfalls ermessensfehlerfrei. Deswegen ist die Entscheidung des Verwaltungsgerichts auch nicht aus anderen Gründen richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO). 10 1. Rechtsgrundlage für die Gebührenerhebung ist § 10 Abs. 1 und 2 Informationsfreiheitsgesetz (IFG) in Verbindung mit § 1 Abs. 1 der Verordnung über die Gebühren und Auslagen nach dem Informationsfreiheitsgesetz (Informationsgebührenverordnung - IFGGebV) vom 2. Januar 2006 (BGBl. I S. 6), geändert durch Art. 2 Abs. 7 des Gesetzes vom 7. August 2013 (BGBl. I S. 3154), und der Tarifstelle 2.2 des zugehörigen Gebühren- und Auslagenverzeichnisses. Die Vorschriften sind in der am 30. März 2017 geltenden Fassung anzuwenden, die der jeweils aktuellen Fassung der genannten Vorschriften entspricht. Gemäß § 4 Abs. 1 Bundesgebührengesetz (BGebG) ist der maßgebliche Zeitpunkt derjenige der Beendigung der Leistungserbringung. Das ist hier der Zeitpunkt, an dem die Beklagte den beantragten Zugang zu Informationen gewährt hat. 11 Gemäß § 10 Abs. 1 IFG sind für individuell zurechenbare öffentliche Leistungen nach diesem Gesetz Gebühren und Auslagen zu erheben. Nach Absatz 2 dieser Vorschrift sind Gebühren auch unter Berücksichtigung des Verwaltungsaufwandes so zu bemessen, dass der Informationszugang nach § 1 wirksam in Anspruch genommen werden kann. 12 Die Berechnung der Gebührenhöhe richtet sich ausschließlich nach § 10 Abs. 2 IFG und der Informationsgebührenverordnung. Eine ergänzende Heranziehung des Bundesgebührengesetzes oder des durch dieses abgelösten Verwaltungskostengesetzes a.F., welches aufgrund der Übergangsregelung des § 23 Abs. 4 Satz 2 BGebG bei Rahmengebühren grundsätzlich noch zur Anwendung gelangen kann, kommt hier nicht in Betracht. Beide Regelungen gelten gemäß § 2 Abs. 2 Satz 1 bzw. gemäß § 23 Abs. 4 Satz 2 BGebG nur, soweit nichts anderes bestimmt ist. § 10 Abs. 2 IFG enthält hinsichtlich der Gebührenhöhe eine vorrangige Regelung, die insoweit keinen Raum für eine ergänzende Heranziehung der vorgenannten Gesetze lässt. 13 Gemäß § 1 Abs. 1 IFGGebV bestimmen sich die Gebühren und Auslagen für individuell zurechenbare öffentliche Leistungen nach dem Informationsfreiheitsgesetz nach dem anliegenden Gebühren- und Auslagenverzeichnis. Nach dessen Tarifstelle 2.2 beträgt die Gebühr für die Herausgabe von Abschriften, wenn im Einzelfall ein deutlich höherer Verwaltungsaufwand zur Zusammenstellung von Unterlagen entsteht, insbesondere, wenn zum Schutz öffentlicher oder privater Belange Daten ausgesondert werden müssen, 30 bis 500 €. Ein solcher Einzelfall mit höherem Verwaltungsaufwand ist vom Verwaltungsgericht festgestellt worden. Insbesondere waren auch dritte Stellen zu beteiligen und Schwärzungen vorzunehmen. 14 2. Die konkrete Höhe der danach zu erhebenden Gebühr steht im Ermessen der Behörde. Zutreffend ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass Tarifstelle 2.2 des Gebühren- und Auslagenverzeichnisses zu § 1 Abs. 1 IFGGebV mit der Angabe 30 bis 500 € eine Rahmengebühr vorsieht. Eine Rahmengebühr bestimmt einen minimalen und einen maximalen Gebührenwert, innerhalb deren die konkrete Gebührenhöhe durch Ermessensentscheidung festzusetzen ist (vgl. Prömper/Stein, BGebG 2019, § 11 Rn. 14). Die gerichtliche Nachprüfung der Ermessensentscheidung unterliegt den Einschränkungen des § 114 Satz 1 VwGO (vgl. Debus, DVBl 2013, 9 <11>, Schönenbroicher, in: Christ/Oebbecke, Handbuch Kommunalabgabenrecht, 2016, D Rn. 704). Die angegriffene Entscheidung hält sich innerhalb der gesetzlich vorgegebenen Ermessenszwecke (a) und verletzt nicht den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG (b). 15 a) § 10 Abs. 2 IFG benennt zwei Gebührenzwecke. Danach soll einerseits der Verwaltungsaufwand bei der Gebührenbemessung berücksichtigt werden; andererseits darf dies nur in einer Weise geschehen, die gewährleistet, dass der Informationszugang nach § 1 IFG wirksam in Anspruch genommen werden kann. Hierbei handelt es sich um ein Verbot prohibitiver Gebühren bzw. ein sogenanntes Abschreckungsverbot. Der 7. Senat des Bundesverwaltungsgerichts hat hierzu Folgendes ausgeführt: "Diese Vorschrift ist Ausdruck des gesetzgeberischen Ziels, dass jeder gegenüber den Behörden und Einrichtungen des Bundes einen Anspruch auf Informationszugang haben soll, ohne hiervon durch erhebliche finanzielle Hürden abgeschreckt zu werden. Deshalb sollen Gebühren und Auslagen orientiert am Verwaltungsaufwand, jedoch nicht notwendig kostendeckend bemessen werden. Die Bemessung der Gebühren nach § 10 Abs. 2 IFG a.F. hat den Verwaltungsaufwand - nur - zu berücksichtigen, die wirksame Inanspruchnahme des Informationszugangs aber in vollem Umfang zu gewährleisten. Die Gebühren dürfen also nicht abschreckend wirken (vgl. BT-Drs. 15/4493 S. 6 und 16). Für die Frage einer abschreckenden Wirkung der Gebührenbemessung ist entscheidend, ob die Gebühr ihrer Höhe nach objektiv geeignet ist, potentielle Antragsteller von der Geltendmachung eines Anspruchs auf Informationszugang abzuhalten (vgl. Schoch, IFG, 2. Aufl. 2016, § 10 Rn. 73 bis 78)." (BVerwG, Urteil vom 20. Oktober 2016 - 7 C 6.15 - Buchholz 404 IFG Nr. 20 Rn. 18). 16 Dem schließt sich der erkennende Senat an. 17 aa) Die Berücksichtigung des Verwaltungsaufwands hat zwei Komponenten. Sie verlangt einerseits, dass dem Grunde nach Informationszugangsersuchen, die einen größeren Verwaltungsaufwand verursachen, höhere Gebühren nach sich ziehen als solche, die einen kleineren Verwaltungsaufwand verursachen. Andererseits macht das Wort "Berücksichtigung" deutlich, dass nicht der volle Verwaltungsaufwand abzubilden ist. Er ist lediglich in die Abwägung über die Gebührenhöhe einzustellen. Eine strikte Bindung an den Kostendeckungsgrundsatz, bei dem alle nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen zurechenbaren Kosten dem von der öffentlichen Leistung Begünstigten angelastet werden (Prömper/Stein, BGebG, 2019, § 9 Rn. 1), gebietet § 10 Abs. 2 IFG nicht (vgl. Debus, DVBl 2013, 9 <11>, Guckelberger, in: Fluck/Fischer/Martini, Informationsfreiheitsrecht, Stand Oktober 2018, § 10 IFG Bund Rn. 27; Sicko, in: Gersdorf/Paal, BeckOK Informations- und Medienrecht, Stand 1. August 2020, § 10 IFG Rn. 34). 18 Eine verfassungsrechtliche Pflicht zur strikten Anwendung des Kostendeckungsgrundsatzes besteht nicht; dieser gilt allein aufgrund allgemeinen Haushaltsrechts (Brüning, DÖV 2020, 430 <432>). Eine einfachrechtliche Abweichung - etwa um Verhaltensanreize zu geben oder soziale Zwecke zu verfolgen - ist zulässig, solange die Gebühren "nicht völlig unabhängig von den Kosten der gebührenpflichtigen Staatsleistung festgesetzt werden dürfen, und [...] die Verknüpfung zwischen den Kosten der Staatsleistung und den dafür auferlegten Gebühren nicht in einer Weise sich gestaltet, die, bezogen auf den Zweck der gänzlichen oder teilweisen Kostendeckung, sich unter keinem vernünftigen Gesichtspunkt als sachgemäß erweist" (BVerfG, Beschluss vom 6. Februar 1979 - 2 BvL 5/76 - BVerfGE 50, 217 <227>; vgl. auch Wild, DV 39 (2006) 493 <511>). Mit der Anordnung der Berücksichtigung des Verwaltungsaufwands derogiert § 10 Abs. 2 IFG den Kostendeckungsgrundsatz nicht; er modifiziert ihn nur. Hierfür besteht mit dem Transparenzziel des Informationsfreiheitsgesetzes (BT-Drs. 15/4493 S. 6) ein hinreichender sachlicher Grund. 19 Diesem modifizierten Kostendeckungsgrundsatz wird die Gebührenpraxis des Bundesministeriums des Innern gerecht. Der entstehende Verwaltungsaufwand wird nur zu einem Teil in Ansatz gebracht. Die einstündige Dienstleistung eines Beamten im höheren Dienst wird nur mit 60 € berechnet, obwohl nach den Berechnungen des Bundesministeriums der Finanzen insoweit tatsächliche Kosten in Höhe von 84,29 € anfallen. Sachkosten und sonstige kalkulatorische Kosten werden zudem überhaupt nicht berechnet. Durch den Ansatz des Zeitaufwands wird die durch das Gesetz vorgesehene Orientierung am Verwaltungsaufwand gewährleistet. 20 bb) Die Wahrung des Abschreckungsverbots ist nach objektiven Maßstäben zu bestimmen (BVerwG, Urteil vom 20. Oktober 2016 - 7 C 6.15 - Buchholz 404 IFG Nr. 20 Rn. 18). Der Behörde ist verwehrt, hierbei die individuellen Verhältnisse des Antragstellers oder dessen Motivlage zu berücksichtigen. Der Anspruch nach § 1 Abs. 1 IFG ist ein voraussetzungsloser Anspruch, bei dessen Geltendmachung diese Umstände gerade keine Rolle spielen. Sie können deswegen grundsätzlich auch nicht bei der Bestimmung der Gebührenhöhe berücksichtigt werden (s. aber unten Rn. 23 a.E.). 21 Die danach objektiv zu bestimmende Obergrenze für die Gebührenhöhe hat der Gesetzgeber nicht selbst festgelegt, weshalb in der Zukunft notwendig werdende Änderungen im einfacheren Verordnungswege bewerkstelligt werden können (Guckelberger, in: Fluck/Fischer/Martini, Informationsfreiheitsrecht, Stand Oktober 2018, § 10 IFG Bund Rn. 35). Allerdings lässt sich der Begründung des Gesetzentwurfs zum Informationsfreiheitsgesetz entnehmen, dass eine Obergrenze von 500 € für angemessen gehalten wurde. Dort heißt es, dass je nach Verwaltungsaufwand Gebühren bis zu 500 € erhoben werden können; dies sei ein Höchstsatz (BT-Drs. 15/4493 S. 16). 22 Gebühren bis zur genannten Höhe begegnen im Hinblick auf das Abschreckungsverbot keinen grundsätzlichen Bedenken. Dem Kläger ist zwar zuzugeben, dass das Informationsfreiheitsgesetz nicht nur der Wahrnehmung von Bürgerrechten, insbesondere der demokratischen Teilhabe und der demokratischen Meinungs- und Willensbildung (BT-Drs. 15/4493 S. 6), sondern auch dem Transparenzgedanken dient. Daraus ist aber nicht zu folgern, dass die Informationsgewährung tendenziell gebührenfrei sein müsse. Der Verordnungsgeber durfte sich von dem Gedanken leiten lassen, dass ein Bürger, der ein Interesse an einer amtlichen Information geltend macht, auch bereit sein wird, zu den Kosten der Informationsgewährung in einem angemessenen Umfang beizutragen, sofern er dadurch wirtschaftlich nicht überfordert wird. 23 Soweit sich die Behörde - wie hier - an die Vorgaben der Informationsgebührenverordnung hält, liegt im Hinblick auf das Abschreckungsverbot auch kein Ermessensfehler vor. Die Informationsgebührenverordnung setzt das Abschreckungsverbot des § 10 Abs. 2 IFG mit ihren differenzierten Tatbeständen und unterschiedlich hohen Maximalgebühren wirksam um. Der Maximalwert einiger Tarifstellen liegt wie hier bei 500 €. Andere Tarifstellen sehen zum Teil einen niedrigeren, keine einen höheren Maximalwert vor. So ist etwa für die Erteilung einer schriftlichen Auskunft auch bei Herausgabe von Abschriften (Tarifstelle 1.2) ein Gebührenrahmen von 30 bis 250 € und für die Herausgabe von Abschriften (Tarifstelle 2.1) ein Gebührenrahmen von 15 bis 125 € vorgesehen. Zudem kennt die Informationsgebührenverordnung auch gänzlich gebührenfreie Tarifstellen, etwa für einfache Auskünfte und die Herausgabe von wenigen Abschriften (Tarifstelle 1.1) oder für Veröffentlichungen nach § 11 IFG (Tarifstelle 4). Dass der Gebührenrahmen und dessen Anwendung die individuellen Verhältnisse des jeweiligen Antragstellers oder dessen Motivlage unberücksichtigt lässt, schließt im Übrigen nicht aus, die hiernach eigentlich gebotene Gebühr gemäß § 2 IFGGebV im Einzelfall aus Gründen der Billigkeit abzusenken oder ganz zu erlassen. Hierdurch kann - die freiwillige Offenlegung diesbezüglicher Daten vorausgesetzt - auf die wirtschaftlichen Verhältnisse eines Antragstellers einzelfallbezogen reagiert werden. 24 cc) Es liegt auch kein Fall einer missbräuchlichen Umgehung der Ermessenszwecke vor. Das könnte der Fall sein, wenn die Behörde ihre Bemessungsparameter so ausgestaltet, dass in nahezu jedem Fall die Höchstgebühr zur Anwendung gelangte (vgl. Schönenbroicher, in: Christ/Oebbecke, Handbuch Kommunalabgabenrecht 2016, D Rn. 708). Ein solcher Maßstab widerspräche dem von der Verordnung vorgegebenen Rahmen. Dass der hier bestehende Gebührenrahmen zu einem solchen Ergebnis führte, hat das Verwaltungsgericht weder festgestellt, noch ist dies sonst ersichtlich. Schon der vorliegende Fall widerspricht mit einer Gebührenhöhe von 235 € einer solchen Überlegung. 25 Auch kann die Annahme einer missbräuchlichen Gestaltung der Gebührenpraxis nicht auf den in der mündlichen Verhandlung von Klägerseite vorgebrachten Einwand gestützt werden, dass eine Gebührenfestsetzung am unteren Rand des Gebührenrahmens praktisch ausscheide, weil die Tarifstelle 2.2 stets einen deutlich höheren Verwaltungsaufwand verlange. Damit ist nicht dargetan, dass es nie zur Festsetzung einer Gebühr am unteren Rand des Gebührenrahmens kommen kann. Aus der genannten Tarifstelle ergibt sich zwar, dass sie einen Fall, der einen deutlich höheren Verwaltungsaufwand verursacht, insbesondere annimmt, wenn zum Schutz öffentlicher oder privater Belange Daten ausgesondert werden müssen. Im Einzelfall ist es aber nicht ausgeschlossen, dass ein solcher Fall mit geringem Zeitaufwand zu erledigen ist und folglich eine Gebühr am unteren Rand des Gebührenrahmens auslöst - etwa, wenn auf konkrete Vorarbeiten zurückgegriffen werden kann. 26 b) Die Ermessensentscheidung der Beklagten verstößt schließlich nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz. Der allgemeine Gleichheitssatz gebietet es, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln (stRspr, vgl. BVerfG, Beschluss vom 25. Juni 2014 - 1 BvR 668/10, 1 BvR 2104/10 - BVerfGE 137, 1 Rn. 47). 27 aa) Dem wird die im Streit stehende Gebührenregelung gerecht. Zwar werden sämtliche Anträge nach dem Informationsfreiheitsgesetz, die einen Aufwand von mehr als 8 Stunden und 20 Minuten Tätigkeit des höheren Dienstes verursachen, unterschiedslos mit einer Gebühr von 500 € belegt. Für die Einführung der Kappungsgrenze bei 500 € besteht jedoch ein hinreichender sachlicher Grund. Eine Kappungsgrenze kann insbesondere gerechtfertigt sein, um zu verhindern, dass die ansonsten stets weiter steigenden Beträge abschreckend auf ein an sich gesetzlich gewünschtes Verhalten wirken (BVerfG, Beschluss vom 13. Februar 2007 - 1 BvR 910/05, 1 BvR 1389/05 - BVerfGE 118, 1 <26 f.> = juris Rn. 96 ff.). So liegt der Fall auch hier. Das Abschreckungsverbot des § 10 Abs. 2 IFG dient gerade dazu, dem Transparenzgedanken des Informationsfreiheitsgesetzes (BT-Drs. 15/4493 S. 6) effektive Wirkung zu verschaffen. Der Bürger soll von dem gesetzgeberisch gewünschten Verhalten der Erlangung von amtlichen Informationen nicht durch zu hohe Belastungen abgehalten werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Oktober 2016 - 7 C 6.15 - Buchholz 404 IFG Nr. 20 Rn. 18). 28 bb) Dem allgemeinen Gleichheitssatz lässt sich darüber hinaus nicht entnehmen, dass das vom Verwaltungsgericht angeführte Prinzip der individuellen Gleichmäßigkeit in dem von ihm verstandenen Sinne anzuwenden ist. Ein solches mag seine Rechtfertigung in Konstellationen haben, bei denen ein größerer Gesamtverwaltungsaufwand auf eine Gruppe unterschiedlich Begünstigter zu verteilen ist, wie dies im Kommunalabgabenrecht häufig der Fall ist. Darum geht es hier jedoch nicht. Die Beklagte hat keinen Gesamtaufwand für die Bearbeitung von Anträgen nach dem Informationsfreiheitsgesetz auf eine Mehrzahl von Antragstellern zu verteilen. Vielmehr hat sie in einem Einzelfall nach den Vorgaben des § 10 Abs. 2 IFG über die richtige Gebührenhöhe zu entscheiden. 29 Anderes ergibt sich auch nicht aus dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. April 1967 - IV C 179.65 - (BVerwGE 26, 305 <312 f.>), auf das sich das Verwaltungsgericht bezieht. Dort ist lediglich beschrieben, dass unterschiedlich gestaffelte Festgebühren (nach dem Grundsatz der generellen Gleichmäßigkeit) ebenso gleichheitsgerecht sein können wie Rahmengebühren, die eine Ermessensentscheidung erforderlich machen. Der dort so benannte "Grundsatz der individuellen Gleichmäßigkeit", auf den sich das Verwaltungsgericht beruft, verlangt nicht die vom Verwaltungsgericht als allein ermessensgerecht angesehene Bestimmung der Gebührenhöhe. 30 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
bundesverwaltungsgericht
bverwg_2022-62
11.10.2022
Pressemitteilung Nr. 62/2022 vom 11.10.2022 EN Unzumutbarkeit der Passbeschaffung bei Erfordernis einer "Reueerklärung" Einem subsidiär schutzberechtigten Ausländer darf die Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer nicht mit der Begründung verweigert werden, er könne einen Pass seines Herkunftsstaates auf zumutbare Weise erlangen, wenn der Herkunftsstaat die Ausstellung eines Passes an die Unterzeichnung einer "Reueerklärung" knüpft, die mit der Selbstbezichtigung einer Straftat verbunden ist, und der Ausländer plausibel darlegt, dass er die Erklärung nicht abgeben will. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig heute entschieden. Der Kläger ist eritreischer Staatsangehöriger. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gewährte ihm subsidiären Schutz, weil ihm aufgrund seiner illegalen Ausreise aus Eritrea bei einer Rückkehr eine Inhaftierung drohe, die mit Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verbunden sei. Die Ausländerbehörde lehnte seinen Antrag auf Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer ab, weil es dem Kläger zuzumuten sei, bei der Botschaft Eritreas einen Passantrag zu stellen. Die darauf erhobene Verpflichtungsklage hatte in erster Instanz Erfolg. Auf die Berufung des Beklagten hat das Oberverwaltungsgericht die Klage abgewiesen. Die Voraussetzungen für die Ausstellung eines Reiseausweises seien nicht erfüllt. Anders als Flüchtlingen sei es subsidiär Schutzberechtigten grundsätzlich zumutbar, sich bei der Auslandsvertretung ihres Herkunftsstaates um die Ausstellung eines Nationalpasses zu bemühen. Eine Unzumutbarkeit im Sinne des § 5 Abs. 1 der Aufenthaltsverordnung bestehe daher auch dann, wenn dem Betroffenen ernsthafter Schaden durch staatliche Behörden drohe, nur bei Hinzutreten weiterer, hier nicht vorliegender Umstände, wie etwa der begründeten Furcht vor einer Gefährdung der im Heimatland lebenden Verwandten. Bemühungen um die Ausstellung eines eritreischen Nationalpasses seien dem Kläger nicht deshalb unzumutbar, weil in diesem Zusammenhang eine "Aufbau-" oder "Diasporasteuer" von 2% seines Einkommens zu entrichten sei. Zumutbar sei auch die vom eritreischen Konsulat verlangte Abgabe einer "Reueerklärung", in der der Erklärende bedauere, seiner "nationalen Pflicht" nicht nachgekommen zu sein, und erkläre, auch eine eventuell dafür verhängte Strafe zu akzeptieren. Der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts hat die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts geändert und das erstinstanzliche Urteil wiederhergestellt. Der Kläger kann die Ausstellung eines Reiseausweises beanspruchen, weil er einen eritreischen Pass nicht zumutbar erlangen kann und auch die sonstigen Voraussetzungen vorliegen. Zwar ist es einem subsidiär Schutzberechtigten anders als einem Flüchtling grundsätzlich zumutbar, einen Passantrag bei den Behörden des Herkunftsstaates zu stellen. Ob etwas Anderes schon dann gilt, wenn der subsidiäre Schutz dem Ausländer wegen eines von staatlichen Stellen gezielt drohenden ernsthaften Schadens zuerkannt worden ist, bedurfte keiner Entscheidung. Denn jedenfalls ist dem Kläger nicht zuzumuten, die beschriebene Reueerklärung abzugeben. Die insoweit vorzunehmende Abwägung zwischen seinen Grundrechten und den staatlichen Interessen, die auf die Personalhoheit des Herkunftsstaates Rücksicht zu nehmen haben, geht hier zu seinen Gunsten aus. Die in der Reueerklärung enthaltene Selbstbezichtigung einer Straftat darf ihm gegen seinen plausibel bekundeten Willen auch dann nicht abverlangt werden, wenn sich – wie vom Berufungsgericht festgestellt – die Wahrscheinlichkeit einer Bestrafung dadurch nicht erhöht und das Strafmaß gegebenenfalls sogar verringert. BVerwG 1 C 9.21 - Urteil vom 11. Oktober 2022 Vorinstanzen: OVG Lüneburg, OVG 8 LB 97/20 - Urteil vom 18. März 2021 - VG Hannover, VG 12 A 2452/19 - Urteil vom 20. Mai 2020 -
Urteil vom 11.10.2022 - BVerwG 1 C 9.21ECLI:DE:BVerwG:2022:111022U1C9.21.0 EN Unzumutbarkeit der Passbeschaffung bei Erfordernis einer "Reueerklärung" Leitsatz: Einem subsidiär schutzberechtigten Ausländer darf die Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer nicht mit der Begründung verweigert werden, er könne einen Pass seines Herkunftsstaates auf zumutbare Weise erlangen, wenn der Herkunftsstaat für die Ausstellung eines Passes an die Unterzeichnung einer "Reueerklärung" knüpft, die mit der Selbstbezichtigung einer Straftat verbunden ist, und der Ausländer plausibel darlegt, dass er die Erklärung nicht abgeben will. Rechtsquellen AufenthV §§ 5, 6, 9 AufenthG § 48 Abs. 3 und 4, § 95 Abs. 1 Nr. 1 AsylG §§ 4, 72 Abs. 1 Nr. 1, § 73b RL 2011/95/EU Art. 3, 25 Abs. 1 und 2 GG Art. 2 Abs. 1 EMRK Art. 3 Zusatzprotokoll Nr. 4 zur EMRK Art. 2 GFK Art. 28 Instanzenzug VG Hannover - 20.05.2020 - AZ: 12 A 2452/19 OVG Lüneburg - 18.03.2021 - AZ: 8 LB 97/20 Zitiervorschlag BVerwG, Urteil vom 11.10.2022 - 1 C 9.21 - [ECLI:DE:BVerwG:2022:111022U1C9.21.0] Urteil BVerwG 1 C 9.21 VG Hannover - 20.05.2020 - AZ: 12 A 2452/19 OVG Lüneburg - 18.03.2021 - AZ: 8 LB 97/20 In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 11. Oktober 2022 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Keller, die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Fleuß, Dollinger und Böhmann sowie die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Wittkopp für Recht erkannt: Das Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 18. März 2021 wird geändert. Die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover vom 20. Mai 2020 wird zurückgewiesen. Der Beklagte trägt die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens. Gründe I 1 Der 1985 geborene Kläger ist eritreischer Staatsangehöriger und begehrt die Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) hatte ihm im September 2015 den subsidiären Schutzstatus zuerkannt und den weitergehenden Asylantrag abgelehnt. Der Schutzgewährung lag die Annahme zugrunde, dass dem Kläger wegen seiner illegalen Ausreise bei einer Rückkehr nach Eritrea ein ernsthafter Schaden drohe, insbesondere eine Inhaftierung auf unbestimmte Zeit unter unmenschlichen oder erniedrigenden Bedingungen. 2 Die beklagte Ausländerbehörde lehnte es mit Bescheid vom 9. April 2019 ab, dem Kläger auf seinen Antrag einen Reiseausweis für Ausländer auszustellen, weil es ihm zuzumuten sei, bei der eritreischen Botschaft einen Passantrag zu stellen. 3 Das Verwaltungsgericht hat den Beklagten verpflichtet, dem Kläger einen Reiseausweis für Ausländer auszustellen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass es dem Kläger jedenfalls unzumutbar sei, die vom eritreischen Staat an die Passausstellung geknüpfte Bedingung der Unterzeichnung einer Reueerklärung zu erfüllen. Er habe glaubhaft und nachvollziehbar dargelegt, dass er sich hierzu nicht imstande sehe, weil er dieses Konstrukt zur Bereinigung seines Verhältnisses zum eritreischen Staat und zur Wiedererlangung seiner staatsbürgerlichen Rechte ablehne. 4 Das Oberverwaltungsgericht hat die erstinstanzliche Entscheidung geändert und die Klage abgewiesen. Die Voraussetzungen für die Ausstellung eines Reiseausweises seien nicht erfüllt, weil der Kläger einen eritreischen Pass auf zumutbare Weise erlangen könne. Subsidiär Schutzberechtigten sei es grundsätzlich zumutbar, sich bei den Auslandsvertretungen des Herkunftsstaates um die Ausstellung eines Nationalpasses zu bemühen. Während Flüchtlinge einen Reiseausweis für Flüchtlinge beanspruchen könnten, stellten die Mitgliedstaaten nach Art. 25 Abs. 2 RL 2011/95/EU subsidiär Schutzberechtigten Reisedokumente nur dann aus, wenn diese keinen nationalen Pass erlangen könnten. Schutzgrund des Flüchtlingsstatus sei der Ausschluss aus der staatlichen Friedensordnung aufgrund eines bestimmten Merkmals. Dem sei die Gefahr eines ernsthaften Schadens selbst dann nicht vergleichbar, wenn sie vom Staat ausgehe. Aus der in § 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylG enthaltenen Wertung folge hier keine Unzumutbarkeit der Passbeantragung. Diese Regelung über das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft für den Fall, dass der Ausländer sich freiwillig unter anderem durch Annahme oder Erneuerung eines Nationalpasses erneut dem Schutz seines Herkunftsstaates unterstellt, sei auf den subsidiären Schutz weder unmittelbar noch analog anwendbar. Eine Unzumutbarkeit im Sinne des § 5 Abs. 1 AufenthV bestehe daher auch dann, wenn der drohende ernsthafte Schaden von staatlichen Behörden ausgehe, nur bei Hinzutreten weiterer Umstände, wie etwa der begründeten Furcht vor einer Gefährdung der im Heimatland lebenden Verwandten. Diese Befürchtung des Klägers sei indes nach der aktuellen Erkenntnislage unbegründet. Bemühungen um die Ausstellung eines eritreischen Nationalpasses seien dem Kläger auch nicht deshalb unzumutbar, weil in diesem Zusammenhang eine "Aufbau-" oder "Diasporasteuer" von 2 % zu entrichten sei. Der Umstand, dass der Kläger gegenüber dem Konsulat eine sogenannte Reueerklärung abzugeben hätte, führe ebenfalls nicht zur Unzumutbarkeit der Erlangung eines Nationalpasses. Zwar stehe fest, dass alle illegal ausgereisten eritreischen Staatsangehörigen im dienstfähigen Alter konsularische Dienstleistungen wie die Ausstellung eines Reisepasses nur gegen Abgabe einer Reueerklärung in Anspruch nehmen könnten. Diese sei indes zumutbar. Der entgegenstehende Wille sei auch unter Beachtung des grundrechtlich geschützten Persönlichkeitsrechts unbeachtlich. Abgabe und Entgegennahme der Erklärung gingen nach den Umständen mit einer geringen Ernsthaftigkeitserwartung einher. Die Erklärung sei nur eine Formalie im Passantragsverfahren, mit der der Unterzeichnende zu erkennen geben solle, dass er den eritreischen Staat akzeptiere. Bei der Erklärung handele es sich auch nicht um eine Selbstbezichtigung im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Eine imperative Pflicht zur Unterzeichnung der Reueerklärung bestehe gerade nicht. Mit dem Eingeständnis, den nationalen Pflichten nicht nachgekommen zu sein, gebe der Kläger zudem weder eine unwahre Erklärung ab, noch schaffe er die Grundlage für eine Bestrafung. Die strafbarkeitsbegründende illegale Ausreise des Klägers sei dem eritreischen Staat ohnehin bekannt. Die Reueerklärung erhöhe deshalb das bestehende Risiko einer Strafverfolgung nicht. Sie ermögliche unter Umständen die Erlangung des Diaspora-Status und damit sogar eine Verbesserung der Rechtsposition. Die Abgabe der Reueerklärung und eine anschließende Erlangung eines eritreischen Passes hätten schließlich nicht den Widerruf des dem Kläger zuerkannten Schutzstatus zur Folge. 5 Mit der Revision rügt der Kläger sinngemäß eine Verletzung von § 5 Abs. 1 und 2 AufenthV. Die für die Erlangung eines Nationalpasses erforderliche Abgabe einer Reueerklärung sei ihm nicht zuzumuten. Es sei nicht absehbar, welcher Bestrafung er sich damit aussetze. Da der Widerruf des Schutzstatus und damit eine mögliche Abschiebung nach Eritrea drohe, sei die Gefahr persönlicher Konsequenzen durchaus real. Auch im Falle einer Auslandsreise in ein Drittland könne es zu einer Abschiebung nach Eritrea kommen. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers werde verletzt, wenn ihm die Abgabe der - unwahren - Reueerklärung angesonnen würde. Denn er bereue seine Flucht aus Eritrea und die damit verbundenen Gesetzesbrüche gerade nicht. Ihm würde ein Schuldeingeständnis abverlangt, das auf einer gesetzlichen Drucksituation beruhe. 6 Der Beklagte und die Vertreterin des Bundesinteresses verteidigen das angegriffene Urteil. II 7 Die zulässige Revision des Klägers ist begründet. Die Rechtsauffassung des Oberverwaltungsgerichts, der Kläger könne einen eritreischen Nationalpass auf zumutbare Weise erlangen, verletzt § 5 AufenthV (§ 137 Abs. 1 VwGO). Dem Kläger ist es entgegen der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts jedenfalls nicht zuzumuten, die für die Erlangung eines Nationalpasses erforderliche Reueerklärung abzugeben (1.). Der Senat kann den Rechtsstreit auf der Grundlage der vorhandenen tatrichterlichen Feststellungen gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO abschließend zugunsten des Klägers entscheiden. Die weiteren Voraussetzungen für die Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer sind ebenfalls erfüllt; Ausschlussgründe liegen nicht vor. Das damit nach § 5 Abs. 1 AufenthV eröffnete Ermessen ist infolge vorrangigen Unionsrechts auf Null reduziert (2.). 8 1. Nach § 5 Abs. 1 der Aufenthaltsverordnung (AufenthV) in der Fassung der Vierten Verordnung zur Änderung der Aufenthaltsverordnung vom 15. Juni 2009 (BGBl. I S. 1287) kann einem Ausländer, der nachweislich keinen Pass oder Passersatz besitzt und ihn nicht auf zumutbare Weise erlangen kann, nach Maßgabe der nachfolgenden Bestimmungen ein Reiseausweis für Ausländer ausgestellt werden. Im Inland darf ein Reiseausweis für Ausländer nach Maßgabe des § 5 AufenthV unter anderem dann ausgestellt werden, wenn der Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis besitzt (§ 6 Satz 1 Nr. 1 AufenthV). Diese Voraussetzungen liegen in der Person des Klägers im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung des Tatsachengerichts vor. Nach den für das Revisionsgericht bindenden tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts besitzt er weder einen Pass noch einen Passersatz und ist er im Besitz einer derzeit bis zum 8. November 2022 gültigen Aufenthaltserlaubnis. Der Kläger kann einen Pass oder (nichtdeutschen) Passersatz auch nicht auf zumutbare Weise erlangen; die gegenteilige Rechtsauffassung des Berufungsgerichts ist mit Bundesrecht nicht vereinbar. 9 Nach § 5 Abs. 2 Nr. 2 AufenthV gilt es insbesondere als zumutbar, in der den Bestimmungen des deutschen Passrechts, insbesondere den §§ 6 und 15 des Passgesetzes in der jeweils geltenden Fassung, entsprechenden Weise an der Ausstellung oder Verlängerung mitzuwirken und die Behandlung eines Antrages durch die Behörden des Herkunftsstaates zu dulden, sofern dies nicht zu einer unzumutbaren Härte führt. Zumutbar ist außerdem die Erfüllung zumutbarer staatsbürgerlicher Pflichten (§ 5 Abs. 2 Nr. 3 AufenthV). 10 Die Entscheidung über die Zumutbarkeit erfordert eine Abwägung der Interessen des Ausländers unter Beachtung seiner Grundrechte und der Werteordnung des Grundgesetzes einerseits mit den staatlichen Interessen, insbesondere der dadurch geforderten Rücksichtnahme auf die Personalhoheit des Herkunftsstaates, andererseits. Dabei muss auch auf den Nachdruck, mit dem der andere Staat seine Personalhoheit geltend macht, sowie auf die zu diesem Staat bestehenden Beziehungen Bedacht genommen werden (vgl. BVerwG, Beschluss vom 29. September 1988 - 1 B 106.88 - Buchholz 402.24 § 4 AuslG 1965 Nr. 4 S. 2). Aufseiten des Ausländers ist die von Art. 2 Abs. 1 GG (BVerfG, Urteil vom 16. Januar 1957 - 1 BvR 253/56 - BVerfGE 6, 32 <34>), sowie von Art. 2 Nr. 2 des Protokolls Nr. 4 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 16. September 1963 (Zusatzprotokoll Nr. 4 zur EMRK), durch das gewisse Rechte und Freiheiten gewährleistet werden, die nicht bereits in der Konvention oder im ersten Zusatzprotokoll enthalten sind, geschützte Ausreisefreiheit zu berücksichtigen. Nach Art. 2 Nr. 2 Zusatzprotokoll Nr. 4 zur EMRK steht es jeder Person frei, jedes Land, einschließlich des eigenen, zu verlassen. Die Ausübung dieses Rechts darf gemäß Art. 2 Nr. 3 des genannten Protokolls nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale oder öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Die Weigerung eines Aufnahmestaates, einem subsidiär schutzberechtigten Ausländer ein Reisedokument auszustellen, weil dieser bei den Behörden seines Herkunftsstaates einen Pass beantragen könne, stellt einen Eingriff in die so geschützte Ausreisefreiheit dar (EGMR, Urteil vom 14. Juni 2022 - Nr. 38121/20 [ECLI:​CE:​ECHR:​2022:​0614JUD003812120], L.B. v. Lithuania - Rn. 81). Dieser ist gerechtfertigt, wenn die Ablehnung der Ausstellung eines Reisedokuments in einer demokratischen Gesellschaft zur Erreichung eines der abschließend aufgeführten legitimen Ziele, hier etwa der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, notwendig und verhältnismäßig ist. 11 Im Hinblick auf den mit der Ausstellung eines Reiseausweises verbundenen Eingriff in die Personalhoheit eines anderen Staates und die zu berücksichtigenden zwischenstaatlichen Belange, die als Bestandteil der öffentlichen Ordnung in dem vorgenannten Sinne anzusehen sind, ist der Ausländer grundsätzlich gehalten, sich bei den Behörden seines Herkunftsstaates um die Ausstellung eines Nationalpasses zu bemühen. Die Erteilung eines Reiseausweises für Ausländer kommt nur in Betracht, wenn solche Bemühungen nachweislich ohne Erfolg geblieben sind. Erfolglose Bemühungen um die Ausstellung eines Nationalpasses sind nur im Ausnahmefall entbehrlich, wobei der Ausländer die einen Ausnahmefall begründenden Umstände darzulegen hat. 12 1.1 Das Berufungsgericht ist zunächst zutreffend davon ausgegangen, dass ein Ausnahmefall nicht allein deshalb vorliegt, weil es sich bei dem Antragsteller um einen subsidiär Schutzberechtigten handelt. Auch subsidiär Schutzberechtigten ist es nicht schon allein wegen des ihnen zuerkannten Schutzstatus unzumutbar, bei der Auslandsvertretung ihres Herkunftsstaates einen nationalen Pass zu beantragen. Dies ergibt sich aus den Unterschieden der Rechtsstellung anerkannter Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigter nach den einschlägigen Rechtsvorschriften vor allem des Unionsrechts. 13 Anerkannte Flüchtlinge haben nach Art. 25 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337 S. 9, ber. ABl. 2017 L 167 S. 58) (RL 2011/95/EU) i. V. m. Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GFK einen Anspruch auf Ausstellung eines Reiseausweises für Flüchtlinge für Reisen außerhalb ihres Gebiets, soweit nicht zwingende Gründe der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung dem entgegenstehen. Demgegenüber müssen die Mitgliedstaaten Personen, denen der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt wurde, ein entsprechendes Reisedokument nur bei Vorliegen der einschränkenden zusätzlichen Voraussetzung ausstellen, dass sie keinen nationalen Pass erhalten können (so ausdrücklich Art. 25 Abs. 2 RL 2011/95/EU). Das im 39. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95/EU erwähnte Ziel, subsidiär Schutzberechtigten dieselben Rechte und Leistungen zu denselben Bedingungen zu gewähren wie Flüchtlingen, ist damit in Bezug auf Reisedokumente nicht vollständig verwirklicht; insoweit hat der Unionsgesetzgeber mit der Differenzierung in Art. 25 Abs. 1 und 2 RL 2011/95/EU zu erkennen gegeben, dass er hier eine Ausnahme für - im Sinne des 39. Erwägungsgrundes - notwendig und sachlich gerechtfertigt hält. 14 Die Entstehungsgeschichte der Regelung bestätigt dies: Vor Einführung der Vorgängerregelung (Art. 25 Abs. 2 RL 2004/83/EG) hatte das Europäische Parlament der Kommission vorgeschlagen, die beabsichtigte Regelung in Art. 25 Abs. 2 (dem damaligen Art. 23 Abs. 2 des Entwurfs der Kommission) dahin zu ändern, dass die Mitgliedstaaten Personen mit subsidiärem Schutzstatus Reisedokumente "unter den gleichen wie den in Absatz 1 erwähnten Bedingungen" ausstellen (Bericht des Ausschusses für die Freiheiten und Rechte der Bürger, Justiz und innere Angelegenheiten vom 8. Oktober 2002, KOM<2001> 510 - C5-0573/2001 - 2001/0207 <CNS>, Änderungsantrag 67, S. 40). Der Änderungsantrag des Parlaments wurde durch die Kommission indes abgelehnt und nicht in die Regelung des Art. 25 Abs. 2 RL 2004/83/EU aufgenommen. Die erwähnte Einschränkung ist auch im derzeit geltenden Art. 25 Abs. 2 RL 2011/95/EU weiterhin enthalten. Lediglich die in der Vorgängernorm noch enthaltene weitere Einschränkung, wonach subsidiär Schutzberechtigten, die keinen Nationalpass erhalten konnten, nur "zumindest" dann Reisedokumente durch die Mitgliedstaaten ausgestellt werden sollten, wenn schwerwiegende humanitäre Gründe die Anwesenheit des Betroffenen in einem anderen Staat erforderten, ist weggefallen. Damit ist zwar eine gewisse Angleichung an die für die Flüchtlinge geltende Regelung dahingehend erfolgt, dass die Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer bei subsidiär Schutzberechtigten nicht mehr an einen konkreten Reiseanlass geknüpft werden darf. Am Fortbestehen der - im Vergleich zu Art. 25 Abs. 1 RL 2011/95/EU - zusätzlichen Voraussetzung der Unmöglichkeit der Erlangung eines Nationalpasses hat sich hingegen nichts geändert. Hieran wird auch in Art. 25 des Kommissionsvorschlags für eine Anerkennungsverordnung vom 13. Juli 2016 (KOM<2016> 466 endg.) festgehalten. 15 Es spricht im Übrigen viel dafür, dass es sich bei Art. 25 Abs. 2 RL 2011/95/EU nicht lediglich um eine Mindestregelung dergestalt handelt, dass es den Mitgliedstaaten unbenommen wäre, subsidiär Schutzberechtigten einen Anspruch auf Reisedokumente unter denselben Voraussetzungen zu gewähren wie Flüchtlingen (vgl. Art. 3 RL 2011/95/EU). Denn ausweislich der Entwurfsbegründung der Richtlinie 2004/83/EG sollte mit der einschränkenden Formulierung "sichergestellt werden, dass den Begünstigten des subsidiären Schutzstatus nur dann Reisedokumente ausgestellt werden, wenn sie keinen Nationalpass erhalten können, weil es beispielsweise keine funktionierenden Konsularbehörden mehr gibt" (KOM<2001> 510 endg.; Ratsdok. 13620/01, BR-Drs. 1017/01 S. 34). 16 1.2 Der Senat kann offenlassen, ob es einem subsidiär Schutzberechtigten generell schon dann unzumutbar ist, sich bei der Auslandsvertretung seines Herkunftsstaates um die Erteilung eines nationalen Passes zu bemühen, wenn ihm der subsidiäre Schutzstatus aufgrund einer gezielten Bedrohung durch staatliche Behörden (im Unterschied zu drohender willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts oder einer Bedrohung durch private Akteure, gegen die der Staat keinen wirksamen Schutz gewährt) zuerkannt worden ist (vgl. etwa Marx, AsylG, 11. Aufl. 2022, § 4 AsylG Rn. 90; ders., Handbuch zum Flüchtlingsschutz: Erläuterungen zur Qualifikationsrichtlinie, 2. Aufl. 2012, § 57 Rn. 12; VG Aachen, Urteil vom 10. Juni 2020 - 4 K 2580/18 [ECLI:​DE:​VGAC:​2020:​0610.4K2580.18.00] - juris Rn. 40; in anderem Zusammenhang auch BT-Drs. 19/10047 S. 38) oder ob auch in dieser Fallgruppe für eine Unzumutbarkeit weitere Umstände hinzutreten müssen (so etwa Berufungsgericht UA S. 9 f.; OVG Münster, Beschluss vom 25. November 2021 - 18 E 660/21 [ECLI:​DE:​OVGNRW:​2021:​1125.18E660.21.00] - juris Rn. 14 ff.; wohl auch VGH München, Urteil vom 25. November 2021 - 19 B 21.17 89 - juris Rn. 67 ff.). Denn dem Kläger ist die Passbeschaffung jedenfalls deshalb nicht zuzumuten, weil sein Herkunftsstaat die Ausstellung an eine Bedingung knüpfen wird, deren Erfüllung ihm nicht abverlangt werden kann (siehe unter 1.3). 17 1.3 Es ist dem Kläger nicht zumutbar, die sogenannte Reueerklärung abzugeben, von deren Unterzeichnung die eritreische Auslandsvertretung die Ausstellung eines Passes abhängig machen würde. Dabei handelt es sich nach den für den Senat bindenden tatrichterlichen Feststellungen (§ 137 Abs. 2 VwGO) um einen aus zwei Sätzen bestehenden, zu unterschreibenden Passus am Ende des Formulars "4/4.2" mit dem Titel "Immigration and Citizenship Services Request Form", in dem der Erklärende bedauert, seiner nationalen Pflicht nicht nachgekommen zu sein und erklärt, eine eventuell dafür verhängte Strafe zu akzeptieren (UA S. 14 f.). Das Berufungsgericht hat ebenso bindend festgestellt, dass der Kläger als eritreischer Staatsangehöriger im dienstfähigen Alter, der illegal ausgereist ist, ohne den Nationaldienst (vollständig) erfüllt zu haben, konsularische Dienstleistungen wie die Ausstellung eines Reisepasses nur gegen Unterzeichnung einer solchen Reueerklärung wird in Anspruch nehmen können. Nachvollziehbar und ohne Verstoß gegen allgemein anerkannte Auslegungsregeln hat das Berufungsgericht in dieser Erklärung neben einem Ausdruck des Bedauerns oder Bereuens als solchem auch die Selbstbezichtigung einer Straftat - nämlich der nach eritreischem Recht strafbaren illegalen Ausreise - gesehen. 18 Jedenfalls im Hinblick auf diese Selbstbezichtigung ist dem Kläger die Abgabe der Erklärung gegen seinen ausdrücklich und plausibel bekundeten Willen entgegen der Auffassung der Vorinstanz nicht zumutbar. 19 a) Bei der erforderlichen Interessenabwägung zwischen dem staatlichen Interesse einerseits, das auf die Pass- und Personalhoheit des Herkunftsstaates Rücksicht zu nehmen hat, und den Grundrechten des Ausländers andererseits ist neben dessen Ausreisefreiheit hier auch dessen allgemeines Persönlichkeitsrecht zu berücksichtigen. Das durch Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützte allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts den Schutz vor einem Zwang zur Selbstbezichtigung. Es schützt davor, dass in einem deutschen Strafverfahren Aussagen verwendet werden, die aufgrund eines Zwangs zur Selbstbezichtigung getätigt worden sind. Der Einzelne soll vom Staat grundsätzlich nicht in eine Konfliktlage gebracht werden, in der er sich selbst strafbarer Handlungen oder ähnlicher Verfehlungen bezichtigen muss (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26. Februar 1997 - 1 BvR 2172/96 - BVerfGE 95, 220 <241>). 20 Der vom Bundesverfassungsgericht so umschriebene Schutz ist auf das Strafverfahren ausgerichtet und bezeichnet ergebnishaft diejenigen Fälle, in denen das allgemeine Persönlichkeitsrecht verletzt ist, also ein verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigter Eingriff in dessen Schutzbereich vorliegt. Der Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist indessen nach Auffassung des Senats weiter gefasst. Er ist auch dann eröffnet, wenn zwar kein mit Beugemitteln durchsetzbarer oder strafrechtlich sanktionierter Zwang zur Selbstbelastung vorliegt, aber der Einzelne zur Erlangung einer staatlichen Leistung, auf die er grundsätzlich einen Anspruch hat, auf die Abgabe einer Selbstbezichtigung verwiesen wird. 21 So liegt der Fall hier: Zwar dürfte das Berufungsgericht zutreffend festgestellt haben, dass eine imperative Verpflichtung zur Unterzeichnung der Reueerklärung nicht existiert. Denn der Kläger macht sich durch den Nichtbesitz eines Passes und Passersatzes nach aktueller strafgerichtlicher Rechtsprechung nicht wegen Verstoßes gegen die Ausweispflicht nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG strafbar (vgl. BayObLG, Urteil vom 12. Juli 2021 - 203 StRR 171/21 [ECLI:​DE:​BAYOBLG:​2021:​0712.203STRR171.21.00] - juris). Er kann zur Abgabe der Reueerklärung allein auf der Grundlage der gesetzlichen Mitwirkungspflicht an Passbeschaffungsbemühungen der Behörde (§ 48 Abs. 4 Satz 2 i. V. m. Abs. 3 AufenthG) auch nicht mit Beugemitteln gezwungen werden (zur mangelnden Durchsetzbarkeit der sogenannten Freiwilligkeitserklärung vgl. BVerwG, Urteil vom 10. November 2009 - 1 C 19.08 - BVerwGE 135, 219 Rn. 17 f.). Aus dem Umstand, dass der Kläger daher selbst über die Abgabe der Reueerklärung entscheidet und diese auch unterlassen kann, folgt aber noch nicht, dass die Versagung des Reiseausweises durch den Beklagten mit den Grundrechten des Klägers von vornherein nicht in Konflikt geraten kann. Denn dann müsste er auf die Erlangung eines zur Durchführung von Auslandsreisen berechtigenden Dokuments insgesamt verzichten. Einen solchen Verzicht mutet ihm Art. 25 Abs. 2 RL 2011/95/EU gerade nicht zu. Diese Regelung gewährt subsidiär Schutzberechtigten ein nicht (mehr) auf dringliche humanitäre Anlässe beschränktes Recht zur Durchführung von Auslandsreisen. Damit trägt sie auch dem Recht auf Freizügigkeit nach Art. 2 Nr. 2 Zusatzprotokoll Nr. 4 zur EMRK Rechnung (vgl. dazu EGMR, Urteil vom 14. Juni 2022 - Nr. 38121/20 - Rn. 81). Vorbehaltlich entgegenstehender Gründe der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung soll jeder subsidiär Schutzberechtigte entweder mit einem nationalen Pass, oder, wenn er einen solchen (auf zumutbare Weise) nicht erhalten kann, mit einem mitgliedstaatlichen Reisedokument Auslandsreisen unternehmen können. 22 Der Begriff der Zumutbarkeit muss deshalb zum einen so ausgelegt und angewendet werden, dass die grundrechtlich geschützte Ausreisefreiheit keinen unverhältnismäßigen, in einem demokratischen Staat nicht notwendigen Einschränkungen unterworfen wird. Zum anderen liegt in dem positiven Verweis auf die die Abgabe einer Selbstbezichtigung erfordernde Beschaffung eines Nationalpasses und der damit einhergehenden Versagung eines Reiseausweises für Ausländer durch die Ausländerbehörde auch ein mittelbarer Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht (ebenso VG Hannover, Urteil vom 20. Mai 2020 - 12 A 5005/18 [ECLI:​DE:​VGHANNO:​2020:​0520.12A5005.18.00] - juris Rn. 40; VG Schleswig, Urteil vom 25. Juni 2021 - 11 A 270/20 [ECLI:​DE:​VGSH:​2021:​0625.11A270.20.00] - juris Rn. 42 f.; Ujkašević, ZAR 2022, 263 <269>). Das gilt jedenfalls dann, wenn der Betroffene plausibel darlegt, dass er zu der Selbstbezichtigung freiwillig nicht bereit ist. Die Grundrechte verpflichten den Staat nach Maßgabe des faktisch und rechtlich Möglichen auch dazu, den Einzelnen vor Verletzungen der Menschenwürde oder elementarer rechtsstaatlicher Grundsätze von Seiten ausländischer Staatsgewalt zu schützen (vgl. BVerfG, Urteil vom 20. April 2016 - 1 BvR 966/09, 1 BvR 1140/09 [ECLI:​DE:​BVerfG:​2016:​rs20160420.1bvr096609] - BVerfGE 141, 220 Rn. 326 - 328; Kunig/Kotzur, in: von Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, 7. Aufl. 2021, Art. 1 Rn. 49). 23 b) Die hiernach vorzunehmende Abwägung zwischen der grundrechtlich geschützten Ausreisefreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG sowie Art. 2 Nr. 2 Zusatzprotokoll Nr. 4 zur EMRK) und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) des Klägers einerseits und den staatlichen Interessen, namentlich dem Interesse an gebührender Rücksichtnahme auf die Pass- und Personalhoheit Eritreas, andererseits, geht vorliegend zugunsten des Klägers aus. 24 aa) Die für die Passerteilung geforderte Erklärung, unter Verletzung der nationalen Pflichten illegal ausgereist zu sein und eine eventuell dafür verhängte Strafe zu akzeptieren, ist unter Berücksichtigung der widerstreitenden Belange für einen eritreischen Staatsangehörigen, der plausibel bekundet, die Erklärung nicht abgeben zu wollen, weder eine nach § 5 Abs. 2 Nr. 2 AufenthV zumutbare Mitwirkungshandlung noch eine "zumutbare staatsbürgerliche Pflicht" im Sinne von § 5 Abs. 2 Nr. 3 AufenthV. 25 Unter zumutbaren staatsbürgerlichen Pflichten versteht der Verordnungsgeber insbesondere "jeweils auch im Einzelfall zumutbare Anforderungen der Registrierung bei Auslandsvertretungen auswärtiger Staaten einschließlich der Erteilung zumutbarer Auskünfte, der Beantragung einer Befreiung von Präsenzpflichten im Herkunftsstaat, der Zahlung von Steuern und Abgaben, der Erfüllung von Zivilschutzaufgaben nach dem Recht des Herkunftsstaates oder zur Ableistung eines Zivildienstes" (vgl. BR-Drs. 731/04 S. 152 f.). 26 Vom Herkunftsstaat geforderte Mitwirkungshandlungen, die in den Bestimmungen des deutschen Passrechts keine Entsprechung haben, sind dem Ausländer unter Berücksichtigung dieser Vorgaben gegen seinen Willen nur zuzumuten, soweit sie mit grundlegenden rechtsstaatlichen Anforderungen vereinbar sind. Das ist bei der Reueerklärung nicht der Fall. Die Verknüpfung einer Selbstbezichtigung mit der Ausstellung eines Reisepasses entfernt sich so weit von einer rechtsstaatlichen Verfahrensgestaltung, dass der Ausländer sich darauf gegen seinen Willen von der Ausländerbehörde nicht verweisen lassen muss. Dabei fällt ins Gewicht, dass es sich nicht um eine - grundsätzlich zumutbare - Auskunftspflicht handelt, der ein legitimes Interesse staatlicher Aufgabenerfüllung zugrunde liegt. Ein legitimes Auskunftsinteresse des eritreischen Staates ist vielmehr auch und gerade auf der Grundlage der Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts nicht erkennbar. Zudem ist nach den tatrichterlichen Feststellungen nichts dafür ersichtlich, dass diese von den eritreischen Auslandsvertretungen praktizierte Voraussetzung im "Recht des Herkunftsstaates" (vgl. § 5 Abs. 2 Nr. 2 AufenthV) irgendeine formelle Grundlage hätte. 27 Mit der Erklärung, die bei illegal ausgereisten Eritreern der Legalisierung des "Status gegenüber ihrem Herkunftsstaat" (UA S. 18) dient, soll der Unterzeichner nach der Auslegung des Berufungsgerichts zu erkennen geben, "dass er den eritreischen Staat akzeptiert" (UA S. 21). Damit verbunden ist nicht nur eine "Anerkennung der staatlichen Souveränität und Vorherrschaft Eritreas" (UA S. 21), sondern dem Wortlaut nach auch eine rechtsstaatliche Grenzen nicht einfordernde Unterwerfung unter die eritreische Strafgewalt. Im Unterschied zu der "Freiwilligkeitserklärung", an die der iranische Staat die Passausstellung an ausreisepflichtige Staatsbürger knüpft und die der Senat für zumutbar erachtet hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 10. November 2009 - 1 C 19.08 - BVerwGE 135, 219 Rn. 15), wird eritreischen Staatsangehörigen mit der Reueerklärung somit auch ein Loyalitätsbekenntnis zu ihrem Herkunftsstaat abgefordert. Eine solche Selbstbezichtigung ist dem Kläger gegen seinen ausdrücklichen Willen nicht zuzumuten. Dies gilt umso mehr, als es in Eritrea nach den Feststellungen des Berufungsgerichts kein rechtsstaatliches Verfahren gibt (UA S. 18) und dem Kläger gerade deshalb subsidiärer Schutz gewährt worden ist, weil ihm wegen der Straftat, die er mit der Reueerklärung schriftlich eingestehen soll, in Eritrea ein mit Folter oder unmenschlicher und erniedrigender Behandlung verbundenes Strafverfahren oder eine ebensolche Bestrafung droht (so auch VG Sigmaringen, Urteil vom 16. Februar 2022 - 5 K 4651/20 [ECLI:​DE:​VGSIGMA:​2022:​0216.5K4651.20.00] - juris Rn. 45). 28 Angesichts der gravierenden Menschenrechtsverletzungen und der willkürlichen Strafverfolgungspraxis, die das Berufungsgericht selbst dem eritreischen Staat attestiert hat (UA S. 20, 22, 24), kann ein Eritreer gegen seinen Willen auf die Unterzeichnung einer derartigen Selbstbezichtigung mit bedingungsloser Akzeptanz einer wie auch immer gearteten Strafmaßnahme auch dann nicht zumutbar verwiesen werden, wenn die Abgabe der Erklärung - wie das Berufungsgericht für den Senat gemäß § 137 Abs. 2 VwGO bindend festgestellt hat - die Wahrscheinlichkeit einer Strafverfolgung und einer Bestrafung wegen der illegalen Ausreise nicht erhöht, sondern unter Umständen sogar verringert. Vielmehr muss der Ausländer unter den beschriebenen Umständen kein auch noch so geringes Restrisiko eingehen und ist allein der - nachvollziehbar bekundete - Unwille, die Erklärung zu unterzeichnen, schutzwürdig. Die willkürliche und menschenrechtswidrige Strafverfolgungspraxis mindert auf der anderen Seite zugleich die Schutzwürdigkeit der Personalhoheit des eritreischen Staates, die in der Abwägung hier zurücktreten muss. 29 Aus diesen Gründen kommt es auch nicht darauf an, dass der Kläger infolge des ihm zuerkannten subsidiären Schutzes derzeit nicht nach Eritrea zurückkehren muss. Deshalb bedarf die asylrechtliche Frage, ob die durch Abgabe der Reueerklärung und Zahlung der sogenannten Aufbausteuer (unter Umständen) bewirkte Erlangung des "Diaspora-Status" hier zu einem Widerruf des subsidiären Schutzes gemäß § 73b Abs. 1 Satz 1 AsylG führen kann, keiner Vertiefung. 30 Zu keiner anderen Entscheidung führt die Feststellung des Berufungsgerichts, dass sich eritreische Staatsangehörige nach Abwägung der Vor- und Nachteile nicht selten freiwillig zu einer Unterzeichnung der Reueerklärung bereitfinden. Dies ändert nichts daran, dass einem Eritreer, der die Erklärung gerade nicht abgeben will und dafür konsequenterweise die Unmöglichkeit von Reisen in sein Herkunftsland in Kauf nimmt (vgl. § 9 Abs. 1 Satz 2 AufenthV), die Unterzeichnung individuell nicht zuzumuten ist. 31 bb) Der Kläger erfüllt die subjektive Voraussetzung für eine Unzumutbarkeit der Reueerklärung. Er hat plausibel bekundet, die Erklärung nicht abgeben zu wollen. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts ergibt sich aus seinem Vortrag, dass die Abgabe der Reueerklärung im Widerspruch zu seiner inneren Einstellung steht und dass sie seiner Auffassung von guter politischer Ordnung und sozialer Gerechtigkeit zuwiderliefe; er lehne den eritreischen Staat und die Möglichkeit einer "Bereinigung der Verhältnisse" durch die Beantragung des Diaspora-Status ab (UA S. 19 f.). Weitergehende Anforderungen sind an die Plausibilisierung der Weigerung nicht zu stellen; insbesondere bedarf es nicht der Glaubhaftmachung einer Gewissensentscheidung oder einer unauflöslichen inneren Konfliktlage. 32 1.4 Ob weitere Gründe vorliegen, aus denen dem Kläger die Erlangung eines Nationalpasses unzumutbar ist, ist nicht mehr entscheidungserheblich. Das gilt insbesondere auch für die vom Oberverwaltungsgericht bejahte Frage, ob es sich bei dem Erfordernis der Zahlung einer sogenannten Aufbausteuer in Höhe von 2 % des in Deutschland seit dem Zeitpunkt der Einreise erzielten (Brutto- oder Netto-)Einkommens um eine zumutbare staatsbürgerliche Pflicht handelt. 33 2. Der Senat kann den Rechtsstreit abschließend zugunsten des Klägers entscheiden (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO). 34 Die weiteren tatbestandlichen Voraussetzungen für die Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer sind erfüllt (s. o.). Tatbestände, die der Ausstellung entgegenstehen, liegen nicht vor. Nach den bindenden Feststellungen der Vorinstanz hat der Kläger weder bereits einen Reiseausweis für Ausländer missbräuchlich verwendet, noch bestehen tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass der Reiseausweis für Ausländer missbräuchlich verwendet werden soll (§ 5 Abs. 4 AufenthV). 35 Sind mithin alle - positiven wie negativen - Voraussetzungen für die Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer gegeben, ist der Beklagte verpflichtet, dem Kläger einen solchen zu erteilen. Nach § 5 Abs. 1 AufenthV steht die Erteilung des Ausweises zwar grundsätzlich im Ermessen der Ausländerbehörde. Bei subsidiär Schutzberechtigten ist dieses Ermessen jedoch in richtlinienkonformer Anwendung des § 5 Abs. 1 AufenthV auf Null reduziert, wenn auch die in Art. 25 Abs. 2 letzter Halbs. RL 2011/95/EU erwähnte Ausnahme nicht eingreift. Denn die Regelung verpflichtet die Mitgliedstaaten, Personen, denen der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist und die keinen nationalen Pass erhalten können, Dokumente für Reisen außerhalb ihres Hoheitsgebiets auszustellen, es sei denn, dass zwingende Gründe der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung entgegenstehen (ebenso etwa VG Hannover, Urteil vom 20. Mai 2020 - 12 A 2452/19 [ECLI:​DE:​VGHANNO:​2020:​0520.12A2452.19.00] - juris Rn. 48 f.; VG Saarland, Urteil vom 29. September 2021 - 6 K 283/19 [ECLI:​DE:​VGSL:​2021:​0929.6K283.19.00] - juris Rn. 63; siehe auch BVwG Österreich, Erkenntnis vom 16. April 2021 - W211 2229796-1/12E [ECLI:​AT:​BVWG:​2021:​W211.2229796.1.00] - S. 7). Für das Vorliegen des im letzten Halbsatz dieser Regelung enthaltenen, im nationalen Recht nicht ausdrücklich umgesetzten Ausschlussgrundes ergeben sich aus den Feststellungen des Berufungsgerichts keinerlei Anhaltspunkte. 36 Die inhaltlichen Einzelheiten des dem Kläger auszustellenden Reiseausweises für Ausländer (insbesondere Gültigkeitsdauer und Geltungsbereich) wird der Beklagte unter Berücksichtigung der §§ 8 bis 10 AufenthV festzulegen haben. 37 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
bundesverwaltungsgericht
bverwg_2020-42
08.07.2020
Pressemitteilung Nr. 42/2020 vom 08.07.2020 EN Die Beseitigung von abgelagertem Klärschlamm unterfällt dem Abfallrecht Nicht deponiefähiger Klärschlamm unterliegt den allgemeinen Vorschriften des Abfallrechts. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig heute entschieden. Die Klägerin ist der Wasserverband für das oberirdische Einzugsgebiet der Emscher. Von 1965 bis 1999 betrieb sie auf dem Gebiet der beklagten Stadt Duisburg eine Kläranlage; bis 1984 leitete sie das schlammhaltige Abwasser zum Zwecke der Entwässerung auf sogenannte Schlammplätze. Im März 2011 ordnete die Beklagte an, den in den Schlammplätzen unter einer Bodenschicht als pastöse Masse gelagerten Klärschlamm auszuheben und einer ordnungsgemäßen Entsorgung in einer Abfallentsorgungsanlage zuzuführen. Die Klage vor dem Verwaltungsgericht blieb ohne Erfolg. Das Oberverwaltungsgericht wies die Berufung zurück. Die Ordnungsverfügung habe ihre Rechtsgrundlage im Abfallrecht. Der Klärschlamm sei nicht mehr Gegenstand der Abwasserbeseitigung. Die Ablagerung des Klärschlamms verstoße gegen die Pflicht der Klägerin, Abfälle ordnungsgemäß und schadlos zu verwerten oder sie gemeinwohlverträglich zu beseitigen. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Revision der Klägerin zurückgewiesen. Wasserrechtliche Bestimmungen sind auf den Klärschlamm nicht mehr anzuwenden, weil die Kläranlage stillgelegt worden war. Als bewegliche Sache, die nicht mit dem umgebenden Erdreich verwachsen ist, unterliegt er dem Abfallrecht. Da der Klärschlamm nicht deponiefähig ist, sind die Vorschriften über die Stilllegung einer Deponie und das Bodenschutzrecht nicht einschlägig. Die abfallrechtliche Beseitigungsverfügung ist nicht zu beanstanden. BVerwG 7 C 19.18 - Urteil vom 08. Juli 2020 Vorinstanzen: OVG Münster, 20 A 601/14 - Urteil vom 13. September 2017 - VG Düsseldorf, 17 K 2868/11 - Urteil vom 24. Januar 2014 -
Urteil vom 08.07.2020 - BVerwG 7 C 19.18ECLI:DE:BVerwG:2020:080720U7C19.18.0 EN Leitsätze: 1. Für in Abwasseranlagen eingeleitete Stoffe wird das Abfallrecht wieder anwendbar, wenn die Abwasserbeseitigung abgeschlossen ist. Hierzu bedarf es keiner räumlich-örtlichen Entfernung des Stoffs aus der Abwasserbeseitigungsanlage. 2. Die Anwendung des § 36 Abs. 2 KrW-/AbfG setzt voraus, dass Abfälle im Sinne der Deponieverordnung deponiefähig sind. 3. Bei der Beurteilung der Frage, ob Klärschlämme einen wesentlichen Bestandteil eines Grundstücks im Sinne der §§ 93 f. BGB bilden, ist eine abfallrechtliche Verkehrsanschauung maßgeblich. Rechtsquellen KrW-/AbfG § 2 Abs. 2 Nr. 6, § 3 Abs. 1 Satz 1, §§ 21, 27 Abs. 1 und 2, § 36 Abs. 1 und 2 BBodSchG § 13 Abs. 5 BGB §§ 93, 94, 133, 157 KrWG § 2 Abs. 2 Nr. 10 Instanzenzug VG Düsseldorf - 24.01.2014 - AZ: VG 17 K 2868/11 OVG Münster - 13.09.2017 - AZ: OVG 20 A 601/14 Zitiervorschlag BVerwG, Urteil vom 08.07.2020 - 7 C 19.18 - [ECLI:DE:BVerwG:2020:080720U7C19.18.0] Urteil BVerwG 7 C 19.18 VG Düsseldorf - 24.01.2014 - AZ: VG 17 K 2868/11 OVG Münster - 13.09.2017 - AZ: OVG 20 A 601/14 In der Verwaltungsstreitsache hat der 7. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 8. Juli 2020 durch den Vizepräsidenten des Bundesverwaltungsgerichts Prof. Dr. Korbmacher und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Brandt, Dr. Schemmer, Dr. Günther und Dr. Löffelbein für Recht erkannt: Die Revision gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 13. September 2017 wird zurückgewiesen. Die Klägerin trägt die Kosten des Revisionsverfahrens. Gründe I 1 Die Klägerin wendet sich gegen eine abfallrechtliche Verfügung zur Entsorgung von Klärschlamm. 2 Sie ist ein Wasserverband für das oberirdische Einzugsgebiet der Emscher. Zu ihren Aufgaben gehört die Abwasserbeseitigung. Seit dem Jahr 1965 betrieb die Klägerin die Kläranlage D. Zur Austrocknung des Klärschlamms legte sie auf dem Gelände der Kläranlage sechs genehmigte Schlammplätze an. 3 1984 nahm die Klägerin eine ministeriell genehmigte Schlammdruckrohrleitung in Betrieb; der in der Kläranlage anfallende Klärschlamm wurde seitdem nicht mehr auf die Schlammplätze geleitet. Ende Juni 1999 legte die Klägerin die Kläranlage still. Daraufhin hob die Bezirksregierung Düsseldorf die für die Einleitung des in der Kläranlage gereinigten Abwassers in die K. erteilte wasserrechtliche Erlaubnis auf. Die Schlammplätze blieben in der Folgezeit im Wesentlichen unverändert. Im Oktober 2006 stellte die Klägerin der Beklagten ein Projekt zur Sanierung der Schlammplätze vor. Aus dem Klärschlamm der Schlammplätze 1, 2 und 6 soll danach im Bereich der Schlammplätze 3, 4 und 5 mit dem dort vorhandenen Klärschlamm ein Landschaftsbauwerk mit Oberflächenabdichtung errichtet werden. 4 Die Beklagte stufte den Klärschlamm in den Schlammplätzen 2 bis 6 als Abfall ein, der von der Klägerin grundsätzlich zu beseitigen sei, und hielt das Bodenschutzrecht bezogen auf den Schlammplatz 1 für anwendbar. 5 Mit Bescheid vom 29. März 2011 ordnete die Beklagte an, den in den Schlammplätzen 2 bis 6 gelagerten Klärschlamm bis zur Sohle auszuheben und einer ordnungsgemäßen Entsorgung in einer dafür zugelassenen Abfallentsorgungsanlage zuzuführen. Hiergegen erhob die Klägerin Klage. 6 Im März 2013 beantragte die Klägerin die Zulassung der Errichtung des Landschaftsbauwerks. Die Beklagte beschied diesen Antrag nicht. Daraufhin erweiterte die Klägerin die Klage um dieses Begehren. 7 Das Verwaltungsgericht wies die Klage ab. Die Berufung der Klägerin hat das Oberverwaltungsgericht zurückgewiesen. Rechtsgrundlage des Bescheids sei die abfallrechtliche Generalklausel gemäß § 21 Abs. 1 KrW-/AbfG. Ihr stehe nicht die Ausschlussklausel des § 2 Abs. 2 Nr. 6 KrW-/AbfG entgegen. Danach gelte das Abfallrecht nicht für Stoffe, sobald diese in Gewässer oder Abwasseranlagen eingeleitet oder eingebracht würden. Diese Voraussetzungen seien in Bezug auf den Klärschlamm nicht erfüllt. Unterliege der Stoff wie hier nicht mehr den wasserrechtlichen Bestimmungen für die Abwasserbeseitigung, beurteile sich seine Entsorgung nach Abfallrecht. 8 Die Klägerin habe die Pflicht, den Klärschlamm ordnungsgemäß und schadlos zu verwerten oder ihn gemeinwohlverträglich zu beseitigen. Er sei eine bewegliche Sache im Sinne des Abfallrechts. Eine Verwachsung des Klärschlamms mit dem Erdreich sei nicht eingetreten. Die Klägerin wolle sich des Klärschlamms auch entledigen. Er stelle für sie eine wirtschaftlich wertlose Last dar. 9 Die Beklagte habe von ihrem Ermessen fehlerfrei Gebrauch gemacht. Die Entsorgung in einer zugelassenen Abfallentsorgungsanlage belasse der Klägerin die Möglichkeit, alle abfallrechtlich zulässigen Methoden zur Verwertung oder Beseitigung des Klärschlamms zu nutzen. Die Klägerin könne sich nicht auf Bestandsschutz berufen. Bei den Schlammplätzen handele es sich nicht um eine von abfallrechtlichen Zulassungserfordernissen freigestellte Altdeponie. Die ministeriellen Genehmigungen deckten das Liegenlassen des Klärschlamms in den Schlammplätzen nicht ab. 10 Die Klägerin begründet die vom Senat zugelassene Revision wie folgt: Das Oberverwaltungsgericht habe zu Unrecht Abfallrecht und nicht Wasserrecht für anwendbar gehalten. Das Abfallrecht sei erst nach einer Entfernung der eingeleiteten bzw. eingebrachten Stoffe einschlägig. Der Klärschlamm sei keine bewegliche Sache im Sinne des Abfallrechts. Für eine feste Verbindung könne eine nur auf der Schwerkraft beruhende Verbindung genügen. Bei einer Ablagerung von Abfällen in einer illegalen Deponie komme gemäß § 36 Abs. 2 KrW-/AbfG als Ermächtigungsgrundlage allein das Bodenschutzrecht in Betracht. Für das Vorliegen einer Altlast komme es nicht darauf an, ob etwas dauerhaft oder nur vorübergehend in den Boden auf- oder eingebracht worden sei. Die Anordnung der Beklagten sei insbesondere wegen der Kosten in Höhe eines zweistelligen Millionenbetrags für Ausbaggerung und Transport unverhältnismäßig. 11 Die Klägerin beantragt, 1. das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 13. September 2017 und das Urteil des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 24. Januar 2014 sowie den Bescheid der Beklagten vom 19. März 2011 in der Gestalt des Schriftsatzes der Beklagten vom 11. Juli 2011 im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht Düsseldorf 17 L 968/11 und der weiteren Abänderung in der mündlichen Verhandlung vom 24. Januar 2014 aufzuheben, 2. für den Fall des Obsiegens mit dem Hauptantrag die Beklagte zu verpflichten, über ihren Antrag auf Errichtung eines Landschaftsbauwerks auf dem Gelände der Kläranlage D. vom 11. März 2013 zu entscheiden. 12 Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen. 13 Sie verteidigt das Urteil des Oberverwaltungsgerichts. II 14 Die zulässige Revision ist nicht begründet und deshalb zurückzuweisen (§ 144 Abs. 2 VwGO). Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung der Klägerin gegen das die Klage abweisende Urteil des Verwaltungsgerichts ohne Bundesrechtsverstoß zurückgewiesen (§ 137 Abs. 1 VwGO). Der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. 15 1. Zutreffend ist das Oberverwaltungsgericht davon ausgegangen, dass die Entsorgungsanordnung vom 29. März 2011 auf § 21 des Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetzes (KrW-/AbfG) gestützt werden kann. Danach kann die zuständige Behörde im Einzelfall die erforderlichen Anordnungen zur Durchführung dieses Gesetzes und der aufgrund dieses Gesetzes erlassenen Rechtsverordnungen treffen. 16 Anwendbar ist vorliegend das Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz in der Fassung von Art. 8 des Gesetzes zur Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie auf dem Gebiet des Umweltrechts sowie zur Änderung umweltrechtlicher Vorschriften vom 11. August 2010 (BGBl. I S. 1163), das zum maßgeblichen Zeitpunkt des Ergehens der Entsorgungsanordnung galt (vgl. BVerwG, Urteil vom 7. November 2018 - 7 C 18.18 - juris Rn. 15). Soweit das Oberverwaltungsgericht auf Absatz 1 der Vorschrift abgehoben hat, hat es übersehen, dass die Absätze 2 und 3 bereits durch Art. 2 Nr. 4 Buchst. a und b des Gesetzes vom 21. Juni 2005 (BGBl. I S. 1666) mit Wirkung vom 1. Juli 2005 aufgehoben worden sind und der frühere Absatz 1 der einzige Inhalt der Vorschrift geworden ist. 17 a) Zu Recht ist das Oberverwaltungsgericht davon ausgegangen, dass § 21 KrW-/AbfG nicht durch eine vorrangige oder seine Anwendbarkeit ausschließende Bestimmung verdrängt wird. 18 aa) § 2 Abs. 2 Nr. 6 KrW-/AbfG steht der Anwendbarkeit des Abfallrechts nicht entgegen. Danach gelten die Vorschriften des Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetzes nicht für Stoffe, sobald diese in Gewässer oder Abwasseranlagen eingeleitet oder eingebracht werden. § 2 Abs. 2 Nr. 6 KrW-/AbfG regelt lediglich den Zeitpunkt des Übergangs vom Abfall- zum Wasserrecht. Zur Wiedereröffnung des Anwendungsbereichs des Abfallrechts bedarf es entgegen der Auffassung der Revision nicht einer räumlich-örtlichen Entfernung des Stoffs aus einer Abwasserbeseitigungsanlage. Dass der Normgeber die Konjunktion "sobald" und nicht "solange" verwendet hat, steht dem nicht entgegen. Aus dem systematischen Zusammenhang mit § 54 Abs. 2 Satz 1 WHG ergibt sich mit der gebotenen Klarheit, dass das Regelungsregime des Wasserrechts endet und das Abfallrecht wieder anwendbar wird, wenn die Abwasserbeseitigung abgeschlossen ist. § 54 Abs. 2 Satz 1 WHG rechnet im Interesse einer erleichterten Grenzziehung zwischen Abwasserbeseitigung und Abfallrecht das Entwässern von Klärschlamm zur Abwasserbeseitigung, sofern es im Zusammenhang mit der Abwasserbeseitigung steht. Die Klärschlammentwässerung kann daher nur unter qualifizierten Umständen zur Abwasserbeseitigung gerechnet werden. Erforderlich ist ein - wie auch immer gearteter - funktionaler Zusammenhang von Entwässerung des Klärschlamms und Abwasserbeseitigung. Der notwendige Zusammenhang besteht, wenn die Klärschlammentwässerung Teil des Abwasserbeseitigungsprozesses ist. Dieser umfasst jeden Vorgang, der dazu dient, die Schädlichkeit des Abwassers zu vermindern oder zu beseitigen, namentlich die Schadstofffracht im Abwasser zu reduzieren (vgl. Reinhardt, WHG, 12. Aufl. 2019, § 54 Rn. 23, 26; vgl. auch § 2 Abs. 3 AbwAG sowie Zöllner, in: Sieder/Zeitler/Dahme/Knopp, Wasserhaushaltsgesetz, Stand August 2019, § 54 Rn. 35; Ganske, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht, Stand Februar 2020, § 54 WHG Rn. 49). Die Klärschlammentwässerung steht dann mit einem zielgerichteten Entwässerungsvorgang in Zusammenhang; Eine zufällige und ungeplante Entwässerung allein aufgrund der andauernden Lagerung voranschreitende Austrocknung des Klärschlamms fällt aus dem Begriff der Abwasserbeseitigung heraus. 19 Diese Maßstäbe hat das Oberverwaltungsgericht nicht verkannt. Es hebt im Kern auf einen funktionalen Bezug zur Abwasserbeseitigung ab (OVG Münster, Urteil vom 13. September 2017 - 20 A 601/14 - juris Rn. 76, 79 und 86). Nach seinen Feststellungen fehlt es an einem plan- und zielgerichteten Entwässerungsvorgang für die Zeit nach der Stilllegung der Kläranlage im Jahr 1999, sodass ein funktionaler Zusammenhang mit einer Abwasserbehandlung zum maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses des streitgegenständlichen Bescheids nicht mehr bestand. Das für die Kläranlage genannte Ziel, den Wassergehalt des Klärschlamms auf 45 % herabzusetzen, hat die Klägerin aufgegeben. Das Schlammwasser wird nicht mehr aufgefangen und einer weiteren Bearbeitung zugeleitet (OVG Münster, Urteil vom 13. September 2017 - 20 A 601/14 - juris Rn. 3 und 80). Dass der Klärschlamm bei der Abwasserbeseitigung in der Kläranlage angefallen und in die zu seiner Austrocknung angelegten Schlammplätze eingespült wurde, ändert daran nichts. Der Klärschlamm wird nur noch gelagert und er entwässert aufgrund seines Eigengewichts, ohne dass ein Entwässerungsziel verfolgt wird. 20 Soweit die Revision geltend macht, die Stilllegung von Abwasseranlagen sei als Teil deren Betriebs im Sinne von § 6o WHG anzusehen, ergibt sich kein anderes Ergebnis. Nach den Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts sind im Rahmen der Stilllegung der Kläranlage keine Vorkehrungen zur Fortsetzung und zum Abschluss der Entwässerung des Klärschlamms getroffen worden. Dass Genehmigungen für Kläranlagen nach § 6o Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und 3 WHG auch die Stilllegung mitregeln müssen, spricht im Übrigen dafür, von einer fortdauernden Abwasserbeseitigung nur dann auszugehen, wenn Vorgaben für den Stilllegungsfall in der Genehmigung zu finden sind. 21 bb) Auch der von der Revision angeführte, im Berufungsverfahren nicht thematisierte und vom Oberverwaltungsgericht nicht geprüfte § 36 KrW-/AbfG sperrt die Anwendung der abfallrechtlichen Generalklausel nicht. 22 (1) § 36 KrW-/AbfG regelt die grundlegenden materiell- und verfahrensrechtlichen Anforderungen an die Stilllegung von Deponien und die sich daran anschließende Nachsorgephase bis hin zu deren Abschluss (Klages, in Giesberts/Reinhardt, Umweltrecht, Stand Januar 2012, § 36 KrW-/AbfG vor Rn. 1). Nach § 36 Abs. 1 Satz 1 KrW-/AbfG ist der Betreiber einer Deponie verpflichtet, die beabsichtigte Stilllegung anzuzeigen und die dafür erforderlichen Unterlagen einzureichen. § 36 Abs. 2 KrW-/AbfG verpflichtet die zuständige Behörde, alle erforderlichen Anordnungen zur Rekultivierung der Deponie und sonstigen Vorkehrungen zum Schutz des Wohls der Allgemeinheit zu treffen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts beziehen sich die Anzeigepflicht in Absatz 1 und die Anordnungsermächtigung in Absatz 2 Satz 1 auch und gerade auf illegale Anlagen gleichgültig, ob sie von den Behörden geduldet wurden oder dies nicht der Fall war. Denn bei diesen Anlagen besteht in besonderem Maße Anlass für die Befürchtung, dass es in der Nachbetriebsphase zu einer Beeinträchtigung des Wohls der Allgemeinheit kommen könnte (BVerwG, Urteil vom 31. August 2006 - 7 C 3.06 - BVerwGE 126, 326 Rn. 10, Beschlüsse vom 2. Mai 1995 - 7 B 270.94 - Buchholz 451.22 § 10 AbfG Nr. 1 und vom 26. Juli 2016 - 7 B 28.15 - AbfallR 2016, 252 <256>). Der Senat hat darüber hinaus klargestellt, dass Abstriche von dem Regelungsprogramm dieser Vorschrift bei illegalen Deponien nur insoweit in Betracht kommen, als es um Normbestandteile geht, die allein bei dem vom Gesetzgeber vorgesehenen Regelfall sinnvoll angewendet werden können. Hiernach kann bei der illegalen Deponie ein Verzicht auf die in § 36 Abs. 1 KrW-/AbfG vorgesehene Anzeige der beabsichtigten Stilllegung in Betracht kommen. Demgegenüber findet die Anordnungsbefugnis des § 36 Abs. 2 Satz 1 KrWG ohne Weiteres auf eine illegale Deponie Anwendung. Denn gerade hier gilt es in besonderem Maße, Gefahren zu beseitigen und deren Entstehung entgegenzutreten (BVerwG, Urteil vom 31. August 2006 - 7 C 3.06 - BVerwGE 126, 326 Rn. 9). Auch § 36 Abs. 2 Satz 2 KrWG, der im Fall des Altlastenverdachts für die Erfassung, Untersuchung, Bewertung und Sanierung die Anwendung der Vorschriften des Bundes-Bodenschutzgesetzes anordnet, ist in gleicher Weise auf legale wie auf illegale Deponien anwendbar (so BVerwG, Beschluss vom 16. Juli 2016 - 7 B 28.15 - AbfallR 2016, 252 <256> zu § 40 Abs. 2 KrWG). Nach diesen Maßstäben wird die abfallrechtliche Generalklausel des § 21 KrW-/AbfG hier nicht verdrängt. 23 Es spricht vieles dafür, dass die von der angefochtenen Verfügung erfassten Klärschlammplätze den den Anwendungsbereich des § 36 KrW-/AbfG eröffnenden Deponiebegriff erfüllen. Deponien sind gemäß § 3 Abs. 10 Satz 1 KrW-/AbfG Beseitigungsanlagen zur Ablagerung von Abfällen oberhalb oder unterhalb der Erdoberfläche. Ablagerung ist die zielgerichtete und dauerhafte Entledigung an einem bestimmten Ort (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. November 1973 - IV C 44.69 - Buchholz 445.4 § 3 WHG Nr. 3). Es kommt nicht darauf an, ob diese Zweckrichtung bereits zum Zeitpunkt der Deponierung vorlag. Es genügt, dass sich aus einem zeitlich begrenzten Lagern ein dauerhaftes Ablagern ergibt (vgl. Spoerr, in: Jarass/Petersen/Weidemann, Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz, Stand 1. September 2011, § 27 Rn. 26; ders., in: Jarass/Petersen, KrWG, 1. Aufl. 2014, § 28 Rn. 31; Delfs, in: Schmehl/Klement, GK-KrWG, 2. Aufl. 2019, § 28 Rn. 12). 24 Das Oberverwaltungsgericht hat eine Absicht der Klägerin, den Klärschlamm auf Dauer liegen zu lassen, nicht eindeutig festgestellt (OVG Münster, Urteil vom 13. September 2017 - 20 A 601/14 - juris Rn. 82, 168 ff.). Seine Ausführungen bezogen sich allerdings auf den Stichtag 11. Juni 1972 und haben die Tatsache unberücksichtigt gelassen, dass die Klägerin den Klärschlamm seit Errichtung der Schlammdruckrohrleitung im Jahr 1984 und über die Stilllegung der Kläranlage im Jahr 1999 hinaus auf den Schlammplätzen abgelagert hat, ohne das Ziel einer Abwasserbeseitigung damit zu verfolgen. Auch der Plan der Klägerin aus dem Jahr 2006 zur Errichtung eines Landschaftsbauwerks lässt eine dauerhafte Ablagerungsabsicht erkennen. Einer abschließenden Klärung bedarf es jedoch letztendlich nicht. Dies gilt ebenso für die Frage, ob § 36 Abs. 2 Satz 2 KrW-/AbfG eine (hier nicht ergangene) vorherige behördliche Feststellung der Stilllegung vorausgesetzt hat, wie sie nunmehr gemäß § 40 Abs. 2 Satz 2 KrWG erforderlich ist, oder ob eine faktische Stilllegung ausreichte (nicht entschieden in BVerwG, Beschluss vom 26. Juli 2016 - 7 B 27.15 - juris Rn. 8). 25 (2) Der Anwendung des § 36 KrW-/AbfG steht jedenfalls die fehlende Deponiefähigkeit des Klärschlamms entgegen. Das gilt sowohl für die in Absatz 2 Nummern 1 und 2 aufgeführten Anordnungsermächtigungen als auch für die Regelung über die Anwendbarkeit des Bundes-Bodenschutzgesetzes in Absatz 2 Satz 2. Der vom Gesetzgeber in § 36 KrW-/AbfG vorgesehene Normalfall geht von einer nach dem Inkrafttreten des Abfallgesetzes 1972 errichteten und rechtmäßig betriebenen, insbesondere nach den einschlägigen umweltrechtlichen Vorschriften geprüften und planfestgestellten oder in sonstiger Weise zugelassenen Deponie aus. Daraus folgt insbesondere, dass die deponierechtlichen Anforderungen an den Standort erfüllt sein müssen und nur solche Abfälle angenommen und abgelagert werden dürfen, die den Zuordnungskriterien der jeweiligen Deponieklasse entsprechen. Die Grundpflicht, Abfälle ohne Beeinträchtigung des Wohls der Allgemeinheit zu entsorgen (§ 10 Abs. 1 KrW-/AbfG), ist bei Deponien erst erfüllt, wenn eine gemeinwohlverträgliche Endablagerung auf Dauer gesichert ist. § 36 Abs. 2 KrW-/AbfG dient der Durchsetzung dieser Nachsorgepflicht (vgl. BVerwG, Urteile vom 19. Januar 1989 - 7 C 82.87 - NJW 1989, 1295 und vom 29. November 1991 - 7 C 6.91 - BVerwGE 89, 215 <218>; Schomerus, in: Versteyl/Mann/Schomerus, KrWG, 4. Aufl. 2019 § 40 Rn. 2). 26 Hieraus wird deutlich, dass § 36 KrW-/AbfG den tatsächlichen Fortbestand und das rechtliche Fortbestehenkönnen der stillgelegten Deponie voraussetzt. Von seinem Regelungsprogramm nicht erfasst werden Fallgestaltungen, bei denen nicht nur vereinzelte nicht deponiefähige Abfälle entfernt werden müssen, sondern die Deponie als solche beseitigt werden muss, weil sie nicht nur vereinzelt nicht den Zuordnungskriterien entsprechende Abfälle enthält, sondern ganz oder überwiegend aus Abfällen besteht, die nach den einschlägigen deponie- und sonstigen abfallrechtlichen Vorgaben - etwa wegen unzureichender Untergrundbeschaffenheit - an diesem Standort nicht abgelagert werden dürfen. Ein weiteres Ablagern von Abfällen und damit die Anwendung des § 36 KrW-/AbfG kommt daher bei illegalen Deponien nur in Betracht, wenn die Deponie im Nachhinein als Abfallbeseitigungsanlage genehmigt werden kann. Das ist hier nicht der Fall. Nach den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen und daher den Senat bindenden (§ 137 Abs. 2 VwGO) tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts scheidet eine Deponierung des Klärschlamms wegen seines hohen organischen Gehalts und der bezogen auf organische Substanzen beim Ablagern von Abfall auf Deponien einzuhaltenden Zuordnungskriterien aus. Die Einhaltung der Zuordnungskriterien ist nur möglich, wenn der Klärschlamm vor seiner Deponierung vorbehandelt wird (OVG Münster, Urteil vom 13. September 2017 - 20 A 601/14 - juris Rn. 146). Der Klägervertreter hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat bestätigt, dass eine den deponierechtlichen Bestimmungen entsprechende Ablagerung an dem Standort der Schlammplätze auch mit dem Landschaftsbauwerk nicht beabsichtigt sei. 27 Die Nichtanwendung des § 36 KrW-/AbfG im vorliegenden Fall steht entgegen der vom Klägervertreter in der mündlichen Verhandlung geäußerten Auffassung nicht im Widerspruch zum Beschluss des Senats vom 26. Juli 2016 - 7 B 28.15 - (AbfallR 2016, 252). In dieser Entscheidung konnte das Vorliegen einer illegalen Deponie offenbleiben, da das Abfallrecht wegen seiner auf bewegliche Sachen beschränkten Geltung nicht für Böden "in situ" Anwendung findet und deshalb die aus Gründen des Umweltschutzes gebotene Abwehr der durch die Ab- und Einlagerung schädlicher Stoffe und Gegenstände im Boden (als wesentliche Bestandteile) hervorgerufenen Gefahren die Aufgabe anderer Regelungen außerhalb des Abfallrechts ist. 28 b) Zutreffend hat das Oberverwaltungsgericht die Voraussetzungen des § 21 KrW-/AbfG für den Erlass der Abfallbeseitigungsanordnung bejaht. Der Klärschlamm ist Abfall im Sinne der Vorschrift. Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 KrW-/AbfG sind Abfälle im Sinne dieses Gesetzes alle beweglichen Sachen, die unter die in Anhang I aufgeführten Gruppen fallen und deren sich ihr Besitzer entledigt, entledigen will oder entledigen muss. 29 aa) Zu Recht hat das Berufungsgericht den Klärschlamm als bewegliche Sache angesehen. Es geht zutreffend davon aus, dass es im Ausgangspunkt auf die zivilrechtlichen Maßstäbe der §§ 93 ff. BGB ankommt. 30 Bewegliche Sachen sind alle Sachen, die nicht Grundstücke, den Grundstücken gleichgestellt oder Grundstücksbestandteile (§§ 93 bis 95 BGB; § 12 ErbbauRG) sind (vgl. Stresemann, in: Säcker/Rixecker/Oetker/Limperg, Münchener Kommentar zum BGB, 8. Aufl. 2018, § 90 Rn. 13). Der in § 93 BGB definierte Begriff des wesentlichen Bestandteils umfasst Bestandteile einer Sache, die voneinander nicht getrennt werden können, ohne dass der eine oder der andere zerstört oder in seinem Wesen verändert wird. Nach § 94 Abs. 1 Satz 1 BGB gehören zu den wesentlichen Bestandteilen eines Grundstücks die mit dem Grund und Boden fest verbundenen Sachen, insbesondere Gebäude, sowie die Erzeugnisse des Grundstücks, solange sie mit dem Boden zusammenhängen. Das Vorliegen einer festen Verbindung mit Grund und Boden ist nach der Verkehrsanschauung unter Berücksichtigung der Umstände des jeweiligen Einzelfalls zu beurteilen (vgl. Breuer, in: Jarass/Petersen/Weidemann, Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz, Stand 1. September 2011, § 3 Rn. 34; Schmidt, in: Erman, BGB, 15. Aufl. 2017, § 94 Rn. 3; Stieper, in: Staudinger BGB, Neubearbeitung 2017, § 94 Rn. 7). 31 Im Unterschied zum zivilrechtlichen Verständnis, das den Normzweck der §§ 93 ff. BGB in der Erhaltung der wirtschaftlichen Einheit und des wirtschaftlichen Werts einer Sachgesamtheit sieht (vgl. Stresemann a.a.O. § 94 Rn. 1 i.V.m. § 93 Rn. 1), ist im abfallrechtlichen Zusammenhang der Begriff der beweglichen Sache nach Maßgabe einer abfallrechtlichen Verkehrsanschauung zu bestimmen. Diese bietet hinreichend Spielraum, um abfallrechtlichen Besonderheiten gerecht zu werden (vgl. Breuer a.a.O. § 3 Rn. 34). Die abfallrechtliche Verkehrsanschauung hat bei der Frage, wann ein ursprünglich Abfall darstellender Stoff die Eigenschaft als bewegliche Sache wegen einer nachfolgenden festen Verbindung mit Grund und Boden verlieren kann, die für Abfall bestehende Pflicht zur Entsorgung zu berücksichtigen. Die Sicherung der umweltverträglichen Beseitigung von Abfällen nach § 1 KrW-/AbfG gehört zum wesentlichen Gesetzeszweck. Dabei geht es, anders als die Revision mit ihrer Rüge eines Verstoßes des Oberverwaltungsgerichts gegen den Überzeugungsgrundsatz des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO wegen eines Zirkelschlusses geltend macht, nicht um die Frage einer erstmaligen Begründung der Abfalleigenschaft, sondern darum, wann ein Stoff wegen des Verlusts der Eigenschaft einer beweglichen Sache aufhört, Abfall zu sein. 32 Das Oberverwaltungsgericht hat in Übereinstimmung mit diesen Kriterien den Klärschlamm als bewegliche Sache eingeordnet. Dabei durfte es berücksichtigen, dass der Klärschlamm seine Eigenschaft als bewegliche Sache nicht aufgrund Verwachsung mit dem Boden verloren hat (OVG Münster, Urteil vom 13. September 2017 - 20 A 601/14 - juris Rn. 99). Unter einer Verwachsung versteht man das Ergebnis eines biologischen Prozesses, durch den ein oder mehrere Stoffe eine Gesamtmasse untereinander und mit dem gewachsenen Boden bilden (vgl. OVG Koblenz, Urteil vom 26. Januar 2012 - 8 A 11081/11 - juris Rn. 51). Hieran fehlt es, wenn sich auf einer Ablagerungsfläche lediglich an der Oberfläche eine feste Erdschicht gebildet hat, die darunter befindlichen Ablagerungen jedoch keine feste Verbindung mit dem gewachsenen Boden bilden. So liegt es hier. Nach den Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts ist der Klärschlamm nach Struktur und Beschaffenheit von dem umgebenden Erdreich ohne Schwierigkeiten zu unterscheiden und eine Trennung ist möglich (OVG Münster, Urteil vom 13. September 2017 - 20 A 601/14 - juris Rn. 101). Eine einheitliche Bodenmasse ist daher nicht entstanden. Entgegen der Auffassung der Klägerin steht der Eigenschaft des Klärschlamms als bewegliche Sache nicht sein hohes Gewicht von mehr als 80 000 t entgegen. Im Hinblick auf Bodenmassen wird zwar die Auffassung vertreten, dass diese schon dann Grundstücksbestandteil würden, wenn das Gewicht die abgelagerte Masse praktisch unbeweglich mache (zu einer Bergehalde vgl. OVG Münster, Urteil vom 7. März 1985 - 20 A 212/84 - NuR 1985, 286 <287>). Das Oberverwaltungsgericht hat die Schichthöhe des Klärschlamms in den Schlammplätzen von bis zu ca. 3 bis 4 m als deutlich hinter der Höhe von Bergehalden zurückbleibend angesehen und deshalb die Eigenschaft des Klärschlamms als Grundstücksbestandteil auch unter diesem Gesichtspunkt verneint. Dagegen ist revisionsrechtlich nichts zu erinnern, zumal der Schlamm nach den Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts in tieferen Bereichen pastös bis schlammig geblieben und keine feste Verbindung mit dem Boden eingegangen ist (OVG Münster, Urteil vom 13. September 2017 - 20 A 601/14 - juris Rn. 10 und 104). Die diesbezüglich geäußerte Kritik der Revision an der Tatsachenfeststellung und -würdigung des Oberverwaltungsgerichts führt nicht zum Erfolg. Einen Verstoß gegen allgemeine Erfahrungssätze, Denkgesetze oder Auslegungsregeln hat sie nicht dargetan. Die Feststellungen sind nach § 137 Abs. 2 VwGO für das Revisionsgericht bindend. 33 Soweit das Oberverwaltungsgericht seine Auffassung unter Berücksichtigung von § 2 Abs. 2 Nr. 10 KrWG, wonach vom Geltungsbereich des Kreislaufwirtschaftsgesetzes Böden im Sinne von § 2 Abs. 1 BBodSchG am Ursprungsort ("in situ") ausgenommen sind, bekräftigt hat, bedarf es an sich keiner weiteren Ausführungen zu dieser hier nicht anwendbaren Vorschrift. Allerdings weist der Senat darauf hin, dass es nach § 2 Abs. 2 Nr. 10 KrWG weiterhin darauf ankommt, ob die Bestandteile des Bodens im Rechtssinne gemäß § 94 Abs. 1 BGB als wesentlich anzusehen sind (vgl. BVerwG, Beschluss vom 26. Juli 2016 - 7 B 28.15 - juris Rn. 6). 34 bb) Ohne Verstoß gegen Bundesrecht ist das Oberverwaltungsgericht von einem Entledigungswillen der Klägerin im Sinne von § 3 Abs. 1 Satz 1 KrW-/AbfG ausgegangen. Dieser ist anzunehmen, wenn aus den gesamten Umständen deutlich wird, dass der Besitzer die Sachen auf nicht absehbare Zeit liegenlassen will (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. Dezember 1989 - 7 B 157.89 - Buchholz 451.22 UWG Nr. 36 S. 64 zu § 1 Abs. 1 Satz 1 AbfG; OVG Schleswig, Urteil vom 12. September 2000 - 4 L 87/00 - juris Rn. 34). Solche Umstände hat das Oberverwaltungsgericht bejaht, weil die Klägerin den schadstoffbelasteten und wirtschaftlich wertlosen Klärschlamm "loswerden" will und dies auch durch den Antrag auf Genehmigung des Landschaftsbauwerks bestätigt wird. Bundesrechtlichen Bedenken begegnen diese Annahmen nicht. 35 Das Oberverwaltungsgericht hat entgegen der Auffassung der Revision keine widersprüchlichen Feststellungen zu dem Willen einer Entledigung der Klärschlämme getroffen und hierdurch gegen den Überzeugungsgrundsatz nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO verstoßen. Die gegenübergestellten Zitate aus den Urteilsgründen (OVG Münster, Urteil vom 13. September 2017 - 20 A 601/14 - juris Rn. 122 ff. zum Entledigungswillen nach § 3 Abs. 1 Satz 1 KrW-/AbfG sowie OVG Münster a.a.O. Rn. 82 ff. zum Lagern und Ablagern ohne Bezug zur Abwasserbeseitigung) beziehen sich auf unterschiedliche rechtliche Zusammenhänge und widersprechen sich inhaltlich nicht. 36 c) Das Berufungsgericht hat die Ermessensausübung der Beklagten nicht beanstandet. Dagegen ist revisionsrechtlich nichts zu erinnern. 37 aa) Insbesondere lagen die Voraussetzungen für eine Ausnahme vom Anlagenzwang nach § 27 Abs. 2 KrW-/AbfG nicht vor. Die Beklagte musste andere Entsorgungsmöglichkeiten außerhalb zugelassener Anlagen nicht berücksichtigen. 38 Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 KrW-/AbfG dürfen Abfälle zum Zwecke der Beseitigung nur in den dafür zugelassenen Anlagen oder Einrichtungen (Abfallbeseitigungsanlagen) behandelt, gelagert oder abgelagert werden. Nach § 27 Abs. 2 KrW-/AbfG können die zuständigen Behörden im Einzelfall unter dem Vorbehalt des Widerrufs Ausnahmen hiervon zulassen, wenn dadurch das Wohl der Allgemeinheit nicht beeinträchtigt wird. 39 Im Einklang mit Bundesrecht ist das Oberverwaltungsgericht davon ausgegangen, dass eine Ausnahme vom Anlagenzwang nach § 27 Abs. 2 KrW-/AbfG schon nicht in Betracht kommt, weil eine solche Ausnahme kein Mittel zur Zulassung einer Entsorgungsanlage ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eröffnet § 27 Abs. 2 KrW-/AbfG nicht als weitere Entscheidungsform neben Planfeststellung und Genehmigung die Zulassung ortsfester Abfallentsorgungsanlagen. Im Wege der Ausnahme nach § 27 Abs. 2 KrW-/AbfG können vielmehr nur Ausnahmen von der Benutzungspflicht für das Behandeln, Lagern und Ablagern von Abfällen (BVerwG, Beschluss von 17. Januar 1991 - 7 B 158.90 - Buchholz 451.22 AbfG Nr. 41) sowie Ausnahmen von Zulassungsgrund und -umfang einer vorhandenen Anlage (BVerwG, Urteil vom 9. Juli 1992 - 7 C 21.91 - BVerwGE 90, 296 <299>) erteilt werden. Stets muss es sich dabei um Ausnahmen im Einzelfall handeln, die im Ergebnis nicht die Qualität einer dauerhaften Anlagenzulassung erreichen (OVG Lüneburg, Beschluss vom 12. Dezember 1985 - 7 B 22.85 - UPR 1986, 238 <239>; Schomerus, in: Versteyl/Mann/Schomerus, KrWG, 4. Aufl. 2019 § 28 Rn. 40). 40 Hiervon ausgehend hat das Oberverwaltungsgericht zu Recht keine einzelfallbezogenen Besonderheiten von Gewicht erkannt, die eine Ausnahme rechtfertigen könnten. Es handelt sich um die regelmäßige Konstellation der Klärschlammbehandlung im Verantwortungsbereich eines Abfallentsorgungspflichtigen. Die bloße Existenz von Schlammplätzen mit Klärschlamm aus dem früheren Betrieb von Kläranlagen stellt keinen atypischen Fall dar. Nach den tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts sind keine spezifischen Besonderheiten der Klärschlämme erkennbar, die sie von anderen Altschlämmen unterscheiden würden und die von solchem Gewicht sind, dass sie eine ausnahmsweise Beseitigung des Klärschlamms außerhalb einer zugelassenen Abfallbeseitigungsanlage rechtfertigen könnten. 41 bb) Das Oberverwaltungsgericht hat die Anordnung zur Entsorgung des Klärschlamms in einer dafür zugelassenen Abfallentsorgungsanlage zutreffend als nicht im Widerspruch zu § 13 Abs. 5 BBodSchG in der bis zum 1. Juni 2012 geltenden Fassung stehend erachtet (OVG Münster, Urteil vom 13. September 2017 - 20 A 601/14 - juris Rn. 148 ff.). Nach § 13 Abs. 5 BBodSchG gilt § 27 Abs. 1 Satz 1 KrW-/AbfG nicht, soweit entnommenes Bodenmaterial im Bereich der von der Altlastensanierung betroffenen Fläche wieder eingebracht werden soll, wenn durch einen für verbindlich erklärten Sanierungsplan oder eine Anordnung zur Durchsetzung der Pflichten nach § 4 BBodSchG sichergestellt wird, dass das Wohl der Allgemeinheit nicht beeinträchtigt wird. Es existieren hier weder ein entsprechender Sanierungsplan noch eine solche Anordnung. 42 cc) Ohne Bundesrechtsverstoß hat das Oberverwaltungsgericht einen Bestandsschutz zugunsten der Schlammplätze verneint. Die Revision rügt ohne Erfolg, das Berufungsgericht habe die Unterlagen zur Entstehungsgeschichte und zum Genehmigungstatbestand der Kläranlage nicht in der gebotenen Weise gemäß den Auslegungsregeln der §§ 133, 157 BGB gewürdigt. 43 Die Auslegung von Willenserklärungen, Verträgen und Verwaltungsakten unterliegt als Tatsachenwürdigung nur eingeschränkter revisionsgerichtlicher Kontrolle. Zu prüfen ist, ob das Tatsachengericht den Inhalt nach den zu §§ 133, 157 BGB entwickelten Regeln ermittelt hat. In diesem Fall ist der tatrichterlich ermittelte Erklärungsinhalt als Tatsachenfeststellung nach § 137 Abs. 2 VwGO bindend. Die Bindung tritt lediglich dann nicht ein, wenn die vom Tatsachengericht vorgenommene Auslegung einen Rechtsirrtum oder einen Verstoß gegen allgemeine Erfahrungssätze, Denkgesetze oder Auslegungsregeln erkennen lässt (vgl. BVerwG, Urteile vom 7. Dezember 1966 - 5 C 47.64 - BVerwGE 25, 318 <323 f.>, vom 27. Mai 1981 - 8 C 6.81 - Buchholz 406.11 § 135 BBauG Nr. 17 S. 6 m.w.N. und vom 7. November 2018 - 7 C 18.18 - Buchholz 451.224 § 36 KrWG Nr. 2 Rn. 27 ff.). Es bedarf einer den Anforderungen des § 139 Abs. 3 Satz 4 VwGO genügenden Verfahrensrüge, um das Auslegungsergebnis anzugreifen; die bloße Darlegung einer abweichenden, von einem Beteiligten für richtig gehaltenen Auslegung eines Verwaltungsakts genügt dagegen nicht (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. Oktober 2015 - 7 C 15.13 - [insoweit nicht in Buchholz 406.254 UmwRG Nr. 16 abgedruckt] juris Rn. 33 f.). Eine solche Verfahrensrüge hat die Revision nicht erhoben. 44 Die Klägerin stellt den Erwägungen des Oberverwaltungsgerichts lediglich eine andere Würdigung gegenüber, ohne einen Verstoß gegen die Auslegungsregeln der §§ 133, 157 BGB plausibel zu machen. Nach ihrem Vorbringen war es zum Zeitpunkt der Aufnahme des Betriebs und der Erweiterung der Kläranlage üblich, Klärschlamm in den Schlammbecken dauerhaft zu belassen. Zudem seien die Schlammplätze in den Antragsunterlagen und der Zustimmung zum vorzeitigen Baubeginn von 1970 als Schlammdeponien bezeichnet worden. Die Umstände der Stilllegung der Kläranlage belegten, dass von einem dauerhaften Verbleib des Klärschlamms auszugehen gewesen sei. Die Revision sieht deshalb in dem Schweigen der behördlichen Genehmigungen eine Billigung zur Ablagerung der Klärschlämme. Damit stellt die Klägerin die Anwendung der §§ 133, 157 BGB durch das Oberverwaltungsgericht aber nicht durchgreifend in Frage. Die Motive zum weiteren Umgang mit dem Klärschlamm haben - wie vom Oberverwaltungsgericht ausgeführt - weder im Wortlaut der erteilten Genehmigungen noch in den Antragsunterlagen oder bei den sonstigen Umständen von deren Erlass positiv Niederschlag gefunden. Bloßes Schweigen stellt jedoch grundsätzlich keine Regelung dar (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. November 2009 - 4 C 3.09 - BVerwGE 135, 209 Rn. 20). Eine dauerhafte Ablagerung des Klärschlamms ist damit behördlich nicht genehmigt worden. Einer bloßen Duldung kommt keine Legalisierungswirkung zu (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. März 2006 - 7 C 3.05 - BVerwGE 125, 325 Rn. 31). 45 dd) Die weitere Prüfung der Ermessensausübung durch das Oberverwaltungsgericht lässt Rechtsfehler nicht erkennen. Soweit die Klägerin höhere Kosten für Auskofferung und Entsorgung geltend macht, als vom Oberverwaltungsgericht angenommen, stehen neue Tatsachen im Revisionsverfahren in Rede. Die tragenden Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts hat die Klägerin aber nicht mit der Verfahrensrüge angegriffen. 46 2. Der Antrag zu 2. gilt als nicht gestellt. Er steht unter der innerprozessualen Bedingung, dass der Hauptantrag durchdringt. Dies ist nicht der Fall. 47 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
bundesverwaltungsgericht
bverwg_2021-20
30.03.2021
Pressemitteilung Nr. 20/2021 vom 30.03.2021 EN Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit durch langjährige Behandlung als Deutscher und Erstreckung auf Abkömmlinge Die "Ersitzung" der deutschen Staatsangehörigkeit durch eine mindestens zwölfjährige Behandlung als Deutscher seitens deutscher Behörden, die der Betroffene nicht zu vertreten hat, erstreckt sich auf dessen Abkömmlinge unabhängig davon, ob diese selbst "gutgläubig" sind. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig heute entschieden. Der 1982 in Brasilien geborene Kläger zu 1. und seine 2011 ebendort geborene Tochter, die Klägerin zu 2., sind Nachfahren eines 1853 nach Brasilien ausgewanderten "preußischen Untertanen". Sie begehren die Verpflichtung der Beklagten festzustellen, dass sie deutsche Staatsangehörige sind. Das Oberverwaltungsgericht hat der erstinstanzlich erfolglosen Klage stattgegeben. Der Vater des Klägers, der zuvor ausschließlich brasilianischer Staatsangehöriger gewesen sei, habe die deutsche Staatsangehörigkeit zwar nicht durch Abstammung, wohl aber im April 2015 nach § 3 Abs. 2 StAG dadurch erworben, dass deutsche Stellen ihn seit April 2003 irrtümlich als deutschen Staatsangehörigen behandelt hätten. Das Bundesverwaltungsamt habe ihm im April 2003 einen Staatsangehörigkeitsausweis mit einer Gültigkeit von zehn Jahren ausgestellt; im August 2014 sei ihm durch das Generalkonsulat São Paulo ein ebenfalls zehn Jahre gültiger Reisepass ausgestellt worden. Der Staatsangehörigkeitserwerb des Vaters des Klägers, der die Behandlung als deutscher Staatsangehöriger nicht zu vertreten habe, wirke auf den Zeitpunkt von dessen Geburt im Jahre 1947 zurück. Er erstrecke sich nach § 3 Abs. 2 Satz 4 StAG kraft Gesetzes auf die beiden Kläger als dessen Abkömmlinge; auf ein etwaiges Vertretenmüssen in der Person des Klägers komme es nicht an. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts bestätigt. Der Vater des Klägers hat die deutsche Staatsangehörigkeit durch "Ersitzung" rückwirkend auf den Zeitpunkt seiner Geburt erworben. Der dafür erforderlichen durchgängigen Behandlung als deutscher Staatsangehöriger "seit zwölf Jahren" steht nicht entgegen, dass der ihm erteilte Staatsangehörigkeitsausweis im April 2013 seine Gültigkeit verloren hat und ihm erst im August 2014 ein Reisepass ausgestellt worden ist. In der zeitlichen Lücke liegt hier keine anspruchsschädliche Unterbrechung. Der Vater des Klägers hat seine rechtsirrtümliche Behandlung als Deutscher nicht zu vertreten. Ebenso wenig wie seine Behandlung als Deutscher ist sein Nichtvertretenmüssen insbesondere dadurch entfallen, dass das Generalkonsulat São Paulo 2015 dem Kläger kurz vor Ablauf des Zwölfjahreszeitraums den ausschließlich an die beiden Kläger gerichteten streitgegenständlichen Bescheid hat bekanntgeben lassen, mit dem es diesen gegenüber das Nichtbestehen der deutschen Staatsangehörigkeit festgestellt hat. Eine Kenntnis auch des Vaters des Klägers von diesem Vorgang vor Ablauf des Zwölfjahreszeitraums hat das Oberverwaltungsgericht gerade nicht festgestellt. Des Vaters rückwirkender Staatsangehörigkeitserwerb erstreckt sich kraft Gesetzes auf die Kläger als Abkömmlinge, die seither ihre Staatsangehörigkeit von ihm ableiten. Der Erstreckungserwerb setzt entgegen der Auffassung der Beklagten nicht voraus, dass auch der Abkömmling seinerseits eine Behandlung als deutscher Staatsangehöriger nicht zu vertreten haben darf bzw. "gutgläubig" gewesen sein muss. Er ist zudem unabhängig davon eingetreten, ob der Kläger in der Zeit bis April 2015 - etwa durch einen freiwilligen Eintritt in fremde Streitkräfte - einen Verlusttatbestand verwirklicht hat. BVerwG 1 C 28.20 - Urteil vom 30. März 2021 Vorinstanzen: OVG Münster, 19 A 169/19 - Beschluss vom 24. März 2020 - VG Köln, 10 K 11698/16 - Beschluss vom 21. November 2018 -
Urteil vom 30.03.2021 - BVerwG 1 C 28.20ECLI:DE:BVerwG:2021:300321U1C28.20.0 EN Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit durch langjährige Behandlung als Deutscher und Erstreckung auf Abkömmlinge Leitsätze: 1. Der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit durch langjährige Behandlung als deutscher Staatsangehöriger nach § 3 Abs. 2 Satz 1 StAG erstreckt sich gemäß § 3 Abs. 2 Satz 4 StAG kraft Gesetzes auf Abkömmlinge, die seither ihre Staatsangehörigkeit von dem Begünstigten ableiten, ohne dass es darauf ankommt, ob diese ihrerseits die Behandlung des Begünstigten als deutscher Staatsangehöriger zu vertreten haben. 2. Der Erstreckungserwerb der Abkömmlinge nach § 3 Abs. 2 Satz 4 StAG wirkt auf den Zeitpunkt ihrer Geburt zurück. Sein Fortbestand hängt nicht davon ab, dass der Abkömmling in dem Zeitraum, auf den sich die Rückwirkung bezieht, keinen staatsangehörigkeitsrechtlichen Verlusttatbestand erfüllt hat. Rechtsquellen StAG § 3 Abs. 2, § 4 Abs. 1 und Abs. 4, §§ 28, 30, 37 StAG 1870 § 21 GG Art. 16 Abs. 1 VwGO § 137 Abs. 1 und 2 Instanzenzug VG Köln - 21.11.2018 - AZ: VG 10 K 11698/16 OVG Münster - 24.03.2020 - AZ: OVG 19 A 169/19 Zitiervorschlag BVerwG, Urteil vom 30.03.2021 - 1 C 28.20 - [ECLI:DE:BVerwG:2021:300321U1C28.20.0] Urteil BVerwG 1 C 28.20 VG Köln - 21.11.2018 - AZ: VG 10 K 11698/16 OVG Münster - 24.03.2020 - AZ: OVG 19 A 169/19 In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 30. März 2021 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit, die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Fleuß und die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Dr. Rudolph und Dr. Wittkopp für Recht erkannt: Die Revision der Beklagten gegen den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 24. März 2020 wird zurückgewiesen. Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens. Gründe I 1 Die Kläger begehren die Feststellung, dass sie deutsche Staatsangehörige sind, und die Ausstellung von Staatsangehörigkeitsausweisen. 2 Der im April ... in M./Brasilien ehelich geborene Kläger und seine nichteheliche Tochter, die im September 2011 in C./Brasilien geborene Klägerin, sind (jedenfalls) brasilianische Staatsangehörige. Beide sind in einer ununterbrochenen väterlichen Linie Nachfahren des im August 1832 in .../preußische Provinz Sachsen geborenen H. F. M., der 1853 nach B./Brasilien ausgewandert war (Ururgroßvater des Klägers). Der Kläger hat nach eigenen Angaben von 2000 bis 2001 in Brasilien Militärdienst geleistet. 3 Am 3. April 2003 stellte das Bundesverwaltungsamt dem Kläger und seinem Vater, dem 1947 in Brasilien geborenen T. V. M., bis zum 2. April 2013 gültige Staatsangehörigkeitsausweise aus. Dabei nahm es an, der Kläger und sein Vater hätten die deutsche Staatsangehörigkeit jeweils mit ihrer ehelichen Geburt durch Abstammung väterlicherseits erworben. 4 Aus Anlass eines Staatsangehörigkeitsfeststellungsverfahrens der Schwester des Vaters des Klägers vermerkte das Bundesverwaltungsamt am 18. August 2009 in der Akte des Klägers, der Staatsangehörigkeitsausweis sei rechtswidrig ausgestellt worden. Diesem Vermerk lag eine Änderung seiner Rechtsauffassung zum Fortbestehen der deutschen Staatsangehörigkeit bei Nachfahren deutscher Einwanderer in Brasilien zugrunde. Sie beruhte auf der Feststellung des Berufungsgerichts in einem anderen Verfahren, wonach die im 19. Jahrhundert nach Brasilien ausgewanderten deutschen Reichsangehörigen während der Geltung des StAG 1870 nur in sehr geringem Umfang von der Möglichkeit Gebrauch gemacht haben, einen Staatsangehörigkeitsverlust durch Eintragung in das Matrikelbuch eines Reichskonsulats in Brasilien abzuwenden (OVG Münster, Beschluss vom 9. Januar 2008 - 12 A 1842/06 - juris Rn. 6). 5 Im Dezember 2011 beantragte die Klägerin, vertreten durch den Kläger und ihre Mutter, beim Bundesverwaltungsamt die Ausstellung eines Staatsangehörigkeitsausweises. Das Bundesverwaltungsamt verstand diesen Antrag zugleich auch als Antrag des Klägers in eigenem Namen. Es teilte dem Generalkonsulat ... im April 2012 per E-Mail mit, dass es die Ausstellung der Staatsangehörigkeitsausweise an den Kläger und seinen Vater im Jahr 2003 seit dem Jahr 2009 als rechtswidrig ansehe, und bat, "für die genannten Personen zunächst keine weiteren Pässe auszustellen". Bei einem erneuten Antrag sei zu prüfen, ob sie die deutsche Staatsangehörigkeit durch Ersitzung erworben hätten. 6 Mit Bescheid vom 23. Januar 2015, dem Kläger ausgehändigt im Honorarkonsulat C./Brasilien am 14. März 2015, stellte das Bundesverwaltungsamt in Bezug auf beide Kläger fest, dass sie nicht deutsche Staatsangehörige seien. 7 Den dagegen erhobenen Widerspruch wies das Bundesverwaltungsamt zurück. Es führte aus, der 1853 ausgewanderte Ururgroßvater des Klägers habe seine Eigenschaft als Preuße nach § 15 Abs. 3 i.V.m. § 23 des Gesetzes vom 31. Dezember 1842 über die Erwerbung und den Verlust der Eigenschaft als preußischer Untertan sowie über den Eintritt in fremde Staatsdienste durch zehnjährigen Aufenthalt im Ausland verloren. Eine dadurch etwa eintretende Staatenlosigkeit habe dieses Gesetz in Kauf genommen. Selbst wenn der Ururgroßvater aber bei Gründung des deutschen Reiches 1871 noch im Besitz der preußischen Untertaneneigenschaft gewesen wäre, wäre ein Verlust sowohl bei diesem als auch bei dem 1877 geborenen Urgroßvater jedenfalls im Jahr 1881 nach § 21 StAG 1870 durch zehnjährigen legitimationslosen Auslandsaufenthalt eingetreten. Ein Matrikelschein, mit dem der Verlust habe abgewendet werden können, sei nicht vorgelegt worden; ebenso fehle es an anderweitigen aussagekräftigen Indizien dafür, dass die die Staatsangehörigkeit erhaltenden Maßnahmen tatsächlich ergriffen worden seien. 8 Mit Urteil vom 21. November 2018 wies das Verwaltungsgericht Köln die dagegen erhobene Klage ab. Zur Begründung führte es aus, die Kläger hätten die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt erworben, weil ihre Vorfahren väterlicherseits, von denen sie ihre deutsche Staatsangehörigkeit ableiteten, bereits keine deutsche Staatsangehörigkeit (mehr) besessen hätten. Die Kläger hätten die deutsche Staatsangehörigkeit auch nicht durch Ersitzung erworben. Es sei nichts dafür ersichtlich, dass der Vater des Klägers nach Ablauf seines bis 2. April 2013 gültig gewesenen Staatsangehörigkeitsausweises weiterhin als deutscher Staatsangehöriger behandelt worden sei. 9 Im Berufungsverfahren haben die Kläger unter Vorlage entsprechender Kopien erstmals vorgetragen, dem Vater des Klägers (T. V. M.) sei noch im August 2014 vom Generalkonsulat ... ein bis August 2024 gültiger neuer Reisepass ausgestellt worden. Auch die Kläger hätten im Juni 2017 vom Generalkonsulat ... Reisepässe erhalten, gültig bis Juni 2027 (Kläger) bzw. bis Juni 2023 (Klägerin). Sie haben zudem eine im Juli 2014 vom Standesamt I in Berlin ausgestellte Geburtsurkunde der Klägerin in Kopie eingereicht. 10 Das Oberverwaltungsgericht hat durch Beschluss vom 24. März 2020 die (Negativ-)Feststellung, dass die Kläger nicht deutsche Staatsangehörige seien, aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, den Klägern Staatsangehörigkeitsausweise auszustellen. Die Kläger hätten die deutsche Staatsangehörigkeit am 4. April 2015 nach § 3 Abs. 2 Satz 1 und 4 StAG dadurch erworben, dass das Bundesverwaltungsamt und das Generalkonsulat ... den Vater des Klägers, der zuvor ausschließlich brasilianischer Staatsangehöriger gewesen sei, seit dem 3. April 2003 - und damit zwölf Jahre lang - durchgängig als deutschen Staatsangehörigen behandelt hätten. Ihm sei im April 2003 ein Staatsangehörigkeitsausweis und im August 2014 ein Reisepass ausgestellt worden. Entgegen der Auffassung der Beklagten sei die amtliche Behandlung des Vaters des Klägers als deutscher Staatsangehöriger nicht vor dem 4. April 2015 dadurch beendet worden, dass das Generalkonsulat dem Kläger am 14. März 2015 im Honorarkonsulat C./Brasilien den ausschließlich an ihn selbst und die Klägerin gerichteten, hier streitgegenständlichen Bescheid vom 23. Januar 2015 habe aushändigen lassen. Es sei schon nicht feststellbar, dass der Vater zwischen der Aushändigung an den Kläger am 14. März 2015 und dem Ablauf des Zwölf-Jahres-Zeitraums am 3. April 2015 überhaupt Kenntnis vom Inhalt des Bescheides erlangt habe. Der Vater des Klägers habe diese Behandlung als deutscher Staatsangehöriger in der Zeit von April 2003 bis April 2015 nicht zu vertreten. Eine etwaige Obliegenheitsverletzung des Klägers sei seinem Vater als staatsangehörigkeitsrechtlich eigenständig handlungsfähiger Person nicht zuzurechnen. Der damit rückwirkend eingetretene Staatsangehörigkeitserwerb des Vaters des Klägers erstrecke sich nach § 3 Abs. 2 Satz 4 StAG auch auf die Kläger als Abkömmlinge, die seither ihre Staatsangehörigkeit von dem Vater ableiteten. Dem Wortlaut und dem Zweck des Satzes 4 ließen sich keine Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass der dort geregelte Erstreckungserwerb des Abkömmlings ebenso wie der Vertrauensschutzerwerb des Stammberechtigten nach Satz 1 von dem ausschließlich dort erwähnten negativen Tatbestandsmerkmal des Nichtvertretenmüssens abhänge. Ebenso wenig stehe es dem gesetzlichen Erstreckungserwerb entgegen, wenn der Kläger in der Zeit bis zum 4. April 2015 - etwa mit dem Eintritt in die Streitkräfte eines ausländischen Staates - Verlusttatbestände verwirklicht hätte, mit der Folge, dass eine mit Geburt erworbene deutsche Staatsangehörigkeit bei hypothetisch-rückschauender Betrachtung vor dem 4. April 2015 verloren gegangen wäre. 11 Mit ihrer Revision rügt die Beklagte eine Verletzung von § 3 StAG. Die Auslegung dieser Vorschrift durch das Berufungsgericht unterlaufe das Gesetzesziel, Ersitzungstatbestände auf Gutglaubensfälle zu beschränken. Es fehle beim Vater des Klägers bereits an einer zwölfjährigen durchgängigen Behandlung als deutscher Staatsangehöriger. Der ihm erteilte Staatsangehörigkeitsausweis habe weder bindende noch über den 2. April 2013 hinausreichende Wirkung gehabt. Erst am 10. August 2014 sei dem Vater ein deutscher Reisepass ausgestellt worden. Selbst wenn aber beim Vater des Klägers von einer Ersitzung der deutschen Staatsangehörigkeit infolge einer durchgehenden "Deutschenbehandlung" auszugehen wäre, habe einer Erstreckung dieses Erwerbs auf die Kläger jedenfalls deren böser Glaube entgegengestanden. Dass dies den Erstreckungserwerb nicht hindere, entspreche weder der Intention des Gesetzgebers noch sei diese Auslegung aufgrund des Wortlauts der Norm geboten. 12 Die Kläger verteidigen den angegriffenen Beschluss. 13 Der Vertreter des Bundesinteresses beteiligt sich am Verfahren und schließt sich der Rechtsauffassung der Beklagten an. II 14 Die Revision ist nicht begründet. Das Oberverwaltungsgericht hat die Beklagte zu Recht unter Aufhebung der gegenteiligen (Negativ-)Feststellung verpflichtet festzustellen, dass die Kläger deutsche Staatsangehörige sind, bzw. ihnen Staatsangehörigkeitsausweise auszustellen. Seine Rechtsauffassung, die Kläger hätten die deutsche Staatsangehörigkeit nach § 3 Abs. 2 Satz 4 StAG erworben, steht im Einklang mit Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 VwGO). 15 Die Klage ist - wie im Berufungsurteil ausgeführt - als kombinierte Verpflichtungs- und Anfechtungsklage statthaft. Sie ist primär auf die in § 30 Abs. 1 Satz 1 und 2 StAG vorgesehene verbindliche behördliche Feststellung der deutschen Staatsangehörigkeit gerichtet; zugleich begehren die Kläger zulässigerweise die Aufhebung der von Amts wegen möglichen (§ 30 Abs. 1 Satz 3 StAG), hier vom Bundesverwaltungsamt ausdrücklich getroffenen, selbstständig belastenden Feststellung, dass sie nicht deutsche Staatsangehörige sind. Die Klage ist auch im Übrigen zulässig. Insbesondere fehlt dem Kläger nicht deshalb das Rechtsschutzinteresse, weil ihm das Bundesverwaltungsamt bereits am 3. April 2003 einen für zehn Jahre gültigen Staatsangehörigkeitsausweis ausgestellt hatte. Denn dieser Staatsangehörigkeitsausweis hatte nach der seinerzeit geltenden Rechtslage nur den Charakter einer widerlegbaren Vermutung (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. Februar 2015 - 1 C 17.14 - BVerwGE 151, 245 Rn. 13 f.). Ein verbindliches behördliches Staatsangehörigkeitsfeststellungsverfahren hat der Gesetzgeber erst mit § 30 StAG in der Fassung von Art. 5 Nr. 19 des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl. I S. 1970) geschaffen. 16 Die Klage ist auch begründet. Das Berufungsgericht hat zutreffend entschieden, dass die Kläger am 4. April 2015 die deutsche Staatsangehörigkeit nach § 3 Abs. 2 Satz 4 i.V.m. Satz 1 StAG mit Rückwirkung auf den Zeitpunkt ihrer Geburt dadurch erworben haben, dass deutsche Stellen den Vater des Klägers seit dem 3. April 2003 - und damit zwölf Jahre lang - als deutschen Staatsangehörigen behandelt haben, ohne dass dieser seine Behandlung als Deutscher zu vertreten hatte. Die Kläger haben die deutsche Staatsangehörigkeit nicht schon im Wege des (regulären) Abstammungserwerbs nach § 4 Abs. 1 StAG bei Geburt erworben (dazu 1.). Der Vater des Klägers, der zuvor ausschließlich brasilianischer Staatsangehöriger war, ist aber durch die langjährige irrtümliche Behandlung als Deutscher nach § 3 Abs. 2 Satz 1 und 3 StAG rückwirkend zum Zeitpunkt seiner Geburt im Jahr 1947 deutscher Staatsangehöriger geworden (dazu 2.). Dessen Staatsangehörigkeitserwerb erstreckt sich gemäß § 3 Abs. 2 Satz 4 StAG kraft Gesetzes auf die Kläger als Abkömmlinge, die seither ihre Staatsangehörigkeit von ihm ableiten (dazu 3. und 4.). 17 Maßgeblich für die Prüfung des Anspruchs auf behördliche Feststellung der deutschen Staatsangehörigkeit ist die gegenwärtige Rechtslage (BVerwG, Urteil vom 1. Juni 2017 - 1 C 16.16 - NVwZ 2017, 1312 Rn. 10). Die rechtliche Beurteilung richtet sich damit nach dem Staatsangehörigkeitsgesetz - StAG - in der aktuell geltenden Fassung, zuletzt geändert durch Art. 4 der Elften Zuständigkeitsanpassungsverordnung vom 19. Juni 2020 (BGBl. I S. 1328), soweit sich aus dem anzuwendenden materiellen Recht nichts Abweichendes ergibt. 18 1. Einem Staatsangehörigkeitserwerb der Kläger durch Geburt nach § 4 Abs. 1 StAG steht entgegen, dass schon der Vater des Klägers die deutsche Staatsangehörigkeit nicht im Wege des Abstammungserwerbs durch eheliche Geburt nach § 4 Abs. 1 RuStAG 1913 in der zum Zeitpunkt seiner Geburt im August 1947 geltenden Fassung erworben hat. Nach dieser Vorschrift erwarb das eheliche Kind eines Deutschen durch die Geburt die Staatsangehörigkeit des Vaters. Hiernach hat der Vater des Klägers die deutsche Staatsangehörigkeit nicht erworben, weil bereits der Großvater väterlicherseits des Klägers, der 1910 in Brasilien geborene F. M., die preußische Staatsangehörigkeit (die als "Staatsangehörigkeit in einem Bundesstaate" gemäß § 1 des Gesetzes über die Erwerbung und den Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit vom 1. Juni 1870 - StAG 1870 - die Bundeszugehörigkeit vermittelte), nicht mehr durch Geburt nach § 3 StAG 1870 erwerben konnte. Auch nach dieser Regelung erwarben durch die Geburt, auch wenn diese im Ausland erfolgte, eheliche Kinder eines (Nord-)Deutschen die Staatsangehörigkeit des Vaters. Der Großvater des Klägers, F. M., konnte indes bei seiner Geburt im Jahr 1910 von seinem Vater, dem im März 1877 in B./Brasilien geborenen F. M., die preußische Staatsangehörigkeit nicht ableiten, weil dieser im Geburtszeitpunkt seines Sohnes jedenfalls nicht mehr preußischer Staatsangehöriger war. 19 Der Senat lässt mit dem Berufungsgericht offen, ob der 1853 ausgewanderte Ururgroßvater des Klägers, H. F. M., seine Eigenschaft als "preußischer Untertan" bereits nach § 23 des Gesetzes über die Erwerbung und den Verlust der Eigenschaft als preußischer Untertan sowie über den Eintritt in fremde Staatsdienste vom 31. Dezember 1842 infolge seines mehr als zehnjährigen Aufenthalts im Ausland verloren hatte, mit der Folge, dass sein 1877 geborener Sohn F. M. die preußische Staatsangehörigkeit schon nicht durch Abstammung erworben hätte. Denn selbst wenn F. M. mit seiner Geburt im Jahr 1877 die preußische Staatsangehörigkeit bzw. Bundeszugehörigkeit noch erworben haben sollte, so hätte er diese nach § 21 Abs. 2 StAG 1870, jedenfalls aber nach § 21 Abs. 1 Satz 1 StAG 1870 spätestens zehn Jahre nach Erreichen der Volljährigkeit mit damals noch 21 Jahren, also im März 1908 - und damit vor der Geburt seines Sohnes F. im Jahr 1910 - verloren. 20 Nach § 21 Abs. 1 StAG 1870 verloren "(Nord-)Deutsche, welche das Bundesgebiet verlassen und sich zehn Jahre lang ununterbrochen im Ausland aufhalten", dadurch ihre Staatsangehörigkeit. Die Frist wurde "von dem Zeitpunkte des Austritts aus dem Bundesgebiete oder, wenn der Austretende sich im Besitz eines Reisepapieres oder Heimatscheines befindet, von dem Zeitpunkte des Ablaufs dieser Papiere an gerechnet." Sie wurde unterbrochen durch die Eintragung in die Matrikel eines Bundeskonsulats. Bei Minderjährigen, die sich ohne ihre Eltern im Ausland aufhielten, wurde nach damaliger Praxis von einem Fristlauf erst ab erreichter Volljährigkeit ausgegangen (vgl. etwa Grill, Die Reichsgesetze über die Erwerbung und den Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit und über die Freizügigkeit, 2. Aufl. 1901, S. 57). Zutreffend hat das Berufungsgericht darauf hingewiesen, dass § 21 Abs. 1 StAG 1870 auch auf im Ausland geborene Kinder von Auswanderern Anwendung fand (dazu näher OVG Münster, Beschluss vom 6. Juni 2012 - 19 A 1170/11 - OVGE MüLü 55, 93 ff. = juris Rn. 33-41). § 21 Abs. 2 StAG 1870 bestimmte zudem, dass sich der nach Abs. 1 eingetretene Verlust der Staatsangehörigkeit zugleich auf die Ehefrau und auf diejenigen Kinder erstreckte, deren gesetzliche Vertretung dem Ausgetretenen kraft elterlicher Gewalt zustand, soweit sich die Ehefrau oder die Kinder bei dem Ausgetretenen befanden. 21 Nach diesen Regelungen hat der 1877 geborene Urgroßvater des Klägers F. M. eine bis dahin in der Generationenkette etwa erhalten gebliebene preußische Staatsangehörigkeit bzw. Bundeszugehörigkeit wahrscheinlich schon gemäß § 21 Abs. 2 StAG 1870 aufgrund Erstreckung eines bei seinem Vater, dem 1853 ausgewanderten H. F. M., nach § 21 Abs. 1 StAG eingetretenen Verlusts verloren; spätestens wäre der Verlust aber zehn Jahre nach Erreichen der eigenen Volljährigkeit, also im März 1908 gemäß § 21 Abs. 1 StAG 1870 eingetreten. Denn nach den Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts ist nicht davon auszugehen, dass namentlich der 1877 geborene F. M. von den Möglichkeiten zur Abwendung des Staatsangehörigkeitsverlusts Gebrauch gemacht hatte; insbesondere hat eine - nach § 21 Abs. 1 Satz 3 StAG 1870 fristunterbrechende - Eintragung in die Matrikel eines Bundeskonsulats, für die die Kläger die Beweislast tragen, nicht festgestellt werden können (vgl. näher BA S. 11). 22 2. Der Vater des Klägers hat die deutsche Staatsangehörigkeit jedoch nach § 3 Abs. 2 Satz 1 und 3 StAG dadurch erworben, dass deutsche Stellen ihn irrtümlich zwölf Jahre lang als deutschen Staatsangehörigen behandelt haben (2.1.), ohne dass er dies zu vertreten hatte (2.2.). Er ist dadurch rückwirkend zum Zeitpunkt seiner Geburt deutscher Staatsangehöriger geworden (2.3.). 23 Diese Regelung, nach der die deutsche Staatsangehörigkeit gewissermaßen durch "Ersitzung" erworben werden kann, ist mit dem Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl. I S. 1970) in das Staatsangehörigkeitsgesetz aufgenommen worden. Sie dient dem Vertrauensschutz des Einzelnen und der Gewährleistung von Rechtssicherheit, vor allem in den Bereichen, in denen die deutsche Staatsangehörigkeit Voraussetzung weiterer Rechte ist, etwa beim Wahlrecht oder im Beamtenrecht (siehe auch BT-Drs. 16/5065, S. 227). Der Staatsangehörigkeitserwerb nach § 3 Abs. 2 Satz 1 StAG setzt voraus, dass der Betroffene seit zwölf Jahren von deutschen Stellen als deutscher Staatsangehöriger behandelt worden ist und dies nicht zu vertreten hat. Er findet nur auf Personen Anwendung, die - wie der Vater des Klägers - nicht ohnehin bereits die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, die also zu Unrecht als deutsche Staatsangehörige behandelt werden. Nicht erforderlich ist, dass der Betroffene einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat; die Regelung kommt auch Auslandsdeutschen zugute (vgl. etwa Kau, in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht, 6. Aufl. 2017, § 3 Rn. 7). 24 2.1. Der Vater des Klägers ist zwölf Jahre lang von deutschen Stellen als deutscher Staatsangehöriger behandelt worden. 25 a) Deutsche Stellen im Sinne von § 3 Abs. 2 Satz 1 StAG sind Verwaltungsbehörden oder Selbstverwaltungsorgane, die unmittelbar oder mittelbar mit der Prüfung der Staatsangehörigkeit des Betroffenen befasst sind. Dazu zählen neben den Staatsangehörigkeitsbehörden und den mit konsularischen Angelegenheiten befassten Stellen des Auswärtigen Amtes vor allem die Pass-, Ausweis- und Meldebehörden und die Standesämter. Eine Behandlung als deutscher Staatsangehöriger liegt insbesondere in der Ausstellung eines Staatsangehörigkeitsausweises, Reisepasses oder Personalausweises (§ 3 Abs. 2 Satz 2 StAG). Die Behandlung als Deutscher muss "seit zwölf Jahren" andauern. Sie darf demnach keine Unterbrechung aufweisen und muss bei Inkrafttreten der Norm am 28. August 2007 noch fortdauern (vgl. BT-Drs. 16/5065, S. 227; Berlit, in: Dörig, Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, 2. Aufl. 2020, § 2 Rn. 39). Eine Behandlung als deutscher Staatsangehöriger endet, wenn dem Betroffenen von einer deutschen Stelle im Sinne von § 3 Abs. 2 Satz 1 StAG Zweifel am Bestehen seiner deutschen Staatsangehörigkeit mitgeteilt werden. Das gilt insbesondere, wenn ihm ein Bescheid dieser Stellen bekannt gegeben wird, in dem vom Nichtbestehen der deutschen Staatsangehörigkeit ausgegangen wird, aber auch schon dann, wenn ihm eine zuständige deutsche Stelle Umstände zur Kenntnis bringt, die zu einer anderweitigen staatsangehörigkeitsrechtlichen Bewertung führen (können) und/oder ein Staatsangehörigkeitsprüfungsverfahren offenen Ausgangs eingeleitet wird (vgl. Berlit, in: Dörig, Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, 2. Aufl. 2020, § 2 Rn. 38; VG Köln, Urteil vom 7. August 2017 - 10 K 5358/15 - juris Rn. 25). Die fortdauernde Gültigkeit eines der in § 3 Abs. 2 Satz 2 StAG aufgeführten Dokumente steht der Beendigungswirkung in derartigen Fällen jedenfalls dann nicht entgegen, wenn diesen nur Indizwirkung für das Bestehen der deutschen Staatsangehörigkeit zukommt, wie dies bei Personalausweisen, Reisepässen und vor dem Inkrafttreten des § 30 StAG in der Fassung von Art. 5 Nr. 19 des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl. I S. 1970) ausgestellten Staatsangehörigkeitsausweisen der Fall ist. 26 b) Nach diesen Maßstäben ist das Oberverwaltungsgericht zutreffend davon ausgegangen, dass der Vater des Klägers am 4. April 2015 seit zwölf Jahren durchgehend irrtümlich von deutschen Stellen als deutscher Staatsangehöriger behandelt worden ist. Denn ihm ist nach den für das Revisionsgericht bindenden Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts am 3. April 2003 vom Bundesverwaltungsamt ein bis 2. April 2013 gültiger Staatsangehörigkeitsausweis und am 10. August 2014 vom Generalkonsulat ... ein bis zum 9. August 2024 gültiger Reisepass ausgestellt worden. Beide Behörden sind zuständige deutsche Stellen im Sinne des Erwerbstatbestands, wie sich bereits aus § 3 Abs. 2 Satz 2 StAG rückschließen lässt. Sie dürfen Staatsangehörigkeitsausweise und Reisepässe nur deutschen Staatsangehörigen ausstellen und haben das Bestehen der deutschen Staatsangehörigkeit vor der Ausstellung derartiger Dokumente folglich in geeigneter Weise zu prüfen. 27 Entgegen der Auffassung der Beklagten fehlt es an einer durchgängigen Behandlung als Deutscher nicht deshalb, weil der dem Vater des Klägers erteilte Staatsangehörigkeitsausweis im April 2013 seine Gültigkeit verloren hat und ihm erst im August 2014 ein Reisepass ausgestellt worden ist. Diese zeitliche Lücke begründet jedenfalls hier keine anspruchsschädliche Unterbrechung. Das Berufungsgericht hat ausdrücklich festgestellt, dass der Ausstellung des Reisepasses durch das Generalkonsulat ... im August 2014 erneut derselbe Rechtsirrtum zugrunde lag, auf dem bereits die Ausstellung des Staatsangehörigkeitsausweises beruhte. Mangels zwischenzeitlicher Änderung der staatsangehörigkeitsrechtlich relevanten Verhältnisse musste hiervon auch der Vater des Klägers ausgehen, auf dessen Sicht im Hinblick auf den Vertrauensschutzcharakter des § 3 Abs. 2 StAG maßgeblich abzustellen ist. Fehlt es aber an tatsächlichen Umständen, die die Möglichkeit eines Staatsangehörigkeitserwerbs erst in der Zeit zwischen den beiden "Behandlungen" als Deutscher begründen könnten, darf der Betroffene aus einer erneuten Behandlung als deutscher Staatsangehöriger schließen, dass ihn die zuständigen deutschen Stellen auch weiterhin als deutschen Staatsangehörigen betrachten. Damit wird eine zeitliche Lücke, in der sich dieser nicht im Besitz eines Deutschen vorbehaltenen Dokuments befindet, jedenfalls geschlossen. Ob bereits die einmalige Ausstellung eines solchen Dokuments mit einer Gültigkeit von weniger als zwölf Jahren ausreichen kann, um nach Ablauf von zwölf Jahren den Erwerbstatbestand zu erfüllen (dagegen etwa BeckOK MigR/Schöninger, 7. Ed. 01.01.2021, § 3 StAG Rn. 46a), bedarf hier keiner Entscheidung. 28 Im Einklang mit Bundesrecht steht auch die Würdigung des Berufungsgerichts, die Behandlung des Vaters des Klägers als deutscher Staatsangehöriger sei nicht vor dem Ablauf von zwölf Jahren Anfang April 2015 dadurch beendet worden, dass das Generalkonsulat dem Kläger am 14. März 2015 im Honorarkonsulat C./Brasilien den ausschließlich an die beiden Kläger gerichteten Bescheid vom 23. Januar 2015 hat zustellen lassen. Eine - vertrauensbegründende - Behandlung als deutscher Staatsangehöriger durch eine deutsche Stelle kann schon grundsätzlich nicht durch eine Amtshandlung beendet werden, die gegenüber einem Dritten ergeht, ohne dass die genannte Stelle (auch) den Betroffenen darüber in Kenntnis setzt. Dass die Beklagte auch den Vater des Klägers vom Inhalt des Bescheides informiert hätte, hat das Berufungsgericht indes weder festgestellt noch wird dies von der Beklagten geltend gemacht. 29 2.2. Rechtsfehlerfrei ist das Berufungsgericht auch zu dem Ergebnis gekommen, dass der Vater des Klägers seine zwölfjährige Behandlung als deutscher Staatsangehöriger nicht zu vertreten hat (vgl. § 3 Abs. 2 Satz 1 letzter Halbsatz StAG). Diese Voraussetzung bezieht sich auf den Grund für die rechtsirrige Behandlung als Deutscher. Dieser Grund darf - wie das Oberverwaltungsgericht zutreffend ausführt - nicht in unzutreffenden oder unvollständigen Angaben des Ausländers über tatsächliche Umstände aus seinem persönlichen Lebensbereich liegen, die Gegenstand seiner staatsangehörigkeitsrechtlichen Mitwirkungspflicht nach § 37 Abs. 1 StAG i.V.m. § 82 Abs. 1 Satz 1 AufenthG sind (vgl. auch Kau, in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau, Staatsangehörigkeitsrecht, 6. Aufl. 2017, § 3 Rn. 8 sowie BT-Drs. 16/5065, S. 227). 30 Auf der Grundlage der im Berufungsbeschluss getroffenen, für das Bundesverwaltungsgericht nach § 137 Abs. 2 VwGO grundsätzlich bindenden Tatsachenfeststellungen ist die Würdigung des Berufungsgerichts, der Vater des Klägers habe seine Behandlung als deutscher Staatsangehöriger nicht zu vertreten, nicht zu beanstanden. Danach ist der maßgebende Grund für dessen irrtümliche Behandlung als deutscher Staatsangehöriger die früher vertretene Rechtsauffassung der Beklagten gewesen, dass sich die Beweisnot vieler Nachfahren von deutschen Einwanderern in Brasilien (in Bezug auf die Vornahme einer Matrikeleintragung im Sinne von § 21 StAG 1870) nicht zu deren Lasten auswirken dürfe. Diese - später revidierte - Rechtsauffassung hat der Vater des Klägers nicht veranlasst; sie ist ausschließlich der Verantwortungssphäre der Beklagten zuzurechnen, zumal vom betroffenen Ausländer regelmäßig keine besseren Kenntnisse des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts und der historischen Tatsachengrundlagen erwartet werden können als von den mit der Prüfung staatsangehörigkeitsrechtlicher Fragen befassten Behörden. Ob Bösgläubigkeit automatisch ein Vertretenmüssen begründet und insbesondere eine allgemeine Hinweisobliegenheit auch auf rechtserhebliche Umstände besteht, die den zuständigen staatlichen Stellen bereits verfügbar sind (verneinend Kau, in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau, Staatsangehörigkeitsrecht, 6. Aufl. 2017, § 3 Rn. 8; BeckOK MigR/Schöninger, § 3 StAG Rn. 55; VG Stade, Urteil vom 27. August 2009 - 1 A 560/09 -, StAZ 2010, 115 ff. = juris Rn. 29), bedarf hier keiner abschließenden Entscheidung. Denn das Berufungsgericht ist in tatsächlicher Hinsicht davon ausgegangen, es sei nicht feststellbar, dass der Vater des Klägers in dem kurzen Zeitraum vom 14. März 2015 (Zustellung des Bescheides vom 23. Januar 2015 an die Kläger) bis zum 3. April 2015 (Ablauf des Zwölfjahreszeitraums) vom Inhalt des Bescheides Kenntnis erlangt hätte. An diese Feststellung, gegen die die Beklagte keine Verfahrensrüge erhoben hat, ist der Senat gemäß § 137 Abs. 2 VwGO gebunden. 31 Ob der Kläger selbst die zwölfjährige Behandlung seines Vaters als Deutscher zu vertreten hat, kann an dieser Stelle offenbleiben, weil dies der Ersitzung der deutschen Staatsangehörigkeit durch seinen Vater nicht entgegenstünde. Einer staatsangehörigkeitsrechtlich eigenständig handlungsfähigen Person (vgl. § 37 Abs. 1 Satz 1 StAG) kann das Verhalten eines nicht ausdrücklich zur Vertretung ermächtigten Familienangehörigen nicht zugerechnet werden. Dass der Kläger zur Vertretung seines Vaters ermächtigt gewesen wäre, hat das Berufungsgericht nicht festgestellt und macht die Beklagte auch nicht geltend. 32 2.3. Erfüllte der Vater des Klägers damit am 4. April 2015 die Voraussetzungen für eine Ersitzung der deutschen Staatsangehörigkeit nach § 3 Abs. 2 Satz 1 StAG, ist er damit rückwirkend auf den Zeitpunkt seiner Geburt im Jahr 1947 deutscher Staatsangehöriger geworden. Denn nach § 3 Abs. 2 Satz 3 StAG wirkt der Erwerb der Staatsangehörigkeit auf den irrig angenommenen Erwerbszeitpunkt - hier also den Zeitpunkt der Geburt des Vaters des Klägers - zurück. 33 3. Der Staatsangehörigkeitserwerb des Vaters des Klägers erstreckt sich gemäß § 3 Abs. 2 Satz 4 StAG auf den Kläger als Abkömmling, der seither seine Staatsangehörigkeit von jenem ableitet. Auch bei dem Erstreckungserwerb handelt es sich um einen rückwirkenden Staatsangehörigkeitserwerb (3.1.). Dieser hängt nicht davon ab, dass der Abkömmling seinerseits die Behandlung als deutscher Staatsangehöriger nicht zu vertreten hat (3.2.). Der Staatsangehörigkeitserwerb aufgrund Erstreckung besteht in dem für die begehrte Feststellung in tatsächlicher Hinsicht maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Berufungsgerichts (vgl. BVerwG, Urteil vom 1. Juni 2017 - 1 C 16.16 - NVwZ 2017, 1312 Rn. 10) unabhängig davon fort, ob der Kläger vor dem Eintreten der Erstreckungswirkung im April 2015 durch einen freiwilligen Eintritt in die brasilianischen Streitkräfte einen Verlusttatbestand verwirklicht hat (3.3.). 34 3.1. § 3 Abs. 2 Satz 4 StAG stellt ausdrücklich klar, dass sich ein Staatsangehörigkeitserwerb nach § 3 Abs. 2 Satz 1 StAG kraft Gesetzes auf Abkömmlinge erstreckt, die seither - also seit dem Zeitpunkt, auf den der Erwerb der Staatsangehörigkeit zurückwirkt - ihre Staatsangehörigkeit von dem nach Satz 1 Begünstigten ableiten. Diese Regelung überlagert einen schon aufgrund der Rückwirkung des Ersitzungserwerbs des Stammberechtigten etwa eintretenden Abstammungserwerb der Staatsangehörigkeit durch die seither geborenen Abkömmlinge. Damit wird der nach Satz 1 Begünstigte auch hinsichtlich seiner Abkömmlinge zumindest so gestellt, wie er stünde, wenn die irrige Annahme der Behörden, er sei deutscher Staatsangehöriger, von Beginn an zugetroffen hätte. Auch der Erstreckungserwerb der Abkömmlinge wirkt mithin auf den Zeitpunkt von deren Geburt zurück. Nach verbreiteter Auffassung geht der Zweck des in § 3 Abs. 2 Satz 4 StAG vorgesehenen Erstreckungserwerbs noch darüber hinaus und sollen generell sämtliche Abkömmlinge, die nach dem Zeitpunkt, auf den die Staatsangehörigkeit des Ersitzenden zurückwirkt, geboren wurden, deutsche Staatsangehörige werden. Darauf, ob diese nach der allgemeinen Regelung des Abstammungserwerbs in der im Geburtszeitpunkt des Abkömmlings geltenden Fassung die Staatsangehörigkeit von jenem ableiten könnten, soll es nicht ankommen (vgl. etwa Marx, GK-StAR, Stand: September 2020, § 3 Rn. 63-67; Geyer, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 3 StAG Rn. 11; BeckOK MigR/Schöninger, 7. Ed. 01.01.2021, § 3 StAG Rn. 59). Mit dieser - überkompensierenden - Auslegung soll die fortdauernde Anwendung gleichheitswidriger früherer Fassungen des heute in § 4 Abs. 1 StAG geregelten Abstammungserwerbs vermieden werden. Anlässlich des Streitfalles bedarf keiner Entscheidung, inwieweit dem zu folgen ist (zur Problematik der "hypothetischen Betrachtung" auch in Anwendung gleichheitswidrigen Staatsangehörigkeitsrechts s. BVerfG, Kammerbeschluss vom 20. Mai 2020 - 2 BvR 2628/18 -, InfAuslR 2020, 285). Denn als eheliches Kind von T. V. M., das bei Erfüllung der Erwerbsvoraussetzungen durch seinen Vater am 4. April 2015 bereits geboren war, ist der Kläger dessen Abkömmling und leitet seither seine Staatsangehörigkeit von seinem Vater ab, ohne dass es darauf ankommt, auf welche Fassung des § 4 Abs. 1 (Ru)StAG für diese Frage abzustellen ist. 35 3.2. Im Einklang mit Bundesrecht steht auch die Rechtsauffassung des Berufungsgerichts, die Erstreckung des Staatsangehörigkeitserwerbs auf Abkömmlinge nach § 3 Abs. 2 Satz 4 StAG hänge nicht von der zusätzlichen Voraussetzung ab, dass (auch) der Abkömmling die Behandlung (des Vorfahren) als deutscher Staatsangehöriger nicht zu vertreten hat. Der Einwand der Revision, die "Bösgläubigkeit" des Klägers im Zeitpunkt des Ersitzungserwerbs seines Vaters stehe der Erstreckung dieses Erwerbs auf ihn selbst entgegen, greift daher schon aus diesem Grund nicht durch. 36 Für die Unerheblichkeit eines Vertretenmüssens des Abkömmlings streitet mit erheblichem Gewicht schon der Wortlaut der Vorschrift. Danach "erstreckt sich" der Staatsangehörigkeitserwerb "auf Abkömmlinge, die seither ihre Staatsangehörigkeit von dem nach Satz 1 Begünstigten ableiten." Dies legt nahe, dass der Erstreckungserwerb von keinen weiteren Voraussetzungen abhängig sein soll. Die systematische Auslegung bestätigt diesen Befund. Zum einen ist das Tatbestandsmerkmal des "Nichtvertretenmüssens" ausdrücklich nur in § 3 Abs. 2 Satz 1 StAG als den Ersitzungserwerb hindernd erwähnt und hat der Gesetzgeber von einer solchen Voraussetzung bei der in § 3 Abs. 2 Satz 4 StAG geregelten Erstreckung auf Abkömmlinge gerade abgesehen. Zum anderen meint "Erstreckung" des Staatsangehörigkeitserwerbs auf Abkömmlinge auch in anderen Vorschriften deren automatischen Staatsangehörigkeitserwerb, ohne dass auch in ihrer Person die Voraussetzungen für den Staatsangehörigkeitserwerb des Stammberechtigten ganz oder teilweise vorliegen müssten (vgl. etwa § 6 Satz 2 StAG; siehe auch BVerwG, Urteil vom 6. April 2006 - 5 C 21.05 - Buchholz 130.0 RuStAÄndG Nr. 5 Rn. 16 mit weiteren Beispielen). 37 Weder die Begründung des Gesetzentwurfs noch die teleologische Auslegung führen mit hinreichender Klarheit zu einem anderen Ergebnis. Zwar heißt es in der Gesetzesbegründung: "Soweit jemand jedoch wissentlich auf die Umstände eingewirkt hat, die deutsche Stellen dazu veranlasst haben, ihn bisher als deutschen Staatsangehörigen zu behandeln, ist der Erwerb nach § 3 Abs. 2 ausgeschlossen" (vgl. BT-Drs. 16/5065, S. 227). Daraus ergibt sich - auch unter Berücksichtigung der unmittelbar zuvor erwähnten Erstreckung auf Abkömmlinge - indes nicht eindeutig, dass der Gesetzgeber diesen Satz trotz Fehlens eines entsprechenden Hinweises im Gesetzestext auch auf die Abkömmlinge bezogen wissen wollte. Da die Formulierung auf eine eigene Behandlung als deutscher Staatsangehöriger abhebt, erfasst sie ausdrücklich nur den "Betroffenen", also denjenigen, der die Staatsangehörigkeit nach § 3 Abs. 2 Satz 1 StAG durch langjährige Behandlung als Deutscher erwirbt. Die Erstreckung des Erwerbs auf Abkömmlinge setzt nach Wortlaut und Zweck des § 3 Abs. 2 Satz 4 StAG nicht voraus, dass der Abkömmling jemals selbst als deutscher Staatsangehöriger behandelt worden ist. Der Sinn und Zweck des Erstreckungserwerbs ist mangels anderweitiger klarer Angaben in der Gesetzesbegründung darin zu sehen, durch ausdrückliche Anordnung sicherzustellen, dass sich der rückwirkende Staatsangehörigkeitserwerb des Ersitzenden auch bei den Abkömmlingen im Wesentlichen so fortsetzt, wie dies der Fall gewesen wäre, wenn die der Behandlung als Deutscher zugrundeliegenden irrtümlichen Annahmen von vornherein zugetroffen hätten. Dann aber kann ohne ausdrückliche Anordnung im Gesetz nicht davon ausgegangen werden, dass die Erstreckung auf Abkömmlinge weiteren ungeschriebenen Einschränkungen unterliegt. Der vorliegende Fall gibt dabei keinen Anlass zu erörtern, ob der Erstreckungserwerb auch gegen den zuvor erklärten Willen des Abkömmlings erfolgt oder hierauf in entsprechender Anwendung des § 26 StAG bereits für den Erwerbszeitpunkt verzichtet werden kann. 38 3.3. Dem Fortbestand des rückwirkenden Staatsangehörigkeitserwerbs des Klägers bis zum maßgeblichen Zeitpunkt steht auch nicht entgegen, dass dieser nach eigenen Angaben von 2000 bis 2001 in Brasilien Militärdienst geleistet hat. Ob er damit den Verlustgrund des § 17 Nr. 5 i.V.m. § 28 StAG (freiwilliger Eintritt in fremde Streitkräfte) verwirklicht hat, ist auf der Grundlage der tatrichterlichen Feststellungen nicht zu beurteilen. Das Berufungsgericht hat nicht festgestellt, ob es sich bei der Militärdienstleistung des Klägers um einen freiwilligen Eintritt in die brasilianischen Streitkräfte gehandelt hat oder er nur einer Wehrpflicht nachgekommen ist. Dies bedarf aber auch keiner weiteren Klärung. Denn das Berufungsgericht hat im Ergebnis zutreffend entschieden, dass die Verwirklichung eines derartigen Verlustgrundes in dem Zeitraum, in dem der Abkömmling infolge der Erstreckung lediglich rückwirkend in den Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit gelangt, deren weiteren Fortbestand nicht hindert. Zwar liegt darin eine gewisse "Überkompensation", weil der Abkömmling bessergestellt wird, als er stünde, wenn der Stammberechtigte die deutsche Staatsangehörigkeit bereits auf der Grundlage des irrig angenommenen Erwerbstatbestandes tatsächlich erworben hätte. Gegen die Anwendbarkeit von Verlustgründen in einem Zeitraum, in dem der Abkömmling erst nachträglich rückwirkend deutscher Staatsangehöriger wird, dies aber während des tatsächlichen Erlebens dieses Zeitraums noch nicht war, bestehen hier aber durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken. 39 Der nach Art. 16 Abs. 1 GG aufgrund eines Gesetzes mögliche Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit setzt voraus, dass der deutsche Staatsangehörige den Eintritt der gesetzlichen Rechtsfolge in zumutbarer Weise beeinflussen kann (vgl. BVerfG, Urteil vom 24. Mai 2006 - 2 BvR 669/04 - BVerfGE 116, 24 <44>). Daraus hat das Bundesverwaltungsgericht für den Verlusttatbestand des § 25 (Ru)StAG gefolgert, dieser sei einschränkend dahin auszulegen, dass bei Erwerb einer ausländischen Staatsangehörigkeit auf Antrag die deutsche Staatsangehörigkeit nur verloren geht, wenn der Erwerber seine deutsche Staatsangehörigkeit kannte oder sie hätte kennen müssen. Denn nur dann hat dieser objektiv Anlass, von der ihm eingeräumten Möglichkeit Gebrauch zu machen, die Erteilung einer Beibehaltungsgenehmigung zu beantragen und bis zu deren Erhalt auf den Erwerb der ausländischen Staatsangehörigkeit zu verzichten oder seinen Schritt noch einmal zu überdenken (vgl. BVerwG, Urteile vom 29. April 2010 - 5 C 5.09 - NVwZ-RR 2010, 658 und - 5 C 4.09 - juris Rn. 9, sowie Urteil vom 29. September 2010 - 5 C 20.09 - Buchholz 130 § 25 StAG Nr. 15 = juris Rn. 14 f.). Diese Erwägungen sind auf den Verlustgrund des § 28 StAG übertragbar. Auch hier hat nur Anlass, bei seiner Entscheidung über den Eintritt in fremde Streitkräfte seine deutsche Staatsangehörigkeit zu berücksichtigen und sich gegebenenfalls um eine die Verlustfolge abwendende Zustimmung des Bundesministeriums der Verteidigung zu bemühen, wer um seine deutsche Staatsangehörigkeit weiß. Diese Voraussetzung kann aber nicht erfüllt sein, wenn der Betroffene - wie hier - im Zeitpunkt seines den Verlusttatbestand erfüllenden Verhaltens noch nicht einmal objektiv deutscher Staatsangehöriger ist. 40 Unabhängig davon bedürfte die Berücksichtigung von Verlustgründen während einer nur rückwirkenden Besitzzeit der deutschen Staatsangehörigkeit zumindest einer ausdrücklichen gesetzlichen Anordnung. Eine solche wäre aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit, denen im Bereich der staatsangehörigkeitsrechtlichen Verlustregelungen erhebliche Bedeutung zukommt (vgl. zuletzt BVerfG, Kammerbeschluss vom 17. Juli 2019 - 2 BvR 1327/18 - InfAuslR 2019, 390 Rn. 33; ebenso BVerfG, Urteil vom 24. Mai 2006 - 2 BvR 669/04 - BVerfGE 116, 24 <45>), erforderlich. Eine derartige Regelung, wie sie etwa in § 3 Abs. 4 des Zweiten Gesetzes zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit vom 17. Mai 1956 (BGBl. I S. 431) - 2. StAngRegG - vorgesehen war, enthält § 3 Abs. 2 StAG aber nicht. 41 4. Auch die Klägerin hat als Abkömmling ihres Großvaters nach § 3 Abs. 2 Satz 4 StAG rückwirkend auf den Zeitpunkt ihrer Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit erworben. 42 Der Begriff der "Abkömmlinge" erfasst auch die Kindeskinder (vgl. etwa zu Art. 116 Abs. 2 Satz 1 GG BVerwG, Urteil vom 11. Januar 1994 - 1 C 35.93 - BVerwGE 95, 36 = juris Rn. 10 ff.). Die Klägerin ist damit Abkömmling ihres Großvaters; sie leitet auch seither ihre Staatsangehörigkeit - über das vermittelnde Glied ihres Vaters - von diesem ab, ohne dass es darauf ankommt, welche Fassung des § 4 Abs. 1 (Ru)StAG dafür gegebenenfalls jeweils heranzuziehen ist. Mit Blick auf ihre nichteheliche Geburt bedarf es allerdings zur Geltendmachung des Staatsangehörigkeitserwerbs einer nach den deutschen Gesetzen wirksamen Anerkennung oder Feststellung der Vaterschaft (§ 4 Abs. 1 Satz 2 StAG). Die Inbezugnahme der "deutschen Gesetze" umfasst hierbei auch das Kollisionsrecht. Nach deutschem internationalen Privatrecht richtet sich die Abstammung primär nach dem Recht des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes (Art. 19 Abs. 1 Satz 1 EGBGB; vgl. näher Kau, in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau, Staatsangehörigkeitsrecht, 6. Aufl. 2017, § 4 Rn. 10). Nach dem damit primär maßgeblichen brasilianischen Recht ist die Klägerin Tochter des Klägers. Dies hat das Berufungsgericht zwar nicht ausdrücklich festgestellt. Nach Aktenlage ist dies aber hinreichend belegt und wird, wie sich auch aus der Revisionsbegründung der Beklagten und ihrem Vorbringen in der mündlichen Verhandlung ergibt, von dieser nicht bezweifelt. 43 Der in § 4 Abs. 4 StAG vorgesehene "Generationenschnitt" bei im Ausland geborenen Kindern steht der Ableitung der Staatsangehörigkeit der Klägerin von ihrem Vater hier schon deshalb nicht entgegen, weil dieser vor dem 31. Dezember 1999 geboren worden ist. Damit kann dahinstehen, ob diese Norm im Rahmen von § 3 Abs. 2 Satz 4 StAG überhaupt anwendbar ist. 44 5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
bundesverwaltungsgericht
bverwg_2021-44
25.06.2021
Pressemitteilung Nr. 44/2021 vom 25.06.2021 EN Für die Entscheidung über Anordnungen gegenüber einer Schule gemäß § 1666 Abs. 1 und 4 BGB wegen dort geltender Corona-Schutzmaßnahmen verbleibt es bei der Zuständigkeit der Amtsgerichte/Familiengerichte Für die Entscheidung über eine an ein Amtsgericht gerichtete Anregung, die auf gerichtliche Anordnungen gegen eine Schule gemäß § 1666 Abs. 1 und 4 BGB wegen Corona-Schutzmaßnahmen zielt, sind die Amtsgerichte/Familiengerichte zuständig. Die Verweisung eines solchen Verfahrens an ein Verwaltungsgericht ist ausnahmsweise wegen eines groben Verfahrensverstoßes nicht bindend. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig mit Beschluss vom 16. Juni 2021 entschieden. Die Eltern minderjähriger Schüler hatten beim Amtsgericht Tecklenburg die Einleitung eines Verfahrens gem. § 1666 Abs. 1 und 4 BGB zur Beendigung der von ihnen befürchteten nachhaltigen Gefährdung des Kindeswohls angeregt, die sich u.a. aufgrund schulinterner Anordnungen zum Tragen eines Mund- und Nasenschutzes sowie zur Einhaltung von Mindestabständen zu anderen Personen ergebe. Das Amtsgericht hat mit Beschlüssen vom 23. April 2021 den Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit an das Verwaltungsgericht Münster verwiesen. Das Verwaltungsgericht Münster wiederum hat mit Beschluss vom 26. Mai 2021 den Verwaltungsrechtsweg für unzulässig erklärt und das Bundesverwaltungsgericht zur Bestimmung der Zuständigkeit angerufen. Das Bundesverwaltungsgericht hat entschieden, dass das Amtsgericht Tecklenburg trotz der Verweisungsbeschlüsse vom 23. April 2021 zuständig geblieben ist. Zwar ist eine Verweisung für das Gericht, an das das Verfahren verwiesen worden ist, grundsätzlich bindend. Das gilt jedoch nicht, wenn die Entscheidung bei verständiger Würdigung nicht mehr nachvollziehbar erscheint und offensichtlich unhaltbar ist. Ein derartig qualifizierter Verfahrensverstoß des Amtsgerichts liegt hier vor. Denn die Eltern hatten sich in ihrem Schreiben an das Amtsgericht ausdrücklich darauf beschränkt, ein familiengerichtliches Tätigwerden gegen die Schule auf der Grundlage des § 1666 Abs. 1 und 4 BGB anzustoßen. Unterlassungsansprüche gegen die Schule, über die die Verwaltungsgerichte zu entscheiden hätten, haben sie nicht geltend gemacht. Über Maßnahmen gemäß § 1666 BGB entscheidet das Amtsgericht/Familiengericht jedoch selbständig von Amts wegen. Es hätte keine Verweisung aussprechen, sondern - da familiengerichtliche Anordnungen gegenüber Behörden rechtlich ausgeschlossen sind - entweder auf die Eröffnung eines Verfahrens verzichten oder ein bereits eröffnetes Verfahren einstellen müssen. Die trotzdem ausgesprochene Verweisung führt zu Brüchen mit den Prozessgrundsätzen der Verwaltungsgerichtsordnung. Diese kennt keine von Amts wegen einzuleitenden Verfahren, sondern überlässt es dem Kläger bzw. Antragsteller, ob und mit welcher Zielrichtung er ein Verfahren einleiten will. Erwiese sich die Verweisung für das Verwaltungsgericht als bindend, fänden sich die Kinder, für die lediglich bestimmte Maßnahmen angeregt wurden, nunmehr in der Rolle von Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens wieder. Das entspräche weder ihrem Willen noch ihrer vormaligen Stellung vor dem Amtsgericht. Deshalb erweist sich die Verweisung mit den Prinzipien der Verwaltungsgerichtsordnung als schlechterdings unvereinbar und löst für das Verwaltungsgericht keine Bindungswirkung aus. BVerwG 6 AV 1.21 - Beschluss vom 16. Juni 2021 Vorinstanz: VG Münster, VG 5 L 339/21 - Beschluss vom 26. Mai 2021 - BVerwG 6 AV 2.21 - Beschluss vom 16. Juni 2021 Vorinstanz: VG Münster, VG 5 L 340/21 - Beschluss vom 26. Mai 2021 -
27.07.2021 · IWW-Abrufnummer 223706 Bundesverwaltungsgericht: Beschluss vom 16.06.2021 – 6 AV 1.21 1. Bei einem rechtswegübergreifenden negativen Kompetenzkonflikt zwischen Gerichten der ordentlichen und der Verwaltungsgerichtsbarkeit ist für die Bestimmung des zuständigen Gerichts in analoger Anwendung des § 53 Abs. 1 Nr. 5 VwGO derjenige oberste Gerichtshof des Bundes zuständig, der einem der beteiligten Gerichte übergeordnet ist und zuerst angegangen wird (Bestätigung der bisherigen Rechtsprechung). 2. Auch ein unanfechtbarer, fehlerhafter Verweisungsbeschluss an ein Gericht einer anderen Gerichtsbarkeit ist gemäß § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG hinsichtlich des Rechtswegs bindend. Das gilt nur dann nicht, wenn die Entscheidung ausnahmsweise schlechthin nicht mehr zu rechtfertigen ist, d.h. nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist. 3. Die Verweisung eines beim Amtsgericht/Familiengericht angeregten, auf Maßnahmen gegen eine Schule auf der Grundlage des § 1666 Abs. 1 und 4 BGB abzielenden Amtsverfahrens an ein Verwaltungsgericht ist verfahrensfehlerhaft und löst wegen des dadurch auftretenden unauflösbaren Widerspruchs mit Prozessmaximen der Verwaltungsgerichtsordnung keine Bindungswirkung aus. BundesverwaltungsgerichtBeschluss vom 16.06.2021BVerwG 6 AV 1.21In den Verwaltungsstreitsachenhat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichtsam 16. Juni 2021durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. xxx,den Richter am Bundesverwaltungsgericht xxx unddie Richterin am Bundesverwaltungsgericht xxx beschlossen:Tenor:Die Verfahren werden verbunden.Als zuständiges Gericht wird das Amtsgericht Tecklenburg/Familiengericht bestimmt.GründeI1Die Antragsteller, vertreten durch ihre Eltern, haben bei dem Amtsgericht Tecklenburg die Einleitung eines "Kinderschutzverfahrens gem. § 1666 Abs. 1 und 4 BGB" zur Beendigung der nachhaltigen Gefährdung des Kindeswohls angeregt, die sich u.a. aufgrund schulinterner Anordnungen zum Tragen eines Mund- und Nasenschutzes sowie zur Einhaltung von Mindestabständen zu anderen Personen ergebe. Deren Aufhebung sowie zeitnahe familiengerichtliche Anordnungen gegenüber den Lehrkräften und der Schulleitung seien zur Abwehr von Schäden der Antragsteller dringend erforderlich.2Das Amtsgericht/Familiengericht hat nach Anhörung der Antragsteller, die sich einer Verweisung widersetzt haben, mit Beschlüssen vom 23. April 2021 den Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten für unzulässig erklärt und die Rechtsstreitigkeiten an das Verwaltungsgericht Münster verwiesen. Denn die Antragsteller wendeten sich gegen hoheitliches Handeln und für solche Streitigkeiten sei ausschließlich der Verwaltungsrechtsweg eröffnet. Die Beschlüsse sind unanfechtbar.3Das Verwaltungsgericht hat die Beteiligten darauf hingewiesen, dass es sich für unzuständig halte und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Mit Beschlüssen vom 26. Mai 2021 hat es den Verwaltungsrechtsweg für unzulässig erklärt und das Bundesverwaltungsgericht zur Bestimmung der Zuständigkeit angerufen.II41. Das Bundesverwaltungsgericht ist zur Entscheidung des negativen Kompetenzkonflikts zwischen dem Amtsgericht Tecklenburg und dem Verwaltungsgericht Münster berufen.5Gemäß § 53 Abs. 1 Nr. 5 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 VwGO wird ein negativer Kompetenzkonflikt zwischen Gerichten der Verwaltungsgerichtsbarkeit von dem Gericht entschieden, das den beteiligten Gerichten übergeordnet ist. Zwar ist diese Vorschrift auf den Kompetenzkonflikt zwischen einem Verwaltungsgericht und einem Amtsgericht weder unmittelbar anwendbar noch gibt es für einen solchen Fall an anderer Stelle eine gesetzliche Regelung. Diese Regelungslücke ist aber - im Einklang mit der Rechtsprechung anderer oberster Gerichtshöfe des Bundes - in der Weise zu schließen, dass dasjenige oberste Bundesgericht den negativen Kompetenzkonflikt zwischen den Gerichten verschiedener Gerichtszweige entscheidet, das einem der beteiligten Gerichte übergeordnet ist und zuerst angegangen wird (BVerwG, Beschluss vom 10. April 2019 - 6 AV 11.19 - NJW 2019, 2112; BGH, Beschluss vom 26. Juli 2001 - X ARZ 69/01 - NJW 2001, 3631 <3632>). Denn obwohl ein nach § 17a GVG ergangener und unanfechtbar gewordener Beschluss, mit dem ein Gericht den bestrittenen Rechtsweg für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit an ein anderes Gericht verwiesen hat, nach dem Gesetz keiner weiteren Überprüfung unterliegt, ist eine Zuständigkeitsbestimmung in Analogie zu § 53 Abs. 1 Nr. 5 VwGO im Interesse einer funktionierenden Rechtspflege und der Rechtssicherheit geboten, wenn es in einem Verfahren zu Zweifeln über die Bindungswirkung der Verweisung kommt und deshalb keines der in Frage kommenden Gerichte bereit ist, die Sache zu bearbeiten (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Mai 2013 - X ARZ 167/13 - MDR 2013, 1242 zu § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO). Eine solche Situation ist vorliegend gegeben. Sowohl das Amtsgericht Tecklenburg als auch das Verwaltungsgericht Münster haben entschieden, dass der Rechtsweg zu ihnen unzulässig sei.62. Für eine Entscheidung über die von den Antragstellern angeregten Maßnahmen gegenüber der Schule ist das Amtsgericht Tecklenburg/Familiengericht trotz der Verweisungsbeschlüsse vom 23. April 2021 zuständig geblieben. Denn die Antragsteller haben keinen kontradiktorischen Parteistreit um Unterlassungsansprüche gegen die Schule eingeleitet (2.1), so dass sich die Verweisungen des Amtsgerichts in so qualifizierter Weise als verfahrensfehlerhaft erweisen, dass sie keine Bindungswirkung zu äußern vermögen (2.2).72.1 Die Auslegung der an das Amtsgericht/Familiengericht gerichteten Schreiben der Antragsteller vom 14. April 2021 führt zu dem Ergebnis, dass sie keine gegen die Schule gerichteten Unterlassungsansprüche in einem kontradiktorischen Parteistreit geltend machen wollen. Für solch ein gerichtliches Streitverfahren wäre der vom Amtsgericht auf § 17a Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 GVG gestützte Ausspruch der Unzulässigkeit des Rechtswegs zu den ordentlichen Gerichten allerdings im Ergebnis nicht zu beanstanden. Denn über derartige Unterlassungsansprüche hätten gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO die Verwaltungsgerichte zu entscheiden. Sie beträfen das Schulverhältnis als Rechtsverhältnis zwischen dem Schüler und einer öffentlichen, von einer Gebietskörperschaft getragenen Schule, deren Handeln in inneren Schulangelegenheiten einschließlich der Schulordnungsmaßnahmen nach nordrhein-westfälischem Landesrecht dem Land zugerechnet wird (OVG Münster, Beschluss vom 14. Januar 2011 - 19 B 14/11 - NWVBl 2011, 270). Davon erfasst würden auch von der Schule angeordnete coronabedingte Schutzmaßnahmen (OLG Nürnberg, Beschluss vom 28. April 2021 - 9 WF 343/21 - juris Rn. 8 ff.; OLG Naumburg, Beschluss vom 14. Mai 2021 - 1 UF 136/21 - juris Rn. 45 ff.).8Das Begehren der Antragsteller in ihren Schreiben vom 14. April 2021 an das Amtsgericht/Familiengericht beschränkt sich jedoch ausdrücklich darauf, ein familiengerichtliches Einschreiten des Amtsgerichts/Familiengericht gegen die Schule auf der Grundlage des § 1666 Abs. 1 und 4 BGB anzustoßen. Demzufolge liegt kein verfahrenseröffnender Sachantrag als Verfahrens- oder Prozesshandlung vor, sondern lediglich eine an das Amtsgericht/Familiengericht gerichtete Anregung gemäß § 24 Abs. 1 FamFG. Weder die Verfasser noch deren Kinder wurden dadurch zu Antragstellern im verfahrensrechtlichen Sinne (Ahn-Roth, in: Prütting/Helms, FamFG, 5. Aufl. 2020, § 24 Rn. 3). Ein Prozess- oder Verfahrensrechtsverhältnis wurde durch diese Anregung nicht begründet.92.2 Gemäß § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG ist ein Verweisungsbeschluss für das Gericht, an das der Rechtsstreit verwiesen worden ist, hinsichtlich des Rechtswegs bindend. Die Beschlüsse des Amtsgerichts vom 23. April 2021 sind unanfechtbar geworden. Die in § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG angeordnete Bindungswirkung tritt auch bei einem fehlerhaften Verweisungsbeschluss ein, etwa wenn der Rechtsweg zu dem verweisenden Gericht entgegen dessen Rechtsauffassung gegeben war (BVerwG, Beschluss vom 10. März 2016 - 6 AV 1.16 - Buchholz 300 § 17a GVG Nr. 36 Rn. 4) oder das Gericht den Verweisungsbeschluss entgegen § 17a Abs. 4 Satz 2 GVG nicht begründet oder unter Verletzung des rechtlichen Gehörs (BGH, Beschluss vom 8. Juli 2003 - X ARZ 138/03 - NJW 2003, 2990) getroffen hat.10Mit Rücksicht auf die in § 17a GVG eröffnete Möglichkeit, einen Verweisungsbeschluss in dem in § 17a Abs. 4 Satz 3 - 6 GVG vorgesehenen Instanzenzug überprüfen zu lassen, kann die gesetzlich angeordnete Bindungswirkung eines unanfechtbaren Verweisungsbeschlusses allenfalls bei extremen Rechtsverstößen durchbrochen werden. Das ist nur dann der Fall, wenn sich die Verweisung bei der Auslegung und Anwendung der Zuständigkeitsnormen so weit von dem diese beherrschenden verfassungsrechtlichen Grundsatz des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) entfernt hat, dass sie schlechthin nicht mehr zu rechtfertigen ist (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 30. Juni 1970 - 2 BvR 48/70 - BVerfGE 29, 45 <48 f.>, vom 23. Juni 1981 - 2 BvR 1107, 1124/77 und 195/79 - BVerfGE 58, 1 [BVerfG 23.06.1981 - 2 BvR 1124/77] <45> und vom 26. August 1991 - 2 BvR 121/90 - NJW 1992, 359 <361>). Hiervon kann ausgegangen werden, wenn die Entscheidung bei verständiger Würdigung nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist (BVerwG, Beschlüsse vom 10. März 2016 - 6 AV 1.16 - Buchholz 300 § 17a GVG Nr. 36 Rn. 4 und vom 10. April 2019 - 6 AV 11.19 - NJW 2019, 2112 Rn. 10; BGH, Beschlüsse vom 8. Juli 2003 - X ARZ 138/03 - NJW 2003, 2990 <2991>, vom 9. Dezember 2010 - Xa ARZ 283/10 - MDR 2011, 253 und vom 18. Mai 2011 - X ARZ 95/11 - NJW-RR 2011, 1497; BFH, Beschluss vom 20. Dezember 2004 - VI S 7/03 - BFHE 209, 1 <3 f.>). Der den Verweisungsbeschlüssen des Amtsgerichts vom 23. April 2021 zugrundeliegende Verfahrensverstoß erweist sich als in dieser Weise qualifiziert, denn er führt zu einem unauflösbaren systematischen Widerspruch mit den Prozessmaximen der Verwaltungsgerichtsordnung.11Das Amtsgericht hat auf der Grundlage seines unzutreffenden Verständnisses des Begehrens der Antragsteller zu Unrecht die Konsequenz gezogen, die Verfahren an das Verwaltungsgericht zu verweisen. Denn die Vorschrift des § 17a GVG ist einschränkend dahingehend auszulegen, dass eine Verweisung von Amts wegen betriebener Verfahren ohne Charakter eines Parteienstreits mangels "Beschreitung eines Rechtswegs" durch einen Antragsteller oder Kläger nicht in Betracht kommt, sondern diese bei fehlender Zuständigkeit einzustellen sind (OLG Nürnberg, Beschluss vom 28. April 2021 - 9 WF 343/21 - juris Rn. 16; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 28. April 2021 - 20 WF 70/21 - juris Rn. 5; OLG Frankfurt, Beschluss vom 5. Mai 2021 - 4 UF 90/21 - juris Rn. 10; OLG Naumburg, Beschluss vom 14. Mai 2021 - 1 UF 136/21 - juris Rn. 48; vgl. ferner Mayer, in: Kissel, GVG, 10. Aufl. 2021, § 17 Rn. 62; BT-Drs. 16/6308 S. 318 zu § 17a Abs. 6 GVG). Das Verfahren nach § 1666 BGB ist ein Amtsverfahren (OLG Brandenburg, Beschluss vom 23. Februar 2018 - 13 WF 38/18 - NJW 2018, 1619; Schwab, in: MüKo zum BGB, Bd. 10, 8. Aufl. 2020, § 1666 Rn. 223; Coester, in: Staudinger, BGB, Buch 4, 2020, § 1666 Rn. 261), so dass das an das Amtsgericht/Familiengericht gerichtete Schreiben der Antragsteller - wie bereits ausgeführt - keinen Sachantrag, sondern lediglich eine Anregung gemäß § 24 Abs. 1 FamFG enthielt (vgl. OLG Koblenz, Beschluss vom 15. Januar 2018 - 9 WF 12/18 - FamRZ 2018, 1012). Da kein Antragsverfahren (vgl. § 23 FamFG) vorlag, durfte das Amtsgericht keine Verweisung aussprechen. Mangels Eröffnung des Zivilrechtswegs hätte es entweder auf die Eröffnung eines Verfahrens verzichten oder ein bereits eröffnetes Verfahren einstellen müssen.12Da sich auch im Falle einer fehlerhaften Verweisung an ein Verwaltungsgericht das von diesem anzuwendende Prozessrecht im Grundsatz nach der Verwaltungsgerichtsordnung bestimmt, führt die Verweisung im vorliegenden Fall zu systematischen Friktionen mit den Prozessmaximen der Verwaltungsgerichtsordnung. Zwar hat der iudex ad quem auch im Falle einer fehlerhaften Verweisung mit Blick auf das Gebot effektiven Rechtsschutzes die Rechtsschutzfunktion des verweisenden Gerichts zu übernehmen. Das kann aber allenfalls zu Modifikationen der zugrunde zu legenden Regelungen der Verwaltungsgerichtsordnung führen (BVerwG, Urteil vom 6. Juni 1967 - 4 C 216.65 - BVerwGE 27, 170 <175>; BFH, Beschluss vom 14. Oktober 2005 - VI S 17/05 - DStRE 2006, 440; Ehlers, in: Schoch/Schneider, VwGO, Stand: Juli 2020, § 41 VwGO/§ 17a GVG Rn. 19), nicht jedoch deren grundlegende Verfahrensgrundsätze überspielen.13Die Verwaltungsgerichtsordnung gehorcht der Dispositionsmaxime (vgl. §§ 81, 88 und 92 VwGO) und kennt grundsätzlich nur kontradiktorische Parteistreitverfahren. Ein dem § 24 FamFG vergleichbares, von Amts wegen einzuleitendes Verfahren ist dieser Prozessordnung systemfremd und darf deshalb den Verwaltungsgerichten auch nicht im Wege der Verweisung "aufgedrängt" werden (vgl. Mayer, in: Kissel, GVG, 10. Aufl. 2021, § 17 Rn. 62). Erwiesen sich die vom Amtsgericht/Familiengericht ausgesprochenen verfahrensfehlerhaften Verweisungen als bindend, würde aus einem familiengerichtlichen Amtsverfahren ein kontradiktorischer Parteienstreit vor dem Verwaltungsgericht. Die Antragsteller, die am Amtsgericht keine Prozesshandlung in Form eines verfahrenseinleitenden Sachantrags vorgenommen, sondern als Nichtbeteiligte lediglich bestimmte Maßnahmen angeregt haben, fänden sich nunmehr in der Rolle von Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens wieder. Das entspräche weder ihrem Willen noch ihrer vormaligen Stellung vor dem Amtsgericht und würde zudem Gerichtskosten für sie auslösen, die im familiengerichtlichen Verfahren nicht anfallen. Die Annahme, eine gerichtliche Verweisung könne ein zuvor nicht bestehendes Prozessrechtsverhältnis begründen, erweist sich daher mit den Prinzipien der Verwaltungsgerichtsordnung als schlechterdings unvereinbar. Deshalb lösen die vom Amtsgericht Tecklenburg ausgesprochenen Verweisungen für das Verwaltungsgericht keine Bindungswirkung gemäß § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG aus. RechtsgebietGVGVorschriften§ 17a GVG
bundesverwaltungsgericht
bverwg_2022-63
13.10.2022
Pressemitteilung Nr. 63/2022 vom 13.10.2022 EN Beamtenrechtlicher Ausgleichsanspruch wegen Zuvielarbeit bei als Arbeitszeit zu qualifizierenden Pausenzeiten ("Pausen in Bereithaltung") Ein Beamter hat Anspruch auf Freizeitausgleich, soweit die ihm gewährten Pausenzeiten in "Bereithaltung" als Arbeitszeit zu qualifizieren sind und hieraus eine dienstliche Inanspruchnahme über die durchschnittlich zu erbringende regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit hinaus resultiert. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig heute entschieden. Der Kläger, ein Bundespolizist, beansprucht die Anrechnung von ihm im Jahr 2013 gewährten Pausenzeiten in "Bereithaltung" auf die Arbeitszeit im Umfang von (ursprünglich) 1020 Minuten. Die einzelne Pause belief sich auf jeweils 30 bis 45 Minuten. Die Vorinstanzen verurteilten die Beklagte, dem Kläger bezogen auf verschiedene Arbeitstage ab August 2013 Pausenzeiten im Umfang von insgesamt 510 Minuten auf die Arbeitszeit anzurechnen, weil in diesen Zeitenabschnitten der Charakter von Arbeitszeit überwogen habe. Im Übrigen sind Klage und Berufung ohne Erfolg geblieben. Auf die Revision des Klägers hat das Bundesverwaltungsgericht die Beklagte verurteilt, dem Kläger weiteren Freizeitausgleich im Umfang von 105 Minuten zu gewähren. Zur Begründung hat es insbesondere ausgeführt: Der Kläger kann sein Begehren auf den beamtenrechtlichen Ausgleichsanspruch wegen Zuvielarbeit stützen. Dessen Voraussetzungen sind bezogen auf die im Streit stehenden und dem Kläger ab August 2013 gewährten Pausenzeiten gegeben. Denn hierbei handelte es sich um Arbeitszeit und nicht um Ruhezeit. Für die insoweit vorzunehmende Abgrenzung ist maßgeblich, ob die im Rahmen einer Pausenzeit auferlegten Einschränkungen von solcher Art sind, dass sie die Möglichkeiten, sich zu entspannen und sich Tätigkeiten nach Wahl zu widmen, objektiv gesehen ganz erheblich beschränken. Solche objektiv ganz erheblichen Beschränkungen liegen vor, wenn ein Bundespolizeibeamter anlässlich von Maßnahmen der präventiven oder repressiven Gefahrenabwehr (im vorliegenden Fall Durchsuchungsmaßnahmen und die Vollstreckung eines Haftbefehls) seine ständige Erreichbarkeit verbunden mit der Pflicht zur sofortigen Dienstaufnahme während der ihm gewährten Pausenzeiten sicherstellen muss. In diesem Fall sind die Pausenzeiten als Arbeitszeit zu qualifizieren. Auf den Umfang der tatsächlichen dienstlichen Inanspruchnahme kommt es nicht an. Die Verpflichtung zum Tragen von Einsatzkleidung sowie zum Mitführen von Dienstwaffe und Dienstfahrzeug genügen für sich betrachtet jedoch nicht. Allerdings gilt bei Ansprüchen, die sich - wie der beamtenrechtliche Ausgleichsanspruch wegen Zuvielarbeit - nicht unmittelbar aus dem Gesetz ergeben, der Grundsatz der zeitnahen vorherigen Geltendmachung. Ausgehend hiervon hat das Bundesverwaltungsgericht einen Anspruch des Klägers in Bezug auf vor August 2013 gewährte Pausenzeiten verneint, weil sich der Kläger mit seinem Begehren erstmals Ende Juli 2013 schriftlich an die Beklagte gewandt hat. BVerwG 2 C 24.21 - Urteil vom 13. Oktober 2022 Vorinstanzen: OVG Bautzen, OVG 2 A 960/19 - Urteil vom 27. Dezember 2021 - VG Chemnitz, VG 3 K 2020/15 - Urteil vom 03. Juli 2019 -
Urteil vom 13.10.2022 - BVerwG 2 C 24.21ECLI:DE:BVerwG:2022:131022U2C24.21.0 EN Leitsatz: Ruhepausen, in denen der Beamte Einsatzkleidung tragen, die Dienstwaffe mit sich führen und seine ständige Erreichbarkeit sicherstellen muss, sind als Arbeitszeit zu bewerten. Rechtsquellen AZV Fassung vom 23. Februar 2006 § 5 RL 2003/88/EG Art. 2 Nr. 1 und Nr. 2, Art. 4 Instanzenzug VG Chemnitz - 03.07.2019 - AZ: 3 K 2020/15 OVG Bautzen - 17.11.2020 - AZ: 2 A 960/19 Zitiervorschlag BVerwG, Urteil vom 13.10.2022 - 2 C 24.21 - [ECLI:DE:BVerwG:2022:131022U2C24.21.0] Urteil BVerwG 2 C 24.21 VG Chemnitz - 03.07.2019 - AZ: 3 K 2020/15 OVG Bautzen - 17.11.2020 - AZ: 2 A 960/19 In der Verwaltungsstreitsache hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 13. Oktober 2022 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Kenntner, die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. von der Weiden und Dr. Hartung, die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Hampel sowie den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Hissnauer für Recht erkannt: Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger weiteren Freizeitausgleich im Umfang von 105 Minuten zu gewähren. Die Urteile des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 17. November 2020 und des Verwaltungsgerichts Chemnitz vom 3. Juli 2019 sowie der Bescheid der Bundespolizeidirektion P. vom 5. September 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11. November 2015 werden aufgehoben, soweit sie dem entgegenstehen. Im Übrigen wird die Revision zurückgewiesen. Die Kosten des Verfahrens erster Instanz tragen der Kläger zu zwei Fünftel und die Beklagte zu drei Fünftel, die Kosten des Berufungsverfahrens tragen der Kläger zu einem Viertel und die Beklagte zu drei Viertel, die Kosten des Revisionsverfahrens tragen der Kläger zu vier Fünftel und die Beklagte zu einem Fünftel. Gründe I 1 Der Kläger begehrt Freizeitausgleich für Ruhepausen mit Bereithaltungspflicht. 2 Der Kläger steht als Bundespolizeibeamter im Dienst der Beklagten und wurde im Jahr 2013 bei einer Mobilen Kontroll- und Überwachungseinheit verwendet. Er beantragte unter dem 28. Juli 2013 rückwirkend zum 1. Januar 2013 die Anrechnung von Pausenzeiten in "Bereithaltung". Der zeitliche Umfang der Pausen, deren Dauer sich auf jeweils 30 bis 45 Minuten erstreckte, beläuft sich auf insgesamt 1 020 Minuten. 3 Die Beklagte lehnte den Antrag ab, weil die Anordnung einer Bereithaltungspflicht der Einordnung als Ruhepause nicht entgegenstehe. Auch der Widerspruch blieb ohne Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger Pausenzeiten im Umfang von 195 Minuten als Arbeitszeit gutzuschreiben, und die Klage im Übrigen abgewiesen. 4 Das Berufungsgericht hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger weitere Pausenzeiten im Umfang von 315 Minuten auf die Arbeitszeit anzurechnen. Für die vor dem 28. Juli 2013 liegenden Pausenzeiten hat es die Berufung des Klägers zurückgewiesen, weil es bereits an einer zeitnahen Geltendmachung des Anspruchs fehle. Ein solcher stehe dem Kläger aber für den Zeitraum ab August 2013 zu. Insoweit habe der Charakter von Arbeitszeit überwogen. Sämtliche Pausen seien dadurch gekennzeichnet gewesen, dass der Kläger Einsatzkleidung, teilweise besondere Schutzbekleidung und Helm getragen sowie Dienstwaffe und Dienstfahrzeug mitgeführt habe und seine ständige Erreichbarkeit habe sicherstellen müssen. Dies habe die freie Gestaltung der Pause eingeschränkt. Dies gelte nicht für die am 20. August, 22. Oktober und 28. November 2013 gewährten Pausenzeiten im Umfang von insgesamt 105 Minuten, bei denen die Wahrscheinlichkeit einer Inanspruchnahme während der Pause eher gering gewesen sei. 5 Hiergegen richtet sich die vom Senat wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassene Revision des Klägers, mit der er beantragt, das Urteil des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 17. November 2020, soweit es die Berufung des Klägers zurückgewiesen hat, und das Urteil des Verwaltungsgerichts Chemnitz vom 3. Juli 2019, soweit es die Klage abgewiesen hat, zu ändern, den Bescheid der Bundespolizeidirektion P. vom 5. September 2014 sowie deren Widerspruchsbescheid vom 11. November 2015 aufzuheben, und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger weiteren Freizeitausgleich im Umfang von 510 Minuten zu gewähren. 6 Die Beklagte verteidigt das angegriffene Berufungsurteil und beantragt, die Revision zurückzuweisen. II 7 Die Revision hat nur zum Teil Erfolg. Das Berufungsurteil verletzt revisibles Recht (vgl. § 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO), weil es seine Prüfung auf eine unzutreffende Anspruchsgrundlage und ein fehlerhaftes Verständnis von Ruhezeit gestützt hat (1.). Der Kläger hat Anspruch auf die Gewährung von weiterem Freizeitausgleich für die im Revisionsverfahren noch streitigen Pausenzeiten nach Geltendmachung (2.). Die Annahme, für den Zeitraum bis Ende Juli 2013 stehe dem Anspruch des Klägers die fehlende vorherige Geltendmachung entgegen, erweist sich dagegen als im Ergebnis (vgl. § 144 Abs. 4 VwGO) richtig (3.). 8 1. Die Auffassung des Berufungsgerichts, Anspruchsgrundlage für das Begehren des Klägers sei § 5 Abs. 1 der Verordnung über die Arbeitszeit der Beamtinnen und Beamten des Bundes in der bis zum 31. Dezember 2013 geltenden Fassung vom 23. Februar 2006 (BGBl. I S. 427 - AZV a. F. -), verletzt revisibles Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). 9 a) Nach § 5 Abs. 1 AZV a. F. werden Ruhepausen außer bei Wechselschichtdienst (den der Kläger nach den Feststellungen des Berufungsgerichts nicht geleistet hat) nicht auf die Arbeitszeit angerechnet. Schon ihrem Wortlaut nach enthält die Vorschrift keine Rechtsfolge, die das Begehren des Klägers erfasst. Aus der Zielrichtung der Verordnung ergibt sich nichts anderes. Denn der Verordnungsgeber wollte mit der Neuordnung der Arbeitszeit der Beamten des Bundes (lediglich) ein einheitliches Regelwerk zur Arbeitszeit schaffen, ohne dass sich Anhaltspunkte dafür ergeben, er habe § 5 Abs. 1 AZV a. F. eine anspruchsbegründende Wirkung geben wollen (vgl. Entwurf einer Verordnung zur Neuordnung der Arbeitszeit der Beamtinnen und Beamten des Bundes und zur Änderung anderer Verordnungen, Begründung S. 1, 7). 10 Darüber hinaus erfasst die in § 5 Abs. 1 AZV a. F. geregelte "Anrechnung" das Begehren des Klägers nicht. Denn nach Ablauf der Bezugszeiträume ist die Anrechnung von Ruhepausen auf die Arbeitszeit des Klägers nicht mehr möglich. Die Vorschrift regelt indes nicht, wie im Fall der fehlerhaften Nichtanrechnung zu verfahren ist. Der vom Kläger begehrte Ausgleich für geleistete Arbeitszeit im Umfang der benannten Ruhepausen kann daher nur auf einen Sekundäranspruch gestützt sein. Mögliche Rechtsgrundlage hierfür ist der in der Senatsrechtsprechung für Pflichtverletzungen des Dienstherrn anerkannte beamtenrechtliche Ausgleichsanspruch (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 28. Mai 2003 - 2 C 28.02 - Buchholz 232 § 72 BBG Nr. 38 Rn. 19). 11 b) Die vom Berufungsgericht vorgenommene Abgrenzung zwischen Arbeits- und Ruhezeit hält auch einer rechtlichen Überprüfung nicht stand, weil sie auf einem nicht richtlinienkonformen Verständnis der Art. 2 Nr. 1 und 2 sowie Art. 4 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (RL 2003/88/EG, ABl. L 299 S. 9) beruht. 12 Danach ist eine "Ruhepause" als Arbeitszeit einzustufen, wenn sich aus einer Gesamtwürdigung der relevanten Umstände ergibt, dass die dem Arbeitnehmer auferlegten Einschränkungen von solcher Art sind, dass sie objektiv gesehen ganz erheblich seine Möglichkeiten beschränken, die Zeit frei zu gestalten und sie seinen eigenen Interessen zu widmen (EuGH, Urteil vom 9. September 2021 - C-107/19, Dopravní podnik hl. m. Prahy - NZA 2021, 1395 sowie das Urteil des erkennenden Senats vom heutigen Tage - 2 C 7.21 -). 13 Der vom Berufungsgericht zur Ablehnung der Pausenzeiten vom 20. August, 22. Oktober und 28. November 2013 maßgeblich herangezogene Umstand, dass die Wahrscheinlichkeit einer Inanspruchnahme während dieser Pausen eher gering gewesen sei, entspricht diesen Vorgaben nicht. Denn nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union kann der Umstand, dass eine Inanspruchnahme während der Bereitschaftszeit im Durchschnitt nur selten vorkommt, nicht zur Einstufung als Ruhezeit führen, wenn die Wiederaufnahmefrist die private Gestaltungsmöglichkeit der Ruhepause objektiv gesehen ganz erheblich einzuschränken vermag (EuGH, Urteile vom 9. September 2021 - C-107/19, Dopravní podnik hl. m. Prahy - NZA 2021, 1395 Rn. 40 und vom 9. März 2021 - C-344/19 - Rn. 54). 14 2. Das bezogen auf die am 20. August, 22. Oktober sowie 28. November 2013 gewährten Pausenzeiten abweisende Urteil des Oberverwaltungsgerichts stellt sich auch nicht aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO). Dem Kläger ist auf der Grundlage des beamtenrechtlichen Ausgleichsanspruchs weiterer Freizeitausgleich im Umfang von 105 Minuten zu gewähren. 15 Der auf den Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) gestützte beamtenrechtliche Ausgleichsanspruch setzt als Billigkeitsanspruch eine rechtswidrige Inanspruchnahme des Beamten über die höchstens zulässige Arbeitszeit hinaus voraus (vgl. BVerwG, Urteile vom 28. Mai 2003 - 2 C 28.02 - Buchholz 232 § 72 BBG Nr. 38, vom 29. September 2011 - 2 C 32.10 - BVerwGE 140, 351 Rn. 8, vom 26. Juli 2012 - 2 C 29.11 - BVerwGE 143, 381 Rn. 26 und vom 17. Februar 2022 - 2 C 5.21 - juris Rn. 23). Dies ist der Fall, wenn der Dienstherr einen Beamten auf der Grundlage einer rechtswidrig zu hoch festgesetzten regelmäßigen Arbeitszeit zum Dienst heranzieht oder ihn über die rechtmäßig festgesetzte regelmäßige Arbeitszeit hinaus in Anspruch nimmt, ohne dass die Voraussetzungen für die Anordnung oder Genehmigung von Mehrarbeit erfüllt sind. 16 Diese Voraussetzungen sind hinsichtlich der Pausenzeiten am 20. August, 22. Oktober sowie 28. November 2013 erfüllt. 17 a) Entgegen der Auffassung der Beklagten sind diese Pausenzeiten als Arbeitszeit zu bewerten. 18 Die einem Beamten während seiner täglichen Arbeitszeit gewährte Ruhepause ist als "Arbeitszeit" im Sinne dieser Bestimmung einzustufen, wenn sich aus einer Würdigung der Umstände ergibt, dass die dem Arbeitnehmer während dieser Ruhepause auferlegten Einschränkungen von solcher Art sind, dass sie objektiv gesehen ganz erheblich seine Möglichkeit beschränken, die Zeit, in der seine beruflichen Leistungen nicht in Anspruch genommen werden, frei zu gestalten und sie seinen eigenen Interessen zu widmen (vgl. EuGH, Urteil vom 9. September 2021 - C-107/19, Dopravní podnik hl. m. Prahy - NZA 2021, 1395 Rn. 43). 19 Der Kläger unterlag im Rahmen der ihm am 20. August, 22. Oktober und 28. November 2013 gewährten Pausenzeiten objektiv gesehen ganz erheblichen Beschränkungen. Aus den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts ergibt sich, dass sämtliche Pausen dadurch gekennzeichnet waren, dass der Kläger Einsatzkleidung (teilweise besondere Schutzbekleidung sowie Helm) trug, Dienstwaffe und Dienstfahrzeug mitführte und seine ständige Erreichbarkeit sicherstellen musste. 20 Zwar ist in der Verpflichtung zum Tragen von Einsatzkleidung sowie zum Mitführen von Dienstwaffe und Dienstfahrzeug für sich genommen keine Einschränkung von solcher Art zu sehen, die objektiv gesehen ganz erheblich die Möglichkeit des Klägers beschränkt hat, die Zeit, in der seine beruflichen Leistungen nicht in Anspruch genommen wurden, frei zu gestalten und sie seinen eigenen Interessen zu widmen. Denn mit einer Ruhepause von 30 bis 45 Minuten - zudem an einem Einsatzort außerhalb der Dienststelle - geht unvermeidlich einher, dass sich die Möglichkeiten der Freizeitgestaltung vor dem Hintergrund der absehbaren Wiederaufnahme des Dienstes anders darstellen als bei Ruhezeiten nach Beendigung der Arbeit. 21 Hingegen unterwarf die den Kläger zusätzlich treffende Verpflichtung, während der gewährten Pausenzeiten seine ständige Erreichbarkeit sicherzustellen, seine freie Pausengestaltung objektiv gesehen ganz erheblichen Einschränkungen, die dem mit der Gewährung einer Ruhepause verfolgten Erholungszweck zuwiderläuft und den Betroffenen aufgrund der Unvorhersehbarkeit möglicher Unterbrechungen in eine "Daueralarmbereitschaft" versetzt. Dies gilt jedenfalls bei Maßnahmen der unmittelbaren präventiven oder repressiven Gefahrenabwehr, bei denen es in der Sachgesetzlichkeit der übertragenen Aufgabe liegt, dass die dienstliche Tätigkeit alsbald bzw. unverzüglich wieder aufzunehmen ist und ihr folglich ein Gepräge des "Sich-Bereit-Haltens" innewohnt. 22 Die den Kläger treffenden ganz erheblichen Einschränkungen sind auch nicht dadurch aufgewogen worden, dass er sich nach den Feststellungen des Berufungsgerichts nicht an einem vom Dienstherrn (explizit) bestimmten Ort bereitzuhalten hatte. Denn dieser war durch die Festlegung des Einsatzortes seitens des Dienstherrn, die Verpflichtung zur Sicherstellung der ständigen Erreichbarkeit sowie aufgrund der kurzen Dauer der Ruhezeit in tatsächlicher Hinsicht räumlich eng umrissen und somit nicht frei wählbar. 23 b) Bei Berücksichtigung dieser Zeiten ist der Kläger über die festgesetzte regelmäßige Arbeitszeit hinaus in Anspruch genommen worden. 24 Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 AZV a. F. betrug die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit, die der Kläger innerhalb von zwölf Monaten durchschnittlich zu erbringen hatte (vgl. § 2 Nr. 1 AZV a. F.), 41 Stunden. 25 Die dienstliche Inanspruchnahme des Klägers ging im Jahr 2013 über diese Arbeitszeit hinaus. Dies kann ohne Weiteres den in der Verwaltungsakte befindlichen monatsweisen Stundenabrechnungen entnommen werden und ist in der mündlichen Verhandlung von der Beklagten auch nicht bestritten worden. Der Senat ist daher nicht gehindert, die dahingehenden tatsächlichen Feststellungen im Revisionsverfahren zu treffen (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Juni 2020 - 3 C 2.19 - VRS 139, 94 Rn. 68). 26 c) Der Kläger hat seine Ansprüche auch zeitnah, nämlich durch Schreiben vom 28. Juli 2013, geltend gemacht. 27 Zwar hat der Kläger darin ausdrücklich nur "rückwirkend" um eine Neubewertung der Pausenzeiten gebeten. Die Vorinstanzen haben dem Schreiben aber nicht nur einen auf die Vergangenheit bezogenen Erklärungsinhalt beigemessen und es - im Hinblick auf das zum Ausdruck kommende generelle Begehren, Pausen unter Bereithaltung als Arbeitszeit anerkannt zu bekommen - auch als Geltendmachung für die Zukunft gewertet. Diese Würdigung entspricht den auch im öffentlichen Recht heranzuziehenden Auslegungsgrundsätzen des § 133 BGB und lässt Rechtsfehler nicht erkennen. 28 3. Soweit das Berufungsurteil einen Anspruch des Klägers für den Zeitraum bis Ende Juli 2013 wegen der fehlenden vorherigen Geltendmachung verneint hat, erweist sich die Entscheidung als im Ergebnis (vgl. § 144 Abs. 4 VwGO) richtig. Zwar wäre der Grundsatz der zeitnahen Geltendmachung auf den vom Berufungsgericht herangezogenen gesetzlichen Anspruch aus § 5 Abs. 1 AZV a. F. nicht anwendbar; für die allein in Betracht kommenden Ansprüche aus dem beamtenrechtlichen Ausgleichsanspruch indes ist er anwendbar (a). Unionsrechtliche Bedenken hiergegen bestehen nicht (b). 29 a) Besoldungsansprüche von Beamten und Soldaten ergeben sich unmittelbar aus Gesetz (§ 2 Abs. 1 BBesG), eines Antrags bedarf es daher nicht (BVerwG, Urteil vom 17. September 2015 - 2 C 26.14 - Buchholz 232.0 § 87 BBG 2009 Nr. 1 Rn. 26). Dies gälte auch, wenn die vom Berufungsgericht herangezogene Regelung aus § 5 Abs. 1 AZV a. F. als gesetzliche Anspruchsgrundlage dienen würde. 30 Ansprüche, deren Festsetzung und Zahlung sich nicht unmittelbar aus dem Gesetz ergeben, bedürfen dagegen einer vorherigen Geltendmachung (BVerfG, Beschluss vom 22. März 1990 - 2 BvL 1/86 - BVerfGE 81, 363 <384 f.>; BVerwG, Urteile vom 26. Juli 2012 - 2 C 29.11 - BVerwGE 143, 381 Rn. 27 und vom 29. September 2011 - 2 C 32.10 - BVerwGE 140, 351 Rn. 19 und vom 17. Februar 2022 - 2 C 5.21 - juris Rn. 24). Denn hier ist eine vorgängige Entscheidung über Grund und Höhe der begehrten Zahlung erforderlich. Für Ansprüche wegen rechtswidriger Zuvielarbeit gilt dies in besonderer Weise. Diese sind nicht primär auf die Zahlung eines finanziellen Ausgleichs gerichtet, sondern auf die Beseitigung des rechtswidrigen Zustands. Für den Beamten folgt aus der beamtenrechtlichen Treuepflicht die Obliegenheit, seinen Dienstherrn mit einem auf eine solche Behauptung gestützten Anspruch alsbald zu konfrontieren, um ihm die Möglichkeit zu geben zu reagieren (vgl. BVerwG, Urteile vom 13. November 2008 - 2 C 16.07 - Buchholz 11 Art. 33 Abs. 5 GG Nr. 101 Rn. 21 und vom 17. Februar 2022 - 2 C 5.21 - juris Rn. 24). Dadurch ist zunächst eine Prüfung seines Dienstherrn veranlasst, ob eine Änderung der Arbeitszeitgestaltung erforderlich ist und ob eine rechtswidrige Zuvielarbeit - etwa durch Anpassung der maßgeblichen Dienstpläne - vermieden oder durch die Gewährung von Freizeitausgleich kompensiert werden kann. Auch hinsichtlich der möglichen finanziellen Ausgleichspflicht hat der Dienstherr ein berechtigtes Interesse daran, nicht nachträglich mit unvorhersehbaren Zahlungsbegehren konfrontiert zu werden (BVerwG, Urteile vom 21. September 2006 - 2 C 5.06 - Buchholz 240 § 40 BBesG Nr. 38 Rn. 15 und vom 17. Februar 2022 - 2 C 5.21 - juris Rn. 24). 31 Der Beamte wird durch das Erfordernis der schriftlichen Geltendmachung des Anspruchs gegenüber seinem Dienstherrn nicht unzumutbar belastet. Denn an die Rüge des Berechtigten sind keine hohen Anforderungen zu stellen. Es reicht aus, wenn sich aus der schriftlichen Äußerung ergibt, dass der Beamte mit der jeweiligen Situation - hier dem Umfang der Arbeitszeit - nicht einverstanden ist. Weder ist ein Antrag im rechtstechnischen Sinne erforderlich noch muss Freizeitausgleich, hilfsweise finanzieller Ausgleich, beantragt oder der finanzielle Ausgleich konkret berechnet werden. Der Beamte kann dem Erfordernis der schriftlichen Geltendmachung in jeder beliebigen Textform gerecht werden, etwa auch per E-Mail (BVerwG, Urteile vom 27. Mai 2010 - 2 C 33.09 - Buchholz 11 Art. 33 Abs. 5 GG Nr. 117 Rn. 15, vom 26. Juli 2012 - 2 C 29.11 - BVerwGE 143, 381 Rn. 27, vom 17. September 2015 - 2 C 26.14 - Buchholz 232.0 § 87 BBG 2009 Nr. 1 Rn. 29, vom 19. April 2018 - 2 C 40.17 - BVerwGE 161, 377 Rn. 29 und vom 17. Februar 2022 - 2 C 5.21 - juris Rn. 25). 32 b) Unionsrechtlich begründete Zweifel hieran bestehen nicht. 33 Dies folgt bereits daraus, dass der streitgegenständliche Anspruch nicht auf eine Überschreitung der unionsrechtlich geregelten Höchstarbeitszeit aus Art. 6 Buchst. b der RL 2003/88/EG von durchschnittlich 48 Stunden pro Siebentageszeitraum zurückgeht, sondern seinen Rechtsgrund allein in einer Überschreitung der national angeordneten durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit - von hier 41 Stunden - findet. 34 Unabhängig hiervon begegnet der Grundsatz der zeitnahen Geltendmachung auch keinen unionsrechtlichen Bedenken. 35 Zwar hat der Gerichtshof der Europäischen Union für die Verpflichtung auf Einhaltung der wöchentlichen Höchstarbeitszeit aus Art. 6 Buchst. b der RL 2003/88/EG im Urteil vom 25. November 2010 (- C-429/09, Fuß - Rn. 86) ausgeführt, dass einem Arbeitnehmer, dem - wie demjenigen des dortigen Ausgangsverfahrens - durch den Verstoß seines Arbeitgebers ein Schaden entstanden ist, nicht zugemutet werden kann, zuvor einen Antrag bei diesem Arbeitgeber zu stellen, um einen Anspruch auf Ersatz dieses Schadens geltend zu machen. Denn die Verpflichtung des Arbeitgebers besteht unabhängig davon, ob der Arbeitnehmer zuvor die Einhaltung dieser Bestimmungen beantragt hat. Diese Ausführungen waren indes auf den dortigen Fall bezogen, in dem bereits die Einforderung der Rechte unmittelbar Nachteile auf das Arbeitsverhältnis bewirkt hat. Denn der Arbeitgeber des dortigen Ausgangsverfahrens hatte vorab angekündigt und nachfolgend auch ins Werk gesetzt, jeden Arbeitnehmer, der die Einhaltung seiner Rechte geltend mache, in eine andere Dienststelle umzusetzen. In einer derartigen Situation, in der mit der Geltendmachung der bestehenden Rechte eine Sanktion des Arbeitgebers verbunden ist, verstößt es gegen den Effektivitätsgrundsatz, nachträgliche Schadensersatzforderungen von einem vorherigen Antrag abhängig zu machen. 36 Abgesehen von dieser Sondersituation ist in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union geklärt, dass der Grundsatz der zeitnahen Geltendmachung für Ansprüche von Beamten auf Geldleistungen, die sich nicht unmittelbar aus dem Gesetz ergeben, weder gegen den Äquivalenzgrundsatz noch gegen den Effektivitätsgrundsatz verstößt (EuGH, Urteile vom 19. Juni 2014 - C-501/12 u. a., Specht - Rn. 115 und vom 9. September 2015 - C-20/13, Unland - Rn. 72). Es ist vielmehr Sache der Mitgliedstaaten, für nationale Regelungen, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, Fristen festzulegen, die insbesondere der Bedeutung der zu treffenden Entscheidungen für die Betroffenen, der Komplexität der Verfahren und der anzuwendenden Rechtsvorschriften, der Zahl der potenziell Betroffenen und den anderen zu berücksichtigenden öffentlichen oder privaten Belangen entsprechen (EuGH, Urteil vom 8. Juli 2010 - C-246/09, Bulicke - Rn. 36 m. w. N.). 37 Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 VwGO.
bundesverwaltungsgericht
bverwg_2022-36
08.06.2022
Pressemitteilung Nr. 36/2022 vom 08.06.2022 EN EuGH soll die Frage der Berücksichtigung des Kindeswohls und familiärer Bindungen bei Erlass einer Rückkehrentscheidung klären Das Bundesverwaltungsgericht hat heute den Gerichtshof der Europäischen Union zur Klärung angerufen, ob im Sinne des Art. 5 Halbs. 1 Buchst. a und b der Rückführungsrichtlinie (im Folgenden: RL 2008/115/EG) beachtliche Gründe bereits dem Erlass einer (asylrechtlichen) Abschiebungsandrohung entgegenstehen können. Der im Dezember 2018 geborene Kläger besitzt wie seine Eltern die nigerianische Staatsangehörigkeit. Zugunsten des Vaters und einer im Jahre 2014 geborenen Schwester des Klägers hatte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK festgestellt. Beiden wurden in der Folge Aufenthaltserlaubnisse erteilt. Der Asylantrag der Mutter und einer weiteren im Jahre 2016 geborenen Schwester des Klägers wurde als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Das insoweit bei dem Verwaltungsgericht anhängige Klageverfahren ist im Hinblick auf das streitgegenständliche Verfahren ruhend gestellt worden. Ein Antrag, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen, ist ohne Erfolg geblieben. Ihr Aufenthalt wird seither geduldet. Das Bundesamt lehnte den Asylantrag des Klägers ab. Das Verwaltungsgericht hat die gegen den Kläger erlassene Abschiebungsandrohung und das mit dieser einhergehende Einreise- und Aufenthaltsverbot unter Abweisung der Klage im Übrigen aufgehoben. Wegen des hinsichtlich des Vaters des Klägers und dessen Schwester festgestellten nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG bestehe ein inlandsbezogenes Abschiebungsverbot nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK, da dem Kläger eine Trennung von seinem Vater ob seines Alters nicht zuzumuten sei. Der 1. Revisionssenat des Bundesverwaltungsgerichts sieht unionsrechtlichen Klärungsbedarf, ob das nationale Recht, dem zufolge das Vorliegen von Abschiebungsverboten und Gründen für die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung dem Erlass einer Abschiebungsandrohung nicht entgegensteht, mit Art. 5 Halbs. 1 Buchst. a und b RL 2008/115/EG vereinbar ist. Danach berücksichtigen die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Rückführungsrichtlinie in gebührender Weise das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen. Der Senat hat das Revisionsverfahren bis zu einer Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über die nachstehende Vorlagefrage ausgesetzt: Ist Art. 5 Halbs. 1 Buchst. a und b RL 2008/115/EG dahin auszulegen, dass er der Rechtmäßigkeit einer gegen einen minderjährigen Drittstaatsangehörigen erlassenen Rückkehrentscheidung, die zusammen mit der Ablehnung von dessen Antrag auf internationalen Schutz ergeht und diesem eine Ausreisefrist von 30 Tagen ab Bestandskraft setzt, ausnahmslos entgegensteht, wenn aus rechtlichen Gründen auf unabsehbare Zeit kein Elternteil in ein in Art. 3 Nr. 3 RL 2008/115/EG bezeichnetes Land rückgeführt werden kann und damit auch dem Minderjährigen das Verlassen des Mitgliedstaats wegen seiner schutzwürdigen familiären Bindungen (Art. 7 und 24 Abs. 2 GRC, Art. 8 EMRK) nicht zugemutet werden kann, oder genügt es, dass das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen im Sinne des Art. 5 Halbs. 1 Buchst. a und b RL 2008/115/EG auf der Grundlage einer nationalen gesetzlichen Regelung nach Erlass der Rückkehrentscheidung durch eine Aussetzung der Abschiebung zu berücksichtigen sind? BVerwG 1 C 24.21 - Beschluss vom 08. Juni 2022 Vorinstanz: VG Sigmaringen, VG A 4 K 3124/19 - Urteil vom 07. Juni 2021 -
Tenor Das Verfahren wird ausgesetzt.Es wird gemäß Art. 267 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu folgender Frage eingeholt:Ist Art. 5 Halbs. 1 Buchst. a und b RL 2008/115/EG dahin auszulegen, dass er der Rechtmäßigkeit einer gegen einen minderjährigen Drittstaatsangehörigen erlassenen Rückkehrentscheidung, die zusammen mit der Ablehnung von dessen Antrag auf internationalen Schutz ergeht und diesem eine Ausreisefrist von 30 Tagen ab Bestandskraft setzt, ausnahmslos entgegensteht, wenn aus rechtlichen Gründen auf unabsehbare Zeit kein Elternteil in ein in Art. 3 Nr. 3 RL 2008/115/EG bezeichnetes Land rückgeführt werden kann und damit auch dem Minderjährigen das Verlassen des Mitgliedstaats wegen seiner schutzwürdigen familiären Bindungen (Art. 7 und 24 Abs. 2 GRC, Art. 8 EMRK) nicht zugemutet werden kann, oder genügt es, dass das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen im Sinne des Art. 5 Halbs. 1 Buchst. a und b RL 2008/115/EG auf der Grundlage einer nationalen gesetzlichen Regelung nach Erlass der Rückkehrentscheidung durch eine Aussetzung der Abschiebung zu berücksichtigen sind? Gründe IDer Kläger wendet sich gegen eine zusammen mit der Ablehnung seines Asylantrags verfügte Abschiebungsandrohung.Der im Dezember 2018 im Bundesgebiet geborene Kläger ist wie seine Eltern Staatsangehöriger der Bundesrepublik Nigeria. Zugunsten des Vaters und einer im Jahre 2014 geborenen Schwester des Klägers hatte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) im März 2017 beziehungsweise im März 2018 ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK festgestellt und dieses auf den Umstand gestützt, dass es dem Kindesvater nicht möglich sein werde, seine gegenüber dessen Eltern, seiner Frau und seinen Kindern bestehenden Unterhaltspflichten in Nigeria durch einfache Arbeit zu erfüllen. Dem Vater und der vorbezeichneten Schwester des Klägers wurden daraufhin erstmals im Februar 2018 beziehungsweise im April 2018 Aufenthaltserlaubnisse nach § 25 Abs. 3 AufenthG erteilt. Die Asylanträge der Mutter und einer weiteren im Jahre 2016 geborenen Schwester des Klägers wurden im März 2017 als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Das insoweit bei dem Verwaltungsgericht anhängige Klageverfahren ist im Hinblick auf das streitgegenständliche Verfahren ruhend gestellt worden. Ein Antrag, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid anzuordnen, ist ohne Erfolg geblieben. Ihr Aufenthalt wird seither geduldet.Mit Bescheid vom 13. Juni 2019 lehnte das Bundesamt es ab, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen (Ziff. 1), ihn als Asylberechtigten anzuerkennen (Ziff. 2) und ihm den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen (Ziff. 3), stellte es das Nichtvorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG fest (Ziff. 4), drohte es ihm die Abschiebung primär nach Nigeria an (Ziff. 5) und befristete es das (seinerzeit noch) gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG a. F. auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziff. 6).Mit Urteil vom 7. Juni 2021 hat das Verwaltungsgericht unter Abweisung der Klage im Übrigen Ziff. 5 und 6 des Bescheids vom 13. Juni 2019 aufgehoben. Die Abschiebungsandrohung sei rechtswidrig. Wegen des hinsichtlich des Vaters und einer Schwester des Klägers festgestellten nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG bestehe in Bezug auf diese ein inlandsbezogenes Abschiebungsverbot aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK. Dem Kläger sei eine Trennung von seinem Vater wegen seines Alters nicht zuzumuten.Zur Begründung ihrer Sprungrevision führt die Beklagte im Wesentlichen aus, Umstände, welche das nach Art. 5 Halbs. 1 Buchst. a RL 2008/115/EG zu berücksichtigende Wohl des Kindes und die nach Art. 5 Halbs. 1 Buchst. b RL 2008/115/EG zu berücksichtigenden familiären Bindungen beträfen, seien grundsätzlich nicht im Verfahren betreffend die Abschiebungsandrohung des Bundesamts, sondern in einem gesonderten Verfahren gegenüber der für den Vollzug der Abschiebung zuständigen Ausländerbehörde geltend zu machen. Diese Aufteilung der Zuständigkeiten sei durch den dem nationalen Gesetzgeber verbliebenen Spielraum zur Ausgestaltung der Rechtsschutzverfahren gedeckt.IIDer Rechtsstreit ist auszusetzen. Gemäß Art. 267 AEUV ist eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (im Folgenden: Gerichtshof) zu der im Beschlusstenor formulierten Frage einzuholen. Die Frage betrifft die Auslegung von Art. 5 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348 S. 98; im Folgenden: RL 2008/115/EG).1. Die rechtliche Beurteilung der Abschiebungsandrohung richtet sich im nationalen Recht nach dem Asylgesetz (AsylG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl. I S. 1798), zuletzt geändert durch Art. 9 des Gesetzes vom 9. Juli 2021 zur Weiterentwicklung des Ausländerzentralregisters (BGBl. I S. 2467 <2504>), sowie nach dem Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (AufenthG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162), zuletzt geändert durch Art. 3 des Gesetzes vom 9. Juli 2021 zur Weiterentwicklung des Ausländerzentralregisters (BGBl. I S. 2467 <2502>).Den danach maßgeblichen rechtlichen Rahmen des Rechtsstreits bilden die folgenden Vorschriften des nationalen Rechts:Art. 6 GG(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. (...)(...)§ 34 AsylG - Abschiebungsandrohung(1) Das Bundesamt erlässt nach den §§ 59 und 60 Absatz 10 des Aufenthaltsgesetzes eine schriftliche Abschiebungsandrohung, wenn1. der Ausländer nicht als Asylberechtigter anerkannt wird,2. dem Ausländer nicht die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird,2a. dem Ausländer kein subsidiärer Schutz gewährt wird,3. die Voraussetzungen des § 60 Absatz 5 und 7 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen oder die Abschiebung ungeachtet des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Absatz 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes ausnahmsweise zulässig ist und4. der Ausländer keinen Aufenthaltstitel besitzt.Eine Anhörung des Ausländers vor Erlass der Abschiebungsandrohung ist nicht erforderlich. Im Übrigen bleibt die Ausländerbehörde für Entscheidungen nach § 59 Absatz 1 Satz 4 und Absatz 6 des Aufenthaltsgesetzes zuständig.(2) Die Abschiebungsandrohung soll mit der Entscheidung über den Asylantrag verbunden werden. (...)§ 25 AufenthG - Aufenthalt aus humanitären Gründen(...)(5) Einem Ausländer, der vollziehbar ausreisepflichtig ist, kann eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist. Die Aufenthaltserlaubnis soll erteilt werden, wenn die Abschiebung seit 18 Monaten ausgesetzt ist. Eine Aufenthaltserlaubnis darf nur erteilt werden, wenn der Ausländer unverschuldet an der Ausreise gehindert ist. Ein Verschulden des Ausländers liegt insbesondere vor, wenn er falsche Angaben macht oder über seine Identität oder Staatsangehörigkeit täuscht oder zumutbare Anforderungen zur Beseitigung der Ausreisehindernisse nicht erfüllt.§ 59 AufenthG - Androhung der Abschiebung(1) Die Abschiebung ist unter Bestimmung einer angemessenen Frist zwischen sieben und 30 Tagen für die freiwillige Ausreise anzudrohen. (...) Nach Ablauf der Frist zur freiwilligen Ausreise darf der Termin der Abschiebung dem Ausländer nicht angekündigt werden.(2) In der Androhung soll der Staat bezeichnet werden, in den der Ausländer abgeschoben werden soll, und der Ausländer darauf hingewiesen werden, dass er auch in einen anderen Staat abgeschoben werden kann, in den er einreisen darf oder der zu seiner Übernahme verpflichtet ist. (...)(3) Dem Erlass der Androhung steht das Vorliegen von Abschiebungsverboten und Gründen für die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nicht entgegen. In der Androhung ist der Staat zu bezeichnen, in den der Ausländer nicht abgeschoben werden darf. Stellt das Verwaltungsgericht das Vorliegen eines Abschiebungsverbots fest, so bleibt die Rechtmäßigkeit der Androhung im Übrigen unberührt.(4) Nach dem Eintritt der Unanfechtbarkeit der Abschiebungsandrohung bleiben für weitere Entscheidungen der Ausländerbehörde über die Abschiebung oder die Aussetzung der Abschiebung Umstände unberücksichtigt, die einer Abschiebung in den in der Abschiebungsandrohung bezeichneten Staat entgegenstehen und die vor dem Eintritt der Unanfechtbarkeit der Abschiebungsandrohung eingetreten sind; sonstige von dem Ausländer geltend gemachte Umstände, die der Abschiebung oder der Abschiebung in diesen Staat entgegenstehen, können unberücksichtigt bleiben. Die Vorschriften, nach denen der Ausländer die im Satz 1 bezeichneten Umstände gerichtlich im Wege der Klage oder im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nach der Verwaltungsgerichtsordnung geltend machen kann, bleiben unberührt.(...)§ 60a AufenthG - Vorübergehende Aussetzung der Abschiebung (Duldung)(...)(2) Die Abschiebung eines Ausländers ist auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. (...)(...)(3) Die Ausreisepflicht eines Ausländers, dessen Abschiebung ausgesetzt ist, bleibt unberührt.(4) Über die Aussetzung der Abschiebung ist dem Ausländer eine Bescheinigung auszustellen.(5) Die Aussetzung der Abschiebung erlischt mit der Ausreise des Ausländers. Sie wird widerrufen, wenn die der Abschiebung entgegenstehenden Gründe entfallen. Der Ausländer wird unverzüglich nach dem Erlöschen ohne erneute Androhung und Fristsetzung abgeschoben, es sei denn, die Aussetzung wird erneuert. Ist die Abschiebung länger als ein Jahr ausgesetzt, ist die durch Widerruf vorgesehene Abschiebung mindestens einen Monat vorher anzukündigen; die Ankündigung ist zu wiederholen, wenn die Aussetzung für mehr als ein Jahr erneuert wurde. Satz 4 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer die der Abschiebung entgegenstehenden Gründe durch vorsätzlich falsche Angaben oder durch eigene Täuschung über seine Identität oder Staatsangehörigkeit selbst herbeiführt oder zumutbare Anforderungen an die Mitwirkung bei der Beseitigung von Ausreisehindernissen nicht erfüllt.§ 123 VwGO(1) Auf Antrag kann das Gericht, auch schon vor Klageerhebung, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint.(...)2. Die Vorlagefrage ist entscheidungserheblich und bedarf einer Klärung durch den Gerichtshof.2.1 Die Vorlagefrage ist entscheidungserheblich.Nationales Recht steht der Rechtmäßigkeit einer gegen einen minderjährigen Drittstaatsangehörigen erlassenen Rückkehrentscheidung, die zusammen mit der Ablehnung von dessen Antrag auf internationalen Schutz ergeht und diesem eine Ausreisefrist von 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens setzt, grundsätzlich auch dann nicht entgegen, wenn aus rechtlichen Gründen auf absehbare Zeit kein Elternteil des Minderjährigen in ein in Art. 3 Nr. 3 RL 2008/115/EG bezeichnetes Land zurückgeführt und damit auch dem Minderjährigen das Verlassen des Mitgliedstaats im Lichte von Art. 7 und 24 Abs. 2 GRC und Art. 8 EMRK nicht zugemutet werden kann. Das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen im Sinne des Art. 5 Halbs. 1 Buchst. a und b RL 2008/115/EG sind vielmehr Gegenstand einer nach Erlass der asylrechtlichen Rückkehrentscheidung im ausländerbehördlichen Verfahren zu treffenden Entscheidung über die Aussetzung der Abschiebung des Drittstaatsangehörigen.a) Rückkehrentscheidung im Sinne von Art. 3 Nr. 4, Art. 6 und Art. 7 Abs. 1 UAbs. 1 RL 2008/115/EG ist im deutschen Asyl- und Ausländerrecht die auf der Grundlage des § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG bzw. § 59 AufenthG zu erlassende Abschiebungsandrohung (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Februar 2022 - 1 C 6.21 - juris Rn. 41, 45 und 56 m. w. N.).Um die Durchsetzung der Ausreisepflicht zu beschleunigen und zu vereinfachen, ergeht die Abschiebungsandrohung unabhängig davon, ob der Ausländerbehörde konkrete Anhaltspunkte dafür erkennbar geworden sind, dass der Ausländer seiner Ausreisepflicht möglicherweise nicht freiwillig nachkommen wird (BVerwG, Urteil vom 4. Oktober 1988 - 1 C 1.88 - Buchholz 402.24 § 7 AuslG 1965 Nr. 31 S. 34; ferner Hailbronner, in: Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: Oktober 2021, § 59 AufenthG Rn. 33). Den Zwecken der Beschleunigung und Vereinfachung der Durchsetzung der Ausreisepflicht dient auch die in § 34 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 59 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 AufenthG getroffene Regelung, nach der dem Erlass der Abschiebungsandrohung das Vorliegen von Abschiebungsverboten und Gründen für die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nicht entgegensteht (vgl. zu Ausnahmen OVG Magdeburg, Beschluss vom 22. November 2021 - 2 M 124/21 - juris Rn. 12 m. w. N.). Die Abschiebungsandrohung verfolgt das Ziel, den Ausländer zur freiwilligen Ausreise zu veranlassen, ohne dass dies nach Fristablauf zwangsläufig eine Abschiebung zur Folge hat (Hailbronner, in: Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: Oktober 2021, § 59 AufenthG Rn. 32 f.). Inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse, darunter auch solche Umstände, infolge derer die Abschiebung eines Ausländers mit Blick auf eine mit Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Abs. 2 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK, Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 GRC nicht vereinbare Trennung von Familienmitgliedern rechtlich unmöglich ist, sind nicht bei dem - im Asylverfahren in der Zuständigkeit des Bundesamts liegenden - Erlass der Abschiebungsandrohung und damit nicht beim Erlass der Rückkehrentscheidung, sondern bei der - von der Ausländerbehörde von Amts wegen, mithin auch ohne einen entsprechenden Antrag des Ausländers zu treffenden - Entscheidung über eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung (Duldung) zu beachten (vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 45.18 - BVerwGE 166, 113 Rn. 21 und Beschluss vom 10. Oktober 2012 - 10 B 39.12 - Buchholz 402.25 § 34 AsylVfG Nr. 11 Rn. 4). Auch ein aus dem legalen Aufenthalt von Familienangehörigen möglicherweise resultierender Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis steht dem Erlass der Abschiebungsandrohung nicht entgegen, sondern ist gesondert gegenüber der Ausländerbehörde geltend zu machen.b) Ist die Durchsetzung der Ausreisepflicht mit den Mitteln des Verwaltungszwangs wegen inlandsbezogener Abschiebungsverbote unmöglich, so ist die Abschiebung des Ausländers gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG von Amts wegen auszusetzen (Röder, in: Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Stand: 15. April 2022, § 60a AufenthG Rn. 21), solange die die rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung bewirkenden Gründe fortbestehen und dem Ausländer keine Aufenthaltserlaubnis - etwa nach § 25 Abs. 5 AufenthG - erteilt wird. Die Duldung ist ein den Ausländer begünstigender Verwaltungsakt (so bereits BVerwG, Beschluss vom 16. August 1980 - 1 B 809.80 - Buchholz 402.24 § 17 AuslG 1965 Nr. 3 S. 4; Dollinger, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 60a AufenthG Rn. 18). Ihre Erteilung lässt die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht unberührt, sie ändert auch nichts am Lauf bzw. Ablauf der Frist zur freiwilligen Ausreise. Der Ausländer hält sich weiterhin rechtswidrig im Bundesgebiet auf, macht sich indes, sofern er den kraft Gesetzes räumlich beschränkten Geltungsbereich der Duldung nicht verlässt, nicht strafbar. Es obliegt ihm, der Ausländerbehörde das Vorliegen der die rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung begründenden Tatsachen darzulegen. Die Ausländerbehörde ist verpflichtet, diesen Tatsachen nachzugehen, gleichwohl, ob sie vor oder nach Ergehen der Abschiebungsandrohung entstanden sind, und dem Ausländer bei Bestehen eines inlandsbezogenen Abschiebungsverbots eine Bescheinigung über die Aussetzung der Abschiebung auszustellen. Die Geltungsdauer der Duldung bemisst sich nach der Art des Duldungsgrundes und dessen zu erwartender Dauer (vgl. Röder, in: Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Stand: 15. April 2022, § 60a AufenthG Rn. 96). Erlischt die Duldung und ist sie wegen Fortfalls des Duldungsgrundes auch nicht zu verlängern, wird der Ausländer ohne erneute Androhung und Fristsetzung abgeschoben (§ 60a Abs. 5 Satz 3 AufenthG).c) Hält die Ausländerbehörde Duldungsgründe nicht für gegeben, so ist sie allerdings nicht verpflichtet, die Versagung einer Duldung dem Ausländer vor der Abschiebung in der Form einer schriftlichen und mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehenen Entscheidung (Art. 12 Abs. 1 RL 2008/115/EG) mitzuteilen. Denn die in Deutschland verfügte Rückkehrentscheidung im Sinne von Art. 6, Art. 12 Abs. 1 RL 2008/115/EG ist nicht die Versagung der Duldung nach § 60a AufenthG, sondern die Abschiebungsandrohung gemäß § 59 AufenthG. Der Ausländer, gegen den eine Abschiebungsandrohung ergangen ist, muss deshalb nach Ablauf der Frist zur freiwilligen Ausreise jederzeit mit seiner Abschiebung rechnen; der konkrete Termin der Abschiebung darf ihm nicht angekündigt werden (§ 59 Abs. 1 Satz 8 AufenthG). Effektiver Rechtsschutz ist gleichwohl gewährleistet, weil der Ausländer jederzeit die Möglichkeit hat, inlandsbezogene Abschiebungsverbote beim Verwaltungsgericht mit einem Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz in Form der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO geltend zu machen und den Vollzug der Abschiebung damit vorläufig zu verhindern (BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2020 - 1 C 1.19 - BVerwGE 167, 366 Rn. 24). Ein Rechtsschutzbedürfnis und die Eilbedürftigkeit für einen solchen Antrag (sogenannter Anordnungsgrund) sind nach Ablauf der Ausreisefrist regelmäßig gegeben (BVerfG, Beschluss vom 8. November 2017 - 2 BvR 809/17 - NVwZ 2018, 254 Rn. 15). Kann der Ausländer glaubhaft machen, dass er einen Anspruch auf Aussetzung der Abschiebung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG hat, wird das Verwaltungsgericht die Ausländerbehörde verpflichten, die Abschiebung vorläufig bis zu einer Entscheidung in der (auf Verpflichtung zur Erteilung einer Duldung gerichteten) Hauptsache nicht zu vollziehen.2.2 Das vorlegende Gericht hält für klärungsbedürftig, ob die vorbeschriebene nationale Rechtslage dem aus Art. 5 Halbs. 1 Buchst. a und b RL 2008/115/EG folgenden Gebot, das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen im Rückkehrverfahren gebührend zu berücksichtigen, hinreichend gerecht wird.a) Der Gerichtshof hat mehrfach betont, dass die familiären Bindungen und das Wohl des Kindes vor Erlass einer Rückkehrentscheidung zu berücksichtigen sind: Art. 5 RL 2008/115/EG bezweckt unter anderem die Wahrung der in Art. 24 GRC verankerten Grundrechte minderjähriger Drittstaatsangehöriger im Rahmen des durch die Richtlinie eingeführten Rückkehrverfahrens. Im Lichte dieser Zwecksetzung verbietet sich eine enge Auslegung der Richtlinienbestimmung (EuGH, Urteil vom 11. März 2021 - C-112/20 [ECLI:EU:C:2021:197], M. A. - Rn. 35).Das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen sind in sämtlichen Stadien des Verfahrens gebührend zu berücksichtigen (EuGH, Urteil vom 14. Januar 2021 - C-441/19 [ECLI:EU:C:2021:9], TQ - Rn. 54). Die zuständige nationale Behörde hat daher das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen auch dann gebührend zu berücksichtigen, wenn sie eine Rückkehrentscheidung zu erlassen beabsichtigt (EuGH, Urteile vom 11. Dezember 2014 - C-249/13 [ECLI:EU:C:2014:2431], Khaled Boudjlida - Rn. 49 und vom 11. März 2021 - C-112/20, M. A. - Rn. 41). Art. 5 Halbs. 1 Buchst. a und b RL 2008/115/EG verwehrt es einem Mitgliedstaat, eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, ohne die relevanten Aspekte des Wohles des Kindes und der familiären Bindungen zu berücksichtigen, die der Drittstaatsangehörige geltend macht, um den Erlass einer solchen Entscheidung zu verhindern (EuGH, Urteil vom 8. Mai 2018 - C-82/16 [ECLI:EU:C:2018:308], K. A. u. a. - Rn. 104). Der Mitgliedstaat ist daher aus Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Art. 5 Halbs. 1 Buchst. a und b RL 2008/115/EG i. V. m. Art. 24 Abs. 2 GRC gehalten, vor Erlass einer Rückkehrentscheidung eine Beurteilung der Situation eines von der Entscheidung betroffenen Minderjährigen vorzunehmen (EuGH, Urteil vom 14. Januar 2021 - C-441/19, TQ - Rn. 60). In diesem Zusammenhang ist dem Drittstaatsangehörigen grundsätzlich die Möglichkeit einzuräumen, seinen Standpunkt zur Rechtswidrigkeit seines Aufenthalts sowie solche Gründe sachdienlich und wirksam vorzutragen, welche es nach dem nationalen Recht rechtfertigen könnten, dass die Behörde von dem Erlass einer Rückkehrentscheidung absieht (EuGH, Urteil vom 11. Dezember 2014 - C-249/13, Khaled Boudjlida - Rn. 55 und 63). Der Mitgliedstaat hat zudem zu gewährleisten, dass sich der Drittstaatsangehörige auf jede auch nach Erlass der Rückkehrentscheidung eingetretene Änderung der Umstände berufen kann, die im Hinblick auf die Richtlinie 2008/115/EG und insbesondere deren Art. 5 Halbs. 1 Buchst. a und b erheblichen Einfluss auf die Beurteilung seiner Situation haben kann (EuGH, Urteil vom 19. Juni 2018 - C-181/16 [ECLI:EU:C:2018:465], Sadikan Gnandi - Rn. 64 und 67).Ein Drittstaatsangehöriger muss nach Art. 13 Abs. 1 und 2 RL 2008/115/EG über einen wirksamen Rechtsbehelf gegen eine gegen ihn ergangene Rückkehrentscheidung verfügen. Indes muss dieser Rechtsbehelf nicht notwendigerweise aufschiebende Wirkung haben (EuGH, Urteile vom 30. September 2020 - C-233/19 [ECLI:EU:C:2020:757], B. - Rn. 44 und - C-402/19 [ECLI:EU:C:2020:759], LM - Rn. 33 und Beschluss vom 5. Mai 2021 - C-641/20 [ECLI:EU:C:2021:374], VT - Rn. 22). Kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung muss der Rechtsbehelf gegen eine Rückkehrentscheidung indes für den Fall haben, dass die Vollstreckung dieser Entscheidung den Drittstaatsangehörigen tatsächlich der ernsthaften Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung geschützter Rechtsgüter aussetzen könnte (vgl. EuGH, Urteil vom 30. September 2020 - C-233/19, B. - Rn. 46 und 66). Die Verpflichtung, in einem solchen Fall einem Drittstaatsangehörigen einen kraft Gesetzes mit aufschiebender Wirkung ausgestatteten Rechtsbehelf gegen die ihn betreffende Rückkehrentscheidung zu gewährleisten, soll sicherstellen, dass diese Entscheidung nicht vollstreckt wird, bevor das zur Stützung dieses Rechtsbehelfs geltend gemachte Vorbringen von einer zuständigen Behörde geprüft worden ist (EuGH, Urteil vom 30. September 2020 - C -402/19, LM - Rn. 38 unter Bezugnahme auf EuGH, Urteil vom 18. Dezember 2014 - C-562/13 [ECLI:EU:C:2014:2453], Moussa Abdida - Rn. 49 f.). Sie soll es der betroffenen Person ermöglichen, sich vorübergehend in dem Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, der gegen sie eine Rückkehrentscheidung erlassen hat, aufzuhalten (EuGH, Urteil vom 30. September 2020 - C-402/19, LM - Rn. 39). Würde die Vollstreckung einer solchen Rückkehrentscheidung zugelassen, bevor das auf die Lage des Drittstaatsangehörigen gestützte Vorbringen von einer zuständigen Behörde geprüft worden ist, so bestünde die Gefahr, dass diesem Drittstaatsangehörigen in der Praxis der Schutz entzogen würde, der ihm nach den Art. 5 und 13 RL 2008/115/EG i. V. m. Art. 19 Abs. 2 und Art. 47 GRC zu gewähren ist (EuGH, Urteil vom 30. September 2020 - C-402/19, LM - Rn. 41). Insoweit obliegt es in erster Linie dem nationalen Gesetzgeber, die zur Wahrung der schutzwürdigen Belange erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen. Dieser verfügt insoweit über einen gewissen Spielraum (EuGH, Urteil vom 30. September 2020 - C-233/19, B. - Rn. 48 f.; vgl. in anderem Zusammenhang auch BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2020 - 1 C 1.19 - BVerwGE 167, 366 Rn. 13). Gelangt ein innerstaatliches Gericht zu dem Ergebnis, dass die nationalen Rechtsvorschriften einem Drittstaatsangehörigen, der durch die Vollstreckung der Rückkehrentscheidung der Gefahr einer gegen Art. 19 Abs. 2 GRC verstoßenden Behandlung ausgesetzt sein könnte, keinen Rechtsbehelf gegen die Rückkehrentscheidung bieten, der genauen, klaren und vorhersehbaren Regeln folgt und kraft Gesetzes die Aussetzung dieser Entscheidung nach sich zieht, so hat es die aufschiebende Wirkung der von diesem Drittstaatsangehörigen zur Aufhebung und Aussetzung der gegen ihn ergangenen Rückkehrentscheidung erhobenen Klage festzustellen, indem es nötigenfalls die nationalen Rechtsvorschriften, die ausschließen, dass diesem Rechtsbehelf eine solche Wirkung zukommen kann, unangewendet lässt (EuGH, Urteil vom 30. September 2020 - C-233/19, B. - Rn. 57 und Beschluss vom 5. Mai 2021 - C-641/20, VT - Rn. 28).b) Unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung des Gerichtshofs ist zweifelhaft, ob die deutsche Rechtslage, nach der eine Rückkehrentscheidung ungeachtet möglicher inlandsbezogener Abschiebungsverbote ergeht und diese in einem gesonderten Verfahren gegenüber der Ausländerbehörde geltend zu machen sind, mit dem Unionsrecht vereinbar ist.Teile der nationalen Rechtsprechung bejahen diese Vereinbarkeit, weil dem Gebot zur gebührenden Berücksichtigung des Kindeswohls und der familiären Bindungen bei Erlass der Rückkehrentscheidung dadurch hinreichend Rechnung getragen werde, dass gesetzlich geregelt ist und damit bereits im Zeitpunkt des Erlasses der Rückkehrentscheidung abstrakt-generell feststeht, dass eine Abschiebung nicht erfolgt, sofern und solange diese mit Blick auf eine mit Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 GRC sowie Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht vereinbare Trennung von Familienmitgliedern rechtlich unmöglich ist (in diesem Sinne VG Karlsruhe, Urteil vom 19. April 2021 - A 4 K 6798/19 - juris Rn. 37; VG Potsdam, Beschluss vom 29. September 2021 - 6 L 411/21.A - juris Rn. 34; im Ergebnis ebenso OVG Münster, Urteil vom 23. April 2021 - 19 A 810/16.A - juris Rn. 94 und 98; anderer Ansicht VG Karlsruhe, Urteil vom 12. Juli 2021 - A 19 K 9993/17 - juris Rn. 73 ff. und Beschluss vom 2. Juli 2021 - A 19 K 2100/21 - juris Rn. 25 ff.; VG Sigmaringen, Urteil vom 15. April 2021 - A 4 K 5966/17 - juris UA S. 21). Hiervon ist auch der Senat zuletzt im Februar 2020 noch ausgegangen. Er hat in diesem Zusammenhang Art. 6 Abs. 4 RL 2008/115/EG dahin verstanden, dass eine Rückkehrentscheidung auch bei Vorliegen inlandsbezogener Abschiebungsverbote ergehen kann, weil es danach ausreicht, die Rückkehrentscheidung "für die Gültigkeitsdauer des Aufenthaltstitels oder der sonstigen Aufenthaltsberechtigung auszusetzen" (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2020 - 1 C 1.19 - BVerwGE 167, 366 Rn. 24). Mit einer Duldung wird allerdings nur die Abschiebung ausgesetzt und nicht die Rückkehrentscheidung. Die Rückkehrentscheidung würde bei einer Abweisung der Klage im vorliegenden Verfahren gerade bestandskräftig. Die Ausreisefrist begänne dann zu laufen, obwohl dem Kläger auch eine freiwillige Ausreise nicht zuzumuten ist.Aktuelle Entscheidungen des Gerichtshofs (vor allem die vorzitierten Urteile vom 14. Januar 2021 - C-441/19, TQ - und vom 11. März 2021 - C-112/20, M. A. -) verstärken indes die Zweifel an der Unionsrechtskonformität von § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG i. V. m. § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG. Danach erscheint es denkbar, dass Art. 5 Halbs. 1 Buchst. a und b RL 2008/115/EG zwingend zu einer konkret-individuellen Untersuchung des Wohles des Kindes und der familiären Bindungen vor Erlass einer Rückkehrentscheidung verpflichtet. Zudem wird angedeutet, dass ein illegaler Aufenthalt, der zum Erlass einer Rückkehrentscheidung berechtigt, womöglich erst angenommen werden darf, wenn zuvor geprüft und festgestellt wurde, dass dem Ausländer kein Aufenthaltstitel (etwa zum Familiennachzug oder aus humanitären Gründen) erteilt werden kann (vgl. EuGH, Urteile vom 14. Januar 2021 - C-441/19 - Rn. 71 und vom 11. März 2021 - C-112/20 - Rn. 24 ff.). Von der Unionsrechtswidrigkeit des § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG i. V. m. § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG wäre auch auszugehen, wenn es der Asylbehörde nicht freistünde, eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, ohne hiernach vorbehaltlich der von Art. 9 Abs. 1 und 2 RL 2008/115/EG erfassten Situationen Abschiebungsmaßnahmen gegen den Drittstaatsangehörigen zu ergreifen (vgl. EuGH, Urteil vom 3. Juni 2021 - C-546/19 [ECLI:EU:C:2021:432], BZ - Rn. 57 ff.; siehe auch Urteil vom 14. Januar 2021 - C-441/19 - Rn. 69 ff. zu unbegleiteten Minderjährigen).
bundesverwaltungsgericht
bverwg_2021-27
27.04.2021
Pressemitteilung Nr. 27/2021 vom 27.04.2021 EN Drittstaatsangehörige Seeleute benötigen für Arbeitseinsätze auf Offshore-Supply-Schiffen im deutschen Küstenmeer einen Aufenthaltstitel zur Erwerbstätigkeit Drittstaatsangehörige Seeleute, die nur über ein nicht zum Zweck der Erwerbstätigkeit erteiltes Schengen-Visum (Typ C) verfügen bzw. visumbefreit sind und als Besatzungsmitglieder eines unter panamaischer Flagge fahrenden Seeschiffs einer Erwerbstätigkeit auf einem Offshore-Supply-Schiff im deutschen Küstenmeer nachgehen wollen, benötigen einen Aufenthaltstitel, der zur Erwerbstätigkeit berechtigt. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig heute entschieden. Die Kläger sind ukrainische Staatsangehörige und verrichteten im Herbst 2017 als Seeleute an Bord eines unter panamaischer Flagge fahrenden Offshore-Supply-Schiffes Arbeiten im Zusammenhang mit der Errichtung eines vor der deutschen Küste gelegenen Offshore-Windparks. Bei einer Kontrolle während des Einsatzes im Küstenmeer stellte die Bundespolizei mit an die Kläger gerichteten Bescheiden fest, dass sie ausreisepflichtig seien, und setzte ihnen eine Ausreisefrist von zwei Tagen. Sie seien ohne erforderliche Erlaubnis einer Beschäftigung nachgegangen. Das Verwaltungsgericht hat der daraufhin erhobenen Klage stattgegeben und festgestellt, dass die Kläger bei ihren Arbeitseinsätzen im deutschen Küstenmeer als Transitaufenthalt vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels befreit seien. Diese Befreiung sei auch nicht lediglich an kurzfristige Aufenthalte - etwa zum Zwecke der friedlichen Durchfahrt im Sinne des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen (SRÜ) - geknüpft. Der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts hat der (Sprung-)Revision der Beklagten stattgegeben. Die erhobene Feststellungsklage ist hier zwar zulässig, aber nicht begründet. Drittstaatsangehörige Besatzungsmitglieder eines (hier) panamaischen Offshore-Supply-Schiffes bedürfen für einen Arbeitseinsatz im deutschen Küstenmeer eines Aufenthaltstitels, der zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit berechtigt; ein von einem anderen Vertragsstaat ausgestelltes Schengen-Visum (Typ C) reicht allein nicht aus. Die Anwendbarkeit des deutschen Aufenthaltsrechts ist nicht bereits kraft Völkerrechts, insbesondere des sogenannten Flaggenstaatsprinzips (Artikel 90 und 91 SRÜ) ausgeschlossen, weil die diesbezüglichen Bestimmungen des Abkommens nicht für das Küstenmeer gelten. Die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass die Kläger vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels nach § 26 Abs. 1 Aufenthaltsverordnung (AufenthV) für den von ihnen angestrebten Arbeitseinsatz vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels befreit sind, ist indes mit Bundesrecht nicht vereinbar. Auch bei einer Einfahrt auf dem Seeweg ist bereits fraglich, ob ein Aufenthalt "ohne Einreise" im Sinne des § 26 AufenthV i.V.m. § 13 Abs. 2 AufenthG vorliegt. Die Auslegung des § 26 Abs. 1 AufenthV ergibt jedenfalls, dass der Anwendungsbereich dieser Norm nicht eröffnet ist, wenn sich drittstaatsangehörige Seeleute als Besatzungsmitglieder auf einem Offshore-Supply-Schiff im deutschen Küstenmeer aufhalten, um dort zu arbeiten. Der Anwendungsbereich des § 26 Abs. 1 AufenthV erfasst lediglich den grenzüberschreitenden Durchgangsverkehr, der - auch in Realisierung des Rechts der friedlichen Durchfahrt (Artikel 17 SRÜ) - dem Transit von Personen und Waren dient, aber nicht den Aufenthalt im Küstenmeer zum Zweck von Offshore-Arbeiten. BVerwG 1 C 13.19 - Urteil vom 27. April 2021 Vorinstanz: VG Schleswig, 11 A 386/18 - Urteil vom 20. Februar 2019 -
Urteil vom 27.04.2021 - BVerwG 1 C 13.19ECLI:DE:BVerwG:2021:270421U1C13.19.0 EN Erfordernis eines zur Erwerbstätigkeit berechtigenden Aufenthaltstitels bei Arbeitseinsätzen von Seeleuten auf Offshore-Supply-Schiffen im deutschen Küstenmeer Leitsatz: Drittstaatsangehörige Seeleute, die nur über ein nicht zum Zweck der Erwerbstätigkeit in Deutschland erteiltes Schengen-Visum verfügen bzw. visumbefreit sind und als Besatzungsmitglieder auf einem fremdflaggigen Offshore-Supply-Schiff im deutschen Küstenmeer arbeiten wollen, benötigen einen Aufenthaltstitel, der zur Erwerbstätigkeit berechtigt. Rechtsquellen SRÜ Art. 2, 17 ff., 86, 90, 91, 94 Abs. 2 Buchst. b EU-Visa-VO Art. 4, Anhang II SDÜ Art. 19, 20 AufenthG §§ 4, 4a Abs. 1 und 2, § 13 Abs. 2, § 39 AufenthV §§ 17, 24 Abs. 2, § 26 Abs. 1 BeschV § 24 Nr. 1, § 30 Nr. 4 Instanzenzug VG Schleswig - 20.02.2019 - AZ: VG 11 A 386/18 Zitiervorschlag BVerwG, Urteil vom 27.04.2021 - 1 C 13.19 - [ECLI:DE:BVerwG:2021:270421U1C13.19.0] Urteil BVerwG 1 C 13.19 VG Schleswig - 20.02.2019 - AZ: VG 11 A 386/18 In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 27. April 2021 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit, die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Fricke und Dr. Rudolph, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Böhmann und die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Wittkopp für Recht erkannt: Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts vom 20. Februar 2019 geändert, soweit es der Klage teilweise stattgegeben hat. Die Klage wird auch insoweit abgewiesen. Die Kläger tragen die Kosten des Rechtsstreits in allen Rechtszügen zu je einem Drittel. Gründe I 1 Die Kläger begehren die Feststellung, dass sie als Besatzungsmitglieder eines unter panamaischer Flagge fahrenden Seeschiffs bei Arbeitseinsätzen im deutschen Küstenmeer keinen Aufenthaltstitel zum Zweck der Erwerbstätigkeit benötigen. 2 Die Kläger sind ukrainische Staatsangehörige und arbeiten als Seeleute. Im Herbst 2017 waren sie für den Einsatz an Bord des unter panamaischer Flagge fahrenden Offshore-Supply-Schiffs "Atlantic Tonjer" angemustert, das im Zusammenhang mit der Errichtung eines vor der deutschen Küste gelegenen Offshore-Windparks eingesetzt war. Der Kläger zu 1. war im Besitz eines gültigen biometrischen Reisepasses, die Kläger zu 2. und 3. verfügten jeweils über ein gültiges Schengen-Visum der Kategorie C, das in den Niederlanden bzw. in Litauen ausgestellt worden war. 3 Nach einer Kontrolle des Offshore-Supply-Schiffs während des Einsatzes im deutschen Küstenmeer stellte die Bundespolizei mit an die Kläger gerichteten Bescheiden vom 23. Oktober 2017 fest, dass sie ausreisepflichtig seien, und setzte eine Ausreisefrist bis zum 25. Oktober 2017. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Kläger hätten sich am 18. Oktober 2017 der grenzpolizeilichen Ausreisekontrolle gestellt. Anstatt auszureisen, seien sie jedoch im Küstenmeer verblieben und ohne die hierfür erforderliche Erlaubnis einer Beschäftigung als Seemann auf einem Spezialschiff nachgegangen. Die Art und Verwendung des Schiffs zählten nicht mehr zur allgemeinen Seefahrt innerhalb des Seerechtsübereinkommens. 4 Auf die hiergegen gerichtete Klage hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 20. Februar 2019 festgestellt, dass die Kläger bei ihren Einsätzen im deutschen Küstenmeer keinen über ein Schengen-Visum der Kategorie "C" hinausgehenden Aufenthaltstitel benötigen, weil sie vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels zu Erwerbszwecken nach § 26 Abs. 1 AufenthV befreit seien. Die Voraussetzungen dieser Bestimmung lägen vor, weil die Kläger nicht im Sinne des § 13 Abs. 2 AufenthG in das Bundesgebiet eingereist seien. Der Verordnungsgeber sei ausweislich der Begründung zu § 24 AufenthV davon ausgegangen, dass Personen, die ein internationales Schiff nicht verlassen, nicht einreisen. Mangels Absicht, das Schiff zu verlassen, greife auch nicht Nr. 13.2.6.2 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz, wonach Ausländer an Bord eines Schiffs, die beabsichtigen unter Umgehung der Grenzübergangsstelle an Land zu gehen, die Einreise bereits mit der Einfahrt in das Küstenmeer vollendet haben. Die Befreiung vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels sei auch nicht lediglich an kurzfristige Aufenthalte - etwa zum Zweck der friedlichen Durchfahrt - geknüpft. 5 Mit ihrer (Sprung-)Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 26 Abs. 1 AufenthV. Soweit § 24 AufenthV das Nicht-Verlassen eines Seeschiffs im grenzüberschreitenden Verkehr regele, sei die Situation eine völlig andere, als die des bestimmungsgemäßen Einsatzes von Seeschiffen, die Offshore-Arbeiten im Küstenmeer verrichteten. Im letzteren Fall diene die Tätigkeit an Bord nicht mehr dem Transport von Waren und Personen, für die eine Befreiung vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels vorgesehen sei. Auch mit § 26 AufenthV habe der Verordnungsgeber ausschließlich Transitfälle regeln wollen. Für die Auslegung dieser Bestimmung seien im Übrigen die Vorschriften des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen (SRÜ) heranzuziehen, das in Art. 17 SRÜ den Schiffen aller Staaten das Recht der friedlichen Durchfahrt durch das Küstenmeer gewähre. Die Einreise über die Seegrenze sei bereits mit dem Überfahren der Grenzlinie zum Küstenmeer vollendet, wenn durch ein Seeschiff keine Grenzübergangsstelle angelaufen werde und keine friedliche Durchfahrt gegeben sei. 6 Die Kläger verteidigen das Urteil des Verwaltungsgerichts. 7 Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht beteiligt sich am Verfahren und schließt sich der Auffassung der Beklagten an. II 8 Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet. 9 Die Klage ist zwar als reine Feststellungsklage zulässig (1.). Mit Bundesrecht unvereinbar (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) ist aber die seinem Feststellungsausspruch zugrunde liegende Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts, dass die Kläger als drittstaatsangehörige Besatzungsmitglieder eines fremdflaggigen Seeschiffs, die Arbeiten im Zusammenhang mit der Errichtung eines im deutschen Küstenmeer gelegenen Offshore-Windparks verrichten, keinen über ein Schengen-Visum der Kategorie C hinausgehenden Aufenthaltstitel benötigen, der in Deutschland zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit berechtigt; vielmehr trifft die Rechtsauffassung der Beklagten zu, dass es in den zur Feststellung gestellten Konstellationen eines Aufenthaltstitels zur Erwerbstätigkeit bedarf (2.). 10 1. Das Verwaltungsgericht hat die auf einen Feststellungsantrag umgestellte Klage im Einklang mit Bundesrecht als zulässig gesehen. Das für eine Feststellungsklage vorausgesetzte feststellungsfähige Rechtsverhältnis besteht (1.1), und zwar auch zwischen den Klägern und der Beklagten, im Verhältnis zu der die Kläger ein berechtigtes Interesse an der begehrten Feststellung haben (1.2); die Subsidiarität der Feststellungsklage (§ 43 Abs. 2 VwGO) steht hier nicht entgegen (1.3). 11 1.1 Die von den Klägern begehrte und von dem Verwaltungsgericht ausgesprochene Feststellung ist tauglicher Gegenstand einer negativen Feststellungsklage im Sinne von § 43 Abs. 1 VwGO. Die Kläger haben dabei ihr Begehren im Einklang mit § 142 VwGO in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat dahin klargestellt, dass die Feststellung, dass sie für eine beabsichtigte Arbeitstätigkeit auf einem unter panamaischer Flagge fahrenden Offshore-Supply-Schiff im deutschen Küstenmeer keinen über ein Schengen-Visum der Kategorie C hinausgehenden Aufenthaltstitel benötigen, unabhängig davon begehrt wird, ob die arbeitswillige Person ukrainischer Staatsangehörigkeit über ein - hier von einem anderen EU-Mitgliedstaat ausgestelltes - Schengen-Visum der Kategorie C verfügt oder von der Visumpflicht befreit ist und ob sie nach Einreise in das Bundesgebiet in einem deutschen Hafen auf das Seeschiff gelangt oder damit - aus internationalen Gewässern oder aus dem Küstenmeer eines Drittstaates - in das deutsche Küstenmeer eingefahren ist. 12 Die Zulässigkeit einer negativen Feststellungsklage setzt voraus, dass sich das Klagebegehren auf ein bestimmtes ("konkretes") Rechtsverhältnis bezieht, dessen Bestehen vom Kläger geleugnet wird (BVerwG, Urteil vom 7. Mai 1987 - 3 C 1.86 - BVerwGE 77, 214 <215>). Eine solche konkrete, zwischen den Beteiligten streitige und damit feststellungsfähige Rechtsbeziehung besteht hier. Während die Kläger davon ausgehen, dass sie als drittstaatsangehörige Besatzungsmitglieder für die von ihnen beabsichtigte Erwerbstätigkeit auf einem fremdflaggigen Seeschiff im deutschen Küstenmeer in den zur Feststellung gestellten Konstellationen nicht eines über ein (einfaches) Schengen-Visum der Kategorie C hinausgehenden Aufenthaltstitels bedürfen, vertritt die Beklagte die Rechtsauffassung, dass Schengen-Visa bzw. biometrische Reisepässe für die beabsichtigten Tätigkeiten nicht ausreichen. Diese unterschiedlichen Rechtsauffassungen beziehen sich auf eine der Art nach näher konkretisierte Arbeitstätigkeit an einem näher spezifizierten Ort (nämlich auf einem Offshore-Supply-Schiff im deutschen Küstenmeer), für die nicht von zentraler Bedeutung ist, auf welchem Wege die arbeitswilligen Personen auf das Schiff gelangt sind, und ist zudem weiter dadurch konkretisiert, dass das Schiff unter panamaischer Flagge fährt, so dass eine etwa abweichende Beurteilung bei einem unter der Flagge eines anderen Mitgliedstaates der EU oder eines anderen Drittstaates fahrenden Schiffs nicht in den Blick zu nehmen ist. Die Dauer der Tätigkeit, die dem Feststellungsbegehren zugrunde zu legen ist, wird zudem indirekt dadurch eingegrenzt, dass nur die Notwendigkeit eines zur Erwerbstätigkeit berechtigenden Aufenthaltstitels aus der Ukraine stammender Besatzungsmitglieder eines Offshore-Supply-Schiffs im Streit steht, die über ein - hier in einem anderen EU-Mitgliedstaat ausgestelltes - gültiges Schengen Visum der Kategorie C verfügen bzw. wegen des Besitzes eines Passes mit biometrischen Merkmalen von der Visumpflicht befreit sind. Durch die von der Beklagten im Oktober 2017 gegenüber den Klägern getroffenen Maßnahmen liegt auch ein hinreichend konkreter und überschaubarer Anlasssachverhalt als Bezugsgegenstand des Feststellungsbegehrens vor. 13 Da die Kläger mit der Klage zugleich zu verhindern suchen, dass erneut solche belastenden staatlichen Maßnahmen ergehen, handelt es sich der Sache nach um eine vorbeugende Feststellungsklage (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. September 2008 - 3 C 35.07 - BVerwGE 132, 64 <72>; Beschluss vom 20. September 1989 - 9 B 165.89 - juris Rn. 3). 14 1.2 Die Zulässigkeit der gegen die Beklagte gerichteten Feststellungsklage scheitert nicht daran, dass nicht diese, sondern vor einer Einreise die Auslandsvertretung (§ 71 Abs. 2 AufenthG) und nach Einreise das Ministerium für Inneres und Sport des Landes Mecklenburg-Vorpommern die für die Erteilung eines zur Erwerbstätigkeit berechtigenden Aufenthaltstitels zuständige Behörde ist (§ 71 AufenthG i.V.m. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Landesverordnung zur Bestimmung von Zuständigkeiten auf dem Gebiet der Zuwanderung und zur Durchführung des Flüchtlingsaufnahmegesetzes - Zuwanderungszuständigkeitslandesverordnung - ZuwZLVO M-V vom 10. Februar 2005 <GVOBl. M-V 2005 S. 68> und § 3 Landesverwaltungsverfahrensgesetz - VwVfG Mecklenburg-Vorpommern - i.d.F. der Bekanntmachung vom 1. September 2014 <GVOBl. M-V 2014 S. 476, ber. 2015 S. 148>, zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes vom 2. Mai 2019 <GVOBl. M-V S. 158>); denn das Küstenmeer fällt nicht (nach § 1 Abs. 1 Nr. 3 ZuwZLVO-M-V, § 3 Abs. 1 Nr. 3. a) VwVfG M-V) in den Zuständigkeitsbereich eines Landkreises oder einer kreisfreien Stadt. 15 Vorrangig besteht das Rechtsverhältnis bei umstrittener Erlaubnispflichtigkeit eines Vorgangs zwar zwischen demjenigen, der der Erlaubnis bedarf, und der für die Erteilung zuständigen Behörde (BVerwG, Urteil vom 14. April 2005 - 3 C 3.04 - NVwZ-RR 2005, 711 - juris Rn. 21), also zwischen Normadressat und Normanwender (vgl. Happ, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 43 Rn. 22). Besteht das Feststellungsinteresse - auch oder gerade - gegenüber einem beklagten Dritten (BVerwG, Urteile vom 27. Juni 1997 - 8 C 23.96 - Buchholz 310 § 43 VwGO Nr. 128 - juris Rn. 17 und vom 10. Oktober 2002 - 6 C 8.01 - BVerwGE 117, 93 <116 f.>), kann aber (wenn die weiteren Voraussetzungen vorliegen) auch die Feststellung verlangt werden, dass zwischen diesem und dem Kläger ein Rechtsverhältnis besteht oder nicht besteht (BVerwG, Urteile vom 27. Juni 1997 - 8 C 23.96 - Buchholz 310 § 43 VwGO Nr. 128 - juris Rn. 17, vom 10. Oktober 2002 - 6 C 8.01 - BVerwGE 117, 93 <116> und vom 31. August 2011 - 8 C 8.10 - BVerwGE 140, 267, Rn. 14; Happ, in: Eyermann, VwGO 15. Aufl. 2019, § 43 Rn. 22 f.). 16 Ein solch individuelles Feststellungsinteresse besteht hier gegenüber der Beklagten. Die Bundespolizei der Beklagten berühmt sich der Befugnis, in eigener (Eil-)Zuständigkeit im Küstenmeer zur Prüfung befugt zu sein, ob ein nach ihrer Rechtsauffassung in den zur Feststellung gestellten Konstellationen erforderlicher Aufenthaltstitel vorliegt, und bei Nichtvorliegen weitere Maßnahmen zu treffen. Die Bundespolizei hat in der Vergangenheit - nicht nur im Verhältnis zu den Klägern - in entsprechenden Fallkonstellationen aufenthaltsbeendende Maßnahmen ergriffen und erkennen lassen, dass sie auch zukünftig in gleicher Weise verfahren werde. Die damit verbundenen Rechtsfragen (s. dazu die Hinweisverfügung des Gerichts vom 19. November 2020) sind nicht zu vertiefen; denn für ein Feststellungsinteresse (auch) gegenüber der Beklagten hinreichend ist, dass - wie hier - eine Prüfungs- und Handlungsbefugnis der Bundespolizei der Beklagten jedenfalls nicht offenkundig ausgeschlossen ist. Das besondere Feststellungsinteresse im Sinne des § 43 Abs. 1 VwGO folgt aus der Wiederholungsgefahr, also der konkret absehbaren Möglichkeit, dass in naher Zukunft und unter im Wesentlichen unveränderten tatsächlichen und rechtlichen Umständen eine gleiche oder gleichartige Maßnahme des Beklagten zu erwarten ist, die die Kläger beschwert (BVerwG, Urteil vom 16. Mai 2013 - 8 C 14.12 - BVerwGE 146, 303 Rn. 21; Beschluss vom 14. Juni 2018 - 3 BN 1.17 - juris Rn. 19). Die Kläger haben auf eine nach ihrer Rechtsauffassung ohne zusätzlichen Aufenthaltstitel zur Erwerbstätigkeit zulässige Erwerbstätigkeit in der zur Feststellung gestellten Konstellation nicht verzichtet, die Beklagte geht davon aus, weiterhin zur Prüfung des nach ihrer Rechtsauffassung erforderlichen Vorhandenseins des erforderlichen Titels und - liegt dieser nicht vor - zu entsprechenden Maßnahmen befugt zu sein. Die gerichtliche Feststellung ist mithin geeignet, bei künftigen Einsätzen im deutschen Küstenmeer die Rechtslage zu klären und die Rechtsposition der Kläger zu verbessern (stRspr, BVerwG, Urteil vom 25. Oktober 2017 - 6 C 46.16 - BVerwGE 160, 169 Rn. 20; Beschluss vom 20. Dezember 2017 - 6 B 14.17 - NVwZ 2018, 739 - juris Rn. 13). 17 1.3 Der Grundsatz der Subsidiarität steht der Feststellungsklage hier nicht entgegen. 18 a) Nach § 43 Abs. 2 Satz 1 VwGO kann die Feststellung nicht begehrt werden, soweit der Kläger seine Rechte durch Gestaltungs- oder Leistungsklage verfolgen kann oder hätte verfolgen können. Nach dem Zweck der Regelung, neben einer Umgehung der besonderen Sachentscheidungsvoraussetzungen der Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage den Rückgriff auf die Feststellungsklage auszuschließen, wenn für die Rechtsverfolgung ein unmittelbareres, sachnäheres und wirksameres Verfahren zur Verfügung steht, greift die Subsidiaritätsklausel dann nicht, wenn die Feststellungsklage einen Rechtsschutz gewährleistet, der weiter reicht, als er mit der Gestaltungs- oder Leistungsklage erlangt werden kann, wenn sie also rechtsschutzintensiver ist (stRspr, BVerwG, Urteile vom 29. April 1997 - 1 C 2.95 - Buchholz 310 § 43 VwGO Nr. 127 S. 9, vom 24. Juni 2004 - 4 C 11.03 - BVerwGE 121, 152 <156>, vom 26. März 2015 - 7 C 17.12 - BVerwGE 152, 1 Rn. 17 f. und vom 15. Juli 2016 - 9 A 16.15 - DVBl 2016, 1603 - juris Rn. 28) bzw. wirkungsvolleren Rechtsschutz bietet (vgl. BVerwG, Urteile vom 5. Dezember 2000 - 11 C 6.00 - BVerwGE 112, 253 <256>, vom 16. Mai 2007 - 6 C 23.06 - BVerwGE 129, 42 Rn. 13; siehe auch Beschluss vom 17. Juli 2019 - 7 B 27.18 - juris Rn. 13; Kopp/Schenke, VwGO, 25. Aufl. 2019, § 43 VwGO Rn. 29). Als effektiver erweist sich eine Feststellungsklage insbesondere dann, wenn eine Vielzahl von Anfechtungsprozessen oder sonstiger Prozesse geführt werden müsste, es dem Kläger aber um die grundsätzliche Zulässigkeit eines bestimmten Verhaltens geht (Kopp/Schenke, VwGO, 25. Aufl. 2019, § 43 VwGO Rn. 29) und das Rechtsverhältnis über den Einzelfall hinaus in gleich gelagerten Fällen auch künftig wieder von Bedeutung ist (Happ, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 43 VwGO Rn. 41). 19 b) Nicht abschließend zu beurteilen ist, ob zumindest die am 23. Oktober 2017 getroffene Feststellung der Ausreisepflicht, welche die Notwendigkeit eines Aufenthaltstitels zur Erwerbstätigkeit für die umstrittene Tätigkeit auf dem Offshore-Supply-Schiff annimmt und voraussetzt, aber nicht selbstständig feststellt, entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts als - grundsätzlich mit der Anfechtungsklage anzugreifender - feststellender Verwaltungsakt zu qualifizieren ist. Hierfür mag Einiges sprechen (s.a. Hinweisverfügung des Gerichts vom 19. November 2020). Dieser Verwaltungsakt hätte sich indes bereits mit der Ausreise der Kläger erledigt. 20 Der Senat braucht auch nicht zu vertiefen, inwieweit der Rechtsprechung zu folgen ist, nach der der Anwendungsbereich des § 43 Abs. 2 VwGO bei vor Ablauf der Widerspruchs- oder Klagefrist erledigtem Verwaltungsakt überhaupt nicht mehr eröffnet ist (so BVerwG, Beschluss vom 17. Juli 2019 - 7 B 27.18 - juris Rn. 12) und eine Feststellungsklage dann auch nicht auf den Regelungsgegenstand des erledigten Verwaltungsaktes beschränkt wäre. 21 c) Die nicht an den Regelungsinhalt der ergangenen Bescheide gebundene Feststellungsklage ist im vorliegenden Fall jedenfalls deshalb nicht gegenüber der Fortsetzungsfeststellungsklage subsidiär, weil erstere hier den zielgenaueren, wirkungsvolleren Rechtsschutz bietet. 22 Den Klägern geht es - jedenfalls vorrangig - nicht retrospektiv um die Rechtmäßigkeit der an die strittige Notwendigkeit eines zur Erwerbstätigkeit berechtigenden Aufenthaltstitels anknüpfenden Folgemaßnahmen (zu den damit verbundenen Fragen im Vorfeld der zur Feststellung gestellten Rechtsfragen s. Hinweisverfügung des Gerichts vom 19. November 2020). Sie wollen im Einklang mit dem Aufenthaltsrecht auch künftig in vergleichbarer Situation ihrer Erwerbstätigkeit nachgehen und hierfür - prospektiv - geklärt wissen, ob sie für künftige Offshore-Arbeitseinsätze im deutschen Küstenmeer einen Aufenthaltstitel benötigen, der zur Erwerbstätigkeit berechtigt. Einen auf diese Rechtsfrage fokussierten Rechtsschutz bietet allein eine zielgenau hierauf bezogene Feststellungsklage. 23 Bei einer auf die von der Beklagten am 23. Oktober 2017 erlassenen Bescheide bezogenen Fortsetzungsfeststellungsklage mit dem Ziel der Feststellung, dass der - als gegeben unterstellte - Verwaltungsakt (ganz oder teilweise) rechtswidrig gewesen ist, ist das auf den ergangenen Verwaltungsakt bezogene gerichtliche Prüfprogramm vergangenheitsbezogen. Es umschließt neben der - aus Sicht der Beteiligten umstrittenen - Vorfrage, ob überhaupt ein Verwaltungsakt vorgelegen hat, nicht nur die Frage der materiellen Rechtmäßigkeit, für deren Beantwortung zudem auf die Rechtslage im Oktober 2017 abzustellen wäre, sondern auch vielfältige Rechtsfragen der formellen Rechtmäßigkeit (s. dazu die Hinweisverfügung des Gerichts vom 19. November 2020). Die Kläger müssen besorgen, dass die Fortsetzungsfeststellungsklage aus Gründen Erfolg hat und zur Feststellung der Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsaktes führt, die keinen Bezug zu den im Rahmen der Feststellungsklage zu prüfenden materiell-rechtlichen Gründen haben und ihnen keine Rechtssicherheit für ihr künftiges Erwerbsverhalten verschaffen. 24 Demgegenüber begrenzt die hier direkt und zukunftsbezogen auf die Frage der Notwendigkeit eines Aufenthaltstitels zur Erwerbstätigkeit bezogene prospektive Feststellungsklage das gerichtliche Prüfprogramm zielgenau auf die Fragen, an deren Klärung neben den Klägern auch die Beklagte ein Interesse bekundet hat. Die Berücksichtigung der aktuellen Rechtslage stellt zudem sicher, dass die gerichtliche Feststellung den Beteiligten Orientierung für das jeweilige künftige Verhalten bieten. Wegen der hinreichenden Konkretisierung des zu klärenden Rechtsverhältnisses (s.o. II.1.1) wird hier auch gewährleistet, dass die erhobene allgemeine Feststellungsklage weiterhin dem Individualrechtsschutz zur Durchsetzung oder Klärung subjektiver Rechte dient und das Gericht nicht zur Klärung abstrakter Rechtsfragen angerufen ist. Damit ist die Feststellungsklage hier insgesamt rechtsschutzintensiver (ähnlich etwa BVerwG, Urteil vom 16. Mai 2007 - 6 C 23.06 - BVerwGE 129, 42 Rn. 13; Beschluss vom 17. Juli 2019 - 7 B 27.18 - Rn. 14). 25 1.4 Eine Konsequenz der Zulässigkeit der (allgemeinen), prospektiv auf die Notwendigkeit eines Aufenthaltstitels zur Erwerbstätigkeit bezogenen Feststellungsklage ist, dass maßgeblich für die Beurteilung der Begründetheit der Feststellungsklage die Sach- und Rechtslage nicht bei Erlass der Bescheide vom 23. Oktober 2017, sondern im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. der Entscheidung in der Tatsacheninstanz ist. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sind indes während des Revisionsverfahrens eingetretene Rechtsänderungen zu berücksichtigen, wenn das Tatsachengericht - entschiede es anstelle des Bundesverwaltungsgerichts - sie zu berücksichtigen hätte (vgl. BVerwG, Urteile vom 26. Mai 2016 - 1 C 15.15 - Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- u. Asylrecht Nr. 83 Rn. 9 und vom 5. Juli 2018 - 3 C 21.16 - NVwZ 2019, 69 Rn. 25). Der revisionsgerichtlichen Beurteilung zugrunde zu legen ist daher das Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz - AufenthG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162), zuletzt geändert durch Artikel 10 des Gesetzes vom 9. Dezember 2020 (BGBl. I S. 2855) und die von der Bundesregierung und dem Bundesministerium des Innern mit Zustimmung des Bundesrats beschlossene Aufenthaltsverordnung (AufenthV) in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. November 2004 (BGBl. I S. 2945), zuletzt geändert durch Artikel 2 der Verordnung vom 18. Dezember 2020 (BGBl. I S. 3046) sowie die Verordnung über die Beschäftigung von Ausländerinnen und Ausländern (Beschäftigungsverordnung - BeschV) vom 6. Juni 2013 (BGBl. I S. 1499), zuletzt geändert durch Artikel 1 der Verordnung vom 18. Dezember 2020 (BGBl. I S. 3046). 26 2. Die Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts, dass die Kläger als drittstaatsangehörige Besatzungsmitglieder eines fremdflaggigen Offshore-Supply-Schiffs, die eine Erwerbstätigkeit im Zusammenhang mit der Errichtung eines im deutschen Küstenmeer gelegenen Offshore-Windparks ausüben, keinen über ein Schengen-Visum (Typ C) hinausgehenden Aufenthaltstitel benötigen, der zur Ausübung der Erwerbstätigkeit berechtigt, verstößt gegen Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). An dem Arbeitsort im deutschen Küstenmeer findet deutsches Aufenthaltsrecht Anwendung (2.1). Für einen Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland zur Erwerbstätigkeit bedarf es grundsätzlich eines Aufenthaltstitels, bei dem diese nicht durch Gesetz ausgeschlossen oder beschränkt ist (2.2 a); ein durch einen anderen EU-Mitgliedstaat ausgestelltes Schengen-Visum der Kategorie C oder die Befreiung davon, sich ein solches Visum ausstellen lassen zu müssen, umfasst nicht die Befugnis, eine Erwerbstätigkeit auszuüben (2.2 b). Die von den Klägern ausgeübte bzw. erstrebte Tätigkeit gilt auch nicht fiktiv als Nichtbeschäftigung (2.3). 27 2.1 Das deutsche Küstenmeer gehört zum deutschen Hoheitsgebiet, in dem grundsätzlich deutsches Recht und damit auch das nationale Aufenthaltsrecht anzuwenden ist (Vitzthum, in: Vitzthum (Hrsg.), Handbuch des Seerechts, 2006, Kap. 2 Rn. 41); dort gilt die Territorialhoheit des jeweiligen Küsten- bzw. Hafenstaates. Nach Art. 2 Abs. 1 SRÜ (Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1982, ratifiziert von Deutschland mit Vertragsgesetz vom 2. September 1994 <BGBl. II S. 1798>) erstreckt sich die Souveränität eines Küstenstaates uneingeschränkt auf seine inneren Gewässer sowie eingeschränkt auf das Küstenmeer (vgl. Art. 2 Abs. 3 SRÜ). 28 Zutreffend hat das Verwaltungsgericht dahin erkannt, dass die Anwendbarkeit des deutschen Aufenthaltsrechts nicht kraft Völkerrechts, insbesondere wegen des sogenannten Flaggenstaatsprinzips, ausgeschlossen ist. Nach dem Flaggenstaatsprinzip hat jeder Staat das Recht, Schiffe unter seiner Flagge auf Hoher See fahren zu lassen. Die Flagge indiziert völkerrechtlich die Staatszugehörigkeit von Schiffen (Art. 90 und 91 SRÜ) und bestimmt, dass der Flaggenstaat auf Hoher See, also in internationalen Gewässern, die Hoheitsgewalt über das unter seiner Flagge fahrende Schiff hat (Art. 92 Abs. 1 und Art. 94 Abs. 2 Buchst. b). Nach Art. 86 Satz 1 SRÜ gelten die Bestimmungen des Teils VII des Seerechtsübereinkommens und somit insbesondere auch die Bestimmungen über das Flaggenstaatsprinzip indes ausdrücklich nicht für das Küstenmeer und die inneren Gewässer. Hiervon gibt es lediglich gewohnheitsrechtliche Ausnahmen. So gilt zum Beispiel für das Personal an Bord weiter das Disziplinar-, Dienst- und Arbeitsrecht des Flaggenstaats und nicht das des jeweiligen Küstenstaats (Vitzthum, in: ders., a.a.O., Kap. 2 Rn. 75; Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages vom 30. Januar 2014 - WD 2-3000-013/14, S. 6). Im Küstenmeer sind die territorialen Kompetenzen des Küstenstaats gegenüber Schiffen unter fremder Flagge durch das Recht der friedlichen Durchfahrt (Art. 17 ff., 21 SRÜ) beschränkt. Das Recht der friedlichen Durchfahrt (Art. 17 SRÜ) setzt der Ausübung küstenstaatlicher Hoheitsgewalt seevölkerrechtliche Grenzen, die vor allem dem Zweck dienen, die für die globale Wirtschaft unverzichtbare internationale Schifffahrt so wenig wie möglich zu beeinträchtigen (Ipsen, Völkerrecht, 6. Aufl. 2014, § 41 Rn. 16). Dieses völkergewohnheitsrechtliche Recht umfasst sowohl die bloße Passage der Küstenmeergewässer als auch die Durchfahrt mit dem Ziel, die inneren Gewässer des Küstenstaates anzulaufen bzw. aus ihnen auszulaufen. Gleiches gilt mit Blick auf das An- bzw. Auslaufen von Häfen und Reeden (Vitzthum, in: Vitzthum (Hrsg.), Handbuch des Seerechts, 2006, Kap. 2 Rn. 120). 29 Das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen nimmt indes vom Recht der friedlichen Durchfahrt, die überdies gemäß Art. 18 Abs. 2 Satz 1 SRÜ "ohne Unterbrechung und zügig" erfolgen muss, "eine andere Tätigkeit, die nicht unmittelbar mit der Durchfahrt zusammenhängt" (Art. 19 Abs. 2 Buchst. l SRÜ), aus. Die Durchfahrt schließt zwar das Anhalten und Ankern ein, aber nur insoweit, als dies zur "normalen" Schifffahrt gehört oder infolge Gewalt oder eines Notfalls oder zur Hilfeleistung für Personen, Schiffe oder Luftfahrzeuge in Gefahr oder Not erforderlich wird. Ein beabsichtigter Aufenthalt von Besatzungsmitgliedern eines Offshore-Supply-Schiffs zum Zwecke der Verrichtung von Offshore-Arbeiten im Küstenmeer dient nicht diesen privilegierten schifffahrtsbedingten Erwerbszwecken und ist nicht mehr vom Recht der friedlichen Durchfahrt gedeckt. 30 2.2 Ein Ausländer, der im Bundesgebiet eine Erwerbstätigkeit ausüben will, bedarf grundsätzlich eines entsprechenden Aufenthaltstitels (a.), der über ein Schengen-Visum der Kategorie C hinausgeht (b.) bzw. auch in Fällen erforderlich ist, in denen der Betroffene davon befreit ist, ein Schengen-Visum einzuholen (c.). 31 a) Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG bedürfen Ausländer für die Einreise und den Aufenthalt im Bundesgebiet eines Aufenthaltstitels, sofern nicht durch Recht der Europäischen Union oder durch Rechtsverordnung etwas anderes bestimmt ist oder aufgrund des Assoziationsabkommens EWG/Türkei ein Aufenthaltsrecht besteht. Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 i.V.m. § 6 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG werden Aufenthaltstitel u.a. als Schengen-Visa erteilt. 32 Nach § 4a Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AufenthG (eingeführt durch Art. 1 Nr. 4 des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes vom 15. August 2019 <BGBl. I S. 1307>, in Kraft getreten am 1. März 2020) dürfen Ausländer, die einen Aufenthaltstitel besitzen, eine Erwerbstätigkeit ausüben, es sei denn, ein Gesetz bestimmt ein Verbot (§ 4a Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AufenthG) (generelle Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt). Der Gesetzgeber hat zwar mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz das bisherige Regel-Ausnahme-Verhältnis umgekehrt (vgl. BT-Drs. 19/8285 S. 87 zu Abs. 1), indem das bisherige Verbot mit Erlaubnisvorbehalt in eine Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt umgewandelt wurde. Er hat dies aber mit § 4a Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2, Satz 2 AufenthG dahin eingeschränkt, dass Gesetze (im materiellen Sinne, in der Regel das Aufenthaltsgesetz, vgl. BT-Drs. 19/8285 S. 86 f.) für Inhaber eines Aufenthaltstitels weiterhin ein Verbot der Erwerbstätigkeit vorsehen können oder die Erwerbstätigkeit beschränkt sein kann (Satz 2). 33 b) Ein durch einen anderen EU-Staat ausgestelltes Schengen-Visum der Kategorie C - wie es hier den Klägern zu 2. und 3. erteilt worden war - ist nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG zwar ein Aufenthaltstitel. Nach § 6 Abs. 2a AufenthG berechtigt ein Schengen-Visum indes grundsätzlich nicht zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit; etwas anderes gilt nur, wenn es zum Zwecke der Erwerbstätigkeit erteilt wurde. Die Einfügung des Abs. 2a in § 6 AufenthG durch das Fachkräfteeinwanderungsgesetz war als Folgeregelung angesichts der Umkehrung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses bei der Ausübung einer Erwerbstätigkeit für Inhaber eines Aufenthaltstitels erforderlich, um klarzustellen, dass Inhabern eines Schengen-Visums nur aufgrund einer besonderen Rechtsgrundlage ein Aufenthalt zum Zweck der Erwerbstätigkeit gestattet ist (Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: Juni 2020, § 6 AufenthG Rn. 36). Dies schließt die jeweils einschlägigen Vorschriften der Verordnung über die Beschäftigung von Ausländerinnen und Ausländern (Beschäftigungsverordnung - BeschV) vom 6. Juni 2013 (BGBl. I S. 1499), zuletzt geändert durch Art. 1 der Verordnung vom 18. Dezember 2020 (BGBl. I S. 3046), sowie eine etwaig erforderliche Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit nach § 39 AufenthG ein (BT-Drs. 19/8285 S. 88). An den vor Inkrafttreten des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes bekannten Steuerungsmitteln, wonach bestimmte Tätigkeiten nicht als Erwerbstätigkeit gelten oder von der Zustimmung durch die Bundesagentur für Arbeit freigestellt sein können, hat der Gesetzgeber somit grundsätzlich festgehalten (Nusser, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 4a AufenthG Rn. 23). 34 Zum Ausschluss der Erwerbstätigkeit in § 6 Abs. 2a AufenthG war der nationale Gesetzgeber nach dem Unionsrecht auch befugt. Das Schengen-Visum berechtigt zwar zu dem vorgesehenen kurzfristigen Aufenthalt in allen Schengen-Vertragsstaaten (Art. 19 SDÜ), ohne dass es der Zustimmung des jeweils anderen Staates bedarf (einheitliches Visum, Art. 2 Nr. 3 Visakodex); der Berechtigungsinhalt bezüglich der Erwerbstätigkeit kann indes je nach Aufenthaltsstaat variieren (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: Juni 2020, § 6 AufenthG Rn. 36a). Das Schengen-Visum hat grenzüberschreitende Wirkung, umfasst aber nicht kraft Unionsrechts das Recht zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit. Hierüber entscheidet allein der Mitgliedstaat, in dem die Erwerbstätigkeit ausgeübt werden soll (Winkelmann/Kolber, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 6 AufenthG Rn. 31). Insoweit hat der Gesetzgeber in § 4a Abs. 1 i.V.m. § 6 Abs. 2a AufenthG klarstellend von dem ihm unionsrechtlich belassenen Gestaltungsspielraum Gebrauch gemacht. 35 Das Schengen-Visum der Kategorie C, das den Klägern zu 2. und 3. als ukrainischen Staatsangehörigen ohne biometrischen Reisepass, die der unionsrechtlichen Visumpflicht für Kurzaufenthalte unterliegen (Umkehrschluss aus Anhang II der Verordnung <EU> 2018/1806 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. November 2018 zur Aufstellung der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen im Besitz eines Visums sein müssen, sowie der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige von dieser Visumpflicht befreit sind <ABl. L 303 S. 39> - EU-Visa-VO -, geändert durch Art. 1 ÄndVO (EU) 2019/592 vom 10.04 .2019 <ABl. L 103 I S. 1>), erteilt worden war, berechtigt daher nicht zu einer Erwerbstätigkeit im Bundesgebiet, weil es jedenfalls nicht zum Zwecke der Erwerbstätigkeit erteilt worden war. Hier nicht zu vertiefen ist, dass bei der Ausstellung eines Schengen-Visums durch einen Drittstaat dieser nicht mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland auf der Grundlage des § 6 Abs. 2a Halbs. 2 AufenthG eine Erwerbstätigkeit im Bundesgebiet gestatten darf. Offenbleiben kann auch, wie im Einzelnen die Erteilung "zum Zwecke der Erwerbstätigkeit" im nationalen Raum zu gestalten ist. Ein durch die Bundesrepublik Deutschland ausgestelltes Schengen-Visum, das ausdrücklich zur Erwerbstätigkeit berechtigt, erfüllt nach nationalem Aufenthaltsrecht jedenfalls die Voraussetzungen des § 6 Abs. 2a AufenthG. 36 c) Im Ergebnis nichts anderes gilt in Fällen, in denen - wie hier der Kläger zu 1. - ein sogenannter Positivstaater nach Art. 4 Abs. 1 EU-Visa-VO in Verbindung mit der Liste in Anhang II von der Visumpflicht für einen Aufenthalt, der 90 Tage je Zeitraum von 180 Tagen nicht überschreitet, grundsätzlich befreit ist, weil er Inhaber eines biometrischen Reisepasses ist, der von der Ukraine im Einklang mit den Normen der Internationalen Zivilluftfahrt-Organisation (ICAO) ausgestellt worden ist. 37 Auch diese Personen bedürfen für die Ausübung einer Erwerbstätigkeit im Bundesgebiet eines Aufenthaltstitels, der zur Erwerbstätigkeit berechtigt (§ 4a Abs. 1, 2 und 3 AufenthG). 38 Die Ausübung einer Erwerbstätigkeit wird durch die EU-Visa-Verordnung zwar nicht eingeschränkt, denn für die Regelung der Beschäftigung steht der Europäischen Union keine Kompetenz zu (Rossi, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 77 Rn. 14). Die Visumbefreiung greift in diesen Fällen jedoch aufgrund - zulässigen - nationalen Rechts nicht ein. Nach Art. 6 Abs. 3 EU-Visa-VO können die Mitgliedstaaten für Drittstaatsangehörige, die während ihres Aufenthalts einer Erwerbstätigkeit nachgehen, Ausnahmen von der Befreiung von der Visumpflicht nach Art. 4 EU-Visa-VO vorsehen. Eine solche Regelung hat der nationale Gesetzgeber in § 17 Aufenthaltsverordnung (AufenthV) vom 25. November 2004 (BGBl. I S. 2945), zuletzt geändert durch Art. 2 der Verordnung vom 18. Dezember 2020 (BGBl. I S. 3046) vorgesehen. Nach § 17 Abs. 1 AufenthV besteht auch während eines Kurzaufenthalts keine Befreiung vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels, sofern im Bundesgebiet eine Erwerbstätigkeit ausgeübt wird. Mit der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit entfällt somit die Befreiung von der Visumpflicht nach Art. 4 Abs. 1 EU-Visa-VO (vgl. Zeitler, in: HTK-AuslR, Stand: 03.07.2020, § 6 Abs. 1 und 2 AufenthG Rn. 38). 39 Eine (Rück-)Ausnahme zu § 17 Abs. 1 AufenthV gilt zwar nach § 17 Abs. 2 AufenthV bei kurzfristigen (selbstständigen oder unselbstständigen) Tätigkeiten, die nach § 30 Nr. 2 und 3 BeschV nicht als Beschäftigung gelten (zu § 30 Nr. 4 BeschV i.V.m. §§ 23 bis 30 AufenthV s.u. II.2.3). Die Voraussetzungen dieser Bestimmung liegen hier aber nicht vor. Die von den Klägern angestrebte Tätigkeit fällt weder unter die Tatbestände der §§ 5, 14, 15, 17, 18, 19 Abs. 1, §§ 20, 22 und 23 BeschV (§ 30 Nr. 2 BeschV) noch unter § 21 BeschV (sogenanntes Vander Elst Visum), weil hier nicht der Fall der grenzüberschreitenden Dienstleistungserbringung innerhalb der EU vorliegt (§ 30 Nr. 3 BeschV). 40 2.3 Von dem Erfordernis eines Aufenthaltstitels, der zur Erwerbstätigkeit berechtigt, ist auch nicht ausnahmsweise abzusehen. Die Voraussetzungen der hier allein in Betracht kommenden "Nichtbeschäftigungsfiktion" des § 30 Nr. 4 BeschV i.V.m. §§ 23 bis 30 AufenthV (a) liegen im Ergebnis nicht vor (b und c). 41 a) Ausnahmen von dem Grundsatz, dass jede Art von Erwerbstätigkeit nur ausgeübt werden darf, soweit ein Aufenthaltstitel dazu berechtigt, enthält die Verordnung über die Beschäftigung von Ausländerinnen und Ausländern (BeschV). In Betracht kommt hier allein die sogenannte "Nichtbeschäftigungsfiktion" (§ 30 BeschV). Sie benennt Tätigkeiten, die nicht als Beschäftigung im Sinne des Aufenthaltsgesetzes anzusehen sind (Werner, in: Offer/Mävers, BeschV, 1. Aufl. 2016, § 30 Rn. 2) und nimmt diese per definitionem aus der Begriffsbestimmung der Erwerbstätigkeit im Sinne der § 2 Abs. 2, § 4a AufenthG heraus. Neben den in § 17 Abs. 2 AufenthV genannten "Nichtbeschäftigungen" nach § 30 Nr. 2 und 3 BeschV, die für die hier zur Prüfung gestellten Tätigkeiten ebenso wenig erfüllt sind (s.o. II.2.2) wie die Tätigkeiten nach § 30 Nr. 1 BeschV, bestimmt § 30 Nr. 4 BeschV, dass Tätigkeiten von Personen, die nach den §§ 23 bis 30 Aufenthaltsverordnung vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels befreit sind, nicht als Beschäftigung im Sinne des Aufenthaltsgesetzes gelten. 42 b) Im Einklang mit Bundesrecht steht die Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts, dass die Tatbestandsvoraussetzungen einer Befreiung vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels gemäß § 24 Abs. 2 AufenthV nicht vorliegen. § 24 Abs. 2 Satz 1 AufenthV regelt lediglich den Aufenthalt von zivilem Schiffspersonal eines in der See- und Küstenschifffahrt oder in der Rhein-Seeschifffahrt verkehrenden Schiffs für den Aufenthalt im Hafenort. Unabhängig von der Frage, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen Arbeitsschiffe unter die in der See- oder Küstenschifffahrt verkehrenden Schiffe im Sinne des § 24 Abs. 2 AufenthV fallen (vgl. dazu: Offer/Mävers, BeschV, 1. Aufl. 2016, § 24 Rn. 9), erfasst das zur Prüfung gestellte Feststellungsbegehren nicht die in dieser Regelung angeordnete Befreiung vom Titelerfordernis für den Landgang im Hafenort. § 24 Abs. 2 AufenthV, der eine Befreiung nur für den Landgang vorsieht, setzt allerdings denklogisch voraus, dass das Schiffspersonal für den Aufenthalt an Bord keinen Aufenthaltstitel benötigt. Selbst dies ist für die Auslegung der weiteren Ausnahmeregelungen aber nur und erst dann von Bedeutung, wenn die Vorschriften der §§ 24, 26 AufenthV überhaupt auf die hier zur Prüfung gestellte Tätigkeit von Seeleuten auf Offshore-Supply-Schiffen anwendbar sind. Dies ist indes nicht der Fall (siehe nachfolgend c). 43 c) Drittstaatsangehörige Ausländer, die sich zu Arbeitseinsätzen auf Offshore-Supply-Schiffen unter panamaischer Flagge im deutschen Küstenmeer aufhalten, sind im Ergebnis auch nicht nach § 26 Abs. 1 AufenthV vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels, der zur Erwerbstätigkeit berechtigt, befreit; diese Regelung befreit Ausländer vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels, die sich im Bundesgebiet befinden, ohne im Sinne des § 13 Abs. 2 AufenthG einzureisen. Dies gilt sowohl für den Fall, dass die Kläger als Besatzungsmitglieder nach einer Einreise in das Bundesgebiet in einem deutschen Hafen auf das Schiff gelangen (aa), als auch für die Einfahrt in das deutsche Küstenmeer auf dem Seeweg (bb). 44 aa) Gelangt ein Besatzungsmitglied eines Offshore-Supply-Schiffs - wie hier im Herbst 2017 wohl die Kläger zu 1. und 2. - nach Einreise auf dem Land- oder Luftweg in das Bundesgebiet in einem deutschen Hafen auf das Schiff und fährt dann zur Erledigung der vorgesehenen Arbeiten in das deutsche Küstenmeer aus, ist der Befreiungstatbestand des § 26 Abs. 1 AufenthV von vornherein nicht erfüllt. Denn diese Person ist jedenfalls in das Bundesgebiet eingereist, aber nicht ausgereist. 45 In dieser Fallkonstellation kommt es für die Aufenthaltserlaubnispflicht darauf an, ob der unstreitig eingereiste Drittstaatsangehörige mit dem Verlassen des Hafens und/oder einem Ausreisestempel in den Ausweispapieren, die eine Ausreise aus dem Bundesgebiet bescheinigen, im Rechtssinne bereits wieder ausgereist ist, wenn das Schiff (und damit er selbst) tatsächlich das zum Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland gehörende Küstenmeer nicht verlassen hat. Dies ist nicht der Fall. 46 Der unionsrechtliche Begriff der "Ausreise" aus dem Schengenraum (und damit auch dem Bundesgebiet) ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH, Urteile vom 4. Mai 2017 - C-17/16 [ECLI:​EU:​C:​2017:​341], El Dakkak und Intercontinental - Rn. 19 bis 21 und vom 5. Februar 2020 - C-341/18 [ECLI:​EU:​C:​2020:​76], J. u.a. - Rn. 43) dahin zu verstehen, dass er sich auf die physische Handlung einer Person bezieht, sich von einem Ort, der zum Hoheitsgebiet des Schengenraums gehört, an einen Ort, der nicht zum Hoheitsgebiet gehört, zu begeben. Der bloße Umstand, dass eine Person eine Grenzübergangsstelle im Sinne von Art. 2 Nr. 8 Schengener Grenzkodex (SGK) überschritten hat, an der die Überwachung der Außengrenzen erfolgt, bedeutet nicht, dass diese Person den Schengenraum verlassen hat, wenn sie sich noch in einem Teil des zum Schengenraum gehörenden Hoheitsgebietes eines Staates aufhält (EuGH, Urteil vom 5. Februar 2020 - C-341/18 - Rn. 45). Die Ausreisestempel werden nach Art. 11 Abs. 1 SGK "bei der Ausreise" aus dem Schengenraum angebracht, wobei die Ausreise dem Überschreiten einer Außengrenze entspricht (EuGH, Urteil vom 5. Februar 2020 - C-341/18 - Rn. 68 f.). Hiernach sind Personen, die auf dem Luft- oder Landweg einreisen, aber das Hoheitsgebiet des deutschen Staates trotz erfolgter Ausreisekontrolle nicht verlassen, nicht (wieder) ausgereist; sie halten sich vielmehr nach wie vor nach Einreise im Bundesgebiet auf. 47 bb) § 26 AufenthV ist im Ergebnis aber auch dann nicht anzuwenden, wenn die Einfahrt in das deutsche Küstenmeer auf dem Seeweg erfolgt ist. 48 (1) Bei der Einfahrt auf dem Seeweg zum Zwecke der Arbeitstätigkeit im Küstenmeer dürfte - ohne dass dies abschließend zu entscheiden ist - bereits das Tatbestandsmerkmal des § 26 Abs. 1 AufenthV "ohne im Sinne des § 13 Abs. 2 des Aufenthaltsgesetzes einzureisen" nicht erfüllt sein. Wenn eine "Ausreise" im Sinne des Schengener Grenzkodex dem Überschreiten einer Außengrenze des Schengenraums entspricht (vgl. EuGH, Urteil vom 5. Februar 2020 - C-341/18 - Rn. 43 ff., 69), liegt nahe, dass Gleiches spiegelbildlich auch für den Begriff der "Einreise" gilt - mit der Folge, dass bei einer Anreise mit einem Seeschiff von einem Ort außerhalb des Schengenraums die Einreise grundsätzlich bereits mit der Einfahrt in das Küstenmeer erfolgt. Bei unionsrechtskonformer Auslegung des § 13 Abs. 2 AufenthG erfolgte die Einreise jedenfalls dann bereits mit dem tatsächlichen (physischen) Überschreiten der (See-)Außengrenze, wenn sie nicht durch das völkerrechtlich garantierte Recht der friedlichen Durchfahrt (Art. 17 SRÜ) gedeckt ist und auch keine Absicht besteht, zeitnah eine Grenzübergangsstelle aufzusuchen. Dem steht nicht die Nr. 13.2.6.2. der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift vom 26. Oktober 2009 (GMBl. S. 878) zu § 13 AufenthG entgegen, wonach bei einer Umgehung der Grenzübergangsstelle die Einreise bereits mit der Einfahrt in das Küstenmeer vollendet ist. Hieraus folgt nicht, dass bei fehlender Absicht, unter Umgehung einer Grenzübergangsstelle an Land zu gehen, generell keine Einreise im Sinne des § 13 Abs. 2 AufenthG vorliegt. Dieser Schluss ist vielmehr lediglich dann gerechtfertigt, wenn die Einfahrt vom Recht der friedlichen Durchfahrt gedeckt ist. 49 (2) § 26 Abs. 1 AufenthV ist jedenfalls dahin auszulegen, dass der Anwendungsbereich dieser Norm nicht eröffnet ist, wenn drittstaatsangehörige Seeleute als Besatzungsmitglieder auf einem Offshore-Supply-Schiff im deutschen Küstenmeer verbleiben, um dort einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. § 26 Abs. 1 AufenthV zielt ungeachtet seines auslegungsbedürftigen Wortlauts im Falle der Einfahrt eines Seeschiffs in das Küstenmeer lediglich auf den grenzüberschreitenden Durchgangsverkehr, der - in Realisierung des Rechts der friedlichen Durchfahrt (Art. 17 SRÜ) - dem Transit von Personen und Waren dient. Dies erfasst nicht das Verbleiben von Besatzungsmitgliedern eines Offshore-Supply-Schiffs zum Zweck von Offshore-Arbeiten im Küstenmeer, die vom Recht auf friedliche Durchfahrt gerade nicht erfasst sind (s.o. II.2.1). 50 Auf ein entsprechendes Normverständnis weist bereits die amtliche Überschrift des § 26 AufenthV hin ("Transit ohne Einreise; Flughafentransitvisum"). Sie bringt zum Ausdruck, dass von der Vorschrift nur "Transitfälle" erfasst werden, d.h. nur solche Personen unter den Befreiungstatbestand fallen, die sich lediglich kurzzeitig zwecks Durchreise auf deutschem Staatsgebiet aufhalten. 51 Bestätigt wird dies durch die systematische Auslegung. Denn die Überschrift des Kapitels 2, Abschnitt 2, Unterabschnitt 3 der AufenthV ("Befreiungen im grenzüberschreitenden Beförderungswesen") bekräftigt, dass die Befreiungstatbestände nur auf Personal oder Benutzer bestimmter Beförderungsmittel (Flugzeuge und Schiffe) anwendbar sind und der grenzüberschreitenden Beförderung von Personen oder Waren dienen sollen, aber nicht dem Verbleiben von Besatzungsmitgliedern eines Seeschiffs zur Verrichtung von Offshore-Arbeiten (ähnlich zu den Ausnahmebestimmungen des Schengener Grenzkodexes EuGH, Urteil vom 5. Februar 2020 - C-341/18 - Rn. 65 f.). Die korrespondierende Vorschrift des § 24 Nr. 1 BeschV, wonach es für die Erteilung eines Aufenthaltstitels an die Mitglieder von Besatzungen im internationalen Verkehr keiner Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit bedarf, weist mit dem Begriff des "internationalen Verkehrs" ebenfalls darauf hin, dass nur der grenzüberschreitende Personen- und Güterverkehr Regelungsinhalt ist (vgl. Werner, in: Offer/Mävers, BeschV, 1. Aufl. 2016, § 24 Rn. 11). 52 Sinn und Zweck des § 26 AufenthV schließen es aus, die Vorschrift in Fällen anzuwenden, in denen ausländische Besatzungsmitglieder eines Seeschiffs über mehrere Wochen oder Monate zwecks Erwerbstätigkeit auf einem Offshore-Supply-Schiff innerhalb des deutschen Küstenmeers verbleiben. Der Verordnungsgeber hat in der Begründung zur Aufenthaltsverordnung (BR-Drs. 731/04 S. 171) aufgeführt, welche Fallgruppen typischerweise von § 26 Abs. 1 AufenthV erfasst sind. Danach bedürfen Fahrgäste oder Besatzungsmitglieder von Schiffen keines Aufenthaltstitels, solange sie nur auf dem Schiff verbleiben oder sonst keine Grenzübergangsstelle (etwa in Freihäfen) passieren (bislang § 8 Abs. 1 Nr. 1 und 2 DVAuslG), sowie Personen, die deutsche Küstengewässer nur durchfahren. 53 Diese in der Verordnungsbegründung genannten Fallgruppen unterstreichen, dass der Verordnungsgeber das Recht der friedlichen Durchfahrt (Art. 17 SRÜ) im Blick hatte und aufenthaltsrechtlich erleichtern bzw. umsetzen wollte. Denn umschrieben wird der Sache nach u.a. die Situation von Fahrgästen oder Besatzungsmitgliedern von Seeschiffen, die (im Rahmen des Rechts der friedlichen Durchfahrt) deutsche Küstengewässer in der internationalen Schifffahrt befahren und so lange als nicht eingereist im Sinne des § 13 Abs. 2 AufenthG gelten, wie sie auf dem Schiff verbleiben oder sonst keine Grenzübergangsstelle passieren. 54 Zu Unrecht folgert das Verwaltungsgericht aus den in der Verordnungsbegründung genannten Fallgruppen, insbesondere der Benennung "der Personen, die deutsche Küstengewässer nur durchfahren", dass es der separaten Benennung von Besatzungsmitgliedern, die auf dem Schiff verbleiben, nicht bedurft hätte, wenn die Vorschrift des § 26 Abs. 1 AufenthV von vornherein nur Transitaufenthalte umfasste. Dies vernachlässigt, dass der Verordnungsgeber nicht nur allgemein die Durchfahrt von Personen in Küstengewässern, sondern speziell auch kurzfristige Aufenthalte von Fahrgästen bzw. Besatzungsmitgliedern von Schiffen im regulären, dem Tourismus oder sonstigen wirtschaftlichen Zwecken dienenden internationalen Schiffsverkehr regeln wollte. Allen in der Verordnungsbegründung genannten Varianten ist gemeinsam, dass es sich um nur sehr kurzfristige Aufenthalte auf bzw. in deutschem Staatsgebiet handelt. Dass der Verordnungsgeber durch § 26 AufenthV lediglich solche Aufenthalte regeln wollte, ergibt sich zudem daraus, dass er im Zusammenhang mit der Frage der Passpflicht der durchreisenden Ausländer ausgeführt hat (BR-Drs. 731/04 S. 171): "Eine Befreiung von der Passpflicht ist in den Transitfällen nicht vorgesehen". § 26 AufenthV kann daher als aufenthaltsrechtliche "De-minimis-Regelung" verstanden werden, die aufenthaltsrechtlich irrelevante Aufenthalte definiert (vgl. Maor, ZAR 2005, 185 <188>), damit nicht jeder visumpflichtige Drittstaatsangehörige, der sich im Transit (etwa im Transitbereich des Flughafens), bei der Durchfahrt in Küstengewässern oder bei bloßen Aufenthalten auf einem Schiff in Freihäfen befindet, der Aufenthaltstitelpflicht unterliegt. 55 Eine historisch-genetische Auslegung bestätigt, dass Aufenthalte, die nicht dem Transit von Personen oder Waren dienen, sondern der (nicht nur kurzfristigen), mit der Durchfahrt (einschließlich der völkerrechtlich zugelassenen Unterbrechungen) verbundenen Erwerbstätigkeit im deutschen Küstenmeer, nicht vom Anwendungsbereich des § 26 Abs. 1 AufenthV erfasst sind. Die Regelung des § 26 Abs. 1 AufenthV gibt ein allgemeines Grundprinzip wieder, das in der bisherigen Verordnung zur Durchführung des Ausländergesetzes (DVAuslG) nur lückenhaft und mit Bezug auf einige Sonderfälle erfasst war (vgl. BR-Drs. 731/04 S. 170). Die von dem Verordnungsgeber nunmehr beispielhaft genannte Fallgruppe der Besatzungsmitglieder (oder Fahrgäste) von Schiffen, die auf dem Schiff verbleiben oder sonst keine Grenzübergangsstelle passieren, war zuvor in § 8 Abs. 1 Nr. 1 und 2 DVAuslG (Verordnung zur Durchführung des Ausländergesetzes vom 18. Dezember 1990 <BGBl. I S. 2983>, zuletzt geändert durch Art. 32 des Gesetzes für moderne Dienstleistung am Arbeitsmarkt vom 23. Dezember 2003 <BGBl. I S. 2848>) geregelt. Danach waren vom Erfordernis der Aufenthaltsgenehmigung und von der Passpflicht befreit Fahrgäste eines Schiffs der See- oder Küstenschifffahrt im Durchgangsverkehr vom Ausland über deutsche Häfen ins Ausland, wenn sie das Schiff nicht verlassen, und Besatzungsmitglieder eines Schiffs der See- oder Küstenschifffahrt, das nicht berechtigt ist, die Bundesflagge zu führen, im Durchgangsverkehr vom Ausland über deutsche Häfen ins Ausland, wenn sie das Schiff nicht verlassen. 56 Bereits die Vorgängerregelung des § 26 AufenthV, an die letztere Vorschrift anknüpft, ging mithin davon aus, dass eine Befreiung von der Aufenthaltsgenehmigungspflicht für Besatzungsmitglieder eines Seeschiffs nur im grenzüberschreitenden Durchgangsverkehr in Betracht kam und nicht, wenn sich die Besatzungsmitglieder auf dem Schiff aufhalten, um von dort aus eine Erwerbstätigkeit im Küstenmeer auszuüben. Die von dem Verwaltungsgericht zur Begründung seiner Auffassung herangezogene Passage der Verordnungsbegründung zu § 24 AufenthV (BR-Drs. 731/04 S. 169: "Personen, die ein internationales Seeschiff nicht verlassen, reisen nicht im Sinne des § 13 Abs. 2 des Aufenthaltsgesetzes ein. Die entsprechende Befreiung ist in § 26 Abs. 1 enthalten.") bezieht sich folglich ebenfalls nur auf Fahrgäste und Besatzungsmitglieder von Seeschiffen im Durchgangsverkehr, die mit einer grenzüberschreitenden Beförderung betraut sind. 57 Die Aufhebung der Aufenthaltstitelpflicht für ausländische Besatzungsmitglieder von Seeschiffen, die zur Führung der Bundesflagge berechtigt sind (vgl. § 4 Abs. 4 AufenthG a.F.), durch das Gesetz zur Verbesserung der Rechte von international Schutzberechtigten und ausländischen Arbeitnehmern (AufenthGuaÄndG) vom 29. August 2013 (BGBl. I S. 3484, 3899), erlaubt nicht den Schluss, der nationale Gesetzgeber sei davon ausgegangen, dass generell kein Erlaubnisvorbehalt für Drittstaatsangehörige an Bord von Seeschiffen unter fremder Flagge besteht. Vielmehr wollte der Gesetzgeber mit der Aufhebung des § 4 Abs. 4 AufenthG a.F. lediglich die Rechtslage für ausländische Besatzungsmitglieder auf deutschflaggigen Schiffen derjenigen für ausländische Besatzungsmitglieder auf fremdflaggigen Schiffen anpassen. Aus der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 17/13022 S. 18 f.) geht die Annahme des Gesetzgebers hervor, dass Seeleute auf fremdflaggigen Schiffen meist nicht über in Deutschland gültige Aufenthaltstitel verfügen, beim Verlassen des Schiffs aber ausländerrechtlich überprüft werden. Der Verweis in der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 17/13022 S. 19) auf § 24 Abs. 2 AufenthV macht deutlich, dass der Gesetzgeber nur die Fallgruppe des zivilen Schiffspersonals eines im grenzüberschreitenden Beförderungswesen verkehrenden Schiffs im Auge hatte, aber nicht die der Besatzungsmitglieder eines im deutschen Küstenmeer zwecks Arbeitseinsatzes verweilenden Offshore-Supply-Schiffs. 58 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
bundesverwaltungsgericht
bverwg_2020-61
15.10.2020
Pressemitteilung Nr. 61/2020 vom 15.10.2020 EN Anspruch eines IHK-Mitgliedes auf Austritt seiner Kammer aus dem Dachverband DIHK wegen fortgesetzter Kompetenzüberschreitungen Das Mitglied einer Industrie- und Handelskammer (IHK) kann den Austritt seiner Kammer aus dem Dachverband Deutscher Industrie- und Handelskammertag (DIHK e.V.) verlangen, wenn dieser mehrfach und nicht nur in atypischen Ausreißerfällen die gesetzlichen Kompetenzgrenzen der Kammern überschritten hat und keine hinreichenden Vorkehrungen bestehen, um die Wiederholung von Kompetenzverstößen zuverlässig zu verhindern. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig entschieden. Die Klägerin ist Mitglied der IHK Nord Westfalen und beanstandet seit 2007 zahlreiche Äußerungen des DIHK, weil sie über die gesetzlichen Kompetenzgrenzen der Kammern hinausgingen. Die Klage ist in allen Vorinstanzen erfolglos geblieben. Das Bundesverwaltungsgericht hat in einem ersten Revisionsurteil vom 23. März 2016 (BVerwG 10 C 4.15 - vgl.  Pressemitteilung 23/2016 ) entschieden, dass ein grundrechtlicher Anspruch auf Austritt der Kammer aus dem Dachverband besteht, wenn dieser - wie der DIHK - in der Vergangenheit mehrfach und nicht nur in atypischen Ausreißerfällen gegen die Kompetenzgrenzen seiner Mitgliedskammern verstoßen hat und wenn mit einer erneuten Missachtung der Kompetenzgrenzen zu rechnen ist. Es hat den Rechtsstreit an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen, damit dieses die erforderlichen Feststellungen zu den Reaktionen des Verbandes auf die Kritik an seinen Äußerungen, insbesondere zu einem etwa für die Kammermitglieder verfügbaren verbandsinternen wirksamen und effektiven Schutz gegen grundrechtswidrige Aufgabenüberschreitungen, treffen konnte. Das Oberverwaltungsgericht hat einen Austrittsanspruch der Klägerin erneut verneint. Zwar hätten auch zahlreiche Äußerungen des DIHK seit 2016 die Kompetenzgrenzen seiner Mitgliedskammern überschritten. Auch fehle dem Verband die Einsicht in vergangene Aufgabenüberschreitungen und ein ausreichendes Bewusstsein für die vom Bundesverwaltungsgericht verdeutlichten Grenzen seiner Öffentlichkeitsarbeit. Er habe den Kammermitgliedern in seiner Satzung mittlerweile jedoch einen klagefähigen Anspruch auf Unterlassung weiterer Überschreitungen eingeräumt. Dies rechtfertige trotz des Mangels an Einsicht die Annahme, dass zukünftig weitere Verstöße verhindert werden könnten. Auf die erneute Revision der Klägerin hat das Bundesverwaltungsgericht die beklagte Kammer verurteilt, ihren Austritt aus dem DIHK zu erklären. Die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, schon die Existenz des Klageanspruchs von Kammermitgliedern schließe die Gefahr der Wiederholung von Kompetenzüberschreitungen ungeachtet fehlender Einsicht des Dachverbandes aus, widerspricht dem rechtlichen Maßstab des ersten Revisionsurteils. Das Oberverwaltungsgericht hat nicht angenommen, die Klagemöglichkeit werde künftige Kompetenzüberschreitungen ausschließen. Es ist lediglich davon ausgegangen, dass die Zivilgerichte dem DIHK ausgehend von - weiteren - konkreten Aufgabenüberschreitungen seine Kompetenzgrenzen weiter verdeutlichen und diese durchsetzen werden. Das wird den im ersten Revisionsurteil erläuterten Anforderungen an einen effektiven Grundrechtsschutz der Kammermitglieder nicht gerecht. BVerwG 8 C 23.19 - Urteil vom 14. Oktober 2020 Vorinstanzen: OVG Münster, 16 A 1499/09 - Urteil vom 12. April 2019 - VG Münster, 9 K 1076/07 - Urteil vom 20. Mai 2009 -
Urteil vom 14.10.2020 - BVerwG 8 C 23.19ECLI:DE:BVerwG:2020:141020U8C23.19.0 EN Anspruch eines Pflichtmitglieds einer Industrie- und Handelskammer auf deren Austritt aus dem Dachverband Leitsätze: 1. Der Anspruch eines Pflichtmitglieds einer Industrie- und Handelskammer auf Austritt der Kammer aus dem Dachverband setzt eine Verbandstätigkeit jenseits der Kammerkompetenzen, die sich nicht auf für die Verbandspraxis atypische Einzelfälle ("Ausreißer") beschränkt, sowie die konkrete Gefahr einer erneut die Kammerkompetenzen überschreitenden Betätigung des Verbands voraus (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. März 2016 - 10 C 4.15 - BVerwGE 154, 296 LS 2 und Rn. 18). 2. Diese Gefahr ist nicht schon durch verbandsinterne Maßnahmen ausgeschlossen, die es ermöglichen, Kompetenzüberschreitungen gerichtlich anzugreifen, wenn gleichwohl mit erneuten Überschreitungen zu rechnen ist, sodass eine Fortsetzung der kompetenzwidrigen Verbandspraxis nicht zuverlässig verhindert wird (im Anschluss an BVerwG, Urteil vom 23. März 2016 - 10 C 4.15 - BVerwGE 154, 296 Rn. 23 f.). Rechtsquellen GG Art. 2 Abs. 1 IHKG § 1 Abs. 1 und 5 VwGO § 144 Abs. 6 Instanzenzug VG Münster - 20.05.2009 - AZ: VG 9 K 1076/07 OVG Münster - 12.04.2019 - AZ: OVG 16 A 1499/09 Zitiervorschlag BVerwG, Urteil vom 14.10.2020 - 8 C 23.19 - [ECLI:DE:BVerwG:2020:141020U8C23.19.0] Urteil BVerwG 8 C 23.19 VG Münster - 20.05.2009 - AZ: VG 9 K 1076/07 OVG Münster - 12.04.2019 - AZ: OVG 16 A 1499/09 In der Verwaltungsstreitsache hat der 8. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 14. Oktober 2020 durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Held-Daab, die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Hoock, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Keller, die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Rublack und den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Seegmüller für Recht erkannt: Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 12. April 2019 und das Urteil des Verwaltungsgerichts Münster vom 20. Mai 2009 werden geändert. Die Beklagte wird verurteilt, ihren Austritt aus dem Beigeladenen (Deutscher Industrie- und Handelskammertag e.V.) zu erklären. Die Gerichtskosten und die außergerichtlichen Kosten der Klägerin - jeweils in allen Rechtszügen - tragen die Beklagte zu zwei Dritteln und der Beigeladene zu einem Drittel. Die Beklagte und der Beigeladene tragen ihre außergerichtlichen Kosten selbst. Gründe I 1 Die Klägerin ist Pflichtmitglied der beklagten Industrie- und Handelskammer und begehrt deren Austritt aus dem beigeladenen Deutschen Industrie- und Handelskammertag e.V. (DIHK). 2 Der Beigeladene verfolgt als privatrechtlich organisierter Dachverband der deutschen Industrie- und Handelskammern nach seiner Satzung unter anderem den Zweck, in allen das Gesamtinteresse der gewerblichen Wirtschaft in seinem Bereich betreffenden Fragen, einen gemeinsamen Standpunkt der Industrie- und Handelskammern auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene gegenüber der Politik, der Verwaltung, den Gerichten und der Öffentlichkeit zu vertreten. Die Satzung stellt klar, dass die Behandlung allgemeinpolitischer, insbesondere parteipolitischer Fragen nicht zur Zuständigkeit des Beigeladenen gehört. 3 2007 forderte die Klägerin die Beklagte auf, ihren Austritt aus dem Beigeladenen zu erklären. Dieser habe sich in mehreren Veröffentlichungen allgemeinpolitisch zur Klimapolitik geäußert und damit seine satzungsgemäßen Aufgaben und die Kompetenzen seiner Mitgliedskammern überschritten. Der Klägerin stehe als Pflichtmitglied der Beklagten aus Art. 2 Abs. 1 GG ein Recht auf Abwehr von Kompetenzüberschreitungen zu. Die Beklagte lehnte einen Austritt ab. Das Verwaltungsgericht hat die Klage auf Verurteilung der Beklagten, ihren Austritt aus dem Dachverband zu erklären und es zu unterlassen, die beanstandeten Äußerungen zu wiederholen, abgewiesen. Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung nur hinsichtlich des Antrags auf Verurteilung zum Austritt aus dem Dachverband zugelassen und sie mit Urteil vom 16. Mai 2014 zurückgewiesen. Die Klägerin könne zwar geltend machen, als Pflichtmitglied der Beklagten durch eine Überschreitung der Kammerkompetenzen in ihrem Recht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 19 Abs. 3 GG verletzt zu sein. Eine Verpflichtung der Kammer zum Austritt komme aus Gründen der Verhältnismäßigkeit jedoch nur als äußerstes Mittel in Betracht. 4 Mit Urteil vom 23. März 2016 - 10 C 4.15 - (BVerwGE 154, 296) hat das Bundesverwaltungsgericht das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen. Ein Austrittsanspruch eines Pflichtmitgliedes einer Kammer bestehe nicht nur als ultima ratio, sondern schon dann, wenn die Aufgabenüberschreitung des Dachverbandes kein für die Verbandspraxis atypischer "Ausreißer" sei und die konkrete Gefahr erneuter Betätigung jenseits der Kammerkompetenz bestehe. Eine solche Wiederholungsgefahr sei nicht nur bei einer Gefahr völlig gleichartiger Aufgabenüberschreitungen zu bejahen, weil sonst der effektive Grundrechtsschutz durch Variieren der Kompetenzüberschreitungen zu vereiteln wäre. Maßgeblich sei allein, ob mit einer erneuten Missachtung der Kompetenzgrenzen zu rechnen sei oder ob davon ausgegangen werden könne, dass weitere Verstöße unterblieben, etwa weil sie verbandsintern zuverlässig verhindert würden. Dies erfordere eine tatrichterliche Prognose, die sämtliche Indizien für und gegen die Wahrscheinlichkeit einer erneuten Grundrechtsverletzung in Betracht ziehe. Als Indizien für das Drohen eines erneuten Kompetenzverstoßes kämen mehrfache oder gar häufige Missachtungen der Kompetenzgrenzen in Betracht, ebenso der Mangel an Einsicht in vergangene Aufgabenüberschreitungen und die Weigerung, geeignete Maßnahmen zur Verhinderung künftiger Überschreitungen zu treffen. Gegen eine Wiederholungsgefahr spreche hingegen, wenn der Dachverband die Kritik an einer Aufgabenüberschreitung konstruktiv aufgenommen, sich davon distanziert und geeignete Vorkehrungen gegen einen erneuten Kompetenzverstoß getroffen habe. Dies sei anzunehmen, wenn der Verband den Mitgliedskammern und deren Pflichtmitgliedern die Möglichkeit eröffne, künftige Überschreitungen der Kammerkompetenzen wirksam zu unterbinden. 5 Der Dachverband habe in der Vergangenheit mehrfach und nicht nur in atypischen Ausnahmefällen die gesetzliche Kammerkompetenz zur Gesamtinteressenwahrnehmung der Gewerbetreibenden durch Äußerungen überschritten. Viele der streitgegenständlichen Äußerungen des Dachverbandes gingen thematisch über die Kammerkompetenzen hinaus, so die bildungspolitische Forderung nach der Einführung von Studiengebühren, Äußerungen zur Hochschulfinanzierung, die Kritik am föderalen Bildungssystem sowie Äußerungen zum Hochwasserschutz, die keinen Wirtschaftsbezug deutlich gemacht hätten. Gleiches gelte für die Äußerungen zum außenpolitischen Auftreten der Bundeskanzlerin, zur Ratsamkeit eines Koalitionsvertrages II und zur wirtschaftlichen und innenpolitischen Situation der Republik Südafrika. Die Stellungnahmen gegen die Einführung des Mindestlohns in Deutschland, gegen die sogenannte Mütterrente, die Sozialagenda und die Herabsetzung des regulären Renteneintrittsalters auf die Vollendung des 63. Lebensjahres seien ungeachtet ihres Bezugs zur Wirtschaft in den Kammerbezirken nicht mehr von der Kammerkompetenz gedeckt gewesen, weil diese sich nach § 1 Abs. 5 IHKG nicht auf die Wahrnehmung sozialpolitischer und arbeitsrechtlicher Interessen erstrecke. Von den Aussagen zur Steuer- und zur Energiepolitik seien diejenigen, die mit konkreten Auswirkungen auf die gewerbliche Wirtschaft in den Mitgliedskammern - wie etwa der Gefahr von Wettbewerbsverzerrungen - begründet wurden, thematisch nicht zu beanstanden. Allerdings missachteten einige dieser Aussagen das für die Gesamtinteressenwahrnehmung geltende Gebot der Objektivität und Sachlichkeit. Ihm widersprächen etwa die Kommentierung einer steuerpolitischen Forderung als "der reine Wahnsinn" sowie die Gleichsetzung des Klimaschutzes mit einer Minderung der Lebensqualität, illustriert durch die polemische Frage, ob wir wieder mit 34 PS über die Alpen nach Italien fahren wollten. Wegen ihrer Einseitigkeit unzulässig seien Forderungen, die sich gegen den Ausstieg aus der Kernenergie richteten, ohne die in den Kammerbezirken vertretenen Gegenauffassungen darzustellen und eine Abwägung der widerstreitenden Positionen erkennen zu lassen. Äußerungen zu in der Öffentlichkeit und auch in der Wirtschaft höchst umstrittenen Fragen müssten auch die Minderheitsauffassung(en) offenlegen und die zur Mehrheitsauffassung führende Abwägung der verschiedenen Positionen erkennbar machen. 6 Ob die weitere Mitgliedschaft des Beklagten im Dachverband wegen faktischer Aufgabenüberschreitungen rechtswidrig sei, könne auf Grundlage der Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts nicht abschließend entschieden werden. Zur Prüfung einer konkreten Gefahr eines erneuten kompetenzüberschreitenden Handelns des Dachverbandes müsse das Berufungsgericht die Reaktionen des Dachverbandes auf die Kritik an seinen Äußerungen feststellen und insbesondere klären, ob den Pflichtmitgliedern der Kammern verbandsintern ein wirksamer und effektiver Schutz gegen solche grundrechtswidrigen Aufgabenüberschreitungen zur Verfügung stehe. 7 Im November 2016 hat die Vollversammlung des Verbandes satzungsrechtlich für die Pflichtmitglieder ihrer Mitgliedskammern ein Beschwerderecht gegen Kompetenzüberschreitungen und, nach erfolgloser Beschwerde, ein Klagerecht eingeführt. Anschließend wurde der Verband im zurückverwiesenen Verfahren beigeladen. 8 Die Klägerin hat dort eine Vielzahl weiterer Äußerungen des Beigeladenen aus dem Zeitraum vom ersten Revisionsurteil bis zum November 2018 als kompetenzwidrig beanstandet. Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung der Klägerin mit Urteil vom 12. April 2019 erneut zurückgewiesen. Die Klägerin habe zurzeit keinen Anspruch auf Austritt der beklagten Kammer aus dem Dachverband. Zwar gingen zahlreiche der von der Klägerin beanstandeten Äußerungen des Beigeladenen über die gesetzlichen Grenzen der Kompetenz der Mitgliedskammern hinaus, beispielsweise die beanstandeten, teils allgemeinpolitischen, teils unsachlichen oder einseitigen Äußerungen des Hauptgeschäftsführers und des Präsidenten des Beigeladenen zur Zusammenarbeit mit dem Iran, zur Ökostromumlage, zur Bundestagswahl, zu einer Großen Koalition, zur Diskussion über die Rolle des seinerzeitigen Verfassungsschutzpräsidenten Maaßen, zu Einreisebeschränkungen der USA für muslimische Länder und zur Präsidentschaftswahl in Kenia. Von atypischen Ausreißern könne keine Rede sein. Gleichwohl und trotz fehlender Einsicht des Beigeladenen in vergangene Aufgabenüberschreitungen bestehe derzeit keine konkrete Gefahr erneuten kompetenzüberschreitenden Handelns des Dachverbandes. Er habe nämlich mit der Einräumung eines klagefähigen Anspruchs auf Unterlassen weiterer Überschreitungen eine geeignete Maßnahme ergriffen, die die Annahme rechtfertige, dass zukünftig weitere Verstöße verhindert werden könnten. Die Zivilgerichte würden dem Beigeladenen ausgehend von konkreten Aufgabenüberschreitungen seine Kompetenzgrenzen weiter verdeutlichen und diese erforderlichenfalls mit Ordnungsmitteln durchsetzen. 9 Zur Begründung ihrer Revision trägt die Klägerin vor, nach den Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts bestehe die Gefahr einer Wiederholung von Kompetenzüberschreitungen des Beigeladenen. Dessen Satzungsänderung habe weitere kompetenzwidrige Äußerungen nicht verhindert. Der Beigeladene habe sich auch nach dem ersten Revisionsurteil in seinen Äußerungen nicht gemäßigt. Es sei nicht ersichtlich, dass ihn das Urteil eines Zivilgerichts stärker beeindrucken werde. Eine nachträgliche gerichtliche Beanstandung ändere nichts daran, dass Kompetenzüberschreitungen des Beigeladenen in Grundrechte der Pflichtmitglieder der Mitgliedskammern eingriffen. Der Klägerin könne eine nachlaufende Rechtsaufsicht über den Verband im Wege der Prozessführung weder grundrechtlich noch wirtschaftlich zugemutet werden. 10 Die Klägerin beantragt, das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 12. April 2019 und das Urteil des Verwaltungsgerichts Münster vom 20. Mai 2009 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, ihren Austritt aus dem Beigeladenen zu erklären. 11 Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen. 12 Sie verteidigt das Berufungsurteil. Das Berufungsgericht habe den jeweiligen Kontext der von ihm beanstandeten Äußerungen nur unzureichend berücksichtigt und die Kompetenzgrenze der Kammern aus § 1 Abs. 5 IHKG zu eng gezogen. Ohne eine Ermittlung der Gesamtzahl der Äußerungen des Beigeladenen im Betrachtungszeitraum habe das Berufungsgericht nicht annehmen dürfen, dass die beanstandeten Äußerungen keine bloßen Ausreißer seien. Die Feststellung fehlender Einsicht in die Kompetenzüberschreitungen vernachlässige die Vorkehrungen gegen einen erneuten Verstoß. Der Klägerin fehle angesichts der vom Beigeladenen geschaffenen sachnäheren und effizienteren Rechtsschutzmöglichkeit das Rechtsschutzbedürfnis für eine auf Austritt der Beklagten gerichtete Klage. 13 Der Beigeladene beantragt ebenfalls, die Revision zurückzuweisen. 14 Er schließt sich dem Vorbringen der Beklagten an und rügt, die vom Berufungsgericht angenommene Bindung an das Urteil vom 23. März 2016 verletze sein Recht auf rechtliches Gehör. Zu Unrecht sei er im ersten Revisionsverfahren nicht beigeladen worden. Die Klägerin habe ihre Revision nicht hinreichend begründet und keine Verfahrensrügen erhoben. Deshalb sei das Revisionsgericht an die Annahme des Berufungsgerichts gebunden, die eröffnete Rechtsschutzmöglichkeit schließe die Gefahr einer Wiederholung von Kompetenzüberschreitungen aus. Unabhängig davon fielen die vom Oberverwaltungsgericht beanstandeten Äußerungen nicht ins Gewicht und stellten allenfalls Ausreißer dar. Außerdem habe der Beigeladene am 25. März 2020 seine Satzung und seine Beschwerdeordnung geändert. Eine Unterlassungsklage wegen Kompetenzüberschreitungen setze nun nicht mehr voraus, dass zuvor ein Beschwerdeverfahren durchlaufen worden sei. 15 Der Vertreter des Bundesinteresses unterstützt das Vorbringen der Beklagten und des Beigeladenen, ohne einen eigenen Antrag zu stellen. II 16 Die zulässige Revision ist begründet. Das angegriffene Urteil beruht auf der Verletzung von Art. 2 Abs. 1 GG und erweist sich nicht aus anderen Gründen als richtig (§ 137 Abs. 1 Nr. 1, § 144 Abs. 4 VwGO). 17 1. Die Klägerin hat ihre Revision ordnungsgemäß begründet (§ 139 Abs. 3 Satz 4 VwGO) und ist dabei auch auf die Frage eingegangen, ob die vom Beigeladenen eingeräumte Rechtsschutzmöglichkeit einen Austrittsanspruch ausschließt. Darüber hinaus konnte sie in zulässiger Weise auf die Begründung ihrer Nichtzulassungsbeschwerde Bezug nehmen, weil diese auch den Anforderungen an eine Revisionsbegründung genügte (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. März 2019 - 4 C 5.18 - juris Rn. 13 m.w.N. [insoweit in Buchholz 406.12 § 4 BauNVO Nr. 21 nicht abgedruckt]). 18 2. Die Klage ist nach wie vor zulässig. Das Rechtsschutzbedürfnis der Klägerin für ihr Begehren, die Beklagte zum Austritt aus dem Beigeladenen zu verurteilen, entfällt nicht wegen der nun eingeräumten Möglichkeit, gegen künftige Äußerungen des Beigeladenen zu klagen. Es wäre nur dann zu verneinen, wenn die Entscheidung im vorliegenden Verfahren ihr offensichtlich keinerlei rechtliche oder tatsächliche Vorteile bringen könnte und die Nutzlosigkeit eindeutig wäre (vgl. BVerwG, Urteile vom 29. April 2004 - 3 C 25.03 - BVerwGE 121, 1 <3> und vom 10. Oktober 2019 - 10 C 3.19 - NVwZ 2020, 244 Rn. 14). Das ist hier nicht der Fall. Der von der Klägerin begehrte Austritt der Beklagten aus dem Beigeladenen bannt die Gefahr einer Wiederholung von Eingriffen in ihre Grundrechte vollständig. Ihr Begehren lässt sich nicht auf die Durchsetzung eines Unterlassungsanspruchs gegen den Beigeladenen verengen, sondern richtet sich auf eine Austrittserklärung der Beklagten. 19 3. Das Berufungsurteil leidet nicht unter einem Verfahrensmangel im Sinne des § 138 Nr. 3 VwGO. Die Rüge des Beigeladenen, das Berufungsgericht habe mit der Annahme, nach § 144 Abs. 6 VwGO an das Urteil vom 23. März 2016 gebunden zu sein, seinen Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO verletzt, greift nicht durch. Dabei kann dahinstehen, ob der Beigeladene bereits im ersten Revisionsverfahren nach § 65 Abs. 2 und § 142 Abs. 1 Satz 2 VwGO hätte beigeladen werden müssen und ob daraus eine Einschränkung der Bindung des Berufungsgerichts aus § 144 Abs. 6 VwGO an die rechtliche Beurteilung des Revisionsgerichts folgen könnte. Der Beigeladene hat jedenfalls sein Recht, einen solchen Gehörsverstoß zu rügen, dadurch verloren, dass er trotz seiner Kenntnis von dem Verfahren, dessen Verlauf und dem Termin der ersten Revisionsverhandlung nicht rechtzeitig auf seine Beiladung hingewirkt hat. Einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG kann nicht geltend machen, wer es selbst versäumt hat, sich vor Gericht durch die zumutbare Ausschöpfung der vom einschlägigen Prozessrecht eröffneten und nach Lage der Dinge tauglichen Möglichkeiten Gehör zu verschaffen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 18. August 2010 - 1 BvR 3268/07 - BVerfGK 17, 479 Rn. 28). Einen Antrag auf Beiladung hat der Beigeladene jedoch erstmals nach der Zurückverweisung im erneuten Berufungsverfahren gestellt. Dass er bereits vorher Kenntnis von dem Verfahren, dessen Verlauf und der ersten Revisionsverhandlung hatte, ergibt sich aus der damaligen Sitzungsniederschrift. Ihr zufolge war für die Beklagte auch der Chefjustiziar des Beigeladenen erschienen. Dessen Teilnahme an der damaligen mündlichen Verhandlung und die vorherige Kenntnis des Beigeladenen vom Verfahrensverlauf hat dieser in der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Senat bestätigt. Folglich hätte er seine Beiladung bereits rechtzeitig vor und spätestens in der ersten Revisionsverhandlung beantragen können, um durch eigenen Vortrag auf die rechtlichen Maßstäbe des Revisionsgerichts Einfluss zu nehmen. Nachdem er dort auch nach Erörterung der Sache von einem solchen ihm zumutbaren Antrag abgesehen hat, kann er nicht geltend machen, eine Bindung an die Grundsätze des ersten Revisionsurteils schneide ihm sein rechtliches Gehör ab. Das gilt auch und erst recht, wenn der vom Beigeladenen vorgetragene richterliche Hinweis in der ersten Revisionsverhandlung, eine Beiladung nach § 142 Abs. 1 i.V.m. § 65 Abs. 2 VwGO sei nach den (damaligen) Rechtsbeziehungen zwischen den Beteiligten (vor den Satzungsänderungen) nicht notwendig, seinen Chefjustiziar nicht überzeugt haben sollte. Wegen der vorherigen Kenntnis des Beigeladenen vom Verfahrensverlauf konnte dieser Hinweis zu einer naheliegenden Frage ihn nicht überraschen. 20 4. Dem Berufungsurteil liegt gemäß § 144 Abs. 6 VwGO die rechtliche Beurteilung durch das zurückverweisende Revisionsurteil (BVerwG, Urteil vom 23. März 2016 - 10 C 4.15 - BVerwGE 154, 296) zugrunde. Dieser rechtliche Maßstab bindet nunmehr im selben Umfang auch den erkennenden Senat (vgl. BVerwG, Beschluss vom 16. September 2011 - 8 B 32.11 - Rn. 3 f.; GmS-OGB, Beschluss vom 6. Februar 1973 - GmS-OGB 1/72 - BVerwGE 41, 363 <367>; BVerwG, Urteil vom 22. Juni 1977 - 8 C 49.76 - BVerwGE 54, 116 <121 f.>). 21 a) Danach hat die Klägerin aus Art. 2 Abs. 1 GG einen Anspruch auf Austritt der beklagten Kammer aus dem Dachverband, wenn sich dieser in einer Weise betätigt, die faktisch seine Aufgaben und zugleich den Kompetenzrahmen seiner Mitgliedskammern überschreitet, und wenn die kompetenzwidrige Tätigkeit sich nicht als atypischer "Ausreißer" darstellt, sondern die konkrete Gefahr erneuten kompetenzüberschreitenden Handelns besteht (BVerwG, Urteil vom 23. März 2016 - 10 C 4.15 - BVerwGE 154, 296 Rn. 18). Nach § 1 Abs. 1 IHKG haben die Kammern das Gesamtinteresse der ihnen zugehörigen Gewerbetreibenden ihres Bezirks wahrzunehmen, für die Förderung der gewerblichen Wirtschaft zu wirken und dabei die wirtschaftlichen Interessen einzelner Gewerbezweige oder Betriebe abwägend und ausgleichend zu berücksichtigen. Ihre gesetzlichen Kompetenzen dürfen sie auch gemeinsam in einem Dachverband wahrnehmen. Auch dabei erlaubt § 1 Abs. 1 IHKG allerdings nur Äußerungen zu Sachverhalten, die spezifische Auswirkungen auf die Wirtschaft im jeweiligen Kammerbezirk haben. Es genügt nicht, dass die Folgen einer politischen Entscheidung in irgendeiner weiteren Weise auch die Wirtschaft berühren oder dass die Gewerbetreibenden im Kammerbezirk davon ebenso betroffen sind wie Andere (BVerwG, Urteil vom 23. März 2016 - 10 C 4.15 - BVerwGE 154, 296 Rn. 28 f.; ebenso bereits Urteile vom 19. September 2000 - 1 C 29.99 - BVerwGE 112, 69 <74 f.> und vom 23. Juni 2010 - 8 C 20.09 - BVerwGE 137, 171 Rn. 24, 30 ff.). Der erforderliche spezifische Wirtschaftsbezug muss sich aus der Äußerung selbst, ihrer Begründung oder ihrem textlichen Zusammenhang ergeben. Er muss umso genauer dargelegt werden, je weniger offenkundig er ist. Die Wahrnehmung sozialpolitischer und arbeitsrechtlicher Interessen fällt nach § 1 Abs. 5 IHKG nicht in die Zuständigkeit der Kammern, sondern ist Gegenstand der Selbstverwaltung der Sozialversicherungsträger sowie der grundrechtlich geschützten Tätigkeit freiwilliger Vereinigungen. Dazu zählen nicht nur die Tarifpartner, sondern beispielsweise auch die freien Wohlfahrtsverbände (BVerwG, Urteil vom 23. März 2016 - 10 C 4.15 - BVerwGE 154, 296 Rn. 29). 22 Aus § 1 Abs. 1 IHKG ergeben sich auch Vorgaben für die Art und Weise der Gesamtinteressenwahrnehmung. Aus der Verpflichtung, die Interessen der Kammermitglieder und der verschiedenen Branchen und Betriebe abzuwägen und auszugleichen, folgt die Pflicht, das Gesamtinteresse innerhalb der jeweiligen Kammer grundsätzlich im Prozess repräsentativer Willensbildung durch die Vollversammlung zu ermitteln und dabei die satzungsrechtlichen Verfahrensregeln zu beachten. Die Aufgabe, die Behörden durch die Darstellung des Gesamtinteresses zu unterstützen und zu beraten, verlangt von den Kammern, bei allen Äußerungen Objektivität und die notwendige Sachlichkeit und Zurückhaltung zu wahren. Polemisch überspitzte Äußerungen oder Stellungnahmen, die auf eine emotionalisierte Konfliktaustragung zielen, sind unzulässig. Äußerungen zu besonders umstrittenen Themen müssen die nach § 1 Abs. 1 IHKG erforderliche Abwägung erkennen lassen. Bei Mehrheitsentscheidungen sind gegebenenfalls beachtliche Minderheitenpositionen einschließlich von Positionen partikulärer Wirtschaftsstrukturen darzustellen (vgl. ebenda Rn. 29 f.). 23 Dieser vom Berufungsgericht zutreffend herangezogene Maßstab gewährleistet eine Berücksichtigung des textlichen Zusammenhangs einer Äußerung bei ihrer Überprüfung auf Kompetenzüberschreitungen. Der Einwand der Beklagten und des Beigeladenen, das Berufungsurteil gehe an dem Erfordernis einer Gesamtwürdigung einer Aussage im textlichen Zusammenhang vorbei, ist daher nicht berechtigt. In Übereinstimmung mit dem bindenden ersten Revisionsurteil (BVerwG, Urteil vom 23. März 2016 - 10 C 4.15 - BVerwGE 154, 296 Rn. 35 und 38) hat das Berufungsgericht an Äußerungen des Beigeladenen im Zuge von Live-Interviews keinen abweichenden Maßstab angelegt. Vielmehr hat der Beigeladene auch in derartigen Situationen durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, dass sämtliche seiner Äußerungen die gesetzlichen Kompetenzgrenzen wahren. 24 b) Danach ist revisionsgerichtlich nichts gegen die Annahme des Berufungsgerichts zu erinnern, der Beigeladene habe durch zahlreiche Äußerungen die Kompetenzgrenzen seiner Mitgliedskammern überschritten, sodass von für die Verbandspraxis atypischen Ausnahmefällen ("Ausreißern") keine Rede sein könne. Die Annahme fortgesetzter Kompetenzverstöße schließt an die Bewertung im ersten Revisionsurteil an. Im dortigen Betrachtungszeitraum bis zum Berufungsurteil des Oberverwaltungsgerichts vom 16. Mai 2014 waren ebenfalls mehrfache, nicht als atypische Ausnahmen einzuordnende Überschreitungen der Kammerkompetenzen festzustellen (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. März 2016 - 10 C 4.15 - BVerwGE 154, 296 Rn. 33 ff.). Bis zum erneuten Abschluss der Berufungsinstanz sind nach den Tatsachenfeststellungen des angegriffenen Urteils viele weitere kompetenzüberschreitende Äußerungen des Beigeladenen hinzugekommen. 25 Zahlreiche dieser Äußerungen gehen als allgemeinpolitische Stellungnahmen ohne spezifischen Wirtschaftsbezug schon thematisch über die gesetzlichen Grenzen der Kompetenz zur Gesamtinteressenwahrnehmung hinaus. Dazu zählen beispielsweise die Äußerungen zur Aufwertung des Themas der inneren und äußeren Sicherheit in Europa (Morgenmagazin der ARD vom 22. August 2016), zur Bedeutung der Bundestagswahl als wichtig und spannend und der Notwendigkeit, dass die Bundesregierung die Kraft für notwendige Reformen habe (Nachrichtenagentur Reuters vom 28. Dezember 2016). In diesen Fällen ergab sich ein spezifischer Wirtschaftsbezug auch nicht aus dem textlichen Zusammenhang. Gleiches gilt für die Äußerungen des Beigeladenen zu Einreisebeschränkungen der USA für muslimische Länder, zum einheitlichen Auftreten Europas gegenüber den USA und zu deren Verhältnis zu Mexiko, zur Bedeutung der Themen Aufklärung und Rechtspopulismus in der nächsten Legislaturperiode (Deutschlandfunk vom 5. Februar 2017), zu den innenpolitischen Schwierigkeiten Kenias (International Aktuell 06/2017 vom 30. Oktober 2017), zur Notwendigkeit einer Entscheidung über eine Große Koalition und zur ausreichenden Zahl regierungsfähiger Politiker (Tagesspiegel vom 14. Februar 2018), zur Sicherung der EU-Außengrenzen (Internetseite am 27. Juni 2018) sowie zur Diskussion über die Rolle des damaligen Verfassungsschutzpräsidenten (Tagesspiegel vom 9. November 2018). Wegen eines spezifischen Wirtschaftsbezuges nicht zu beanstanden waren dagegen - entgegen dem Berufungsurteil - die Äußerungen über den Brexit (Deutschlandfunk vom 6. Juli 2016, Morgenmagazin der ARD vom 22. August 2016, Berliner Morgenpost vom 20. März 2017), die Bedeutung einer Regierung, die sich zum internationalen Handel und zum europäischen Binnenmarkt bekenne (Reuters vom 28. Dezember 2016), zur Forderung nach einer Erhöhung der Investitionsquote in Deutschland (Deutschlandfunk am 5. Februar 2017) und zu gesetzlichen Vorgaben für Managergehälter (Berliner Morgenpost vom 20. März 2017). 26 Die Äußerungen zur sozialen Gerechtigkeit in Deutschland, zu den Arbeitsbedingungen von Frauen und dem Equal Pay Day (Berliner Morgenpost vom 20. März 2017), zur sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverträgen insbesondere im öffentlichen Dienst und zur Verbesserung der Stellung der Arbeitnehmer durch den Fachkräftemangel (Neue Osnabrücker Zeitung vom 26. Januar 2018) fielen nach § 1 Abs. 5 IHKG als Wahrnehmung arbeitsrechtlicher und sozialpolitischer Interessen ungeachtet ihres teilweisen Wirtschaftsbezuges nicht in die Kompetenz der Mitgliedskammern. 27 Wegen der Verletzung des Gebots der Sachlichkeit, der Objektivität und der Zurückhaltung überschritten die Äußerungen des Beigeladenen zur Bedeutung der Erbschaftsteuer und der Vermeidung einer "Neidsteuer" (Westfalenpost vom 21. Juni 2016) sowie zur "an den Haaren herbeigezogenen" Begründung für die handelspolitischen "Pirouetten" der US-Regierung (Trade News 07/2018 vom September 2018) die Kompetenzgrenzen der Kammern. 28 Wegen ihrer Einseitigkeit hat das Berufungsgericht die Äußerungen zum Korrekturbedarf an der Ökostromumlage und zu einem Auslaufen der Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung und der Offshore-Haftungsumlage (Handelsblatt vom 24. Oktober 2016), zur Vermeidung zu strenger Pkw-CO2-Emissionsnormen zum Nachteil der Automobilindustrie und zu einer direkten Quote für Elektrofahrzeuge in den Regulierungsvorschlägen der Europäischen Union (Stellungnahme vom 10. Juli 2018) zu Recht als unzulässig bewertet. Diese Äußerungen zu besonders umstrittenen Themen ließen keine Berücksichtigung der Interessen von Unternehmen im Sektor der erneuerbaren Energien und der Elektromobilität erkennen. Wegen dieser offenkundigen Unausgewogenheit bedurfte es keiner Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts zur Existenz von Minderheitenpositionen in den Mitgliedskammern des Beigeladenen. 29 c) Auch im Übrigen ist die dem Berufungsurteil zugrundeliegende Annahme fortgesetzter Kompetenzüberschreitungen ohne Verstoß gegen Verfahrensrecht zustande gekommen. So hat das Berufungsgericht den Anspruch des Beigeladenen auf rechtliches Gehör nicht dadurch verletzt, dass es einzelne dieser Äußerungen unter einem anderen Aspekt der Kompetenzgrenzen der Mitgliedskammern gewürdigt hat als von der Klägerin vorgetragen. Wegen § 144 Abs. 6 VwGO und der Darstellung des rechtlichen Maßstabs für die Zulässigkeit von Äußerungen der Kammern im ersten Revisionsurteil konnte keiner der Beteiligten von einer Würdigung unter einem der dort genannten Gesichtspunkte überrascht werden (§ 108 Abs. 2, § 104 Abs. 1 und § 86 Abs. 3 VwGO). Die Würdigung der Äußerungen durch das Berufungsgericht verletzt auch nicht den Überzeugungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Seine Bewertungen waren weder willkürlich noch verstießen sie gegen Denkgesetze. 30 Die beträchtliche Zahl der kompetenzüberschreitenden Äußerungen sowohl im Zeitraum seit dem ersten Revisionsurteil als auch im Gesamtzeitraum unter Einschluss der dort beanstandeten Äußerungen rechtfertigt die Bewertung, dass es sich bei ihnen nicht um für die Verbandspraxis atypische Ausnahmen handelt (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. März 2016 - 10 C 4.15 - BVerwGE 154, 296 Rn. 23). Dies ergibt sich aus der Häufigkeit der Verstöße, die bereits eine fortgesetzte Missachtung von Kompetenzgrenzen erkennen lässt, und nicht erst aus deren Relation zur Gesamtzahl aller Äußerungen im Betrachtungszeitraum. Daher war das Berufungsgericht nicht nach § 86 Abs. 1 VwGO gehalten, diese Relation zu ermitteln. 31 5. Die Prognose des Berufungsgerichts, es drohe keine konkrete Gefahr eines erneuten kompetenzüberschreitenden Handelns des Beigeladenen, verstößt jedoch gegen revisibles Recht. 32 Ob eine den Austrittsanspruch auslösende Wiederholungsgefahr in Gestalt einer konkreten Wahrscheinlichkeit künftiger Aufgabenüberschreitungen besteht, erfordert nach dem bindenden Maßstab des ersten Revisionsurteils eine tatrichterliche Prognose, die sämtliche Indizien für und gegen die Wahrscheinlichkeit einer erneuten Grundrechtsverletzung in Betracht zieht. Als Indizien für das Drohen eines erneuten Kompetenzverstoßes kommen mehrfache oder häufige Missachtungen der Kompetenzgrenzen in Betracht, ebenso der Mangel an Einsicht in vergangene Aufgabenüberschreitungen und die Weigerung, geeignete Maßnahmen zur Verhinderung künftiger Überschreitungen zu treffen. Gegen eine Wiederholungsgefahr spricht, wenn der Dachverband die Kritik an einer Aufgabenüberschreitung konstruktiv aufgenommen, sich davon distanziert und geeignete Vorkehrungen gegen einen erneuten Kompetenzverstoß getroffen hat. Dies ist anzunehmen, wenn der Verband den Mitgliedskammern und deren Pflichtmitgliedern die Möglichkeit eröffnet, künftige Überschreitungen der Kammerkompetenzen wirksam zu unterbinden, beispielsweise durch Einräumung eines Klagerechts gegen den Verband auf Unterlassen weiterer Kompetenzüberschreitungen oder durch die Einrichtung einer unabhängigen Ombudsstelle im Verband (BVerwG, Urteil vom 23. März 2016 - 10 C 4.15 - BVerwGE 154, 296 Rn. 23 f). 33 a) Gerichtlich ist eine auf Indizien gestützte Prognose darauf zu überprüfen, ob sie von einer zutreffenden Konkretisierung des rechtlichen Maßstabs ausgeht, sämtliche danach relevanten Anhaltspunkte berücksichtigt und diese in Übereinstimmung mit dem rechtlichen Maßstab gewichtet (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. Juni 1991 - 9 C 22.90 - BVerwGE 88, 312 <LS 3 und S. 320>). An die ihr zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen ist das Revisionsgericht gemäß § 137 Abs. 2 VwGO mangels wirksamer Verfahrensrügen gebunden. Die Subsumtion der festgestellten Tatsachen unter den rechtlichen Maßstab unterliegt dagegen der uneingeschränkten richterlichen Kontrolle (BVerwG, Urteil vom 30. Oktober 1990 - 9 C 64.89 - Buchholz 310 § 137 VwGO Nr. 165; Eichberger/Buchheister, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand: Januar 2020, § 137 Rn. 150 m.w.N.). 34 b) Zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass sämtliche Indizien für und gegen eine Wiederholungsgefahr in die Prognose einer konkreten Gefahr eines erneuten Kompetenzverstoßes einzustellen sind. Es hat zu Recht angenommen, dass die im ersten Revisionsurteil genannten Gesichtspunkte, die gegen eine Wiederholungsgefahr sprechen, nicht stets kumulativ vorliegen müssen. Vielmehr sind eine Einsicht in vergangene Aufgabenüberschreitungen, eine konstruktive Aufnahme der Kritik daran, eine Distanzierung hiervon und geeignete Vorkehrungen des Verbandes gegen einen erneuten Kompetenzverstoß jeweils für sich in die gebotene Würdigung sämtlicher in Betracht kommender Indizien für und gegen eine Wiederholungsgefahr einzustellen (BVerwG, Urteil vom 23. März 2016 - 10 C 4.15 - BVerwGE 154, 296 Rn. 24, 41). Erst in der Gesamtwürdigung sind Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Indizien zu berücksichtigen. 35 c) Nach den für den Senat bindenden (§ 137 Abs. 2 VwGO), nicht mit durchgreifenden Verfahrensrügen angegriffenen Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts fehlt dem Beigeladenen die Einsicht in die festgestellten vergangenen Aufgabenüberschreitungen. Er hat die Verstöße bis auf wenige Ausnahmen weder in dem verbandsinternen Beschwerdeverfahren der Klägerin noch im gerichtlichen Verfahren zugestanden und die Kompetenzgrenzen der Kammern auch nach dem ersten Revisionsurteil fortgesetzt missachtet. 36 d) Zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass angesichts der fortgesetzten vielfältigen Aufgabenüberschreitungen und mangels Einsicht in diese Verstöße allein die verbandsinternen Vorkehrungen gegen eine Wiederholungsgefahr sprechen können. Dabei hat es zu Recht die bestehende Beschwerdemöglichkeit für ungeeignet gehalten, weiteren Verstößen vorzubeugen. Auch nach den letzten Satzungsänderungen des Beigeladenen fehlt die erforderliche Unabhängigkeit der Beschwerdestelle, weil nach wie vor ein Leitungsorgan des Beigeladenen über die Beschwerden entscheidet. Eine wirksame verbandsinterne Prävention setzt eine Kontrollinstanz voraus, die gegenüber den Verbandsorganen einschließlich des Vorstands unabhängig ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. März 2016 - 10 C 4.15 - BVerwGE 154, 296 Rn. 24 a.E.). 37 Revisionsrechtlich fehlerhaft ist jedoch die Annahme des Berufungsgerichts, schon der satzungsrechtlich eingeräumte, klagefähige Anspruch der Pflichtmitglieder der Kammern auf Unterlassen künftiger Aufgabenüberschreitungen des Dachverbandes schließe eine Wiederholungsgefahr aus. Damit verfehlt es die Anforderungen, die das erste Revisionsurteil an Vorkehrungen zur wirksamen Verhinderung einer erneuten Aufgabenüberschreitung stellt. Gleichzeitig wird es dem Gebot effektiven Grundrechtsschutzes der Kammermitglieder nicht gerecht. 38 Als grundrechtlicher Unterlassungsanspruch aus Art. 2 Abs. 1 GG setzt der Anspruch eines Kammermitglieds auf Austritt seiner Kammer aus dem Dachverband bei Kompetenzüberschreitungen, die - wie hier - über vereinzelte "Ausreißer" hinausgehen, nur voraus, dass dem Betroffenen konkret eine rechtswidrige weitere Beeinträchtigung seines Grundrechts droht. Dazu genügt die konkrete Wahrscheinlichkeit einer künftigen, den Rahmen der Kammerkompetenz überschreitenden Tätigkeit des Verbandes (BVerwG, Urteil vom 23. März 2016 - 10 C 4.15 - BVerwGE 154, 296 Rn. 18 und 23). Danach ist der Austrittsanspruch nicht erst dann gegeben, wenn anzunehmen ist, dass sich die Anzahl künftiger Kompetenzüberschreitungen aufgrund verbandsinterner Vorkehrungen gegen Wiederholungen (vgl. ebenda Rn. 24) schrittweise verringern wird. Er besteht bereits dann, wenn solche Vorkehrungen weitere Verstöße gegen das Grundrecht des Kammermitgliedes nicht zuverlässig verhindern können (vgl. ebenda Rn. 23 und Rn. 24: wirksam unterbinden). 39 Im Widerspruch dazu hält das Berufungsurteil es für ausreichend, dass die Zivilgerichte anlässlich der von ihm in Rechnung gestellten künftigen Klagen dem Beigeladenen ausgehend von konkreten Aufgabenüberschreitungen seine Kompetenzgrenzen weiter verdeutlichen und erforderlichenfalls die Unterlassung weiterer Kompetenzüberschreitungen mithilfe von Ordnungsgeld und Ordnungshaft wirksam erzwingen. Das Berufungsgericht hat damit eine Wiederholungsgefahr trotz einer Mehrzahl zukünftig zu erwartender Kompetenzüberschreitungen verneint. Diese Rechtsanwendung kann sich auch nicht darauf stützen, dass das erste Revisionsurteil ein Klagerecht der Pflichtmitglieder auf Unterlassen weiterer Aufgabenüberschreitungen beispielhaft als mögliche geeignete Vorkehrung gegen erneute Kompetenzverstöße aufgezählt hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. März 2016 - 10 C 4.15 - BVerwGE 154, 296 Rn. 24). Wie sich aus dem Begründungszusammenhang ergibt, wird damit weder die erforderliche Gesamtwürdigung aller Indizien für überflüssig erklärt, noch im Wege einer vorweggenommenen Beweiswürdigung unterstellt, ein solches Klagerecht genüge stets und unabhängig von der Einsicht des Verbandes in die Kompetenzgrenzen, den nötigen Schutz vor weiteren Aufgabenüberschreitungen zu gewährleisten. Vielmehr wird betont, dass es nicht ausreicht, wenn diese zwar nachträglich angegriffen, aber nicht zuverlässig verhindert werden können. Entscheidend ist, ob davon ausgegangen werden kann, dass weitere Kompetenzverstöße - gleich welcher Art - unterbleiben (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. März 2016 - 10 C 4.15 - BVerwGE 154, 296 Rn. 23 f. und 41). 40 Das hat das Berufungsgericht bei der Prüfung der Geeignetheit und Effektivität des Klagerechts nicht berücksichtigt. Es hat übersehen, dass Unterlassungsklagen nur jeweils gleichartige weitere Rechtsverletzungen verhindern können. Dagegen können sie nicht ausschließen, dass es zu variierenden weiteren Aufgabenüberschreitungen kommt, die den effektiven Grundrechtsschutz vereiteln (dazu vgl. BVerwG, Urteil vom 23. März 2016 - 10 C 4.15 - BVerwGE 154, 296 Rn. 23). Dieses Risiko durfte das Berufungsurteil angesichts der von ihm festgestellten Vielfalt fortgesetzter unzulässiger, teils allgemeinpolitischer, teils unsachlicher und teils einseitiger Äußerungen nicht ausblenden. Seine Erwägung, dem Beigeladenen könnten die Kompetenzgrenzen seiner Mitgliedskammern jeweils in weiteren gerichtlichen Entscheidungen verdeutlicht werden, nimmt eine Grundrechtsverletzung durch variierende Kompetenzüberschreitungen in Kauf. 41 6. Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts stellt sich auf Grundlage seiner tatsächlichen Feststellungen nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO). Es hat in tatsächlicher Hinsicht mehrere künftige Kompetenzverstöße prognostiziert und angenommen, dass sich die Verbandspraxis des Beigeladenen erst durch mehrere zivilgerichtliche Verfahren einschließlich einer etwa erforderlichen Anwendung von Zwangsmitteln ändern wird. Daran ändert auch die vom Senat zu berücksichtigende zwischenzeitliche satzungsrechtliche Loslösung des Klagerechts vom verbandsinternen Beschwerdeverfahren nichts. Dies lässt eine Gesamtwürdigung, dass ein künftiger Grundrechtsverstoß zuverlässig verhindert wird, nicht zu. 42 Der Senat kann gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO in der Sache selbst entscheiden, weil die vorinstanzlichen Tatsachenfeststellungen eine abschließende Beurteilung ermöglichen. Danach steht der Klägerin ein Anspruch auf Austritt der Beklagten aus dem Beigeladenen zu. Nach den berufungsgerichtlichen Feststellungen drohen nach mehrjährigen vielfältigen, trotz gerichtlicher Beanstandungen fortgesetzten Überschreitungen der Kammerkompetenz mangels Einsicht des Beigeladenen weitere Aufgabenüberschreitungen, die durch die von ihm getroffenen Vorkehrungen nicht wirksam verhindert werden können. 43 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 und 3, § 162 Abs. 3 VwGO.
bundesverwaltungsgericht
bverwg_2020-45
30.07.2020
Pressemitteilung Nr. 45/2020 vom 30.07.2020 EN Anfechtung der Wahl zum Gesamtvertrauenspersonenausschuss erfolglos Die Wahl zum 8. Gesamtvertrauenspersonenausschuss beim Bundesministerium der Verteidigung vom Juni 2019 muss nicht wiederholt werden. Dies hat heute der 1. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig entschieden. Nach eingehender Prüfung der eingereichten Wahlanfechtungserklärungen und der geltend gemachten Wahlmängel hat das Gericht die Anträge als unzulässig zurückgewiesen. An der im Großen Sitzungssaal des Gerichts verkündeten Entscheidung haben neben drei Berufsrichtern auch drei Vertrauenspersonen der Bundeswehr als ehrenamtliche Richter mitgewirkt. Die ungewöhnlich große Besetzung des Gerichts ist darauf zurückzuführen, dass das Soldatenbeteiligungsgesetz (SBG) der Wahl eine besondere Bedeutung beimisst. Der Gesamtvertrauenspersonenausschuss beim Bundesministerium der Verteidigung ist das oberste Personalvertretungsgremium der Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr. Er wird zu allen Grundsatzregelungen im personellen, sozialen und organisatorischen Bereich der Bundeswehr angehört und kann von sich aus Vorschläge zu den entsprechenden Dienstvorschriften und Organisationserlassen unterbreiten. Bei der alle vier Jahre stattfindenden Wahl sind ca. 2300 Vertrauenspersonen der Bundeswehr wahlberechtigt. Sie geben ihre Stimmen in einer reinen Briefwahl ab. Für die unterschiedlichen Organisationsbereiche der Bundeswehr werden insgesamt 35 Repräsentanten der Mannschaftssoldaten, Unteroffiziere und Offiziere gewählt. Nach der letzten Wahl im Juni 2019 haben sechs Soldaten eine Reihe von formellen Fehlern im Wahlausschreiben, in der Gesamtbewerberliste und bei den Stimmzetteln geltend gemacht und Unregelmäßigkeiten bei der Wahldurchführung gerügt. Kurz vor der Sitzung hat ein Soldat seinen Anfechtungsantrag zurückgenommen. Der 1. Wehrdienstsenat hat nach eingehender Erörterung der Rechtsfragen die Wahlanfechtung in erster und letzter Instanz als unzulässig zurückgewiesen. Nach § 52 Abs. 1 SBG muss die Wahl zum Gesamtvertrauenspersonenausschuss binnen zwei Wochen nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses von fünf Wahlberechtigten bei Gericht angefochten werden. Dieses Quorum von fünf wirksamen Anfechtungserklärungen ist nicht erreicht worden, denn eine Anfechtungserklärung stammte von einem nicht wahlberechtigten früheren Mitglied des 7. Gesamtvertrauenspersonenausschusses. Der Betreffende war zwar nach § 40 Abs. 2 Satz 1 SBG erneut wählbar, aber nicht selbst stimm- und wahlberechtigt. Die Anfechtungsbefugnis setzt jedoch nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut diese aktive Wahlberechtigung voraus. Für eine Ausweitung des Kreises der anfechtungsberechtigten Personen durch richterliche Rechtsfortbildung ist kein Raum. Damit lagen nicht die erforderlichen fünf, sondern nur vier wirksame Anfechtungserklärungen vor. BVerwG 1 WB 20.19 - Beschluss vom 30. Juli 2020
Wer nur zum Gesamtvertrauenspersonenausschuss wählbar ist, kann die Wahl nach § 52 Abs. 1 Satz 1 SBG nicht anfechten. Tenor Der Antrag wird zurückgewiesen. Tatbestand Die Antragsteller wenden sich mit ihrem Wahlanfechtungsantrag gegen die Wahl zum 8. Gesamtvertrauenspersonenausschuss beim Bundesministerium der Verteidigung.1. Mit Wahlausschreiben vom 24. Januar 2019 teilte der beim Bundesministerium der Verteidigung gebildete Zentrale Wahlvorstand allen Dienststellen der Bundeswehr mit, dass die Amtszeit des 7. Gesamtvertrauenspersonenausschusses am 16. Juni 2019 ablaufe. Für die anstehende Wahl zum 8. Gesamtvertrauenspersonenausschuss würden dezentrale Wahlvorstände gebildet, die Wählerverzeichnisse angelegt und Bewerbungen entgegengenommen. Gleichzeitig gab er einen "Vorläufigen Zeitplan" für die Wahl bekannt. Am 4. April 2019 stellte er die Gesamtbewerberliste zusammen, gab sie allen Dienststellen der Bundeswehr bekannt und übersandte ab dem 26. April 2019 die Wahlunterlagen an die dezentralen Wahlvorstände. Am 6. Juni 2019 zählte er die bei ihm eingegangenen Wahlunterlagen aus, erstellte am 13. Juni 2019 die Gesamtwahlniederschrift und veröffentlichte diese am 14. Juni 2019 im Intranet der Bundeswehr. Die Wahlbeteiligung lag danach bei 60,63 %.2. Am 19. Juni 2019 hat Hauptmann ... unter der Bezeichnung "vorläufiger Verfahrensbevollmächtigter" namens der Antragsteller beantragt, die Wahl zum 8. Gesamtvertrauenspersonenausschuss beim Bundesministerium der Verteidigung für ungültig zu erklären. Im Text der im Original unterschriebenen Vollmachten ermächtigen die Antragsteller zu 1, 2, 4 und 5 Hauptmann ... vorläufig mit der Wahrnehmung ihrer Rechte und beantragen, die Wahl für ungültig zu erklären. Für den Antragsteller zu 6 liegt eine solche Erklärung nur als Kopie vor. Bei der für den Antragsteller zu 3 beigefügten Vollmacht handelt es sich um den Ausdruck einer einfachen E-Mail gleichen Inhalts.Zur Begründung des Wahlanfechtungsantrags macht der "vorläufige Verfahrensbevollmächtigte" neun im Einzelnen näher ausgeführte Wahlfehler geltend. Insbesondere entsprächen die Gesamtbewerberliste und die Stimmzettel nicht den Vorgaben des § 28 Abs. 2 Satz 1 SBGWV, weil darin nicht statthafte Zusatzinformationen aufgenommen worden seien, während die vorgeschriebenen Daten über den Beginn der Amtszeit fehlten. Diese Argumentation haben sich die Antragsteller später zu eigen gemacht.Die Antragsteller beantragen,die Wahl zum 8. Gesamtvertrauenspersonenausschuss beim Bundesministerium der Verteidigung für ungültig zu erklären.Das Bundesministerium der Verteidigung beantragt,die Wahl zum 8. Gesamtvertrauenspersonenausschuss beim Bundesministerium der Verteidigung nicht für ungültig zu erklären und den Antrag zurückzuweisen.Der Antrag sei unzulässig und unbegründet. Die geltend gemachten Wahlmängel seien überwiegend unwesentlich oder nicht für den Ausgang der Wahl erheblich. Zwar fehlten die Angaben über den Beginn der Amtszeit der Vertrauenspersonen in der Gesamtbewerberliste und auf den Stimmzetteln. Dieses Datum könne jedoch durch Rückrechnung aus der Angabe des Amtszeitendes ermittelt werden. Es handele sich auch nicht um eine wesentliche Wahlbestimmung.3. Der Senatsvorsitzende hat mit Schreiben vom 27. Mai 2020 Hauptmann ... darauf hingewiesen, dass er nicht als Bevollmächtigter vor dem Bundesverwaltungsgericht auftreten könne, wenn er nicht die Befähigung zum Richteramt oder zum höheren Verwaltungsdienst besitze. Hauptmann ... hat auf Nachfrage mitgeteilt, dass dies bei ihm nicht der Fall sei. Ferner hat der Vorsitzende darauf aufmerksam gemacht, dass die Wahlanfechtungsbefugnis nach dem Gesetzeswortlaut von der Wahlberechtigung abhänge. Der Antragsteller zu 6 sei nach den Unterlagen als ehemaliges Mitglied des 7. Gesamtvertrauenspersonenausschusses zwar wählbar, aber nicht wahlberechtigt gewesen. Der Antragsteller zu 6 hat bestätigt, seinerzeit nicht mehr als Vertrauensperson tätig gewesen zu sein.Der Senat hat mit den Beteiligten am 30. Juli 2020 die Sach- und Rechtslage in einer mündlichen Verhandlung erörtert. Kurz zuvor hat der Antragsteller zu 3 mitgeteilt, dass er die Wahlanfechtung nicht mehr unterstütze. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Akten und der vom Zentralen Wahlvorstand vorgelegten Unterlagen Bezug genommen. Gründe Der Wahlanfechtungsantrag ist als unzulässig zurückzuweisen, weil die nach § 52 Abs. 1 Satz 1 SBG erforderliche Anzahl von fünf wirksamen Anfechtungserklärungen nicht vorliegt.1. Der Antrag ist zwar gemäß § 52 Abs. 1 SBG innerhalb von zwei Wochen nach Veröffentlichung des Wahlergebnisses beim Bundesverwaltungsgericht eingegangen. Das Wahlergebnis wurde am 14. Juni 2019 im Intranet der Bundeswehr veröffentlicht und gilt damit gemäß § 52 Abs. 2 Satz 2 SBGWV als am 15. Juni 2019 bekanntgegeben. Der Wahlanfechtungsantrag ist bereits am 19. Juni 2019 bei Gericht und damit innerhalb der Zwei-Wochen-Frist nach Bekanntgabe gestellt worden.2. Es sind auch fünf formgerechte Anfechtungserklärungen eingegangen.a) Der Antrag konnte zwar nicht von Hauptmann ... im Namen der Antragsteller gestellt werden, weil es ihm an der hierfür erforderlichen Postulationsfähigkeit fehlte. Über eine Wahlanfechtung wird nach § 52 Abs. 3 Satz 1 SBG unter entsprechender Anwendung der Wehrbeschwerdeordnung entschieden. Gemäß § 23a Abs. 1 WBO i.V.m. § 90 Abs. 2 Satz 2 WDO sind nur Personen als Verteidiger vor dem Bundesverwaltungsgericht zugelassen, welche die Befähigung zum Richteramt nach dem Deutschen Richtergesetz (DRiG) haben oder die Voraussetzungen des § 110 Satz 1 DRiG (Befähigung zum höheren Verwaltungsdienst) erfüllen. Dies ist bei Hauptmann ... nicht der Fall, so dass der von ihm gezeichnete Antrag nicht wirksam gewesen ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 15. Juli 1975 - 1 WB 72.73 - BVerwGE 53, 53 <60 f.> zur früheren Rechtslage ohne Verweisungsnorm).b) Es lagen gleichwohl fünf dem Schriftformerfordernis des § 17 Abs. 4 i.V.m. § 21 Abs. 2 Satz 1 WBO genügende Anträge vor. Denn die von Hauptmann ... in Kopie und später im Original vorgelegten unterschriebenen Vollmachten enthielten in ihrem Text zugleich eigene Anfechtungserklärungen der Antragsteller zu 1, 2, 4, 5 und 6. Da der Antragsteller zu 3 seine Wahlanfechtung später zurückgenommen hat, kommt es nicht mehr darauf an, dass seine nur durch einfache E-Mail abgegebene Erklärung - wie im Hinweisschreiben des Gerichts vom 27. Mai 2020 ausgeführt - ohnedies formunwirksam gewesen sein dürfte (vgl. BVerwG, Beschluss vom 2. Juli 2020 - 2 WRB 1.20 - Rn. 14 zu § 6 Abs. 2 WBO).3. Antragsbefugt ist nach § 52 Abs. 1 SBG allerdings nur eine Gruppe von wenigstens fünf wahlberechtigten Personen, die gemeinsam die Gültigkeit der Wahl anfechten (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 8. November 2017 - 1 WB 30.16 - BVerwGE 160, 247 Rn. 29 ff. und vom 17. Dezember 2018 - 1 WB 34.18 - Buchholz 450.1 § 1 WBO Nr. 2 Rn. 14). Dieses Mindest-Quorum ist nur erreicht, wenn alle fünf Antragsteller auch anfechtungsberechtigt sind.Anfechtungsberechtigt bei der Wahl zum Gesamtvertrauenspersonenausschuss sind gemäß § 52 Abs. 1 Satz 1 SBG allerdings nur wahlberechtigte Personen. Aktiv wahlberechtigt sind nach § 40 Abs. 1 Satz 2 SBG alle Vertrauenspersonen, die sich 21 Kalendertage vor dem Wahltag (hier dem 15. Mai 2019) im Amt befinden. Bewerber, die nach § 40 Abs. 2 SBG als Mitglieder des früheren Gesamtvertrauenspersonenausschusses erneut "wählbar", d.h. nur passiv wahlberechtigt sind, können die Wahl hingegen nach dem klaren Wortlaut des § 52 Abs. 1 Satz 1 SBG nicht selbst anfechten (Gronimus, Die Beteiligungsrechte der Vertrauenspersonen in der Bundeswehr, 8. Aufl. 2018, § 52 SBG Rn. 7).Dass nur die aktiv Wahlberechtigten anfechtungsberechtigt sind, hat seinen Grund darin, dass sie aktuell als Vertrauenspersonen im Amt sind und dass diese Gruppe durch die Wahl im Gesamtvertrauenspersonenausschuss vertreten (repräsentiert) werden soll. Nur wenn eine genügende Zahl der aktiven Vertrauenspersonen das Wahlergebnis in Zweifel zieht, soll die Ordnungsgemäßheit der Wahl geprüft werden. Es liegt daher keine Regelungslücke in Bezug auf das Anfechtungsrecht der nur passiv wahlberechtigten früheren Mitglieder des Gesamtvertrauenspersonenausschusses vor, die im Wege der Analogie geschlossen werden müsste.Von den fünf Antragstellern sind im vorliegenden Fall allerdings nur vier - wie vorgeschrieben - 21 Tage vor der Wahl als Vertrauenspersonen einer Einheit tätig und damit aktiv wahlberechtigt gewesen. Der Antragsteller zu 6 ist zu diesem Zeitpunkt nicht mehr Vertrauensperson, sondern nur als Mitglied des 7. Gesamtvertrauenspersonenausschusses gemäß § 40 Abs. 2 Satz 1 SBG erneut wählbar gewesen. Er ist damit nicht anfechtungsberechtigt gewesen und das hat zur Folge, dass das von § 52 Abs. 1 SBG vorgeschriebene Quorum von fünf Wahlberechtigten nicht erreicht worden ist.
bundesverwaltungsgericht
bverwg_2022-65
27.10.2022
Pressemitteilung Nr. 65/2022 vom 27.10.2022 EN Kosten der Kindertagesförderung für ein Pflegekind Für ein Kind in Vollzeitpflege umfasst der vom Jugendhilfeträger sicherzustellende Unterhalt über die gewährten Unterhaltspauschalen hinaus auch die den Pflegeeltern entstehenden Kosten für die Förderung in einer Kindertagesstätte, wenn diese Kosten - wie in Nordrhein-Westfalen - von der Pauschalierung ausgenommen worden sind. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig heute entschieden. Kläger ist das Jugendamt einer Stadt in seiner Eigenschaft als Vormund eines Kindes, für das der Mutter die Personensorge kurz nach der Geburt im Jahre 2013 entzogen und auf das Jugendamt übertragen worden war. Die beklagte Stadt bewilligte dem Kläger für das Kind Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege bei Pflegeeltern in einer sonderpädagogischen Pflegestelle für Kinder mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen und trug hierfür die Kosten. Das Kind besuchte ab August 2015 eine Kindertagesstätte, wofür die Pflegeeltern monatlich Elternbeiträge in Höhe von 44 € zu entrichten hatten. Die Beklagte lehnte die Übernahme dieser Aufwendungen mit der Begründung ab, bei den Kosten für die Kindertagesstätte handele es sich um einen üblichen Aufwand, der bereits von den dem Kläger bewilligten und an die Pflegeeltern ausgezahlten Pauschalbeträgen für den Unterhalt des Kindes abgedeckt sei. Die dagegen erhobene Klage hatte sowohl vor dem Verwaltungsgericht als auch vor dem Oberverwaltungsgericht Erfolg. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Entscheidung der Vorinstanzen im Ergebnis bestätigt. Der Anspruch auf Sicherung des Unterhalts eines in Vollzeitpflege zu betreuenden Kindes umfasst über den für den Sachaufwand festgesetzten Pauschalbetrag hinaus die Kosten der Kindertagesbetreuung, wenn diese Kosten bei der Festsetzung des Pauschalbetrags nicht berücksichtigt wurden. Wird Kinder- und Jugendhilfe in Form der Vollzeitpflege gewährt, so ist auch der notwendige Unterhalt des zu betreuenden Kindes sicherzustellen (§ 39 des Achten Buchs des Sozialgesetzbuchs - SGB VIII). Dieser beinhaltet die Kosten für dessen Pflege und Erziehung und die Kosten des Sachaufwandes, die bei einer Unterbringung in Pflegestellen, soweit es sich um laufende Aufwendungen handelt, in einem monatlichen Pauschalbetrag gewährt werden sollen. Die von den nach Landesrecht zuständigen Behörden festzusetzenden Pauschalbeträge müssen jedoch, auch wenn es sich um typische Bedarfsbestandteile (wie hier die Kita-Beiträge) handelt, nicht solche Kostenpositionen abdecken, die sich einer sinnvollen Pauschalierung entziehen. Die pauschalierte Gewährung schließt zwar grundsätzlich die gesonderte Geltendmachung einzelner Kostenpositionen aus. Das gilt nach dem Sinn und Zweck des Gesetzes jedoch nur, wenn es sich um Positionen handelt, die einer realitätsgerechten Pauschalierung zugänglich sind und jedenfalls bei der Bemessung der Pauschalsätze berücksichtigt worden sind. Beides ist hier nach den tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts, an die der Senat als Revisionsgericht gebunden ist, nicht der Fall. Dieses hat sowohl festgestellt, dass sich die Kosten für die Kindertagesbetreuung in Nordrhein-Westfalen wegen der erheblichen Unterschiede in ihrer Höhe nicht sinnvollerweise realitätsgerecht pauschalieren lassen, als auch, dass das zuständige Landesministerium die Pauschalbeträge für Sachkosten tatsächlich auch ohne Berücksichtigung der Elternbeiträge ermittelt und festgesetzt hat. BVerwG 5 C 4.21 - Urteil vom 27. Oktober 2022 Vorinstanzen: OVG Münster, OVG 12 A 1908/18 - Beschluss vom 23. März 2021 - VG Aachen, VG 2 K 1883/16 - Beschluss vom 17. April 2018 -
Urteil vom 27.10.2022 - BVerwG 5 C 4.21ECLI:DE:BVerwG:2022:271022U5C4.21.0 EN Erstattung der Kosten für die Förderung in einer Kindertagesstätte über die vom Jugendhilfeträger gewährten Unterhaltspauschalen hinaus Leitsätze: 1. Der Anspruch des Personensorgeberechtigten auf Sicherung des Unterhalts eines in Vollzeitpflege zu betreuenden Kindes durch Gewährung laufender Leistungen umfasst gemäß § 39 Abs. 1 und 2 Satz 1 SGB VIII über den nach § 39 Abs. 4 Satz 3 i. V. m. § 39 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII für den Sachaufwand festgesetzten Pauschalbetrag hinaus auch die Kosten der Kindertagesbetreuung, wenn diese Kosten bei der Festsetzung des Pauschalbetrags nicht berücksichtigt wurden. 2. Die gemäß § 39 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII von den nach Landesrecht zuständigen Behörden festzusetzenden Pauschalbeträge für die Sachkosten müssen typische Bedarfsbestandteile wie die Beiträge für die Kindertagesbetreuung des Pflegekindes nicht abdecken, wenn diese sich einer sinnvollen Pauschalierung entziehen. Rechtsquellen VwGO § 137 Abs. 1 Nr. 1, § 144 Abs. 4, § 154 Abs. 2, § 188 Satz 2 Halbs. 1 SGB VIII §§ 27, 33 Satz 2, § 39 Abs. 1 Satz 1 und 2, Abs. 2, Abs. 4 Satz 1 und 3 Halbs. 2 und Abs. 5 Satz 1 und 2, § 86 Abs. 1 und 6 Satz 1, § 86c Abs. 1 Satz 1 BGB §§ 133 und 157 Instanzenzug VG Aachen - 17.04.2018 - AZ: 2 K 1883/16 OVG Münster - 23.03.2021 - AZ: 12 A 1908/18 Zitiervorschlag BVerwG, Urteil vom 27.10.2022 - 5 C 4.21 - [ECLI:DE:BVerwG:2022:271022U5C4.21.0] Urteil BVerwG 5 C 4.21 VG Aachen - 17.04.2018 - AZ: 2 K 1883/16 OVG Münster - 23.03.2021 - AZ: 12 A 1908/18 In der Verwaltungsstreitsache hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 27. Oktober 2022 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Störmer, die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Stengelhofen-Weiß, Dr. Harms sowie die Richter am Bundesverwaltungsgericht Holtbrügge und Preisner für Recht erkannt: Die Revision der Beklagten gegen den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 23. März 2021 wird zurückgewiesen. Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben. Gründe I 1 Die Beteiligten streiten über die Zahlung der Kosten für die Kindertagesförderung eines Pflegekindes über die Pflegegeldpauschalen hinaus. 2 Der Kläger, das Jugendamt der Stadt E., war von September 2014 bis Februar 2020 Amtsvormund für das am 12. Januar 2013 geborene Kind L. N. T. Bereits kurz nach der Geburt des Kindes war der im Bereich der beklagten Stadt A. lebenden Kindesmutter die elterliche Sorge entzogen und dem zunächst eingesetzten Vormund (erstmals) Hilfe zur Erziehung in Form von Vollzeitpflege durch die Beklagte gewährt worden. Nachdem es zunächst in einer Bereitschaftspflegefamilie untergebracht worden war, wurde das Kind seit dem 28. März 2013 in Vollzeitpflege in der Sonderpädagogischen Pflegestelle der Diakonie D. I. W. und H. Y. in E. betreut, die seit Februar 2020 auch Vormünder des Kindes sind. Die Diakonie D. schloss mit der Beklagten unter dem 22. März 2013 einen Vertrag über die Leistungen des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe in einer Sonderpädagogischen Pflegestelle für Kinder mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen gemäß § 33 Satz 2 SGB VIII. Darin verpflichtete sie sich unter anderem zur Betreuung des Kindes in der Pflegestelle in E., während die Beklagte die Zahlung von Pflegegeld nach § 39 SGB VIII in Höhe von insgesamt 1 812,20 € unmittelbar an die Pflegestelle zusagte. Darin enthalten waren der Betrag zum notwendigen Unterhalt des Pflegekindes (467,00 €), ein Erziehungsbeitrag (730,61 €), ein Beitrag für die Alterssicherung der Pflegeperson (62,59 €) sowie ein zusätzlicher Betreuungsbetrag für wöchentlich 15 Stunden (598,00 €), um eine entsprechende Entlastung der Pflegeeltern sicherzustellen. Das Kindergeld (46,00 €) wurde abgezogen. 3 Nachdem der Kläger als Vormund eingesetzt worden war, bewilligte ihm die Beklagte mit Bescheid vom 15. Dezember 2014 für sein Mündel L. N. T. Hilfe zur Erziehung in Form von Vollzeitpflege durch den Leistungsträger Diakonie D. ab dem 28. März 2013, befristet bis zum 11. Januar 2031. 4 Mit Schreiben vom 15. Mai 2015 bat die Beklagte die Stadt E. um Übernahme des Jugendhilfefalles in deren örtliche Zuständigkeit gemäß § 86 Abs. 6 SGB VIII und sicherte Kostenerstattung nach § 89a SGB VIII zu. Eine Übernahme des Falles erfolgte jedoch nicht. 5 Ab dem 1. August 2015 besuchte das Kind eine Kindertagesstätte in E. Zu den Beiträgen für die Kindertagesbetreuung in Höhe von monatlich 44,00 €, die längstens bis zum 31. Juli 2018 anfielen, wurden die Pflegeeltern herangezogen. Die Beklagte leistete während dieses Zeitraums weiter Hilfe zur Erziehung einschließlich der Kosten für den notwendigen Unterhalt des Kindes gemäß § 39 SGB VIII, lehnte aber den Antrag der Diakonie auf Übernahme der Beiträge für die Kindertagesbetreuung ab. Der vorsorglich eingelegte Widerspruch der Pflegeeltern hatte keinen Erfolg. 6 Die auf Aufhebung des ablehnenden Bescheids in Gestalt des Widerspruchsbescheids und die Verpflichtung der Beklagten zur Zahlung der Kosten der Kindertagesförderung für das Kind L. N. T. gerichtete Klage hat in beiden Vorinstanzen Erfolg gehabt. Das Oberverwaltungsgericht hat zur Begründung ausgeführt, der Kläger habe einen Anspruch auf Zahlung der Kosten im Rahmen der Leistungen nach § 39 SGB VIII über die festgelegten Pauschalen hinaus. Die Beiträge, die Pflegeeltern für die Betreuung ihres Pflegekindes in einer Kindertageseinrichtung aufzubringen hätten, gehörten zum notwendigen Sachaufwand, den der Jugendhilfeträger sicherzustellen habe. Diese Aufwendungen hätten bei der Ermittlung des in N. W. gewährten monatlichen Pauschalbetrags, an dem sich auch die zwischen der Beklagten und der Diakonie D. vereinbarten Zahlungen orientierten, keine Berücksichtigung gefunden, weil sie sich einer typisierenden Betrachtung entzögen. Dem Anspruch stehe nicht entgegen, dass § 39 Abs. 4 Satz 3 SGB VIII für den Regelfall ("sollen") Pauschalbeträge vorsehe, also den gesamten wiederkehrenden Bedarf damit als abgedeckt ansehe. Der Besuch einer Kindertageseinrichtung sei zwar ein typischer Aufwand, § 39 Abs. 4 Satz 3 Halbs. 2 SGB VIII erlaube aber Abweichungen, wenn diese nach den Besonderheiten des Einzelfalles geboten seien. Das sei auch in Sachverhaltskonstellationen der Fall, die sich wie hier einer Typisierung entzögen. 7 Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrer Revision. Der Besuch einer Kindertagesstätte sei kein atypischer Sonderbedarf, sondern der Regelbedarf eines Kindes. Die vom Oberverwaltungsgericht in Bezug genommenen "Empfehlungen des Deutschen Vereins für die Bemessung des monatlichen Pauschalbetrags bei Vollzeitpflege" seien weder bindend noch sei nachvollziehbar, dass danach Elternbeiträge für Kindertagesstätten bei der Bemessung der Pauschalbeträge nicht berücksichtigt worden seien. Diese seien nach dem Sinn und Zweck des Gesetzes und dem in § 39 SGB VIII geregelten Wortlaut in den Pauschalbeträgen enthalten. Unerheblich sei die unterschiedliche Höhe und Berechnung der Elternbeiträge in den verschiedenen Kommunen und es sei ohnehin nicht nachvollziehbar, auf welcher Rechtsgrundlage Pflegepersonen zu Elternbeiträgen herangezogen würden. 8 Der Kläger verteidigt die angegriffene Entscheidung. II 9 Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Das angefochtene Urteil steht zwar mit Bundesrecht nicht im Einklang (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO), soweit das Oberverwaltungsgericht davon ausgeht, dass sich der Anspruch des Klägers auf Zahlung der Kosten der Kindertagesförderung für sein Mündel über die bereits gewährte Unterhaltspauschale hinaus aus § 39 Abs. 4 Satz 3 Halbs. 2 des Achten Buches Sozialgesetzbuch - Kinder- und Jugendhilfe - in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. September 2012 (BGBl. I S. 2022) - SGB VIII -, für den hier maßgeblichen Zeitraum zuletzt geändert durch Art. 10 des Gesetzes vom 30. Oktober 2017 (BGBl. I S. 3618) ergibt. Die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts erweist sich aber aus anderen Gründen als richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO). 10 Das Oberverwaltungsgericht hat im Ergebnis zu Recht entschieden, dass dem Kläger für den Zeitraum vom 1. August 2015 bis 31. Juli 2018 gegen die Beklagte ein über die ihm bereits gewährten Unterhaltspauschalen hinausgehender Anspruch auf Zahlung der Kosten für die Kindertagesförderung seines Mündels L. N. T. zusteht. Der Anspruch kann allerdings entgegen der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts weder allein und unmittelbar auf § 39 SGB VIII noch namentlich auf § 39 Abs. 4 Satz 3 SGB VIII gestützt werden, wonach die laufenden Leistungen in einem monatlichen Pauschalbetrag gewährt werden sollen, soweit nicht nach den Besonderheiten des Einzelfalles abweichende Leistungen geboten sind. Anspruchsgrundlage ist wegen des Übergangs der örtlichen Zuständigkeit auf die Stadt E. vielmehr § 86c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII i. V. m. den §§ 27, 33 Satz 2 und § 39 Abs. 1 und 2 Satz 1 SGB VIII sowie dem Bewilligungsbescheid der Beklagten vom 15. Dezember 2014 (1.). Danach hat der Kläger als personensorgeberechtigter Amtsvormund des Kindes Anspruch auf die geltend gemachten Kosten für die Kindertagespflege über die bereits von der Beklagten geleisteten Unterhaltspauschalen hinaus (2.). 11 1. Der Anspruch des Klägers gegen die Beklagte auf Zahlung der Kosten für die Kindertagesförderung über die gewährte Unterhaltspauschale hinaus folgt aus § 86c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII i. V. m. den §§ 27, 33 Satz 2 und § 39 Abs. 1 und 2 Satz 1 SGB VIII sowie dem Bewilligungsbescheid der Beklagten vom 15. Dezember 2014. 12 Nach § 86c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII bleibt im Fall des Wechsels der örtlichen Zuständigkeit für eine Leistung der bisher zuständige örtliche Träger so lange zur Gewährung der Leistung verpflichtet, bis der nunmehr zuständige örtliche Träger die Leistung fortsetzt. Die Vorschrift enthält keine Zuständigkeitsregelung, sondern eine eigenständige materielle Leistungsverpflichtung im Fall einer nicht mehr bestehenden örtlichen Zuständigkeit (vgl. Loss, in: Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 86c Rn. 4; Lange, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl. 2022, Stand 27. Oktober 2022, § 86c Rn. 18 m. w. N.). Deren Voraussetzungen sind erfüllt. Denn obwohl die örtliche Zuständigkeit gemäß § 86 Abs. 6 SGB VIII noch vor Beginn des streitgegenständlichen Zeitraums auf die Stadt E. übergegangen ist (a), war die Beklagte gemäß § 86c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII weiterhin zur Erbringung der hier in Rede stehenden Leistung verpflichtet (b). 13 a) Die Beklagte war ursprünglich gemäß § 86 Abs. 1 SGB VIII für die Gewährung der Hilfe zur Erziehung örtlich zuständig, weil der Vater des Pflegekindes unbekannt war und dessen Mutter als maßgeblicher Elternteil ihren gewöhnlichen Aufenthalt in A. hatte. Die örtliche Zuständigkeit hierfür ist aber bereits am 28. März 2015 - also noch vor Beginn des Besuchs der Kindertagesstätte - gemäß § 86 Abs. 6 SGB VIII auf die Stadt E. übergegangen. Nach dieser Vorschrift wird abweichend von den Absätzen 1 bis 5 der örtliche Träger zuständig, in dessen Bereich die Pflegeperson ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, wenn ein Kind oder Jugendlicher zwei Jahre bei einer Pflegeperson lebt und sein Verbleib bei dieser Pflegeperson auf Dauer zu erwarten ist. 14 Bei I. W. und H. Y. in E., in deren Sonderpädagogischer Pflegestelle das Kind L. N. T. nach den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen und daher für den Senat bindenden Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts (§ 137 Abs. 2 VwGO) am 28. März 2013 untergebracht wurde, handelt es sich um Pflegepersonen im Sinne des § 86 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII. Der Verbleib des Kindes dort war bereits nach dem Ablauf von zwei Jahren Ende März 2015 zu erwarten, was zwischen den Beteiligten ebenfalls nicht streitig und auch in dem Ersuchen der Beklagten an die Stadt E. vom 15. Mai 2015 zum Ausdruck gekommen ist, den Jugendhilfefall gemäß § 86 Abs. 6 SGB VIII in deren örtliche Zuständigkeit zu übernehmen. 15 b) Die Beklagte war aber trotz des kraft Gesetzes eingetretenen Zuständigkeitsübergangs weiterhin zur Leistung verpflichtet. 16 aa) Die nunmehr als örtlicher Träger der Jugendhilfe zuständig gewordene Stadt E. hat den Hilfefall nach dem Übernahmeersuchen der Beklagten nicht zur Bearbeitung übernommen und die Leistung der Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege nicht selbst fortgesetzt. Im streitgegenständlichen Zeitraum hat - was zwischen den Beteiligten unstreitig ist - ausschließlich die Beklagte Jugendhilfeleistungen erbracht, nicht aber die Stadt E. 17 bb) Der Verpflichtung der Beklagten zur Weitergewährung der Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege steht nicht entgegen, dass es sich hier wegen der Behinderung des Pflegekindes auch um einen Fall der Eingliederungshilfe handeln dürfte. Die Zuständigkeit ist deshalb nicht auf die Städteregion A. als dem für Eingliederungshilfeleistungen sachlich zuständigen überörtlichen Träger der Sozialhilfe übergegangen. Der Vorrang der Eingliederungshilfe gemäß § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII begründet keine Freistellung des nachrangig verpflichteten Trägers, sondern bewirkt gegebenenfalls nur, dass diesem ein Erstattungsanspruch zusteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. September 1999 - 5 C 26.98 - BVerwGE 109, 325 <330> und Beschluss vom 22. Mai 2008 - 5 B 203.07 - juris). Auch aus § 14 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen - Neuntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB IX in der Fassung von Art. 1 des Bundesteilhabegesetzes vom 23. Dezember 2016 (BGBl. I S. 3234) ergibt sich nichts Anderes. Die Regelung, die bereits ihrem Wortlaut nach nur für die Neubeantragung von Leistungen gilt, findet auf den vorliegenden Fall keine Anwendung. Denn sie ist gemäß Art. 26 Abs. 1 des Bundesteilhabegesetzes erst am 1. Januar 2018 und damit zu einem Zeitpunkt in Kraft getreten, zu dem die Beklagte bereits seit Langem die streitgegenständliche Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeit- und Familienpflege für das Kind L. N. T. erbrachte. 18 cc) Die weiteren Voraussetzungen für die Verpflichtung zur Weiterleistung gemäß § 86c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII, dass schon vor dem Zuständigkeitswechsel eine entsprechende Leistungspflicht des bisher zuständigen örtlichen Jugendhilfeträgers bestanden hat ("verpflichtet bleibt") und auch spezifiziert und individualisiert von dem bisherigen Träger durch die Bewilligung einer Leistung erbracht worden ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. November 2002 - 5 C 57.01 - BVerwGE 117, 184 <188, 192>; Lange, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl. 2022, Stand 27. Oktober 2022, § 86c Rn. 21, 24), liegen ebenfalls vor. 19 Die Leistungspflicht und deren Konkretisierung im vorstehenden Sinne ergeben sich hier aus dem Bescheid der Beklagten vom 15. Dezember 2014. Darin hatte diese dem Kläger rückwirkend ab dem 28. März 2013 Hilfe zur Erziehung in Form von Vollzeitpflege durch den Leistungsträger Diakonie D. gewährt und die Leistung bis zum 11. Januar 2031 befristet. Aufgrund dessen war die Beklagte nicht nur verpflichtet, dem Kläger Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege in der Sonderpädagogischen Pflegestelle I. W. und H. Y. nach Maßgabe des mit der Diakonie abgeschlossenen Vertrages vom 22. März 2013 und der gesetzlichen Regelungen zu leisten, sondern auch, diejenigen Unterhaltsleistungen für das Pflegekind zu gewährleisten, die den Personensorgeberechtigten gegebenenfalls darüber hinaus nach den gesetzlichen Regelungen - hier §§ 27, 33 i. V. m. § 39 SGB VIII - zustehen. 20 Das ergibt die dem Bundesverwaltungsgericht jedenfalls in Ermangelung einer entsprechenden Auslegung durch das Oberverwaltungsgericht zustehende Auslegung des Bewilligungsbescheids vom 15. Dezember 2014, die sich entsprechend den zu den §§ 133 und 157 BGB entwickelten Maßstäben bestimmt, wonach der in der Erklärung zum Ausdruck kommende erklärte Wille maßgeblich ist, wie ihn der Empfänger bei objektiver Würdigung verstehen konnte (vgl. BVerwG, Urteile vom 19. März 2013 - 5 C 16.12 - Buchholz 436.511 § 93 SGB VIII Nr. 4 Rn. 10 und vom 28. November 2019 - 5 A 4.18 - BVerwGE 167, 163 Rn. 22, jeweils m. w. N.). In dem Bescheid wird dem Kläger ausdrücklich Hilfe zur Erziehung "gemäß § 27 SGB VIII in Verbindung mit § 33 SGB VIII (Vollzeitpflege) gewährt". Die Hilfegewährung wird außerdem dahin konkretisiert, dass die Hilfe von der Diakonie D. "durchgeführt" wird, der die Beklagte "als Leistungsanbieter" eine Durchschrift des Bescheids zusammen mit der folgenden Zusage übersandt hat: "Die Kosten werden von mir gemäß den gültigen Entgeltvereinbarungen / getroffenen Vereinbarungen übernommen." Damit wird ebenso wie mit der Nennung der ungefähren Kosten der Hilfe in Höhe von 2 790,95 € zugleich auf den am 22. März 2013 zwischen der Diakonie und der Beklagten geschlossenen Vertrag über die Leistungen des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe in einer Sonderpädagogischen Pflegestelle für Kinder mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen gemäß § 33 Satz 2 SGB VIII Bezug genommen. Sowohl der Bescheid als auch der in Bezug genommene Vertrag sind nach Maßgabe des objektiven Empfängerhorizonts dahin zu verstehen, dass die dort ausdrücklich aufgeführten Unterhaltsleistungen nicht abschließend geregelt sind, sondern das Pflegekind dasjenige erhält, was ihm nach § 39 SGB VIII zukommen soll. Dafür spricht bereits die ausdrückliche Nennung der §§ 27 und 33 SGB VIII, was die gesetzliche Verpflichtung zur Sicherstellung des Unterhalts des Kindes außerhalb des Elternhauses gemäß § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII mit einschließt. Diese Rechtsgrundlage für die Gewährung der Vollzeitpflege in Form der Familienpflege in einer sozialpädagogischen Pflegestelle nennt auch § 2 des Vertrages vom 22. März 2013, der außerdem ausdrücklich den ursprünglichen Bewilligungsbescheid der Beklagten in Bezug nimmt. Soweit der Vertrag, den der Senat insoweit mangels entsprechender Auslegung durch das Oberverwaltungsgericht ebenfalls selbst auslegen kann, die nach § 39 SGB VIII zu gewährenden Leistungen konkretisiert, schließt er deshalb darüber hinausgehende Unterhaltsansprüche für das Pflegekind nach § 39 SGB VIII ebenfalls nicht aus. Zwischen den Beteiligten ist dementsprechend auch nicht streitig, dass die Beklagte zur Sicherstellung des Unterhalts des Mündels des Klägers außerhalb des Elternhauses gemäß § 39 SGB VIII verpflichtet ist, sondern nur, ob der entsprechende Anspruch des Personensorgeberechtigten auch die - gegebenenfalls gesonderte - Erstattung der Kosten für die Kindertagesbetreuung des Pflegekindes umfasst. 21 2. Der Kläger hat als personensorgeberechtigter Amtsvormund Anspruch auf die geltend gemachten Kosten der Kindertagesbetreuung für sein Mündel L. N. T. Der Anspruch des Personensorgeberechtigten auf Sicherung des Unterhalts eines in Vollzeitpflege zu betreuenden Kindes umfasst gemäß § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII über den für den Sachaufwand festgesetzten Pauschalbetrag hinaus auch die Kosten der Kindertagesbetreuung, wenn diese Kosten - wie hier - bei der Festsetzung des Pauschalbetrags nicht berücksichtigt wurden. 22 Gemäß § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ist der notwendige Unterhalt des Kindes oder Jugendlichen außerhalb des Elternhauses unter anderem dann sicherzustellen, wenn - wie hier - gemäß § 33 SGB VIII Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege gewährt wird. Dieser umfasst gemäß § 39 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII die Kosten für den Sachaufwand sowie die Kosten für Pflege und Erziehung des Kindes oder Jugendlichen. Dabei soll der gesamte wiederkehrende Bedarf durch laufende Leistungen gedeckt werden (§ 39 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII), die unter anderem im Rahmen der Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege gemäß § 33 SGB VIII nach § 39 Abs. 4 bis 6 SGB VIII zu bemessen sind (§ 39 Abs. 2 Satz 4 SGB VIII) (stRspr, vgl. z. B. BVerwG, Urteil vom 24. November 2017 - 5 C 15.16 - Buchholz 436.511 § 39 SGB VIII Nr. 6 Rn. 10). Die Kosten der Kindertagesbetreuung gehören als Sachaufwand zum notwendigen Unterhalt des Kindes im Sinne des § 39 Abs. 1 SGB VIII, der gemäß § 39 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII als wiederkehrender Bedarf durch laufende Leistungen zu decken ist (a). Diesen Anspruch hat die Beklagte noch nicht durch die dem Kläger für den Unterhalt des Pflegekindes gewährten Pauschalleistungen erfüllt (b). 23 a) Das Oberverwaltungsgericht geht zutreffend davon aus, dass es sich bei den Kosten für die Kindertagesbetreuung des Pflegekindes um Sachaufwand im Sinne des § 39 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII und nicht um Kosten für die Pflege und Erziehung handelt. Diese betreffen die Abgeltung des Pflege- und Erziehungsaufwands durch die Pflegeperson in der Pflegefamilie, nicht aber die Beschaffung von Pflege- und Erziehungsleistungen Dritter (vgl. BT-Drs. 16/9299 S. 16; Stähr, in: Hauck/Noftz, SGB VIII, Stand Juni 2021, § 39 Rn. 10, 14; Tammen, in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 9. Aufl. 2022, § 39 Rn. 7). Dies ist ebenso wie der Umstand, dass nach den Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts die Kosten für die Kindertagesbetreuung als wiederkehrende Bedarfe im Sinne des § 39 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII ohne Besonderheiten des Einzelfalles bei vielen Hilfeempfängern gleichermaßen bestehen und nicht einmalig sind, zwischen den Beteiligten nicht (mehr) streitig. 24 b) Die Beklagte hat den danach grundsätzlich bestehenden Anspruch des Klägers auf Gewährung der Kosten für die Kindertagesbetreuung noch nicht erfüllt. Sie hat zwar im streitgegenständlichen Zeitraum gemäß § 39 Abs. 4 Satz 3 i. V. m. § 39 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII Pauschalleistungen für den Unterhalt des Kindes erbracht (aa), die grundsätzlich die gesonderte Geltendmachung einzelner Kostenpositionen ausschließen (bb). Das gilt nach dem Sinn und Zweck des Gesetzes jedoch nur, wenn es sich um Positionen handelt, die einer realitätsgerechten Pauschalierung zugänglich sind und jedenfalls bei der Bemessung der Pauschalsätze berücksichtigt worden sind (cc). 25 aa) Die Beklagte hat im streitgegenständlichen Zeitraum gemäß § 39 Abs. 4 Satz 3 i. V. m. § 39 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII Pauschalleistungen für den Unterhalt des Kindes erbracht. Nach den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen und daher für den Senat bindenden Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts hat sie dem Kläger auf der Grundlage des ursprünglichen Bewilligungsbescheids vom 15. Dezember 2014 monatliche Pauschalbeträge nach Maßgabe des mit ihr geschlossenen Vertrages vom 22. März 2013 gewährt, der die Leistungen zur Sicherstellung des notwendigen Unterhalts gemäß § 39 SGB VIII für das Mündel des Klägers konkretisiert und sich dabei an den erstmals mit Runderlass des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales vom 15. Januar 1991 (- IV B 2 - 6122.1 ) festgesetzten Pauschalbeträgen orientiert, die jährlich fortentwickelt werden. Insbesondere hat die Beklagte in dem Vertrag genau die Sachkostenpauschale in Höhe von 467,00 € zugrunde gelegt, die in dem zu diesem Zeitpunkt geltenden Runderlass des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales vom 11. April 2012 (MBl. NRW. 2012 S. 164) vorgesehen war. 26 bb) Wird der notwendige Unterhalt des Kindes gemäß § 39 Abs. 4 Satz 3 i. V. m. § 39 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII - wie hier - durch die Festsetzung und Gewährung von Pauschalbeträgen sichergestellt, die auf einer den (durchschnittlichen) Bedarf und Aufwand angemessen erfassenden Pauschalierung beruhen, ist die gesonderte Geltendmachung einzelner Unterhaltsleistungen oder Kostenbestandteile grundsätzlich ausgeschlossen. Die Regelung in § 39 Abs. 4 Satz 3 SGB VIII, wonach die laufenden Leistungen in einem monatlichen Pauschalbetrag gewährt werden sollen, bezieht sich auf § 39 Abs. 5 Satz 1 und 2 SGB VIII. Danach werden die Pauschalbeträge für laufende Leistungen zum Unterhalt von den nach Landesrecht zuständigen Behörden festgesetzt, die dem altersbedingt unterschiedlichen Unterhaltsbedarf von Kindern und Jugendlichen durch eine Staffelung der Beträge nach Altersgruppen Rechnung zu tragen haben. Sind dementsprechend auf der Grundlage der angemessenen tatsächlichen Kosten Pauschalbeträge in der beschriebenen Weise festgesetzt worden und werden diese monatlich gewährt, so schließt dies nach Sinn und Zweck der vorgenannten Regelungen grundsätzlich einen Anspruch darauf aus, die gesonderte Erstattung einzelner Kostenpositionen als Teil der laufenden Leistungen vom Jugendhilfeträger zu erlangen. Denn das im Wortlaut beider Regelungen deutlich zum Ausdruck kommende Gebot ("sollen"), Pauschalbeträge festzusetzen und zu gewähren, dient nach dem Willen des Gesetzgebers sowohl der Verwaltungsvereinfachung als auch dazu, einer gleichheitswidrigen Bemessung entgegenzutreten (vgl. BT-Drs. 11/5948 S. 76 f.). Damit stünde eine Geltendmachung einzelner Kostenbestandteile trotz geltender angemessener Pauschalbeträge nicht im Einklang. Das gilt nicht nur für die Kosten der Pflege und Erziehung des Kindes (vgl. BVerwG, Beschluss vom 26. März 1999 - 5 B 129.98 - Buchholz 436.511 § 39 SGB VIII Kinder- und Jugendhilfegesetz Nr. 1), sondern auch für die angemessen pauschalierten Sachkosten. 27 cc) Die gemäß § 39 Abs. 4 Satz 3 i. V. m. § 39 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII festgesetzten und gewährten Pauschalsätze haben eine den Anspruch auf Sachkostenerstattung erfüllende Wirkung, soweit die Kosten als Faktor bei der Bemessung der Pauschalsätze tatsächlich berücksichtigt worden sind. 28 (1) Entgegen der Ansicht der Beklagten kann aus der gesetzlichen Regelung nicht der Schluss gezogen werden, der Pauschalbetrag sei stets in einem abschließenden Sinne als umfassende Deckung des Regelbedarfs anzusehen, weil alle typischen Bedarfe der gesetzlichen Wertung nach im Pauschalbetrag enthalten sein müssten. Vielmehr müssen die gemäß § 39 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII von den nach Landesrecht zuständigen Behörden festzusetzenden Pauschalbeträge auch dann, wenn es sich - wie hier bei den Beiträgen für die Kindertagesbetreuung des Pflegekindes - um typische Bedarfsbestandteile handelt, nicht solche Kostenpositionen abdecken, die sich einer sinnvollen Pauschalierung entziehen. Das folgt aus Wortlaut, Systematik sowie Sinn und Zweck der Regelung. Bereits das Wort "sollen" bringt zum Ausdruck, dass die Pauschalierungsverpflichtung nicht uneingeschränkt besteht und der Pauschalierungsbehörde hinsichtlich des "Ob" der Pauschalierung ein, wenn auch stark eingeschränktes Ermessen eingeräumt wird. Der Gesetzgeber wollte damit zum Ausdruck bringen, dass aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung und der Gewährleistung des Gleichbehandlungsgrundsatzes die am (gesamten) tatsächlichen Lebensbedarf orientierte Hilfe im Regelfall zu pauschalieren ist, also nicht notwendig alle Kostenpositionen von der Pauschalierung erfasst sein müssen (vgl. BT-Drs. 11/5948 S. 76). Das Absehen von der Pauschalierung kann mit Blick darauf etwa dann gerechtfertigt sein, wenn bestimmte Teile des Bedarfs dem Grunde oder der Höhe nach nicht typisierbar sind. Das Pauschalierungsgebot setzt voraus, dass sich die wiederkehrenden Bedarfe realitätsgerecht in den Pauschalen abbilden lassen. Denn für das Pauschalierungsgebot gilt der Wirklichkeitsmaßstab, wie sich aus dem binnensystematischen Zusammenhang mit § 39 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII erschließt, wonach die laufenden Leistungen auf der Grundlage der tatsächlichen Kosten gewährt werden. Ist dies nicht möglich, weil sich einzelne Bedarfsbestandteile zwar dem Grunde nach als typische Bedarfe darstellen, die entsprechenden Kostenbestandteile sich aber der Höhe nach nicht "typisch" bestimmen lassen, kann es gerechtfertigt sein, sie aus dem Pauschalansatz herauszunehmen. 29 Eine Erfüllungswirkung durch die Leistung von Pauschalbeträgen für den notwendigen Unterhalt des Kindes kommt deshalb nur dann in Betracht, wenn der gesondert beanspruchte Kostenbestandteil bei der Bemessung und Festsetzung des Pauschalbetrags auch berücksichtigt worden ist. Das folgt sowohl aus dem systematischen Zusammenhang des § 39 Abs. 4 Satz 3 i. V. m. § 39 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII mit § 39 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII als auch aus dem Sinn und Zweck des § 39 SGB VIII. Nach § 39 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII sollen die laufenden Leistungen auf der Grundlage der tatsächlichen Kosten gewährt werden, wenn sie einen angemessenen Umfang nicht übersteigen. Mit dieser Orientierung an den tatsächlichen Kosten wäre es nicht vereinbar, Kostenbestandteile als abgegolten zu betrachten, die in die Bemessung der Pauschalbeträge tatsächlich nicht eingeflossen sind. Das Gleiche gilt im Hinblick auf den Zweck des § 39 SGB VIII, den notwendigen Unterhalt des Pflegekindes außerhalb des Elternhauses sicherzustellen (BVerwG, Urteil vom 12. Dezember 2002 - 5 C 48.01 - BVerwGE 117, 261 <271>). Das trifft im Hinblick auf den Gleichbehandlungsgrundsatz jedenfalls dann zu, wenn eine Pauschalierung wegen der unterschiedlichen Höhe der zu berücksichtigenden Kosten gar nicht möglich ist, etwa weil die Kosten in einem großen Flächenland wie Nordrhein-Westfalen in besonderem Maße von den jeweiligen örtlichen Verhältnissen beeinflusst werden. So liegt es hier. 30 Nach den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen und daher für den Senat bindenden Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts entziehen sich die durch den Besuch der Tageseinrichtung bedingten regelmäßig wiederkehrenden Aufwendungen einer typisierenden Betrachtung, weil sich die von den Pflegeeltern zu leistenden Beiträge sowohl mit Blick auf das Alter bzw. Kindergartenjahr des Kindes als auch im Vergleich zwischen den Kommunen erheblich unterscheiden. Denn die Elternbeitragspflicht für die - nicht bereits von Gesetzes wegen beitragsfreie - Förderung in Kindertageseinrichtungen wird durch kommunale Satzungen geregelt, die weitgehend der Gestaltungsfreiheit der Kommunen unterliegen und zwischen mehreren Hundert Euro monatlich und der Beitragsfreiheit des Besuchs von Kindertageseinrichtungen durch Pflegekinder ebenso variieren wie hinsichtlich des Anknüpfungspunktes für die Berechnung der Beiträge. 31 (2) Vor diesem Hintergrund hat die Beklagte mit ihren Pauschalleistungen den Anspruch des Klägers gemäß § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII auf Zahlung der Kosten für die Kindertagesbetreuung des Pflegekindes noch nicht erfüllt, weil diese bei der Bemessung der Pauschalsätze nicht berücksichtigt wurden. Nach den für den Senat bindenden Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts sind die Elternbeiträge für Kindertagesstätten bei der Bemessung der Pauschalbeträge, die in den maßgeblichen Erlassen des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales festgesetzt waren, nicht berücksichtigt worden, sodass die Sperrwirkung des § 39 Abs. 4 Satz 3 i. V. m. § 39 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII hier nicht eingreift. Auf die von der Beklagten angegriffenen Erwägungen des Oberverwaltungsgerichts, dass hier die in § 39 Abs. 4 Satz 3 Halbs. 2 SGB VIII genannten "Besonderheiten des Einzelfalles" vorlägen, die eine Ausnahme von der grundsätzlichen Pauschalierungspflicht begründeten, kommt es insoweit nicht an. Die Ausnahme in § 39 Abs. 4 Satz 3 Halbs. 2 SGB VIII setzt wie dargelegt voraus, dass - auch hinsichtlich des geltend gemachten Bedarfs - tatsächlich pauschaliert worden ist. 32 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 188 Satz 2 Halbs. 1 VwGO.
bundesverwaltungsgericht
bverwg_2020-39
26.06.2020
Pressemitteilung Nr. 39/2020 vom 26.06.2020 EN Beihilfefähigkeit ärztlich verordneter empfängnisverhütender Mittel (Kontrazeptiva) zur Behandlung einer Krankheit Kontrazeptiva, deren arzneimittelrechtliche Zulassung auf die Empfängnisverhütung beschränkt ist, können nach der Sächsischen Beihilfeverordnung beihilfefähig sein, wenn sie aus Anlass einer Krankheit verordnet werden. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig heute entschieden. Die 1964 geborene Klägerin leidet an einem Uterusmyom mit Hypermenorrhoe, das mit Empfängnisverhütungsmitteln behandelt wurde, die den Wirkstoff Desogestrel enthalten. Unter der Therapie konnten das Myomwachstum gehemmt, die Blutungen auf ein Minimum reduziert und eine alternativ in Betracht zu ziehende Entfernung der Gebärmutter vermieden werden. Der beklagte Freistaat gewährte zunächst Beihilfe, lehnte dies aber 2014 für das neu verordnete Präparat "Jubrele" mit der Begründung ab, das Arzneimittel sei zwar zur Empfängnisverhütung zugelassen, nicht aber zur Therapie der Krankheit der Klägerin. Kontrazeptiva würden außerdem auch von Gesunden verwendet und seien daher der allgemeinen Lebenshaltung zuzurechnen. Die Klage der Klägerin hatte in beiden Vorinstanzen Erfolg. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Revision des Beklagten zurückgewiesen. Entgegen der Ansicht des Beklagten scheitert der Beihilfeanspruch nicht daran, dass nach der Sächsischen Beihilfeverordnung Aufwendungen für ärztlich verordnete Arzneimittel nur beihilfefähig sind, wenn diese bestimmt sind, durch Einwirkung auf den menschlichen Körper der Heilung oder Linderung einer Erkrankung zu dienen. Diese Zweckbestimmung kann im Einzelfall auch der verordnende Arzt auf der Grundlage seiner fachlichen Bewertung unabhängig von der arzneimittelrechtlichen Zulassung treffen. Kontrazeptiva sind außerdem nicht deshalb von der Beihilfefähigkeit ausgeschlossen, weil sie entsprechend einem beihilferechtlichen Ausschlussgrund der allgemeinen Lebenshaltung zuzurechnen sind. Nach einer diesem Ausschlussgrund vorgehenden Sonderregelung in der Sächsischen Beihilfeverordnung können empfängnisverhütende Arzneimittel unabhängig vom Alter der Beihilfeberechtigten beihilfefähig sein, wenn sie aus Anlass einer Krankheit verordnet werden. Auch die nach der Beihilfeverordnung weiterhin erforderliche medizinische Notwendigkeit der Behandlung mit dem Arzneimittel "Jubrele" war nach den das Bundesverwaltungsgericht bindenden Feststellungen der Vorinstanz gegeben. Diese hat unter Hinweis auf tatsächliche Ausführungen des Verwaltungsgerichts festgestellt, dass die Wirkungsweise und der Einsatz des Arzneimittels zu der konkreten Krankheitsbehandlung wissenschaftlichen Erkenntnissen entspreche und damit der therapeutische Nutzen erwiesen sei. BVerwG 5 C 4.19 - Urteil vom 26. Juni 2020 Vorinstanzen: OVG Bautzen, 2 A 361/17 - Urteil vom 15. Januar 2019 - VG Leipzig, 3 K 2219/14 - Urteil vom 27. Oktober 2016 -
Urteil vom 26.06.2020 - BVerwG 5 C 4.19ECLI:DE:BVerwG:2020:260620U5C4.19.0 EN Beihilfefähigkeit von aus Anlass einer Krankheit verordneten Empfängnisverhütungsmitteln Leitsatz: Kontrazeptiva, deren arzneimittelrechtliche Zulassung auf die Empfängnisverhütung beschränkt ist, können nach der Sächsischen Beihilfeverordnung beihilfefähig sein, wenn sie aus Anlass einer Krankheit verordnet werden. Rechtsquellen VwGO § 130b Satz 2, § 137 Abs. 2, § 154 Abs. 2, § 191 Abs. 2 BRRG § 127 Nr. 2 BeamtStG § 63 Abs. 3 Satz 2 SächsBhVO § 1 Abs. 2 und 6, § 2 Abs. 1, § 4 Abs. 3 Satz 1 und Abs. 4 Satz 1, § 21 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 und 3 und Abs. 3 Nr. 2, § 44 Abs. 3 Satz 2 AMG § 2 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, Abs. 3a und 4, § 21 GG Art. 3 Abs. 1, Art. 33 Abs. 5 Instanzenzug VG Leipzig - 27.10.2016 - AZ: VG 3 K 2219/14 OVG Bautzen - 15.01.2019 - AZ: OVG 2 A 361/17 Zitiervorschlag BVerwG, Urteil vom 26.06.2020 - 5 C 4.19 - [ECLI:DE:BVerwG:2020:260620U5C4.19.0] Urteil BVerwG 5 C 4.19 VG Leipzig - 27.10.2016 - AZ: VG 3 K 2219/14 OVG Bautzen - 15.01.2019 - AZ: OVG 2 A 361/17 In der Verwaltungsstreitsache hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 26. Juni 2020 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Störmer, die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Dr. Harms und Dr. Wittkopp, die Richter am Bundesverwaltungsgericht Holtbrügge und Preisner für Recht erkannt: Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 15. Januar 2019 wird zurückgewiesen. Der Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens. Gründe I 1 Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Beihilfe zu Aufwendungen für ein aus Anlass einer Krankheit verordnetes Empfängnisverhütungsmittel. 2 Die [...] geborene Klägerin ist Beamtin im Dienst des Beklagten. Sie leidet an einem Uterusmyom mit Hypermenorrhoe, das seit 2011 mit Empfängnisverhütungsmitteln behandelt wurde. Unter der Therapie konnten das Myomwachstum gehemmt und die Blutungen auf ein Minimum reduziert sowie eine Entfernung der Gebärmutter vermieden werden. Der beklagte Freistaat gewährte zunächst Beihilfe zu den Aufwendungen für das Kontrazeptivum, lehnte dies aber mit Bescheid vom 12. Mai 2014 für ein neu verordnetes Präparat ab. 3 Die nach erfolglos durchgeführtem Widerspruchsverfahren erhobene Klage hatte in beiden Vorinstanzen Erfolg. Das Oberverwaltungsgericht hat zur Begründung ausgeführt, es komme entgegen den Ausführungen in den ablehnenden Bescheiden für die in § 21 Abs. 2 Satz 1 SächsBhVO vorausgesetzte "Bestimmung zur Krankheitsbehandlung" auf die Bestimmung durch den verordnenden Arzt und nicht auf die arzneimittelrechtliche Zulassung an. Die Verordnung des Kontrazeptivums sei auch medizinisch notwendig und die Behandlung der Krankheit der Klägerin damit entspreche wissenschaftlichen Erkenntnissen. Aufwendungen für Kontrazeptiva seien von der Beihilfegewährung nicht ausgeschlossen, weil sie der allgemeinen Lebenshaltung zuzurechnen seien, wenn sie aus Anlass einer Krankheit verordnet würden. 4 Hiergegen wendet sich der Beklagte mit seiner Revision. Er macht sinngemäß insbesondere geltend, das verordnete Präparat sei ausschließlich zur Empfängnisverhütung zugelassen, was maßgeblich für die Zweckbestimmung gemäß § 21 Abs. 2 Satz 1 SächsBhVO sei. Das Sächsische Beamtengesetz unterscheide zwischen "Erkrankungen" und "Empfängnisverhütung", eine mit der Therapiehoheit des Arztes begründete zulassungsüberschreitende Anwendung eines Arzneimittels (Off-Label-Use) sei allenfalls innerhalb einer dieser Kategorien möglich. Der Beihilfegewährung stehe ferner entgegen, dass Kontrazeptiva der allgemeinen Lebenshaltung zuzurechnen seien. 5 Die Klägerin verteidigt die angegriffene Entscheidung. II 6 Die Revision ist nicht begründet. Das angefochtene Urteil des Oberverwaltungsgerichts steht mit revisiblem Landesrecht (§ 191 Abs. 2 VwGO, § 127 Nr. 2 BRRG i.V.m. § 63 Abs. 3 Satz 2 BeamtStG; vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 10. Oktober 2013 - 5 C 32.12 - BVerwGE 148, 106 Rn. 8) in Einklang. Das Oberverwaltungsgericht hat zu Recht entschieden, dass die Klägerin Beihilfe zu den Aufwendungen für ein Kontrazeptivum beanspruchen kann, dessen arzneimittelrechtliche Zulassung auf die Empfängnisverhütung beschränkt ist, wenn es ihr aus Anlass einer Krankheit verordnet wurde. 7 Gemäß § 21 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung des Sächsischen Staatsministeriums der Finanzen über die Gewährung von Beihilfe in Krankheits-, Pflege-, Geburts- und sonstigen Fällen (Sächsische Beihilfeverordnung - SächsBhVO) vom 16. November 2012 (SächsGVBl. S. 626) in der - hier maßgeblichen (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 8. November 2012 - 5 C 4.12 - Buchholz 270.1 § 22 BBhV Nr. 1 Rn. 12) - Fassung der Verordnung vom 30. Oktober 2013 (SächsGVBl. S. 851) sind Aufwendungen für von einem Arzt, Zahnarzt oder Heilpraktiker aus Anlass einer Krankheit schriftlich verordnete Arzneimittel beihilfefähig, wenn diese bestimmt sind, durch Einwirkung auf den menschlichen Körper der Heilung oder Linderung einer Erkrankung oder der Erkennung eines Krankheitsbildes zu dienen. 8 Die Klägerin hat danach einen Anspruch auf die Gewährung von Beihilfe zu den Aufwendungen für das ihr verordnete Empfängnisverhütungsmittel. Zwischen den Beteiligten ist zu Recht nicht streitig, dass es sich bei dem Präparat um ein Arzneimittel im Sinne des § 21 Abs. 1 SächsBhVO handelt, das der Klägerin von einem Arzt aus Anlass einer Krankheit verordnet wurde. Nach den den Senat bindenden (§ 137 Abs. 2 VwGO) Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts erfolgte die Verordnung "ausschließlich zur Behandlung einer Krankheit" (UA S. 12). Streitig ist allein, ob das Präparat, das arzneimittelrechtlich nur zur Empfängnisverhütung zugelassen ist, im Sinne des § 21 Abs. 2 Satz 1 SächsBhVO dazu bestimmt ist, durch Einwirkung auf den menschlichen Körper der Heilung oder Linderung einer Erkrankung oder der Erkennung eines Krankheitsbildes zu dienen (1.), ob es als der allgemeinen Lebenshaltung zuzurechnendes Arzneimittel nach § 21 Abs. 3 Nr. 2 SächsBhVO von der Beihilfefähigkeit ausgeschlossen ist (2.) und ob es nach § 4 Abs. 3 Satz 1, Abs. 4 Satz 1 SächsBhVO medizinisch notwendig ist (3.). 9 1. Das der Klägerin verordnete Kontrazeptivum ist im Sinne von § 21 Abs. 2 Satz 1 SächsBhVO dazu bestimmt, durch Einwirkung auf den menschlichen Körper der Heilung oder Linderung einer Erkrankung oder der Erkennung eines Krankheitsbildes zu dienen. Voraussetzung dafür ist nicht, dass das Arzneimittel zu diesem Zweck arzneimittelrechtlich zugelassen ist. Die Bestimmung kann auch von dem verordnenden Arzt vorgenommen werden. 10 Der Wortlaut der Vorschrift enthält keine Aussage dazu, wer die erforderliche Zweckbestimmung vorzunehmen hat und ist insoweit offen. Binnensystematisch spricht das Verhältnis von Abs. 2 Satz 1 zu Abs. 1 des § 21 SächsBhVO dafür, dass es maßgeblich auf die ärztliche Zweckbestimmung ankommt. § 21 Abs. 1 SächsBhVO verweist für den Arzneimittelbegriff auf die entsprechende Begriffsbestimmung des Arzneimittelgesetzes und dabei neben § 2 Abs. 4 AMG ausdrücklich auch auf § 2 Abs. 1, 2 Nr. 1, Abs. 3a AMG. Diesen Bestimmungen liegt ein weiter Arzneimittelbegriff zu Grunde, der eine arzneimittelrechtliche Zulassung nicht voraussetzt. Diese Bezugnahme auf einen weiten Arzneimittelbegriff würde durch das Erfordernis einer ausschließlich durch die arzneimittelrechtliche Zulassung festgelegten Zweckbestimmung gleichsam konterkariert, weil darin zugleich eine Beschränkung der Beihilfefähigkeit allein auf arzneimittelrechtlich zugelassene Arzneimittel läge. Eine solche Beschränkung wäre im Übrigen nicht mit der beamtenrechtlichen Fürsorgepflicht des Dienstherrn (Art. 33 Abs. 5 GG) zu vereinbaren, weil sie sowohl Fertigarzneimittel, die keiner arzneimittelrechtlichen Zulassung bedürfen, als auch individuell zubereitete Arzneimittel generell von der Beihilfegewährung ausschlösse. Die Anforderungen an die Vornahme der Zweckbestimmung lassen sich auch nicht danach differenzieren, ob ein Arzneimittel einer arzneimittelrechtlichen Zulassung bedarf oder nicht, weil es dafür an einem normativen Anknüpfungspunkt fehlt. Gesamtsystematisch wird dieses Verständnis dadurch bestätigt, dass der Verordnungsgeber bei Verweisungen stets sehr präzise auf bestimmte Normen (vgl. etwa die Verweisungen in § 1 Abs. 2 und 6, § 2 Abs. 1 SächsBhVO) und so auch auf das Arzneimittelgesetz (vgl. § 21 Abs. 1 und § 22 Abs. 1 SächsBhVO) Bezug nimmt. Wenn er die Beihilfefähigkeit auf zugelassene Arzneimittel hätte beschränken wollen, hätte er - seinem Normsetzungskonzept folgend - nur auf § 2 Abs. 4 AMG, der ausschließlich arzneimittelrechtlich zugelassene Arzneimittel betrifft, oder die in § 21 AMG geregelte Zulassungspflicht verwiesen. 11 Dass es für die verlangte Zweckbestimmung nicht auf die arzneimittelrechtliche Zulassung ankommt, sondern diese von dem behandelnden Arzt im Einzelfall vorgenommen werden kann, ist ferner mit großer Deutlichkeit aus der von dem Beklagten vorgelegten Verordnungsbegründung (S. 19) und dem sich daraus ergebenden Sinn und Zweck des § 21 Abs. 2 Satz 1 SächsBhVO zu entnehmen. Dort heißt es zu § 21 Abs. 2 SächsBhVO: "Es wird die Beihilfefähigkeit der Arzneimittel geregelt. [...] Die Beihilfefähigkeit setzt die Bestimmung des Arzneimittels zur Krankheitsbehandlung voraus. Nicht erforderlich ist demgegenüber die arzneimittelrechtliche Zulassung des Arzneimittels zur Behandlung der diagnostizierten Krankheit. Aufgrund der in den Vordergrund zu stellenden Therapiehoheit des Arztes, Zahnarztes oder Heilpraktikers sollen damit auch Arzneimittel im sogenannten 'Off-Label-Use' (zulassungsüberschreitende Anwendung) erstattungsfähig sein. [...]". 12 Damit wird die Möglichkeit einer zulassungsüberschreitenden Anwendung eines Arzneimittels vom Verordnungsgeber beihilferechtlich anerkannt. Ausdrücklich ist dies zwar nur für den Fall angesprochen, dass das Arzneimittel nicht zur Behandlung der "diagnostizierten" Krankheit zugelassen ist. Soweit der Beklagte geltend macht, dass sich aus der arzneimittelrechtlichen Zulassung zumindest eine Bestimmung zu (irgendeiner) Krankheitsbehandlung (und nicht nur zur Empfängnisverhütung) ergeben müsse, findet sich aber in Wortlaut, Systematik und Begründung der Verordnung kein Hinweis auf ein solches Erfordernis. Sein weiterer Einwand, ohne arzneimittelrechtliche Zulassung zur Krankheitsbehandlung fehle der Nachweis des therapeutischen Nutzens, betrifft nicht die Frage der Zweckbestimmung, sondern des Vorliegens der allgemeinen Voraussetzungen für die Gewährung einer Beihilfe, nämlich der medizinischen Notwendigkeit nach § 4 Abs. 3 Satz 1, Abs. 4 Satz 1 SächsBhVO. 13 2. Kontrazeptiva, die zur Behandlung einer Krankheit verordnet werden, sind nicht nach § 21 Abs. 3 SächsBhVO von der Beihilfefähigkeit ausgeschlossen. Danach sind Aufwendungen für Arzneimittel, die der allgemeinen Lebenshaltung zuzurechnen sind, nicht beihilfefähig (Nr. 2 Satz 1). Das ist der Fall, wenn das Arzneimittel nach seiner objektiven Zweckbestimmung üblicherweise auch von Gesunden benutzt wird (Nr. 2 Satz 2). 14 Der Wortlaut des § 21 Abs. 3 Nr. 2 SächsBhVO erfasst zwar Empfängnisverhütungsmittel, weil diese üblicherweise auch von Gesunden benutzt werden. Die Regelung ist aber auf Kontrazeptiva, die aus Anlass einer Krankheit verordnet werden, nicht anwendbar. Denn die Beihilfefähigkeit von Empfängnisverhütungsmitteln, die zur Behandlung einer Krankheit verordnet werden, folgt aus § 21 Abs. 2 Satz 3 und § 44 Abs. 3 Satz 2 SächsBhVO, die dem § 21 Abs. 3 Nr. 2 SächsBhVO als lex specialis vorgehen. Gemäß § 21 Abs. 2 Satz 3 SächsBhVO richtet sich die Beihilfefähigkeit für empfängnisverhütende Arzneimittel, die nicht aus Anlass einer Krankheit verordnet werden, ausschließlich nach § 44 Abs. 3 Satz 2 SächsBhVO. Danach sind Aufwendungen für von einem Arzt schriftlich verordnete hormonelle Kontrazeptiva und Intrauterinpessare bei Personen bis zum vollendeten zwanzigsten Lebensjahr auch dann beihilfefähig, wenn die Verordnung nicht aus Anlass einer Krankheit erfolgt. Beide Regelungen setzen die Beihilfefähigkeit der Aufwendungen für aus Anlass einer Krankheit verordnete Kontrazeptiva voraus. Aus ihnen ergibt sich daher ohne Weiteres im Umkehrschluss, dass Aufwendungen für aus Anlass einer Krankheit verordnete Kontrazeptiva beihilfefähig sein sollen, unabhängig davon, ob dies vor oder nach Vollendung des 20. Lebensjahres geschieht. Überdies wäre es fraglich, ob im Hinblick auf Kontrazeptiva, die aus Anlass einer Krankheit verordnet werden, eine Altersdifferenzierung vor dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG Bestand haben könnte. 15 Wie das Oberverwaltungsgericht zu Recht ergänzend anmerkt, wäre es jedenfalls nicht mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar, wenn Aufwendungen für Empfängnisverhütungsmittel, die zur Behandlung einer Krankheit eingesetzt werden, generell von der Beihilfefähigkeit ausgeschlossen würden. Die Gründe, die den Beihilfeausschluss der Aufwendungen für Kontrazeptiva rechtfertigen, die ausschließlich zur Empfängnisverhütung verordnet wurden, sind nicht geeignet, einen darüber hinausgehenden Ausschluss bei der Verordnung dieser Mittel für die Behandlung von Krankheiten zu tragen. Der Beihilfeausschluss kann in diesen Fällen auch nicht mit dem Gesichtspunkt der Missbrauchsgefahr begründet werden, weil die Beihilfestellen Täuschungsversuchen mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln der Sachaufklärung wirkungsvoll begegnen können, ohne dass dies mit einem unzumutbar hohen Verwaltungsaufwand verbunden wäre (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Februar 2009 - 2 C 23.08 - Buchholz 270 § 6 BhV Nr. 18 Rn. 16 ff.). 16 3. Die Verordnung des Kontrazeptivums zur Behandlung des Uterusmyoms der Klägerin genügt auch den Anforderungen des § 4 Abs. 3 Satz 1, Abs. 4 Satz 1 SächsBhVO. Danach sind nur Aufwendungen für medizinisch notwendige und wirtschaftlich angemessene Maßnahmen nach Maßgabe der Verordnung beihilfefähig, deren Wirksamkeit und therapeutischer Nutzen nachgewiesen sind und für die die Beihilfefähigkeit nicht ausdrücklich ausgeschlossen ist (§ 4 Abs. 3 Satz 1 SächsBhVO). Die Notwendigkeit von Aufwendungen für Untersuchungen und Behandlungen, einschließlich der hierbei verordneten Arzneimittel und Medizinprodukte, setzt außerdem voraus, dass diese nach einer wissenschaftlich allgemein anerkannten Methode vorgenommen werden (§ 4 Abs. 4 Satz 1 SächsBhVO). 17 Die medizinische Notwendigkeit als Voraussetzung für die Beihilfegewährung ist ein der gerichtlichen Überprüfung voll zugänglicher unbestimmter Rechtsbegriff. Aufwendungen in Krankheitsfällen sind danach dem Grunde nach notwendig, wenn sie für eine medizinisch gebotene Behandlung entstanden sind, die der Wiedererlangung der Gesundheit, der Besserung oder Linderung von Leiden, der Beseitigung oder dem Ausgleich körperlicher oder geistiger Beeinträchtigungen dient (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 22. August 2018 - 5 B 3.18 - ZBR 2019, 202 Rn. 9 m.w.N.). Eine Behandlungsmethode ist wissenschaftlich anerkannt, wenn sie von der herrschenden oder doch überwiegenden Meinung in der medizinischen Wissenschaft für eine Behandlung der Krankheit als wirksam und geeignet angesehen wird (stRspr, vgl. z.B. BVerwG, Urteile vom 29. Juni 1995 - 2 C 15.94 - Buchholz 271 LBeihilfeR Nr. 15 S. 6 ff. und vom 18. Juni 1998 - 2 C 24.97 - Buchholz 270 § 6 BhV Nr. 10 S. 4 f.; Beschluss vom 15. Juli 2008 - 2 B 44.08 - juris Rn. 4, jeweils m.w.N.). Ob eine bestimmte Methode zur Behandlung von Krankheiten von der jedenfalls überwiegenden Meinung in der medizinischen Wissenschaft als wirksam und geeignet angesehen wird, betrifft den Bereich der Tatsachen, nicht die rechtliche Würdigung (BVerwG, Beschluss vom 24. November 2004 - 2 B 65.04 - juris Rn. 7). 18 Nach den den Senat gemäß § 137 Abs. 2 VwGO bindenden Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts war die Verordnung des Kontrazeptivums hier zur Behandlung des Uterusmyoms der Klägerin medizinisch geboten und daher notwendig. Bei der Behandlung eines Uterusmyoms mit Empfängnisverhütungsmitteln der hier verordneten Art handelt es sich nach seinen weiteren Feststellungen, die insoweit gemäß § 130b Satz 2 VwGO auf die Feststellungen des erstinstanzlichen Urteils Bezug nehmen, außerdem um eine wissenschaftlich allgemein anerkannte Methode. Im Revisionsverfahren sind keine Gesichtspunkte zu Tage getreten, die die Einschätzung des Oberverwaltungsgerichts, die Voraussetzungen des § 4 Abs. 3 Satz 1, Abs. 4 Satz 1 SächsBhVO seien erfüllt, in revisionsrechtlich erheblicher Weise in Frage stellen. 19 4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
bundesverwaltungsgericht
bverwg_2022-9
26.01.2022
Pressemitteilung Nr. 9/2022 vom 26.01.2022 EN Grundwasserentnahmeentgelt für die Hebung von Grubenwasser im Saarland rechtmäßig Die Festsetzung eines Grundwasserentnahmeentgelts für die Hebung von Grubenwasser im Saarland ist auch nach Beendigung der aktiven Steinkohleförderung rechtmäßig. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig heute entschieden. Der Klägerin förderte bis Mitte 2012 Steinkohle und entrichtete für die Grubenwasserhaltung ein jährliches Entgelt nach § 1 Abs. 1 des Saarländischen Grundwasserentnahmeentgeltgesetzes (GwEEG). Auch nach Beendigung der aktiven Abbautätigkeit führte die Klägerin die Grubenwasserhaltung an fünf Standorten auf der Grundlage von zugelassenen Hauptbetriebsplänen fort; hierzu verfügte sie über die erforderlichen wasserrechtlichen Erlaubnisse. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 29. Januar 2015 setzte der Beklagte für das Veranlagungsjahr 2014 hierfür ein Entgelt in Höhe von knapp 500 000 € fest. Während Widerspruch und Klage erfolglos geblieben waren, gab das Oberverwaltungsgericht des Saarlandes der Berufung der Klägerin statt und hob den Festsetzungsbescheid auf. Zur Begründung stützte es sich auf zwei Erwägungen: Der Entgelttatbestand des § 1 Abs. 1 GwEEG bedürfe einer verfassungskonformen Auslegung dahin, dass sich aus der Benutzung des Grundwassers - als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal - ein werthaltiger Sondervorteil im Sinne eines wirtschaftlichen Vorteils ergeben müsse. Davon unabhängig greife zugunsten der Klägerin der Ausnahmetatbestand des § 1 Abs. 2 Nr. 1 GwEEG in analoger Anwendung ein. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts abgeändert und das erstinstanzliche Urteil im Ergebnis bestätigt. Nach der Finanzverfassung des Grundgesetzes können nichtsteuerliche Abgaben, zu denen Wasserentnahmeentgelte zählen, insbesondere zur Vorteilsabschöpfung erhoben werden. Der verfassungsrechtliche Vorteilsbegriff ist dabei nicht auf wirtschaftliche Vorteile beschränkt. Bei der Erhebung eines Wasserentnahmeentgelts kann der erforderliche Sondervorteil bereits in der privilegierten Teilhabe an der knappen natürlichen Ressource Wasser als einem Gut der Allgemeinheit bestehen, das einer öffentlich-rechtlichen Benutzungsordnung unterliegt. Im Fall der Klägerin genügte daher für die Entgeltpflicht der erlaubte Zugriff auf das Grundwasser, der es ihr ermöglichte, die Vorgaben ihres zugelassenen Hauptbetriebsplans zur Wasserhaltung zu erfüllen. Auf den Umstand, dass die Klägerin im Veranlagungsjahr 2014 an den betreffenden Bergbaustandorten keinen Gewinn mehr erzielte, kam es nicht an. Die vom Berufungsgericht angenommene Ausnahme von der Entgeltpflicht analog § 1 Abs. 2 Nr. 1 GwEEG geht von einem fehlerhaften Verständnis der bergrechtlichen Pflichtenstellung der Klägerin aus. Die Fortführung der Grubenwasserhaltung erfolgte nicht vorrangig aus Gründen des Gemeinwohls oder ausschließlich aus Gründen der vorbeugenden Gefahrenabwehr, wie das Berufungsgericht angenommen hat, sondern aufgrund ihrer freien und privatnützigen unternehmerischen Entscheidung. Fußnote: § 1 GwEEG lautet auszugsweise: (1) Das Land erhebt von dem Benutzer für das Entnehmen, Zutagefördern, Zutageleiten und Ableiten von Grundwasser ein Grundwasserentnahmeentgelt. (2) Das Entgelt wird nicht erhoben für 1. behördlich angeordnete Benutzungen im Sinne von § 19a des Saarländischen Wassergesetzes, 2. (...) BVerwG 9 C 5.20 - Urteil vom 26. Januar 2022 Vorinstanzen: OVG Saarlouis, OVG 1 A 785/17 - Urteil vom 19. Dezember 2019 - VG Saarlouis, VG 5 K 814/15 - Urteil vom 13. September 2017 -
Urteil vom 26.01.2022 - BVerwG 9 C 5.20ECLI:DE:BVerwG:2022:260122U9C5.20.0 EN Grundwasserentnahmeentgelt für Grubenwasserhaltung Leitsatz: Die Erlaubnis zur Grundwasserentnahme vermittelt einen durch die Erhebung eines Wasserentnahmeentgelts abschöpfbaren Sondervorteil auch dann, wenn die Hebung von Grubenwasser aufgrund eines zugelassenen Hauptbetriebsplans nach dem Ende der aktiven Steinkohleförderung fortgeführt wird. Rechtsquellen GG Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3, Art. 3 Abs. 1, Art. 104a ff. BBergG § 4 Abs. 2, Abs. 8, § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 1, § 54 Abs. 1, § 55 Abs. 2, § 69 Abs. 2 Saarländisches Grundwasserentnahmeentgeltgesetz §§ 1 ff. Saarländisches Wassergesetz § 19a Instanzenzug VG Saarlouis - 13.09.2017 - AZ: 5 K 814/15 OVG Saarlouis - 19.12.2019 - AZ: 1 A 785/17 Zitiervorschlag BVerwG, Urteil vom 26.01.2022 - 9 C 5.20 - [ECLI:DE:BVerwG:2022:260122U9C5.20.0] Urteil BVerwG 9 C 5.20 VG Saarlouis - 13.09.2017 - AZ: 5 K 814/15 OVG Saarlouis - 19.12.2019 - AZ: 1 A 785/17 In der Verwaltungsstreitsache hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 26. Januar 2022 durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Bick, die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Martini und Dr. Dieterich sowie die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Sieveking und Prof. Dr. Schübel-Pfister für Recht erkannt: Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes vom 19. Dezember 2019 wird geändert. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Saarlandes vom 13. September 2017 wird zurückgewiesen. Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens. Gründe I 1 Die Klägerin unterhält einen Bergbaubetrieb. Sie wendet sich gegen die Festsetzung eines Grundwasserentnahmeentgelts für die Hebung von Grubenwasser. 2 Die Klägerin förderte bis Ende Juni 2012 Steinkohle im Saarland und entrichtete für die Grubenwasserhaltung seit 2008 ein jährliches Entgelt nach dem Saarländischen Grundwasserentnahmeentgeltgesetz (im Folgenden: GwEEG). Auch nach Beendigung der aktiven Abbautätigkeit führte die Klägerin die Grubenwasserhaltung an fünf Standorten auf der Grundlage zugelassener Hauptbetriebspläne fort; hierzu verfügte sie über die erforderlichen wasserrechtlichen Erlaubnisse. Das Wasser wurde wie zur Zeit des aktiven Kohleabbaus von der Grube nach über Tage gepumpt oder gehoben und sodann größtenteils ohne Nutzung in Oberflächengewässer geleitet. 3 Mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 29. Januar 2015 setzte der Beklagte für das Veranlagungsjahr 2014 ein Entgelt in Höhe von 490 966,14 € für die Hebung von Grubenwasser an den fünf Wasserhaltungsstandorten fest. Die Klägerin erhob gegen den Festsetzungsbescheid nach erfolglosem Widerspruchsverfahren Klage mit der Begründung, dass die Grubenwasserhaltung nach dem Ende des aktiven Steinkohlebergbaus für sie keinen betrieblichen Nutzen mehr habe. Die Grubenwasserhaltung erfolge nunmehr ausschließlich im Gemeinwohlinteresse und verschaffe ihr keinen Sondervorteil. Im Übrigen könnte die Wasserhaltung, wenn sie nicht freiwillig durchgeführt würde, sicherheitsbehördlich angeordnet werden, was eine Entgeltfreiheit zur Folge hätte. Das Verwaltungsgericht wies die Klage mit Urteil vom 13. September 2017 ab und ließ die Berufung gegen sein Urteil zu. 4 Mit Urteil vom 19. Dezember 2019 hob das Oberverwaltungsgericht den Festsetzungsbescheid auf. Zur Begründung stützte es sich auf zwei Erwägungen: Der an sich erfüllte Entgelttatbestand des § 1 Abs. 1 GwEEG bedürfe einer verfassungskonformen Auslegung dahingehend, dass sich aus der Benutzung des Grundwassers - als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal - ein werthaltiger Sondervorteil im Sinne eines wirtschaftlichen Vorteils ergeben müsse. Diese Voraussetzung sei im Erhebungsjahr 2014 nicht erfüllt; vielmehr stelle die Hebung und Ableitung des Grubenwassers einen Nachteil dar, dem sich die Klägerin nicht entziehen könne. Ungeachtet dessen greife zugunsten der Klägerin der Ausnahmetatbestand des § 1 Abs. 2 Nr. 1 GwEEG in analoger Anwendung ein. Zwar liege eine behördliche Anordnung zur Fortführung der Grubenwasserhaltung nicht vor. Die Klägerin sei aber auf der Grundlage bergrechtlicher Bestimmungen aus Gründen des Gemeinwohls bzw. der vorbeugenden Gefahrenabwehr zur Fortführung der Grubenwasserhaltung verpflichtet, solange ein Abschlussbetriebsplan nicht aufgestellt sei. Dies sei mit einer behördlich angeordneten Benutzung gleichbedeutend und rechtfertige daher eine analoge Anwendung des Ausnahmetatbestands. 5 Zur Begründung seiner vom Senat zugelassenen Revision trägt der Beklagte vor, das Berufungsgericht lege eine falsche Bewertung der berg- und wasserrechtlichen Pflichtenstellung der Klägerin zugrunde. Die Klägerin hebe das Grubenwasser nicht aus Gründen der Gefahrenabwehr, sondern aufgrund der von ihr selbst in freier unternehmerischer Entscheidung aufgestellten Hauptbetriebspläne für den nach wie vor geführten Gewinnungsbetrieb. Zudem beruhe die verfassungskonforme Auslegung des Entgelttatbestandes auf einem unzutreffenden Verständnis der Werthaltigkeit eines Sondervorteils. 6 Der Beklagte beantragt, das Urteil des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes vom 19. Dezember 2019 zu ändern und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Saarlandes vom 13. September 2017 zurückzuweisen. 7 Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen. 8 Sie verteidigt die angegriffene Entscheidung. II 9 Die zulässige Revision des Beklagten ist begründet. Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts beruht in beiden selbstständig tragenden Begründungssträngen auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Dies gilt sowohl für die vom Gericht vorgenommene verfassungskonforme Auslegung des Entgelttatbestands nach § 1 Abs. 1 des Gesetzes über die Erhebung eines Grundwasserentnahmeentgelts (Saarländisches Grundwasserentnahmeentgeltgesetz - GwEEG) (1.) als auch für die analoge Anwendung des Ausnahmetatbestands des § 1 Abs. 2 Nr. 1 GwEEG (2.). Da sich die Entscheidung nicht gemäß § 144 Abs. 4 VwGO aus anderen Gründen als richtig darstellt (3.) und das Bundesverwaltungsgericht nach § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO in der Sache selbst entscheiden kann (4.), ist das Berufungsurteil zu ändern und die Berufung der Klägerin gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen. 10 1. Bundesrecht verletzt zunächst die Annahme des Berufungsgerichts, die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 GwEEG lägen nach Maßgabe einer an den finanzverfassungsrechtlichen Anforderungen an eine nichtsteuerliche Abgabe orientierten und dem Grundsatz der Gleichbehandlung aus Art. 3 Abs. 1 GG sowie dem Äquivalenzprinzip Rechnung tragenden verfassungskonformen Auslegung des Entgelttatbestands nicht vor. 11 Nach § 1 Abs. 1 GwEEG erhebt das Land von dem Benutzer für das Entnehmen, Zutagefördern, Zutageleiten und Ableiten von Grundwasser ein Grundwasserentnahmeentgelt. Die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, aus der Benutzung des Grundwassers müsse sich - als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal - ein werthaltiger Sondervorteil für den Abgabepflichtigen ergeben, legt ein zu enges Verständnis des Begriffs der Werthaltigkeit zugrunde und steht mit dem finanzverfassungsrechtlichen Vorteilsbegriff nicht in Einklang (a). Die auf dem zu engen Begriffsverständnis beruhende Annahme eines Verstoßes gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz und das Äquivalenzprinzip trifft daher ebenfalls nicht zu (b). Auf die Frage, ob sich die Abgabenerhebung auch durch die Verfolgung von Lenkungszwecken rechtfertigen lässt, kommt es damit nicht mehr an (c). 12 a) Es besteht kein verfassungsrechtliches Erfordernis für die vom Oberverwaltungsgericht vorgenommene Verengung des Vorteilsbegriffs auf wirtschaftliche Vorteile (aa). Die der Klägerin erlaubte Zugriffsmöglichkeit auf die staatlich bewirtschaftete Ressource Wasser begründet für sie einen abschöpfbaren Sondervorteil (bb). Ob darüber hinaus ein wirtschaftlicher Vorteil bei der Klägerin vorliegt, bedarf daher keiner Entscheidung (cc). 13 aa) Das Berufungsurteil beruht auf einer Verkennung der einschlägigen verfassungsrechtlichen Maßstäbe. 14 (1) Nach der - nicht zuletzt anhand von Wasserentnahmeentgelten entwickelten - Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bedarf die Erhebung nichtsteuerlicher Abgaben mit Blick auf die Begrenzungs- und Schutzfunktion der Finanzverfassung (Art. 104a ff. GG) sowie zur Wahrung der Belastungsgleichheit der Abgabepflichtigen sowohl dem Grunde als auch der Höhe nach einer über die Zwecke der Einnahmeerzielung hinausgehenden besonderen sachlichen Rechtfertigung (grundlegend zum "Wasserpfennig" BVerfG, Beschluss vom 7. November 1995 - 2 BvR 413/88 - BVerfGE 93, 319 <342 f.>; zu Verwaltungsgebühren BVerfG, Beschluss vom 17. Januar 2017 - 2 BvL 2/14 u.a. - BVerfGE 144, 369 Rn. 62). Als sachliche Gründe sind nach ständiger Rechtsprechung Lenkungszwecke, soziale Zwecke sowie Zwecke des Vorteilsausgleichs bzw. der Vorteilsabschöpfung anerkannt (vgl. nur BVerfG, Urteil vom 19. März 2003 - 2 BvL 9/98 u.a. - BVerfGE 108, 1 <13>). 15 Der verfassungsrechtliche Vorteilsbegriff ist dabei nicht auf wirtschaftliche Vorteile beschränkt; vielmehr kommen tatsächliche, rechtliche und ideelle Vorteile aller Art in Betracht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 11. August 1998 - 1 BvR 1270/94 - NVwZ 1999, 176 <177>). In seiner Leitentscheidung zum "Wasserpfennig" hat das Bundesverfassungsgericht herausgestellt, dass der abzuschöpfende Vorteil bei einer solchen Abgabe in der privilegierten Teilhabe an der knappen natürlichen Ressource Wasser als einem Gut der Allgemeinheit besteht, das einer öffentlich-rechtlichen Benutzungsordnung unterliegt (BVerfG, Beschluss vom 7. November 1995 - 2 BvR 413/88 - BVerfGE 93, 319 <345 f.> und Ls. 2; vgl. weiter BVerfG, Beschluss vom 18. Dezember 2002 - 2 BvR 591/95 - NVwZ 2003, 467 <469 f.>). Es ist sachlich gerechtfertigt, diesen Vorteil ganz oder teilweise abzuschöpfen, wobei die Abschöpfung nach dem tatsächlichen Umfang erfolgen kann (BVerfG, Beschlüsse vom 20. Januar 2010 - 1 BvR 1801/07 - NVwZ 2010, 831 <833 f.> und vom 16. April 2020 - 1 BvR 173/16 - NVwZ 2021, 56 Rn. 43). 16 (2) Diesen verfassungsrechtlichen Vorteilsbegriff legt auch das Bundesverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung zugrunde (vgl. zuletzt BVerwG, Urteil vom 29. April 2021 - 9 C 1.20 - NVwZ 2021, 1466 Rn. 16). Bei Wasserentnahmeentgelten besteht der relevante Sondervorteil für die Abgabenschuldner - gegenüber all jenen, die das betreffende Gut nicht oder nicht in gleichem Umfang nutzen dürfen - bereits darin, dass ihnen durch die wasserrechtliche Erlaubnis die Möglichkeit der Wasserentnahme und damit die Teilhabe an der knappen, staatlich bewirtschafteten Ressource Wasser eröffnet wird (vgl. auch Gawel, DVBl 2011, 1000 <1002, 1004>). Unerheblich ist deshalb, ob das geförderte Grundwasser wirtschaftlich verwertet oder ungenutzt abgeleitet wird (BVerwG, Urteil vom 28. Juni 2007 - 7 C 3.07 - Buchholz 445.4 § 3 WHG Nr. 5 Rn. 27; Beschluss vom 29. Oktober 2007 - 7 B 36.07 - juris Rn. 9). 17 Diese Rechtsprechung hat der Senat in jüngerer Zeit in einem Urteil betreffend das Zutagefördern und Ableiten von ansonsten nicht genutztem Grundwasser (sog. Sümpfungswasser) zum Zweck der Braunkohleförderung bestätigt (BVerwG, Urteil vom 16. November 2017 - 9 C 16.16 - BVerwGE 160, 354). Der damalige Fall war dadurch gekennzeichnet, dass die Grundwasserentnahme als vorgelagerte Tätigkeit zur Ermöglichung der späteren Braunkohlegewinnung erforderlich war, mithin den notwendigen Bestandteil einer Wertschöpfungskette bildete. Insoweit stellte sich das Gebrauchmachen von der wasserrechtlichen Erlaubnis als werthaltiger Sondervorteil dar (BVerwG, Urteil vom 16. November 2017 - 9 C 16.16 - a.a.O. Rn. 19). Dass sich aus der Erlaubniserteilung in jedem Fall ein solcher wirtschaftlicher Vorteil ergeben müsse, um die Abgabenerhebung zu rechtfertigen, wurde in der genannten Entscheidung nicht zum Ausdruck gebracht. 18 (3) Demgegenüber hält das Oberverwaltungsgericht zu Unrecht eine verfassungskonforme Auslegung des - einschränkungslos formulierten - Entgelttatbestands nach § 1 Abs. 1 GwEEG dahingehend für geboten, dass das Vorliegen eines werthaltigen Sondervorteils, den es mit einem wirtschaftlichen Vorteil für den Abgabepflichtigen gleichsetzt (UA S. 40), ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal für die Heranziehung zur Entrichtung eines Grundwasserentnahmeentgelts sei (UA S. 39). Das Berufungsgericht nimmt diese Ergänzung des Gesetzeswortlauts nicht aufgrund einer - aus bundesrechtlicher Sicht zu respektierenden - landesrechtlichen Normauslegung anhand des Willens des saarländischen Gesetzgebers vor. Vielmehr sieht es sich dazu von Verfassungs wegen verpflichtet (UA S. 27, 39). 19 bb) Anders als das Berufungsgericht meint, verfügt die Klägerin infolge des ihr behördlich erlaubten Zugriffs auf den Wasserhaushalt über einen Sondervorteil im Vergleich zu Dritten, der durch die Erhebung eines Wasserentnahmeentgelts abgeschöpft werden kann. Die Erlaubnisse zur Gewässerbenutzung an den fünf Wasserhaltungsstandorten beziehen sich auf das Zutagefördern und Einleiten des anstehenden Grubenwassers, das bestimmte maximale Wassermengen pro Jahr nicht überschreiten darf, und eröffnen der Klägerin die legale Möglichkeit, Grundwasser zu entnehmen und damit die Vorgaben ihrer zugelassenen Hauptbetriebspläne zur Grubenwasserhaltung zu erfüllen. Die diesbezügliche bergrechtliche Verpflichtung ist die Klägerin - durch Beantragung der Betriebsplanzulassung - aus freien Stücken eingegangen (dazu näher unten 2.b). Nicht maßgeblich ist, ob sie sich dieser von ihr als nachteilig erachteten (Selbst-)Verpflichtung entziehen und die Wasserhaltung einstellen könnte. Die Entgeltpflicht wird nicht durch das "Entnehmen-Müssen" auf der Grundlage des bergrechtlichen Regelungsregimes, sondern durch das "Entnehmen-Dürfen" aufgrund der gesondert beantragten und erteilten (§ 19 Abs. 2 WHG) wasserrechtlichen Erlaubnisse ausgelöst. Die Höhe des Grundwasserentnahmeentgelts richtet sich dabei gemäß § 1 Abs. 1, § 2 Abs. 1, § 3 Abs. 1 GwEEG nicht nach der maximal zulässigen, sondern nach der tatsächlich entnommenen Wassermenge; hierdurch wird der Vorteil realitätsgerecht erfasst und bemessen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 16. April 2020 - 1 BvR 173/16 - NVwZ 2021, 56 Rn. 43; BVerwG, Urteil vom 16. November 2017 - 9 C 16.16 - BVerwGE 160, 354 Rn. 27). 20 cc) Auch wenn die Klägerin im Veranlagungsjahr 2014 an den betreffenden Bergbaustandorten keinen Gewinn mehr erzielte, lag nach den dargelegten Maßstäben somit ein abschöpfbarer Sondervorteil vor. Ob darüber hinaus bei einer gebotenen Gesamtbetrachtung sogar von einem wirtschaftlichen Vorteil auszugehen war, weil die Klägerin ohne die wasserrechtlichen Erlaubnisse ihren auf Gewinnerzielung ausgerichteten Betrieb nicht legal hätte aufnehmen und durchführen können, bedarf hiernach keiner weiteren Prüfung. 21 b) Aus dem finanzverfassungsrechtlichen Vorteilsbegriff folgt zugleich, dass die Abgabenerhebung nicht aus den vom Berufungsgericht genannten Gründen gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG und das Äquivalenzprinzip als Ausprägung des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (dazu etwa BVerwG, Urteil vom 29. April 2021 - 9 C 1.20 - NVwZ 2021, 1466 Rn. 30 m.w.N.) verstößt. Das Oberverwaltungsgericht hat beide Verstöße aus der Prämisse abgeleitet, dass kein werthaltiger Sondervorteil vorliege (vgl. UA S. 36 ff., S. 43). Den Verstoß gegen den Gleichheitssatz hat das Gericht darin gesehen, dass die ohne eigenen Vorteil in Anspruch genommene Klägerin gegenüber denjenigen Gruppen benachteiligt werde, denen die Entnahme des Grundwassers einen Vermögensvorteil biete. Auch die angenommene Verletzung des Äquivalenzprinzips hat es mit dem Fehlen eines werthaltigen Sondervorteils begründet. Beide Schlussfolgerungen stehen, wie oben dargelegt, im Widerspruch zum verfassungsrechtlichen Vorteilsbegriff. Soweit das Berufungsgericht eine Ungleichbehandlung im Verhältnis zu den vom Ausnahmekatalog des § 1 Abs. 2 GwEEG erfassten Fallgruppen moniert, wird dies nur im Rahmen der Analogiebildung relevant (siehe unten 2.c). 22 c) Da die Erhebung des Wasserentnahmeentgelts bereits durch den Gesichtspunkt der Vorteilsabschöpfung gerechtfertigt ist, kommt es nicht mehr auf die weitere - vom Berufungsgericht im konkreten Fall verneinte - Frage an, ob die sachliche Legitimation der Entgelterhebung auch aus einer möglichen Lenkungsfunktion der Abgabe folgt (vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 7. November 1995 - 2 BvR 413/88 u.a. - BVerfGE 93, 319 <345>). 23 2. Ebenfalls gegen Bundesrecht verstößt die Annahme des Berufungsgerichts, zugunsten der Klägerin müsse - selbst bei Bejahung der Voraussetzungen des Entgelttatbestands - eine Befreiung von der Entgeltpflicht im Wege einer analogen Anwendung des § 1 Abs. 2 Nr. 1 GwEEG eingreifen. Nach dieser Vorschrift wird das Entgelt nicht erhoben für behördlich angeordnete Benutzungen im Sinne von § 19a des Saarländischen Wassergesetzes (SWG); dies erfasst insbesondere Maßnahmen, die von der zuständigen Wasserbehörde oder mit deren Einvernehmen angeordnet wurden (§ 19a Satz 2 SWG). Das Oberverwaltungsgericht begründet die analoge Anwendung der Norm mit der bergrechtlichen Pflichtenstellung der Klägerin (a). Da seine diesbezüglichen Grundannahmen nicht zutreffen (b), ist für eine Gleichsetzung mit einer behördlichen Anordnung kein Raum (c). 24 a) Die Analogiebildung des Oberverwaltungsgerichts basiert auf einer Auslegung der Vorschriften des Bundesberggesetzes und damit auf revisiblen Vorfragen. Nach Auffassung des Oberverwaltungsgerichts ist die Klägerin auf der Grundlage bergrechtlicher Bestimmungen aus Gründen der vorbeugenden Gefahrenabwehr zur Fortführung der Grubenwasserhaltung verpflichtet (UA S. 44, 48 f.); dies sei tatsächlich und rechtlich gleichbedeutend mit einer behördlich angeordneten Entnahme von Grundwasser (UA S. 50). Die Klägerin folge allein dieser Verpflichtung und diene damit dem Allgemeinwohlinteresse (UA S. 51). 25 b) Dieses Verständnis der bergrechtlichen Vorschriften ist nicht mit Bundesrecht vereinbar. Ungeachtet der Beendigung der aktiven Kohleförderung unterhält die Klägerin weiterhin einen Gewinnungsbetrieb (aa), der rechtlich gesehen nicht eingestellt ist (bb). Die Fortführung der Grubenwasserhaltung erfolgte daher aufgrund einer unternehmerischen Entscheidung der Klägerin, nicht hingegen vorrangig aus Gründen des Gemeinwohls oder ausschließlich aus Gründen der vorbeugenden Gefahrenabwehr (cc). 26 aa) Die Klägerin unterhielt im Streitjahr 2014 (und unterhält nach wie vor) einen Gewinnungsbetrieb im Sinne des § 4 Abs. 8 BBergG, der als betriebsorganisatorischer Gesamtkomplex (vgl. BVerwG, Urteil vom 9. November 1995 - 4 C 25.94 - BVerwGE 100, 31 <42>) vorbereitende, begleitende und nachfolgende Tätigkeiten nach § 4 Abs. 2 BBergG umfasst. Bei der Grubenwasserhaltung kann es sich - je nach Betriebstyp und -stadium - um eine vorbereitende, begleitende oder nachfolgende Tätigkeit handeln (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 1990 - 7 C 5.90 - BVerwGE 87, 241 <246>); im Jahr 2014 war letzteres der Fall. Zur Errichtung und Führung ihres Betriebs hat die Klägerin einen Hauptbetriebsplan nach § 52 Abs. 1 BBergG aufgestellt, den der Beklagte gemäß ihrem Antrag zugelassen hat und der weiterhin Gültigkeit beansprucht. Der Betrieb erfolgt somit auch nach Beendigung der aktiven Steinkohleförderung im privatnützigen Interesse der Klägerin (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 2014 - 7 C 22.12 - BVerwGE 151, 156 Rn. 47). 27 bb) Ein Übergang in die Phase des Abschlussbetriebsplans für die Einstellung des Betriebs (vgl. § 53 Abs. 1 BBergG) hat bisher nicht stattgefunden. Nach der Systematik des Bundesberggesetzes (vgl. § 54 Abs. 1 i.V.m. § 53 Abs. 1 Satz 1 BBergG) beginnt "die Einstellung" erst mit dem Wirksamwerden des Abschlussbetriebsplans. Ein solcher Abschlussbetriebsplan war seinerzeit weder von der Klägerin aufgestellt noch behördlicherseits zugelassen; auf die Gründe hierfür kommt es entgegen der Auffassung der Klägerin nicht an. Die - gemäß § 53 Abs. 1 Satz 1 BBergG ("Dauer der beabsichtigten Betriebseinstellung") als längerer Prozess zu verstehende - Einstellung hatte im Streitjahr 2014 somit noch nicht einmal begonnen, geschweige denn zu einem Abschluss geführt. Allenfalls nach Durchführung des Abschlussbetriebsplans wäre eine Entlassung aus der Bergaufsicht und damit ein Ende der bergrechtlichen Pflichtenstellung denkbar. Dies setzt allerdings gemäß § 69 Abs. 2 BBergG voraus, dass nach allgemeiner Lebenserfahrung nicht mehr damit zu rechnen ist, dass durch den Betrieb Gefahren oder gemeinschädliche Einwirkungen eintreten werden. Die vom Berufungsgericht unterstellte "Beendigung des Steinkohlebergbaus" hatte somit im Veranlagungsjahr 2014 in bergrechtlicher Hinsicht noch nicht stattgefunden bzw. – sofern das Gericht auf die aktive Abbautätigkeit abstellen wollte - zumindest nicht zu einer rechtlich relevanten Zäsur geführt. 28 cc) Die Pflicht zur Grubenwasserhaltung folgte im Jahr 2014 unmittelbar aus dem zugelassenen Hauptbetriebsplan der Klägerin. Sie ergab sich nicht aus dem im angefochtenen Urteil (UA S. 29) in Bezug genommenen, für die Betriebseinstellung geltenden § 53 Abs. 1 oder § 55 Abs. 2 BBergG. Maßgebend für die Pflichtenstellung der Klägerin war allein der Inhalt des von ihr nach eigenem unternehmerischen Kalkül aufgestellten und behördlich zugelassenen Hauptbetriebsplans. Die Klägerin erfüllte damit eine von ihr freiwillig eingegangene Verpflichtung zur fortdauernden Einhaltung der Zulassungsvoraussetzungen, zu der auch die Übernahme entsprechender Nachsorgepflichten einschließlich der Grubenwasserhaltung gehörte. Die betriebsplankonforme Fortführung der Wasserhaltung erfolgte demnach entgegen der Annahme des Berufungsgerichts nicht (allein oder primär) aus Gründen des Allgemeininteresses bzw. der vorbeugenden Gefahrenabwehr. Vielmehr ist die erforderliche Vorsorge gegen Gefahr und gemeinschädliche Einwirkungen Zulassungsvoraussetzung jedes Betriebsplans (vgl. § 55 Abs. 1 Nr. 3 und 9, § 55 Abs. 2 BBergG). 29 c) Damit ist für die vom Oberverwaltungsgericht angenommene Gleichsetzung mit einer behördlich angeordneten Entnahme von Grundwasser nach dem Ausnahmetatbestand des § 1 Abs. 2 Nr. 1 GwEEG kein Raum. Soweit die Klägerin damit argumentiert, sie könnte sich jederzeit - anstatt sich "freiwillig" betriebsplankonform zu verhalten - sicherheitsbehördlich dazu verpflichten lassen, entspricht ein solches rechtswidriges Verhalten schon nicht den tatsächlichen Gegebenheiten im Streitjahr 2014. Im Übrigen würde dies, wie oben dargelegt, nichts daran ändern, dass die Klägerin nach dem für sie maßgeblichen Hauptbetriebsplan dem spezifisch bergrechtlichen und nicht einem allgemeinen sicherheitsrechtlichen Regelungsregime unterliegt. Es ist auch nicht ersichtlich, dass für die Klägerin aus sonstigen Gründen eine Befreiung von der Entgeltpflicht im Hinblick auf den Gleichbehandlungsgrundsatz zwingend geboten wäre. 30 3. Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts, das entscheidungstragend auf den beiden dargestellten Argumentationssträngen beruht, erweist sich nicht gemäß § 144 Abs. 4 VwGO aus anderen Gründen als richtig. Die Abgabenerhebung ist auch im Übrigen verfassungsgemäß; insbesondere bestehen weder unter Rückwirkungsgesichtspunkten (a) noch hinsichtlich der Entgelthöhe (b) Bedenken. 31 a) Die Abgabenerhebung verstößt nicht gegen das Rückwirkungsverbot. 32 aa) Eine echte Rückwirkung liegt vor, wenn die der Abgabenerhebung zugrundeliegende Norm nachträglich in einen bereits abgeschlossenen Sachverhalt ändernd eingreift (stRspr; vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 2012 - 1 BvL 6/07 - BVerfGE 132, 302 Rn. 42). Dies ist hier nicht der Fall. Das Grundwasserentnahmeentgelt wurde auf der Basis des Saarländischen Grundwasserentnahmeentgeltgesetzes (vom 12. März 2008, in der Fassung des Gesetzes vom 14. November 2012) für das Kalenderjahr 2014 erhoben, in dessen gesamten Zeitraum die Klägerin unstreitig aufgrund der ihr erteilten wasserrechtlichen Erlaubnisse Grundwasser entnommen hat. Soweit die Klägerin eine echte Rückwirkung darin erblickt, dass der "Grubenwasseranfall bereits vor Inkrafttreten des Gesetzes unverhinderbar angelegt" gewesen sei, verfängt dies schon deshalb nicht, weil die Abgabenerhebung nur an die von der wasserrechtlichen Erlaubnis gedeckte Entnahme nach dem genannten Zeitpunkt anknüpft. Zeiträume vor dem ersten Veranlagungszeitraum (1. Mai 2008 bis 31. Dezember 2008) werden davon nicht erfasst (vgl. § 11 Satz 2 GwEEG in der Fassung vom 12. März 2008). 33 bb) Ebenfalls nicht zum Erfolg führt das in eine ähnliche Richtung zielende Vorbringen der Klägerin, sie habe das - vier Jahre vor Ende der aktiven Abbautätigkeit eingeführte - Wasserentnahmeentgelt nicht mehr in ihre Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen einstellen und auch sonst keine Dispositionen, etwa hinsichtlich der Größe der Grubengebäude und des Umfangs der erforderlichen Wasserentnahme, treffen können. Eine unzulässige unechte Rückwirkung begründet dies nicht. Nach ständiger Rechtsprechung ist eine Beeinträchtigung des durch Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG geschützten Vertrauens in die Verlässlichkeit der Rechtsordnung und der auf ihrer Grundlage erworbenen Rechtspositionen verfassungsrechtlich unzulässig, wenn sie mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht vereinbar ist. Dies ist der Fall, wenn sie zur Erreichung des Gesetzeszwecks nicht geeignet oder erforderlich ist oder wenn die Bestandsinteressen der Betroffenen die Veränderungswünsche des Normgebers überwiegen (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 10. Oktober 2012 - 1 BvL 6/07 - BVerfGE 132, 302 Rn. 43 und vom 30. Juni 2020 - 1 BvR 1679/17 - BVerfGE 155, 238 Rn. 126 ff.; BVerwG, Urteile vom 6. Oktober 2021 - 9 C 9.20 - juris Rn. 27 und vom 6. Oktober 2021 - 9 C 10.20 - juris Rn. 17). 34 Hier liegt bereits keine schutzwürdige Vertrauensposition der Klägerin vor, die sich gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Entgelterhebung durchsetzen könnte. Ein Unternehmer hat generell keinen Anspruch aus Art. 12 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Vertrauensschutzgrundsatz dahingehend, dass die (finanziellen) Rahmenbedingungen, unter denen er seinen Betrieb begonnen hat, auf Dauer unverändert bestehen bleiben (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Juni 2010 - 1 BvR 2011/07 u.a. - BVerfGE 126, 112 Rn. 128 ff.). Umstände, die im Fall der Klägerin als Bergbauunternehmerin (§ 4 Abs. 5 BBergG) ausnahmsweise eine andere Beurteilung gebieten können, sind nicht ersichtlich. Vielmehr ergibt sich aus den Wertungen des Bundesberggesetzes, dass der Bergbauunternehmer umfangreichen Nachsorgepflichten einschließlich der zugehörigen finanziellen Aufwendungen unterliegt, und zwar - nach dem Grundsatz der Letztbetreiberverantwortung - unabhängig davon, ob sie von ihm selbst oder von einem Rechtsvorgänger verursacht worden sind (vgl. BVerwG, Urteile vom 9. November 1995 - 4 C 25.94 - BVerwGE 100, 31 <38 f.> und vom 18. Dezember 2014 - 7 C 22.12 - BVerwGE 151, 156 Rn. 47). Etwas anderes folgt nicht aus dem von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat erwähnten Beschluss zum Windenergie-auf See-Gesetz (BVerfG, Beschluss vom 30. Juni 2020 - 1 BvR 1679/17 u.a. - BVerfGE 155, 238 Rn. 121 ff.). Diesem Beschluss lag ein mit dem vorliegenden schon im Ansatz nicht vergleichbarer Sachverhalt zugrunde. Denn es ging um den Sonderfall einer gesetzlichen Umstellung auf ein grundlegend neues Regelungssystem, wodurch bereits in Gang gesetzte Prozesse vollständig abgebrochen und damit entwertet wurden (BVerfG, Beschluss vom 30. Juni 2020, a.a.O., Rn. 134 ff.). 35 b) Die staatliche Leistung der Gewährung eines Zugriffs auf das Grundwasser als Gut der Allgemeinheit steht schließlich in einem angemessenen Verhältnis zur Höhe des Wasserentnahmeentgelts (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. November 2017 - 9 C 16.16 - BVerwGE 160, 354 Rn. 24). Das Entgelt für die Grubenwasserhaltung, die nach § 2 Abs. 2 GwEEG in Verbindung mit dem Verzeichnis über das Entgelt für Grubenwasserentnahmen einem niedrigeren Satz als die Wassernutzung anderer Betriebe unterliegt, ist nicht unangemessen hoch. Dass die Berechnung der konkreten Entgelthöhe im angefochtenen Bescheid zutreffend ist, wird von den Beteiligten nicht in Zweifel gezogen. 36 4. Das Bundesverwaltungsgericht übt sein prozessuales Ermessen dahingehend aus, dass es in der Sache selbst entscheidet (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO). Da weitere tatsächliche Feststellungen nicht erforderlich sind, ist der Rechtsstreit entscheidungsreif. Die Klägerin ist nach § 1 Abs. 1 GwEEG entgeltpflichtig; eine Ausnahme von der Entgeltpflicht nach § 1 Abs. 2 Nr. 1 bis 9 GwEEG kommt nicht in Betracht. Die Klage gegen den Festsetzungsbescheid bleibt daher ohne Erfolg. 37 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
bundesverwaltungsgericht
bverwg_2021-12
17.02.2021
Pressemitteilung Nr. 12/2021 vom 17.02.2021 EN Kein Drittschutz der Natura 2000-Vorschriften zugunsten des Eigentümers geschützter Flächen Der Eigentümer von Grundstücken, die in einem Natura 2000-Gebiet (FFH-Gebiet) liegen, ist nicht berechtigt, einen Verstoß gegen Vorschriften des Gebietsschutzes zu rügen. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig heute entschieden. Der Kläger wendet sich gegen die Genehmigung zur Errichtung und zum Betrieb einer Asphaltmischanlage. Er ist Eigentümer benachbarter Grundstücksflächen, die zum FFH-Gebiet "Obere Schwentine" in Schleswig-Holstein gehören. Die Vorinstanzen haben die auf Aufhebung der Genehmigung gerichtete Klage abgewiesen. Auch die Revision des Klägers blieb ohne Erfolg. Die Vorschriften der Europäischen Union und des nationalen Rechts über den Schutz von Natura 2000-Gebieten dienen dem Ziel, einen günstigen Erhaltungszustand der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen zu bewahren oder wiederherzustellen. Einen Bezug zu den Interessen des Einzelnen lassen sie nicht erkennen. Anders als Naturschutzverbände sind Einzelne nicht berechtigt, Verstöße gegen Naturschutzrecht unabhängig von einer Verletzung in eigenen Rechten geltend zu machen. Auch das Grundrecht auf Eigentum gebietet es nicht, die im öffentlichen Interesse erlassenen Schutzvorschriften für Natura 2000-Gebiete zugunsten des Eigentümers unter Schutz gestellter Grundstücke als drittschützend auszulegen und ihm ein Klagerecht einzuräumen. BVerwG 7 C 3.20 - Urteil vom 17. Februar 2021 Vorinstanzen: OVG Schleswig, 5 LB 3/19 - Urteil vom 28. November 2019 - VG Schleswig, 6 A 56/13 - Urteil vom 22. September 2016 -
Urteil vom 17.02.2021 - BVerwG 7 C 3.20ECLI:DE:BVerwG:2021:170221U7C3.20.0 EN Kein Drittschutz der Natura 2000-Vorschriften zugunsten des Eigentümers geschützter Flächen Leitsatz: Der Eigentümer von Grundstücken, die in einem Natura 2000-Gebiet liegen, ist im Rahmen eines Nachbarrechtsstreits nicht berechtigt einen Verstoß gegen die zur Umsetzung der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (ABl. L 206 S. 7) - FFH-RL - erlassenen Vorschriften des Bundesnaturschutzgesetzes zu rügen (Fortführung von BVerwG, Urteil vom 26.  April 2007 - 4 C 12.05 - BVerwGE 128, 358 Rn. 31). Rechtsquellen GG Art. 14 Abs. 1 Satz 2 BNatschG §§ 32 ff. RL 92/43/EWG Art. 2 Abs. 1 und 2, Art. 6 Abs. 3 AK Art. 9 Abs. 2 und 3 Instanzenzug VG Schleswig - 22.09.2016 - AZ: VG 6 A 56/13 OVG Schleswig - 28.11.2019 - AZ: OVG 5 LB 3/19 Zitiervorschlag BVerwG, Urteil vom 17.02.2021 - 7 C 3.20 - [ECLI:DE:BVerwG:2021:170221U7C3.20.0] Urteil BVerwG 7 C 3.20 VG Schleswig - 22.09.2016 - AZ: VG 6 A 56/13 OVG Schleswig - 28.11.2019 - AZ: OVG 5 LB 3/19 In der Verwaltungsstreitsache hat der 7. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 17. Februar 2021 durch den Vizepräsidenten des Bundesverwaltungsgerichts Prof. Dr. Korbmacher und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Schemmer, Dr. Günther, Dr. Löffelbein und Dr. Wöckel für Recht erkannt: Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts vom 28. November 2019 wird zurückgewiesen. Der Kläger trägt die Kosten des Revisionsverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen. Gründe I 1 Der Kläger wendet sich gegen die der Beigeladenen mit Bescheid vom 15. November 2012 erteilte Genehmigung zur Errichtung und zum Betrieb einer Asphaltmischanlage. Er ist Eigentümer benachbarter Grundstücke, die innerhalb des Fauna-Flora-Habitat-Schutzgebietes "Obere Schwentine" (FFH DE 1830-391) in Schleswig-Holstein liegen. Die im Rahmen des Genehmigungsverfahrens für die Asphaltmischanlage durchgeführte FFH-Verträglichkeitsprüfung kam zu dem Ergebnis, dass erhebliche Beeinträchtigungen des mindestens 350 m entfernten Schutzgebietes durch die Anlage ausgeschlossen werden könnten. 2 Nach erfolglos durchgeführtem Widerspruchsverfahren erhob der Kläger Klage, die das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 22. September 2016 abgewiesen hat. Die hiergegen gerichtete Berufung hat das Oberverwaltungsgericht mit Urteil vom 28. November 2019 zurückgewiesen. Zur Begründung hat es unter anderem ausgeführt, dass der Kläger - gestützt auf Naturschutzrecht - eine Aufhebung der Genehmigung nicht verlangen könne. Ein etwaiger Verstoß gegen die §§ 33, 34 BNatSchG verletze den Kläger nicht in seinen subjektiven Rechten. Die naturschutzrechtliche Unterschutzstellung von in seinem Eigentum stehenden Flächen verleihe ihm keine eigenen Abwehrrechte. 3 Gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts hat der Kläger Revision eingelegt, zu deren Begründung er ausführt: Der Eigentümer von Grundstücken, die in einem Natura 2000-Gebiet liegen, müsse gerichtlich überprüfen lassen können, ob die habitatschutzrechtlichen Vorschriften eingehalten würden, weil nur unter dieser Voraussetzung die ihm durch diese Vorschriften auferlegten Eigentumsbeschränkungen verhältnismäßig seien. Die Verneinung eines Klagerechts stehe zudem im Widerspruch zu Unions- und Völkerrecht. Er sei Teil der betroffenen Öffentlichkeit im Sinne von Art. 9 Abs. 2 AK. Aus der Judikatur des Gerichtshofs der Europäischen Union ergebe sich, dass er sich auf Verstöße gegen Vorschriften der FFH-Richtlinie berufen könne und ihm ein Klagerecht nach Art. 9 Abs. 2 und 3 AK zustehe. 4 Der Kläger beantragt, das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts vom 28. November 2019 aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen. 5 Beklagter und Beigeladene beantragen jeweils, die Revision zurückzuweisen. 6 Sie verteidigen das angegriffene Urteil. II 7 Die Revision ist unbegründet und deshalb zurückzuweisen (§ 144 Abs. 2 VwGO). Das angefochtene Urteil beruht nicht auf einem Verstoß gegen revisibles Recht (§ 137 Abs. 1 VwGO). Der Kläger kann sich als Eigentümer von Grundstücken, die in einem Natura 2000-Gebiet liegen, nicht auf die zur Umsetzung der Vorschriften der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (ABl. L 206 S. 7) - FFH-RL - erlassenen Vorschriften des Bundesnaturschutzgesetzes berufen. Ein solches Klagerecht ergibt sich weder aus nationalem Recht (A.), noch aus Unionsrecht oder aus Unionsrecht in Verbindung mit der Aarhus-Konvention (AK) (B.). 8 A. Eine Verletzung des Klägers in eigenen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO) hinsichtlich der Vorschriften der §§ 32 ff. BNatSchG kommt nicht in Betracht. 9 1. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts dienen die zum Schutz von Natura 2000-Gebieten erlassenen Vorschriften der §§ 32 ff. BNatSchG, auf die sich der Kläger beruft, allein dem Schutz der natürlichen Lebensräume und der Tier- und Pflanzenarten von gemeinschaftlichem Interesse einschließlich der europäischen Vogelarten; sie sind nicht dazu bestimmt, private Belange zu schützen (BVerwG, Urteil vom 26. April 2007 - 4 C 12.05 - BVerwGE 128, 358 Rn. 31). Soweit auch Menschen von den auf den Schutz der genannten Umweltgüter zielenden rechtlichen Vorgaben profitieren - sei es in Gestalt einer Steigerung der empfundenen Lebensqualität, namentlich bei der Befriedigung von Erholungsbedürfnissen, sei es in sonstiger Weise -, liegt darin jeweils ein bloßer Rechtsreflex. Den Personen wird aber keine wehrfähige individuelle Rechtsposition eingeräumt (vgl. auch OVG Münster, Urteil vom 4. Juli 2018 - 8 A 47/17 - NuR 2019, 348 <351>). 10 2. Aus dem verfassungsrechtlichen Schutz des Eigentums ergibt sich entgegen der Auffassung des Klägers nichts Anderes. Das Grundrecht auf Eigentum nach Art. 14 GG gebietet es insbesondere nicht, die allein im öffentlichen Interesse erlassenen Schutzvorschriften für Natura 2000-Gebiete zugunsten des Eigentümers unter Schutz gestellter Grundstücke als individualschützend auszulegen und diesem ein auf §§ 32 ff. BNatSchG gestütztes Klagerecht einzuräumen. Entgegen der Auffassung des Klägers sind mit der Unterschutzstellung eines Gebietes verbundene Einschränkungen der Eigentümerrechte, die eine Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG darstellen, nicht erst dann verhältnismäßig, wenn dem Eigentümer ein Klagerecht gegenüber Verletzungen der für das Gebiet geltenden naturschutzrechtlichen Schutzvorschriften zugestanden wird. 11 a) Maßgeblich für die Verhältnismäßigkeit der mit der naturschutzrechtlichen Unterschutzstellung im Eigentum Privater stehender Flächen verbundenen Ver- und Gebote sowie der dem jeweiligen Eigentümer auferlegten Duldungspflichten (vgl. § 65 BNatSchG) ist vielmehr, ob die Schutzgebietsausweisung - gemessen an den verfassungslegitimen Schutzzielen des Naturschutzrechts - geeignet, erforderlich und im Lichte der freiheitssichernden Funktion der Eigentumsgarantie (vgl. hierzu nur Papier/Shirvani, in: Maunz/Dürig, GG, Stand August 2020, Art. 14 Rn. 1 f. m.w.N.) angemessen ist. Hierbei gilt, dass der Schutz der Natur eine Gemeinwohlaufgabe von hohem Rang darstellt (vgl. nur Papier/Shirvani, a.a.O., Art. 14 Rn. 529 ff. m.w.N.) und sich eine gesteigerte Sozialbindung des Eigentums (vgl. Art. 14 Abs. 2 GG) an einem unter Naturschutz gestellten Grundstück aus der Situationsgebundenheit, also der Lage und Beschaffenheit des betreffenden Grundstücks, ergibt (vgl. zum Denkmalschutzrecht BVerfG, Beschluss vom 2. März 1999 - 1 BvL 7/91 - BVerfGE 100, 226 <242>). 12 Das Oberverwaltungsgericht hat zutreffend darauf hingewiesen, dass nicht jede dem Schutzregime widersprechende Beeinträchtigung eines Natura 2000-Gebiets die Schutzwürdigkeit der betreffenden Flächen und damit den die Beschränkung der Eigentümerbefugnisse rechtfertigenden Grund entfallen lässt. Anderes dürfte erst dann gelten, wenn ein Gebiet - gegebenenfalls auch als Folge einer erheblichen Beeinträchtigung von dritter Seite - endgültig nicht mehr geeignet ist, einen Beitrag zur Verwirklichung der Ziele der FFH-Richtlinie und der zu ihrer Umsetzung ergangenen nationalen Bestimmungen zu leisten (vgl. EuGH, Urteil vom 3. April 2014 - C-301/12 [ECLI:​EU:​C:​2014:​214], Cascina Tre Pini - Rn. 29 f.). In einem solchen Fall kann sich der Eigentümer - auch im Hinblick auf das der Eigentumsgarantie innewohnende Gebot effektiven Rechtsschutzes (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 16. März 1989 - 4 C 36.85 - BVerwGE 81, 329 <341> m.w.N.) - gegen den Fortbestand der mit der naturschutzrechtlichen Unterschutzstellung verbundenen Eigentumsbeschränkung gerichtlich zur Wehr setzen. Derartiges wurde hier jedoch nicht geltend gemacht. 13 b) Aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Rechtsstellung des Denkmaleigentümers, dem durch die Denkmalschutzgesetze der Länder Pflichten auferlegt werden, die (ebenfalls) Bestimmungen über Inhalt und Schranken des Eigentums im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG darstellen, lässt sich entgegen der Auffassung des Klägers nichts Anderes ableiten. Hiernach sind Abwehrrechte des Denkmaleigentümers gegen die denkmalrechtliche Genehmigung eines benachbarten Vorhabens, das die Denkmaleigenschaft seines Gebäudes beeinträchtigt, durch die Besonderheit des Denkmalschutzrechts begründet. Diese liegt darin, dem Eigentümer nicht nur Beschränkungen der Verfügungsbefugnis, sondern eine Pflicht zur Erhaltung und Pflege des Denkmals aufzuerlegen, obgleich dessen Unterschutzstellung allein im öffentlichen Interesse liegt (vgl. BVerwG, Urteil vom 21. April 2009 - 4 C 3.08 - BVerwGE 133, 347 Rn. 11 ff.). Vergleichbare Erhaltungs- oder Pflegepflichten wie den Denkmaleigentümer treffen den Eigentümer eines in einem Natura 2000-Gebiet gelegenen Grundstückes nicht. Das Oberverwaltungsgericht weist zutreffend darauf hin, dass der Eigentümer von FFH-Schutzflächen lediglich alle Veränderungen und Störungen, die zu einer erheblichen Beeinträchtigung des Gebiets in seinen für die Erhaltungsziele oder den Schutzzweck maßgeblichen Bestandteilen führen können, zu unterlassen (§ 33 Abs. 1 Satz 1 BNatSchG) und Maßnahmen der zuständigen Naturschutzbehörde zu dulden (§ 65 BNatSchG, § 48 Abs. 1 LNatSchG) hat. Sofern der Eigentümer selbst Maßnahmen durchführt, werden ihm die Kosten erstattet (§ 48 Abs. 2 LNatSchG). 14 Auch der Hinweis des Klägers auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum gegenseitigen Nachbarschutz innerhalb eines Baugebietes unter Rückgriff auf die Figur der bau- und bodenrechtlichen Schicksalsgemeinschaft führt nicht weiter. Abgesehen davon, dass sich diese für das spezifische Regelungsgefüge des Bauplanungsrechts entwickelte Rechtsprechung schon nicht ohne weiteres auf andere Rechtsgebiete übertragen lässt, setzt ein von konkreten Beeinträchtigungen unabhängiger Drittschutz (Gebietserhaltungsanspruch hinsichtlich der Nutzungsart) voraus, dass die in Rede stehenden Grundstücke in einem für ein Plangebiet typischen wechselseitigen Austauschverhältnis stehen (vgl. hierzu nur BVerwG, Beschluss vom 15. September 2020 - 4 B 46.19 - juris Rn. 6 m.w.N.). Eine derartige Wechselseitigkeit der Nutzungsmöglichkeiten und Nutzungsbeschränkungen wird im Verhältnis der Grundstücke des Klägers zum Vorhabengrundstück der Beigeladenen durch die habitatschutzrechtlichen Vorschriften nicht begründet. Im Übrigen gebietet Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG auch für den Bereich des Baurechts nicht, in jeder Hinsicht nachbarlichen Drittschutz vorzusehen (vgl. BVerwG, Urteile vom 23. August 1996 - 4 C 13.94 - BVerwGE 101, 364 <372> und vom 21. April 2009 - 4 C 3.08 - BVerwGE 133, 347 Rn. 15). 15 B. Ein Klagerecht des Klägers lässt sich auch nicht aus Unionsrecht oder aus Unionsrecht in Verbindung mit der Aarhus-Konvention ableiten. 16 1. Die unionsrechtlichen Vorschriften der FFH-Richtlinie verleihen dem Einzelnen - im Einklang mit der Auslegung der nationalen Vorschriften der §§ 32 ff. BNatSchG - keine subjektiven Rechte. 17 a) Die FFH-Richtlinie hat nach ihrem Art. 2 Abs. 1 zum Ziel, zur Sicherung der Artenvielfalt durch die Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen beizutragen. Nach Art. 2 Abs. 2 FFH-RL zielen die aufgrund der Richtlinie getroffenen Maßnahmen darauf ab, einen günstigen Erhaltungszustand der natürlichen Lebensräume und wildlebenden Tier- und Pflanzenarten von gemeinschaftlichem Interesse zu bewahren oder wiederherzustellen. Ausgehend von diesen Regelungen legt der Gerichtshof der Europäischen Union (im Folgenden: Gerichtshof) in seinem Urteil vom 8. November 2016 - C-243/15 [ECLI:​EU:​C:​2016:​838], slowakischer Braunbär II - (Rn. 43) mit Blick auf Art. 6 Abs. 3 der FFH-RL - nach dem für Pläne oder Projekte, die ein Natura 2000-Gebiet erheblich beeinträchtigen könnten, eine Verträglichkeitsprüfung durchzuführen ist - dar, dass die Vorschrift einen Beitrag zur Verwirklichung des mit den aufgrund dieser Richtlinie getroffenen Maßnahmen verfolgten Zieles leiste. Der Gerichtshof nimmt zudem auch auf das weitere Ziel Bezug, ein hohes Niveau des Umweltschutzes für die nach der FFH-Richtlinie geschützten Gebiete zu gewährleisten (EuGH, a.a.O.). In diesem Sinne hat bereits die Generalanwältin Kokott im Verfahren "Herzmuschelfischerei" darauf hingewiesen, dass keine Anhaltspunkte dafür bestünden, dass durch die FFH-Richtlinie Rechte des Einzelnen begründet würden. Anders als Regelungen über die Qualität der Umgebungsluft oder des Wassers sei der Schutz des gemeinsamen Naturerbes zwar von besonderem Interesse, führe aber zu keinem Anspruch zugunsten Einzelner (Schlussanträge der Generalanwältin Kokott vom 29. Januar 2004 - C-127/02 [ECLI:​EU:​C:​2004:​60], Waddenvereniging und Vogelbeschermingsvereniging - Rn. 143). 18 Hinweise darauf, dass der Gerichtshof den Vorschriften der FFH-Richtlinie individualschützenden Charakter beimessen könnte, enthält auch die neueste Rechtsprechung nicht. Einen individuellen Rechtsschutz hält der Gerichtshof allgemein unter der Voraussetzung für geboten, dass natürliche oder juristische Personen unmittelbar von einer Verletzung von Richtlinienbestimmungen betroffen sind (EuGH, Urteil vom 3. Oktober 2019 - C-197/18 [ECLI:​EU:​C:​2019:​824], Wasserleitungsverband Nördliches Burgenland - Rn. 32). Um festzustellen, ob dies der Fall ist, sind die Zielsetzung sowie die einschlägigen Bestimmungen der maßgeblichen Richtlinie zu prüfen (EuGH, a.a.O., Rn. 35; vgl. hierzu auch BVerwG, Urteil vom 30. November 2020 - 9 A 5.20 - NuR 2020, 119 Rn. 44 m.w.N.). In Anwendung dieser Grundsätze hat der Gerichtshof zur Richtlinie 91/676/EWG des Rates vom 12. Dezember 1991 zum Schutz der Gewässer vor Verunreinigung durch Nitrat aus landwirtschaftlichen Quellen (ABl. L 375 S. 1) - Nitrat-RL - ausgeführt, dass diese Richtlinie unter anderem die menschliche Gesundheit und die rechtmäßige Nutzung der Gewässer schütze. Hieraus leite sich ab, dass eine über ein Grundwasserentnahme- und ‑nutzungsrecht verfügende natürliche oder juristische Person von einer Rechtsverletzung unmittelbar betroffen sei (EuGH, a.a.O., Rn. 36 ff.). In entsprechender Weise hat er in seinem Urteil vom 28. Mai 2020 - C-535/18 [ECLI:​EU:​C:​2020:​391], Nordrhein-Westfalen - (Rn. 128 ff.) mit Blick auf das Ziel der Wasserrahmenrichtlinie (Richtlinie 2000/60/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2000 zur Schaffung eines Ordnungsrahmens für Maßnahmen der Gemeinschaft im Bereich der Wasserpolitik - WRRL, ABl. L 327 S. 1), das Grundwasser als Ressource für die menschliche Nutzung vor Verunreinigungen zu schützen, die unmittelbare Betroffenheit derjenigen anerkannt, die zur Grundwasserentnahme und -nutzung legitimiert sind. 19 An einer in vergleichbarer Weise auf die menschliche Gesundheit oder die Nutzung der natürlichen Ressourcen bezogenen Zielsetzung fehlt es der FFH-Richtlinie. In diesem Sinne weist der Gerichtshof zur Auslegung von Art. 4 WRRL darauf hin, dass die aus dem Unionsumweltrecht hervorgegangenen Rechtsvorschriften in den meisten Fällen auf das allgemeine Interesse und nicht auf den alleinigen Schutz der Rechtsgüter Einzelner gerichtet seien (EuGH, Urteil vom 20. Dezember 2017 - C-664/15 [ECLI:​EU:​C:​2017:​987], Protect - Rn. 47; vgl. zuvor auch schon EuGH, Urteil vom 12. Mai 2011 - C-115/09 [ECLI:​EU:​C:​2011:​289], Trianel - Rn. 46). 20 b) Entgegen der Auffassung des Klägers und der in diese Richtung gehenden Überlegungen des Bundesgerichtshofs in seinem Urteil vom 19. Juli 2019 - V ZR 177/17 - (NuR 2020, 50) ergibt sich Abweichendes auch nicht daraus, dass der Gerichtshof in einem Verbandsklageverfahren davon spricht, die praktische Wirksamkeit der FFH-Richtlinie verlange, dass "die Bürger" sich vor Gericht auf sie berufen und die nationalen Gerichte sie als Bestandteil des Unionsrechts berücksichtigen können (EuGH, Urteil vom 8. November 2016 - C-243/15, slowakischer Braunbär II - Rn. 44). Diese Ausführungen erfolgen unter ausdrücklicher Bezugnahme auf eine ältere - ebenfalls in einem Verbandsklageverfahren ergangene - Entscheidung des Gerichtshofs zu der der Ermittlung der unmittelbaren Betroffenheit einer Person vorgelagerten Frage der Beachtlichkeit einer Richtlinienbestimmung, hier Art. 6 Abs. 3 FFH-RL, in einem gerichtlichen Verfahren als verbindliches Recht (EuGH, Urteil vom 7. September 2004 - C-127/02, Waddenvereniging und Vogelbeschermingsvereniging - Rn. 66 und 69). Eine entsprechende Differenzierung findet sich in der bereits zitierten Entscheidung zur Nitrat-Richtlinie. Auch hier stellt der Gerichtshof in einem ersten Schritt fest, dass es mit dem verbindlichen Charakter einer Richtlinie unvereinbar sei, grundsätzlich auszuschließen, dass sich betroffene Personen darauf berufen können, und die praktische Wirksamkeit einer den Mitgliedstaaten durch eine Richtlinie auferlegten Verpflichtung abgeschwächt sei, wenn "die Bürger" sich vor Gericht nicht hierauf berufen könnten (EuGH, Urteil vom 3. Oktober 2019 - C-197/18, Wasserleitungsverband Nördliches Burgenland - Rn. 30 f.). Sodann schränkt der Gerichtshof jedoch in einem zweiten Schritt ein, dass "zumindest natürliche oder juristische Personen, die unmittelbar von einer Verletzung ... betroffen sind" - und damit gerade nicht "die Bürger" schlechthin -, die Einhaltung der entsprechenden Verpflichtung nötigenfalls gerichtlich einfordern können müssen und untersucht im Weiteren die Voraussetzungen, unter denen von einer solchen unmittelbaren Betroffenheit auszugehen ist (EuGH, a.a.O., Rn. 32 und 35 ff.). 21 2. Das Unionsrecht - in Verbindung mit der Aarhus-Konvention - gebietet es auch nicht, dass der Kläger Verstöße gegen Regelungen der FFH-Richtlinie unabhängig von einer Verletzung in eigenen Rechten gerichtlich geltend machen kann. 22 a) Der Gerichtshof stellt die Entscheidung des nationalen Gesetzgebers für das in Art. 9 Abs. 2 Unterabs. 1 AK neben der Interessentenklage ausdrücklich aufgeführte Regelungsmodell der dem Individualrechtsschutz dienenden Verletztenklage nicht infrage (EuGH, Urteile vom 12. Mai 2011 - C-115/09, Trianel - Rn. 38 ff., 44 ff., vom 16. April 2015 - C-570/13 [ECLI:​EU:​C:​2015:​231], Gruber - Rn. 32 ff. und vom 15. Oktober 2015 - C-137/14 [ECLI:​EU:​C:​2015:​683], Kommission/Deutschland - Rn. 32 f.). Eine auch dem Individualkläger offenstehende Popularklage fordert das Unionsrecht - auch in Verbindung mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes nach Art. 47 der Grundrechte-Charta (GRCh) - nicht. Die gebotene Effektivität des Rechtsschutzes bei der Rüge der Verletzung von Vorschriften des Unionsumweltrechts ist in erster Linie durch die Ausgestaltung der verfahrensrechtlichen Stellung der Umweltverbände sicherzustellen, denen schon nach Art. 9 Abs. 2 Unterabs. 3 Satz 2 und 3 AK eine besondere Rolle zugewiesen ist (EuGH, Urteil vom 8. November 2016 - C-243/15, slowakischer Braunbär II - Rn. 58 ff.; vgl. zum Ganzen auch BVerwG, Urteil vom 28. November 2019 - 7 C 2.18 - BVerwGE 167, 147 Rn. 14). 23 b) Ein Klagerecht des Klägers lässt sich auch nicht gestützt auf Art. 9 Abs. 3 AK herleiten. Nach dieser Norm stellt jede Vertragspartei der Aarhus-Konvention sicher, dass Mitglieder der Öffentlichkeit, sofern sie etwaige in ihrem innerstaatlichen Recht festgelegte Kriterien erfüllen, Zugang zu verwaltungsbehördlichen oder gerichtlichen Verfahren haben, um die von Privatpersonen und Behörden vorgenommenen Handlungen und begangenen Unterlassungen anzufechten, die gegen umweltbezogene Bestimmungen ihres innerstaatlichen Rechts verstoßen. Die Vorschrift enthält indes keine unbedingte und hinreichend genaue Verpflichtung, die die rechtliche Situation Einzelner unmittelbar regeln könnte. Da nur "Mitglieder der Öffentlichkeit, sofern sie etwaige in ihrem innerstaatlichen Recht festgelegte Kriterien erfüllen", Inhaber der in Art. 9 Abs. 3 AK vorgesehenen Rechte sind, hängen die Durchführung und die Wirkungen dieser Vorschrift vom Erlass eines weiteren Rechtsakts ab. Bei der hiernach gebotenen gesetzlichen Festlegung von Kriterien, nach denen ein Mitglied der Öffentlichkeit Zugang zu gerichtlichen Überprüfungsverfahren hat, kommt den Mitgliedstaaten ein Gestaltungsspielraum zu. Dieser ist zwar insoweit eingeschränkt, als Art. 9 Abs. 3 AK in Verbindung mit Art. 47 GRCh die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, einen wirksamen gerichtlichen Schutz der durch das Recht der Union garantierten Rechte, insbesondere der Vorschriften des Umweltrechts, zu gewährleisten (vgl. EuGH, Urteile vom 8. März 2011 - C-240/09 [ECLI:​EU:​C:​2011:​125], slowakischer Braunbär I - Rn. 45 f. und vom 20. Dezember 2017 - C-664/15, Protect - Rn. 45; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 5. September 2013 - 7 C 21.12 - BVerwGE 147, 312 Rn. 21 und 37). Das schließt aber hinsichtlich Individualklägern auch in diesem Regelungszusammenhang die Entscheidung für die Verletztenklage nicht aus (vgl. BVerwG, Urteil vom 28. November 2019 - 7 C 2.18 - BVerwGE 167, 147 Rn. 14 unter Bezugnahme auf EuGH, Urteile vom 12. Mai 2011 - C-115/09, Trianel - Rn. 38 ff. und 44 ff., vom 16. April 2015 - C-570/13, Gruber - Rn. 32 ff. und vom 15. Oktober 2015 - C-137/14, Kommission/Deutschland - Rn. 32 f.). 24 Auf der Grundlage der dargestellten Rechtsprechung des Gerichtshofs verbleibt kein Raum für einen vernünftigen Zweifel, so dass es des vom Kläger angeregten Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 AEUV nicht bedarf. 25 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 und § 162 Abs. 3 VwGO.
bundesverwaltungsgericht
23-2023
23. Februar 2023
Einstellung weiterer Ermittlungen im Fall einer in einer Polizeizelle verbrannten Person verstößt nicht gegen das Grundgesetz Pressemitteilung Nr. 23/2023 vom 23. Februar 2023 Beschluss vom 21. Dezember 20222 BvR 378/20 Im Jahr 2005 verbrannte der Bruder des Beschwerdeführers in einer polizeilichen Gewahrsamszelle. Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts eine Verfassungsbeschwerde des Bruders des Verstorbenen nicht zur Entscheidung angenommen. Dieser hatte die Durchführung weiterer Ermittlungen begehrt. Zwar steht ihm von Verfassungs wegen ein Anspruch auf effektive Strafverfolgung zu. Die diesbezügliche Entscheidung des Oberlandesgerichts Naumburg trägt diesem jedoch hinreichend Rechnung. Sachverhalt: Der Bruder des Beschwerdeführers verbrannte im Jahr 2005 in einer polizeilichen Gewahrsamszelle. In der Folge wurde 2012 ein Dienstgruppenleiter wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. Im April 2017 leitete die ortsansässige Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau gegen zwei weitere Polizeibeamte ein Ermittlungsverfahren wegen Mordes ein. Die mit den weiteren Ermittlungen beauftragte Staatsanwaltschaft Halle lehnte es ab, weitere Ermittlungen gegen Polizeibeamte oder andere Personen einzuleiten beziehungsweise weitere Ermittlungen zur Todesursache anzustrengen. Daraufhin wurde die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg vom Ministerium für Justiz und Gleichstellung des Landes Sachsen-Anhalt angewiesen, eine eigenständige und gegebenenfalls durch weitere Ermittlungen gestützte Bewertung der Geschehnisse zu treffen. Deren Ergebnisse fasste die Generalstaatsanwaltschaft in einem 218 Seiten umfassenden Prüfvermerk vom 17. Oktober 2018 zusammen. Die gegen den Bescheid der Staatsanwaltschaft Halle erhobene Beschwerde vom 13. Oktober 2017 wies die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg unter Bezugnahme auf diesen Prüfvermerk zurück. Den dagegen gestellten Antrag auf gerichtliche Entscheidung verwarf das Oberlandesgericht Naumburg mit Beschluss vom 22. Oktober 2019 als unzulässig und führte aus, weshalb der Antrag nicht den in § 172 Abs. 3 Satz 1 Strafprozessordnung (StPO) gestellten Anforderungen entspreche und die Generalstaatsanwaltschaft einen hinreichenden Tatverdacht zutreffend verneint habe. Mit seiner Verfassungsbeschwerde vom 24. November 2019 macht der Beschwerdeführer geltend, in seinem Recht auf effektive Strafverfolgung, willkürfreie Entscheidung, effektiven Rechtsschutz und rechtliches Gehör verletzt zu sein. Wesentliche Erwägungen Kammer: Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an, weil die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) nicht erfüllt sind. I. Der Beschwerdeführer ist in seinem grundrechtlichen Anspruch auf effektive Strafverfolgung aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 1 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) nicht verletzt. Zwar steht ihm als Bruder des Verstorbenen ein Anspruch auf effektive Strafverfolgung zu. Diesem trägt der Beschluss des Oberlandesgerichts Naumburg vom 22. Oktober 2019 jedoch hinreichend Rechnung. 1. Das Oberlandesgericht hat die Anforderungen an das Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachts nicht überspannt. Es hat insbesondere nicht darauf abgestellt, dass eine Brandlegung durch den Verstorbenen nicht mit letzter Sicherheit ausgeschlossen werden könne, sondern dargelegt, dass es – auch wenn nach wie vor vieles für eine Selbstentzündung spreche – für eine Brandlegung von anderer Seite jedenfalls an einem hinreichenden Tatverdacht gegen einen konkreten Beschuldigten fehle. 2. Das Oberlandesgericht hat dabei auch die Bedeutung des Grundrechts auf Leben und die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die effektive Untersuchung von Todesfällen nicht verkannt. Die Strafermittlungsbehörden haben umfassend ermittelt. Insbesondere hat die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg in ihrem Prüfvermerk vom 17. Oktober 2018 sämtliche bisher geführten Ermittlungen eingehend auf etwaige Widersprüche oder Lücken untersucht und geprüft, ob sich über den bisherigen Ermittlungsstand hinaus weitere erfolgversprechende Ermittlungsansätze ergeben könnten. Sie hat sich mit den vom Beschwerdeführer vorgebrachten Gegenargumenten im Einzelnen auseinandergesetzt und nachvollziehbar dargelegt, warum weitere Ermittlungen nicht aussichtsreich sind. Auch das Oberlandesgericht Naumburg hat sich mit den Ermittlungsergebnissen sowie den vom Beschwerdeführer vorgebrachten Einwendungen detailliert auseinandergesetzt und ist dabei zu dem Ergebnis gelangt, dass ein hinreichender Tatverdacht gegen eine dritte Person nicht begründet werden könne. Eine hiervon abweichende Beurteilung ist auf der Grundlage des Vortrags des Beschwerdeführers nicht veranlasst. II. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Naumburg vom 22. Oktober 2019 verletzt auch nicht das Willkürverbot aus Art. 3 Abs. 1 GG. Das Oberlandesgericht hat sich in der angegriffenen Entscheidung mit der Beweislage hinsichtlich einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Beschuldigten eingehend und in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise auseinandergesetzt; seine Auffassung, wonach die Generalstaatsanwaltschaft einen hinreichenden Tatverdacht zu Recht verneint habe, beruht auf einem sachlichen Grund. III. Soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Rechts auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG darin erblickt, dass das Oberlandesgericht die Darlegungsanforderungen im Verfahren nach § 172 Abs. 3 StPO überspannt habe, muss der Verfassungsbeschwerde der Erfolg ebenfalls versagt bleiben. Die Annahme des Oberlandesgerichts Naumburg, dass der Antrag auf gerichtliche Entscheidung nicht den Anforderungen des § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO entspricht, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Der Beschwerdeführer hatte sich dazu entschieden, umfangreich auf Inhalte der Ermittlungsakten zurückzugreifen. Um die vom Gesetzgeber vorgesehene und verfassungsrechtlich unbedenkliche Schlüssigkeitsprüfung allein auf der Grundlage des gestellten Antrags nicht zu unterlaufen, war er daher gehalten, zumindest den wesentlichen Inhalt der Beweismittel mitzuteilen, um eine nur selektive und dadurch gegebenenfalls sinnentstellende Darstellung der Ermittlungsergebnisse zu verhindern. Mit Blick auf die Ausführungen des Beschwerdeführers zur Annahme eines hinreichenden Tatverdachts weist das Oberlandesgericht zutreffend darauf hin, dass eine Darstellung, welche Polizeibeamten den Brand gelegt haben sollen und aufgrund welcher Beweismittel ein diesbezüglicher Nachweis möglich sein soll, fehlt. IV. Das Oberlandesgericht hat schließlich auch nicht gegen das Recht auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG verstoßen. Es ist nicht erkennbar, dass das Oberlandesgericht Vortrag des Beschwerdeführers unberücksichtigt gelassen hätte. Die Ausführungen des Beschwerdeführers beschränken sich im Ergebnis vielmehr auf die Darlegung, das Oberlandesgericht habe seinem Vortrag materiell-rechtlich nicht die richtige Bedeutung beigemessen. Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht jedoch nicht, der Rechtsansicht des Beschwerdeführers zu folgen.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT - 2 BvR 378/20 - In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Herrn (…), - Bevollmächtigte: (…) - gegen a)  den Beschluss des Oberlandesgerichts Naumburg vom 22. Januar 2020 - 1 Ws (gE) 1/19 -, b)  den Beschluss des Oberlandesgerichts Naumburg vom 22. Oktober 2019 - 1 Ws (gE) 1/19 -, c)  den Bescheid der Generalstaatsanwaltschaft Naumburg vom 29. November 2018 - 113 Zs 1162/17 -, d)  den Bescheid der Staatsanwaltschaft Halle vom 12. Oktober 2017 - 160 Js 18817/17 - hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Richter Huber und die Richterinnen Kessal-Wulf, Wallrabenstein gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 21. Dezember 2022 einstimmig beschlossen: Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. G r ü n d e : I. 1 Der Beschwerdeführer begehrt die Durchführung weiterer Ermittlungen zum Tod seines Bruders (…), der am (…) in einer Gewahrsamszelle des Polizeireviers (…) verbrannte. 2 1. Mit Urteil des Landgerichts (01) vom 8. Dezember 2008 wurden der wegen Körperverletzung mit Todesfolge im Amt angeklagte Dienstgruppenleiter (A) und der wegen fahrlässiger Tötung angeklagte Polizeibeamte (B) freigesprochen. Auf die gegen den Freispruch des Dienstgruppenleiters gerichteten Revisionen hin hob der Bundesgerichtshof mit Urteil vom 7. Januar 2010 das Urteil des Landgerichts (01) insoweit auf und verwies die Sache an das Landgericht (02) zurück. Das Landgericht (02) verurteilte den Angeklagten daraufhin mit Urteil vom 13. Dezember 2012 wegen fahrlässiger Tötung. Die hiergegen eingelegten Revisionen verwarf der Bundesgerichtshof mit Urteil vom 4. September 2014. 3 2. Mit Verfügung der Staatsanwaltschaft (…) vom 4. April 2017 wurde ein Ermittlungsverfahren wegen Mordes gegen die Polizeibeamten (C) und (D) eingeleitet. Die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg beauftragte die Staatsanwaltschaft Halle gemäß § 145 Abs. 1 GVG mit Schreiben vom 19. Mai 2017 mit der Wahrnehmung der Amtsverrichtungen der Staatsanwaltschaft (…) im Hinblick auf das eingeleitete Ermittlungsverfahren. Unter Bezugnahme auf einen Aktenvermerk vom 30. August 2017 lehnte es die Staatsanwaltschaft Halle mit Bescheid vom 12. Oktober 2017 ab, weitere Ermittlungen gegen Polizeibeamte oder andere Personen einzuleiten beziehungsweise weitere Ermittlungen zur Todesursache anzustrengen. Es sei eine Vielzahl von Möglichkeiten des Brandausbruchs und des Brandverlaufs denkbar, die, wie verschiedene Versuche ergeben hätten, zu widerstreitenden, sich teils wechselseitig ausschließenden Darlegungen der Sachverständigen der unterschiedlichen Fachrichtungen führten. Jedes weitere Gutachten oder ergänzende Versuche wären nicht geeignet, den Sachverhalt dahingehend weiter aufzuklären, dass der Nachweis einer Straftat durch Dritte erfolgen könnte. Die Veranlassung weiterer Ermittlungen sei deshalb nicht erfolgversprechend. 4 3. Mit Schreiben vom 7. Dezember 2017 wies das Ministerium für Justiz und Gleichstellung des Landes Sachsen-Anhalt die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg gemäß § 145 Abs. 1, § 146, § 147 Nr. 2 GVG an, zur Beschleunigung und Konzentration des Verfahrens die Amtsverrichtungen der Staatsanwaltschaft Halle in dem Ermittlungsverfahren selbst zu übernehmen und insoweit eine eigenständige und gegebenenfalls durch weitere Ermittlungen gestützte Bewertung der Geschehnisse zu treffen. Die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg nahm daraufhin eine entsprechende Bewertung vor und fasste deren Ergebnis in einem 218 Seiten umfassenden Prüfvermerk vom 17. Oktober 2018 zusammen. 5 Die gegen den Bescheid der Staatsanwaltschaft Halle vom 12. Oktober 2017 gerichtete Beschwerde wies die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg mit Bescheid vom 29. November 2018 unter Bezugnahme auf den Prüfvermerk vom 17. Oktober 2018 zurück. Sämtliche seit 2005 in diesem Zusammenhang geführten Akten seien vollständig gesichtet und erneut ausgewertet worden. Die Akten seien vom Beginn der Ermittlungen bis zu deren Ende chronologisch durchgearbeitet und die jeweiligen Beweismittel dabei ergebnisoffen gegenübergestellt und gewürdigt worden. Die in den Akten befindlichen Urteile und Bescheide seien dann erst zum Schluss der Aktendurchsicht gelesen und die dortigen Feststellungen mit den eigenen Feststellungen abgeglichen worden. Zuletzt seien diese eigenen Erkenntnisse nochmals anhand der Stellungnahme des Beschwerdeführers und der Antragsschriften der „Initiative (…) e.V.“ daraufhin abgeglichen worden, ob sich aus diesen möglicherweise durchgreifende Gegenargumente ergeben. Als Ergebnis dieser umfangreichen Auswertung sei festzuhalten, dass sich keine beweisbaren Anhaltspunkte dafür gefunden hätten, dass eine Entzündung der Matratze durch (…) selbst ausgeschlossen werden müsse und nur die Entzündung durch Dritte in Betracht komme. Dies wäre indes Voraussetzung für weitere Ermittlungen, um den oder die Dritten individuell namhaft machen und in einer Hauptverhandlung vor einem Gericht zur Verantwortung ziehen zu können. 6 4. Den daraufhin vom Beschwerdeführer gestellten Antrag auf gerichtliche Entscheidung verwarf das Oberlandesgericht Naumburg mit Beschluss vom 22. Oktober 2019 als unzulässig. 7 a) Der Antrag entspreche nicht den in § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO normierten Anforderungen. Er enthalte unter Gliederungspunkt A. zunächst die Darstellung des Verfahrensgangs, wobei die Einleitungsverfügung der Staatsanwaltschaft (…) vom 7. Dezember 2012 als AR-Sache, vom 30. Oktober 2013 als Ujs-Sache und vom 4. April 2017 als Js-Sache gegen die Polizeibeamten (C) und (D) wegen Mordverdachts einschließlich der Auszeichnungsverfügung, die Zuweisungsverfügung des Generalstaatsanwalts vom 19. Mai 2017 an die Staatsanwaltschaft Halle, die Auszeichnungsverfügung vom 8. Juni 2017 und der Prüfvermerk der Staatsanwaltschaft Halle vom 30. August 2017, die Einstellungsverfügung und der Einstellungsbescheid der Staatsanwaltschaft Halle vom 12. Oktober 2017, der Beschwerdeschriftsatz vom 13. Oktober 2017, erneut der Prüfvermerk der Staatsanwaltschaft Halle vom 30. August 2017 (diesmal in anonymisierter Form), der Schriftsatz der Prozessbevollmächtigten vom 10. Januar 2018, der Erlass des Ministeriums für Justiz und Gleichstellung vom 7. Dezember 2017, die Übersendungsverfügung der Staatsanwaltschaft Halle an die Generalstaatsanwaltschaft vom 3. Januar 2018, der Bescheid der Generalstaatsanwaltschaft vom 29. November 2018 und der 218 Seiten umfassende Prüfbericht der Generalstaatsanwaltschaft vom 17. Oktober 2018 jeweils komplett eingerückt würden. Unter Gliederungspunkt B. erfolge sodann eine Bezugnahme auf die Gründe des Urteils des Landgerichts (02) vom 13. Dezember 2012, ohne dass dieses eingerückt oder im erforderlichen Umfang mitgeteilt werde, mit einer teilweisen, nicht wörtlichen Wiedergabe der dortigen Sachverhaltsdarstellungen, welche teilweise mit einer abweichenden Wertung kommentiert würden, ohne dass erkennbar werde, auf welchen konkreten Beweismitteln die abweichende Wertung beruhe. Die entsprechenden Beweismittel aus den Ermittlungs- und Strafakten würden weder eingerückt noch in einem nachvollziehbaren Umfang dargestellt. Im Anschluss hieran würden unter Bezugnahme auf die im Schriftsatz vom 25. September 2015 zusammengefassten sechs Gründe, warum (…) das Feuer nicht selbst gelegt haben könne, die bereits angeführten Argumente wiederholt. Es schlössen sich auf den folgenden zwei Seiten Anmerkungen zu dem Prüfvermerk vom 17. Oktober 2018 an, in denen das erste der vorgenannten Argumente wiederholt und auf Thesen verschiedener Sachverständiger hingewiesen werde, ohne deren Gutachten zumindest in den wesentlichen Teilen mitzuteilen. Des Weiteren werde ein neues, bereits am 9. März 2018 im Auftrag des Beschwerdeführers erstelltes Gutachten des (01) vorgelegt, wonach eine Brandlegung durch (…) selbst mit Sicherheit ausscheide. Schließlich werde ausgeführt, dass tatverdächtig „die beiden Herrn (…) festnehmenden Polizeibeamten (E) und (B) sowie Frau (C) und (A)“ seien. Als mögliches Motiv des (E) werde „der Wille zur Vertuschung des – möglicherweise wiederholten – eigenen Fehlverhaltens und eine sich zwischen Herrn (E) und (…) schon in der (…)-Straße anbahnenden Eskalation“ und als Motiv der Frau (C) „eigenes Entnervtsein als auch Corpsgeist“ angegeben. Eine Darstellung, welcher beziehungsweise welche der vorgenannten Polizeibeamten den Brand hätten legen sollen und aufgrund welcher Beweismittel ein diesbezüglicher Nachweis möglich sein solle, fehle. 8 b) Der Antrag erweise sich aber auch in der Sache als unbegründet, weil die Generalstaatsanwaltschaft einen hinreichenden Tatverdacht im Sinne der § 170 Abs. 1, § 203 StPO zu Recht verneint habe. Ein hinreichender Tatverdacht lasse sich bereits deshalb nicht bejahen, weil in Übereinstimmung mit den Feststellungen des Landgerichts (02) im Urteil vom 13. Dezember 2012 nach wie vor naheliege, dass der durch Cannabis, Kokain und Alkohol hochgradig berauschte (…) in einem von Stimmungswechseln, Selbstschädigungstendenzen und Schmerzunempfindlichkeit gekennzeichneten Zustand den Brand mit einem Feuerzeug selbst gelegt habe, um auf diese Weise aus der Zelle zu gelangen, wobei er an einem inhalatorischen Hitzeschock verstorben sei. 9 Die von der Nebenklage bereits gegenüber der Staatsanwaltschaft aufgestellte Behauptung, es stehe fest, dass sich das Feuerzeug vor dem Brand nicht in der Zelle befunden habe, sondern erst später zum Brandschutt gelangt sei, sei nicht belegt. Wie bereits das Landgericht (02) in seinem Urteil vom 13. Dezember 2012 zutreffend ausgeführt habe, sei das im Brandschutt gefundene Feuerzeug nicht erst mit Verspätung der Asservatenliste zugefügt worden, und es gebe keine greifbaren Anhaltspunkte dafür, dass es dem Brandschutt nachträglich beigefügt worden sei. Vieles spreche dafür, dass der Polizeibeamte (B) sein Feuerzeug in der Gewahrsamszelle verloren habe. Unabhängig davon sei – wie bereits das Landgericht (01) im Urteil vom 8. Dezember 2008 zutreffend ausgeführt habe – weiterhin nicht auszuschließen, dass (…) ein anderes Feuerzeug bei sich geführt habe, welches bei der Durchsuchung unentdeckt geblieben sei. Auch mit den weiteren fünf Thesen aus dem Schriftsatz vom 25. September 2015 habe sich die Generalstaatsanwaltschaft sehr detailliert und überzeugend auseinandergesetzt. Bekräftigend sei lediglich Folgendes anzumerken: 10 Die Aussage des Polizeibeamten (F), wonach er die Polizeibeamten (E) und (B) um circa 11:30 Uhr in der Gewahrsamszelle angetroffen habe, als sie (…) durchsucht hätten, sei von der Polizeibeamtin (C) nicht aus eigener Anschauung bestätigt worden, sondern aus einem vermeintlichen Schließgeräusch der Zellentür geschlussfolgert worden. Zudem beruhe die Zeitangabe des Beamten (F) allein auf seiner Erinnerung, dass er den Beamten (B) zum Mittagessen habe mitnehmen wollen, wobei er aber nicht habe ausschließen können, dass er sich mit dem Beamten (B) nicht zum Mittagessen, sondern womöglich zum ersten beziehungsweise zweiten Frühstück habe begeben wollen. Bei dieser Sachlage deute vieles darauf hin, dass um 11:30 Uhr keine Zellenkontrolle stattgefunden habe. Hierfür spreche auch, dass für die Beamten (C) und (D) kein Grund bestanden hätte, um 11:45 Uhr eine weitere, nämlich die dokumentierte letzte Zellenkontrolle vorzunehmen. Im Übrigen ließen beide Zellenkontrollen keinen Schluss auf eine Brandlegung durch Polizeibeamte zu, da der Rauchmelder in der Zelle erst um 12:05 Uhr ausgelöst habe, und zwar bei einer Reaktionszeit von höchstens 2 Minuten und 50 Sekunden, welche sich durch das in der Gewahrsamszelle angebrachte Abdeckgitter um maximal 60 Sekunden verlängert habe. 11 Der Umstand, dass (…) kein Kohlenmonoxid eingeatmet und einen unauffälligen Noradrenalinwert aufgewiesen habe, beweise nicht, dass er bei der Brandlegung zumindest bewusstlos gewesen sei, sondern deute zusammen mit den geringen Rußbelastungen in Lunge, Speiseröhre und Magen gerade auf einen Tod infolge eines „flash fire“ hin. 12 Ausweislich des Gutachtens bedürfe es auch weder des Vorliegens von Zündstellen außerhalb des Bewegungsfeldes der rechten Hand noch der Verwendung von Brandbeschleunigern, um die Spuren zu erklären. 13 Die Versuche des Sachverständigen (02) seien bereits deshalb nicht geeignet, hiervon abweichend den Einsatz von Brandbeschleunigern zu belegen, weil dieser für seine Experimente einen anderen als den in der Zelle vorhandenen Matratzentyp verwendet habe. 14 Die These, dass ein inhalativer Hitzeschock mit der Position der Leiche nicht vereinbar sei, weil sich ein Mensch intuitiv vom Feuer weg bewege, überzeuge ebenfalls nicht, weil (…) durch heftigste Körperbewegungen Luftverwirbelungen erzeugt und so in aufgerichteter Position Dämpfe mit einer Temperatur von mehr als 180 Grad eingeatmet haben könne. 15 Die in der Beschwerdebegründung zusätzlich aufgestellten Thesen, wonach die für einen inhalatorischen Schock erforderliche Hitze von 180 Grad Celsius innerhalb von zwei Minuten überhaupt nicht erreichbar und ein Herzversagen abwegig sei, seien durch den im Februar 2005 vom Institut der Feuerwehr durchgeführten ersten Brandversuch als widerlegt anzusehen. 16 Zu Recht habe die Generalstaatsanwaltschaft auch darauf hingewiesen, dass eine vorsätzliche Brandlegung durch Dritte bereits angesichts des für die Tat zur Verfügung stehenden kleinen Zeitfensters im Grunde nur dann denkbar wäre, wenn sich sämtliche im Dienst befindlichen Beamten verschworen und an der Brandlegung mitgewirkt oder diese zumindest vertuscht hätten. Für eine flächendeckende Absprache unter Einbindung außenstehender Beteiligter habe aber nicht genügend Zeit zur Verfügung gestanden. Eine solche erscheine auch angesichts der von den Beteiligten, insbesondere der Beamtin (C) gezeigten Betroffenheit beziehungsweise Erschütterung, des unterschiedlichen Aussageverhaltens der Beteiligten und des Fehlens sämtlicher typischen Merkmale für abgesprochene Aussagen eher fernliegend. 17 Wie die Generalstaatsanwaltschaft überzeugend ausgeführt habe, sprächen gegen eine Selbstentzündung auch nicht die Ergebnisse der seit 2015 eingeholten weiteren Gutachten, einschließlich der Besprechung am 1. Februar 2017 im rechtsmedizinischen Institut in (…). Auch die angesichts der dabei zu Tage getretenen Diskrepanzen von der Staatsanwaltschaft (…) am 13. Februar 2017 vorgenommene Versendung von Fragebogen zum Ankreuzen habe nicht zu einem einheitlichen Bild der gutachterlichen Einschätzungen geführt. Insoweit sei zu beachten, dass sich die Stellungnahmen vornehmlich auf die Ergebnisse, insbesondere den Temperaturverlauf, des in (…) durchgeführten Brandversuchs vom 18. August 2016 stützten, welcher, wie jeder in diesem Zusammenhang durchgeführte Brandversuch, aber daran kranke, dass das tatsächliche Brandgeschehen angesichts der vom Sachverständigen (03) vor dem Landgericht (02) bekundeten – je nach den vorgegebenen Parametern – mehr als 300.000 denkbaren Brandverläufen letztlich nicht mehr rekonstruierbar sei, zumal es den damals in der Zelle befindlichen Matratzentyp nicht mehr gebe. 18 Der Senat folge der Generalstaatsanwaltschaft auch insoweit, als es dem erst mit der Klageerzwingungsschrift vom 4. Januar 2019 eingereichten neuen Gutachten des (01) vom 9. März 2018 bereits deshalb an Aussagekraft mangele, weil nicht ersichtlich sei, in welchem Umfang dem Sachverständigen die Akten vorgelegen hätten. 19 Unabhängig davon, dass nach wie vor vieles für eine Selbstentzündung des (…) spreche, fehle es für eine Brandlegung von anderer Seite jedenfalls an einem hinreichenden Tatverdacht gegen einen konkreten Beschuldigten. Der Polizeibeamte (A) sei mit rechtskräftigem Urteil des Landgerichts (02) vom 13. Dezember 2012 bereits wegen fahrlässiger Tötung verurteilt worden. Wie vom Landgericht und der Generalstaatsanwaltschaft zutreffend ausgeführt, sei die Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung nur möglich gewesen, weil eine Brandlegung durch ihn oder andere auszuschließen gewesen sei, da es ansonsten am Pflichtwidrigkeitszusammenhang gefehlt hätte. Insoweit seien auch unter Berücksichtigung der nach der Urteilsverkündung gewonnenen Erkenntnisse keine Anhaltspunkte für die Beteiligung des Polizeibeamten (A) an einem vorsätzlichen Tötungsdelikt zu erkennen. Der vom Leitenden Oberstaatsanwalt (…) in seinem Vermerk vom 4. April 2017 bejahte Anfangsverdacht gegen (C) und den am 15. Februar 2017 verstorbenen (D) sei allein auf den Umstand gestützt gewesen, dass die Vorgenannten die letzte Zellenkontrolle durchgeführt hätten. Letzteres begründe jedoch keinen hinreichenden Tatverdacht. Es bestehe auch kein hinreichender Tatverdacht gegen die Beamten (E) und (B). Dass der Beamte (B) um 11:30 Uhr eine weitere, nicht im Gewahrsamsbuch eingetragene Zellenkontrolle durchgeführt habe, stehe zum einen nicht fest und würde zum anderen auch keinen Schluss auf die Beteiligung an einem Tötungsdelikt zulassen. Das den Beamten (E) und (B) im Klageerzwingungsantrag unterstellte Motiv, die angeblich rechtswidrige Festnahme und Verbringung des (…) in die Gewahrsamszelle durch ein Tötungsdelikt vertuschen zu wollen, sei ebenfalls nicht nachvollziehbar. Daran ändere auch der Umstand nichts, dass die Nebenklage zwischenzeitlich ein Sachverständigengutachten des (04) vom 2. Oktober 2019 vorgelegt habe, wonach dieser zu dem Schluss gelangt sei, „dass Knochenbrüche des Nasenbeins, der knöchernen Nasenscheidewand sowie ein Bruchsystem in das vordere Schädeldach sowie ein Bruch der 11. Rippe rechtsseitig nachweisbar“ seien. Das vorgenannte Gutachten beruhe nicht auf einer selbst durchgeführten Sektion, sondern auf dem Sektionsprotokoll des (05) vom 12. April 2005 sowie der Begutachtung einer CD mit der Computertomographie vom 31. März 2005. Den von (05) bei der computertomographischen Untersuchung der Leiche bereits am 31. März 2005 festgestellten Nasenbeinbruch könne sich (…) durch das von den Polizeibeamten (B) und (E) geschilderte Stoßen mit dem Kopf gegen die Seitenscheibe des Streifenwagens sowie gegen die Wand und die Tischplatte im Arztzimmer selbst zugefügt haben; er könne durch unsachgemäße Behandlung der Leiche aber auch erst post mortem entstanden sein. Der von (05) damals nicht festgestellte Bruch der 11. Rippe stehe nicht fest, sondern es ließen sich lediglich diesbezügliche Zeichen sowie eine „Inhomogenität des Weichteilgewebes“ nachweisen, was beides wiederum lediglich auf eine „äußerliche Gewalteinwirkung (…) vor dem Todeseintritt“ schließen lasse. Bewiesen sei der Rippenbruch damit nicht; im Übrigen würde ein von (…) im Rahmen einer körperlichen Auseinandersetzung mit der Polizei davongetragener Rippenbruch kein nachvollziehbares Motiv für einen diesbezüglichen Vertuschungsmord darstellen, zumal dann, wenn sich nach radiologischer Untersuchung nicht einmal die Experten darüber einig seien, ob ein Rippenbruch vorgelegen habe, von dem die beiden Polizeibeamten keine Kenntnis hätten haben können. Auch der von der Nebenklage als Motiv sämtlicher beteiligter Beamten bemühte Vorwurf eines bei der Polizei bestehenden „institutionellen Rassismus“ erscheine nicht gerechtfertigt. Im Übrigen würde das Vorliegen von „institutionellem Rassismus“ kein Motiv für ein vorsätzliches Tötungsdelikt begründen. 20 5. Das Oberlandesgericht Naumburg wies die hiergegen eingelegte Anhörungsrüge mit Beschluss vom 22. Januar 2020 zurück. Der Antrag sei unbegründet. Der Senat habe bei seiner Entscheidung keinen Verfahrensstoff berücksichtigt, zu dem der Beschwerdeführer nicht hätte Stellung nehmen können; er habe keinen Vortrag des Beschwerdeführers übergangen. II. 21 1. Der Beschwerdeführer macht geltend, in seinen Rechten aus Art. 2 Abs. 2 Sätze 1 und 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2, Art. 3 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG verletzt zu sein. 22 a) Der Anspruch auf effektive Strafverfolgung aus Art. 2 Abs. 2 Sätze 1 und 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG sei verletzt. Die Ermittlungen seien nicht unvoreingenommen gewesen und hätten ausschließlich der Bestätigung der Selbstentzündungsthese gedient. Die Auslegung der Aussagen der Beamten (E), (B) und (C) sei einseitig. Die Ermittlungen seien zögerlich und lückenhaft durchgeführt worden. Eine brauchbare Tatdokumentation fehle. Die Auffindesituation wichtiger Beweismittel sei ebenfalls nicht nachvollziehbar dokumentiert worden. So weigerten sich die Strafverfolgungsbehörden zur Kenntnis zu nehmen, dass sich das in der Zelle 5 aufgefundene Feuerzeug während des Brandgeschehens dort nicht habe befinden können. Beispielsweise werde in dem Prüfbericht des Sachverständigen (06) vom 12. Juli 2018 festgestellt, dass das am 10. Januar 2005 in einer Brandschutztüte entdeckte Feuerzeug sich während des Brandes in der Zelle 5 jedenfalls nicht im unmittelbaren Brandgeschehen habe befinden können. Diese Feststellung erkläre, wieso die Dokumentation der Sicherstellung des Feuerzeugs in der Zelle fehle und die entsprechende Videoaufnahme vor der Sicherstellung abbreche. In der Einstellungsverfügung der Generalstaatsanwaltschaft werde die durch nichts belegte, völlig neue, fantasievolle Behauptung aufgestellt, die videografische Dokumentation der Sicherung des Feuerzeugs sei an einer versehentlich falschen Betätigung eines Kippschalters an der Videokamera gescheitert. Auch die Umdeutung der Ergebnisse des zur Auswertung des im August 2016 in (…) durchgeführten Brandversuchs zusammengetretenen Expertengremiums sei nicht von Aufklärungswillen getragen. Das Oberlandesgericht Naumburg stütze diese Verweigerung der Strafverfolgung mit abwegigen Bewertungen und Zeugenaussagen und abwegiger Motivforschung. Diese abwegige Beweiswürdigung ignoriere den bereits vom Bundesgerichtshof in seiner Revisionsentscheidung vom 7. Januar 2010 gegebenen Hinweis, dass bei der Bewertung der Zeugenaussagen der Polizeibeamten ein möglicher Gruppendruck im Kollegenkreis sowie ein Interesse, sich selbst zu entlasten, in den Blick zu nehmen sei. Auch mute die fehlerhafte Rechtsanwendung bezüglich der Anforderungen an den hinreichenden Tatverdacht gemäß § 170 Abs. 1 StPO willkürlich an. In den Einstellungsverfügungen und im Beschluss des Oberlandesgerichts Naumburg würden weitere Ermittlungen sowie die Anklageerhebung mit dem Argument verweigert, es könne nicht mit letzter Sicherheit ausgeschlossen werden, dass sich der Getötete nicht doch selbst angezündet habe. Dies offenbare die durchgehend fehlerhafte Anwendung des § 170 Abs. 1 StPO. Es liege auch die Annahme nahe, dass die Anforderungen an den hinreichenden Tatverdacht bewusst überhöht würden. In den angefochtenen Einstellungsverfügungen und im angefochtenen Beschluss des Oberlandesgerichts Naumburg würden weitere Ermittlungen sowie die Anklageerhebung mit dem Argument verweigert, es könne nicht mit letzter Sicherheit ausgeschlossen werden, dass sich der Getötete nicht doch selbst angezündet habe. Nicht einmal zu einer Verurteilung sei jedoch letzte Sicherheit erforderlich. 23 b) Der Beschluss des Oberlandesgerichts beruhe auf der Verletzung rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG. Die unter B. gemachten Ausführungen seien nur unvollständig zur Kenntnis genommen und berücksichtigt worden. Zwar treffe es zu, dass die Sachverhaltsdarstellungen des Urteils, mit Ausnahme der durch Anführungsstriche hervorgehobenen Zitate, nicht wörtlich wiedergegeben würden, sondern inhaltlich zusammenfassend. Darin sei aber kein Mangel im Vortrag zu erblicken. Auch würden die Sachverhaltsdarstellungen im Unterpunkt 1. nicht mit einer abweichenden Wertung kommentiert. Ihnen werde im Gegenteil zugestimmt. Wieso die zusammenfassende Wiedergabe der Sachverhaltsdarstellung des Urteils eingerückt werden solle und wie entsprechende Einrückungen die Zulässigkeit des Antrags herbeiführen könnten, erschließe sich nicht. Soweit unter B. 2. von den Sachverhaltsdarstellungen des Urteils abweichende Bewertungen vorgenommen würden, werde detailliert und unter Bezugnahme auf die Fundstellen in den Akten angegeben, auf welchen konkreten Beweismitteln die abweichende Bewertung beruhe. Unter B. 3. werde unter Angabe der herangezogenen Beweismittel dargelegt, dass sich das als Asservat 1.1.1. bezeichnete Feuerzeug, entgegen der im Urteil des Landgerichts (02) getroffenen Feststellungen nicht in Zelle 5 befunden habe. Entgegen den Ausführungen auf Seite 4 des angefochtenen Beschlusses würden in Auseinandersetzung mit der Argumentation im „Prüfungsvermerk“ unter B. 6. entgegenstehende Feststellungen der Sachverständigen mitgeteilt unter Erläuterung der wesentlichen Ergebnisse der jeweiligen Gutachten. Die vermisste Darstellung, „welcher bzw. welche der vorgenannten Polizeibeamten den Brand gelegt haben sollen und aufgrund welcher Beweismittel ein diesbezüglicher Nachweis möglich sein soll“, fehle nicht, sondern finde sich auf den Seiten 217 bis 220 der Antragsschrift unter dem Unterpunkt C. Auch die Weigerung des Senats, das mit der Antragsschrift vorgelegte Gutachten des (01) vom 9. März 2018 zu berücksichtigen, stelle einen Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör dar. Es sei schon nicht nachvollziehbar, dass dem Gutachten die Aussagekraft gänzlich abgesprochen werden solle, weil nicht ersichtlich sei, in welchem Umfang dem Sachverständigen Akten vorgelegen hätten. Offenkundig habe der Senat übersehen, dass in dem vorgelegten Gutachten des (01) am Ende jeden Kapitels mitgeteilt werde, welche Akten in diesem Kapitel jeweils verwendet worden seien. Ebenso wenig sei die Abqualifizierung des fachradiologischen Gutachtens des (04) mit der Feststellung, dass dieses nicht auf einer selbst durchgeführten Sektion beruhe, sachgerecht. Diese nunmehr nachgewiesenen weitergehenden Verletzungen würden durch die ohnehin als Schutzbehauptungen zu erachtenden Angaben der Beschuldigten (B) und (E) nicht erklärt. Festgestellt worden sei jedenfalls, dass aus dem Verletzungsbild auf äußerliche Gewalteinwirkung im Rippenbereich vor dem Todeseintritt zu schließen sei. Der Beschluss setze sich nicht damit auseinander, dass für die Gewalteinwirkung auf die Rippen vor dem Todeseintritt keine Schutzbehauptung der Beamten (B) und (E) geliefert worden sei. 24 c) Die Zurückweisung des Klageerzwingungsantrags verletze den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Art. 19 Abs. 4 GG, da das Oberlandesgericht Naumburg die Anforderungen an den Inhalt eines Klageerzwingungsantrags, wie bereits vorgetragen, überspannt habe. 25 d) Überdies werde das Recht des Beschwerdeführers auf willkürfreie Entscheidung gemäß Art. 3 Abs. 1 GG verletzt, da die Einstellungsbescheide und der Beschluss des Oberlandesgerichts Naumburg nicht auf sachgerechten Erwägungen und unvoreingenommener Würdigung der vorliegenden Beweise und Indizien und des Vortrags des Beschwerdeführers beruhten. Sie seien auch nicht vom Aufklärungswillen getragen, sondern von dem Bemühen, das Verfahren auch entgegen der Beweis- und Indizienlage einzustellen. 26 2. Das Ministerium für Justiz und Gleichstellung des Landes Sachsen-Anhalt und der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof hatten Gelegenheit, zur Verfassungsbeschwerde Stellung zu nehmen. 27 a) Nach Auffassung der Landesregierung Sachsen-Anhalt ist davon auszugehen, dass die Beschwerdeschrift den Begründungsanforderungen nach § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG nicht genügt. Die Landesregierung weist überdies darauf hin, dass der Sachverhalt und die hierzu erfolgten strafrechtlichen Ermittlungen Gegenstand einer parlamentarischen Untersuchung waren. Auf der Grundlage eines Beschlusses des Ausschusses für Recht, Verfassung und Gleichstellung des Landtages von Sachsen-Anhalt hätten die neutralen und sachkundigen Berater (01) und (02) am 26. August 2020 einen 300 Seiten starken Untersuchungsbericht vorgelegt. Darin hätten sie unter anderem ausgeführt, dass sie nach Auswertung aller Akten keine offenen Ermittlungsansätze sähen. Soweit Ermittlungen nicht oder nicht sorgfältig genug durchgeführt worden seien, ließen sich die Versäumnisse nicht mehr nachholen. Allen auch nur ansatzweise erfolgversprechenden Ermittlungsansätzen, die auch heute noch möglich wären, sei seitens der Staatsanwaltschaften nachgegangen worden. Soweit von dritter Seite weitere Ermittlungen gefordert würden, versprächen diese zurzeit keinen Erfolg im Sinne einer weiteren Aufklärung des Todes von (…). In dem Bericht werde überdies ausgeführt, dass die Übertragung des Verfahrens gemäß § 145 GVG von der Staatsanwaltschaft (…) an die Staatsanwaltschaft Halle im Mai 2017 ausweislich des Akteninhalts rechtlich völlig korrekt erfolgt sei. 28 b) Der Generalbundesanwalt hält die Verfassungsbeschwerde für unzulässig, jedenfalls für unbegründet. 29 aa) Die Verfassungsbeschwerde sei bereits – jedenfalls soweit sie sich gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Naumburg vom 22. Januar 2020 und die Bescheide von Staatsanwaltschaft und Generalstaatsanwaltschaft wende – unzulässig. Hinsichtlich des Bescheids der Staatsanwaltschaft Halle vom 12. Oktober 2017 ergebe sich die Unzulässigkeit aus der durch die Beschwerdeentscheidung eingetretenen prozessualen Überholung. Die Generalstaatsanwaltschaft habe eine umfassende eigene Prüfung vorgenommen. Damit sei die Beschwerdeentscheidung in vollem Umfang an die Stelle der vorangegangenen Entscheidung getreten. Angesichts der umfassenden Prüfungs- und Entscheidungskompetenz des Oberlandesgerichts im Klageerzwingungsverfahren dürfte zudem auch der Bescheid der Generalstaatsanwaltschaft durch den Beschluss des Oberlandesgerichts Naumburg vom 22. Oktober 2019 prozessual überholt sein. Der Umstand, dass durch die Verwerfung der jeweiligen Rechtsmittel die vorangegangenen Entscheidungen jeweils existent blieben, stehe ihrer prozessualen Überholung nicht entgegen. Die Verfassungsbeschwerde sei auch bezüglich des Beschlusses des Oberlandesgerichts Naumburg vom 22. Januar 2020 unzulässig. Die Entscheidung über die Anhörungsrüge begründe keine eigenständige mit der Verfassungsbeschwerde angreifbare Beschwer. Soweit sich der Beschwerdeführer durch den Beschluss des Oberlandesgerichts Naumburg vom 22. Oktober 2019 in seinem Recht auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG verletzt sehe, genüge die Verfassungsbeschwerde nicht den Anforderungen an eine substantiierte Begründung gemäß § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG. Der Vortrag des Beschwerdeführers sei nicht geeignet aufzuzeigen, dass das Oberlandesgericht einen bestimmten Vortrag des Beschwerdeführers nicht zur Kenntnis genommen oder nicht in seine Erwägungen einbezogen hätte. Die diesbezüglichen Rügen des Beschwerdeführers liefen vielmehr darauf hinaus, dass das Oberlandesgericht einzelnen Beweismitteln nicht die ihnen aus Sicht des Beschwerdeführers gebührende Bedeutung zugemessen habe und es insgesamt den im Klageerzwingungsantrag vorgenommenen Bewertungen der Beweislage nicht gefolgt sei. 30 bb) Im Übrigen sei die Verfassungsbeschwerde jedenfalls unbegründet. 31 (1) Art. 19 Abs. 4 GG sei nicht verletzt. Die vom Oberlandesgericht vertretene Rechtsauffassung, wonach der Antragsschriftsatz den Darlegungsanforderungen des § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO nicht genüge, sei nicht zu beanstanden. In Anbetracht des Umstands, dass alle sechs Thesen, die nach Ansicht des Beschwerdeführers gegen die Möglichkeit einer Brandlegung durch Herrn (…) sprächen, bereits mit einem Schreiben der „Initiative (…) e.V.“ vom 25. September 2015 vorgetragen worden seien, habe es nicht genügt, diese Thesen im Rahmen einer eigenen Würdigung in dem Antragsschriftsatz im Wesentlichen zu wiederholen. Eine solche Wiederholung früheren Vortrags stelle letztlich eine Verweigerung der inhaltlichen Auseinandersetzung mit den angegriffenen Bescheiden dar und sei nicht geeignet, eine fehlende Tragfähigkeit ihrer Argumentation aufzuzeigen. 32 Das Oberlandesgericht weise auch zutreffend darauf hin, dass der Beschwerdeführer keine neuen Beweismittel benannt habe. Da der Beschwerdeführer die bereits bekannten und in dem Prüfbericht eingehend behandelten Thesen in seiner Antragsschrift wiederholt habe, wäre er jedoch zumindest gehalten gewesen aufzuzeigen, dass Staatsanwaltschaft und Generalstaatsanwaltschaft bestimmte Beweismittel ungenutzt gelassen haben, obwohl diese auch unter Berücksichtigung eines gebotenen angemessenen Ressourceneinsatzes aufgrund der durch sie zu erwartenden erheblichen neuen Erkenntnisse in die Ermittlungen hätten einbezogen werden müssen. 33 Schließlich genüge es nicht, ein Fremdverschulden des Todes von (…) darzulegen. Die Ausführungen in dem Klageerzwingungsantrag müssten sich vielmehr auch auf die Verwirklichung aller Tatbestandsmerkmale durch bestimmte Beschuldigte beziehen. Zwar enthalte die Antragsschrift knappe Ausführungen zu einem nach Auffassung des Beschwerdeführers bestehenden Tatverdacht gegen die Polizeibeamten (E) und (C). Diese Ausführungen erschöpften sich jedoch weitgehend in Spekulationen zu möglichen Tatmotiven und wären allenfalls geeignet, einen Anfangsverdacht, nicht jedoch einen hinreichenden Tatverdacht zu begründen. Auch würden keine neuen, bisher ungenutzt gebliebenen Beweismittel aufgezeigt. Zudem bestehe auch hier ein eklatantes Missverhältnis zwischen den äußerst knappen und oberflächlichen Ausführungen im Antragsschriftsatz und der eingehenden Argumentation im Prüfbericht der Generalstaatsanwaltschaft, die sich eingehend damit befasst habe, ob einer der Polizeibeamten des Polizeireviers (…) oder ein sonstiger Dritter ein Motiv für eine Tötung des Herrn (…) und auch die zeitliche Möglichkeit für die Brandlegung gehabt haben könnte. 34 Letztlich könne das Vorliegen einer Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG aber dahinstehen. Da das Oberlandesgericht eine umfassende Begründetheitsprüfung vorgenommen habe, könne der angegriffene Beschluss auf einer etwaigen Art. 19 Abs. 4 GG verletzenden, überstrengen Auslegung des § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO jedenfalls nicht beruhen. 35 (2) Eine Verletzung des Anspruchs auf effektive Strafverfolgung aus Art. 2 Abs. 2 Sätze 1 und 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 und Art. 6 Abs. 1 GG sei ebenfalls nicht gegeben. 36 (a) Entgegen der vom Beschwerdeführer vertretenen Auffassung sei nicht zu besorgen, dass das Oberlandesgericht oder Staatsanwaltschaft und Generalstaatsanwaltschaft die Anforderungen an das Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachts überspannt haben könnten. 37 Anders als vom Beschwerdeführer behauptet, habe das Oberlandesgericht weder einen hinreichenden Tatverdacht mit dem Argument verneint, dass eine Brandlegung durch Herrn (…) selbst „nicht mit letzter Sicherheit ausgeschlossen“ werden könne, noch habe es aufgrund einer solchen Argumentation die Durchführung weiterer Ermittlungen abgelehnt. Vielmehr sei das Oberlandesgericht im Ergebnis mit nachvollziehbaren Erwägungen zu dem Schluss gelangt, dass „vieles für eine Selbstentzündung des (…)“ spreche und es im Übrigen jedenfalls an einem hinreichenden Tatverdacht gegen einen konkreten Beschuldigten fehle. 38 Die Behauptung des Beschwerdeführers, von der Staatsanwaltschaft sei nicht bestritten worden, dass eine Fremdtötung von Herrn (…) überwiegend wahrscheinlich sei, sei unzutreffend. In dem Vermerk vom 30. August 2017 werde vielmehr im Ergebnis festgestellt, dass „bei einigen Gutachtern aus wissenschaftlicher Sicht Zweifel an der Selbstentzündung des (…)“ bestünden. Auch die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg habe in ihrem Beschwerdebescheid – trotz einer missverständlichen Formulierung auf Seite 2 des Bescheids – nicht die Rechtsauffassung vertreten, die Bejahung eines hinreichenden Tatverdachts oder auch nur die Durchführung weiterer Ermittlungen komme nicht in Betracht, sofern die Möglichkeit einer Brandlegung durch Herrn (…) nicht gänzlich auszuschließen sei. Die Verneinung eines hinreichenden Tatverdachts beruhe vielmehr auf der nachvollziehbaren Würdigung, der zufolge „trotz aller Bemühungen ein auf Tatsachen und nicht nur auf Mutmaßungen bzw. theoretisch denkbaren Möglichkeiten beruhender Beweis“ für ein zum Tode des Herrn (…) führendes Handeln Dritter nicht habe erbracht werden können. Im Übrigen wäre ein etwaiger Rechtsfehler durch den Beschluss des Oberlandesgerichts Naumburg vom 22. Oktober 2019 geheilt worden, durch den die vorgenannten Bescheide prozessual überholt seien. 39 (b) Die angegriffenen Entscheidungen seien eingehend begründet. Der Verlauf der Ermittlungen sei diesen Entscheidungen und den vorangegangenen Urteilen des Landgerichts (01) vom 8. Dezember 2008 und des Landgerichts (02) vom 13. Dezember 2012 detailliert zu entnehmen. Der Beschwerdeführer zeige weder auf, dass die Würdigung der Ermittlungserkenntnisse verfassungsrechtlich zu beanstanden sein könnte noch sei seinem Vortrag zu entnehmen, dass im Rahmen der umfassenden Ermittlungen bestimmte Ermittlungsansätze ungenutzt geblieben sein könnten, denen auch unter Berücksichtigung eines angemessenen Ressourceneinsatzes hätte nachgegangen werden müssen. 40 (aa) Der Verweis auf die Ausführungen des Sachverständigen (06) in seinem Bericht vom 12. Juli 2018 – den der Beschwerdeführer entgegen den Anforderungen aus § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG nicht vorgelegt, sondern nur mit einem knappen Auszug zitiert habe – seien nicht geeignet, eine Lücke oder einen Widerspruch in der Beweiswürdigung des Oberlandesgerichts aufzuzeigen. Der Beschwerdeführer setze die Ausführungen nicht in Bezug zu der ausführlichen Würdigung im Prüfvermerk der Generalstaatsanwaltschaft, die eingehend dargelegt habe, weshalb die Ermittlungsergebnisse nicht dagegen sprächen, dass sich das asservierte Feuerzeug bereits zum Zeitpunkt des Brandes in der Gewahrsamszelle befunden habe. Zudem ergebe sich aus dem zitierten Ausschnitt des Berichts nicht, dass sich kein Feuerzeug in der Zelle befunden haben könnte. Der Sachverständige habe lediglich ausgeschlossen, dass sich das Feuerzeug auf dem Liegepodest befunden haben könnte. 41 (bb) Soweit der Beschwerdeführer rüge, dass die „eindeutigen und klaren Ergebnisse“ des Expertengremiums, das den in (…) durchgeführten Brandversuch ausgewertet habe, ignoriert worden seien, setze er sich bereits nicht mit den diesbezüglichen Ausführungen in dem angegriffenen Beschluss des Oberlandesgerichts auseinander. 42 (cc) Auch soweit der Beschwerdeführer die vom Oberlandesgericht vorgenommene Würdigung der Aussagen verschiedener Polizeibeamter des Polizeireviers (…) beanstande und die Ignorierung eines „möglichen“ Gruppendrucks und in Betracht kommenden Selbstentlastungsinteresses der Beamten rüge, zeige er keine Lücke oder sonstigen Fehler in der Würdigung der Aussagen auf. Es habe keine Veranlassung bestanden, im Rahmen der Würdigung der Aussagen der Beamten auf die abstrakte Möglichkeit einer durch Selbstentlastungstendenzen und Gruppendruck bewirkten Falschaussage einzugehen, für die gerade keine konkreten Anhaltspunkte hätten ermittelt werden können. 43 (dd) Im Hinblick auf das erst mit dem Klageerzwingungsantrag eingereichte Gutachten des Sachverständigen (01) zeige die Verfassungsbeschwerde ebenfalls keine Lücke in der Würdigung des Oberlandesgerichts auf. Zum einen lege der Beschwerdeführer nicht dar, aus welchen Gründen dem Gutachten des Sachverständigen (01) in einer Gesamtwürdigung mit den zahlreichen weiteren gutachterlichen Stellungnahmen ein ausschlaggebendes Gewicht beizumessen gewesen wäre. Zum anderen verweise der Beschwerdeführer zwar zutreffend darauf, dass in dem Gutachten am Ende jedes Kapitels die verwendeten Aktenteile aufgeführt seien. Dennoch könne, worauf das Oberlandesgericht zu Recht hinweise, nicht nachvollzogen werden, ob die dem Sachverständigen zur Verfügung gestellten Akten alle Erkenntnisse aus den Ermittlungsakten oder nur eine bestimmte Auswahl enthalten hätten. Schließlich könne die Auseinandersetzung des Oberlandesgerichts mit dem Gutachten nicht vollständig nachvollzogen werden. Der Senat verweise diesbezüglich auf eine Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft, die der Beschwerdeführer nicht vorgelegt habe. 44 (ee) Soweit der Beschwerdeführer die Würdigung des von der „Initiative (…) e.V.“ in Auftrag gegebenen Gutachtens des Sachverständigen (04) durch das Oberlandesgericht beanstande, zeige er ebenfalls keinen Fehler auf. Er unternehme vielmehr den unbehelflichen Versuch, seine eigene Würdigung an die Stelle der Würdigung des Senats zu setzen. 45 (ff) Auch die pauschale Behauptung, der Senat habe die Ergebnisse von Sachverständigengutachten nicht berücksichtigt, die die Selbstentzündungsthese widerlegten und bewiesen, dass Herr (…) zum Zeitpunkt des Ausbruchs des Brandes entweder bereits tot oder aber bewusstlos gewesen sei, sei nicht geeignet, eine Lücke in der Beweiswürdigung aufzuzeigen. Mit der diesbezüglichen Argumentation des Senats setze sich der Beschwerdeführer nicht auseinander. Er unternehme vielmehr erneut den Versuch, seine eigene Würdigung an die Stelle derjenigen des Senats zu setzen. 46 (gg) Schließlich sei der Vortrag des Beschwerdeführers nicht geeignet, bislang unberücksichtigt gebliebene Erkenntnisse oder sonstige Fehler in der Würdigung des Oberlandesgerichts aufzuzeigen, bei deren Vermeidung sich ein hinreichender Tatverdacht gegen konkrete Polizeibeamte begründen ließe. Die Ausführungen des Beschwerdeführers zu einem vermeintlich gegen die Polizeibeamten (E) und (C) bestehenden hinreichenden Tatverdacht beschränkten sich auf eine bloße Behauptung. Er setze sich weder mit der diesbezüglichen Argumentation des Oberlandesgerichts noch mit der ausführlichen Würdigung der Beweislage in dem Prüfbericht der Generalstaatsanwaltschaft auseinander. 47 (3) Der Beschluss verletze auch nicht das aus Art. 3 Abs. 1 GG folgende Willkürverbot. Aus den vorgenannten Gründen lasse der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts Naumburg vom 22. Oktober 2019 weder eine Überspannung der Anforderungen an das Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachts noch Lücken, Widersprüche oder sonstige Rechtsfehler bei der Würdigung aller Ermittlungsergebnisse noch das Verkennen offen gebliebener, erfolgversprechender weiterer Ermittlungsansätze erkennen. 48 3. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen. III. 49 Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Annahmegründe nach § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist – mangels hinreichender Aussicht auf Erfolg – insbesondere nicht zur Durchsetzung der als verletzt gerügten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt (vgl. BVerfGE 90, 22 <25 f.>). Die Verfassungsbeschwerde ist jedenfalls unbegründet. Es kann weder eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG (1.) noch von Art. 3 Abs. 1 GG (2.), Art. 19 Abs. 4 GG (3.) oder Art. 103 Abs. 1 GG (4.) festgestellt werden. 50 1. Der Beschwerdeführer ist in seinem grundrechtlichen Anspruch auf effektive Strafverfolgung aus Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG nicht verletzt. 51 a) Art. 2 Abs. 2 Sätze 1 und 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG verpflichten den Staat, sich dort schützend und fördernd vor das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die Freiheit und die sexuelle Selbstbestimmung des Einzelnen zu stellen und sie vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten Dritter zu bewahren (vgl. BVerfGE 39, 1 <42>; 46, 160 <164>; 121, 317 <356>; BVerfGK 17, 1 <5>), wo die Grundrechtsberechtigten nicht selbst dazu in der Lage sind. Ein Anspruch auf bestimmte, vom Einzelnen einklagbare Maßnahmen folgt daraus jedoch grundsätzlich nicht. Insbesondere kennt die Rechtsordnung in der Regel keinen grundrechtlich radizierten Anspruch auf eine Strafverfolgung Dritter (vgl. BVerfGE 51, 176 <187>; 88, 203 <262 f.>; BVerfGK 17, 1 <5>; BVerfG, Beschluss der 4. Kammer des Zweiten Senats vom 9. April 2002 - 2 BvR 710/01 -, Rn. 5; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 15. Januar 2020 - 2 BvR 1763/16 -, Rn. 35). 52 aa) Etwas anderes gilt allerdings bei erheblichen Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung und die Freiheit der Person (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 26. Juni 2014 - 2 BvR 2699/10 -, Rn. 8 ff.; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Oktober 2014 - 2 BvR 1568/12 -, Rn. 9 ff.; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. März 2015 - 2 BvR 1304/12 -, Rn. 12 ff.; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Mai 2015 - 2 BvR 987/11 -, Rn. 17 ff.; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 25. Oktober 2019 - 2 BvR 498/15 -, Rn. 13). Die wirksame Verfolgung von Gewaltverbrechen und vergleichbaren Straftaten dieser Art stellt eine Konkretisierung der staatlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Sätze 1 und 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG dar (vgl. BVerfGK 17, 1 <5>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 26. Juni 2014 - 2 BvR 2699/10 -, Rn. 10) und ist ein wesentlicher Auftrag des rechtsstaatlichen Gemeinwesens (vgl. BVerfGE 29, 183 <194>; 77, 65 <76>; 80, 367 <375>; 100, 313 <388 f.>; 107, 299 <316>; 122, 248 <272 f.>; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 12. Oktober 2011 - 2 BvR 236/08, 2 BvR 237/08, 2 BvR 422/08 -, Rn. 249; Beschluss des Zweiten Senats vom 16. Juni 2015 - 2 BvR 2718/10, 2 BvR 1849/11, 2 BvR 2808/11 -, Rn. 93). Er kann insoweit auch Grundlage subjektiver öffentlicher Rechte sein (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 2. Juli 2018 - 2 BvR 1550/17 -, Rn. 38). Bei Kapitaldelikten kann ein solcher Anspruch auf der Grundlage von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 1 Abs. 1 GG auch nahen Angehörigen zustehen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Mai 2015 - 2 BvR 987/11 -, Rn. 20; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 2. Juli 2018 - 2 BvR 1550/17 -, Rn. 38). 53 Ein Anspruch auf effektive Strafverfolgung besteht dort, wo der Einzelne nicht in der Lage ist, erhebliche Straftaten gegen seine höchstpersönlichen Rechtsgüter – insbesondere Leben, körperliche Unversehrtheit und Freiheit der Person – abzuwehren, und ein Verzicht auf die effektive Verfolgung solcher Taten zu einer Erschütterung des Vertrauens in das Gewaltmonopol des Staates und einem allgemeinen Klima der Rechtsunsicherheit und Gewalt führen kann. In solchen Fällen kann, gestützt auf Art. 2 Abs. 2 Sätze 1 und 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG, ein Tätigwerden des Staates und seiner Organe auch mit den Mitteln des Strafrechts verlangt werden (vgl. BVerfGE 39, 1 <36 ff.>; 49, 89 <141 f.>; 53, 30 <57 f.>; 77, 170 <214>; 88, 203 <251>; 90, 145 <195>; 92, 26 <46>; 97, 169 <176 f.>; 109, 190 <236>). 54 Ein Anspruch auf effektive Strafverfolgung kommt zudem dort in Betracht, wo der Vorwurf im Raum steht, dass Amtsträger bei Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben Straftaten begangen haben. Ein Verzicht auf eine effektive Verfolgung solcher Taten kann zu einer Erschütterung des Vertrauens in die Integrität staatlichen Handelns führen. Daher muss bereits der Anschein vermieden werden, dass gegen Amtswalter des Staates weniger effektiv ermittelt wird oder hierbei erhöhte Anforderungen an eine Anklageerhebung gestellt werden (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Oktober 2014 - 2 BvR 1568/12 -, Rn. 12). 55 Der Anspruch auf effektive Strafverfolgung ist schließlich in Konstellationen von Bedeutung, in denen sich die Opfer möglicher Straftaten in einem „besonderen Gewaltverhältnis“ zum Staat befinden und diesem eine spezifische Fürsorge- und Obhutspflicht obliegt. In dergestalt strukturell asymmetrischen Rechtsverhältnissen, die den Verletzten nur eingeschränkte Möglichkeiten lassen, sich gegen strafrechtlich relevante Übergriffe in ihre Rechtsgüter aus Art. 2 Abs. 2 GG zu wehren – im Straf- oder Maßregelvollzug etwa –, obliegt den Strafverfolgungsbehörden eine besondere Sorgfaltspflicht bei der Durchführung von Ermittlungen und der strafrechtlichen Würdigung der gefundenen Ergebnisse (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 26. Juni 2014 - 2 BvR 2699/10 -, Rn. 12). 56 bb) Die verfassungsrechtliche Verpflichtung zu effektiver Strafverfolgung bezieht sich auf das Tätigwerden aller Strafverfolgungsorgane. Ihr Ziel ist es, eine wirksame Anwendung der zum Schutz des Lebens, der körperlichen Integrität und der Freiheit der Person erlassenen Strafvorschriften sicherzustellen. Es muss gewährleistet sein, dass Straftäter für von ihnen verschuldete Verletzungen dieser Rechtsgüter tatsächlich zur Verantwortung gezogen werden (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 26. Juni 2014 - 2 BvR 2699/10 -, Rn. 13; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Oktober 2014 - 2 BvR 1568/12 -, Rn. 14; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. März 2015 - 2 BvR 1304/12 -, Rn. 16; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Mai 2015 - 2 BvR 987/11 -, Rn. 23; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 15. Januar 2020 - 2 BvR 1763/16 -, Rn. 41). 57 Dies bedeutet nicht, dass der in Rede stehenden Verpflichtung stets nur durch Erhebung einer Anklage genügt werden kann. Vielfach wird es ausreichend sein, wenn die Staatsanwaltschaft und – nach ihrer Weisung – die Polizei die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel personeller und sachlicher Art sowie ihre Befugnisse nach Maßgabe eines angemessenen Ressourceneinsatzes auch tatsächlich nutzen, um den Sachverhalt aufzuklären und die Beweismittel zu sichern (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 26. Juni 2014 - 2 BvR 2699/10 -, Rn. 14; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Oktober 2014 - 2 BvR 1568/12 -, Rn. 15; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. März 2015 - 2 BvR 1304/12 -, Rn. 17; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Mai 2015 - 2 BvR 987/11 -, Rn. 24). Die Erfüllung der Verpflichtung zur effektiven Strafverfolgung setzt eine detaillierte und vollständige Dokumentation des Ermittlungsverlaufs ebenso voraus wie eine nachvollziehbare Begründung von Einstellungsentscheidungen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. März 2015 - 2 BvR 1304/12 -, Rn. 17; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Mai 2015 - 2 BvR 987/11 -, Rn. 24; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 29. Mai 2019 - 2 BvR 2630/18 -, Rn. 15). 58 Sie unterliegt zudem der gerichtlichen Kontrolle (§§ 172 ff. StPO). Das Oberlandesgericht ist daher verpflichtet, die Wahrung des Rechts auf effektive Strafverfolgung sowie die detaillierte und vollständige Dokumentation des Ermittlungsverlaufs und die Begründung der Einstellungsentscheidungen zu kontrollieren (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 26. Juni 2014 - 2 BvR 2699/10 -, Rn. 15; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Oktober 2014 - 2 BvR 1568/12 -, Rn. 20; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. März 2015 - 2 BvR 1304/12 -, Rn. 23). 59 b) Nach diesen Maßstäben hat der Beschwerdeführer zwar einen Anspruch auf effektive Strafverfolgung (aa). Diesem wurde der Beschluss des Oberlandesgerichts Naumburg vom 22. Oktober 2019 jedoch in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise gerecht (bb). 60 aa) Dem Beschwerdeführer steht als Bruder des Verstorbenen ein Recht auf effektive Strafverfolgung aus Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Sätze 1 und 2 und Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG zu. Der Beschwerdeführer erhebt den Vorwurf, mehrere Polizisten hätten den Tod seines sich im Polizeigewahrsam befindlichen Bruders verursacht. Ein Verzicht auf die effektive Verfolgung einer solchen Tat kann zu einer Erschütterung des Vertrauens in die Integrität staatlichen Handelns sowie im Hinblick auf den hohen Stellenwert des menschlichen Lebens zu einer Erschütterung des Vertrauens in das Gewaltmonopol des Staates und zu einem allgemeinen Klima der Rechtsunsicherheit und Gewalt führen. 61 bb) Der Beschluss des Oberlandesgerichts Naumburg vom 22. Oktober 2019 hat das Recht des Beschwerdeführers auf effektive Strafverfolgung jedoch nicht verletzt. Weder hat das Oberlandesgericht die Anforderungen an das Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachts überspannt (1) noch hat es die Bedeutung des Grundrechts auf Leben und die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die effektive Untersuchung von Todesfällen verkannt (2). 62 (1) Das Oberlandesgericht hat die Anforderungen an das Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachts gemäß § 170 Abs. 1 StPO ersichtlich nicht überspannt. Entgegen der Behauptung des Beschwerdeführers hat das Oberlandesgericht nicht darauf abgestellt, dass eine Brandlegung durch Herrn (…) selbst „nicht mit letzter Sicherheit ausgeschlossen“ werden könne. Das Oberlandesgericht hat vielmehr ausgeführt, dass es – unabhängig davon, dass nach wie vor vieles für eine Selbstentzündung des Herrn (…) spreche – für eine Brandlegung von anderer Seite jedenfalls an einem hinreichenden Tatverdacht gegen einen konkreten Beschuldigten fehle. 63 (2) Ebenso wenig hat das Oberlandesgericht die Bedeutung des Grundrechts auf Leben und die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die effektive Untersuchung von Todesfällen verkannt. 64 Die Strafermittlungsbehörden haben umfassend ermittelt. Insbesondere hat die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg in ihrem Prüfungsvermerk vom 17. Oktober 2018 sämtliche bisher im Zusammenhang mit dem Tod von (…) geführten Ermittlungen umfangreich auf etwaige Widersprüche oder Lücken untersucht und geprüft, ob sich über den bisherigen Ermittlungsstand hinaus weitere erfolgversprechende Ermittlungsansätze ergeben könnten. Dabei hat sich die Generalstaatsanwaltschaft mit den vom Beschwerdeführer vorgebrachten Gegenargumenten im Einzelnen ausführlich auseinandergesetzt und nachvollziehbar dargelegt, warum weitere Ermittlungen nicht aussichtsreich sind. Das Oberlandesgericht Naumburg hat sich detailliert mit den Ermittlungsergebnissen sowie den vom Beschwerdeführer vorgebrachten Einwendungen auseinandergesetzt und ist dabei zu jedenfalls vertretbaren Ergebnissen gelangt. Eine hiervon abweichende Beurteilung ist auf der Grundlage des Vortrags des Beschwerdeführers nicht veranlasst. 65 (a) Soweit der Beschwerdeführer vorbringt, dass es an einer brauchbaren Tatortdokumentation fehle, weil die Auffindesituation wichtiger Beweismittel nicht dokumentiert worden sei, setzt er sich nur unzureichend mit den diesbezüglichen Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft in dem Prüfungsvermerk vom 17. Oktober 2018 auseinander, auf die das Oberlandesgericht Naumburg in seinem Beschluss vom 22. Oktober 2019 Bezug genommen hat. Die Generalstaatsanwaltschaft hat die insoweit erfolgten Maßnahmen der Spurensicherung, einschließlich der Maßnahmen zur Sicherung des unter dem Rücken der Leiche gefundenen Matratzenrests, eingehend dargestellt und für die misslungene filmische Dokumentation eine jedenfalls nicht unplausibel erscheinende Begründung angeführt. Vor diesem Hintergrund kann allein aufgrund des Umstands, dass die filmische Dokumentation eines Teils der Spurensicherung unterblieben ist, nicht festgestellt werden, dass sich das Feuerzeug, wie vom Beschwerdeführer behauptet, nicht während des Brandgeschehens in der Zelle befunden haben könne. 66 (b) Auch soweit der Beschwerdeführer rügt, die Strafverfolgungsbehörden weigerten sich zur Kenntnis zu nehmen, dass sich das aufgefundene Feuerzeug während des Brandgeschehens nicht in der Zelle befunden haben könne und hierzu auf den vom Sachverständigen (06) am 12. Juli 2018 vorgelegten Prüfbericht verweist, ist dies nicht geeignet, eine lückenhafte Durchführung der Ermittlungen im Klageerzwingungsverfahren zu belegen. Entsprechend den vom Beschwerdeführer auszugsweise wiedergegebenen Ausführungen ist der Sachverständige (06) zu dem Ergebnis gekommen, dass sich das Feuerzeug neben dem Liegepodest befunden haben müsse, weil von den im Brandversuch unmittelbar am Dummy platzierten Feuerzeugen nur noch einzelne Metallteile zu finden gewesen seien. Die Generalstaatsanwaltschaft hat in dem Prüfungsvermerk vom 17. Oktober 2018 jedoch bereits dargelegt, dass für einen Lageort während des Brandes neben der Matratze die Ergebnisse des Brandversuchs in (…) vom 18. August 2016 sprechen könnten und der Sachverständige (07) hierzu ausgeführt habe, dass sich das Feuerzeug nicht im Vollbrandbereich befunden haben könne, weil die Vergleichsfeuerzeuge in den durchgeführten Tests dort bis auf die Metallteile abgebrannt seien. Es ist daher nicht ersichtlich und wird vom Beschwerdeführer auch nicht dargelegt, inwiefern auf der Grundlage der Ausführungen des Sachverständigen (06) eine andere Bewertung durch die Generalstaatsanwaltschaft beziehungsweise das Oberlandesgericht veranlasst gewesen wäre. 67 (c) Soweit der Beschwerdeführer rügt, dass die „eindeutigen und klaren Ergebnisse“ des Expertengremiums, das den in (…) durchgeführten Brandversuch ausgewertet habe, ignoriert worden seien, fehlt es an einer Auseinandersetzung mit den diesbezüglichen Ausführungen des Oberlandesgerichts. Dieses hat insoweit ausgeführt, dass die sich auf den Brandversuch stützenden Stellungnahmen der Sachverständigen sich gerade nicht zu einem einheitlichen Bild gefügt hätten und der Brandversuch überdies daran kranke, dass das tatsächliche Brandgeschehen letztlich nicht mehr rekonstruierbar sei. 68 (d) Soweit der Beschwerdeführer behauptet, das Gericht stütze die Verweigerung der Strafverfolgung auf abwegige Bewertungen von Zeugenaussagen und eine abwegige Motivforschung, zeigt er ebenfalls keine unvertretbare Beweiswürdigung des Gerichts auf. 69 Der Vorwurf einer einseitigen Spekulation in Bezug auf die Würdigung des Aussageverhaltens der Beamten (B) und (E) zwecks Begründung der bereits widerlegten These vom Feuerzeug in der Zelle 5 greift nicht durch. Entgegen der Behauptung des Beschwerdeführers hat das Oberlandesgericht nicht darauf abgestellt, dass die Beamten „ja keine gründliche Durchsuchung des Getöteten behauptet hätten, da es sie vom Tötungsvorwurf entlastet hätte, dass der Getötete bei der Verbringung in die Zelle 5 im Besitz eines Feuerzeugs gewesen wäre“. Vielmehr hat die Generalstaatsanwaltschaft in ihrem – vom Oberlandesgericht in seiner Entscheidung in Bezug genommenen – Prüfungsvermerk ausgeführt, dass im Fall einer vorsätzlichen Tötung (…) durch eine Brandlegung die Beamten (B) und (E) gerade nicht eine gründliche Durchsuchung hätten schildern dürfen, sondern vielmehr Gründe gegen eine gründliche Durchsuchung hätten darstellen müssen, um eine Erklärung dafür zu liefern, dass das Feuer durch (…) selbst entzündet worden sein könnte. Gegen die Wertung der Generalstaatsanwaltschaft, dass bei Zugrundelegung des gemutmaßten Mordkomplotts das tatsächliche Aussageverhalten kontraproduktiv und aus Sicht der Polizeibeamten unter kriminalistischen Aspekten keinen Sinn ergebe, ist verfassungsrechtlich nichts zu erinnern. Insbesondere ist nicht erkennbar, dass das vom Beschwerdeführer angeführte Motiv, „eine gründliche Durchführung zu behaupten, um erst gar nicht mit der Verbrennung des Getöteten in Verbindung gebracht werden zu können“, näher gelegen hätte. 70 Auch ist nicht zu erkennen, dass die Würdigung des Oberlandesgerichts bezüglich der Aussage des Zeugen (G) voreingenommen erfolgt wäre. Das Gericht kommt unter Berücksichtigung der Aussage gerade nicht zu der Annahme, dass der Beamte (B) das Feuerzeug in der Zelle verloren hat. Das Gericht stellt lediglich fest, dass vieles dafür spreche, unabhängig davon aber nicht auszuschließen sei, dass (…) ein anderes Feuerzeug bei sich geführt habe, welches bei der Durchsuchung unentdeckt geblieben sei. 71 Nichts anderes ergibt sich hinsichtlich der Würdigung der Aussagen des Zeugen (F). Entgegen der pauschalen Behauptung des Beschwerdeführers ist nicht erkennbar, dass das Gericht insoweit abwegige Spekulationen angestellt hätte. 72 Schließlich ist auch nicht ersichtlich, dass hinsichtlich der Würdigung des Aussageverhaltens der Polizeibeamten rechtsfehlerhaft ignoriert worden wäre, einen möglichen Gruppendruck im Kollegenkreis sowie ein mögliches Selbstentlastungsinteresse in den Blick zu nehmen. Konkrete Anhaltspunkte, die Anlass für eine entsprechende Würdigung gegeben hätten, trägt der Beschwerdeführer nicht vor. Das Oberlandesgericht beziehungsweise die Generalstaatsanwaltschaft haben ausdrücklich ausgeführt, dass weder Anhaltspunkte für die Vermutung eines „institutionellen Rassismus“ gegeben seien noch für die Vermutung eines Verdeckungsmordes. Ungeachtet der Frage, ob damit bereits „institutioneller Rassismus“ ausgeschlossen werden kann, erscheint im Ergebnis die Würdigung der Aussagen der Beamten nicht willkürlich. Verfassungsrechtlich ist daher nicht zu beanstanden, dass das Oberlandesgericht nicht explizit auf die abstrakte Möglichkeit einer durch ein Selbstentlastungsinteresse und Gruppendruck bewirkten Falschaussage eingegangen ist. 73 (e) Eine nicht nachvollziehbare Würdigung des Oberlandesgerichts ist ebenfalls nicht ersichtlich, soweit der Beschwerdeführer vorbringt, das Gericht habe – unter Verstoß gegen den Grundsatz auf rechtliches Gehör – das erst mit der Klageerzwingungsschrift vorgelegte Gutachten des Sachverständigen (01) nicht berücksichtigt. Eine unzureichende Würdigung des Gutachtens lässt sich jedenfalls nicht aus der Auffassung des Oberlandesgerichts ableiten, wonach es dem Gutachten bereits deshalb an Aussagekraft mangele, weil nicht ersichtlich sei, in welchem Umfang dem Sachverständigen die Akten vorgelegen hätten. Der Beschwerdeführer weist insoweit zwar zutreffend darauf hin, dass der Sachverständige am Ende eines jeden Kapitels die verwendeten Akten aufgeführt habe. Hieraus lässt sich jedoch gerade nicht ersehen, ob die dem Sachverständigen von der Rechtsanwältin des Beschwerdeführers zur Verfügung gestellten Akten alle Erkenntnisse aus den Ermittlungsakten oder nur eine Auswahl enthielten. Aus dem Vortrag des Beschwerdeführers ergibt sich schließlich aber auch nicht, aus welchen Gründen dem Gutachten in einer Gesamtschau mit den sonstigen gutachterlichen Stellungnahmen ein ausschlaggebendes Gewicht beizumessen gewesen wäre. 74 (f) Auch soweit sich der Beschwerdeführer – wiederum unter Geltendmachung eines Verstoßes gegen den Grundsatz auf rechtliches Gehör – gegen die Abqualifizierung des fachradiologischen Gutachtens des Sachverständigen (04) durch das Oberlandesgericht wendet, ist eine unvertretbare Beweiswürdigung nicht ersichtlich. Insbesondere trifft es nicht zu, dass das Oberlandesgericht das Gutachten nicht in Zusammenhang mit den übrigen Beweismitteln bewertet hätte. Das Gericht hat sich mit dem Gutachten erkennbar in Zusammenschau mit den Ausführungen des Sachverständigen (05) und den einschlägigen Zeugenaussagen auseinandergesetzt und ist zu einer jedenfalls vertretbaren Bewertung gelangt. Dies gilt auch soweit das Oberlandesgericht darauf hinweist, dass ein von (…) im Rahmen einer körperlichen Auseinandersetzung mit der Polizei davongetragener Rippenbruch kein nachvollziehbares Motiv für einen diesbezüglichen Verdeckungsmord darstelle, weil – wenn sich nach radiologischer Untersuchung nicht einmal die Experten darüber einig seien, ob ein Rippenbruch vorgelegen habe – die beiden Polizeibeamten von diesem keine Kenntnis hätten haben können. 75 (g) Soweit der Beschwerdeführer schließlich pauschal behauptet, das Oberlandesgericht habe – unter Verstoß gegen den Grundsatz auf rechtliches Gehör – die Ergebnisse der Sachverständigengutachten unberücksichtigt gelassen, die die Selbstentzündungsthese widerlegten und belegten, dass (…) zum Zeitpunkt des Ausbruchs des Brandes bereits bewusstlos oder tot gewesen sei, lässt sich daraus ebenfalls nicht auf eine unvertretbare Beweiswürdigung schließen. Das Oberlandesgericht hat sich ebenso wie die Generalstaatsanwaltschaft in ihrem Prüfungsvermerk vielmehr auch mit den die Selbstentzündungsthese in Zweifel ziehenden Gutachten auseinandergesetzt. Dass das Oberlandesgericht dabei – anders als der Beschwerdeführer – zu der Einschätzung gelangt ist, dass nach wie vor vieles für eine Selbstanzündung des (…) spreche, es für eine Brandlegung von anderer Seite jedenfalls an einem hinreichenden Tatverdacht gegen einen konkreten Beschuldigten fehle, begegnet im Ergebnis keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken. Auch ist nicht erkennbar, dass unberücksichtigt gebliebene Erkenntnisse oder sonstige Fehler in der Würdigung des Oberlandesgerichts vorlägen, die geeignet wären, einen hinreichenden Tatverdacht gegen konkrete Polizeibeamte zu begründen. 76 2. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Naumburg vom 22. Oktober 2019 verletzt den Beschwerdeführer auch nicht in seinem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG. 77 a) Die Auslegung der Gesetze und ihre Anwendung auf den konkreten Fall ist grundsätzlich Sache der dafür zuständigen Fachgerichte und der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht insoweit entzogen; ein verfassungsrechtliches Eingreifen gegenüber den Entscheidungen der Fachgerichte kommt jedoch unter dem Gesichtspunkt der Verletzung des Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) in seiner Bedeutung als Willkürverbot in Betracht (vgl. BVerfGE 74, 102 <127>; stRspr). Ein solcher Verstoß liegt bei gerichtlichen Entscheidungen allerdings nicht schon dann vor, wenn die Rechtsanwendung Fehler enthält, sondern erst dann, wenn die Entscheidung bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruht (vgl. BVerfGE 4, 1 <7>; 74, 102 <127>; 83, 82 <84>; 87, 273 <278 f.>). Dieser Maßstab gilt auch für die verfassungsrechtliche Überprüfung der von den Fachgerichten vorgenommenen Beweiswürdigung und der von ihnen getroffenen tatsächlichen Feststellungen (vgl. BVerfGE 4, 294 <297>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Januar 2017 - 2 BvR 2584/12 -, Rn. 27; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 23. März 2020 - 2 BvR 1615/16 -, Rn. 43). 78 b) Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG liegt der angegriffenen Entscheidung des Oberlandesgerichts nicht zugrunde. Das Oberlandesgericht hat sich mit der Beweislage hinsichtlich einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Beschuldigten eingehend, jedenfalls in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise auseinandergesetzt; seine Auffassung, wonach die Generalstaatsanwaltschaft einen hinreichenden Tatverdacht im Sinne der § 170 Abs. 1, § 203 StPO zu Recht verneint habe, entbehrt nicht jeden sachlichen Grundes. Entgegen der Behauptung des Beschwerdeführers ist aus den bereits oben ausgeführten Gründen insbesondere nicht erkennbar, dass die Beweiswürdigung wesentliche Aspekte der zur Verfügung stehenden Beweismittel unberücksichtigt gelassen hätte beziehungsweise nicht unvoreingenommen erfolgt wäre. 79 3. Soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG darin erblickt, dass das Oberlandesgericht die Darlegungsanforderungen im Verfahren nach § 172 Abs. 3 StPO überspannt habe, muss der Verfassungsbeschwerde der Erfolg ebenfalls versagt bleiben. 80 a) Nach Art. 19 Abs. 4 GG darf der Zugang zu den Gerichten und den vorgesehenen Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 40, 272 <275>; 78, 88 <99>; 88, 118 <124>). Dies muss auch der Richter bei der Auslegung prozessualer Normen beachten. Er darf ein von der Rechtsordnung eröffnetes Rechtsmittel nicht durch eine überstrenge Handhabung verfahrensrechtlicher Vorschriften ineffektiv machen und für den Beschwerdeführer leerlaufen lassen (vgl. BVerfGE 77, 275 <284>; 96, 27 <39>). Formerfordernisse dürfen nicht weiter gehen, als es durch ihren Zweck geboten ist, da von ihnen die Gewährung des Rechtsschutzes abhängt (vgl. BVerfGE 88, 118 <125>; BVerfGK 14, 211 <214>). Dies gilt auch für die Darlegungsanforderungen nach § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO (vgl. BVerfGK 2, 45 <50>; 5, 45 <48>; 14, 211 <214>). 81 Es begegnet vor diesem Hintergrund keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO so auszulegen, dass der Klageerzwingungsantrag in groben Zügen den Gang des Ermittlungsverfahrens, den Inhalt der angegriffenen Bescheide und die Gründe für ihre Unrichtigkeit wiedergeben und eine aus sich selbst heraus verständliche Schilderung des Sachverhalts enthalten muss, der bei Unterstellung des hinreichenden Tatverdachts die Erhebung der öffentlichen Klage in materieller und formeller Hinsicht rechtfertigt. Denn diese Darlegungsanforderungen sollen die Oberlandesgerichte vor einer Überlastung durch unsachgemäße und unsubstantiierte Anträge bewahren und in die Lage versetzen, ohne Rückgriff auf die Ermittlungsakten eine Schlüssigkeitsprüfung vorzunehmen (vgl. BVerfGK 2, 45 <50>; 5, 45 <48>; 14, 211 <214 f.>). 82 Die Darlegungsanforderungen dürfen allerdings nicht überspannt werden, sondern müssen durch den Gesetzeszweck geboten sein. Ein Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO erfordert zwar nur die Mitteilung des wesentlichen Inhalts der angegriffenen Bescheide sowie der Einlassung des Beschuldigten (vgl. BVerfGK 14, 211 <215> m.w.N.), soweit diese im Einstellungsbescheid mitgeteilt wird (vgl. BVerfGK 14, 211 <216>). Eine Obliegenheit des Antragstellers, sich durch Akteneinsicht Kenntnis von der vollständigen Einlassung des Beschuldigten zu verschaffen und diese sodann auch vollständig mitzuteilen, besteht grundsätzlich nicht (vgl. BVerfGK 14, 211 <215>). Etwas Anderes gilt aber, wenn der Beschwerdeführer seinen Antrag auf gerichtliche Entscheidung maßgeblich auch mit Inhalten aus den Ermittlungsakten begründet. In diesem Fall ist der Beschwerdeführer gehalten, soll die vom Gesetzgeber implizit vorgesehene und verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende Schlüssigkeitsprüfung allein auf der Grundlage des gestellten Antrags (vgl. BVerfGK 14, 211 <215>) nicht unterlaufen werden, zumindest den wesentlichen Inhalt der Beweismittel mitzuteilen, aus denen er auszugsweise vorträgt oder gar zitiert. Denn bei einer nur selektiven, im Einzelfall vielleicht sogar sinnentstellenden Wiedergabe von Teilen der Einlassung des Beschuldigten oder auch der Einvernahme von Zeugen kann ein unzutreffendes Bild vom Ermittlungsergebnis entstehen, das nicht ohne Weiteres wieder berichtigt werden kann. Soweit dies den Antragsteller verpflichtet, gegebenenfalls auch Umstände vorzutragen, welche den Beschuldigten entlasten könnten, ist dies hinzunehmen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Mai 2015 - 2 BvR 987/11 -, Rn. 34; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Juli 2016 - 2 BvR 2040/15 -, Rn. 15). Es gehört im Hinblick auf ein Sachverständigengutachten dagegen nicht zur Darstellung des wesentlichen Inhalts des mitgeteilten Beweismittels, dass die Ausführungen eines Sachverständigen vollständig wiedergegeben werden (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Mai 2017 - 2 BvR 1107/16 -, Rn. 23). Müsste der Klageerzwingungsantrag den weitgehend vollständigen Inhalt der Beweismittel enthalten, könnte das Gericht schon allein anhand der Antragsschrift das Bestehen eines hinreichenden Tatverdachts prüfen, und nicht nur dessen schlüssige Darstellung. Einer Beiziehung der Ermittlungsakte bräuchte es dann selbst zur Prüfung eines genügenden Anlasses für die Erhebung der öffentlichen Klage nicht mehr. Eine Arbeitserleichterung wäre mit einem derart umfassenden Darlegungserfordernis nicht verbunden, wenn das Gericht die Schlüssigkeit anhand eines Klageerzwingungsantrags prüfen müsste, dessen Inhalt und Umfang sich kaum von dem der beizuziehenden Ermittlungsakte unterscheidet (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 2. Juli 2018 - 2 BvR 1550/17 -, Rn. 25). 83 b) Gemessen hieran ist die Annahme das Oberlandesgerichts Naumburg, dass der Antrag auf gerichtliche Entscheidung nicht den Anforderungen des § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO entspricht, verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. 84 Der Beschwerdeführer hatte sich dazu entschieden, umfangreich auf Inhalte der Ermittlungsakten zurückzugreifen. Er war daher gehalten, zumindest den wesentlichen Inhalt der Beweismittel mitzuteilen, um eine nur selektive und dadurch gegebenenfalls sinnentstellende Darstellung der Ermittlungsergebnisse zu verhindern. Das Oberlandesgericht weist insoweit zu Recht darauf hin, dass der Beschwerdeführer in seinem Antrag zwar auf Thesen verschiedener Sachverständiger hinweist, ohne jedoch deren Gutachten zumindest in den wesentlichen Teilen mitzuteilen. Anders als der Beschwerdeführer ausführt, ist es insbesondere nicht zutreffend, dass er im Antrag unter dem Punkt B. 6. entgegenstehende Feststellungen der Sachverständigen unter Erläuterung der wesentlichen Ergebnisse der jeweiligen Gutachten mitgeteilt hat. So erwähnt der Beschwerdeführer etwa das Gutachten des Sachverständigen (08), gibt dieses aber erkennbar nur verkürzt wieder. Gleiches gilt, soweit er Bezug nimmt auf die Ausführungen der Sachverständigen (09), (10), (07), (11), (12) und (06). 85 Auch bezüglich der Ausführungen des Beschwerdeführers zum Bestehen eines hinreichenden Tatverdachts gegen die Polizeibeamten (E) und (C) weist das Oberlandesgericht zutreffend darauf hin, dass eine Darstellung, welche der vorgenannten Polizeibeamten den Brand gelegt haben sollen und aufgrund welcher Beweismittel ein diesbezüglicher Nachweis möglich sein soll, fehlt. Richtig ist zwar, dass die Antragsschrift auf die Frage eines hinreichenden Tatverdachts eingeht. Der Vortrag des Beschwerdeführers erschöpft sich insoweit jedoch in pauschalen Spekulationen zu einem möglichen Tatmotiv, so dass die Bewertung des Oberlandesgerichts im Ergebnis keine Verletzung der Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG darstellt. 86 4. Das Oberlandesgericht hat schließlich auch nicht gegen Art. 103 Abs. 1 GG verstoßen. 87 a) Der Anspruch auf rechtliches Gehör verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (vgl. BVerfGE 42, 364 <367 f.>; 47, 182 <187>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 14. Februar 2019 - 2 BvR 1457/18 -, Rn. 11). Art. 103 Abs. 1 GG ist allerdings nur verletzt, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, dass das Gericht der Pflicht nicht nachgekommen ist (vgl. BVerfGE 25, 137 <140>; 34, 344 <347>; 47, 182 <187>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 25. September 2018 - 2 BvR 1731/18 -, juris, Rn. 28). In der Regel geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass die Gerichte das von ihnen entgegengenommene Vorbringen auch zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben (vgl. BVerfGE 40, 101 <104 f.>; 47, 182 <187>). Deshalb müssen, wenn ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG festgestellt werden soll, im Einzelfall besondere Umstände deutlich ergeben, dass tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist (vgl. BVerfGE 27, 248 <251 f.>; 42, 364 <368>; 47, 182 <187 f.>; 65, 293 <295>; 70, 288 <293>; 86, 133 <145 f.>). 88 b) Vor diesem Hintergrund ist nicht erkennbar, dass das Oberlandesgericht Vortrag des Beschwerdeführers unberücksichtigt gelassen hätte. Die Ausführungen des Beschwerdeführers beschränken sich im Ergebnis vielmehr auf die Darlegung, das Oberlandesgericht habe seinem Vortrag materiell-rechtlich nicht die richtige Bedeutung beigemessen. Der Beschwerdeführer verkennt damit, dass Art. 103 Abs. 1 GG das Gericht zwar verpflichtet, Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, nicht aber der Rechtsansicht des Beschwerdeführers zu folgen (vgl. BVerfGE 64, 1 <12>; 87, 1 <33>). 89 5. Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen. 90 Diese Entscheidung ist unanfechtbar. Huber Kessal-Wulf Wallrabenstein
bundesverfassungsgericht
75-2019
6. November 2019
Verfassungsbeschwerde gegen Freihandelsabkommen nicht zur Entscheidung angenommen Pressemitteilung Nr. 75/2019 vom 6. November 2019 Beschluss vom 28. Oktober 20192 BvR 966/19 Die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat mit heute veröffentlichtem Beschluss eine der beiden anhängigen Verfassungsbeschwerden gegen die Zustimmung des deutschen Vertreters im Rat der Europäischen Union zum Abschluss des Freihandelsabkommens zwischen der Europäischen Union und Singapur (EUSFTA) als offensichtlich unzulässig nicht zur Entscheidung angenommen. Der zusätzlich gestellte Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit Blick auf die abschließende Zustimmung des Rates der Europäischen Union hat sich damit erledigt. Zur Begründung hat die Kammer ausgeführt, dass die Beschwerdeführer zwar zahlreiche Rügen gegen das EUSFTA erhoben haben, diese allerdings weitgehend ohne konkreten Bezug zu den verfassungsrechtlichen Maßstäben blieben.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT - 2 BvR 966/19 - In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde der Frau G…, und 839 weiterer Beschwerdeführer, - Bevollmächtigte: … - gegen a) die Zustimmung des deutschen Vertreters im Rat der Europäischen Union zu dem Beschluss des Rates der Europäischen Union zum Abschluss des Freihandelsabkommens zwischen der Europäischen Union und der Republik Singapur (EUSFTA) (2018/0093 <NLE> - COM<2018> 196 final), b) das Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und Singapur (EUSFTA) - COM(2018) 196 final - und  Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Richter Huber und die Richterinnen Kessal-Wulf, König gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 28. Oktober 2019 einstimmig beschlossen: Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung. G r ü n d e: 1 Mit ihrer Verfassungsbeschwerde und dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wenden sich die Beschwerdeführer gegen die bevorstehende Zustimmung der Bundesregierung zum Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Republik Singapur (Free Trade Agreement between the European Union and the Republic of Singapore – EUSFTA) im Rat der Europäischen Union. I. 2 Am 23. April 2007 ermächtigte der Rat der Europäischen Union die Europäische Kommission zur Aufnahme von Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit Mitgliedstaaten des Verbands Südostasiatischer Nationen (ASEAN). In der Folge ermächtigte er die Kommission zu bilateralen Verhandlungen mit Singapur und dehnte die Ermächtigung auf den Investitionsschutz aus. Die Verhandlungen wurden 2012 für alle Kapitel außer dem Investitionsschutz abgeschlossen, 2014 auch für diesen. 3 Am 10. Juli 2015 beantragte die Kommission beim Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) ein Gutachten nach Art. 218 Abs. 11 AEUV zu der Frage, ob das geplante Abkommen von der Europäischen Union allein unterzeichnet und abgeschlossen werden könne („EU-only“-Abkommen) oder ob es durch die Europäische Union und die Mitgliedstaaten ratifiziert werden müsse (gemischtes Abkommen). 4 In seinem Gutachten (EuGH, Gutachten 2/15 vom 16. Mai 2017 zum Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und Singapur, EU:C:2017:376) kam der EuGH zu dem Ergebnis, dass die Europäische Union in nahezu allen von dem geplanten Abkommen erfassten Bereichen die alleinige Zuständigkeit besitze; ausgenommen seien allerdings andere Investitionen als Direktinvestitionen und die Beilegung von Streitigkeiten zwischen Investor und Staat mit den Mitgliedstaaten als Beklagten. Diese Bereiche fielen in die geteilte Zuständigkeit von Europäischer Union und Mitgliedstaaten mit der Folge, dass das Freihandelsabkommen in seiner ursprünglich vorgesehenen Form auch nur von der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten gemeinsam geschlossen werden könne. 5 Aufgrund des Gutachtens wurde der ausgehandelte Text angepasst, um zwei eigenständige Abkommen – ein Freihandelsabkommen (EUSFTA) und ein Investitionsschutzabkommen (EUSIPA) – zu schaffen. Die Unterzeichnung und den Abschluss beider Abkommen schlug die Kommission dem Rat am 18. April 2018 vor. 6 Am 15. Oktober 2018 fasste der Rat Beschlüsse zur Unterzeichnung des EUSFTA und des EUSIPA. Am 19. Oktober 2018 wurden die Abkommen unterzeichnet. Das Europäische Parlament stimmte den Entwürfen für die Beschlüsse über den Abschluss der Abkommen am 13. Februar 2019 zu. 7 Die abschließende Zustimmung des Rates zum EUSFTA steht noch aus. II. 8 Die Beschwerdeführer erheben eine Vielzahl von Rügen gegen das EUSFTA als Freihandelsabkommen „neuer Generation“. Sie tragen unter anderem umfänglich zu einer fortschreitenden Klimakatastrophe, zum Pariser Übereinkommen zum Klimaschutz und dessen angeblicher Blockierung durch das EUSFTA vor. 9 Im rechtlichen Kern ihrer Ausführungen machen die Beschwerdeführer geltend, ein Beschluss des Rates der Europäischen Union über den Abschluss des EUSFTA verletze sie in ihrem Recht auf Demokratie aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1, Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG und erheben insoweit eine Ultra-vires-Rüge. Das EUSFTA hätte auch nach dem Gutachten des EuGH als gemischtes Abkommen verhandelt und abgeschlossen werden müssen. Mit seiner Behandlung als „EU-only“-Abkommen missachte die Europäische Union mitgliedstaatliche Kompetenzen und nehme ausschließliche Zuständigkeiten für Bereiche in Anspruch, die zu den geteilten Zuständigkeiten gehörten. 10 Die Beschwerdeführer rügen zudem eine Verletzung des von Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Kerns des Demokratieprinzips durch das im EUSFTA vorgesehene Ausschusswesen. Der Handelsausschuss und die Sonderausschüsse könnten in zahlreichen im Abkommen spezifizierten Fällen Entscheidungen bis hin zu Vertragsänderungen treffen, die die Vertragsparteien bänden. Damit könne die Gestaltungsfreiheit des deutschen Gesetzgebers erheblich eingeschränkt werden. Das EUSFTA enthalte eine Vielzahl unbestimmter Begriffe, sodass für Auslegungen breiter Raum bestehe. Die Mitgliedstaaten seien in den EUSFTA-Ausschüssen nicht als reguläre stimmberechtigte Mitglieder vertreten. Gegen das Demokratieprinzip verstoße auch die mangelnde Unterrichtung der demokratischen Öffentlichkeit. III. 11 Die Bundesregierung und der Deutsche Bundestag haben zur Verfassungsbeschwerde und dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung Stellung genommen. IV. 12 Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen (§ 93a Abs. 2 BVerfGG), weil sie unzulässig ist. Der Vortrag der Beschwerdeführer zur Möglichkeit einer Verletzung von Art. 38 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG genügt nicht den sich aus § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG ergebenden Substantiierungsanforderungen. 13 1. In der Begründung einer Verfassungsbeschwerde haben die Beschwerdeführer darzulegen, mit welchen verfassungsrechtlichen Anforderungen die angegriffene Maßnahme kollidiert. Dazu müssen sie aufzeigen, inwieweit eine Maßnahme die bezeichneten Grundrechte verletzen soll (vgl. BVerfGE 99, 84 <87>; 108, 370 <386 f.>; 120, 274 <298>; 140, 229 <232 Rn. 9>; 142, 234 <251 Rn. 28>; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 24. Juli 2018 - 2 BvR 1961/09 -, Rn. 23). Liegt zu den mit der Verfassungsbeschwerde aufgeworfenen Verfassungsfragen bereits Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vor, so ist der behauptete Grundrechtsverstoß in Auseinandersetzung mit den darin entwickelten Maßstäben zu begründen (vgl. BVerfGE 140, 229 <232 Rn. 9>; 142, 234 <251 Rn. 28>; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 24. Juli 2018 - 2 BvR 1961/09 -, Rn. 23). 14 2. Hieran gemessen haben die Beschwerdeführer die Möglichkeit einer Verletzung von Art. 38 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG durch eine Mitwirkung der Bundesregierung am Beschluss des Rates der Europäischen Union über den Abschluss des EUSFTA nicht hinreichend substantiiert dargelegt. Die Beschwerdeführer erheben zwar zahlreiche Rügen gegen das EUSFTA, allerdings weitgehend ohne konkreten Bezug zu den verfassungsrechtlichen Maßstäben. 15 Auch soweit die Beschwerdeführer im rechtlichen Kern ihrer Ausführungen geltend machen, die Mitwirkung der Bundesregierung an einem Beschluss des Rates über den Abschluss des EUSFTA verletze sie in ihrem Recht auf Demokratie aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1, Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG, ist ihr Vortrag unzureichend. 16 Hinsichtlich der Ultra-vires-Rüge fehlt es insbesondere an einer näheren Auseinandersetzung mit dem Gutachten des EuGH und der dort entfalteten Argumentation. Soweit sich die Beschwerdeführer auf das Urteil des Senats zum Freihandelsabkommen CETA (BVerfGE 143, 65) berufen, gehen sie nicht weiter darauf ein, ob CETA als gemischtes Abkommen (vgl. BVerfGE 143, 65 <80 f. Rn. 15, 88 Rn. 38>) und EUSFTA als „EU-only“-Abkommen vergleichbar sind und die Rechtsprechung des Senats auf EUSFTA übertragbar ist. Selbst wenn dies der Fall sein sollte, hätte es näherer Darlegung bedurft, inwieweit die von der Beurteilung der Zuständigkeitsverteilung durch den Senat in dieser – im einstweiligen Rechtsschutz ergangenen – Entscheidung zumindest teilweise abweichende Auffassung des EuGH in seinem Gutachten – ihre Fehlerhaftigkeit unterstellt – die in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelten Anforderungen an eine offensichtliche und strukturell bedeutsame Kompetenzüberschreitung (vgl. BVerfGE 123, 267 <353 f.>; 126, 286 <302 ff.>; 134, 366 <382 ff. Rn. 23 ff.>; 142, 123 <200 ff. Rn. 146 ff.>; 146, 216 <252 f. Rn. 52 f.>; BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 30. Juli 2019 - 2 BvR 1685/14, 2 BvR 2631/14 -, Rn. 150 ff.) erfüllt. 17 In Bezug auf die Identitätsrüge fehlt es an einer an den verfassungsrechtlichen Maßstäben (vgl. BVerfGE 123, 267 <344, 353 f.>; 126, 286 <302>; 134, 366 <384 ff. Rn. 27 ff.>; 140, 317 <337 Rn. 43>; 142, 123 <195 f. Rn. 137 ff.>; 146, 216 <253 f. Rn. 54 f.>; BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 30. Juli 2019 - 2 BvR 1685/14, 2 BvR 2631/14 -, Rn. 120, 204 f.) orientierten substantiierten Darlegung, inwiefern das als „EU-only“-Abkommen konzipierte EUSFTA das Demokratieprinzip berühren kann. Auch insoweit liegt es jedenfalls nicht auf der Hand, dass sich die Aussagen im Urteil des Senats zu dem als gemischtes Abkommen konzipierten CETA auf EUSFTA übertragen lassen. 18 3. Mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenstandslos (§ 40 Abs. 3 GOBVerfG). 19 4. Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen. 20 Diese Entscheidung ist unanfechtbar. Huber Kessal-Wulf König
bundesverfassungsgericht
2-2020
10. Januar 2020
Regelungen zur steuerlichen Behandlung von Erstausbildungskosten verfassungsgemäß Pressemitteilung Nr. 2/2020 vom 10. Januar 2020 Beschluss vom 19. November 20192 BvL 22/14, 2 BvL 27/14, 2 BvL 26/14, 2 BvL 25/14, 2 BvL 24/14, 2 BvL 23/14 Dass Aufwendungen für die erstmalige Berufsausbildung oder für ein Erststudium, das zugleich eine Erstausbildung vermittelt, nach dem Einkommensteuergesetz (EStG) nicht als Werbungskosten abgesetzt werden können, verstößt nicht gegen das Grundgesetz. Dies hat der Zweite Senat mit heute veröffentlichtem Beschluss auf Vorlagen des Bundesfinanzhofs hin entschieden. Zur Begründung hat er ausgeführt, dass es für die Regelung sachlich einleuchtende Gründe gibt. Der Gesetzgeber durfte solche Aufwendungen als privat (mit-)veranlasst qualifizieren und den Sonderausgaben zuordnen. Die Erstausbildung oder das Erststudium unmittelbar nach dem Schulabschluss vermittelt nicht nur Berufswissen, sondern prägt die Person in einem umfassenderen Sinne, indem sie die Möglichkeit bietet, sich seinen Begabungen und Fähigkeiten entsprechend zu entwickeln und allgemeine Kompetenzen zu erwerben, die nicht zwangsläufig für einen künftigen konkreten Beruf notwendig sind. Sie weist eine besondere Nähe zur Persönlichkeitsentwicklung auf. Auch die Begrenzung des Sonderausgabenabzugs für Erstausbildungskosten auf einen Höchstbetrag von 4.000 Euro in den Streitjahren ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Sachverhalt: § 9 Abs. 6 EStG nimmt Aufwendungen für die erstmalige Berufsausbildung oder für ein Erststudium, das zugleich eine Erstausbildung vermittelt, generell von dem Begriff der Werbungskosten aus. Die Vorschrift konkretisiert den allgemeinen Werbungskostenabzugstatbestand des § 9 Abs. 1 Sätze 1 und 2 EStG dahingehend, dass diese Aufwendungen in keinem Fall beruflich veranlasst und damit weder unbeschränkt abzugsfähig sind noch als negative Einkünfte in andere Veranlagungszeiträume zurück- oder vorgetragen werden können. Stattdessen mindern sie lediglich als Sonderausgaben – in den Streitjahren bis zur Höhe von 4.000 Euro, heute bis zur Höhe von 6.000 Euro – das zu versteuernde Einkommen in dem Jahr, in dem sie anfallen. Dagegen können Aufwendungen für weitere Ausbildungen und für Erstausbildungen, die im Rahmen eines Dienstverhältnisses stattfinden, wie andere Aufwendungen zur Erwerbung, Sicherung und Erhaltung der Einnahmen als Werbungskosten abzugsfähig sein, soweit sie beruflich veranlasst sind. Eine berufliche Veranlassung ist nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs gegeben, wenn ein objektiver Zusammenhang mit dem Beruf besteht und die Aufwendungen subjektiv zur Förderung des Berufs getätigt werden. Ein Werbungskostenabzug setzt nicht voraus, dass der Steuerpflichtige gegenwärtig bereits Einnahmen erzielt. Erforderlich ist, dass die Aufwendungen in einem hinreichend konkreten, objektiv feststellbaren Veranlassungszusammenhang mit späteren Einnahmen stehen. Die Kläger der sechs Ausgangsverfahren begehrten jeweils die Anerkennung der Kosten für ihr Erststudium bzw. für ihre Ausbildung zum Flugzeugführer als Werbungskosten. In der Revisionsinstanz hat der Bundesfinanzhof alle Verfahren ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob die § 9 Abs. 6 EStG in der Fassung des Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetzes vom 7. Dezember 2011 insoweit mit dem Grundgesetz vereinbar ist, als danach Aufwendungen des Steuerpflichtigen für seine erstmalige Berufsausbildung oder für ein Erststudium, das zugleich eine Erstausbildung vermittelt, keine Werbungskosten sind, wenn diese Berufsausbildung oder dieses Erststudium nicht im Rahmen eines Dienstverhältnisses stattfindet und auch keine weiteren einkommensteuerrechtlichen Regelungen bestehen, nach denen die vom Abzugsverbot betroffenen Aufwendungen die einkommensteuerliche Bemessungsgrundlage mindern. Wesentliche Erwägungen des Senats: I. Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebietet dem Gesetzgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Er bindet ihn an den Grundsatz der Steuergerechtigkeit und das Gebot, die Besteuerung an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit auszurichten. In Verbindung mit Art. 1 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 GG verpflichtet er den Staat, das Einkommen des Bürgers jedenfalls insoweit steuerfrei zu stellen, als dieser es zur Schaffung der Mindestvoraussetzungen eines menschenwürdigen Daseins für sich und seine Familie benötigt. Der einfache Gesetzgeber bemisst die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit nach dem (die betriebliche/berufliche Sphäre betreffenden) objektiven und dem (die private Sphäre betreffenden) subjektiven Nettoprinzip. Bei der Bewertung und Gewichtung von Lebenssachverhalten im Schnittbereich zwischen beruflicher und privater Sphäre verfügt er verfassungsrechtlich – unter Beachtung sonstiger grundrechtlicher Bindungen – über erhebliche Gestaltungs- und Typisierungsspielräume. II. Nach diesen Maßstäben ist § 9 Abs. 6 EStG in der verfahrensgegenständlichen Fassung mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar. 1. § 9 Abs. 6 EStG bewirkt eine steuerliche Ungleichbehandlung von Aufwendungen des Steuerpflichtigen für seine erstmalige Berufsausbildung oder für ein Erststudium, das zugleich eine Erstausbildung vermittelt (Erstausbildungskosten), mit Aufwendungen zur Erwerbung, Sicherung und Erhaltung von Einnahmen, zu denen auch Aufwendungen für zweite oder weitere Ausbildungen sowie Aufwendungen für eine erste Berufsausbildung oder ein Erststudium gehören können, die im Rahmen eines Dienstverhältnisses stattfinden. a) Diese Differenzierung ist am Gleichheitssatz in seiner Eigenschaft als Willkürverbot zu messen. Einer Verschärfung des Maßstabs, weil sich die Ungleichbehandlung auf die Ausübung der Berufswahlfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) auswirken kann, bedarf es nicht. § 9 Abs. 6 EStG hat keine objektiv berufsregelnde Tendenz. Entscheidend für den Zugang zu einer bestimmten Ausbildung oder Ausbildungsstelle ist deren Finanzierbarkeit durch die Auszubildenden und Studierenden. Die Finanzierbarkeit hängt maßgeblich davon ab, ob und in welcher Höhe den Betroffenen während der Ausbildung eigene Einkünfte oder eigenes Vermögen zur Verfügung stehen beziehungsweise ihnen Unterhaltsansprüche oder Ansprüche nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz zustehen. Diese Finanzierungsmöglichkeiten sind unabhängig davon, ob Aufwendungen für die Ausbildung in spätere Veranlagungszeiträume vorgetragen werden können. Dies gilt auch für eine Kreditfinanzierung der Ausbildung, weil es für deren Inanspruchnahme darauf ankommt, wie potentielle Kreditgeber die Kreditwürdigkeit im Ausbildungszeitraum beurteilen. b) Für die Zuordnung der Aufwendungen für eine Erstausbildung zu den Sonderausgaben gibt es sachlich einleuchtende Gründe. aa) Der Gesetzgeber durfte diese Aufwendungen als wesentlich privat (mit-)veranlasst qualifizieren. Nach Auffassung des Gesetzgebers gehört die erste Berufsausbildung typischerweise zu den Grundvoraussetzungen für die Lebensführung, weil sie Vorsorge für die persönliche Existenz bedeutet und dem Erwerb einer selbstständigen und gesicherten Position im Leben dient. Er ordnet deshalb Aufwendungen für die erste Berufsausbildung ebenso wie Aufwendungen für Erziehung und andere Grundbedürfnisse schwerpunktmäßig den Kosten der Lebensführung zu. Diese Wertung des Gesetzgebers ist nicht zu beanstanden. Die Erstausbildung oder das Erststudium unmittelbar nach dem Schulabschluss vermittelt nicht nur Berufswissen, sondern prägt die Person in einem umfassenderen Sinne, indem sie die Möglichkeit bietet, sich seinen Begabungen und Fähigkeiten entsprechend zu entwickeln und allgemeine Kompetenzen zu erwerben, die nicht zwangsläufig für einen künftigen Beruf notwendig sind. Sie weist damit eine besondere Nähe zur Persönlichkeitsentwicklung auf. Die Qualifikation der dafür erforderlichen Aufwendungen als durch die allgemeine Lebensführung (privat) veranlasst korrespondiert damit, dass eine Erstausbildung noch von der Unterhaltspflicht der Eltern umfasst ist. Diese schulden – in den Grenzen ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit – eine Berufsausbildung, die der Begabung und den Fähigkeiten, dem Leistungswillen und den beachtenswerten Neigungen des Kindes am besten entspricht. Die bei mangelnder Leistungsfähigkeit der Eltern an die Stelle tretenden sozialrechtlichen Leistungen werden dementsprechend der Bildungsförderung und nicht der Arbeitsförderung zugerechnet. bb) Der Gesetzgeber durfte auch den objektiven Zusammenhang mit einem konkreten späteren Beruf als typischerweise gering ausgeprägt bewerten. Die Regelung erfasst insbesondere rein schulische Ausbildungen und das Hochschulstudium unmittelbar im Anschluss an den zum Studium berechtigenden Schulabschluss. Die schulische Ausbildung und das Studium eröffnen regelmäßig eine Vielzahl von unterschiedlichen Berufsmöglichkeiten. Sie sind häufig breit angelegt, so dass erst zu Beginn oder während der Berufstätigkeit eine Spezialisierung stattfindet. Zudem gibt es zahlreiche Studiengänge, die nicht ohne weiteres in konkrete Berufsfelder münden, und umgekehrt Berufsfelder, für die es nicht maßgeblich auf ein bestimmtes Studium ankommt, sondern darauf, dass überhaupt ein Studium absolviert worden ist. Der Veranlassungszusammenhang mit der ausgeübten Erwerbstätigkeit ist zwar gerade bei der Ausbildung zum Berufspiloten sehr konkret. Die Bundesregierung legt jedoch in ihrer Stellungnahme dar, dass es sich dabei um eine zahlenmäßig unbedeutende Sonderkonstellation handele. Die geringe Zahl spricht dafür, dass der Gesetzgeber diese Fälle in Ausübung seiner Typisierungskompetenz vernachlässigen durfte, weil er sich grundsätzlich am Regelfall orientieren darf und nicht gehalten ist, allen Besonderheiten jeweils durch Sonderregelungen Rechnung zu tragen. cc) Letztlich kommt es darauf jedoch nicht an. Denn auch bei einer stark auf einen bestimmten späteren Beruf ausgerichteten Erstausbildung liegt eine private Mitveranlassung vor. Dass eine berufliche Veranlassung überwiegt und den Schwerpunkt bildet, indiziert noch nicht zwangsläufig eine unbedeutende private Mitveranlassung und umgekehrt. Der Gesetzgeber durfte deshalb jedenfalls von gemischt veranlasstem Aufwand ausgehen, bei dem private und berufliche Veranlassungselemente untrennbar sind und den er daher systematisch den Sonderausgaben zuordnen durfte. Auch Erstausbildungen, die wie die Pilotenausbildung einen konkreten Veranlassungszusammenhang mit einer später ausgeübten Erwerbstätigkeit aufweisen, schaffen erstmalig die Voraussetzungen für eine selbstbestimmte Lebensführung und vermitteln Kompetenzen, die allgemein die Lebensführung der Auszubildenden beeinflussen. dd) Die Differenzierung zwischen Erstausbildungsaufwand und den Aufwendungen für Zweit- und weitere Ausbildungen hält einer gleichheitsrechtlichen Überprüfung ebenfalls stand. Für letztere richtet sich die Zuordnung zu den Werbungskosten nach den einfachrechtlichen Grundsätzen. Entscheidend ist mithin, ob im Einzelfall eine berufliche Veranlassung gegeben ist. Diese Regelung ist sachlich gerechtfertigt, weil die Gründe für eine Zweit- oder weitere Ausbildung so heterogen sind, dass sie sich einer typisierenden Erfassung als maßgeblich privat (mit-)veranlasst entziehen. Unter die weiteren Ausbildungen fallen Fort- und Weiterbildungen für den bereits ausgeübten Beruf oder für eine Spezialisierung in der bisherigen Berufstätigkeit ebenso wie Umschulungen oder eine völlige berufliche Neuorientierung. Die Motive für eine Zweitausbildung können mithin sehr unterschiedlich sein. Da Zweitausbildungen nicht mehr in den Grenzbereich zwischen allgemeinbildender Schule und erstmaliger Erwerbstätigkeit fallen, fehlt ihnen zugleich das Erstausbildungen verbindende Element, dass sie Grundvoraussetzung für die persönliche Entwicklung und die Erlangung und Festigung einer gesellschaftlichen Stellung sind. ee) Schließlich ist auch für die Differenzierung zwischen Erstausbildungen und Erststudiengängen innerhalb und außerhalb eines Dienstverhältnisses ein sachlich einleuchtender Grund gegeben. Das Bestehen eines Dienstverhältnisses hat zur Folge, dass die Auszubildenden zur Teilnahme sowohl an einer betrieblichen als auch an einer schulischen oder universitären Ausbildung verpflichtet sind. Gleichzeitig erhalten sie eine Vergütung, auch für den schulischen Teil der Ausbildung. Es ist deshalb nicht willkürlich, bei den Auszubildenden anfallende Ausbildungskosten (auch) als Aufwendungen zur Sicherung von Einnahmen aus dem Ausbildungsverhältnis zu bewerten. Zwar schafft auch die Erstausbildung, die innerhalb eines Dienstverhältnisses erfolgt, die Voraussetzungen für eine selbstbestimmte Lebensführung und vermittelt Kompetenzen, die allgemein die Lebensführung der Auszubildenden beeinflussen. Die im Rahmen des Ausbildungsdienstverhältnisses bereits aktuell ausgeübte Erwerbstätigkeit ist jedoch ein sachlicher Grund, der den Gesetzgeber berechtigt, zu differenzieren. 2. a) Die Begrenzung des Sonderausgabenabzugs für Erstausbildungskosten auf einen Höchstbetrag von 4.000 Euro in den Streitjahren verstößt nicht gegen das Gebot der Steuerfreiheit des Existenzminimums. Der existenzielle Bedarf des Auszubildenden wird während der Erstausbildung grundsätzlich durch die zivilrechtliche Unterhaltspflicht der Eltern gedeckt. Alternativ oder kumulativ erfolgt eine sozialrechtliche finanzielle Unterstützung, vorrangig durch Ansprüche auf Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz. Soweit die Auszubildenden/Studierenden eigenes Einkommen haben, wird das Existenzminimum durch den Grundfreibetrag abgedeckt. Er betrug in den Streitjahren 2004 bis 2008 jeweils 7.664 Euro. Zusätzlich wurden die Erstausbildungskosten in den Streitjahren nach § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG als Sonderausgaben bis zu einer Höhe von 4.000 Euro berücksichtigt; seit dem Veranlagungszeitraum 2012 gilt eine Höchstgrenze von 6.000 Euro. Jedenfalls ein darüberhinausgehender Ausbildungsaufwand ist nicht dem Existenzminimum zuzurechnen. Vergleichsebene für die Quantifizierung des Existenzminimums ist das sozialhilferechtlich gewährleistete Leistungsniveau. Aufwendungen im Sinne von § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG in einer Höhe, die den Höchstbetrag der danach abzugsfähigen Sonderausgaben überschreitet, sind weder von der Sozialhilfe noch von den Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz umfasst. b) Die Höchstbetragsgrenze ist schließlich auch bei einer Würdigung von Erstausbildungsaufwand im Lichte betroffener Grundrechte, zu der der Gesetzgeber auch dann verpflichtet ist, wenn er diesen zulässigerweise der Sphäre der allgemeinen (privaten) Lebensführung zuordnet, nicht zu beanstanden. In der ganz überwiegenden Zahl der Fälle bildet § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG die erforderlichen Kosten für eine eigene Erstausbildung realitätsgerecht ab. Bei der Pilotenausbildung handelt es sich um Sonderfälle, die nicht den typischen Fall der Erstausbildung darstellen. Im Übrigen ist es in weitem Umfang der freien Gestaltung des Gesetzgebers überlassen, wie er der objektiv-rechtlichen Wertentscheidung zugunsten eines freiheitlichen Berufs- und Ausbildungswesens Rechnung trägt. Art. 12 GG gebietet jedenfalls nicht eine uneingeschränkte steuerliche Entlastung wegen Erstausbildungsaufwand in beliebiger Höhe auf Kosten der Allgemeinheit. Insofern unterscheiden sich Ausbildungskosten etwa von erwerbsbedingten Kinderbetreuungskosten. Letztere sind unter dem besonderen Schutz von Art. 6 Abs. 1 GG zwangsläufiger Aufwand, weil der Gesetzgeber dem Steuerpflichtigen nicht die „Vermeidbarkeit“ ihrer Kinder entgegenhalten darf. Für eine besonders kostspielige Erstausbildung gilt das jedenfalls nicht in demselben Maße. Bei der steuerrechtlichen Berücksichtigung von Ausbildungskosten darf der Gesetzgeber auch einbeziehen, dass der Staat die Ausbildung durch die Bereitstellung des öffentlichen Bildungswesens und durch Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz bereits fördert.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT - 2 BvL 22/14 - - 2 BvL 23/14 - - 2 BvL 24/14 - - 2 BvL 25/14 - - 2 BvL 26/14 - - 2 BvL 27/14 - IM NAMEN DES VOLKES In den Verfahren zu den verfassungsrechtlichen Prüfungen, ob § 9 Absatz 6 des Einkommensteuergesetzes in der Fassung des Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetzes vom 7. Dezember 2011 (Bundesgesetzblatt I Seite 2592) insoweit mit dem Grundgesetz vereinbar ist, als danach Aufwendungen des Steuerpflichtigen für seine erstmalige Berufsausbildung oder für ein Erststudium, das zugleich eine Erstausbildung vermittelt, keine Werbungskosten sind, wenn diese Berufsausbildung oder dieses Erststudium nicht im Rahmen eines Dienstverhältnisses stattfindet und auch keine weiteren einkommensteuerrechtlichen Regelungen bestehen, nach denen die vom Abzugsverbot betroffenen Aufwendungen die einkommensteuerliche Bemessungsgrundlage mindern - Aussetzungs- und Vorlagebeschluss des Bundesfinanzhofs vom 17. Juli 2014 - VI R 61/11 - - 2 BvL 22/14 -, ob § 9 Absatz 6 des Einkommensteuergesetzes in der Fassung des Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetzes vom 7. Dezember 2011 (Bundesgesetzblatt I Seite 2592) insoweit mit dem Grundgesetz vereinbar ist, als danach Aufwendungen des Steuerpflichtigen für seine erstmalige Berufsausbildung oder für ein Erststudium, das zugleich eine Erstausbildung vermittelt, keine Werbungskosten sind, wenn diese Berufsausbildung oder dieses Erststudium nicht im Rahmen eines Dienstverhältnisses stattfindet und auch keine weiteren einkommensteuerrechtlichen Regelungen bestehen, nach denen die vom Abzugsverbot betroffenen Aufwendungen die einkommensteuerliche Bemessungsgrundlage mindern - Aussetzungs- und Vorlagebeschluss des Bundesfinanzhofs vom 17. Juli 2014 - VI R 2/12 - - 2 BvL 23/14 -, ob § 9 Absatz 6 des Einkommensteuergesetzes in der Fassung des Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetzes vom 7. Dezember 2011 (Bundesgesetzblatt I Seite 2592) insoweit mit dem Grundgesetz vereinbar ist, als danach Aufwendungen des Steuerpflichtigen für seine erstmalige Berufsausbildung oder für ein Erststudium, das zugleich eine Erstausbildung vermittelt, keine Werbungskosten sind, wenn diese Berufsausbildung oder dieses Erststudium nicht im Rahmen eines Dienstverhältnisses stattfindet und auch keine weiteren einkommensteuerrechtlichen Regelungen bestehen, nach denen die vom Abzugsverbot betroffenen Aufwendungen die einkommensteuerliche Bemessungsgrundlage mindern - Aussetzungs- und Vorlagebeschluss des Bundesfinanzhofs vom 17. Juli 2014 - VI R 8/12 - - 2 BvL 24/14 -, ob § 9 Absatz 6 des Einkommensteuergesetzes in der Fassung des Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetzes vom 7. Dezember 2011 (Bundesgesetzblatt I Seite 2592) insoweit mit dem Grundgesetz vereinbar ist, als danach Aufwendungen des Steuerpflichtigen für seine erstmalige Berufsausbildung oder für ein Erststudium, das zugleich eine Erstausbildung vermittelt, keine Werbungskosten sind, wenn diese Berufsausbildung oder dieses Erststudium nicht im Rahmen eines Dienstverhältnisses stattfindet und auch keine weiteren einkommensteuerrechtlichen Regelungen bestehen, nach denen die vom Abzugsverbot betroffenen Aufwendungen die einkommensteuerliche Bemessungsgrundlage mindern - Aussetzungs- und Vorlagebeschluss des Bundesfinanzhofs vom 17. Juli 2014 - VI R 38/12 - - 2 BvL 25/14 -, ob § 9 Absatz 6 des Einkommensteuergesetzes in der Fassung des Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetzes vom 7. Dezember 2011 (Bundesgesetzblatt I Seite 2592) insoweit mit dem Grundgesetz vereinbar ist, als danach Aufwendungen des Steuerpflichtigen für seine erstmalige Berufsausbildung oder für ein Erststudium, das zugleich eine Erstausbildung vermittelt, keine Werbungskosten sind, wenn diese Berufsausbildung oder dieses Erststudium nicht im Rahmen eines Dienstverhältnisses stattfindet und auch keine weiteren einkommensteuerrechtlichen Regelungen bestehen, nach denen die vom Abzugsverbot betroffenen Aufwendungen die einkommensteuerliche Bemessungsgrundlage mindern - Aussetzungs- und Vorlagebeschluss des Bundesfinanzhofs vom 17. Juli 2014 - VI R 2/13 - - 2 BvL 26/14 -, ob § 9 Absatz 6 des Einkommensteuergesetzes in der Fassung des Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetzes vom 7. Dezember 2011 (Bundesgesetzblatt I Seite 2592) insoweit mit dem Grundgesetz vereinbar ist, als danach Aufwendungen des Steuerpflichtigen für seine erstmalige Berufsausbildung oder für ein Erststudium, das zugleich eine Erstausbildung vermittelt, keine Werbungskosten sind, wenn diese Berufsausbildung oder dieses Erststudium nicht im Rahmen eines Dienstverhältnisses stattfindet und auch keine weiteren einkommensteuerrechtlichen Regelungen bestehen, nach denen die vom Abzugsverbot betroffenen Aufwendungen die einkommensteuerliche Bemessungsgrundlage mindern - Aussetzungs- und Vorlagebeschluss des Bundesfinanzhofs vom 17. Juli 2014 - VI R 72/13 - - 2 BvL 27/14 - hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat - unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter Präsident Voßkuhle, Huber, Hermanns, Müller, Kessal-Wulf, König, Maidowski, Langenfeld am 19. November 2019 beschlossen: Die Verfahren werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden. § 9 Absatz 6 des Einkommensteuergesetzes in der Fassung des Gesetzes zur Umsetzung der Beitreibungsrichtlinie sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften (Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetz – BeitrRLUmsG) vom 7. Dezember 2011 (Bundesgesetzblatt I Seite 2592) ist mit dem Grundgesetz vereinbar. G r ü n d e : A. 1 Die sechs Normenkontrollverfahren gemäß Art. 100 Abs. 1 GG betreffen die Frage der Verfassungsmäßigkeit von § 9 Abs. 6 EStG, nach dem Aufwendungen des Steuerpflichtigen für seine erstmalige Berufsausbildung oder für ein Erststudium, das zugleich eine Erstausbildung vermittelt, keine Werbungskosten sind, wenn diese Berufsausbildung oder dieses Erststudium nicht im Rahmen eines Dienstverhältnisses stattfindet. I. 2 1. Der Bundesfinanzhof ordnete in seinem Grundsatzurteil vom 16. März 1967 (BFHE 89, 511) in Fortführung der Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs (Urteil vom 24. Juni 1937 - IV A 20/36 -, RStBl. 1937, S. 1089) Berufsausbildungskosten der privaten Lebenssphäre zu und erkannte sie - anders als Fortbildungskosten - grundsätzlich nicht als Werbungskosten an. Dabei ging er davon aus, dass „Aufwendungen für ein Hochschulstudium […] stets die Grundlage für eine neue oder anders als bisher geartete Lebensgestaltung des Steuerpflichtigen [schaffen]“ und daher nichtabzugsfähige Kosten der Berufsausbildung darstellen (BFHE 89, 511 <514 f.>). Um Abgrenzungsschwierigkeiten zu vermeiden, behandelte der Bundesfinanzhof dabei alle akademischen Studiengänge gleich. Lediglich Aufwendungen für Studiengänge, die ohne Verleihung eines akademischen Grades abschlossen, konnten als Werbungskosten berücksichtigt werden (vgl. BFHE 116, 169; 128, 390; 128, 472). 3 Diese Rechtsprechung beruhte auf § 12 Nr. 1 EStG, der bis heute unverändert lautet: …dürfen weder bei den einzelnen Einkunftsarten noch vom Gesamtbetrag der Einkünfte abgezogen werden 1. die für den Haushalt des Steuerpflichtigen und für den Unterhalt seiner Familienangehörigen aufgewendeten Beträge. Dazu gehören auch die Aufwendungen für die Lebensführung, die die wirtschaftliche oder gesellschaftliche Stellung des Steuerpflichtigen mit sich bringt, auch wenn sie zur Förderung des Berufs oder der Tätigkeit des Steuerpflichtigen erfolgen; 4 2. a) Da nach Auffassung des Gesetzgebers diese steuerliche Behandlung der eigenen Ausbildungskosten den Anforderungen einer fortschrittlichen Bildungspolitik nicht mehr gerecht wurde (vgl. BTDrucks V/3430, S. 8), wurde durch das Steueränderungsgesetz 1968 (BGBl I 1969 S. 141) mit dem damaligen § 10 Abs. 1 Nr. 9 EStG (später überführt in § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG) eine Vorschrift geschaffen, durch die die Aufwendungen des Steuerpflichtigen für seine Berufsausbildung oder seine Weiterbildung in einem nicht ausgeübten Beruf bis zu einem Höchstbetrag als Sonderausgaben berücksichtigt wurden. 5 b) In der Folge unterschied der Bundesfinanzhof – in ständiger Rechtsprechung – zwischen den als Werbungskosten abziehbaren Kosten einer Fortbildung in einem bereits ausgeübten Beruf und den (nur) als Sonderausgaben berücksichtigungsfähigen Kosten einer Ausbildung zu einem künftigen Beruf (vgl. BFHE 127, 210; 201, 156). Bei einem Zweitstudium nahm er (als Werbungskosten anzuerkennende) Fortbildungskosten an, wenn es auf das Erststudium als Zusatzstudium aufbaute, also die im Erststudium erworbenen Erkenntnisse ergänzt beziehungsweise vertieft wurden und kein Wechsel in eine andere Berufsart eröffnet wurde (BFHE 167, 127). Trotz eines möglichen Wechsels in eine andere Berufsart ging der Bundesfinanzhof darüber hinaus von Fortbildungskosten aus, wenn sich die angestrebte Berufstätigkeit im Verhältnis zur bisherigen nur als Spezialisierung darstellte (BFHE 167, 538; 184, 283). Umschulungskosten – also Aufwendungen zum Erwerb von Kenntnissen, die als Grundlage für einen Berufswechsel dienen sollten – wurden dagegen lediglich als Berufsausbildungskosten und damit als Sonderausgaben berücksichtigt (BFHE 201, 156). 6 c) Durch eine Reihe von Entscheidungen – beginnend mit dem Urteil vom 4. Dezember 2002 (BFHE 201, 156) – änderte der Bundesfinanzhof seine Rechtsprechung. Er erkannte nunmehr auch Aufwendungen für eine Umschulungsmaßnahme als vorab entstandene Werbungskosten an, wenn die Aufwendungen in einem hinreichend konkreten, objektiv feststellbaren Zusammenhang mit späteren Einnahmen stehen (BFHE 201, 156). Ebenso qualifizierte er Aufwendungen für ein berufsbegleitendes erstmaliges Hochschulstudium als Werbungskosten, wenn ein objektiver Zusammenhang mit dem Beruf besteht und die Aufwendungen subjektiv zur Förderung des Berufs getätigt werden (BFHE 201, 211). Unter denselben Voraussetzungen berücksichtigte er ferner Kosten einer Berufsausbildung zum Verkehrsflugzeugführer (BFHE 202, 314; 207, 393) und eines Hochschulstudiums, das im Anschluss an das Abitur aufgenommen wird (BFHE 214, 370), als Werbungskosten. 7 Zur Begründung führte er aus, § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG entfalte keine Sperrwirkung, weil der Werbungskostenabzug nach dem Gesetz Vorrang vor dem Abzug von Sonderausgaben habe (BFHE 201, 156 <162 f.>; 201, 211 <218>). Auch § 12 Nr. 1 Satz 1 und 2 EStG stehe der Behandlung als Werbungskosten nicht entgegen. Die aus beruflichen Gründen entstandenen Kosten könnten nicht zugleich Aufwendungen für die private Lebensführung darstellen, die die wirtschaftliche oder gesellschaftliche Stellung des Steuerpflichtigen mit sich bringe (BFHE 201, 156 <164>). Das die Aufwendungen auslösende, maßgebliche Moment sei die Erzielung künftiger steuerbarer Einnahmen aus einer beruflichen Tätigkeit (BFHE 202, 314 <319>). 8 3. a) Als Reaktion auf diese Rechtsprechungsänderung (vgl. BTDrucks 15/3339, S. 10) wurde durch das Gesetz zur Änderung der Abgabenordnung und weiterer Gesetze vom 21. Juli 2004 (BGBl I S. 1753) rückwirkend zum 1. Januar 2004 § 12 Nr. 5 EStG eingeführt, der wie folgt lautete: Soweit in § 10 Abs. 1 Nr. 1, 2, 4, 6, 7 und 9, § 10a, § 10b und §§ 33 bis 33c nichts anderes bestimmt ist, dürfen weder bei den einzelnen Einkunftsarten noch vom Gesamtbetrag der Einkünfte abgezogen werden 5. Aufwendungen des Steuerpflichtigen für seine erstmalige Berufsausbildung und für ein Erststudium, wenn diese nicht im Rahmen eines Dienstverhältnisses stattfinden. 9 Gleichzeitig wurde § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG neu gefasst und die Höchstgrenze für die Berücksichtigung von Ausbildungskosten als Sonderausgaben erhöht. § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG lautete nunmehr: Sonderausgaben sind die folgenden Aufwendungen, wenn sie weder Betriebsausgaben noch Werbungskosten sind: 7. Aufwendungen für die eigene Berufsausbildung bis zu 4.000 Euro im Kalenderjahr. Bei Ehegatten, die die Voraussetzungen des § 26 Abs. 1 Satz 1 erfüllen, gilt Satz 1 für jeden Ehegatten. Zu den Aufwendungen im Sinne des Satzes 1 gehören auch Aufwendungen für eine auswärtige Unterbringung. … 10 Mit der Neuregelung wollte der Gesetzgeber Steuerausfällen vorbeugen, die sich aus der geänderten Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs ergaben, wobei er mittel- bis längerfristig von einem Steuerausfallrisiko in einer Größenordnung von jährlich 1,5 Milliarden Euro ausging. Abzüglich der kalkulierten Steuermindereinnahmen durch den erhöhten Sonderausgabenabzug (§ 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG) in Höhe von 350 Millionen Euro bezifferte der Gesetzgeber das Steuerausfallrisiko auf jährlich 1,15 Milliarden Euro (BTDrucks 15/3339, S. 2). 11 Die Neuordnung orientierte sich zwar am grundsätzlichen Ansatz des Bundesfinanzhofs, wonach beruflich veranlasste Aufwendungen für Bildungsmaßnahmen nach der ersten Berufsausbildung beziehungsweise dem Erststudium Werbungskosten seien. Dies entspreche dem Gedanken des lebenslangen Lernens und berücksichtige die tiefgreifenden Veränderungen des Berufslebens, die dazu geführt hätten, dass es nicht mehr der Regelfall sei, den einmal erlernten Beruf während des gesamten Berufslebens auszuüben (vgl. BTDrucks 15/3339, S. 10). 12 Der Gesetzgeber sah aufgrund dieser veränderten Rahmenbedingungen jedoch keinen Anlass, die steuerrechtliche Beurteilung von Erstausbildungskosten ebenfalls zu ändern. Denn auch in einer modernen entwickelten Gesellschaft gehöre die erste Berufsausbildung typischerweise zu den Grundvoraussetzungen einer Lebensführung und stelle Vorsorge für die persönliche Existenz dar. Aufwendungen für die erste Berufsausbildung gehörten daher wie Aufwendungen für Erziehung und andere Grundbedürfnisse schwerpunktmäßig und untrennbar zu den Kosten der Lebensführung. Dies gelte auch für ein erstes Studium unbeschadet davon, ob es unmittelbar nach dem Besuch allgemeinbildender Schulen oder nach einer ersten anderen Berufsausbildung aufgenommen werde. Regelmäßig eröffne das Erststudium eine neue berufliche, soziale und wirtschaftliche Stellung. Die dafür getätigten Aufwendungen würden daher typisierend den Lebensführungskosten zugerechnet. Aufwendungen für die erstmalige Berufsausbildung und für das Erststudium könnten als Sonderausgaben im Rahmen des § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG abgezogen werden. Den Anforderungen des modernen Berufslebens werde durch die Erhöhung des Sonderausgabenabzugs Rechnung getragen (vgl. BTDrucks 15/3339, S. 10). 13 Zur praktikablen Abgrenzung der Erstausbildung von nachfolgenden Berufsbildungsmaßnahmen sei auf den Abschluss der ersten Berufsausbildung beziehungsweise den Studienabschluss abzustellen. Ausbildungskosten, die im Rahmen eines Dienstverhältnisses anfielen, seien entsprechend der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs weiterhin als Werbungskosten zu behandeln. Denn diese Kosten dienten unmittelbar dazu, Einnahmen in einem bestehenden Dienstverhältnis zu erzielen, sodass eine Verrechnung dieser Werbungskosten mit den Einkünften möglich sei (vgl. BTDrucks 15/3339, S. 11). 14 b) Der Bundesfinanzhof legte zunächst § 12 Nr. 5 EStG unter Berücksichtigung des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes dahin aus, dass ungeachtet dieser Neuregelung Kosten eines Erststudiums auch weiterhin als Werbungskosten berücksichtigt werden könnten, wenn dieses Erststudium nach abgeschlossener Berufsausbildung durchgeführt werde (BFHE 225, 393; BFH, Urteil vom 18. Juni 2009 - VI R 79/06 -, juris; BFH, Urteil vom 18. Juni 2009 - VI R 6/07 -, juris; BFH, Urteil vom 18. Juni 2009 - VI R 31/07 -, juris; BFH, Urteil vom 18. Juni 2009 - VI R 49/07 -, juris). Zwar erfasse § 12 Nr. 5 EStG dem Wortlaut nach alle Steuerpflichtigen, die ein Erststudium absolvierten, unabhängig davon, ob sie zuvor eine nichtakademische Berufsausbildung durchlaufen hätten oder nicht. Dies würde jedoch in gleichheitswidriger Weise Steuerpflichtige, die nach abgeschlossener Berufsausbildung erstmalig ein Studium aufnähmen, gegenüber den Steuerpflichtigen benachteiligen, die eine zweite nichtakademische Ausbildung, ein Zweitstudium oder ein Erststudium im Rahmen eines Dienstverhältnisses absolvierten. Bei der gebotenen verfassungskonformen Auslegung der §§ 10 Abs. 1 Nr. 7 und 12 Nr. 5 EStG erfasse das Abzugsverbot des § 12 Nr. 5 EStG allenfalls die Fälle des Erststudiums, das zugleich eine Erstausbildung vermittele und nicht im Rahmen eines Dienstverhältnisses stattfinde. 15 c) Mit Urteilen vom 28. Juli 2011 entschied der Bundesfinanzhof darüberhinausgehend, dass – wie nach der alten Rechtslage – Aufwendungen für eine erstmalige Berufsausbildung auch unter Geltung des § 12 Nr. 5 EStG vorab entstandene Werbungskosten im Sinne von § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG sein könnten (BFHE 234, 262; 234, 271; 234, 279; BFH, Urteil vom 28. Juli 2011 - VI R 59/09 -, juris; BFH, Urteil vom 28. Juli 2011 - VI R 8/09 -, juris; vgl. auch BFH, Urteil vom 15. September 2011 - VI R 22/09 -, juris), wenn sie in einem hinreichend konkreten, objektiv feststellbaren Veranlassungszusammenhang mit späteren Einnahmen stünden. Der Werbungskostenabzug sei vorrangig gegenüber dem Sonderausgabenabzug nach § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG (vgl. BFHE 234, 262 <265>). 16 Auch § 12 Nr. 5 EStG lasse den Vorrang des Werbungskostenabzugs gegenüber dem als Sonderausgaben unberührt und stehe daher dem Abzug der Berufsbildungskosten als Werbungskosten nicht entgegen. Denn nach § 12 Nr. 5 EStG seien Aufwendungen des Steuerpflichtigen für seine erstmalige Berufsausbildung und für ein Erststudium nur insoweit weder bei den einzelnen Einkunftsarten noch vom Gesamtbetrag der Einkünfte abzuziehen, als „in § 10 Abs. 1 Nr. 1, 2, 4, 6, 7 und 9, § 10a, § 10b und §§ 33 bis 33c nichts anderes bestimmt“ sei (vgl. BFHE 234, 262 <265>). 17 Das (klarstellende) Abzugsverbot in § 12 Nr. 5 EStG sei damit nicht gegenstandslos. § 12 Nr. 5 EStG habe eine ähnliche Funktion wie der systematisch gleichrangige § 12 Nr. 1 EStG, der zwar privat veranlasste Kosten im einkommensteuerrechtlich Unerheblichen belasse, aber deren beruflich veranlassten Teil nicht vom Werbungskostenabzug ausnehme. In vergleichbarer Weise regele § 12 Nr. 5 EStG den Bereich der Aufwendungen für die eigene Berufsausbildung. Danach seien allgemeine Bildungsaufwendungen, die in keinem hinreichend konkreten Veranlassungszusammenhang zu einer gegenwärtigen oder künftigen beruflichen Tätigkeit stünden, auf Grundlage des Anwendungsvorbehalts des § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG als Sonderausgaben abziehbar. Bestehe indessen ein hinreichend konkreter Veranlassungszusammenhang zwischen diesen Aufwendungen und einer beruflichen Tätigkeit, schließe § 12 Nr. 5 EStG mit seinem ausdrücklichen Verweis auf § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG den dort normierten Anwendungsvorrang des Betriebsausgaben- und Werbungskostenabzugs nicht aus (vgl. BFHE 234, 262 <267>). 18 Die gegenteilige Rechtsauffassung könne nicht auf den Willen des Gesetzgebers gestützt werden. Die allein in dem Bericht und der Beschlussempfehlung des Finanzausschusses erkennbar gewordene Auffassung (BTDrucks 15/3339, S. 10 f.), dass Aufwendungen für die erste Berufsausbildung den Kosten der Lebensführung zuzurechnen seien, bilde sich nicht hinreichend konkret in § 12 Nr. 5 EStG und dem im Übrigen unveränderten Normengefüge ab. Im Zweifel sei mangels eindeutiger gesetzlicher Regelung bei der Auslegung der Norm dem Wortlaut und dem systematischen Zusammenwirken der § 9 Abs. 1, § 10 Abs. 1 Nr. 7, § 12 EStG sowie dem für den Werbungskostenabzug tragenden Veranlassungsprinzip der Vorzug zu geben. Auch unter Berücksichtigung der Gesetzesmaterialien lasse sich kein grundlegender Systemwechsel erkennen, der das gesamte und insbesondere unverändert fortgeltende übrige Normengefüge des Werbungskosten- und Sonderausgabenabzugs außer Kraft setze (vgl. BFHE 234, 262 <268>). 19 4. Als Reaktion auf die Urteile des Bundesfinanzhofs vom 28. Juli 2011 (vgl. BTDrucks 17/7524, S. 5) fügte der Gesetzgeber durch das Gesetz zur Umsetzung der Beitreibungsrichtlinie sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften (Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetz – BeitrRLUmsG) vom 7. Dezember 2011 (BGBl I S. 2592) § 9 EStG den vom Bundesfinanzhof zur verfassungsrechtlichen Überprüfung vorgelegten Absatz 6 an (im Folgenden: § 9 Abs. 6 EStG). § 9 Abs. 6 EStG lautet: Aufwendungen des Steuerpflichtigen für seine erstmalige Berufsausbildung oder für ein Erststudium, das zugleich eine Erstausbildung vermittelt, sind keine Werbungskosten, wenn diese Berufsausbildung oder dieses Erststudium nicht im Rahmen eines Dienstverhältnisses stattfinden. 20 Gleichzeitig ergänzte er § 4 EStG um einen entsprechenden Absatz 9 („Aufwendungen des Steuerpflichtigen für seine erstmalige Berufsausbildung oder für ein Erststudium, das zugleich eine Erstausbildung vermittelt, sind keine Betriebsausgaben“) und passte § 12 Nr. 5 EStG wie folgt an: Soweit in den §§ 9c, 10 Absatz 1 Nummer 1, 2 bis 4, 7 und 9, §§ 10a, 10b und den §§ 33 bis 33b nichts anderes bestimmt ist, dürfen weder bei den einzelnen Einkunftsarten noch vom Gesamtbetrag der Einkünfte abgezogen werden … 5. Aufwendungen des Steuerpflichtigen für seine erstmalige Berufsausbildung oder für ein Erststudium, das zugleich eine Erstausbildung vermittelt, wenn diese Berufsausbildung oder dieses Erststudium nicht im Rahmen eines Dienstverhältnisses stattfinden. 21 Alle drei Vorschriften sind für Veranlagungszeiträume ab 2004 anzuwenden (Art. 2 Nr. 34 Buchstabe c, d und g BeitrRLUmsG). Zudem wurde der Höchstbetrag für den Sonderausgabenabzug in § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG für Veranlagungszeiträume ab 2012 von 4.000 Euro auf 6.000 Euro erhöht (Art. 2 Nr. 5 Buchstabe a und Art. 2 Nr. 34 Buchstabe f BeitrRLUmsG). 22 Die Änderungen sollten „klarstellen“, dass Berufsausbildungskosten für eine erstmalige Berufsausbildung oder ein Erststudium, das zugleich eine Erstausbildung vermittelt, vom Betriebsausgaben- und Werbungskostenabzug ausgeschlossen sind. Die ursprüngliche Rechtslage sollte wiederhergestellt und erheblicher Verwaltungsaufwand sowie Steuerausfälle von über 1 Milliarde Euro sollten vermieden werden (vgl. BTDrucks 17/7524, S. 5). Die Klarstellung sei erforderlich, weil der Bundesfinanzhof bemängelt habe, dass sich der Wille des Gesetzgebers, die Kosten der Erstausbildung vom Abzug als Werbungskosten auszuschließen, im Normengefüge des Einkommensteuergesetzes nicht eindeutig genug wiederfinde. Die Grundentscheidung des Gesetzgebers, dass die Erstausbildung der privaten Lebensführung zuzuordnen sei, werde verdeutlicht. Diese Grundentscheidung folge auch den Grundsätzen des Sozialrechts, in dem diese Ausbildungsbereiche der Bildungsförderung und nicht der Arbeitsförderung unterlägen. Da der Veranlassungszusammenhang zwischen Erstausbildung und späterer Berufstätigkeit typischerweise nicht hinreichend konkret sei, sei es aus der Sicht des Gesetzgebers erforderlich und zulässig, den Abzug im Bereich der Sonderausgaben und nicht im Rahmen der Einkünfteermittlung zu regeln. Diese typisierende Differenzierung werde auch vom Bundesverfassungsgericht als zulässig erachtet (vgl. BTDrucks 17/7524, S. 10). 23 5. Durch das Gesetz zur Anpassung der Abgabenordnung an den Zollkodex der Union und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften vom 22. Dezember 2014 (BGBl I S. 2417) wurde § 9 Abs. 6 EStG mit Wirkung ab dem Veranlagungszeitraum 2015 wie folgt gefasst: 1 Aufwendungen des Steuerpflichtigen für seine Berufsausbildung oder für sein Studium sind nur dann Werbungskosten, wenn der Steuerpflichtige zuvor bereits eine Erstausbildung (Berufsausbildung oder Studium) abgeschlossen hat oder wenn die Berufsausbildung oder das Studium im Rahmen eines Dienstverhältnisses stattfindet. 2 Eine Berufsausbildung als Erstausbildung nach Satz 1 liegt vor, wenn eine geordnete Ausbildung mit einer Mindestdauer von 12 Monaten bei vollzeitiger Ausbildung und mit einer Abschlussprüfung durchgeführt wird. 3 Eine geordnete Ausbildung liegt vor, wenn sie auf der Grundlage von Rechts- oder Verwaltungsvorschriften oder internen Vorschriften eines Bildungsträgers durchgeführt wird. 4 Ist eine Abschlussprüfung nach dem Ausbildungsplan nicht vorgesehen, gilt die Ausbildung mit der tatsächlichen planmäßigen Beendigung als abgeschlossen.5 Eine Berufsausbildung als Erstausbildung hat auch abgeschlossen, wer die Abschlussprüfung einer durch Rechts- oder Verwaltungsvorschriften geregelten Berufsausbildung mit einer Mindestdauer von 12 Monaten bestanden hat, ohne dass er zuvor die entsprechende Berufsausbildung durchlaufen hat. 24 Gleichzeitig wurde § 12 Nr. 5 EStG aufgehoben. II. 25 1. Den fachgerichtlichen Verfahren liegen die folgenden Sachverhalte zugrunde: 26 a) Der Kläger des Ausgangsverfahrens in dem Verfahren 2 BvL 22/14 (Aktenzeichen des Bundesfinanzhofs VI R 61/11) hatte in den Jahren 2002 bis 2006 an einer Fachhochschule für öffentliche Verwaltung studiert und war dort bis August 2006 als Beamtenanwärter tätig gewesen. Allerdings hatte er die Abschlussprüfung im Jahr 2005 sowie die Wiederholungsprüfung im Jahr 2006 jeweils nicht bestanden. Daraufhin nahm der Kläger zum Sommersemester 2007 ein Managementstudium an einer privaten Fachhochschule auf, welches er im April 2010 erfolgreich abschloss. In der Folgezeit bewarb er sich auf entsprechende Stellen. 27 Im Streitjahr (2007) erzielte der Kläger Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit und machte für sein Managementstudium Werbungskosten in die Einkünfte übersteigender Höhe geltend. Das Finanzamt berücksichtigte dagegen nur den Arbeitnehmer-Pauschbetrag in Höhe von 920 Euro und erfasste die Berufsausbildungskosten lediglich mit dem gesetzlichen Höchstbetrag von 4.000 Euro als Sonderausgaben. Auf dieser Grundlage setzte es die Einkommensteuer für das Jahr 2007 auf 0 Euro fest und lehnte den Antrag des Klägers auf Erlass eines Bescheides zum 31. Dezember 2007 über die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs zur Einkommensteuer ab. 28 Mit seiner nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobenen Klage auf Verpflichtung des Finanzamts zur gesonderten Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags für das Jahr 2007 machte der Kläger weiterhin Werbungskosten in Höhe von 10.838 Euro geltend. Das Finanzgericht Münster gab der Klage durch Urteil vom 9. November 2011 (2 K 862/09 F) – vor Erlass des Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetzes – auf der Grundlage des Urteils des Bundesfinanzhofs vom 28. Juli 2011 (VI R 7/10, BFHE 234, 271) statt. Danach ergebe sich ein festzustellender Verlustabzug zum 31. Dezember 2007 in Höhe von 7.054 Euro (Gesamtbetrag der Einkünfte 2.864 Euro zuzüglich 920 Euro abzüglich 10.838 Euro). Dagegen richtet sich die Revision des Finanzamts, das eine Verletzung materiellen Rechts rügt. 29 b) Der Kläger des Ausgangsverfahrens in dem Verfahren 2 BvL 23/14 (Aktenzeichen des Bundesfinanzhofs VI R 2/12) absolvierte als erstmalige Berufsausbildung in den Jahren 2005 bis 2007 eine Ausbildung zum Flugzeugführer und stand seit Oktober 2007 in einem Anstellungsverhältnis als Flugzeugführer. Er begehrte für die Streitjahre (2005 bis 2007) die Feststellung verbleibender Verlustvorträge. Für die Veranlagungszeiträume 2005 und 2006 erklärte er, keine Einnahmen erzielt zu haben, und machte für 2005 Ausbildungskosten in Höhe von 2.168 Euro und für 2006 solche in Höhe von 27.634 Euro als Werbungskosten geltend. Für 2007 erklärte er Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit in Höhe von 4.164 Euro und Werbungskosten in Form von Ausbildungskosten in Höhe von 44.485 Euro sowie weitere Werbungskosten in Höhe von 4.110 Euro. Das Finanzamt lehnte eine Verlustfeststellung ab und setzte mit Einkommensteuerbescheiden der Streitjahre die Einkommensteuer jeweils auf 0 Euro fest. Die Ausbildungskosten wurden nicht als Werbungskosten, sondern lediglich als Sonderausgaben berücksichtigt, im Jahr 2005 in Höhe von 2.168 Euro und in den Jahren 2006 und 2007 in Höhe von jeweils 4.000 Euro. 30 Die nach erfolglosem Einspruchsverfahren dagegen erhobene Verpflichtungsklage wies das Finanzgericht Düsseldorf durch Urteil vom 14. Dezember 2011 (14 K 4407/10 F) auf der Grundlage von § 9 Abs. 6 EStG und § 12 Nr. 5 EStG in der Fassung des Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetzes, die ab dem Veranlagungszeitraum 2004 anzuwenden seien, ab. Mit seiner auf die Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision verfolgt der Kläger sein Begehren auf Anerkennung seiner geltend gemachten Ausbildungskosten als Werbungskosten weiter. 31 c) Der Kläger des Ausgangsverfahrens in dem Verfahren 2 BvL 24/14 (Aktenzeichen des Bundesfinanzhofs VI R 8/12) studierte nach dem Abitur in den Jahren 2002 bis 2004 zunächst an einer staatlichen Universität und in den Jahren 2004 bis 2008 an einer privaten Hochschule internationale Betriebswirtschaftslehre. Der Studiengang an der privaten Hochschule sah eine enge Verzahnung zwischen Theorie und Praxis vor und beinhaltete zwei Auslandssemester sowie drei Praktika. Im Anschluss an sein am 4. Juli 2008 erfolgreich abgeschlossenes Studium erhielt der Kläger zum 1. November 2008 eine Festanstellung als Assistent des Vertriebsvorstands einer AG, in der er bis zum 30. Juni 2011 tätig war. 32 Mit seiner Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 2007 machte der Kläger bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit Werbungskosten in einer seinen Bruttoarbeitslohn erheblich übersteigenden Höhe geltend. Die Werbungskosten von 19.528 Euro ergaben sich aus den Aufwendungen für Arbeitsmittel (unter anderem Studiengebühren von 5.120 Euro) sowie aus den Kosten für ein Auslandssemester in Australien (13.535 Euro). Das Finanzamt berücksichtigte die entstandenen Aufwendungen nur mit dem Höchstbetrag von 4.000 Euro als Sonderausgaben in Form von Berufsausbildungskosten und stellte den verbleibenden Verlustvortrag zur Einkommensteuer auf den 31. Dezember 2007 auf 0 Euro fest. 33 Das Finanzgericht Münster wies die nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage auf Verpflichtung des Finanzamts zur gesonderten Feststellung eines verbleibenden Verlustvortrags für das Jahr 2007 durch Urteil vom 20. Dezember 2011 (5 K 3975/09 F) unter Bezugnahme auf § 9 Abs. 6 EStG und § 12 Nr. 5 EStG in der Fassung des Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetzes ab. Mit seiner auf die Verletzung von Bundesrecht gestützten Revision verfolgt der Kläger sein Begehren auf Feststellung eines verbleibenden Verlustvortrags zur Einkommensteuer auf den 31. Dezember 2007 in Höhe von 18.278 Euro weiter. 34 d) Der Kläger des Ausgangsverfahrens in dem Verfahren 2 BvL 25/14 (Aktenzeichen des Bundesfinanzhofs VI R 38/12) studierte seit dem Jahr 2001 an der Universität K… Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Verkehrswissenschaft. In der Zeit vom 15. Februar bis 26. Juni 2006 absolvierte er ein Semester in Warschau, wobei er, nachdem er dort alle Prüfungen abgelegt hatte, bereits am 22. April 2006 nach K… zurückkehrte. Im August 2007 erhielt der Kläger das Thema seiner Diplomarbeit, am 10. September 2007 reichte er die Arbeit beim Prüfungsamt ein, erhielt dafür am 13. November 2007 die Bewertung und schloss damit am gleichen Tag die Diplomprüfung ab. 35 Bereits am 3. März 2006 hatte der Kläger mit einer Fluggesellschaft eine Vereinbarung über eine 18-monatige Ausbildung zum Verkehrsflugzeugführer geschlossen, die er am 24. April 2006 begann und deren Kosten er selbst zu tragen hatte. Nach abgeschlossener Ausbildung war der Kläger seit September 2007 bei der Gesellschaft als Verkehrsflugzeugführer beschäftigt. Mit seinen Einkommensteuererklärungen 2006 und 2007 machte er die Ausbildungskosten zum Berufspiloten in Höhe von 20.246 Euro und 28.584 Euro als Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit geltend und beantragte jeweils die Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags. Das Finanzamt lehnte eine Verlustfeststellung ab und berücksichtigte die Berufsausbildungskosten lediglich in Höhe von jeweils 4.000 Euro bei der Festsetzung der Einkommensteuer. 36 Das Finanzgericht Köln wies die dagegen nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage auf Verpflichtung des Finanzamts zur gesonderten Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags für die Jahre 2006 und 2007 durch Urteil vom 22. Mai 2012 (15 K 3413/09) unter Bezugnahme auf § 9 Abs. 6 EStG und § 12 Nr. 5 EStG in der Fassung des Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetzes ab. Für die Abgrenzung zwischen erster Berufsausbildung beziehungsweise Erststudium und zweiter Berufsausbildung komme es entscheidend auf den berufsqualifizierenden Abschluss der ersten Berufsausbildung an. Aus der im Streitfall einschlägigen Studienprüfungsordnung folge, dass erst die Diplomprüfung den berufsqualifizierenden Abschluss des Studiums bilde. Da es im Streitfall an einem berufsqualifizierenden Abschluss des Studiums vor dem Beginn der weiteren Ausbildung zum Verkehrsflugzeugführer gefehlt habe, könnten die streitigen Werbungskosten nicht anerkannt werden. Mit der auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. 37 e) Der Kläger des Ausgangsverfahrens in dem Verfahren 2 BvL 26/14 (Aktenzeichen des Bundesfinanzhofs VI R 2/13) absolvierte als seine erstmalige Ausbildung in den Streitjahren 2007 und 2008 eine solche zum Berufspiloten. In diesen beiden Streitjahren erzielte er noch keine Einkünfte, er war erst ab Januar 2009 als Berufspilot tätig. Die Kosten für seine Berufsausbildung machte der Kläger als vorweggenommene Werbungskosten aus nichtselbständiger Arbeit in seiner Einkommensteuererklärung 2007 in Höhe von 31.257 Euro und mit der Einkommensteuererklärung 2008 in Höhe von 43.203 Euro geltend und begehrte die Feststellung verbleibender Verlustvorträge. Das Finanzamt berücksichtigte die Ausbildungskosten jeweils nur als Sonderausgaben in Höhe des gesetzlichen Höchstbetrags von 4.000 Euro und setzte mit den Einkommensteuerbescheiden der Streitjahre die Einkommensteuer jeweils auf 0 Euro fest. Mit weiteren Bescheiden lehnte das Finanzamt die gesonderte Feststellung eines verbleibenden Verlustvortrags zum 31. Dezember 2007 sowie zum 31. Dezember 2008 ab. 38 Das Finanzgericht Baden-Württemberg wies die nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage auf Verpflichtung des Finanzamts zur gesonderten Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags für die Jahre 2007 und 2008 durch Urteil vom 26. November 2012 (10 K 4245/11) unter Bezugnahme auf § 9 Abs. 6 EStG und § 12 Nr. 5 EStG in der Fassung des Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetzes ab. Mit seiner auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. 39 f) Der Kläger des Ausgangsverfahrens im Verfahren 2 BvL 27/14 (Aktenzeichen des Bundesfinanzhofs VI R 72/13) schloss im August 2003 einen Schulungsvertrag mit der X… GmbH über seine fliegerische Grundschulung zum Verkehrsflugzeugführer als erstmalige Berufsausbildung nach den Standards der X… AG. Die X… AG trug die Kosten der Schulung, der Kläger musste allerdings einen Eigenanteil leisten, der zwölf Monate nach Schulungsbeginn fällig wurde. Während der Schulung hatte der Kläger mit Ausnahme eines Zuschusses zur Kantinenverpflegung kein steuer- und sozialversicherungspflichtiges Einkommen. Zur Finanzierung des Eigenanteils hatte die X… AG dem Kläger ein Darlehen in Höhe des Eigenanteils zugesagt, das bei Fälligkeit des Eigenanteils im August 2004 hierfür verwendet wurde. Bis zum Beginn eines Arbeitsverhältnisses als Flugzeugführer im X…-Konzern war das Darlehen zins- und tilgungsfrei gestellt. Der Schulungsvertrag sah vor, dass dem Kläger nach erfolgreicher Schulung entweder bei der X… AG oder einer unter den Konzerntarifvertrag fallenden Gesellschaft ein Arbeitsplatz angeboten wird. Im Juli 2006 bot die X… AG dem Kläger einen Arbeitsplatz an. 40 Der Kläger machte mit seiner Einkommensteuererklärung für 2004 die von ihm getragenen Schulungskosten von 40.903 Euro sowie die Fahrtkosten von rund 120 Euro als vorweggenommene Werbungskosten geltend. Das Finanzamt setzte mit Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2004 die Einkommensteuer auf 0 Euro fest. Die Ausbildungskosten wurden nicht als Werbungskosten, sondern lediglich als Sonderausgaben in Höhe des gesetzlichen Höchstbetrags von 4.000 Euro berücksichtigt. Den Abzug der geltend gemachten Schulungskosten als Werbungskosten und eine darauf gestützte Feststellung eines verbleibenden Verlustvortrags lehnte es ab. Mit der dagegen nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobenen Klage begehrte der Kläger die Berücksichtigung von Werbungskosten in Höhe von 44.483 Euro, die sich im Wesentlichen aus den Schulungskosten in Höhe von 40.903 Euro und aus Verpflegungsmehraufwand durch den Schulungsaufenthalt in den USA in Höhe von 3.240 Euro zusammensetzten. Das Schleswig-Holsteinische Finanzgericht wies die Klage durch Urteil vom 4. September 2013 (2 K 159/11) ab. Mit dem Schulungsvertrag und dem Darlehensvertrag sei kein Dienstverhältnis begründet worden. Der Kläger habe der X… weder seine Arbeitskraft geschuldet noch von ihr Arbeitslohn bezogen. In dem Schulungsvertrag sei ausdrücklich hervorgehoben worden, dass dem Kläger erst nach der erfolgreichen Schulung ein Beschäftigungsverhältnis innerhalb des Konzerns angeboten werde. Die Anerkennung der Aufwendungen des Klägers für seine erstmalige Berufsausbildung als Werbungskosten sei deshalb gemäß § 9 Abs. 6 EStG und § 12 Nr. 5 EStG in der Fassung des Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetzes ausgeschlossen. Mit der auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. 41 2. Der Bundesfinanzhof hat mit sechs in den maßgeblichen Passagen inhaltsgleichen Beschlüssen vom 17. Juli 2014 die Verfahren ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob § 9 Abs. 6 des Einkommensteuergesetzes in der Fassung des Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetzes vom 7. Dezember 2011 (BGBl I S. 2592) insoweit mit dem Grundgesetz vereinbar ist, als danach Aufwendungen des Steuerpflichtigen für seine erstmalige Berufsausbildung oder für ein Erststudium, das zugleich eine Erstausbildung vermittelt, keine Werbungskosten sind, wenn diese Berufsausbildung oder dieses Erststudium nicht im Rahmen eines Dienstverhältnisses stattfindet und auch keine weiteren einkommensteuerrechtlichen Regelungen bestehen, nach denen die vom Abzugsverbot betroffenen Aufwendungen die einkommensteuerliche Bemessungsgrundlage mindern. 42 a) Der Bundesfinanzhof hält in allen Verfahren die vorgelegte Vorschrift für entscheidungserheblich. Bei Gültigkeit der Norm seien die Revisionen der Kläger entsprechend der zutreffenden einfachrechtlichen Beurteilung durch die Finanzgerichte zurückzuweisen, während die Revision des beklagten Finanzamts begründet und die Klage abzuweisen sei. Sollte die Norm dagegen verfassungswidrig sein, wären die Revisionen der Kläger jeweils begründet und die Revision des Finanzamts unbegründet. Denn die den jeweiligen Klägern entstandenen Kosten für ihre Ausbildung wären dann als vorweggenommene Werbungskosten zu berücksichtigen. Auch wenn das Bundesverfassungsgericht die Versagung des Werbungskostenabzugs für Berufsausbildungskosten lediglich für verfassungswidrig erkläre und dem Gesetzgeber aufgebe, eine Neuregelung zu treffen, sei die Vorlagefrage entscheidungserheblich, weil für die Kläger der Ausgangsverfahren die Chance offenbliebe, dass der Gesetzgeber eine im Vergleich zur bisherigen verfassungswidrigen Rechtslage für sie günstigere Regelung schaffe. 43 b) Der Bundesfinanzhof ist von der Verfassungswidrigkeit der Versagung des Werbungskostenabzugs überzeugt. § 9 Abs. 6 EStG verstoße gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG in der Ausprägung des daraus abgeleiteten verfassungsrechtlichen Gebots der Besteuerung nach der finanziellen Leistungsfähigkeit und des Gebots der Folgerichtigkeit. 44 Die für die Lastengleichheit im Einkommensteuerrecht maßgebliche finanzielle Leistungsfähigkeit bemesse der einfache Gesetzgeber nach dem objektiven und dem subjektiven Nettoprinzip. Danach unterliege der Einkommensteuer grundsätzlich nur das Nettoeinkommen, nämlich der Saldo aus den Erwerbseinnahmen einerseits und den (betrieblichen/beruflichen) Erwerbsaufwendungen sowie den (privaten) existenzsichernden Aufwendungen andererseits. 45 aa) Im Rahmen des objektiven Nettoprinzips habe der Gesetzgeber des Einkommensteuergesetzes die Zuordnung von Aufwendungen zum betrieblichen beziehungsweise beruflichen Bereich, derentwegen diese Aufwendungen von den Einnahmen grundsätzlich abzuziehen seien, danach vorgenommen, ob eine betriebliche beziehungsweise berufliche Veranlassung bestehe (vgl. § 4 Abs. 4, § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG). Er könne zwar dieses Prinzip beim Vorliegen gewichtiger Gründe durchbrechen und sich dabei generalisierender, typisierender und pauschalierender Regelungen bedienen. Jedoch entfalte das einfachrechtliche objektive Nettoprinzip Bedeutung im Zusammenhang mit den Anforderungen an hinreichende Folgerichtigkeit bei der näheren Ausgestaltung der gesetzgeberischen Grundentscheidungen. Die Beschränkung des steuerlichen Zugriffs nach Maßgabe des objektiven Nettoprinzips als Ausgangstatbestand der Einkommensteuer gehöre zu diesen Grundentscheidungen, so dass Ausnahmen von der folgerichtigen Umsetzung der mit dem objektiven Nettoprinzip getroffenen Belastungsentscheidung eines besonderen, sachlich rechtfertigenden Grundes bedürften. 46 § 9 Abs. 6 EStG werde auch unter Typisierungsgesichtspunkten diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine gleichheitsgerechte Besteuerung nicht gerecht. Denn auch unter Berücksichtigung privater Mitveranlassungsaspekte und einer damit dem Gesetzgeber eröffneten Typisierungsbefugnis bei der einkommensteuerrechtlichen Berücksichtigung der Aufwendungen für die Berufsausbildung lasse sich die in § 9 Abs. 6 EStG getroffene Durchbrechung des maßgeblichen Veranlassungsprinzips nicht rechtfertigen. 47 Auch Kosten für eine erstmalige Ausbildung seien Erwerbsaufwendungen und damit Werbungskosten im Sinne des § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG. Nach ständiger Rechtsprechung sei von Werbungskosten auszugehen, wenn sie durch den Beruf oder durch die Erzielung steuerpflichtiger Einnahmen veranlasst seien. Eine berufliche Veranlassung sei gegeben, wenn ein objektiver Zusammenhang mit dem Beruf bestehe und die Aufwendungen subjektiv zur Förderung des Berufs getätigt würden. Daher bestehe ein Veranlassungszusammenhang zwischen Berufsausbildungskosten als Erwerbsaufwendungen und späteren Erwerbseinnahmen. Denn eine Berufsausbildung sei regelmäßig die notwendige Voraussetzung für eine nachfolgende (auf die Erzielung von Einkünften gerichtete) berufliche Betätigung. Aufwendungen für eine Ausbildung zu einem Beruf seien geradezu prototypisch beruflich veranlasst. 48 Es werde nicht verkannt, dass zwischen der tatbestandlichen Qualifikation von Aufwendungen nach den einfachgesetzlichen Grundlagen des Einkommensteuerrechts und der verfassungsrechtlich zulässigen gesetzgeberischen Bewertung und Gewichtung multikausaler und multifinaler Wirkungszusammenhänge zu unterscheiden sei. Auch unter Berücksichtigung multikausaler und multifinaler Wirkungszusammenhänge wiesen Berufsausbildungskosten jedoch deutlich geringere private Mitveranlassungsaspekte auf als etwa Aufwendungen für Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte. Bei Aufwendungen für die eigene Berufsausbildung schwinde der private Veranlassungszusammenhang typischerweise in dem Maße, in dem der für den Steuerpflichtigen damit verbundene finanzielle Aufwand steige. Das zeigten nicht nur, aber gerade auch die Fälle der Ausbildungen zum Berufspiloten. Aufwendungen für die eigene Berufsausbildung beruhten regelmäßig nicht auf unbeachtlichen privaten Motiven. 49 Dieser berufliche Veranlassungszusammenhang gelte grundsätzlich auch veranlagungszeitraumübergreifend. Es sei ständige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs, dass ein Werbungskostenabzug auch möglich sei, wenn der Steuerpflichtige gegenwärtig noch keine Einnahmen erziele. Solche Aufwendungen seien als vorab entstandene (vorweggenommene) Werbungskosten abziehbar, wenn ein hinreichend konkreter, objektiv feststellbarer Veranlassungszusammenhang mit späteren Einnahmen bestehe. 50 § 9 Abs. 6 EStG selbst nehme zum Ausgangspunkt, dass Aufwendungen für die eigene Berufsausbildung regelmäßig nicht auf unbeachtlichen privaten Motiven gründeten. Dabei werde zwischen der erstmaligen Berufsausbildung und nachfolgenden Ausbildungen einerseits und zwischen Berufsausbildungen im Rahmen eines Dienstverhältnisses und solchen ohne Dienstverhältnis andererseits differenziert. Im Ergebnis schließe die Regelung einzig Aufwendungen für die erstmalige Berufsausbildung, die außerhalb eines Dienstverhältnisses stattfinde, vom Werbungskostenabzug aus und durchbreche insoweit das Veranlassungsprinzip. Obwohl in aller Regel Steuerpflichtige eine erste Ausbildung nur durchliefen, um mit den dadurch erworbenen Kenntnissen und Fertigkeiten später Einnahmen zu erzielen, gehe die Regelung typisierend davon aus, dass die erste Ausbildung außerhalb eines Dienstverhältnisses niemals, aber die im Rahmen eines Dienstverhältnisses durchgeführte Berufsausbildung – ebenso wie alle nachfolgenden Ausbildungen – stets einen hinreichenden Veranlassungszusammenhang zur späteren Berufstätigkeit aufweise. Beruflich veranlasster Aufwand werde – insoweit einzigartig im Einkommensteuerrecht – deshalb vom Werbungskostenabzug ausgeschlossen, weil dieser Aufwand erstmals getätigt werde. 51 Weder § 9 Abs. 6 EStG noch die Gesetzgebungsmaterialien ließen erkennen, dass – im Sinne der Anforderungen an eine Typisierung – der in der Lebenswirklichkeit angetroffene Befund in der Vielzahl seiner Einzelfälle in einem Gesamtbild erfasst worden wäre. Die rein numerische Differenzierung zwischen erster Berufsausbildung und nachfolgenden Ausbildungen lasse nicht erkennen, dass die Regelung mindestens grob typisierend zwischen privater Veranlassung einerseits und beruflicher Veranlassung andererseits unterscheide. Entsprechendes gelte für Ausbildungen mit und ohne Dienstverhältnis. 52 Die Grundentscheidung des Gesetzgebers, die Erstausbildung der privaten Lebensführung zuzuordnen, werde in den Gesetzesmaterialien nicht etwa mit empirischen Daten begründet, sondern vielmehr mit den „Grundsätzen des Sozialrechts, in dem diese Ausbildungsbereiche der Bildungsförderung und nicht der Arbeitsförderung unterliegen“. Soweit die Zuordnung des Aufwands zum Bereich der Sonderausgaben damit erklärt werde, dass der Veranlassungszusammenhang typischerweise nicht hinreichend konkret sei, bleibe die Grundlage für diesen „typischerweise nicht hinreichend konkreten“ Veranlassungszusammenhang offen. Es sei nicht erkennbar, auf welcher Tatsachengrundlage diese Typik beruhe und warum nicht auch Aufwendungen für nachfolgende Berufsausbildungen pauschal den Kosten der privaten Lebensführung zugeordnet werden könnten. 53 Die Typik eines nicht hinreichend konkreten Veranlassungszusammenhangs stehe weiter im Widerspruch zur Behandlung der Werbungskosten für die erste eigene Berufsausbildung, wenn diese im Rahmen eines Dienstverhältnisses stattfinde. Bei Vorliegen eines Dienstverhältnisses werde der Veranlassungszusammenhang zwischen Erstausbildung und späterer Berufstätigkeit als hinreichend konkret angesehen, obwohl es auch in diesen Fällen nicht um den Abzug von Werbungskosten für die ausgeübte gegenwärtige Berufstätigkeit gehe, sondern um den Abzug von Aufwendungen für eine künftige Berufstätigkeit, für die Kenntnisse erst im Rahmen des gegenwärtigen Ausbildungsdienstverhältnisses vermittelt würden. Dieser Umstand bleibe unbeachtet, wenn die Gesetzgebungsmaterialien (BTDrucks 17/7524, S. 10, unter Hinweis auf BTDrucks 15/3339, S. 11) Werbungskosten in diesen Fällen deshalb annähmen, weil diese Kosten unmittelbar dazu dienten, Einnahmen in einem bestehenden Dienstverhältnis zu erzielen. 54 Aus den vorgenannten Gründen folge der vorlegende Senat nicht der finanzgerichtlichen Rechtsprechung, soweit sie keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken gegen § 9 Abs. 6, § 12 Nr. 5 EStG habe. Deren Begründung, Berufsausbildungskosten stünden regelmäßig noch nicht im direkten Zusammenhang mit einer konkreten Einnahmenerzielung, sondern dienten losgelöst von einem späteren Anstellungsverhältnis zunächst primär der individuellen Bereicherung des Steuerpflichtigen durch die Erlangung von Kenntnissen und Fertigkeiten im Sinne einer „Ausbildung“, nehme tatsächlich gegebene Veranlassungszusammenhänge nicht zur Kenntnis. Der Beispielsfall des Besuchs einer Flugschule, mit dem Ziel, dort den Beruf des Verkehrsflugzeugführers zu erlernen, zeige den Veranlassungszusammenhang besonders deutlich, treffe aber im Grunde für die ganz überwiegende Zahl der Ausbildungsberufe und Studiengänge zu. Hiergegen könne nicht eingewandt werden, dass es auch privat veranlasste berufliche Ausbildungen gebe oder eine private Mitveranlassung nie per se ausgeschlossen werden könne. Denn ansonsten würden Ausnahmen, also atypische Fälle, statt des Regelfalls der Typisierung zugrunde gelegt. 55 Die Zuordnung der Erstausbildung zum Bereich der privaten Lebensführung lasse sich auch nicht mit einer Vereinfachung der Verwaltungspraxis rechtfertigen. Zutreffend werde eingewandt, dass die Tatbestandsmerkmale „erstmalige Berufsausbildung“, „Erststudium“ und „im Rahmen eines Dienstverhältnisses“ weiteren Auslegungsbedarf begründeten, statt zu vereinfachen. Dem lasse sich nicht entgegenhalten, dass es mitunter schwierig sei, den Veranlassungszusammenhang zwischen der Berufsausbildung und der späteren Berufstätigkeit festzustellen. Denn bei sämtlichen einer Erstausbildung nachfolgenden Ausbildungen einerseits und bei allen Ausbildungen im Rahmen eines Dienstverhältnisses andererseits sei stets zu prüfen, ob ein hinreichender Veranlassungszusammenhang bestehe. Ungeachtet der Frage, ob überhaupt eine Vereinfachung vorliege, sei zu berücksichtigen, dass auch eine angestrebte Verwaltungsvereinfachung die Anforderungen an eine Typisierung nicht außer Acht lassen dürfe. Typisierungen müssten den typischen Fall als Leitbild wählen, auch wenn sie in weitem Umfang die Besonderheiten des einzelnen Falles vernachlässigen dürften. Dies sei vorliegend nicht der Fall. Vielmehr stehe die Typisierung in keinem erkennbaren Zusammenhang zu den in der Realität typischerweise vorkommenden Fällen eines privaten oder beruflichen Veranlassungszusammenhangs; die Grenzen einer möglichen „Hinwegtypisierung“ seien damit überschritten. 56 Ausweislich der Begründung im Gesetzgebungsverfahren solle § 9 Abs. 6 EStG der Klarstellung dienen. Damit sei kein grundlegender Systemwechsel in der Besteuerung der Berufsausbildungskosten angestrebt worden. Die Neuregelung weise daher kein ausreichendes Mindestmaß an konzeptioneller Neuordnung auf, das für einen Systemwechsel oder für eine grundlegend neue Zuordnungsentscheidung zu fordern sei. Die der Neuregelung zu Grunde liegende generelle Annahme, eine erstmalige Berufsausbildung weise bei typisierender Betrachtung keinen hinreichend konkreten Veranlassungszusammenhang zur späteren Berufstätigkeit auf, beruhe nicht auf einem systemtragenden Gedanken und lasse insbesondere auch keinen folgerichtig ausgestalteten Be- und Entlastungsgrund erkennen. 57 bb) Selbst wenn der Gesetzgeber von Verfassungs wegen berechtigt gewesen sei, die Aufwendungen für die erste Berufsausbildung einfachrechtlich durch „Hinwegtypisierung“ aus dem Anwendungsbereich des Werbungskostenabzugs auszunehmen, verstoße die Neuregelung gegen den allgemeinen Gleichheitssatz in der Ausprägung des Grundsatzes der Besteuerung nach der subjektiven Leistungsfähigkeit. Für den Bereich des subjektiven Nettoprinzips sei das Verfassungsgebot der steuerlichen Verschonung des Existenzminimums des Steuerpflichtigen und seiner unterhaltsberechtigten Familie zu beachten. Wieweit über den Schutz des Existenzminimums hinaus auch sonstige unvermeidbare oder zwangsläufige private Aufwendungen bei der Bemessungsgrundlage einkommensmindernd zu berücksichtigen seien, sei zwar bislang verfassungsgerichtlich noch nicht abschließend geklärt. Die Aufwendungen der Steuerpflichtigen für ihre erste Berufsausbildung gehörten aber jedenfalls zum zwangsläufigen und pflichtbestimmten Aufwand, der nicht zur beliebigen Disposition des Gesetzgebers stehe. 58 Aufwendungen für die eigene Berufsausbildung dienten der Existenzsicherung des Steuerpflichtigen in ähnlicher Weise wie die unmittelbar der Sicherung seines Existenzminimums dienenden Aufwendungen für Essen und Wohnen. Diesen Aufwendungen könne sich der Steuerpflichtige nicht beliebig entziehen. Ohne Ausbildung könne der Steuerpflichtige keiner Erwerbstätigkeit nachgehen und mithin keine Einnahmen erzielen und damit auch nicht seine Existenz aus eigener finanzieller Kraft sichern; diese eigenständige, selbstverantwortliche Existenzsicherung habe Vorrang vor staatlicher Fürsorge, so dass der Steuerpflichtige nicht auf das von staatlicher Seite sozialrechtlich gewährleistete Mindestmaß verwiesen werden könne. Daraus folge, dass Aufwendungen für die eigene Berufsausbildung zwangsläufig seien, zur Existenzsicherung unvermeidlich anfielen und nicht der frei gestaltbaren Einkommensverwendung zuzurechnen seien. Der Aufwand für die eigene, auf künftige Existenzsicherung gerichtete Berufsausbildung könne nicht mit beliebiger privater Bedürfnisbefriedigung rechtlich gleichgestellt werden. Was für die Ausbildungskosten der Kinder des Steuerpflichtigen gelte – dass diese Aufwendungen als Minderung der Leistungsfähigkeit anzuerkennen seien (BVerfGE 89, 346 <354 f.>) –, müsse dem Grunde nach erst recht für die Ausbildungskosten des Steuerpflichtigen selbst gelten. 59 Selbst wenn die Aufwendungen mit Blick auf die multikausalen und multifinalen Wirkungszusammenhänge als gemischt veranlasst zu qualifizieren wären oder ganz der privaten Sphäre zugeordnet werden könnten, dürften von Verfassungs wegen diese Aufwendungen nicht allein deshalb einkommensteuerrechtlich unberücksichtigt bleiben. Die finanzielle Belastung durch Berufsausbildungskosten könne ebenso wenig „hinwegtypisiert“ werden wie die Belastung durch Wegekosten (BVerfGE 122, 210 <241>). Dies folge letztlich daraus, dass die Besteuerung nach der finanziellen Leistungsfähigkeit nicht nur auf die Unterscheidung zwischen beruflicher oder privater Veranlassung der Aufwendungen abstelle, sondern auch auf die Unterscheidung zwischen freier oder beliebiger Einkommensverwendung einerseits und zwangsläufigem, pflichtbestimmtem Aufwand andererseits. Auch die Berücksichtigung privat veranlassten Aufwands stehe nicht ohne weiteres zur Disposition des Gesetzgebers; dieser habe vielmehr die unterschiedlichen Gründe, die den Aufwand veranlassten, im Lichte betroffener Grundrechte differenzierend zu würdigen. 60 Die Aufwendungen zur eigenen Berufsausbildung seien nicht nur dem Grunde nach zu berücksichtigen, sondern müssten auch der Höhe nach in realitätsgerechtem Umfang Eingang in die steuerliche Bemessungsgrundlage finden. Es entspreche mittlerweile gefestigter Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass existenznotwendiger Aufwand in angemessener, realitätsgerechter Höhe von der Einkommensteuer freizustellen sei. Der Gesetzgeber sei gehalten, den tatsächlichen Entwicklungen Rechnung zu tragen und die von Verfassungs wegen zu berücksichtigenden, existenzsichernden Aufwendungen nach dem tatsächlichen Bedarf realitätsgerecht zu bemessen. 61 Diesen Vorgaben werde nicht dadurch entsprochen, dass Aufwendungen für die eigene Berufsausbildung als Sonderausgaben nach § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG die steuerrechtliche Bemessungsgrundlage minderten. Denn diese einkommensteuerrechtliche Berücksichtigung laufe regelmäßig ins Leere. Der Abzugstatbestand sei nach seiner Grundkonzeption wirkungslos, weil er gerade und typischerweise nur solchen Steuerpflichtigen zuteilwerde, die in dem Zeitraum, in dem ihnen diese Aufwendungen entstünden, regelmäßig noch keine eigenen Einkünfte erzielten. 62 Aus der Perspektive des subjektiven Nettoprinzips sei die Besonderheit zu berücksichtigen, dass Berufsausbildungskosten typischerweise keine gegenwärtig konsumierten Lebenshaltungskosten seien, sondern zwangsläufig entstünden und der zukunftsbezogenen Existenzsicherung dienten. Diese Zukunftsbezogenheit sei auch zu berücksichtigen, wenn der Gesetzgeber die Aufwendungen nicht den Werbungskosten, sondern den Sonderausgaben zuweise. Der Gesetzgeber sei von Verfassungs wegen zwar nicht gehalten, steuermindernde Aufwendungen entsprechend einfachrechtlicher Systematik einzuordnen. Die von der einfachrechtlichen Systematik abweichende Einordnung müsse aber zu den im Wesentlichen gleichen steuerlichen Auswirkungen führen, die eine systemgerechte Einordnung dieser Aufwendungen hätte. 63 Die Einordnung der Berufsausbildungskosten in den Bereich der Sonderausgaben bewirke eine nicht gerechtfertigte steuerliche Ungleichbehandlung. Denn grundsätzlich sei es nach der einkommensteuerrechtlichen Systematik von entscheidender Bedeutung, ob Aufwendungen zu den Erwerbsaufwendungen zählten, die zu berücksichtigungsfähigen und insbesondere auch vortragsfähigen Verlusten durch den Verlustabzug (§ 10d EStG) berechtigten, oder den existenzsichernden Aufwendungen zugeordnet würden, die zwar grundsätzlich die einkommensteuerrechtliche Bemessungsgrundlage minderten, aber jeweils nur in dem Veranlagungszeitraum, in dem sie entstanden seien, als Abzugstatbestand wirksam sein könnten. Unter Berücksichtigung der Eigenart der Berufsausbildungskosten als zwangsläufig, aber in besonderer Weise zukunftsgerichtet, sei der Gesetzgeber jedenfalls dann, wenn er Abzugsbeträge einführe, dazu verpflichtet, diese auch so auszugestalten, dass sie im typischen Fall grundsätzlich zur Anwendung kämen. Diesen Anforderungen genüge die Einordnung der Berufsausbildungskosten in den Bereich des Sonderausgabenabzugs, wie gegenwärtig normiert, nicht. 64 Der Gesetzgeber lege der Regelung des § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG ein atypisches Bild zu Grunde, indem die Berufsausbildungskosten ausschließlich in den Veranlagungszeiträumen Berücksichtigung fänden, in denen der Steuerpflichtige als Auszubildender oder Student typischerweise keine eigenen Einkünfte erziele. Die Regelung sei damit nicht folgerichtig, wenn sie einerseits Aufwand einkommensteuerrechtlich berücksichtigen solle, andererseits aber strukturell dahingehend konzipiert sei, dass es zu einer solchen Berücksichtigung praktisch nicht kommen könne. 65 Die Berücksichtigung der Berufsausbildungskosten als Sonderausgaben führe noch in weiterer Hinsicht zu Ungereimtheiten. Finde die Berufsausbildung im Rahmen eines Dienstverhältnisses statt, könnten gerade diese Steuerpflichtigen, die gegenwärtig über eigene Einkünfte verfügten, ihre Einkünfte durch die in ihrem Fall als Werbungskosten qualifizierten Berufsausbildungskosten mindern und gegebenenfalls bei einem Werbungskostenüberschuss Verluste feststellen lassen. Zudem ergäben sich widersprüchliche Ergebnisse in Fällen, in denen Auszubildende und Studenten über andere eigene Einkünfte verfügten – sei es kraft sonstiger Erwerbstätigkeit oder durch seitens der Eltern übertragener Einkunftsquellen. Auch in diesen Fällen wirke sich der Sonderausgabenabzug in der gesetzlich zugelassenen Höhe nicht anders als ein Werbungskostenabzug aus und bewirke damit eine Einkommensteuerentlastung zum jeweiligen Grenzsteuersatz. 66 Der Sonderausgabenabzug genüge auch nicht etwa deshalb verfassungsrechtlichen Anforderungen, weil staatliche Instrumente der Ausbildungsförderung, insbesondere das Bundesausbildungsförderungsgesetz, sowie weitere steuerliche Begünstigungen bei den Eltern durch Freibeträge, Kindergeld oder Kinderfreibeträge einen entsprechenden Ausgleich bewirkten. Ähnlich wie die Unzulänglichkeit des Grundfreibetrags nicht dadurch ausgeglichen werden könne, dass andere einkommensteuerrechtliche Tatbestände einzelne Sonderbedarfe berücksichtigten, könnten auch einzelne zu Gunsten der Eltern wirkende Abzugstatbestände oder Förderleistungen die grundsätzlich gegebene Unzulänglichkeit der einkommensteuerrechtlichen Berücksichtigung der Berufsausbildungskosten bei den betroffenen Steuerpflichtigen – den Auszubildenden selbst – nicht ausgleichen. Damit werde dem verfassungsrechtlichen Gebot, den entstandenen Bedarf bei dem Steuersubjekt realitätsgerecht zu berücksichtigen, bei dem er anfalle, nicht entsprochen. 67 Im Lichte der von Art. 12 GG geschützten Berufswahlfreiheit sei es schließlich nicht zulässig, den Steuerpflichtigen auf Ausbildungsgänge zu verweisen, die keine oder geringe Kosten verursachen, sei es, weil ausbildende Unternehmen aus eigenem Interesse die Ausbildungskosten übernehmen, sei es, weil die öffentliche Hand entsprechend kostengünstige oder unentgeltliche Bildungseinrichtungen zur Verfügung stelle. 68 cc) Der vorlegende Senat sei hingegen nicht davon überzeugt, dass in den Streitfällen die Anordnung der rückwirkenden Geltung der Neuregelung gegen die Prinzipien der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes verstoße. Das grundsätzliche Verbot einer echten Rückwirkung/Rückbewirkung von Rechtsfolgen gelte nicht, soweit sich kein Vertrauen auf den Bestand des geltenden Rechts habe bilden können oder ein Vertrauen auf eine bestimmte Rechtslage sachlich nicht gerechtfertigt und daher nicht schutzwürdig gewesen sei. Maßstab sei, ob die bisherige Regelung bei objektiver Betrachtung geeignet gewesen sei, ein Vertrauen der betroffenen Personengruppe auf ihren Fortbestand zu begründen. Nach Auffassung des Senats entfalle vorliegend der Vertrauensschutz gegenüber einer rückwirkenden Änderung der Rechtslage unter dem Aspekt einer geänderten langjährigen höchstrichterlichen Rechtsprechung bei einer noch nicht gefestigten neuen höchstrichterlichen Rechtsprechung, wie etwa durch das Bundesverfassungsgericht zum Fremdrentenrecht (BVerfGE 126, 369) und zum Dienstrechtsneuordnungsgesetz (BVerfGE 131, 20) entschieden worden sei. 69 c) Eine verfassungskonforme Auslegung des § 9 Abs. 6 EStG scheide aus. Schon der Wortlaut der Norm lasse keinen Raum für eine solche Auslegung. Er sei nunmehr derart eindeutig, dass keine diesem Wortlaut noch entsprechende Auslegung erkennbar sei, die Aufwendungen für die erstmalige Berufsausbildung oder für ein Erststudium, das zugleich eine Erstausbildung vermittele, als Werbungskosten abziehbar mache. Dies gelte erst recht unter Einbeziehung der Entstehungsgeschichte der Norm, da der Gesetzgeber mit dieser gerade die vom vorlegenden Senat gefundene Auslegung habe korrigieren wollen. In den Materialien zum Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetz sei ausdrücklich festgehalten worden, dass klargestellt werde, dass Berufsausbildungskosten für eine erstmalige Berufsausbildung und für ein Erststudium vom Werbungskostenabzug ausgeschlossen seien. Der ausnahmslose Ausschluss des Werbungskostenabzugs ergebe sich weiter unter Einbeziehung des Gesamtzusammenhangs und des Zwecks der Regelung. Denn das Regelungskompendium umfasse nunmehr aufeinander abgestimmt alle Abzugstatbestände: § 9 Abs. 6, § 4 Abs. 9 EStG und korrespondierend die ausdrückliche Zuweisung zum Bereich der Sonderausgaben. Ausweislich der Materialien sei die Vermeidung erheblichen Verwaltungsaufwands und von Steuerausfällen von über 1 Milliarde Euro Zweck der Regelung. III. 70 Dem Bundestag, dem Bundesrat, dem Bundeskanzleramt, dem Bundesministerium der Finanzen, allen Landesregierungen, dem Präsidenten des Bundesfinanzhofs sowie der Bundesrechtsanwaltskammer, der Bundessteuerberaterkammer, dem Deutschen Anwaltverein, dem Deutschen Steuerberaterverband e.V., dem Bund der Steuerzahler Deutschland e.V. und den jeweiligen Beteiligten der Ausgangsverfahren ist Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden. Geäußert haben sich die Bundesregierung, der Bundesfinanzhof mit einer Stellungnahme des VIII. Senats, die Bundesrechtsanwaltskammer, die Bundessteuerberaterkammer, der Deutsche Anwaltverein und im Verfahren 2 BvL 25/14 der Verfahrensbevollmächtigte des Klägers des Ausgangsverfahrens. 71 1. Die Bundesregierung hält § 9 Abs. 6 EStG in der Fassung des Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetzes für verfassungsgemäß und die Vorlagen des Bundesfinanzhofs für unbegründet. 72 a) Die Sachmaterie sei durch ein besonders komplexes Wechselspiel verschiedener Rechtsmaterien gekennzeichnet. Über die zutreffende Berücksichtigung von Kosten für die Erstausbildung werde seit Langem intensiv gestritten. Daher spreche viel dafür, der Legislative weitgehende Einschätzungsprärogativen zuzuerkennen. 73 Es sei von einer geringen Prüfungsintensität im Sinne der Willkürformel auszugehen, da die Freiheitsrechte – entgegen dem ersten Anschein – nur in geringem Maße betroffen seien. Dies gelte insbesondere auch für Art. 12 GG. Die Regelung des § 9 Abs. 6 EStG weise keine objektiv berufsregelnde Tendenz auf und habe regelmäßig keinen entscheidenden Einfluss auf die Wahl des Ausbildungsplatzes. Denn die entscheidende Barriere seien Finanzierungsprobleme, die aber aus einer Kostenpflichtigkeit der Ausbildung resultierten. Die fehlende steuerliche Berücksichtigung als Erwerbsaufwand ändere daran nichts, da sich die Berücksichtigung über den Verlustvortrag nach § 10d EStG regelmäßig erst in Folgeperioden auswirke. Die künftige Steuerminderung sei aufgrund der Eigenheiten der Investitionen in Bildung nur sehr eingeschränkt beleihbar. 74 b) Die beanstandeten Normen verletzten nicht das Folgerichtigkeitsprinzip als Emanation des allgemeinen Gleichheitssatzes. 75 Es fehle bereits an einer Durchbrechung des Folgerichtigkeitsprinzips, da die Versagung des Erwerbsausgabenabzugs eine folgerichtige Konkretisierung des Veranlassungsprinzips sei. Ein hinreichend konkreter Veranlassungszusammenhang zwischen den Aufwendungen für die erstmalige Berufsausbildung und der einkommensteuerrechtlich relevanten Einnahmeerzielung sei nicht gegeben. Es ließen sich drei Aspekte unterscheiden, die eine Versagung des Erwerbsausgabenabzugs als folgerichtige Konkretisierung des Veranlassungszusammenhangs erscheinen ließen: die zeitliche Dimension, die Berührung der Privatsphäre und die internationale Dimension. Der zeitliche Zusammenhang zwischen Aufwendungen und auf Einnahmeerzielung gerichteter Tätigkeit sei ein Indiz für den geforderten Veranlassungszusammenhang. Eine Abschwächung der Veranlassung wegen eines zeitlichen Abstands trage der Tatsache Rechnung, dass bei einen längeren Zeitraum betreffenden Prognosen erhebliche Unsicherheiten entstünden. Dass sich Lernende noch vor der Aufnahme einer beruflichen Tätigkeit anders entscheiden könnten, werde etwa an der relativ hohen Studienabbrecherquote deutlich. Ferner sei zu berücksichtigen, dass Aufwendungen für eine erstmalige Berufsausbildung wegen ihres Zusammenhangs zur Privatsphäre untrennbar gemischte Aufwendungen darstellten. Die fraglichen Aufwendungen stellten sich als Ergebnis einer Vielzahl von individuellen Entscheidungen des Steuerpflichtigen dar. Mit Blick auf die internationale Dimension sei zu berücksichtigen, dass bei einer erstmaligen Berufsausbildung nicht notwendig ein Zusammenhang mit im Inland steuerpflichtigen Einkünften bestehe. Gerade bei international mobilen Berufen – etwa bei Piloten – seien in der Vergangenheit in der Rechtsprechung wiederholt Kon-stellationen entschieden worden, in denen eine Steuerpflicht in Deutschland weitgehend vermieden worden sei. 76 Ferner sei zu beachten, dass sich der Gesetzgeber trotz der maßgeblichen privaten Mitveranlassung dazu entschieden habe, einen Sonderausgabentatbestand zu schaffen. Er habe damit seinen – vom Bundesverfassungsgericht zuerkannten – Gestaltungsspielraum genutzt und eine Zuordnung zu den Sonderausgaben im Grenzbereich zwischen Privatsphäre und Erwerbssphäre vorgenommen. Auch die Beschränkung des Sonderausgabenabzugs auf einen Höchstbetrag von inzwischen 6.000 Euro sei unschädlich, insbesondere wenn man berücksichtige, dass die Berufsausbildung ohnehin massiv aus öffentlichen Mitteln gefördert werde. 77 Im Übrigen sei die Versagung des Abzugs von Erwerbsaufwendungen jedenfalls gerechtfertigt. Erstens handele es sich um eine zulässige und realitätsgerechte Typisierung, weil die Erstausbildung in der Mehrzahl der Fälle der nächste biographische Schritt nach Abschluss der allgemeinen Schulausbildung sei und die Erstausbildung in besonderem Maße, der typischen Lebens- und Alterssituation entsprechend, die persönliche Entwicklung und die Erlangung einer gesellschaftlichen Stellung betreffe. Zweitens trage die Regelung der Besonderheit bei der erstmaligen Berufsausbildung Rechnung, dass der Aufwand typischerweise durch die Eltern getragen werde und insoweit steuerliche Begünstigungstatbestände bestünden, insbesondere die Eltern von Lernenden regelmäßig in den Genuss kindbezogener Freibeträge oder von Kindergeld kämen. Drittens vermeide die Regelung Abgrenzungsschwierigkeiten, etwa zu den Kosten allgemeinbildender Schulen, und einen hohen Verwaltungsaufwand für vergleichsweise geringe steuerliche Auswirkungen. 78 c) Es liege auch keine Verletzung des Leistungsfähigkeitsprinzips und des subjektiven Nettoprinzips vor. 79 Die verfassungsrechtliche Rechtsprechung zu zwangsläufigem, pflichtbestimmtem Aufwand sei auf eigene Aufwendungen für die erstmalige Berufsausbildung nicht anwendbar. Aufwendungen für die Ausbildung des Kindes seien für die Eltern wegen der familienrechtlichen Verpflichtung, für die Ausbildung aufzukommen (§ 1610 Abs. 2 BGB), zwangsläufig. Eine derartige Verpflichtung gegen sich selbst bestehe nicht. Der Gesetzgeber habe ferner davon ausgehen dürfen, dass die Aufwendungen typischerweise gerade nicht bei dem in der erstmaligen Berufsausbildung befindlichen Kind entstünden. Über die staatliche Finanzierung der Bildungseinrichtungen hinaus bestünden umfassende staatliche Instrumente der Ausbildungsförderung. Wenn überhaupt privater Aufwand entstehe, werde dieser typischerweise entsprechend der familienrechtlichen Rechtslage von den Eltern getragen. 80 Die Aufwendungen seien aus Sicht der Lernenden regelmäßig weitgehend nicht zwangsläufig. Zwar möge das Ob einer erstmaligen Berufsausbildung zwangsläufig sein, bei der Frage, wie die Ausbildung durchgeführt werde, bestünden aber regelmäßig erhebliche Entscheidungsspielräume. Insbesondere sei zu berücksichtigen, dass Bildung in Deutschland, einschließlich der tertiären Bildung, intensiv durch den Staat finanziert werde und typischerweise keine Notwendigkeit bestehe, auf private Anbieter zurückzugreifen. Soweit überhaupt Aufwendungen zwangsläufig seien, habe der Gesetzgeber sie durch einen Höchstbetrag typisierend begrenzen dürfen. Durch den Sonderausgabenabzug bis zum Höchstbetrag von 6.000 Euro sei der zwangsläufige Aufwand typischerweise abgedeckt. Für die Zulässigkeit einer solchen Typisierung spreche ein Erst-Recht-Schluss: Im Bereich der wirklich zwangsläufigen Aufwendungen der Eltern habe das Bundesverfassungsgericht eine Typisierung der Aufwendungen für zulässig erklärt. Selbst wenn Eltern ihren Kindern nach § 1610 Abs. 2 BGB eine teure Ausbildung zahlen müssten, könnten sie nur die pauschalen kindbezogenen Freibeträge (§§ 32, 33a EStG) geltend machen. Wenn ein pauschaler Betrag für die Eltern verfassungsrechtlich zulässig sei, müsse dies erst recht dort gelten, wo es um die eigene Ausbildung gehe und mithin gerade keine zivilrechtliche Verpflichtung bestehe. 81 Schließlich sei auch die Rechtstechnik des Sonderausgabenabzugs mit Blick auf die Verpflichtung zur Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit nicht zu beanstanden. Insbesondere lasse sich dagegen nicht einwenden, dass der Sonderausgabenabzug an sich zu schwach sei, weil er nur in der Periode wirke, in der die Aufwendungen getätigt würden, und keine Übertragung in Folgeperioden möglich sei. Denn im Bereich des subjektiven Nettoprinzips sei ein Gegenwartsbezug unstreitig anerkannt. Auch Eltern könnten ihre Aufwendungen, die für die Ausbildung ihres Kindes entstanden seien, nicht in Folgeperioden vortragen, wo diese günstiger sein könnten. Vor dem Hintergrund der familienrechtlichen Vorgaben sei es zudem konsequent, dass sich der Sonderausgabenabzug nur auswirke, wenn der Steuerpflichtige über eigene Einkünfte verfüge. 82 d) Die geltend gemachte Ungleichbehandlung durch die gesetzliche Regelung zu den Ausbildungsdienstverhältnissen bestehe ebenfalls nicht. Aufwendungen im Rahmen eines Ausbildungsdienstverhältnisses seien wesentlich ungleich zu den Fällen, in denen der Abzug von Erwerbsaufwendungen ausgeschlossen sei. Denn bei Ausbildungsdienstverhältnissen trete neben die allgemeine gemischte Veranlassung der Bildungsaufwendungen zusätzlich eine unmittelbare Veranlassung durch das laufende Dienstverhältnis. Diese Veranlassung überwiege, sodass die Privatnützigkeit der Bildungsaufwendungen in den Hintergrund trete. Wann eine Unmittelbarkeit vorliege, die die Annahme eines Ausbildungsdienstverhältnisses rechtfertige, sei keine Frage des Verfassungsrechts, sondern des einfachen Rechts. 83 Dagegen lasse sich nicht einwenden, dass bei einer Sicherung durch Rückzahlungsklauseln ökonomisch nur eine Gehaltsverschiebung stattfinde. Denn die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber trügen zwar die Kosten der Ausbildung, um sich während der Bindungsdauer der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer deren Dienste zu sichern. Ob letztere sich dadurch aber verpflichteten, zu einem geringeren Gehalt zu arbeiten, als sie es am Markt erzielen könnten, erscheine nicht sicher. Ein wesentlicher Unterschied bestehe jedenfalls darin, dass bei einem Fehlschlagen der Ausbildung im Falle der Eigeninvestition der Lernende das Risiko trage, während dies im Fall der Fremdinvestition der Kostenträger sei. 84 e) Schließlich zwängen auch die Pilotenfälle zu keiner anderen Bewertung. Es handele sich um eine kleine Randgruppe, die schon keiner besonderen gesetzlichen Regelung bedurft habe. Zwar sei in diesem Bereich eine Häufung von Streitfällen zu verzeichnen, empirische Daten legten aber eine geringe Bedeutung nahe. Im Jahr 2014 habe es nach den Daten des Luftfahrtbundesamtes lediglich 1.008 Neuanmeldungen zur Ausbildung fliegerischen Personals gegeben, was einem Anteil von 0,1 % aller Teilnehmer von vollqualifizierenden Berufsausbildungen entspreche. Darunter seien zudem Personen, die bereits eine erste Berufsausbildung abgeschlossen hätten oder – insbesondere beim Militär – in einem Ausbildungsdienstverhältnis stünden. 85 Außerdem sei der Veranlassungszusammenhang zwischen den Aufwendungen für den Erwerb der Pilotenlizenz und der später im Inland steuerbaren Tätigkeit in zweifacher Hinsicht gelockert. Zum einen weise auch die Ausbildung zum Piloten eine gewisse Privatnützigkeit auf. Inhalte, die auch außerhalb der Fliegerei genutzt werden könnten, seien insbesondere: Risikoeinschätzung, Umgang mit Gefahrensituationen, medizinische und psychologische Kenntnisse. Zudem könne die Ausbildung auch einen Nutzen für die Privatfliegerei mit sich bringen. Zum anderen seien die vermittelten Fähigkeiten in besonderem Maße international mobil. Damit böten sich den Angehörigen dieser Berufsgruppe mehr Möglichkeiten, ihre steuerliche Situation in der Weise zu optimieren, dass die Einkünfte im Ausland nur einer niedrigen Besteuerung unterlägen oder gar nicht besteuert würden. Der Besteuerung im Inland könne dabei entgegenstehen, dass sie als unbeschränkt Steuerpflichtige nach Doppelbesteuerungsabkommen freigestellte Einkünfte erzielten oder mangels inländischen Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts gar nicht im Inland unbeschränkt steuerpflichtig seien. Diese Möglichkeiten könnten auch wahrgenommen werden, nachdem vorgetragene Verluste im ersten Jahr oder in den ersten beiden Jahren der Berufstätigkeit im Inland genutzt worden seien. 86 2. Der VIII. Senat des Bundesfinanzhofs hat mitgeteilt, dass er an seiner im Urteil vom 5. November 2013 (- VIII R 22/12 -, BFHE 243, 486) dargelegten Sichtweise festhalte. In diesem Fall, der Aufwendungen für ein Jurastudium als vorweggenommene Betriebsausgaben bei den späteren Einkünften aus selbständiger Arbeit als Rechtsanwalt betraf, versagte der VIII. Senat die Anerkennung als Betriebsausgaben gemäß § 4 Abs. 9 EStG. Er hielt die Neuregelungen der § 4 Abs. 9, § 12 Nr. 5 EStG für verfassungsgemäß. Sie verstießen insbesondere nicht gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung durch das Prinzip der Leistungsfähigkeit und das Gebot der Folgerichtigkeit, da ihnen eine realitätsgerechte Typisierung zugrunde liege. Durch die Zuordnung der Aufwendungen für ein Erststudium zu den Sonderausgaben dürfte sich in der überwiegenden Zahl der Fälle infolge der Versagung des Werbungskosten- oder Betriebsausgabenabzugs keine relevante steuerliche Auswirkung ergeben, auch wenn der Sonderausgabenabzug bei fehlenden positiven Einkünften regelmäßig ins Leere laufe. Die Typisierung sorge für mehr Steuergerechtigkeit und vermeide Widersprüche zu anderen gesetzlichen Regelungen. Dafür spreche nicht zuletzt, dass Berufsausbildungskosten noch nicht in direktem Zusammenhang mit einer konkreten Einnahmenerzielung im Rahmen eines bereits zugesagten Dienstverhältnisses stünden, sondern losgelöst von einem späteren Anstellungsverhältnis zunächst primär der individuellen Bereicherung des Steuerpflichtigen durch die Erlangung von Kenntnissen und Fertigkeiten im Sinne einer Ausbildung dienten. Es handle sich um sogenannte gemischt veranlasste Aufwendungen, die nicht zwangsläufig dem objektiven Nettoprinzip zuzuordnen seien, weil ein unmittelbarer und direkter Anknüpfungspunkt an eine spätere Berufstätigkeit fehle und möglicherweise auch private Interessen eine Rolle spielten. Dem Gesetzgeber stehe es daher im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit grundsätzlich frei, ob er Aufwendungen für eine Erstausbildung oder ein Erststudium wegen ihrer Veranlassung durch die Erwerbstätigkeit den Werbungskosten oder Betriebsausgaben zuordne oder ob er die private Mitveranlassung systematisch in den Vordergrund stelle und eine Zuordnung zu den Sonderausgaben vornehme. Die in § 4 Abs. 9, § 9 Abs. 6 und § 12 Nr. 5 EStG getroffene Entscheidung des Gesetzgebers sei daher verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden und beinhalte auch keinen Verstoß gegen das subjektive Nettoprinzip. 87 3. Die Bundesrechtsanwaltskammer, die Bundessteuerberaterkammer und der Deutsche Anwaltverein folgen der Einschätzung des vorlegenden Senats des Bundesfinanzhofs, dass es verfassungswidrig sei, die Kosten einer Erstausbildung im Grundsatz nicht als Werbungskosten anzuerkennen. Sie verweisen übereinstimmend auf einen hinreichend engen Veranlassungszusammenhang (auch) zwischen Aufwendungen für die Erstausbildung und Erwerbseinnahmen. Nach Auffassung der Bundessteuerberaterkammer würde die allgemeine Anerkennung von Berufsausbildungskosten als Werbungskosten zudem für eine Vereinfachung des Steuerrechts und eine erhöhte Rechtssicherheit sorgen und derzeit bestehende Brüche vermeiden. Der Deutsche Anwaltverein hält wegen des Berufswahlbezugs der Regelung (Art. 12 Abs. 1 GG) einen intensiven Kontrollmaßstab für geboten und wegen des zukünftig existenzsichernden Charakters der Aufwendungen auch eine Verletzung des subjektiven Nettoprinzips für gegeben. 88 4. Der Verfahrensbevollmächtigte des Klägers des Ausgangsverfahrens zu dem Verfahren 2 BvL 25/14 trägt vor, dass der Kläger abweichend von der Darstellung im Vorlagebeschluss parallel zur Flugausbildung nicht mehr aktiv studiert habe. B. 89 Die Vorlagen sind zulässig. 90 Die Vorlagebeschlüsse werden den sich aus Art. 100 Abs. 1 GG und § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG ergebenden Anforderungen gerecht. Der Bundesfinanzhof hat den Regelungsinhalt sowie die Entscheidungserheblichkeit der Norm unter Berücksichtigung der Historie herausgearbeitet und seine Auffassung von der Verfassungswidrigkeit der Norm in Auseinandersetzung mit der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung nachvollziehbar begründet. § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG verpflichtet das vorlegende Gericht nicht, auf jede denkbare Rechtsauffassung einzugehen (BVerfGE 141, 1 <11 Rn. 22>; 145, 106 <141 Rn. 96>). 91 Soweit der Bundesfinanzhof die Verfassungswidrigkeit der vorgelegten Norm unter der Voraussetzung angenommen hat, dass „keine weiteren einkommensteuerrechtlichen Regelungen bestehen, nach denen die vom Abzugsverbot betroffenen Aufwendungen die einkommensteuerliche Bemessungsgrundlage mindern“, ist der zutreffende Umstand angesprochen, dass die Regelung des § 9 Abs. 6 EStG in der Fassung des Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetzes nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit weiteren Vorschriften zu bewerten ist, die für die Berücksichtigung der Kosten einer ersten Ausbildung oder eines ersten Studiums von Relevanz sind. Die Prüfung ist deshalb – auch mit Rücksicht auf die Befriedungsfunktion der Normenkontrollentscheidung (vgl. BVerfGE 44, 322 <337 f.>; 132, 302 <316 Rn. 39>; 135, 1 <12 Rn. 33 f.>; 139, 285 <297 Rn. 38>) – auf § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG zu erstrecken. 92 Dagegen ist die Frage, ob mit § 9 Abs. 6 EStG eine verfassungswidrige Rückwirkung verbunden war, nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens. Die Vorlagefrage beschränkt sich auf die Einfügung von § 9 Abs. 6 EStG durch Art. 2 Nr. 4 BeitrRLUmsG, der den zeitlichen Anwendungsbereich nicht regelt, und erfasst nicht die Bestimmung des zeitlichen Anwendungsbereichs durch § 52 Abs. 23 Buchstabe d EStG in der Fassung von Art. 2 Nr. 34 Buchstabe d BeitrRLUmsG. C. 93 § 9 Abs. 6 EStG in der Fassung des Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetzes ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Die Vorschrift verstößt nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG). I. 94 Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebietet dem Gesetzgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln (1.). Er bindet den Steuergesetzgeber an den Grundsatz der Steuergerechtigkeit und das Gebot, die Besteuerung an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit auszurichten (2.). In Verbindung mit Art. 1 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 GG verpflichtet er den Staat, das Einkommen des Bürgers jedenfalls insoweit steuerfrei zu stellen, als dieser es zur Schaffung der Mindestvoraussetzungen eines menschenwürdigen Daseins für sich und seine Familie benötigt (3.). Der einfache Gesetzgeber bemisst die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit nach dem (die betriebliche/berufliche Sphäre betreffenden) objektiven und dem (die private Sphäre betreffenden) subjektiven Nettoprinzip. Bei der Bewertung und Gewichtung von Lebenssachverhalten im Schnittbereich zwischen beruflicher und privater Sphäre verfügt er verfassungsrechtlich – unter Beachtung sonstiger grundrechtlicher Bindungen – über erhebliche Gestaltungs- und Typisierungsspielräume (4.). 95 1. Der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) gebietet dem Gesetzgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Er gilt für ungleiche Belastungen wie auch für ungleiche Begünstigungen (BVerfGE 110, 412 <431>; 116, 164 <180>; 122, 210 <230>; 126, 268 <277>; 145, 106 <141 f. Rn. 98>; 148, 147 <183 Rn. 94>). Zwar ist es grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, diejenigen Sachverhalte auszuwählen, an die er dieselben Rechtsfolgen knüpft und die er so als rechtlich gleich qualifiziert. Diese Auswahl muss er jedoch sachgerecht treffen (BVerfGE 75, 108 <157>; 107, 218 <244>; 115, 381 <389>; 141, 1 <38 Rn. 93>; 145, 106 <142 Rn. 98>). 96 Genauere Maßstäbe und Kriterien dafür, unter welchen Voraussetzungen der Gesetzgeber den Gleichheitssatz verletzt, lassen sich nicht abstrakt und allgemein, sondern nur in Bezug auf die jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereiche bestimmen (stRspr; vgl. BVerfGE 105, 73 <111>; 107, 27 <45 f.>; 112, 268 <279>; 122, 210 <230>; 126, 268 <277>; 133, 377 <407 Rn. 74>; 138, 136 <180 Rn. 121>; 145, 106 <142 Rn. 98>). Dabei ergeben sich je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen aus dem allgemeinen Gleichheitssatz im Sinne eines stufenlosen am Grundsatz der Verhältnis-mäßigkeit orientierten Prüfungsmaßstabs unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen (stRspr; vgl. BVerfGE 110, 274 <291>; 112, 164 <174>; 116, 164 <180>; 122, 210 <230>; 126, 268 <277>; 133, 377 <407 Rn. 74>; 138, 136 <180 f. Rn. 121 f.>; 141, 1 <38 f. Rn. 93>; 145, 106 <142 Rn. 98>; 148, 147 <184 Rn. 94 f.>). Differenzierungen bedürfen stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Differenzierungsziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind (vgl. BVerfGE 124, 199 <220>; 129, 49 <68>; 130, 240 <253>; 132, 179 <188 Rn. 30>; 133, 59 <86 Rn. 72>; 135, 126 <143 Rn. 52>; 141, 1 <38 Rn. 93>; 145, 106 <142 Rn. 98>; 148, 147 <183 f. Rn. 94>). 97 Art. 3 Abs. 1 GG ist jedenfalls dann verletzt, wenn sich ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonst wie sachlich einleuchtender Grund für eine gesetzliche Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht finden lässt (vgl. BVerfGE 1, 14 <52>; 89, 132 <141>; 105, 73 <110>; 107, 27 <45 f.>; 110, 412 <431 f.>; 113, 167 <214>; 145, 106 <143 Rn. 101>; stRspr). Willkür des Gesetzgebers kann zwar nicht schon dann bejaht werden, wenn er unter mehreren Lösungen nicht die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste gewählt hat (BVerfGE 55, 72 <90>; 89, 132 <141 f.>). Es genügt aber Willkür im objektiven Sinn, das heißt die tatsächliche und eindeutige Unangemessenheit der Regelung in Bezug auf den zu ordnenden Gesetzgebungsgegenstand (BVerfGE 4, 144 <155>; 36, 174 <187>; 55, 72 <90>; 145, 106 <143 Rn. 101>). Der Spielraum des Gesetzgebers endet dort, wo die ungleiche Behandlung der geregelten Sachverhalte nicht mehr mit einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise vereinbar ist, wo also ein einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung fehlt (BVerfGE 9, 334 <337>; 55, 72 <90>; 76, 256 <329>; 85, 176 <187>; 101, 275 <291>; 115, 381 <389>; 141, 1 <39 Rn. 94>; 145, 106 <143 Rn. 101>). 98 Die Anforderungen an Rechtfertigungsgründe für gesetzliche Differenzierungen steigen bis hin zu einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung, insbesondere wenn und soweit sich die Ungleichbehandlung von Personen oder Sachverhalten auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten auswirken kann (vgl. BVerfGE 122, 210 <230>; 126, 268 <277>; 138, 136 <181 Rn. 122>; 139, 285 <309 Rn. 71>; 141, 1 <39 Rn. 94>; 145, 106 <145 Rn. 105>; 148, 147 <184 Rn. 95>). 99 2. Art. 3 Abs. 1 GG bindet den Steuergesetzgeber an den Grundsatz der Steuergerechtigkeit (BVerfGE 6, 55 <70>), der gebietet, die Belastung mit Finanzzwecksteuern an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit auszurichten (BVerfGE 137, 350 <367 Rn. 43>; 148, 217 <244 Rn. 106>). Das gilt insbesondere im Einkommensteuerrecht, das auf die Leistungsfähigkeit des jeweiligen Steuerpflichtigen hin angelegt ist (BVerfGE 43, 108 <120>; 61, 319 <343 f.>; 66, 214 <223>; 82, 60 <86>; 89, 346 <352>; 127, 224 <248>; 145, 106 <142 f. Rn. 99>). Im Interesse verfassungsrechtlich gebotener steuerlicher Lastengleichheit muss darauf abgezielt werden, Steuerpflichtige bei gleicher Leistungsfähigkeit auch gleich hoch zu besteuern (horizontale Steuergerechtigkeit), während (in vertikaler Richtung) die Besteuerung höherer Einkommen im Vergleich mit der Steuerbelastung niedriger Einkommen dem Gerechtigkeitsgebot genügen muss (BVerfGE 82, 60 <89>; 99, 246 <260>; 107, 27 <46 f.>; 116, 164 <180>; 122, 210 <231>; 145, 106 <142 f. Rn. 99>; 148, 217 <244 Rn. 106>). 100 a) Bei der Auswahl des Steuergegenstandes belässt der Gleichheitssatz dem Gesetzgeber ebenso wie bei der Bestimmung des Steuersatzes einen weit reichenden Entscheidungsspielraum (BVerfGE 127, 1 <27>; 139, 285 <309 Rn. 72>; 145, 106 <143 f. Rn. 102>; 148, 147 <184 f. Rn. 96>). Unter dem Gebot möglichst gleichmäßiger Belastung der betroffenen Steuerpflichtigen muss die Ausgestaltung des steuerrechtlichen Ausgangstatbestandes folgerichtig im Sinne von belastungsgleich erfolgen (BVerfGE 84, 239 <271>; 93, 121 <136>; 99, 88 <95>; 99, 280 <290>). Ausnahmen von einer belastungsgleichen Ausgestaltung der mit der Wahl des Steuergegenstandes getroffenen gesetzgeberischen Entscheidung (folgerichtigen Umsetzung des steuerrechtlichen Ausgangstatbestandes) bedürfen eines besonderen sachlichen Grundes, der die Ungleichbehandlung nach Art und Ausmaß zu rechtfertigen vermag (vgl. BVerfGE 105, 73 <125>; 137, 350 <366 Rn. 41>; 138, 136 <181 Rn. 123>; 141, 1 <40 Rn. 96>; 145, 106 <144 Rn. 104>; 148, 147 <184 Rn.  96>; stRspr). 101 b) Der Gesetzgeber darf allerdings bei der Ausgestaltung der mit der Wahl des Steuergegenstandes getroffenen Belastungsentscheidung generalisierende, typisierende und pauschalierende Regelungen treffen, ohne allein schon wegen der damit unvermeidlich verbundenen Härten gegen den allgemeinen Gleichheitssatz zu verstoßen (vgl. BVerfGE 84, 348 <359>; 113, 167 <236>; 126, 268 <278 f.>; 133, 377 <412 Rn. 86>; 145, 106 <145 Rn. 106>). Bei der Ordnung von Massenerscheinungen ist er berechtigt, die Vielzahl der Einzelfälle in dem Gesamtbild zu erfassen, das nach den ihm vorliegenden Erfahrungen die regelungsbedürftigen Sachverhalte zutreffend wiedergibt (vgl. BVerfGE 11, 245 <254>; 78, 214 <227>; 84, 348 <359>; 122, 210 <232>; 126, 268 <278>; 133, 377 <412 Rn. 86>; 145, 106 <145 f. Rn. 106>). 102 Typisierung bedeutet, bestimmte in wesentlichen Elementen gleich geartete Lebenssachverhalte normativ zusammenzufassen. Besonderheiten, die im Tatsächlichen durchaus bekannt sind, können generalisierend vernachlässigt werden. Der Gesetzgeber darf sich grundsätzlich am Regelfall orientieren und ist nicht gehalten, allen Besonderheiten jeweils durch Sonderregelungen Rechnung zu tragen (vgl. BVerfGE 82, 159 <185 f.>; 122, 210 <232>; 126, 268 <279>; 133, 377 <412 Rn. 87>). Begünstigungen oder Belastungen können in einer gewissen Bandbreite zum Zwecke der Verwaltungsvereinfachung nach oben und unten pauschalierend bestimmt werden (BVerfGE 111, 115 <137>). Die gesetzlichen Verallgemeinerungen müssen allerdings von einer möglichst breiten, alle betroffenen Gruppen und Regelungsgegenstände einschließenden Beobachtung ausgehen (BVerfGE 122, 210 <232 f.>; 126, 268 <279>; 132, 39 <49 Rn. 29>; 133, 377 <412 Rn. 87>). Insbesondere darf der Gesetzgeber keinen atypischen Fall als Leitbild wählen, sondern muss realitätsgerecht den typischen Fall als Maßstab zugrunde legen (vgl. BVerfGE 116, 164 <182 f.>; 122, 210 <232 f.>; 126, 268 <279>; 132, 39 <49 Rn. 29>; 133, 377 <412 Rn. 87>; 137, 350 <375 Rn. 66>; 145, 106 <146 Rn. 107>). 103 Die Vorteile der Typisierung müssen im rechten Verhältnis zu der mit ihr notwendig verbundenen Ungleichheit der steuerlichen Belastung stehen (BVerfGE 110, 274 <292>; 117, 1 <31>; 120, 1 <30>; 123, 1 <19>; 133, 377 <413 Rn. 88>; 137, 350 <375 Rn. 66>; 145, 106 <146 f. Rn. 108>). Typisierung setzt voraus, dass die durch sie eintretenden Härten und Ungerechtigkeiten nur unter Schwierigkeiten vermeidbar wären, lediglich eine verhältnismäßig kleine Zahl von Personen betreffen und das Ausmaß der Ungleichbehandlung gering ist (BVerfGE 63, 119 <128>; 84, 348 <360>; 126, 233 <263 f.>; 133, 377 <413 Rn. 88>; 145, 106 <146 f. Rn. 108>). 104 3. In Verbindung mit Art. 1 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 GG verpflichtet der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG den Staat, das Einkommen des Bürgers jedenfalls insoweit steuerfrei zu stellen, als dieser es zur Schaffung der Mindestvoraussetzungen eines menschenwürdigen Daseins für sich und seine Familie benötigt (Prinzip der Steuerfreiheit des Existenzminimums). 105 a) Ebenso wie der Staat nach Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsgrundsatz des Art. 20 Abs. 1 GG verpflichtet ist, dem mittellosen Bürger diese Mindestvoraussetzungen erforderlichenfalls durch Sozialleistungen zu sichern, darf er dem Bürger das selbst erzielte Einkommen jedenfalls bis zu diesem Betrag nicht entziehen (vgl. BVerfGE 82, 60 <85>; 120, 125 <154 f.>). Aus Art. 1 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1 GG sowie aus Art. 6 Abs. 1 GG folgt ferner, dass bei der Besteuerung einer Familie jedenfalls das – durch das Sozialhilferecht bestimmte – Existenzminimum für sämtliche Familienmitglieder steuerfrei bleiben muss (BVerfGE 82, 60 <85 f., 94>; 99, 246 <259 f.>; 107, 27 <48 f.>; 112, 164 <175>). 106 b) Die verminderte Leistungsfähigkeit durch Unterhaltsverpflichtungen darf auch bei Beziehern höherer Einkommen nach Art. 3 Abs. 1 GG vom Gesetzgeber nicht unberücksichtigt bleiben (BVerfGE 82, 60 <86 f.>; 99, 246 <260>). Beim Kindesunterhalt folgt diese Konkretisierung des Leistungsfähigkeitsprinzips zusätzlich aus den grundlegenden Entscheidungen der Verfassung in Art. 1 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 GG. Der Staat darf auf die Mittel, die für den Lebensunterhalt von Kindern unerlässlich sind, nicht in gleicher Weise zugreifen wie auf finanzielle Mittel, die zur Befriedigung beliebiger Bedürfnisse eingesetzt werden. Er muss die Entscheidung der Eltern zugunsten von Kindern achten und darf den Eltern im Steuerrecht nicht etwa die „Vermeidbarkeit“ von Kindern in gleicher Weise entgegenhalten wie die Vermeidbarkeit sonstiger Lebensführungskosten (BVerfGE 82, 60 <87>; 89, 346 <352 f.>; 107, 27 <48 f.>). 107 Der Höhe nach muss der Staat bei der Beurteilung der steuerlichen Leistungsfähigkeit den Unterhaltsaufwand für Kinder des Steuerpflichtigen jedenfalls in dem Umfang als besteuerbares Einkommen außer Betracht lassen, in dem die Unterhaltsaufwendungen zur Gewährleistung des Existenzminimums der Kinder erforderlich sind. Denn das Existenzminimum muss dem Steuerpflichtigen nicht nur nach Abzug der Steuern erhalten bleiben. Vielmehr darf der Gesetzgeber nur das darüberhinausgehende Einkommen der Besteuerung unterwerfen, weil andernfalls Familien mit Kindern gegenüber Kinderlosen benachteiligt würden (BVerfGE 82, 60 <86 f.>). 108 4. Der einfache Gesetzgeber bemisst die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit nach dem objektiven und dem subjektiven Nettoprinzip (a). Bei der Bewertung und Gewichtung von Lebenssachverhalten im Schnittbereich zwischen beruflicher und privater Sphäre verfügt er verfassungsrechtlich – unter Beachtung sonstiger grundrechtlicher Bindungen – über erhebliche Gestaltungs- und Typisierungsspielräume (b). 109 a) Nach dem vom Gesetzgeber der Einkommensbesteuerung zugrunde gelegten objektiven und subjektiven Nettoprinzip unterliegt der Einkommensteuer grundsätzlich nur das Nettoeinkommen, nämlich der Saldo aus den Erwerbsein-nahmen einerseits und den (betrieblichen/beruflichen) Erwerbsaufwendungen sowie den (privaten) existenzsichernden Aufwendungen andererseits. Deshalb sind Aufwendungen für die Erwerbstätigkeit gemäß §§ 4, 9 EStG und existenzsichernde Aufwendungen im Rahmen von Sonderausgaben, Familienleistungsausgleich und außergewöhnlichen Belastungen gemäß §§ 10 ff., 31 f., 33 ff. EStG grundsätzlich steuerlich abziehbar. 110 Im Rahmen des objektiven Nettoprinzips hat der Gesetzgeber des Einkommensteuergesetzes die Zuordnung von Aufwendungen zum betrieblichen beziehungsweise beruflichen Bereich, derentwegen diese Aufwendungen von den Einnahmen grundsätzlich abzuziehen sind, danach vorgenommen, ob eine betriebliche beziehungsweise berufliche Veranlassung besteht (vgl. § 4 Abs. 4, § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG). Dagegen mindern einfachrechtlich Aufwendungen für die Lebensführung – außerhalb des Rahmens von Sonderausgaben und außergewöhnlichen Belastungen – gemäß § 12 Nr. 1 EStG nicht die einkommensteuerliche Bemessungsgrundlage; dies gilt gemäß § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG auch für solche Lebensführungskosten, „die die wirtschaftliche oder gesellschaftliche Stellung des Steuerpflichtigen mit sich bringt, auch wenn sie zur Förderung des Berufs oder der Tätigkeit des Steuerpflichtigen erfolgen“. 111 b) Für Lebenssachverhalte im Schnittbereich zwischen beruflicher und privater Sphäre ist eine gesetzgeberische Bewertung und Gewichtung der dafür kennzeichnenden multikausalen und multifinalen Wirkungszusammenhänge verfassungsrechtlich zulässig. Die tatbestandliche Qualifikation von Aufwendungen nach Maßgabe der einfachgesetzlichen Grundregeln ist zu unterscheiden von der verfassungsrechtlich zulässigen gesetzgeberischen Bewertung und Gewichtung der unterschiedlichen jeweils betroffenen Sphären (vgl. BVerfGE 122, 210 <238 f.>) (aa). Die insoweit bestehende Gestaltungsbefugnis des Gesetzgebers entlastet ihn allerdings nicht von einer differenzierenden Würdigung und Berücksichtigung von Aufwendungen innerhalb einer grundrechtlich besonders geschützten Sphäre privater Lebensführung (bb). 112 aa) Die Abgrenzung, ob Aufwendungen den Bereich der Einkommenserzielung, die berufliche Sphäre oder den einkommensteuerlich (jedenfalls im Grund-satz) unbeachtlichen Bereich des Privaten und der Einkommensverwendung betreffen, ist nicht immer leicht durchzuführen, weil beide Bereiche im Leben eines Menschen häufig gleichzeitig eine Rolle spielen, so dass Aufwendungen für den privaten Bereich in mehr oder minder großem Umfang in den beruflichen Bereich hinüberwirken und umgekehrt (BVerfGE 47, 1 <23>). Die Zuordnung derartiger gemischt veranlasster Aufwendungen zu Werbungskosten (Betriebsausgaben) oder zu Kosten der Lebensführung, die gegebenenfalls als Sonderausgaben abzugsfähig sind, ist in erster Linie ein vom Steuergesetzgeber zu lösendes Problem (vgl. BVerfGE 47, 1 <23>). Es steht ihm grundsätzlich frei, ob er sie wegen ihrer Veranlassung durch die Erwerbstätigkeit als Werbungskosten und Betriebsausgaben behandelt oder ob er sie wegen der privaten Mitveranlassung durch eine spezielle Norm als Sonderausgaben oder außergewöhnliche Belastungen qualifiziert (vgl. BVerfGE 112, 268 <281 f.>). Das Bundesverfassungsgericht kann nur eingreifen und eine vom Gesetzgeber getroffene Lösung beanstanden, wenn sich dieser bei der Abgrenzung evident nicht mehr vom Gerechtigkeitsdenken leiten lässt, sondern willkürlich verfährt (BVerfGE 47, 1 <23>; vgl. ferner Hey, FR 2008, S. 1033 <1038>; Thiemann, JZ 2015, S. 866 <870>). 113 Auf der Grundlage einer verfassungsrechtlich zulässigen Bewertung von Aufwendungen als beruflich und privat (mit-)veranlasst eröffnen sich dem Gesetzgeber zudem erhebliche Typisierungsspielräume bei deren einkommensteuerrechtlicher Behandlung. Er darf im Interesse eines praktikablen Gesetzesvollzugs die typische private Mitveranlassung bei der Bestimmung des abzugsfähigen Aufwands mit generalisierenden, typisierenden und pauschalierenden Regelungen berücksichtigen (vgl. BVerfGE 122, 210 <240>). 114 bb) Soweit er Aufwendungen zulässigerweise der privaten Lebensführung zuordnet, stehen diese damit allerdings nicht ohne weiteres zur Disposition des Gesetzgebers. Für die verfassungsrechtlich gebotene Besteuerung nach finanzieller Leistungsfähigkeit kommt es nicht nur auf die Unterscheidung zwischen beruflichem oder privatem Veranlassungsgrund für Aufwendungen an, sondern jedenfalls auch auf die Unterscheidung zwischen freier oder beliebiger Einkommensverwendung einerseits und zwangsläufigem, pflichtbestimmtem Aufwand andererseits. Der Gesetzgeber hat die unterschiedlichen Gründe, die den Aufwand veranlassen, auch dann im Lichte betroffener Grundrechte differenzierend zu würdigen, wenn solche Gründe ganz oder teilweise der Sphäre der allgemeinen (privaten) Lebensführung zuzuordnen sind (BVerfGE 107, 27 <48 f.>; 112, 268 <280>; 122, 210 <234 f.>). Das Bundesverfassungsgericht hat insbesondere aus Art. 6 Abs. 1 GG – unabhängig von der steuerrechtlichen Systematik – eine verfassungsrechtliche Pflicht zur einkommensteuerlichen Berücksichtigung privat (mit-)veranlasster Kosten abgeleitet, wie der (nicht als existenzsichernd im engeren Sinne qualifizierten) Kosten einer auswärtigen Unterbringung von Kindern im Zusammenhang mit einer beruflichen Ausbildung (vgl. BVerfGE 89, 346 <354 f.>), der Kosten einer doppelten Haushaltsführung bei beiderseits berufstätigen Ehegatten (vgl. BVerfGE 107, 27 <53 ff.>) und erwerbsbedingter Kinderbetreuungskosten (vgl. BVerfGE 112, 268 <281 f.>). II. 115 Nach diesen Maßstäben ist § 9 Abs. 6 EStG in der Fassung des Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetzes mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar. § 9 Abs. 6 EStG bewirkt zwar eine steuerliche Ungleichbehandlung von Aufwendungen des Steuerpflichtigen für seine erstmalige Berufsausbildung oder für ein Erststudium, das zugleich eine Erstausbildung vermittelt (Erstausbildungskosten), mit Aufwendungen zur Erwerbung, Sicherung und Erhaltung von Einnahmen, zu denen auch Aufwendungen für zweite oder weitere Ausbildungen sowie Aufwendungen für eine erste Berufsausbildung oder ein Erststudium gehören können, die im Rahmen eines Dienstverhältnisses stattfinden (1.). Für die Differenzierung besteht jedoch ein sachlich einleuchtender Grund (2.). Die Begrenzung des Sonderausgabenabzugs für Erstausbildungskosten auf einen Höchstbetrag von 4.000 Euro in den Streitjahren verstößt auch weder gegen das Gebot der Steuerfreiheit des Existenzminimums noch ist sie bei einer Würdigung im Lichte betroffener Grundrechte zu beanstanden (3.). 116 1. § 9 Abs. 6 EStG nimmt Aufwendungen des Steuerpflichtigen für seine erstmalige Berufsausbildung oder für ein Erststudium, das zugleich eine Erstausbildung vermittelt, generell von dem Begriff der Werbungskosten im Sinne von § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG aus. Die Vorschrift konkretisiert den allgemeinen Werbungskostenabzugstatbestand des § 9 Abs. 1 Sätze 1 und 2 EStG dahingehend, dass diese Aufwendungen in keinem Fall beruflich veranlasst und damit weder unbeschränkt abzugsfähig sind (§ 2 Abs. 2 Nr. 2, § 9 Abs. 1 Satz 2 EStG) noch als negative Einkünfte in andere Veranlagungszeiträume zurück- oder vorgetragen werden können (§ 10d EStG). Stattdessen mindern sie lediglich gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 7 in Verbindung mit § 2 Abs. 4 EStG als Sonderausgaben – in den Streitjahren bis zur Höhe von 4.000 Euro, heute bis zur Höhe von 6.000 Euro – das zu versteuernde Einkommen in dem Jahr, in dem sie anfallen. 117 Dagegen können Aufwendungen für weitere Ausbildungen und für Erstausbildungen beziehungsweise Erststudien, die im Rahmen eines Dienstverhältnisses stattfinden, wie andere Aufwendungen zur Erwerbung, Sicherung und Erhaltung der Einnahmen als Werbungskosten im Sinne von § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG abzugsfähig sein und negative Einkünfte im Sinne von § 10d EStG begründen, soweit sie beruflich veranlasst sind. Eine berufliche Veranlassung ist nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs gegeben, wenn ein objektiver Zusammenhang mit dem Beruf besteht und die Aufwendungen subjektiv zur Förderung des Berufs getätigt werden (vgl. den Vorlagebeschluss vom 17. Juli 2014 im Verfahren VI R 2/12, BFHE 247, 25 <41 Rn. 69>). Ein Werbungskostenabzug setzt nicht voraus, dass der Steuerpflichtige gegenwärtig bereits Einnahmen erzielt. Solche Aufwendungen sind als vorab entstandene (vorweggenommene) Werbungskosten abziehbar, wenn sie in einem hinreichend konkreten, objektiv feststellbaren Veranlassungszusammenhang mit späteren Einnahmen stehen (vgl. den Vorlagebeschluss vom 17. Juli 2014 im Verfahren VI R 2/12, BFHE 247, 25 <42 f. Rn. 73>). 118 2. Diese Ungleichbehandlung von Aufwendungen für eine Erstausbildung beziehungsweise ein Erststudium, das eine Erstausbildung vermittelt, einerseits und Aufwendungen für eine bereits ausgeübte Erwerbstätigkeit sowie für weitere Ausbildungen und für Erstausbildungen (Erststudiengänge) im Rahmen eines Dienstverhältnisses andererseits ist nicht willkürlich. Erhöhte Anforderungen an den Differenzierungsgrund mit Rücksicht darauf, dass sich die Ungleichbehandlung auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten (Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG) auswirken kann, sind nicht geboten (a). Der Gesetzgeber kann sich für die Zuordnung der Aufwendungen für eine Erstausbildung zu den Sonderausgaben auf sachlich einleuchtende Gründe berufen (b). 119 a) Die Differenzierung zwischen Aufwendungen für eine Erstausbildung beziehungsweise ein Erststudium, das eine Erstausbildung vermittelt, einerseits und Aufwendungen für eine bereits ausgeübte Erwerbstätigkeit sowie für weitere Ausbildungen und für Erstausbildungen (Erststudiengänge) im Rahmen eines Dienstverhältnisses andererseits ist am Gleichheitssatz in seiner Eigenschaft als Willkürverbot zu messen. Einer Verschärfung des Maßstabs, weil sich die Ungleichbehandlung auf die Ausübung der Berufswahlfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) auswirken kann, bedarf es nicht. 120 Zwar ist das Absolvieren einer berufsbezogenen (Erst-)Ausbildung durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützt (vgl. Manssen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 12 Rn. 61; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 15. Aufl. 2018, Art. 12 Rn. 93 ff.). Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleistet das Recht der freien Berufswahl und das damit in engem Zusammenhang stehende Recht, die Ausbildungsstätte frei zu wählen (vgl. BVerfGE 33, 303 <329 f.>; 134, 1 <13 f. Rn. 37>; 147, 253 <306 Rn. 104>). 121 Die Zuordnung von Erstausbildungskosten zu den Sonderausgaben und der damit verbundene Ausschluss eines Verlustabzugs nach § 10d EStG hat jedoch keine objektiv berufsregelnde Tendenz. Entscheidend für den Zugang zu einer bestimmten Ausbildung oder Ausbildungsstelle ist deren Finanzierbarkeit durch die Auszubildenden und Studierenden. Die Finanzierbarkeit hängt maßgeblich davon ab, ob und in welcher Höhe der Auszubildende/Studierende während der Ausbildung über eigene Einkünfte oder eigenes Vermögen verfügt beziehungsweise ihm Unterhaltsansprüche oder Ansprüche nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz zustehen. Diese Finanzierungsmöglichkeiten sind unabhängig davon, ob Aufwendungen für die Ausbildung in spätere Veranlagungszeiträume vorgetragen werden können. Dies gilt auch für eine Kreditfinanzierung der Ausbildung, weil es für deren Inanspruchnahme darauf ankommt, wie potentielle Kreditgeber die Kreditwürdigkeit des Auszubildenden/Studierenden im Ausbildungszeitraum beurteilen. Die Möglichkeit eines Verlustabzugs in späteren Veranlagungszeiträumen dürfte dafür allenfalls von untergeordneter Bedeutung sein. 122 b) Für die Zuordnung der Aufwendungen für eine Erstausbildung zu den Sonderausgaben gibt es sachlich einleuchtende Gründe. Der Gesetzgeber durfte diese Aufwendungen als wesentlich privat (mit-)veranlasst qualifizieren (aa) und den objektiven Zusammenhang mit einem konkreten späteren Beruf als typischerweise gering ausgeprägt bewerten (bb). Es ist deshalb nicht zu beanstanden, dass er sie als jedenfalls untrennbar gemischt veranlasste Aufwendungen systematisch den Sonderausgaben zugeordnet hat (cc). Die Gründe für Zweit- und weitere Ausbildungen (Studiengänge) sind demgegenüber so heterogen, dass sie sich einer typisierenden Erfassung als maßgeblich privat (mit-)veranlasst entziehen (dd). Erstausbildungen und Erststudiengänge im Rahmen eines Dienstverhältnisses unterscheiden sich von anderen Erstausbildungen und -studiengängen durch die bereits während der Ausbildung ausgeübte Erwerbstätigkeit (ee). 123 aa) Nach Auffassung des Gesetzgebers gehört die erste Berufsausbildung typischerweise zu den Grundvoraussetzungen für die Lebensführung, weil sie Vorsorge für die persönliche Existenz bedeutet und dem Erwerb einer selbstständigen und gesicherten Position im Leben dient. Er ordnet deshalb Aufwendungen für die erste Berufsausbildung ebenso wie Aufwendungen für Erziehung und andere Grundbedürfnisse schwerpunktmäßig den Kosten der Lebensführung zu (vgl. BTDrucks 15/3339, S. 10; 17/7524, S. 10). 124 Die Wertung des Gesetzgebers, dass Aufwendungen für eine Erstausbildung im Anschluss an die allgemeine Schulbildung für die Lebensführung, die wirtschaftliche und die gesellschaftliche Stellung des Steuerpflichtigen jedenfalls nicht nur von völlig untergeordneter Bedeutung sind, ist nicht zu beanstanden (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 8. Juli 1993 - 2 BvR 773/93 -, Rn. 2; Beschluss des Dreierausschusses des Ersten Senats vom 10. Dezember 1973 - 1 BvR 348/73 -; ebenso Schild, Sonderausgaben als Kategorie des Einkommensteuerrechts, 2017, S. 96 f.; Förster, DStR 2012, S. 486 <490 f.>; G. Kirchhof, DStR 2013, S. 1867 <1870>; Thiemann, JZ 2015, S. 866 <872>; Thürmer, in: Blümich, EStG, § 9 Rn. 685 <Juni 2018>; a.A. Bergkemper, in: Hermann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 9 EStG Rn. 608 <August 2018>; Fuhrmann, in: Korn, EStG, § 9 Rn. 616 <Januar 2016>; Pfab, Die Behandlung von Bildungsaufwendungen im deutschen Einkommensteuerrecht, 2008, S. 283 f.; Söhn, in: Festschrift für Hermann Otto Solms, 2005, S. 97 <101 f.>; Drenseck, DStR 2004, S. 1766 <1771>). Die Erstausbildung oder das Erststudium unmittelbar nach dem Schulabschluss vermittelt nicht nur Berufswissen, sondern prägt die Person in einem umfassenderen Sinne, indem sie die Möglichkeit bietet, sich seinen Begabungen und Fähigkeiten entsprechend zu entwickeln und allgemeine Kompetenzen zu erwerben, die nicht zwangsläufig für einen künftigen Beruf notwendig sind. Sie weist damit eine besondere Nähe zur Persönlichkeitsentwicklung auf (vgl. Manssen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 12 Rn. 13 f.). 125 Die Qualifikation der dafür erforderlichen Aufwendungen als durch die allgemeine Lebensführung (privat) veranlasst korrespondiert damit, dass eine Erstausbildung nach § 1610 Abs. 2 BGB noch von der Unterhaltspflicht der Eltern umfasst ist. Diese schulden – in den Grenzen ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit – eine Berufsausbildung, die der Begabung und den Fähigkeiten, dem Leistungswillen und den beachtenswerten Neigungen des Kindes am besten entspricht (vgl. BGH, Beschluss vom 3. Mai 2017 - XII ZB 415/16 -, juris, Rn. 12). Das Einkommensteuerrecht berücksichtigt die Unterhaltsverpflichtung, indem es die zur Erfüllung dieser Pflicht aufzuwendenden Beträge typisierend im Rahmen des Familienleistungsausgleichs und als außergewöhnliche Belastung in besonderen Fällen (§§ 31 f., 33a EStG) bei den Eltern zum Steuerabzug zulässt. Die bei mangelnder Leistungsfähigkeit der Eltern an die Stelle tretenden sozialrechtlichen Leistungen werden dementsprechend der Bildungsförderung und nicht der Arbeitsförderung zugerechnet (vgl. BTDrucks 17/7524, S. 10). 126 bb) Der objektive Zusammenhang von Aufwendungen für eine Erstausbildung oder ein Erststudium, das eine Erstausbildung vermittelt, mit einem konkreten späteren Beruf ist dagegen typischerweise gering ausgeprägt (vgl. Thürmer, in: Blümich, EStG, § 9 Rn. 685 <Juni 2018>; Thiemann, JZ 2015, S. 866 <872>; Trossen, FR 2012, S. 501 <506>; a.A. Bergkemper, in: Hermann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 9 EStG Rn. 608 <August 2018>; Pfab, Die Behandlung von Bildungsaufwendungen im deutschen Einkommensteuerrecht, 2008, S. 283 f.; Cropp, FR 2016, S. 58 <63 f.>; Drenseck, DStR 2004, S. 1766 <1768>; Meindl-Ringler, DStZ 2016, S. 308 <312>). 127 (1) Das duale Ausbildungssystem, das schulische und betriebliche Ausbildung kombiniert und deshalb eine vergleichsweise konkrete Verbindung zu einem später ausgeübten Beruf aufweist, ist regelmäßig von § 9 Abs. 6 EStG nicht betroffen, weil diese Art der Ausbildung im Rahmen eines Dienstverhältnisses stattfindet. Die Regelung erfasst dagegen insbesondere rein schulische Ausbildungen und das Hochschulstudium unmittelbar im Anschluss an den zum Studium berechtigenden Schulabschluss. In diesen Fällen ist der Veranlassungszusammenhang mit Einnahmen aus einer später konkret ausgeübten Erwerbstätigkeit deutlich geringer. Die schulische Ausbildung und das Studium eröffnen regelmäßig eine Vielzahl von unterschiedlichen Berufsmöglichkeiten. Sie sind häufig breit angelegt, so dass erst zu Beginn oder während der Berufstätigkeit eine Spezialisierung stattfindet. Zudem gibt es zahlreiche Studiengänge, die nicht ohne weiteres in konkrete Berufsfelder münden, und umgekehrt Berufsfelder, für die es nicht maßgeblich auf ein bestimmtes Studium ankommt, sondern darauf, dass überhaupt ein Studium absolviert worden ist. 128 An diesem eher lockeren Zusammenhang ändert der Umstand nichts, dass die Erstausbildung oder das Erststudium regelmäßig Voraussetzung für die später ausgeübte Tätigkeit sein werden. Diese Argumentation ließe sich – jenseits der Schulpflicht – auch auf die allgemeine Schulbildung übertragen, die ebenfalls, wenn auch entfernt, kausal für die Ausübung der späteren Tätigkeit ist. 129 (2) Die in den betroffenen Ausbildungs- und Studiengängen im allgemeinen bestehende Unsicherheit, ob die Erstausbildung überhaupt kausal für eine Erwerbstätigkeit wird und gegebenenfalls für welche, unterscheidet sie auch von den in den Vorlagebeschlüssen als Vergleichsmaßstab angeführten Aufwendungen für Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte. Zwar weisen letztere ebenfalls eine mehr oder weniger ausgeprägte private Mitveranlassung auf, zugleich ist aber der Veranlassungszusammenhang mit der ausgeübten Erwerbstätigkeit sehr konkret. 130 Dies gilt allerdings vergleichbar für die Ausbildung zum Berufspiloten, die in vier der sechs Ausgangsverfahren zu beurteilen ist. Schon die vertragliche Ausgestaltung der Pilotenausbildung zielt in vielen, wenn auch nicht in allen Fällen darauf oder legt es zumindest nahe, dass sich an die Ausbildung unmittelbar ein Beschäftigungsverhältnis bei einer bestimmten Fluggesellschaft anschließt. Die Bundesregierung legt jedoch in ihrer Stellungnahme dar, dass es sich dabei um eine zahlenmäßig unbedeutende Sonderkonstellation handele. Sie verweist darauf, dass laut Luftfahrtbundesamt im Jahr 2014 lediglich 1.008 Neuanmeldungen zur Ausbildung fliegerischen Personals erfolgt seien und dies einem Anteil von 0,1 % aller Teilnehmer von vollqualifizierenden Berufsausbildungen entspreche (vgl. auch Neugebauer, FR 2015, S. 307 <313>). In diesen Zahlen enthalten sind zudem diejenigen Auszubildenden, die bereits eine erste Berufsausbildung abgeschlossen haben oder in einem Dienstverhältnis, insbesondere beim Militär, stehen. Die geringe Zahl spricht dafür, dass der Gesetzgeber diese Fälle in Ausübung seiner Typisierungskompetenz vernachlässigen durfte, weil er sich grundsätzlich am Regelfall orientieren darf und nicht gehalten ist, allen Besonderheiten jeweils durch Sonderregelungen Rechnung zu tragen (vgl. BVerfGE 82, 159 <185 f.>; 122, 210 <232>; 126, 268 <279>; 133, 377 <412 Rn. 87>). 131 cc) Letztlich kommt es darauf jedoch nicht an. Denn auch bei einer stark auf einen bestimmten späteren Beruf ausgerichteten Erstausbildung liegt die oben dargestellte private Mitveranlassung vor. Dass eine berufliche Veranlassung überwiegt und den Schwerpunkt bildet, indiziert noch nicht zwangsläufig eine unbedeutende private Mitveranlassung und umgekehrt (vgl. Söhn, in: Festschrift für Wolfgang Spindler, 2011, S. 795 <799>). Der Gesetzgeber durfte deshalb jedenfalls von gemischt veranlasstem Aufwand ausgehen, bei dem private und berufliche Veranlassungselemente untrennbar sind (vgl. BTDrucks 15/3339, S. 10) und den er daher systematisch den Sonderausgaben zuordnen durfte. 132 (1) Auch Erstausbildungen, die wie die Pilotenausbildung einen konkreten Veranlassungszusammenhang mit einer später ausgeübten Erwerbstätigkeit aufweisen, schaffen erstmalig die Voraussetzungen für eine selbstbestimmte Lebensführung und vermitteln Kompetenzen, die allgemein die Lebensführung der Auszubildenden beeinflussen. Diese private Mitveranlassung des Ausbildungsaufwands wird nicht deshalb völlig unbedeutend, weil zugleich eine wesentliche berufliche Veranlassung besteht. 133 Die Lebensführung betreffende private und berufliche Veranlassungsbeiträge sind in diesen Fällen untrennbar miteinander vermischt. Die vom Gesetzgeber angenommene umfassende Prägung der Person durch eine erste Ausbildung, die ihr nicht nur beruflich, sondern auch privat zugutekommt, indem sie die Voraussetzungen für eine selbstbestimmte Lebensführung schafft, und die für eine Berufsausübung nötige Aneignung von Wissen und Fähigkeiten greifen so ineinander, dass es für eine quantitative Aufteilung der beruflichen und der privaten Mitveranlassung an objektivierbaren Kriterien fehlt. 134 (2) Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (Beschluss vom 21. September 2009 - GrS 1/06 -, BFHE 227, 1 <29 Rn. 125>) scheidet im Falle gemischter Veranlassungsbeiträge, die mangels objektivierbarer Kriterien tatsächlich unteilbar sind und bei denen nicht der private Beitrag für sich gesehen völlig unbedeutend ist, aufgrund der Systematik des Einkommensteuerrechts ein Abzug der Aufwendungen als Werbungskosten insgesamt aus. Unabhängig von der Frage, ob der Gesetzgeber dennoch die uneingeschränkte Abzugsfähigkeit von Erstausbildungsaufwand als Werbungskosten anordnen dürfte, ist er folglich durch den Gleichheitssatz jedenfalls nicht gehindert, ihn als untrennbar gemischt veranlasst vom Werbungskostenabzug auszunehmen und insgesamt den Sonderausgaben zuzuordnen (vgl. Klein, DStR 2014, S. 776 <778>; G. Kirchhof, DStR 2013, S. 1867 <1870>; ferner Schild, Sonderausgaben als Kategorie des Einkommensteuerrechts, 2017, S. 98 f.; a.A. Pfab, Die Behandlung von Bildungsaufwendungen im deutschen Einkommensteuerrecht, 2008, S. 283 ff.; Söhn, in: Festschrift für Hermann Otto Solms, 2005, S. 97 <101 ff.>). 135 dd) Auch die Differenzierung zwischen Erstausbildungsaufwand und den Aufwendungen für Zweit- und weitere Ausbildungen (Studiengänge) hält einer gleichheitsrechtlichen Überprüfung stand. Für letztere richtet sich die Zuordnung zu den Werbungskosten nach den einfachrechtlichen Grundsätzen. Entscheidend ist mithin, ob im Einzelfall eine berufliche Veranlassung gegeben ist. Diese Regelung ist sachlich gerechtfertigt, weil die Gründe für eine Zweit- oder weitere Ausbildung so heterogen sind, dass sie sich einer typisierenden Erfassung als maßgeblich privat (mit-)veranlasst entziehen. 136 Unter die weiteren Ausbildungen fallen Fort- und Weiterbildungen für den bereits ausgeübten Beruf (vgl. etwa BFHE 167, 127 <130>, Aufbaustudium eines Lehrers mit der Befähigung zum Lehramt der Sekundarstufe I zur Erlangung der Befähigung für das Lehramt der Sekundarstufe II) oder für eine Spezialisierung in der bisherigen Berufstätigkeit (vgl. BFHE 167, 538 <541>, Zahnmedizinstudium eines Humanmediziners mit dem Ziel, Mund-Kiefer-Gesichts-Chirurg zu werden; BFHE 184, 283 <286>, Betriebswirtschaftsstudium eines Diplom-Bauingenieurs (FH) mit dem Ziel, Projektleiter einer Baufirma zu werden oder ein Bauunternehmen zu gründen) ebenso wie Umschulungen oder eine völlige berufliche Neuorientierung. Die Motive für eine Zweitausbildung können mithin sehr unterschiedlich sein. Da Zweitausbildungen nicht mehr in den Grenzbereich zwischen allgemeinbildender Schule und erstmaliger Erwerbstätigkeit fallen, fehlt ihnen zugleich das Erstausbildungen verbindende Element, dass sie Grundvoraussetzung für die persönliche Entwicklung und die Erlangung und Festigung einer gesellschaftlichen Stellung sind. Es ist deshalb nicht willkürlich, sondern vielmehr naheliegend, sie anders als die Erstausbildung einer Einzelfallbetrachtung zu unterziehen und auf dieser Grundlage zu entscheiden, ob die dafür getätigten Aufwendungen einen hinreichend konkreten Veranlassungszusammenhang mit der ausgeübten oder einer zukünftigen Erwerbstätigkeit aufweisen oder nicht. 137 Die Differenzierung korrespondiert damit, dass sie regelmäßig auch nicht mehr ohne weiteres von der elterlichen Unterhaltspflicht umfasst sind. Während Eltern, Leistungsfähigkeit vorausgesetzt, Unterhalt für die Erstausbildung schulden, sind die Eltern, die ihrem Kind eine solche Berufsausbildung ermöglicht haben, grundsätzlich nicht mehr verpflichtet, Kosten einer weiteren Ausbildung zu tragen. Ausnahmen hiervon bestehen nur unter besonderen Umständen (vgl. BGH, Beschluss vom 3. Mai 2017 - XII ZB 415/16 -, juris, Rn. 12, m.w.N.). 138 ee) Schließlich ist auch für die Differenzierung zwischen Erstausbildungen und Erststudiengängen innerhalb und außerhalb eines Dienstverhältnisses ein sachlich einleuchtender Grund gegeben, der die Differenzierung rechtfertigt. 139 Das Bestehen eines Dienstverhältnisses hat zur Folge, dass die Auszubildenden zur Teilnahme sowohl an einer betrieblichen als auch an einer schulischen oder universitären Ausbildung verpflichtet sind (vgl. etwa § 13 BBiG). Gleichzeitig erhalten sie eine Vergütung (vgl. § 17 BBiG), auch für den schulischen Teil der Ausbildung (vgl. § 15, § 19 Abs. 1 Nr. 1 BBiG). Es ist deshalb nicht willkürlich, bei den Auszubildenden anfallende Ausbildungskosten (auch) als Aufwendungen zur Sicherung von Einnahmen aus dem bestehenden Ausbildungsverhältnis zu bewerten. Anders als bei einer Erstausbildung außerhalb eines Dienstverhältnisses besteht ein objektiv feststellbarer Veranlassungszusammenhang dieser Aufwendungen mit einer gegenwärtigen Erwerbstätigkeit (vgl. Thürmer, in: Blümich, EStG, § 9 Rn. 685 <Juni 2018>; Schild, Sonderausgabenabzug als Kategorie des Einkommensteuerrechts, 2017, S. 98; Thiemann, JZ 2015, S. 866 <874>; Trossen, FR 2012, S. 501 <507>; vgl. auch Förster, DStR 2012, S. 486 <491>; a.A. Pfab, Die Behandlung von Bildungsaufwendungen im deutschen Einkommensteuerrecht, 2008, S. 288 ff.). 140 Zwar schafft auch die Erstausbildung, die innerhalb eines Dienstverhältnisses erfolgt, die Voraussetzungen für eine selbstbestimmte Lebensführung und vermittelt Kompetenzen, die allgemein die Lebensführung der Auszubildenden beeinflussen. Die im Rahmen des Ausbildungsdienstverhältnisses bereits aktuell ausgeübte Erwerbstätigkeit ist jedoch ein sachlicher Grund, der den Gesetzgeber berechtigt, zu differenzieren und die Frage nach einer Berücksichtigung als Werbungskosten der allgemeinen Regelung des § 9 Abs. 1 EStG zu unterwerfen. 141 3. Die Begrenzung des Sonderausgabenabzugs für Erstausbildungskosten auf einen Höchstbetrag von 4.000 Euro in den Streitjahren verstößt auch weder gegen das Gebot der Steuerfreiheit des Existenzminimums (a) noch ist sie bei einer Würdigung im Lichte betroffener Grundrechte zu beanstanden (b). 142 a) aa) Der existenzielle Bedarf des Auszubildenden wird während der Erstausbildung grundsätzlich durch die zivilrechtliche Unterhaltspflicht der Eltern gedeckt, die das Einkommensteuerrecht typisierend im Rahmen des Familienleistungsausgleichs und als außergewöhnliche Belastung in besonderen Fällen (§§ 31 f., 33a EStG) berücksichtigt. Alternativ oder kumulativ erfolgt eine sozialrechtliche finanzielle Unterstützung, vorrangig durch Ansprüche auf Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (vgl. § 22 SGB XII). 143 Soweit die Auszubildenden/Studierenden eigenes Einkommen haben, wird das Existenzminimum durch den Grundfreibetrag (§ 32a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EStG) abgedeckt. Er betrug in den Streitjahren 2004 bis 2008 jeweils 7.664 Euro. Zusätzlich wurden die Erstausbildungskosten in den Streitjahren nach § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG als Sonderausgaben bis zu einer Höhe von 4.000 Euro berücksichtigt; seit dem Veranlagungszeitraum 2012 gilt eine Höchstgrenze von 6.000 Euro. 144 bb) Jedenfalls ein darüberhinausgehender Ausbildungsaufwand ist nicht dem Existenzminimum zuzurechnen. 145 Die Steuerfreiheit des Existenzminimums dient grundsätzlich der „Befriedigung des gegenwärtigen Bedarfs“, das heißt des Bedarfs, der zur Bestreitung des Existenzminimums im jeweiligen Kalenderjahr anfällt (BVerfGE 120, 125 <156>). Dass ein Aufwand „zukunftsgerichtet“ ist, schließt nicht von vornherein aus, dass er vom Existenzminimum umfasst ist. Der Senat hat etwa eine Kranken- und Pflegeversicherung als reine Risikoversicherung mit kalenderjahrmäßig abgrenzbaren Beiträgen trotz ihrer Zukunftsgerichtetheit dem Existenzminimum zugeordnet (BVerfGE 120, 125 <156>). 146 Vergleichsebene für die Quantifizierung des Existenzminimums ist aber das sozialhilferechtlich gewährleistete Leistungsniveau (BVerfGE 99, 246 <259>; 120, 125 <156 f.>). Aufwendungen im Sinne von § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG in einer Höhe, die den Höchstbetrag der danach abzugsfähigen Sonderausgaben überschreitet, sind weder von der Sozialhilfe noch von den Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz umfasst. Eine Berufsausbildung, die jedenfalls ein das Existenzminimum sicherndes späteres Einkommen gewährleistet, kann mit Aufwendungen unterhalb des Höchstbetrags für den Sonderausgabenabzug nach § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG ohne weiteres erreicht werden. 147 b) Die Höchstbetragsgrenze ist schließlich auch bei einer Würdigung von Erstausbildungsaufwand im Lichte betroffener Grundrechte, zu der der Gesetzgeber auch dann verpflichtet ist, wenn er diesen zulässigerweise der Sphäre der allgemeinen (privaten) Lebensführung zuordnet (vgl. BVerfGE 107, 27 <48 f.>; 112, 268 <280>; 122, 210 <234 f.>), nicht zu beanstanden. Dabei kann offenbleiben, ob der Gesetzgeber von Verfassungs wegen überhaupt verpflichtet ist, Aufwendungen für eine Erstausbildung, die er zulässigerweise der privaten Sphäre zugeordnet hat, zum Steuerabzug zuzulassen. Jedenfalls genügt die gewählte Lösung eines Sonderausgabenabzugs bis zum Höchstbetrag von 4.000 Euro (jetzt 6.000 Euro) verfassungsrechtlichen Anforderungen. 148 In der ganz überwiegenden Zahl der Fälle bildet § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG die erforderlichen Kosten für eine eigene Erstausbildung realitätsgerecht ab (vgl. Trossen, FR 2012, S. 501 <507>). Bei der Pilotenausbildung handelt es sich um Sonderfälle, die nicht den typischen Fall der Erstausbildung darstellen. 149 Im Übrigen ist es in weitem Umfang der freien Gestaltung des Gesetzgebers überlassen, wie er der objektiv-rechtlichen Wertentscheidung zugunsten eines freiheitlichen Berufs- und Ausbildungswesens Rechnung trägt (vgl. Thiemann, JZ 2015, S. 866 <872 ff.>). Art. 12 GG gebietet jedenfalls nicht eine uneingeschränkte steuerliche Entlastung wegen Erstausbildungsaufwand in beliebiger Höhe auf Kosten der Allgemeinheit. Insofern unterscheiden sich Ausbildungskosten etwa von erwerbsbedingten Kinderbetreuungskosten. Letztere sind unter dem besonderen Schutz von Art. 6 Abs. 1 GG zwangsläufiger Aufwand, weil der Gesetzgeber dem Steuerpflichtigen nicht die „Vermeidbarkeit“ ihrer Kinder entgegenhalten darf (vgl. BVerfGE 112, 268 <282>). Für eine besonders kostspielige Erstausbildung gilt das jedenfalls nicht in demselben Maße. Bei der steuerrechtlichen Berücksichtigung von Ausbildungskosten darf der Gesetzgeber auch einbeziehen, dass der Staat die Ausbildung durch die Bereitstellung des öffentlichen Bildungswesens und durch Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz bereits fördert (vgl. BVerfGE 89, 346 <355>). Voßkuhle Huber Hermanns Müller Kessal-Wulf König Maidowski Langenfeld
bundesverfassungsgericht
3-2022
18. Januar 2022
Unzulässige Verfassungsbeschwerde gegen Urteil betreffend die Einführung paritätischer Listen bei der Landtagswahl in Thüringen Pressemitteilung Nr. 3/2022 vom 18. Januar 2022 Beschluss vom 06. Dezember 20212 BvR 1470/20 Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 1. Kammer des Zweiten Senats eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, die sich gegen ein Urteil des Thüringer Verfassungsgerichtshofs richtet, in dem das thüringische Gesetz zur Einführung paritätischer Listen bei der Landtagswahl für nichtig erklärt wurde. Die Beschwerdeführenden – zur Landtagswahl Wahlberechtigte und zum Teil Parteimitglieder sowie potenzielle Kandidatinnen und Kandidaten einer Landesliste – haben die Möglichkeit einer Verletzung von im Verfassungsbeschwerdeverfahren gegen dieses Urteil rügefähigen Grundrechten und grundrechtsgleichen Gewährleistungen nicht ausreichend dargelegt. Sachverhalt: Auf der Grundlage eines Gesetzentwurfs der Landtagsfraktionen der Parteien DIE LINKE, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN beschloss der Thüringer Landtag im Juli 2019 das Siebte Gesetz zur Änderung des Thüringer Landeswahlgesetzes – Einführung der paritätischen Quotierung (Paritätsgesetz). In § 29 wurde folgender neuer Absatz 5 eingefügt: „Die Landesliste ist abwechselnd mit Frauen und Männern zu besetzen, wobei der erste Platz mit einer Frau oder einem Mann besetzt werden kann. […]“. Die Landtagsfraktion der AfD leitete ein Verfahren zur Überprüfung des Paritätsgesetzes im Wege der abstrakten Normenkontrolle ein und beantragte, dessen Nichtigkeit wegen Verstoßes gegen die Thüringer Verfassung festzustellen. Mit angegriffenem Urteil erklärte der Thüringer Verfassungsgerichtshof das Paritätsgesetz für nichtig. Durch das Gesetz werde in verfassungsrechtlich verbürgte subjektive Rechte eingegriffen, ohne dass dieser Eingriff auf eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung gestützt werden könne. Die Beschwerdeführenden sehen sich durch das angefochtene Urteil in verschiedenen Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten verletzt. Wesentliche Erwägungen der Kammer: Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig. Sie genügt den Anforderungen an die Begründung einer Verfassungsbeschwerde gemäß § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG nicht. 1. a) Unter dem Grundgesetz verfügen die Länder über eine weitgehende Verfassungsautonomie. Art. 28 Abs. 1 GG enthält nur wenige Vorgaben für die Verfassungen der Länder. Im Übrigen können sie, soweit das Grundgesetz nicht besondere Anforderungen statuiert, ihr Verfassungsrecht und auch ihre Verfassungsgerichtsbarkeit nach eigenem Ermessen ordnen. b) Im Bereich des Wahlrechts hat das Grundgesetz die Anforderungen, die an demokratische Wahlen zu den Volksvertretungen zu stellen sind, für die Verfassungsräume des Bundes und der Länder in Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG und Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG jeweils gesondert geregelt. Dabei gewährleisten die Länder den Schutz des subjektiven Wahlrechts bei Wahlen in ihrem Verfassungsraum grundsätzlich allein und abschließend. c) Bei den Entscheidungen der Landesverfassungsgerichte handelt es sich um Akte „öffentlicher Gewalt“, die gemäß Art. 1 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 3 GG der Bindung an die Grundrechte und grundrechtsgleichen Gewährleistungen unterliegen und grundsätzlich mit der Verfassungsbeschwerde gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG angegriffen werden können. Dabei können auch die Verletzung der Prozessgrundrechte einschließlich des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG oder des allgemeinen Willkürverbots sowie die Nichtbeachtung des Gleichberechtigungsgebots gemäß Art. 3 Abs. 2 GG geltend gemacht werden. 2. Davon ausgehend fehlt es an der ausreichenden Darlegung der Möglichkeit einer Verletzung von im Verfassungsbeschwerdeverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht gegen das Urteil des Thüringer Verfassungsgerichtshofs rügefähigen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Gewährleistungen der Beschwerdeführenden. a) Ein Verstoß des angegriffenen Urteils des Thüringer Verfassungsgerichtshofs unmittelbar gegen Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG kommt von vornherein nicht in Betracht. Die Norm betrifft nur die Wahl der Abgeordneten des Deutschen Bundestages. b) Ebenso wenig können sich die Beschwerdeführenden im vorliegenden Verfassungsbeschwerdeverfahren unmittelbar auf Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG berufen, da es sich bei dieser Norm nicht um ein Grundrecht oder ein grundrechtsgleiches Recht, sondern um eine objektivrechtliche Gewährleistung handelt. c) Gleiches ergibt sich im Ergebnis hinsichtlich einer Verletzung des Demokratiegebots aus Art. 20 Abs. 1 und 2 GG. Nach dem Wortlaut der Norm handelt es sich insoweit ebenfalls um eine objektivrechtliche Gewährleistung. Darüber hinaus sind die inhaltlichen Ausführungen der Beschwerdeführenden zur Begründung der Ansicht, nur die paritätische Vertretung der Bürgerinnen und Bürger genüge den Anforderungen der repräsentativen Demokratie im Sinne von Art. 20 Abs. 1 GG, unzureichend. Eine Auseinandersetzung mit dem aus dem Demokratieverständnis des Grundgesetzes abgeleiteten Grundsatz der Gesamtrepräsentation fehlt. Nach diesem Repräsentationsverständnis, das der Thüringer Verfassungsgerichtshof seiner Entscheidung zugrunde legt, beinhaltet das „freie Mandat“ jedes Abgeordneten eine Absage an alle Formen einer imperativen, von regionalen oder gesellschaftlichen Gruppen ausgehenden inhaltlichen Bindung des Abgeordneten bei der Wahrnehmung seines Mandats. Sind die einzelnen Abgeordneten aber Vertreter des ganzen Volkes und an Aufträge und Weisungen nicht gebunden, hätte es näherer Begründung bedurft, warum nur ein paritätisch zusammengesetztes Parlament dem Konzept der repräsentativen Demokratie im Sinne von Art. 20 Abs. 1 GG entsprechen soll. d) Die Möglichkeit einer rügefähigen Verletzung des Rechts auf Gleichberechtigung aus Art. 3 Abs. 2 GG zeigen die Beschwerdeführenden ebenfalls nicht in ausreichendem Umfang auf. Es fehlt insoweit schon an einer substantiierten Auseinandersetzung mit der Frage, ob vorliegend der Grundsatz der getrennten Verfassungsräume des Bundes und der Länder der Überprüfung der Entscheidung des Thüringer Verfassungsgerichtshofs am Maßstab des Art. 3 Abs. 2 GG entgegensteht. Darüber hinaus kann den Darlegungen der Verfassungsbeschwerde ein aus Art. 3 Abs. 2 GG abzuleitendes Verfassungsgebot der paritätischen Ausgestaltung des Wahlvorschlagsrechts nicht entnommen werden. Diesbezüglich wird nicht erörtert, ob Art. 3 Abs. 2 GG statt als Auftrag zur Herbeiführung einer mit einem paritätischen Wahlvorschlagsrecht verbundenen Ergebnisgleichheit lediglich als Gewährleistung tatsächlicher Chancengleichheit zu interpretieren ist. Außerdem setzen sich die Beschwerdeführenden nicht mit der Problematik auseinander, ob der Gesetzgeber bei der Durchsetzung des Gleichstellungsauftrags aus Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG über einen Gestaltungsspielraum verfügt, der einer Verengung des Regelungsgehalts der Norm auf eine verfassungsrechtliche Pflicht zum Erlass eines paritätischen Wahlvorschlagsrechts entgegenstehen könnte. e) Weiterhin ist dem Sachvortrag der Beschwerdeführenden ein Verstoß gegen das in Art. 3 Abs. 1 GG verankerte Willkürverbot nicht zu entnehmen. aa) Der Verfassungsgerichtshof geht davon aus, dass das Paritätsgesetz in die Grundsätze der Freiheit und Gleichheit der Wahl sowie der Freiheit und der Chancengleichheit der Parteien eingreift. Diese Annahme erscheint verfassungsrechtlich jedenfalls nicht von vornherein unhaltbar. bb) Des Weiteren vertritt er die Auffassung, dass auch dem Thüringer Verfassungsrecht das (Gesamt-)Repräsentationsverständnis des Grundgesetzes zugrunde liege, dem eine paritätische „Spiegelung“ der Geschlechter im Parlament fremd sei, sowie dass die Integrationsfunktion der Wahl ein paritätisches Wahlvorschlagsrecht nicht erfordere und das in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 Thüringer Verfassung (ThürVerf) verankerte Gleichstellungsgebot das Paritätsgesetz nicht zu rechtfertigen vermöge. Die Beschwerdeführenden haben nicht substantiiert dargelegt, dass diese Argumentation auf sachfremden Erwägungen beruht und der Thüringer Verfassungsgerichtshof insbesondere den Inhalt von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 ThürVerf in krasser Weise missdeutet hat. f) Schließlich lässt der Sachvortrag der Beschwerdeführenden eine Verletzung der Garantie des gesetzlichen Richters gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht erkennen. Soweit sie eine Divergenzvorlage zur Klärung der Frage, ob Art. 2 Abs. 2 ThürVerf unabhängig von Art. 3 Abs. 2 GG ausgelegt werden dürfe, für notwendig halten, liegt dem die Vorstellung zugrunde, dass Art. 3 Abs. 2 GG ein auch bei Wahlen in den Ländern zu beachtendes Gebot paritätischer Ausgestaltung des Wahlvorschlagsrechts beinhaltet. Diese Auffassung ist aber mit Blick auf die getrennten Verfassungsräume von Bund und Ländern nicht ausreichend substantiiert vorgetragen und daher zur Begründung einer Vorlageverpflichtung unzureichend.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT - 2 BvR 1470/20 - In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde 1.  der Frau (…), 2.  des Herrn (…), 3.  der Frau (…), 4.  der Frau (…), 5.  der Frau (…), 6.  der Frau (…), 7.  der Frau (…), 8.  der Frau (…), 9.  der Frau (…), 10.  des Herrn (…), 11.  der Frau (…), 12.  der Frau (…), 13.  der Frau (…), 14.  des Herrn (…), 15.  der Frau (…), 16.  des Herrn (…), 17.  der Frau (…), 18.  der Frau (…), 19.  der Frau (…), 20.  des Herrn (…), - Bevollmächtigte: (…) - gegen das Urteil des Thüringer Verfassungsgerichtshofs vom 15. Juli 2020 - VerfGH 2/20 - hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Vizepräsidentin König und die Richter Müller, Maidowski gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 6. Dezember 2021 einstimmig beschlossen: Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. G r ü n d e : A. 1 Die Verfassungsbeschwerde betrifft eine landesverfassungsgerichtliche Entscheidung, mit der das thüringer Gesetz zur Einführung paritätischer Listen bei der Landtagswahl für nichtig erklärt wurde. I. 2 1. a) Auf der Grundlage eines Gesetzentwurfs der Landtagsfraktionen der Parteien DIE LINKE, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (LTDrucks 6/6964) sowie eines Änderungsantrags jener Fraktionen (Vorlage 6/5766 vom 26. Juni 2019) beschloss der Thüringer Landtag am 5. Juli 2019 das Siebte Gesetz zur Änderung des Thüringer Landeswahlgesetzes – Einführung der paritätischen Quotierung (im Folgenden: Paritätsgesetz). Es wurde am 30. Juli 2019 von der Landtagspräsidentin ausgefertigt und am 19. August 2019 im Gesetz- und Verordnungsblatt für den Freistaat Thüringen veröffentlicht (GVBl 2019, S. 322). 3 b) Das Paritätsgesetz hatte folgenden Inhalt: Artikel 1 Das Thüringer Landeswahlgesetz in der Fassung vom 28. März 2012 (GVBI. S. 309), zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 24. April 2017 (GVBI. S. 89), wird wie folgt geändert: 1. § 29 wird wie folgt geändert: a) Nach Absatz 4 wird folgender neuer Absatz 5 eingefügt: „(5) Die Landesliste ist abwechselnd mit Frauen und Männern zu besetzen, wobei der erste Platz mit einer Frau oder einem Mann besetzt werden kann. Personen, die im Personenstandsregister als 'divers' registriert sind, können unabhängig von der Reihenfolge der Listenplätze kandidieren. Nach der diversen Person soll eine Frau kandidieren, wenn auf dem Listenplatz vor der diversen Person ein Mann steht; es soll ein Mann kandidieren, wenn auf dem Listenplatz vor der diversen Person eine Frau steht.“ b) Der bisherige Absatz 5 wird Absatz 6. 2. In § 30 Abs. 1 werden nach Satz 3 folgende Sätze eingefügt: „Wahlvorschläge, die nicht den Anforderungen des § 29 Abs. 5 entsprechen, werden zurückgewiesen; Wahlvorschläge, die zum Teil den Anforderungen des § 29 Abs. 5 nicht entsprechen, werden nur bis zu dem Listenplatz zugelassen, mit dessen Besetzung die Vorgaben des § 29 Abs. 5 noch erfüllt sind (Teilzurückweisung). Dies gilt auch für die Streichung einzelner Bewerbungen, die gegen § 29 Abs. 5 verstoßen.“ Artikel 2 Dieses Gesetz tritt am 1. Januar 2020 in Kraft. 4 2. Mit Antragsschrift vom 16. Januar 2020 leitete die Landtagsfraktion der AfD ein Verfahren zur Überprüfung des Paritätsgesetzes im Wege der abstrakten Normenkontrolle ein und beantragte, dessen Nichtigkeit wegen Verstoßes gegen Art. 44 Abs. 1 Satz 2, Art. 45 Satz 1 und Art. 46 Abs. 1 und Abs. 2 Thüringer Verfassung (ThürVerf) sowie gegen Art. 44 Abs. 1 Satz 2, Art. 45 Satz 1 und Art. 46 Abs. 1 ThürVerf in Verbindung mit Art. 21 Abs. 1 GG festzustellen. Die angehörte Thüringer Landesregierung trat dem entgegen. 5 3. Mit angegriffenem Urteil vom 15. Juli 2020 erklärte der Thüringer Verfassungsgerichtshof das Paritätsgesetz für nichtig. Durch das Gesetz werde in verfassungsrechtlich verbürgte subjektive Rechte eingegriffen, ohne dass dieser Eingriff auf eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung gestützt werden könne. 6 a) Das Paritätsgesetz schränke die durch Art. 46 Abs. 1 ThürVerf verbürgte Freiheit der Wahl ein. Diese beinhalte das Recht, auf die Verteilung der Geschlechter im Parlament durch die Wahl einer Liste Einfluss zu nehmen, auf der nur oder überwiegend Männer oder Frauen aufgeführt seien. Stattdessen werde eine bestimmte geschlechtsbezogene Zusammensetzung des Parlaments angeordnet. Zudem werde die Freiheit der Parteimitglieder eingeschränkt, auf den jeweiligen Listenplatz einen Vertreter des anderen Geschlechts oder unbesehen des jeweiligen Geschlechts zu wählen. Das Paritätsgesetz beeinträchtige außerdem das Recht der passiven Wahlfreiheit, da es ausschließe, sich auf einen konkreten Listenplatz zu bewerben, sofern dieser mit einem Vertreter des jeweils anderen Geschlechts zu besetzen sei. 7 b) Daneben werde die durch die Landesverfassung geschützte Gleichheit der Wahl beeinträchtigt (Art. 46 Abs. 1 und Abs. 2 ThürVerf). Die einzelnen Bewerberinnen und Bewerber hätten nicht mehr die gleiche Chance, den jeweiligen – dem anderen Geschlecht vorbehaltenen – Listenplatz zu erringen. Hinzu komme, dass bei einer Streichung einzelner gesetzwidriger Platzierungen (§ 30 Abs. 1 Satz 3 ThürLWG) eine Verminderung des Erfolgswerts der für eine Partei abgegebenen Stimmen einträte, falls diese aufgrund der Streichung nach dem Wahlergebnis anfallende Mandate nicht besetzen könne. Dem geltenden Verfassungsrecht ließen sich keine Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass die verfassungsgesetzlich garantierte Gleichheit der einzelnen Bürgerinnen und Bürger durch Vorstellungen einer auf die Geschlechtergruppen bezogenen Gleichheit zu ersetzen seien. 8 c) Außerdem werde durch das Paritätsgesetz Art. 21 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 9 Satz 2 ThürVerf verletzt. Unter Beeinträchtigung ihrer verfassungsrechtlich garantierten Betätigungsfreiheit würden politische Parteien gezwungen, das über die Liste zur Wahl vorzuschlagende Personal geschlechtsbezogen zu bestimmen. Außerdem werde die Programmfreiheit der Parteien beeinträchtigt, da sie Programminhalte nicht mehr mit einer spezifischen, geschlechterbezogenen Besetzung ihrer Listen untermauern könnten. Schließlich gehe mit dem Paritätsgesetz eine Beeinträchtigung des Rechts auf Chancengleichheit jedenfalls für Parteien einher, die einen wesentlich höheren Anteil eines Geschlechts unter ihren Mitgliedern hätten. Diese müssten unter Umständen mit weniger Kandidatinnen und Kandidaten antreten als Mandate erreichbar wären. Dies gelte vor allem für Parteien mit einer geringen Mitgliederzahl. Nicht zuletzt liege eine Beeinträchtigung des Anspruchs auf gleiche Wettbewerbsbedingungen darin, dass das Paritätsgesetz Parteien stärker treffe, die die besondere Förderung eines Geschlechts verfolgten und dies durch eine durchgängige Besetzung vorderer Listenplätze durch Vertreter dieses Geschlechts ausdrücken wollten. 9 d) Die Beeinträchtigungen seien wegen der für Eingriffe in die Wahlrechtsgleichheit sowie das Recht der Chancengleichheit der Parteien geltenden besonderen verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht gerechtfertigt. 10 aa) Das in Art. 45 Satz 1 ThürVerf und Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG zum Ausdruck kommende Demokratieprinzip könne das Paritätsgesetz nicht rechtfertigen. Ein Gebot, wonach die tatsächliche Widerspiegelung der in der Wählerschaft vorhandenen Meinungen im Parlament eine paritätische Listenaufstellung erfordere, sei dem deutschen Verfassungsrecht fremd. Dem in Art. 20 Abs. 2 GG und Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG enthaltenen Prinzip der Repräsentation sei ein Organisationsmodell zu entnehmen, welches dem Volk die maßgebliche Bestimmungsmacht über die staatliche Gewalt verschaffen solle. Nach diesem Prinzip vertrete jede und jeder Abgeordnete das gesamte Volk und sei diesem gegenüber verantwortlich; die Abgeordneten repräsentierten das Volk in ihrer Gesamtheit, nicht als Einzelne. Dieses Verständnis demokratischer Repräsentation liege auch dem thüringer Verfassungsrecht zugrunde. 11 bb) Die als zwingender Grund für die Beeinträchtigung der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien anerkannte Sicherung der Wahl als Integrationsvorgang bei der politischen Willensbildung biete hier ebenfalls keine Rechtfertigung. Sie ziele auf die Integration politischer Kräfte, nicht dagegen auf eine Integration des männlichen und weiblichen Geschlechts. Außerdem sei kaum nachvollziehbar, dass eine Integration der Geschlechter erst erreicht werde, wenn eine paritätische Teilnahme der Bürgerinnen und Bürger am politischen Prozess tatsächlich gegeben sei. Männer und Frauen seien sowohl aktiv wie passiv gleichermaßen wahl- und am Vorgang der politischen Willensbildung teilnahmeberechtigt. Für die Frage, ob Frauen aufgrund tatsächlicher Gegebenheiten diese Rechte weniger wahrnehmen wollten oder könnten und der Gesetzgeber Maßnahmen ergreifen dürfe oder sogar müsse, um diese Gegebenheiten zu verändern, sei die Sicherung des Charakters der Wahl als Integrationsvorgang bei der politischen Willensbildung des Volkes irrelevant. 12 cc) Auch das in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 ThürVerf verankerte Gleichstellungsgebot könne die mit dem Paritätsgesetz einhergehenden Beeinträchtigungen der genannten Rechte nicht rechtfertigen. 13 (1) Bei Art. 2 Abs. 2 Satz 2 ThürVerf handele es sich um eine Staatszielbestimmung, die keine subjektiven Rechte begründe. Sein Verpflichtungsumfang reiche über den Gehalt von Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG hinaus, da er zur Förderung und Sicherung der tatsächlichen Gleichstellung von Frauen und Männern verpflichte. 14 Das Grundgesetz gebiete auch keine einengende Auslegung dieser Norm. Staatszielbestimmungen würden von Art. 142 GG nicht erfasst. Auch Art. 31 GG fordere nicht, den Sinngehalt und den Anwendungsumfang von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 ThürVerf auf den des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG zu beschränken, da keine Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass dieser einen Normbefehl enthalte, weitergehende Gleichstellungsverpflichtungen auf Landesebene zu unterlassen. Schließlich erfasse der für die Länder verbindliche Art. 28 Abs. 1 GG nicht die Frage der Gleichstellung beziehungsweise Gleichberechtigung von Männern und Frauen. 15 (2) Die Gleichstellungsverpflichtung des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 ThürVerf könne Beeinträchtigungen der Freiheit und Gleichheit der Wahl sowie der Chancengleichheit der politischen Parteien grundsätzlich rechtfertigen. Sie stehe auf derselben Rangstufe wie Art. 46 Abs. 1 ThürVerf und Art. 21 Abs. 1 GG. 16 (3) Dennoch vermöge Art. 2 Abs. 2 Satz 2 ThürVerf die Einführung einer starren paritätischen Quotierung bei der Aufstellung von Landeslisten nicht zu legitimieren. 17 (a) Der Wortlaut der Vorschrift lasse offen, ob die Gleichstellungsverpflichtung auch die Einführung einer starren, paritätischen Quotenregelung für die Aufstellung von Landeslisten umfassen solle. Angesichts der Anzahl der durch starre Paritätsvorgaben bei der Aufstellung von Landeslisten beeinträchtigten Rechte, ihrer herausragenden Bedeutung für den demokratischen Prozess wie auch der Intensität der Beeinträchtigungen sowie der teils geltenden hohen Rechtfertigungsanforderungen sei die Aussagekraft des Wortlauts zu gering, um allein hierauf die Rechtfertigung einer solchen Quotenregelung stützen zu können. 18 (b) Zudem lasse sich aus der Entstehungsgeschichte folgern, dass der Verfassungsgeber Art. 2 Abs. 2 Satz 2 ThürVerf nicht als Rechtfertigung für paritätische Quotenregelungen habe verstanden wissen wollen. Zu Beginn der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts habe die Frage von Quotenregelungen in den Verfassungsberatungen der neu gegründeten Länder, aber auch in der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat eine wichtige Rolle gespielt. In diesem Kontext hätten die Versuche gestanden, während der Beratung und Ausarbeitung der Verfassung des Freistaats Thüringen eine ausdrückliche Regelung über die Pflicht zu einer hälftigen beziehungsweise paritätischen Repräsentanz der Geschlechter in öffentlich-rechtlichen Beratungs- und Beschlussgremien zu schaffen. Änderungsanträge mit entsprechenden Vorschlägen zur Ergänzung des Verfassungstextes seien jedoch ausnahmslos abgelehnt worden. Dabei sei der Ablehnung im Einzelfall eine Erörterung des „Reißverschlusssystems“, der Problematik, dass nicht genügend Frauen oder Männer zur Verfügung stehen könnten, sowie der mit der Einführung einer Quotenregelung verbundenen Einschränkung einer „freien Wahlentscheidung“ vorausgegangen. Angesichts dessen könne nicht angenommen werden, dass die Beteiligten bei den Beratungen der Verfassung einig gewesen seien, dass die Möglichkeit, eine starre paritätische Quotenregelung einzuführen, vom Gehalt von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 ThürVerf erfasst sei. Die Entstehungsgeschichte zwinge daher zu der Folgerung, dass der Verfassungsgeber mit der von ihm beschlossenen Regelung dem Gesetzgeber nicht die Möglichkeit habe eröffnen wollen, für die Organe und Einrichtungen des Freistaats paritätische Quotierungen einzuführen. II. 19 Die Beschwerdeführenden sehen sich durch das angefochtene Urteil in ihren Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten aus Art. 3 Abs. 2 GG, aus Art. 38 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 GG, aus Art. 38 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 in Verbindung mit Art. 28 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 2 GG sowie aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt. 20 1. Die Verfassungsbeschwerde sei zulässig. Als Parteimitglieder und potenzielle Kandidatinnen und Kandidaten einer Landesliste seien die Beschwerdeführenden zu 2., 4., 5., 8., 11. bis 13., 15. bis 17. durch die Nichtigkeit des Paritätsgesetzes in ihrem Recht auf tatsächliche Chancengleichheit im Nominierungsverfahren der Parteien gemäß Art. 38 Abs. 1 GG, Art. 3 Abs. 2 GG selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen. Als zur Landtagswahl Wahlberechtigte seien zudem alle Beschwerdeführenden unmittelbar in ihren Rechten auf Wahlfreiheit, auf Demokratie und gleichberechtigte demokratische Selbstbestimmung betroffen. Durch den Wegfall der Paritätsvorgaben blieben sie in ihrer Wahl- und Entscheidungsfreiheit beeinträchtigt, da sie weiter Listen mit faktischen Männerquoten wählen müssten und infolgedessen kaum Frauen wählen dürften. Zugleich würde in ihr Recht auf Demokratie und effektive gleichberechtigte demokratische Teilhabe sowie Selbstbestimmung eingegriffen, da der notwendige effektive Einfluss auf die Ausübung der Staatsgewalt nur mithilfe von Repräsentantinnen und Repräsentanten in jeweils angemessener Anzahl im Parlament erreicht werden könne. Dies habe das für nichtig erklärte Gesetz sicherstellen sollen. Alle Beschwerdeführenden seien zudem trotz ihrer fehlenden Beteiligung am Normenkontrollverfahren aufgrund der Nichtigkeit des Paritätsgesetzes in ihrem Recht auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gegenwärtig, selbst und unmittelbar betroffen. 21 2. Die Verfassungsbeschwerde sei auch begründet. Prüfungsmaßstab seien Art. 3 Abs. 2, Art. 38 Abs. 1 GG sowie der Anspruch auf Demokratie gemäß Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 und das Recht auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Die angegriffene Entscheidung lasse Auslegungsfehler erkennen, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung des Gleichberechtigungsgrundrechts in Art. 3 Abs. 2 GG, des passiven Wahlrechts in Art. 38 Abs. 1 GG und des Anspruchs auf Demokratie gemäß Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG für die Auslegung der Art. 2 Abs. 2, Art. 45 und Art. 46 Abs. 1 ThürVerf beruhten und zu einer Auslegung führten, die gegen Art. 101 GG und das Willkürverbot verstießen. 22 a) Die Verfassungsautonomie Thüringens stehe einer Überprüfung nach den vorgenannten Maßstäben nicht entgegen. Art. 28 Abs. 1 GG schreibe zwar nur ein gewisses Maß an Homogenität der Landesverfassungen und des Grundgesetzes vor. Grenzen der Entscheidungs- und Auslegungsfreiheit ergäben sich jedoch aus den Grundrechten und den anderen unmittelbar bindenden Bestimmungen des Grundgesetzes. Daher sei die angefochtene Entscheidung am Maßstab der Art. 3 Abs. 2, Art. 38 Abs. 1 GG und des Anspruchs auf Demokratie gemäß Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG zu prüfen. 23 b) Der Verfassungsgerichtshof verkenne die Bedeutung von Art. 3 Abs. 2 und Art. 38 Abs. 1 GG für die Auslegung der Art. 2 Abs. 2 und Art. 46 Abs. 1 ThürVerf. 24 aa) Die angefochtene Entscheidung lege entgegen Art. 3 Abs. 2 GG eine rein formal-rechtliche Betrachtung zugrunde. Die Existenz struktureller Benachteiligungen von Frauen in der Politik sei heute anerkannt. Die tatsächlichen Auswirkungen der bisherigen Regelungen des thüringer Wahlrechts ermöglichten und begünstigten eine solche strukturelle, zu mangelnder Chancengleichheit führende Benachteiligung von Frauen bei der Kandidatenaufstellung durch Parteien im Vorfeld der Landtagswahlen. Dies zeige die numerische Verteilung der Kandidaturen bei den Parteien für thüringer Landtagswahlen. Für die effektive politische Einflussnahme der an Wahlen teilnehmenden Bürgerinnen auf die Staatsgewalten in Thüringen fehle es wegen der Unterrepräsentanz von weiblichen Abgeordneten im Landtag an Stimme und Gewicht. Faktisch diskriminierende (partei-)politische Entscheidungen im Rahmen von Nominierungsverfahren zulasten von Frauen verstießen gegen das Recht auf Chancengleichheit gemäß Art. 38 Abs. 1 GG. Art. 46 Abs. 1 ThürVerf sei im Einklang mit diesem auszulegen. Die Rechtswirklichkeit dürfe dabei nicht ausgeblendet werden. In Bezug auf die Chancengleichheit von Kandidatinnen und Kandidaten trete ergänzend Art. 3 Abs. 2 GG hinzu. Überschnitten sich – wie im vorliegenden Fall – die Anwendungsbereiche der beiden Gleichheitssätze, sei eine differenzierende Behandlung an jedem dieser Gebote zu messen. 25 bb) Auslegungsfehler zeigten sich zudem, soweit der Verfassungsgerichtshof das Durchsetzungsgebot in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 ThürVerf lediglich als „Staatziel“ und nicht in grundrechtskonformer Auslegung als subjektives (Grund-)Recht betrachte. Verkannt werde, dass das Gleichberechtigungsdurchsetzungsgebot bereits in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 ThürVerf enthalten sei, der Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG entspreche und mit diesem übereinstimmend auszulegen sei. Auf die Klarstellung in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 ThürVerf komme es daher nicht an. Schreibe der Gesetzgeber den Parteien paritätische Regelungen vor, verfolge er das durch Art. 3 Abs. 2 GG legitimierte Ziel, die reale Chancengleichheit von Kandidatinnen innerhalb der Parteien durchzusetzen und Verstößen gegen Art. 38 Abs. 1 GG entgegenzuwirken. Nichts Anderes gelte für den im Einklang hiermit auszulegenden Art. 2 Abs. 2 ThürVerf. Seine Auslegung durch den Gerichtshof verkenne dies und bleibe letztlich in Bezug auf Gehalt und Schutzniveau hinter Art. 3 Abs. 2 GG zurück. 26 cc) Bei der Auslegung von Art. 2 Abs. 2 ThürVerf als Rechtfertigungsgrund für die Durchbrechung der Wahlfreiheit und der Parteienrechte gelange der Gerichtshof aufgrund einer juristischen Methoden widersprechenden Betonung der historischen Auslegung zu einer „Ewigkeitssperre“ für paritätische Wahlgesetze. Das alleinige Abstellen auf subjektive Vorstellungen des Gesetzgebers entspreche nicht der Methodik, die das Bundesverfassungsgericht der Auslegung von Normen zugrunde lege. Danach sei vom objektiven Willen des Gesetzgebers auszugehen. Die Entstehungsgeschichte komme nur zur Bestätigung der Richtigkeit des Auslegungsergebnisses in Betracht. Mit der gefundenen Auslegung in der angegriffenen Entscheidung falle Art. 2 Abs. 2 ThürVerf deutlich hinter den Gehalt und das Schutzniveau von Art. 3 Abs. 2 GG zurück. Dem Landesgesetzgeber werde verboten, was ihm durch das Grundgesetz erlaubt sei. 27 c) Ein weiterer Auslegungsmangel betreffe den Anspruch auf Demokratie, den der Gerichtshof letztlich verneine. Dieser Anspruch folge aus dem Menschenwürdegehalt der politischen Selbstbestimmung der Bürgerinnen und Bürger und werde über Art. 20 Abs. 3 und Art. 1 Abs. 3 GG auch durch Art. 45 und Art. 46 ThürVerf gewährleistet. Als Kerngehalt des Demokratiegebots gelte heute der allgemeine Gleichheitssatz. Er stelle ein tragendes Grundprinzip der freiheitlich demokratischen Ordnung dar und setze die paritätische Einflussnahme der Bürgerinnen und Bürger voraus. Nur so werde gewährleistet, dass sich parlamentarische Akte auf den Willen der Bürgerinnen und Bürger zurückführen ließen und der politischen Selbstbestimmung des ganzen Volkes Rechnung getragen werde. Dies verkenne der Gerichtshof, wenn er von einer „Spiegelungstheorie“ spreche, die dem deutschen Verfassungsrecht fremd sei. Repräsentative Demokratie gemäß Art. 20 Abs. 1 GG sichere die „Volkssouveränität“. Das maßgebliche (Wahl-)Volk bestehe im Kern aus zwei elementaren Gruppen, Frauen und Männern. Andernfalls wäre repräsentative Demokratie auch denkbar, wenn Frauen (oder Männer) gar nicht nominiert werden würden und infolgedessen gar nicht in die Parlamente gewählt werden könnten. Das aber wirke letztlich der Selbstbestimmung des Volkes entgegen. 28 d) Eine Divergenzvorlage nach Art. 100 Abs. 1 Satz 2 oder Abs. 3 GG an das Bundesverfassungsgericht zur Klärung der Frage, ob Art. 2 Abs. 2 ThürVerf unabhängig von Art. 3 Abs. 2 GG ausgelegt werden dürfe, sei unter Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG unterblieben. Die Auslegung des Art. 2 Abs. 2 ThürVerf verstoße zudem gegen die anerkannten Auslegungsmethoden und missdeute Art. 3 Abs. 2 GG in krasser Weise. Sie sei daher willkürlich und verstoße gegen Art. 3 Abs. 1 GG. B. 29 Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegen. Ihr kommt keine grundsätzliche Bedeutung zu und ihre Annahme ist nicht zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt. Die Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg (vgl. BVerfGE 90, 22 <25 f.>), da sie unzulässig ist. Sie genügt den Anforderungen an die Begründung einer Verfassungsbeschwerde gemäß § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG nicht. I. 30 Nach diesen Vorschriften ist der die Rechtsverletzung enthaltende Vorgang substantiiert und schlüssig vorzutragen (vgl. BVerfGE 81, 208 <214>; 89, 155 <171>; 99, 84 <87>; 108, 370 <386 f.>; 113, 29 <44>). Bei einer gegen eine gerichtliche Entscheidung gerichteten Verfassungsbeschwerde hat sich der Beschwerdeführer mit dieser inhaltlich auseinanderzusetzen (vgl. BVerfGE 82, 43 <49>; 86, 122 <127>; 88, 40 <45>; 105, 252 <264>). Es muss deutlich werden, inwieweit durch die angegriffene Maßnahme das bezeichnete Grundrecht verletzt sein soll (vgl. BVerfGE 78, 320 <329>; 99, 84 <87>; 115, 166 <179 f.>). Liegt zu den mit der Verfassungsbeschwerde aufgeworfenen Verfassungsfragen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bereits vor, so ist der behauptete Grundrechtsverstoß in Auseinandersetzung mit den vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Maßstäben zu begründen (vgl. BVerfGE 77, 170 <214 ff.>; 99, 84 <87>; 123, 186 <234>; 130, 1 <21>). 31 Diesen Begründungsanforderungen wird die Verfassungsbeschwerde nicht gerecht. Die Beschwerdeführenden setzen sich insbesondere mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den getrennten Verfassungsräumen von Bund und Ländern (1) unzureichend auseinander und legen die Möglichkeit einer Verletzung der im Verfassungsbeschwerdeverfahren gegen die wahlrechtliche Entscheidung eines Landesverfassungsgerichts rügefähigen Grundrechte nicht hinreichend substantiiert dar (2). 32 1. a) Unter dem Grundgesetz verfügen die Länder über eine weitgehende Verfassungsautonomie. Art. 28 Abs. 1 GG enthält nur wenige Vorgaben für die Verfassungen der Länder. Im Übrigen können sie, soweit das Grundgesetz nicht besondere Anforderungen statuiert, ihr Verfassungsrecht und auch ihre Verfassungsgerichtsbarkeit nach eigenem Ermessen ordnen (vgl. BVerfGE 4, 178 <189>; 36, 342 <361>; 60, 175 <207 f.>; 96, 345 <368 f.>). Demgemäß muss der Bereich der Verfassungsgerichtsbarkeit der Länder vom Bundesverfassungsgericht möglichst unangetastet bleiben (vgl. BVerfGE, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 31. März 2016 - 2 BvR 1576/13 -, Rn. 41). Die Verfassungsgerichtsbarkeit der Länder darf nicht in größere Abhängigkeit von der Bundesverfassungsgerichtsbarkeit gebracht werden, als es nach dem Grundgesetz unvermeidbar ist (vgl. BVerfGE 36, 342 <357>; 41, 88 <119>; 60, 175 <209>; 96, 231 <242>; 107, 1 <10>). 33 b) Im Bereich des Wahlrechts hat das Grundgesetz die Anforderungen, die an demokratische Wahlen zu den Volksvertretungen im Sinne von Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG zu stellen sind, für die Verfassungsräume des Bundes und der Länder in Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG und Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG jeweils gesondert geregelt (vgl. BVerfGE 99, 1 <10>). Dabei ist das Recht, die Beachtung der Wahlrechtsgrundsätze im Wege der Verfassungsbeschwerde einzufordern, den Bürgerinnen und Bürgern gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a in Verbindung mit Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG nur gewährt, soweit es um politische Wahlen auf Bundesebene geht (vgl. BVerfGE 99, 1 <11>). 34 Diese Regelung erklärt sich aus dem bundesstaatlichen Prinzip. Die Länder genießen im Rahmen ihrer Bindung an die Grundsätze des Art. 28 GG im staatsorganisatorischen Bereich Autonomie. In diesem Rahmen regeln sie das Wahlsystem zu ihren Parlamenten und Kommunalvertretungen selbst; sie gestalten und organisieren dabei auch das Wahlprüfungsverfahren. Soweit das Grundgesetz die Länder an die fünf Wahlrechtsgrundsätze gemäß Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG bindet, ermöglicht es auch eine Überprüfung der Einhaltung dieser Bindung durch das Bundesverfassungsgericht im Wege der abstrakten Normenkontrolle gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG. Ebenso hat jeder Richter das in einem Rechtsstreit erhebliche Landeswahlrecht auf seine Übereinstimmung mit den Wahlrechtsgrundsätzen gemäß Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG zu überprüfen und das Gesetz gemäß Art. 100 Abs. 1 GG dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen, wenn er der Auffassung ist, es entspreche diesen Grundsätzen nicht. Dabei handelt es sich um Verfahren, in denen zu klären ist, ob der Gesetzgeber objektivrechtlichen Vorgaben der Verfassung genügt hat (vgl. BVerfGE 99, 1 <11 f.> m.w.N.). 35 Mit Blick auf die Verfassungsautonomie der Länder beschränkt sich das Grundgesetz auf diese objektivrechtliche Kontrolle und räumt nicht auch jeder Bürgerin und jedem Bürger bei Wahlen im Land das Recht ein, die Beachtung der Wahlrechtsgrundsätze mit der Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht einzufordern. Insoweit gibt das Grundgesetz den Ländern Raum, den subjektiven Schutz des Wahlrechts zu ihren Volksvertretungen auszugestalten und durch die Gerichtsbarkeit des Landes sicherzustellen (vgl. BVerfGE 99, 1 <12>). Die Länder gewährleisten den subjektiven Schutz des Wahlrechts bei politischen Wahlen in ihrem Verfassungsraum demgemäß grundsätzlich allein und abschließend (vgl. BVerfGE 99, 1 <7>). Nur wenn in einem Land – anders als im vorliegenden Fall – kein Rechtsweg eröffnet wäre, käme eine unmittelbare Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts in Betracht (vgl. BVerfGE 99, 1 <17>). 36 c) Bei den Entscheidungen der Landesverfassungsgerichte handelt es sich um Akte „öffentlicher Gewalt“, die gemäß Art. 1 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 3 GG der Bindung an die Grundrechte und grundrechtsgleichen Gewährleistungen unterliegen und grundsätzlich mit der Verfassungsbeschwerde gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG angegriffen werden können (vgl. BVerfGE 6, 445 <447>; 13, 132 <140>; 42, 312 <325>; 85, 148 <157>; 96, 231 <242>). Demgemäß können im Verfahren der Verfassungsbeschwerde gegen landesverfassungsgerichtliche Entscheidungen grundsätzlich auch die Verletzung der Prozessgrundrechte einschließlich des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (vgl. dazu BVerfGE 13, 132 <140 ff.>; 60, 175 <210 ff.>; 69, 112 <120 ff.>; 96, 231 <243 f.>) oder des allgemeinen Willkürverbots (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 31. März 2016 - 2 BvR 1576/13 -, Rn. 46) sowie die Nichtbeachtung des Gleichberechtigungsgebots gemäß Art. 3 Abs. 2 GG geltend gemacht werden. 37 Dies gilt jedoch nicht, soweit die Landesverfassungsgerichte in der Sache endgültig entscheiden (vgl. BVerfGE 96, 231 <242>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 31. März 2016 - 2 BvR 1576/13 -, Rn. 42). Demgemäß stellt sich die Frage, ob bei wahlrechtlichen Entscheidungen der Landesverfassungsgerichte die Erhebung der Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht wegen der insoweit zu beachtenden Verfassungsautonomie der Länder gänzlich ausgeschlossen ist. Geht man davon aus, dass die Gewährung des subjektiven Wahlrechtsschutzes auf Landesebene abschließend erfolgt, könnte dies der Möglichkeit einer Erhebung der Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht ausnahmslos von vornherein entgegenstehen (vgl. zu Streitigkeiten, bei denen es um Funktionen bei Ausübung des Gesetzgebungsrechts im Land geht, BVerfGE 96, 231 <242>; für die Geltendmachung einer Verletzung von Wahlrechtsgrundsätzen im Land BVerfGE 99, 1 <17>). Ist die in der Verfassungsautonomie der Länder begründete Sperrwirkung des Art. 28 Abs. 1 GG hingegen auf die Einhaltung der dort genannten Wahlrechtsgrundsätze beschränkt, wäre eine Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht gegen eine landesverfassungsgerichtliche Entscheidung im Bereich des Wahlrechts zumindest insoweit möglich, als darüber hinausgehende Grundrechte oder grundrechtsgleiche Gewährleistungen betroffen sind. Zulässigkeitsvoraussetzung einer solchen Verfassungsbeschwerde wäre aber die hinreichend substantiierte Darlegung einer Verletzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten jenseits der Beachtung der Wahlrechtsgrundsätze des Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG. 38 2. Davon ausgehend fehlt es an der ausreichenden Darlegung der Möglichkeit einer Verletzung von im Verfassungsbeschwerdeverfahren gegen das Urteil des Thüringer Verfassungsgerichtshofs rügefähigen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Gewährleistungen der Beschwerdeführenden. Eine Verletzung der grundrechtsgleichen Rechte aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG durch die angegriffene Entscheidung scheidet von vornherein aus (a). Ebenso reicht der Rückgriff der Beschwerdeführenden auf Art. 28 Abs. 1 GG (b) und das Demokratieprinzip gemäß Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG (c) für sich genommen zur Darlegung eines Eingriffs in subjektive rügefähige Rechte der Beschwerdeführenden nicht aus. Des Weiteren ist die Möglichkeit einer Verletzung des Anspruchs auf Gleichberechtigung aus Art. 3 Abs. 2 GG nicht hinreichend substantiiert ausgeführt (d). Schließlich genügt der Sachvortrag der Beschwerdeführenden den Anforderungen an die Begründung einer Missachtung des allgemeinen Willkürverbots aus Art. 3 Abs. 1 GG (e) oder eines Eingriffs in die Garantie des gesetzlichen Richters aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (f) nicht. 39 a) Ein Verstoß des angegriffenen Urteils des Thüringer Verfassungsgerichtshofs unmittelbar gegen Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG kommt von vornherein nicht in Betracht. Die Norm betrifft nach ihrem Wortlaut nur die Wahl der Abgeordneten des Deutschen Bundestages. Darauf bezieht sich das streitgegenständliche Paritätsgesetz und dessen Nichtigkeitserklärung durch den Thüringer Verfassungsgerichtshof nicht. Eine analoge Anwendung der Norm auf Wahlen und Abstimmungen auf Landesebene scheidet wegen der Selbstständigkeit der Verfassungsräume des Bundes und der Länder aus (vgl. BVerfGE 1, 208 <236>; 4, 31 <44>; 6, 121 <129 f.>; 99, 1 <7>). 40 b) Ebenso wenig können sich die Beschwerdeführenden im vorliegenden Verfassungsbeschwerdeverfahren gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG unmittelbar auf Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG berufen, da es sich bei dieser Norm nicht um ein Grundrecht oder ein grundrechtsgleiches Recht, sondern um eine objektivrechtliche Gewährleistung handelt. Zwar verlangt Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG, dass die Grundsätze der allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahl auch bei politischen Wahlen in den Ländern gelten. Dem Einzelnen vermittelt Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG jedoch kein mit der Verfassungsbeschwerde rügefähiges subjektives Recht (vgl. BVerfGE 99, 1 <7 f.>). Dass vorliegend etwas Anderes gelten könnte, lässt sich den Ausführungen der Beschwerdeführenden nicht entnehmen. 41 c) aa) Gleiches ergibt sich im Ergebnis hinsichtlich einer Verletzung des Demokratiegebots aus Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG. Nach dem Wortlaut der Norm handelt es sich insoweit ebenfalls um eine objektivrechtliche Gewährleistung, hingegen nicht um ein subjektives Grund- oder grundrechtsgleiches Recht. Die Behauptung der Beschwerdeführenden, aus Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG folge ein rügefähiger „Anspruch auf Demokratie“, hätte daher näherer Begründung bedurft. 42 bb) Darüber hinaus sind die inhaltlichen Ausführungen der Beschwerdeführenden zur Begründung der Ansicht, nur die paritätische Vertretung der Bürgerinnen und Bürger genüge den Anforderungen der repräsentativen Demokratie im Sinne von Art. 20 Abs. 1 GG, unzureichend. Eine Auseinandersetzung mit dem aus dem Demokratieverständnis des Grundgesetzes abgeleiteten Grundsatz der Gesamtrepräsentation (vgl. Morlok, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 38 Rn. 136 m.w.N.; Morlok/Hobusch, DÖV 2019, S. 14 <17>; Butzer, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 38 Rn. 9.1 <November 2021>; ders., NdsVBl 2019, S. 10 <15 f.>; Burmeister/Greve, ZG 2019, S. 154 <162>; Jutzi, LKRZ 2012, S. 92 <93>; Pernice-Warnke, DVBl 2020, S. 81 <86>) fehlt. Nach diesem Repräsentationsverständnis, das der Thüringer Verfassungsgerichtshof seiner Entscheidung zugrunde legt, beinhaltet das „freie Mandat“ jedes Abgeordneten eine Absage an alle Formen einer imperativen, von regionalen (Länder, Wahlkreise) oder gesellschaftlichen Gruppen (Parteien, Unternehmen, Gewerkschaften, Volksgruppen, Verbänden, Alters- oder Geschlechtergruppen) ausgehenden inhaltlichen Bindung des Abgeordneten bei der Wahrnehmung seines Mandats (vgl. Butzer, NdsVBl 2019, S. 10 <16>; BayVerfGH, Entscheidung vom 26. März 2018 - Vf. 15-VII-16 -, NVwZ-RR 2018, S. 457 <465 Rn. 112>). Sind die einzelnen Abgeordneten aber Vertreter des ganzen Volkes und an Aufträge und Weisungen nicht gebunden, kommt es für die Vertretung des Volkes gerade nicht darauf an, dass sich das Parlament als verkleinertes Abbild des Elektorats darstellt (vgl. Butzer, NdsVBl 2019, S. 10 <15 f.>). 43 Vor diesem Hintergrund hätte die Verfassungsbeschwerde sich mit dem vom Thüringer Verfassungsgerichtshof herangezogenen Grundsatz der Gesamtrepräsentation auseinandersetzen und darlegen müssen, warum nur die paritätische „Spiegelung“ der weiblichen Wahlbevölkerung dem grundgesetzlichen Demokratieverständnis oder aber dem Verständnis demokratischer Repräsentation nach der Thüringer Landesverfassung, deren Art. 53 Abs. 1 sprachlich Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG weitgehend entspricht, Rechnung trägt. Dass die Möglichkeit effektiver Einflussnahme auf die parlamentarische Willensbildung die hälftige Verteilung der Mandate zwischen den Geschlechtern voraussetzt, ist nicht ohne Weiteres ersichtlich (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 15. Dezember 2020 - 2 BvC 46/19 -, Rn. 80). Insoweit hätte dargelegt werden müssen, dass der Grundsatz der Gesamtrepräsentation, wie er vom Thüringer Verfassungsgerichtshof aus Art. 53 Abs. 1 ThürVerf abgeleitet wurde, dem Demokratiegebot des Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG widerspricht. Dem genügen die Hinweise der Beschwerdeführenden nicht, dass das Wahlvolk im Kern aus zwei elementaren Gruppen, Männern und Frauen, besteht und dass Frauen in den Parlamenten faktisch unterrepräsentiert seien. Ebenso wenig reicht hierfür das Vorbringen, eine effektive Einflussnahme von Frauen auf parlamentarische Entscheidungen sei nur bei deren hälftiger Vertretung im Parlament gewährleistet (vgl. dazu Beschluss des Zweiten Senats vom 15. Dezember 2020 - 2 BvC 46/19 -, Rn. 79 f.). Sonstige Gründe für die verfassungsrechtliche Unhaltbarkeit des Grundsatzes der Gesamtrepräsentation werden von den Beschwerdeführenden nicht aufgeführt. 44 cc) Schließlich reicht die Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum „Recht auf Demokratie“ zur Darlegung eines rügefähigen Rechts der Beschwerdeführenden im vorliegenden Verfassungsbeschwerdeverfahren nicht aus. Nach dieser Rechtsprechung erschöpft sich das dem Einzelnen in Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG garantierte Wahlrecht zum Deutschen Bundestag nicht in einer formalen Legitimation der (Bundes-)Staatsgewalt, sondern umfasst auch dessen grundlegenden demokratischen Gehalt (vgl. etwa BVerfGE 123, 267 <330>; 129, 124 <168>; 134, 366 <396 Rn. 51>; 142, 123 <189 Rn. 123>; 146, 216 <249 Rn. 45>; 154, 17 <85 Rn. 99>). Danach schließt Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG es im Anwendungsbereich des Art. 23 GG aus, die durch die Wahl bewirkte Legitimation von Staatsgewalt und Einflussnahme auf deren Ausübung durch die Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen des Deutschen Bundestages so zu entleeren, dass das demokratische Prinzip, soweit es in Art. 79 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG für unantastbar erklärt wird, verletzt wird (vgl. statt vieler BVerfGE 134, 366 <396 Rn. 51>; 135, 317 <386 Rn. 125>; 142, 123 <189 Rn. 123>; 146, 216 <249 Rn. 45>). Diese Rechtsprechung betrifft die inhaltliche Reichweite der Wahlentscheidung zu Bundestagswahlen, nicht hingegen die Auswahl der Repräsentanten. Zur Frage einer aus dem Demokratieprinzip abzuleitenden Notwendigkeit geschlechterbezogener Repräsentation verhält sie sich nicht (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 15. Dezember 2020 - 2 BvC 46/19 -, Rn. 82 m.w.N.). Dass hieraus für die Ebene des Landeswahlrechts anderes folgt, hat die Verfassungsbeschwerde weder behauptet noch aufgezeigt. 45 d) Die Möglichkeit einer im vorliegenden Verfahren rügefähigen Verletzung des Rechts auf Gleichberechtigung aus Art. 3 Abs. 2 GG zeigen die Beschwerdeführenden ebenfalls nicht in ausreichendem Umfang auf. 46 aa) Es fehlt insoweit schon an einer substantiierten Auseinandersetzung mit der Frage, ob der Grundsatz der getrennten Verfassungsräume des Bundes und der Länder der Überprüfung der Entscheidung des Thüringer Verfassungsgerichtshofs am Maßstab des Art. 3 Abs. 2 GG entgegensteht. Die Beschwerdeführenden sprechen zwar die Verfassungsautonomie des Landes Thüringen an. Sie beschränken sich insoweit jedoch auf die Feststellung, dass Art. 28 Abs. 1 GG zwar nur ein „gewisses Maß“ an Homogenität der Landesverfassungen und des Grundgesetzes vorsehe, die Auslegung der Thüringer Verfassung den gemäß Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 1 Abs. 3 GG unmittelbar bindenden Bestimmungen des Grundgesetzes aber nicht widersprechen dürfe. Zu der in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aufgeworfenen Frage, dass die Länder den subjektiven Wahlrechtsschutz bei politischen Wahlen in ihrem Verfassungsraum grundsätzlich allein und abschließend gewährleisten (vgl. BVerfGE 96, 231 <242>; 99, 1 <17>; siehe oben Rn. 33 ff.), verhalten sie sich aber nicht. 47 bb) Darüber hinaus kann den Darlegungen der Verfassungsbeschwerde auch ein aus Art. 3 Abs. 2 GG abzuleitendes Verfassungsgebot der paritätischen Ausgestaltung des Wahlvorschlagsrechts nicht entnommen werden (vgl. dazu BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 15. Dezember 2020 - 2 BvC 46/19 -, Rn. 84 ff.). 48 Die Beschwerdeführenden verweisen insoweit darauf, dass Art. 3 Abs. 2 GG sich auf die gesellschaftliche Wirklichkeit beziehe und den Schutz vor indirekten und unmittelbaren, auch faktischen Benachteiligungen umfasse. Die Norm finde daher auch Anwendung, wenn eine Regelung geschlechtsneutral formuliert sei und lediglich die tatsächlichen Auswirkungen zu einer strukturellen Benachteiligung von Frauen führten. In der Politik sei die strukturelle Benachteiligung von Frauen anerkannt. Dies gelte auch für Thüringen, wo überproportional viele Männer und zu wenig Frauen nominiert und in den Landtag gewählt würden. 49 Dieser Sachvortrag genügt nicht, um substantiiert darzulegen, dass Art. 3 Abs. 2 GG ein verfassungsrechtliches Gebot zur paritätischen Ausgestaltung des Wahlvorschlagsrechts beinhaltet, gegen das der Thüringer Verfassungsgerichtshof bei der Aufhebung des Paritätsgesetzes wegen dessen Unvereinbarkeit mit der Thüringer Landesverfassung verstoßen haben könnte. So erörtern die Beschwerdeführenden bereits nicht, dass der uneingeschränkten Anwendung von Art. 3 Abs. 2 GG im Wahlrecht Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG als lex specialis entgegenstehen könnte (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 15. Dezember 2020 - 2 BvC 46/19 -, Rn. 85 m.w.N.). Auch erscheint zweifelhaft, ob der Verweis auf die Unterrepräsentanz von Frauen in den Parlamenten bereits ausreicht, um von einer „strukturellen Benachteiligung von Frauen in der Politik“ ausgehen zu können (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 15. Dezember 2020 - 2 BvC 46/19 -, Rn. 88 ff.). Daneben wird nicht erörtert, ob Art. 3 Abs. 2 GG statt als Auftrag zur Herbeiführung einer mit einem paritätischen Wahlvorschlagsrecht verbundenen Ergebnisgleichheit lediglich als Gewährleistung tatsächlicher Chancengleichheit zu interpretieren ist (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 15. Dezember 2020 - 2 BvC 46/19 -, Rn. 93 f.). Außerdem setzen sich die Beschwerdeführenden nicht mit der Problematik auseinander, dass dem Gesetzgeber bei der Durchsetzung des Gleichstellungsauftrags aus Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG ein Gestaltungsspielraum zur Verfügung stehen könnte, dem eine Verengung des Regelungsgehalts der Norm auf eine verfassungsrechtliche Pflicht zum Erlass eines paritätischen Wahlvorschlagsrechts nicht Rechnung trüge (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 15. Dezember 2020 - 2 BvC 46/19 ,- Rn. 96 ff.). Auch insoweit ist die Verfassungsbeschwerde daher gemäß § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG unzureichend begründet. 50 e) Weiterhin ist dem Sachvortrag der Beschwerdeführenden ein Verstoß gegen das in Art. 3 Abs. 1 GG verankerte Willkürverbot nicht zu entnehmen. Selbst wenn die angegriffene Entscheidung einer Überprüfung an diesem Maßstab unterläge, ist nicht ersichtlich, dass die Feststellung der Nichtigkeit des Paritätsgesetzes durch den Thüringer Verfassungsgerichtshof und insbesondere dessen Auslegung von Art. 2 Abs. 2 ThürVerf als eine Norm, die nicht geeignet ist, die Einführung eines paritätischen Wahlvorschlagsrechts zu legitimieren, jeglichen sachlichen Grundes entbehrt. 51 aa) Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG liegt nur vor, wenn eine fehlerhafte Rechtsanwendung bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruht (vgl. BVerfGE 4, 1 <7>; 42, 64 <72 ff.>; 54, 117 <125>; 55, 72 <89 f.>; 58, 163 <167 f.>; 59, 128 <160 f.>; 62, 189 <192>; 70, 93 <97>; 80, 48 <51>; 81, 132 <137>). Das ist anhand objektiver Kriterien festzustellen (vgl. BVerfGE 42, 64 <73>; 58, 163 <167 f.>; 70, 93 <97>; 87, 273 <279>; 96, 189 <203>). Willkür liegt vor, wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt oder der Inhalt einer Norm in krasser Weise missdeutet wird. Von einer dermaßen willkürlichen Missdeutung kann jedoch nicht gesprochen werden, wenn das Gericht sich mit der Rechtslage eingehend auseinandersetzt und seine Auffassung nicht jedes sachlichen Grundes entbehrt (vgl. BVerfGE 87, 273 <279>; 89, 1 <14>; 96, 189 <203>). Die Auslegung eines Gesetzes ist willkürlich, wenn sie das gesetzgeberische Anliegen grundlegend verfehlt, indem dem Gesetz ein Sinn unterlegt wird, den der Gesetzgeber offensichtlich nicht hat verwirklichen wollen, den er nicht ausgedrückt hat und den das Gesetz auch nicht im Verlauf einer Rechtsentwicklung aufgrund gewandelter Anschauungen erhalten hat (vgl. BVerfGE 86, 59 <64>). 52 bb) Demgemäß ist ein Verstoß des Thüringer Verfassungsgerichtshofs gegen Art. 3 Abs. 1 GG durch die angegriffene Entscheidung weder von den Beschwerdeführenden substantiiert dargelegt noch in sonstiger Weise ersichtlich. 53 (1) Der Verfassungsgerichtshof geht zunächst davon aus, dass das Paritätsgesetz in die Grundsätze der Freiheit und Gleichheit der Wahl sowie der Freiheit und der Chancengleichheit der Parteien eingreift. Diese Annahme erscheint verfassungsrechtlich jedenfalls nicht von vornherein unhaltbar (vgl. dazu BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 15. Dezember 2020 - 2 BvC 46/19 -, Rn. 101 ff. m.w.N.). 54 (2) (a) Sodann sieht der Thüringer Verfassungsgerichtshof den Eingriff in die benannten Rechtsgüter als verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt an. Insbesondere vertritt er dabei die Auffassung, dass auch dem Thüringer Verfassungsrecht das (Gesamt-)Repräsentationsverständnis des Grundgesetzes zugrunde liege, dem eine paritätische „Spiegelung“ der Geschlechter im Parlament fremd sei, die Integrationsfunktion der Wahl ein paritätisches Wahlvorschlagsrecht nicht erfordere und das in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 ThürVerf verankerte Gleichstellungsgebot das Paritätsgesetz nicht zu rechtfertigen vermöge. Insoweit geht er davon aus, dass Art. 2 Abs. 2 Satz 2 ThürVerf in seinem Regelungsgehalt zwar über Art. 3 Abs. 2 GG hinausreicht, da die Norm „die tatsächliche Gleichstellung von Männern und Frauen“ verlange und nicht nur dazu verpflichte, diese zu fördern, sondern auch zu „sichern“. Auch sieht er die Regelung als grundsätzlich geeignet an, die Beeinträchtigung verfassungsrechtlich verbürgter Rechte zu rechtfertigen. Dem stehe insbesondere nicht entgegen, dass es sich bei Art. 2 Abs. 2 Satz 2 ThürVerf um eine Staatszielbestimmung handele, die kein subjektives Recht begründe. Gleichwohl vermöge Art. 2 Abs. 2 Satz 2 ThürVerf die Einführung einer paritätischen Quotierung bei der Aufstellung der Landesliste nicht zu legitimieren, da der Wortlaut dies offen lasse und aus der Entstehungsgeschichte der Norm zu folgern sei, dass der Verfassungsgeber sie nicht als Rechtfertigung für paritätische Quotenregelungen habe verstanden wissen wollen. 55 (b) Die Beschwerdeführenden haben nicht substantiiert dargelegt, dass diese Argumentation auf sachfremden Erwägungen beruht und der Thüringer Verfassungsgerichtshof insbesondere den Inhalt von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 ThürVerf in krasser Weise missdeutet hat. 56 (aa) Soweit die Beschwerdeführenden behaupten, bei der Auslegung von Art. 2 Abs. 2, Art. 46 Abs. 1 ThürVerf habe das sich aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG ergebende Verständnis der Wahlgleichheit im Sinne einer paritätischen Ausgestaltung der Wahllisten zugrunde gelegt werden müssen, bleibt außer Betracht, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung stets von einem strengen und formalen Verständnis der Wahlgleichheit ausgegangen ist (vgl. statt vieler BVerfGE 121, 266 <295>; 131, 316 <334>). Mit der Frage, warum dieses formale Verständnis der Wahlgleichheit durch ein materielles Verständnis zu ersetzen sei (vgl. dazu auch BVerfG, Beschluss vom 15. Dezember 2020 - 2 BvC 46/19 -, Rn. 55 ff.), hätten sich die Beschwerdeführenden ausführlich auseinandersetzen müssen. 57 (bb) Soweit die Beschwerdeführenden geltend machen, der Thüringer Verfassungsgerichtshof habe die sich aus Art. 3 Abs. 2 GG ergebende Verpflichtung zur paritätischen Ausgestaltung des Wahlrechts missachtet, ergibt sich aus dem Vorstehenden (siehe oben Rn. 45 ff.), dass die Beschwerdeführenden einen dahingehenden Regelungsgehalt der grundgesetzlichen Norm bereits nicht substantiiert ausgeführt haben. Eine willkürliche Missachtung der Bedeutung von Art. 3 Abs. 2 GG bei der Beurteilung des Paritätsgesetzes durch den Thüringer Verfassungsgerichtshof ist daher nicht dargelegt. 58 (cc) Schließlich haben die Beschwerdeführenden nicht dargetan, dass der Verfassungsgerichtshof den Inhalt von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 ThürVerf in krasser Weise missdeutet habe. Soweit er zu dem Ergebnis gelangt, dass Art. 2 Abs. 2 Satz 2 ThürVerf das Gebot paritätischer Ausgestaltung des Wahlvorschlagsrechts nicht beinhaltet, trägt der Vortrag der Beschwerdeführenden den Vorwurf willkürlicher Auslegung der Norm nicht. Dabei kann dahinstehen, dass der Entstehungsgeschichte einer Norm nur Bedeutung zukommt, soweit sie die Richtigkeit eines nach den sonstigen Auslegungsmethoden gefundenen Ergebnisses bestätigt (vgl. BVerfGE 119, 96 <179> m.w.N.) und grundsätzlich der Auslegung der Norm der objektivierte Wille des Gesetzgebers zugrunde zu legen ist (vgl. BVerfGE 133, 468 <205> m.w.N.). Der Thüringer Verfassungsgerichtshof ist vorliegend vom (objektiv ausgelegten) Wortlaut der Norm ausgegangen und hat diesen als unzureichend zur Rechtfertigung eines Eingriffs in die Wahlrechtsfreiheit und -gleichheit sowie die Chancengleichheit und Freiheit der Parteien angesehen. Anschließend hat er dargelegt, dass bei den Beratungen der Thüringer Landesverfassung mehrere, explizit auf die Herbeiführung der paritätischen Vertretung von Frauen und Männern in öffentlich-rechtlichen Beschluss- und Beratungsgremien gerichtete Änderungsanträge abgelehnt wurden, und dadurch das von ihm gefundene Auslegungsergebnis als bestätigt angesehen. Er hat sich damit eingehend mit der Rechtslage in Thüringen auseinandergesetzt und die Entstehungsgeschichte der Norm lediglich herangezogen, um das von ihm gefundene Auslegungsergebnis zu untermauern. Dass seine Auffassung jeglichen sachlichen Grundes entbehrt und nicht nachvollziehbar ist, haben die Beschwerdeführenden nicht aufzuzeigen vermocht. 59 f) Schließlich lässt der Sachvortrag der Beschwerdeführenden eine Verletzung der Garantie des gesetzlichen Richters gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht erkennen. Soweit sie die Notwendigkeit einer Divergenzvorlage nach „Art. 100 Abs. 1 Satz 2 oder Abs. 3 GG“ zur Klärung der Frage behaupten, ob Art. 2 Abs. 2 ThürVerf unabhängig von Art. 3 Abs. 2 GG ausgelegt werden dürfe, liegt dem die Vorstellung zugrunde, dass Art. 3 Abs. 2 GG ein auch bei Wahlen in den Ländern zu beachtendes Gebot paritätischer Ausgestaltung des Wahlvorschlagsrechts beinhaltet. Diese Auffassung ist aber – wie vorstehend dargelegt (s. oben Rn. 45 ff.) – nicht ausreichend substantiiert vorgetragen und daher zur Begründung einer Vorlageverpflichtung unzureichend. 60 Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen. 61 Diese Entscheidung ist unanfechtbar. König Müller Maidowski
bundesverfassungsgericht
25-2020
16. April 2020
Antrag auf Erlass einer Einstweiligen Anordnung gegen Versammlungsverbot teilweise erfolgreich Pressemitteilung Nr. 25/2020 vom 16. April 2020 Beschluss vom 15. April 20201 BvR 828/20 Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 1. Kammer des Ersten Senats einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Gießen und des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs in einem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gegen ein Versammlungsverbot teilweise stattgegeben und die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Beschwerdeführers gegen die Verfügung der Stadt Gießen insoweit wiederhergestellt, als danach die von dem Beschwerdeführer für den 16. und 17. April 2020 angemeldeten Versammlungen verboten wurden. Die Versammlungsbehörde hatte unzutreffend angenommen, die Verordnung der Hessischen Landesregierung zur Bekämpfung des Corona-Virus enthalte ein generelles Verbot von Versammlungen von mehr als zwei Personen, die nicht dem gleichen Hausstand angehören und daher die grundrechtlich geschützte Versammlungsfreiheit verletzt, weil sie nicht beachtet hat, dass zu deren Schutz ein Entscheidungsspielraum bestand. Die Stadt Gießen hat, wie die Kammer ausdrücklich entschieden hat, Gelegenheit, unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung der Kammer erneut darüber zu entscheiden, ob die Durchführung der vorgenannten Versammlungen von bestimmten Auflagen abhängig gemacht oder verboten wird. Sachverhalt: Der Beschwerdeführer meldete bei der Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens mehrere Versammlungen unter dem Motto „Gesundheit stärken statt Grundrechte schwächen – Schutz vor Viren, nicht vor Menschen“ an. Als vorgesehene Versammlungstermine wurden der 14., 15., 16. und 17. April 2020, jeweils von 14 bis 18 Uhr, genannt. Er gab eine ungefähre erwartete Teilnehmerzahl von 30 Personen an. Geplant waren jeweils eine circa zweistündige Auftaktkundgebung in Gießen am Berliner Platz sowie ein anschließender Aufzug durch mehrere Straßen mit drei jeweils 15-minütigen stationären Zwischenkundgebungen. Zugleich informierte der Beschwerdeführer die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens über beabsichtigte „Infektionsschutzmaßnahmen auf Grund der CoViD19-Pandemie (‚Corona-Kompatibilität‘)“. Die Versammlungsteilnehmer würden durch Hinweisschilder zur Einhaltung von Sicherheitsabständen angehalten und von Ordnern auf entsprechend markierte Startpositionen gelotst. Die Markierungen der Startpositionen befänden sich in einem Abstand von 10 Metern nach vorn und nach hinten und 6 Metern zur Seite. Sie würden jeweils von Einzelpersonen bzw. Wohngemeinschaften oder Familien eingenommen. Redebeiträge würden über das eigene Mobiltelefon des jeweiligen Redners zu einer Beschallungsanlage übertragen. Während des Aufzugs würden die vorgesehenen Abstände beibehalten und es werde darauf geachtet, dass neu hinzukommende Versammlungsteilnehmer sich hinten einreihten. Für Vorschläge zu weitergehenden Infektionsschutzmaßnahmen sei man dankbar; entsprechende Auflagen werde man befolgen. Die Versammlungen wurden mit Flyern und Aufrufen im Internet beworben. Nach einem Kooperationsgespräch verfügte die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens unter Anordnung der sofortigen Vollziehung ein auf § 15 Abs. 1 VersG gestütztes Verbot der Versammlungen. Bei Durchführung der Versammlungen seien die öffentliche Sicherheit und die öffentliche Ordnung unmittelbar gefährdet. Die Versammlungen würden gegen § 1 Abs. 1 der Verordnung der Hessischen Landesregierung zur Bekämpfung des Corona-Virus vom 14. März 2020 in der Fassung der Verordnung vom 30. März 2020 verstoßen. Der Beschwerdeführer erhob Widerspruch. Sein beim Verwaltungsgericht gestellter Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs blieb - auch in der Beschwerdeinstanz - erfolglos. Die Hessische Landesregierung und die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens haben am 15. April 2020 zu dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung durch das Bundesverfassungsgericht Stellung genommen. Wesentliche Erwägungen der Kammer: Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben. Allerdings können die Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde dann maßgeblich werden, wenn verwaltungsgerichtliche Beschlüsse betroffen sind, die im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ergangen sind und die Entscheidung in der Hauptsache vorwegnehmen, insbesondere wenn die behauptete Rechtsverletzung bei Verweigerung einstweiligen Rechtsschutzes nicht mehr rückgängig gemacht werden könnte, die Entscheidung in der Hauptsache also zu spät käme. Dementsprechend sind die im Eilrechtsschutzverfahren erkennbaren Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde zu berücksichtigen, wenn aus Anlass eines Versammlungsverbots über einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz zur Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs zu entscheiden ist und ein Abwarten bis zum Abschluss des Verfassungsbeschwerdeverfahrens oder des Hauptsacheverfahrens den Versammlungszweck mit hoher Wahrscheinlichkeit vereitelte. Ausgehend davon ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung geboten, weil die Verbotsverfügung der Antragsgegnerin den Antragsteller offensichtlich in seinem Grundrecht aus Art. 8 GG verletzt. Art. 8 Abs. 1 GG gewährleistet für alle Deutschen das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln. Nach Art. 8 Abs. 2 GG kann dieses Recht für Versammlungen unter freiem Himmel durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden. Die Verordnung der Hessischen Landesregierung zur Bekämpfung des Corona-Virus enthält jedenfalls kein generelles Verbot von Versammlungen unter freiem Himmel für mehr als zwei nicht dem gleichen Hausstand angehörige Personen. In diesem Sinne hat sich auch die Hessische Landesregierung in ihrer Stellungnahme vom 15. April 2020 eingelassen. Demgegenüber nimmt die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens an, der Verordnungsgeber habe „auch bewusst öffentliche Versammlungen nach dem Versammlungsgesetz unterbinden“ wollen. Sie ist in ihrer Verbotsverfügung erkennbar jedenfalls von einem generellen Verbot von Versammlungen von mehr als zwei Personen ausgegangen, die nicht dem gleichen Hausstand angehören. Auf der Grundlage dieser unzutreffenden Einschätzung hat die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens Art. 8 Abs. 1 GG verletzt, weil sie verkannt hat, dass § 1 der Verordnung der Versammlungsbehörde für die Ausübung des durch § 15 Abs. 1 VersG eingeräumten Ermessens gerade auch zur Berücksichtigung der grundrechtlich geschützten Versammlungsfreiheit einen Entscheidungsspielraum lässt. Der Bedeutung und Tragweite des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 8 Abs. 1 GG konnte sie schon deshalb von vornherein nicht angemessen Rechnung tragen. Darüber hinaus wird die Entscheidung der Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens den verfassungsrechtlichen Maßgaben des Art. 8 Abs. 1 GG auch deshalb nicht gerecht, weil sie über die Vereinbarkeit der Versammlung mit § 1 der Hessischen Verordnung nicht unter hinreichender Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls entschieden hat. Die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens macht überwiegend Bedenken geltend, die jeder Versammlung entgegengehalten werden müssten, und lässt auch damit die zur Berücksichtigung von Art. 8 Abs. 1 GG bestehenden Spielräume des § 1 der Verordnung leerlaufen.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT - 1 BvR 828/20 - In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Herrn T…, - Bevollmächtigter: , gegen a) den Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 14. April 2020 - 2 B 985/20 -, b) den Beschluss des Verwaltungsgerichts Gießen vom 9. April 2020 - 4 L 1479/20.GI -, h i e r:   Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Vizepräsidenten Harbarth, die Richterin Britz und den Richter Radtke gemäß § 32 Abs. 1 in Verbindung mit § 93d Abs. 2 BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 15. April 2020 einstimmig beschlossen: Dem Beschwerdeführer wird für das Verfahren über die einstweilige Anordnung Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt und Rechtsanwalt D… aus S… beigeordnet. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Beschwerdeführers gegen die Verfügung der Stadt Gießen vom 8. April 2020 - 32 21 00/Ha/Dr - wird wiederhergestellt, soweit danach die von dem Beschwerdeführer unter dem 4. April 2020 für den 16. und 17. April 2020 angemeldeten Versammlungen verboten sind. Die Stadt Gießen erhält Gelegenheit, unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung der Kammer nach pflichtgemäßem Ermessen erneut darüber zu entscheiden, ob die Durchführung der vorgenannten Versammlungen gemäß § 15 Abs. 1 des Versammlungsgesetzes von bestimmten Auflagen abhängig gemacht oder verboten wird. Im Übrigen wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt. G r ü n d e : I. 1 Der Beschwerdeführer wendet sich mit seiner mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbundenen Verfassungsbeschwerde gegen Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Gießen und des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs in einem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gegen ein Versammlungsverbot. 2 Der Beschwerdeführer meldete mit Schreiben vom 4. April 2020 bei der Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens mehrere Versammlungen unter dem Motto „Gesundheit stärken statt Grundrechte schwächen – Schutz vor Viren, nicht vor Menschen“ an. Als vorgesehene Versammlungstermine wurden der 14., 15., 16. und 17. April 2020, jeweils von 14 bis 18 Uhr, genannt. Er gab eine ungefähre erwartete Teilnehmerzahl von 30 Personen an. Geplant waren jeweils eine ca. zweistündige Auftaktkundgebung in Gießen am Berliner Platz sowie ein anschließender Aufzug durch mehrere Straßen mit drei jeweils 15-minütigen stationären Zwischenkundgebungen. Zugleich informierte der Beschwerdeführer die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens über beabsichtigte „Infektionsschutzmaßnahmen auf Grund der CoViD19-Pandemie (‚Corona-Kompatibilität‘)“. Die Versammlungsteilnehmer würden durch Hinweisschilder zur Einhaltung von Sicherheitsabständen angehalten und von Ordnern auf entsprechend markierte Startpositionen gelotst. Die Markierungen der Startpositionen befänden sich in einem Abstand von 10 Metern nach vorn und nach hinten und 6 Metern zur Seite. Sie würden jeweils von Einzelpersonen bzw. Wohngemeinschaften oder Familien eingenommen. Redebeiträge würden über das eigene Mobiltelefon des jeweiligen Redners zu einer Beschallungsanlage übertragen. Während des Aufzugs würden die vorgesehenen Abstände beibehalten und es werde darauf geachtet, dass neu hinzukommende Versammlungsteilnehmer sich hinten einreihten. Für Vorschläge zu weitergehenden Infektionsschutzmaßnahmen sei man dankbar; entsprechende Auflagen werde man befolgen. Die Versammlungen wurden mit Flyern und Aufrufen im Internet beworben. 3 Nach einem Kooperationsgespräch verfügte die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens durch Bescheid vom 8. April 2020 unter Anordnung der sofortigen Vollziehung ein auf § 15 Abs. 1 VersG gestütztes Verbot der Versammlungen. Bei Durchführung der Versammlungen seien die öffentliche Sicherheit und die öffentliche Ordnung unmittelbar gefährdet. Die Versammlungen würden gegen § 1 Abs. 1 der Verordnung der Hessischen Landesregierung zur Bekämpfung des Corona-Virus vom 14. März 2020 in der Fassung der Verordnung vom 30. März 2020 verstoßen. Danach seien die Kontakte zu anderen Menschen außerhalb des eigenen Hausstandes auf das absolut notwendige Minimum zu reduzieren. Der Aufenthalt in der Öffentlichkeit sei nur noch mit einer weiteren, nicht dem eigenen Hausstand angehörigen Person gestattet. Bei – zufälligen – Begegnungen mit anderen Personen sei ein Mindestabstand von 1,5 Metern einzuhalten. Öffentliche Verhaltensweisen, die geeignet seien, das Abstandsgebot zu gefährden, seien unabhängig von der Personenzahl untersagt. Zu den danach verbotenen Verhaltensweisen zähle auch die Durchführung einer öffentlichen Versammlung. Erfahrungsgemäß würden bei Versammlungen aller Art Mindestabstände nicht eingehalten. Dies könne auch der Beschwerdeführer nicht sicherstellen. Eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Ordnung ergebe sich daraus, dass die Versammlungen von der Mehrheit der Stadtbevölkerung, die sich zu einem ganz überwiegenden Teil an die Corona-Verordnungen des Landes halte, als Provokation empfunden würden. 4 Der Beschwerdeführer erhob Widerspruch. Sein bei dem Verwaltungsgericht Gießen gestellter Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs blieb erfolglos. Seine hiergegen gerichtete Beschwerde wies der Hessische Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 14. April 2020 zurück. 5 Der Beschwerdeführer hat am 14. April 2020 Verfassungsbeschwerde erhoben. Zugleich beantragt er sinngemäß, durch einstweilige Anordnung gemäß § 32 Abs. 1 BVerfGG die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs – gegebenenfalls unter Auflagen – wiederherzustellen. 6 Die Hessische Landesregierung und die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens haben am 15. April 2020 zu dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung Stellung genommen. II. 7 Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. 8 1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben. Der Antrag auf Eilrechtsschutz hat jedoch keinen Erfolg, wenn eine Verfassungsbeschwerde unzulässig oder offensichtlich unbegründet wäre (vgl. BVerfGE 7, 367 <371>; 134, 138 <140 Rn. 6>; stRspr). Das ist vorliegend nicht der Fall. 9 Die Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde können ferner maßgeblich werden, wenn verwaltungsgerichtliche Beschlüsse betroffen sind, die im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ergangen sind und die Entscheidung in der Hauptsache vorwegnehmen, insbesondere wenn die behauptete Rechtsverletzung bei Verweigerung einstweiligen Rechtsschutzes nicht mehr rückgängig gemacht werden könnte, die Entscheidung in der Hauptsache also zu spät käme. Blieben in solchen Fällen die im Zeitpunkt der Eilentscheidung erkennbaren Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde gegen die verwaltungsgerichtliche Eilentscheidung außer Ansatz, würde sich bei der Folgenabwägung das Rechtsgut durchsetzen, das gewichtiger oder dessen behauptete Gefährdung intensiver als das kollidierende ist, selbst wenn schon die im Eilrechtsschutzverfahren mögliche Prüfung ergibt, dass die rechtlichen Voraussetzungen für seinen Schutz offensichtlich nicht gegeben sind. Dies widerspräche der Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, die Beachtung der Grundrechte im Verfahren der Verfassungsbeschwerde zu sichern (BVerfGE 111, 147 <153> m.w.N.>). 10 Dementsprechend sind die im Eilrechtsschutzverfahren erkennbaren Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde zu berücksichtigen, wenn aus Anlass eines Versammlungsverbots über einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz zur Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs zu entscheiden ist und ein Abwarten bis zum Abschluss des Verfassungsbeschwerdeverfahrens oder des Hauptsacheverfahrens den Versammlungszweck mit hoher Wahrscheinlichkeit vereitelte. Ergibt die Prüfung im Eilrechtsschutzverfahren, dass eine Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet wäre, läge in der Nichtgewährung von Rechtsschutz der schwere Nachteil für das gemeine Wohl im Sinne des § 32 Abs. 1 BVerfGG (BVerfGE 111, 147 <153>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 24. März 2018 - 1 BvQ 18/18 -, juris, Rn. 5). 11 2. Ausgehend davon ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang geboten, weil die Verbotsverfügung der Antragsgegnerin vom 8. April 2020 den Antragsteller offensichtlich in seinem Grundrecht aus Art. 8 GG verletzt. 12 Art. 8 Abs. 1 GG gewährleistet für alle Deutschen das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln. Nach Art. 8 Abs. 2 GG kann dieses Recht für Versammlungen unter freiem Himmel durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden. Die Verordnung der Hessischen Landesregierung zur Bekämpfung des Corona-Virus vom 14. März 2020 in der Fassung der Verordnung vom 30. März 2020 enthält jedenfalls kein generelles Verbot von Versammlungen unter freiem Himmel für mehr als zwei nicht dem gleichen Hausstand angehörige Personen. In diesem Sinne hat sich auch die Hessische Landesregierung in ihrer Stellungnahme vom 15. April 2020 eingelassen. Demgegenüber nimmt die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens an, der Verordnungsgeber habe „auch bewusst öffentliche Versammlungen nach dem Versammlungsgesetz unterbinden“ wollen. Sie ist in ihrer Verbotsverfügung erkennbar jedenfalls von einem generellen Verbot von Versammlungen von mehr als zwei Personen ausgegangen, die nicht dem gleichen Hausstand angehören. Diese Sicht wird besonders deutlich auf Seite 3 der Verbotsverfügung, wonach zu den nach der Verordnung verbotenen Verhaltensweisen „auch die Durchführung einer öffentlichen Versammlung nach dem VersG“ zähle, wobei dahinstehen kann, ob sie mit dieser Erwägung sogar von einem Totalverbot von Versammlungen, also auch solcher von nur zwei Personen oder von dem gleichen Hausstand angehörigen Personen, ausgegangen ist. Auch in ihrer Stellungnahme von 15. April 2020 geht die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens weiterhin von einem generellen Verbot von Versammlungen von mehr als zwei Personen aus, soweit diese nicht dem gleichen Hausstand angehören. 13 Auf der Grundlage dieser unzutreffenden Einschätzung hat die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens Art. 8 Abs. 1 GG verletzt, weil sie verkannt hat, dass § 1 der Verordnung der Versammlungsbehörde für die Ausübung des durch § 15 Abs. 1 VersG eingeräumten Ermessens gerade auch zur Berücksichtigung der grundrechtlich geschützten Versammlungsfreiheit einen Entscheidungsspielraum lässt. Der Bedeutung und Tragweite des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 8 Abs. 1 GG konnte sie schon deshalb von vornherein nicht angemessen Rechnung tragen. 14 Darüber hinaus wird die Entscheidung der Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens den verfassungsrechtlichen Maßgaben des Art. 8 Abs. 1 GG auch deshalb nicht gerecht, weil sie über die Vereinbarkeit der Versammlung mit § 1 der Hessischen Verordnung nicht unter hinreichender Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls entschieden hat. Die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens macht überwiegend Bedenken geltend, die jeder Versammlung entgegengehalten werden müssten und lässt auch damit die zur Berücksichtigung von Art. 8 Abs. 1 GG bestehenden Spielräume des § 1 der Verordnung leerlaufen. 15 3. Die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens ist nicht gehindert, erneut nach pflichtgemäßem Ermessen unter Beachtung der Bedeutung und Tragweite von Art. 8 GG darüber zu entscheiden, ob die Durchführung der angemeldeten Versammlungen an den noch bevorstehenden Terminen gemäß § 15 Abs. 1 VersG von bestimmten Auflagen abhängig gemacht oder, sofern sich diese als unzureichend darstellen sollten, verboten wird. 16 4. Dem Antrag des Beschwerdeführers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwalt D… aus S… ist für das Verfahren auf einstweilige Anordnung zu entsprechen. 17 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist im Verfahren über eine Verfassungsbeschwerde die Bewilligung von Prozesskostenhilfe an den Beschwerdeführer entsprechend §§ 114 ff. ZPO zulässig (vgl. BVerfGE 1, 109 <110 ff.>; 1, 415 <416>; 79, 252 <253>; 92, 122 <123>). Eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen kann, erhält gemäß § 114 Satz 1 ZPO auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. 18 So liegt es hier. Insbesondere ist der Beschwerdeführer ausweislich seiner Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht zur Aufbringung der Kosten der Prozessführung durch Beauftragung eines Rechtsanwalts in der Lage. 19 Diese Entscheidung ist unanfechtbar. Harbarth Britz Radtke
bundesverfassungsgericht
11-2019
7. Februar 2019
Erfolgloser Eilantrag gegen die testweise Datenübermittlung für den Zensus 2021 Pressemitteilung Nr. 11/2019 vom 7. Februar 2019 Beschluss vom 06. Februar 20191 BvQ 4/19 Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt, der darauf gerichtet war, § 9a ZensVorbG 2021 und die danach seit dem 14. Januar 2019 vorgenommene Übermittlung personenbezogener Daten an das Statistische Bundesamt zur Vorbereitung des Zensus 2021 außer Kraft zu setzen. Nach dieser Vorschrift werden seit dem 14. Januar 2019 testweise bestimmte personenbezogene Daten aus allen Melderegistern an das Statistische Bundesamt übermittelt, damit dieses in Vorbereitung des Zensus 2021 die Übermittlungswege und die Qualität der für den Zensus 2021 zu übermittelnden Daten aus den Melderegistern prüfen und die Programme für die Durchführung des Zensus weiterentwickeln kann. Die Kammer entschied, dass eine gegebenenfalls noch zu erhebende Verfassungsbeschwerde zwar nicht offensichtlich unzulässig oder unbegründet wäre. Im Rahmen einer für den Erlass einer einstweiligen Anordnung gebotenen Folgenabwägung überwiegen die Nachteile, die durch die testweise Übermittlung der Daten eintreten, jedoch nicht mit der für die Außerkraftsetzung eines Gesetzes erforderlichen Deutlichkeit gegenüber dem Gewicht, das der Gesetzgeber einer guten Vorbereitung der Durchführung des Zensus 2021 beilegen durfte. Sachverhalt: Die Bundesrepublik Deutschland ist verpflichtet, der Europäischen Kommission für das Bezugsjahr 2021 statistische Daten für eine geplante Volkszählung zu übermitteln. Zum Zweck der Prüfung der Übermittlungswege und der Qualität der hierfür zu übermittelnden Daten aus den Melderegistern sowie zum Test und zur Weiterentwicklung der Programme für die Durchführung des Zensus 2021 sieht § 9a des Zensusvorbereitungsgesetzes 2021 - beginnend am 14. Januar 2019 - eine zentrale Erfassung, Speicherung und Verarbeitung der nicht anonymisierten Meldedaten aller zum 13. Januar 2019 gemeldeter Personen durch das Statistische Bundesamt vor. Die übermittelten Daten sind nicht anonymisiert und umfassen neben Name und Wohnanschrift, Geschlecht, Staatsangehörigkeit und Familienstand u.a. auch die Zugehörigkeit zu öffentlich-rechtlichen Religionsgesellschaften. Eine Speicherung ist für einen Zeitraum von bis zu zwei Jahren nach dem Stichtag vorgesehen; eine Verarbeitung der Daten zu anderen Zwecken als der Prüfung der Übermittlungswege, der Prüfung der Datenqualität und dem Test und der Weiterentwicklung der Programme für die Durchführung des Zensus 2021 ist ausgeschlossen. Die Antragsteller machen eine Verletzung ihres Rechts auf informationelle Selbstbestimmung geltend. Die Übermittlung der nicht anonymisierten Daten lasse Rückschlüsse auf den Kernbereich der privaten Lebensführung zu. Dies stehe außer Verhältnis zum Nutzen einer Erprobung und Optimierung der bereits weitgehend erprobten Übermittlungswege und Programme, zumal der Zweck der Übermittlung auch durch eine Übermittlung anonymisierter Daten - gegebenenfalls ergänzt um nicht anonymisierte Stichproben in geringem Umfang - in vergleichbarer Weise erreicht werden könne. Wesentliche Erwägungen der Kammer: Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist auf Grundlage einer Folgenabwägung abzulehnen. Das Bundesverfassungsgericht kann einen Zustand durch eine einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Der Ausgang einer gegebenenfalls noch zu erhebenden Verfassungsbeschwerde ist offen. Sie ist weder offensichtlich unzulässig noch unbegründet, da in der Kürze der Zeit beispielsweise nicht abschließend geklärt werden konnte, ob für den Testdurchlauf nicht auch geringere Datenmengen oder eine begrenztere Übermittlung oder Speicherung ausreichend gewesen wäre. Das Bundesverfassungsgericht hat daher auf Grundlage einer Folgenabwägung zu entscheiden. Dabei hat es die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung erginge, die Verfassungsbeschwerde jedoch erfolglos wäre, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung abgelehnt würde, die Verfassungsbeschwerde letztlich aber Erfolg hätte. Wird - wie vorliegend - die Aussetzung des Vollzugs eines Gesetzes begehrt, ist wegen des Eingriffs in die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers ein besonders strenger Maßstab an die Folgenabwägung anzulegen. Ergeht die einstweilige Anordnung nicht, hätte eine potentielle Verfassungsbeschwerde aber Erfolg, würden alle Daten der Beschwerdeführer für die Testzwecke zusammengeführt, obwohl dies nicht erforderlich und damit unverhältnismäßig wäre. Angesichts der eng begrenzten Verwendungszwecke und der strengen Vorgaben der Geheimhaltung überwiegt der Nachteil einer möglicherweise unverhältnismäßigen Speicherung nicht mit der erforderlichen Deutlichkeit gegenüber dem Interesse daran, durch einen Testlauf eine reibungslose Durchführung des Zensus 2021 zu ermöglichen. Die Behörden dürfen die Daten nur zur Vorbereitung des Zensus nutzen. An den Inhalt der Daten selbst dürfen sie hierfür nicht anknüpfen und an ihm haben sie auch keinerlei Interesse. Demgegenüber ist nach dem bei vorläufiger Betrachtung nicht unplausibel erscheinenden Vortrag des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat der Probedurchlauf mit nicht anonymisierten Daten aller Meldebehörden erforderlich, um die Qualität der Merkmale und der Programme effektiv überprüfen zu können.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT - 1 BvQ 4/19 - In dem Verfahren über den Antrag, im Wege der einstweiligen Anordnung § 9a des Gesetzes zur Vorbereitung eines registergestützten Zensus einschließlich einer Gebäude- und Wohnungszählung 2021 (Zensusvorbereitungsgesetz 2021 - ZensVorbG 2021) in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Zensusvorbereitungsgesetzes 2021 und Zweiten Dopingopfer-Hilfegesetzes sowie Bundesbesoldungsgesetzes vom 27. November 2018 (BGBl I S. 2010) bis zur Entscheidung in der Hauptsache über die diesbezügliche Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, außer Vollzug zu setzen, hilfsweise § 9a des Gesetzes zur Vorbereitung eines registergestützten Zensus einschließlich einer Gebäude- und Wohnungszählung 2021 (Zensusvorbereitungsgesetz 2021 - ZensVorbG 2021) in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Zensusvorbereitungsgesetzes 2021 und Zweiten Dopingopfer-Hilfegesetzes sowie Bundesbesoldungsgesetzes vom 27. November 2018 (BGBl I S. 2010) bis zur Entscheidung in der Hauptsache über die diesbezügliche Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, nur unter folgenden Maßgaben anzuwenden: Die nach Absatz 2 bis 4 übermittelten Daten sind bis auf eine Stichprobe zu anonymisieren oder pseudonymisieren, wobei die Stichprobe aus den jeweiligen Datenbeständen der nach Landesrecht für das Meldewesen zuständigen Stellen nicht mehr als 1 % des Gesamtbestands betragen darf. Antragsteller:  1.H…, 2.R…, 3.E…, 4.S…, 5.S…, - Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Benjamin Derin, Gneisenaustraße 83, 10961 Berlin - hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Richter Masing, Paulus, Christ gemäß § 32 Abs. 1 in Verbindung mit § 93d Abs. 2 BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 6. Februar 2019 einstimmig beschlossen: Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt. G r ü n d e : A. 1 Der Antrag ist darauf gerichtet, den Vollzug des durch Art. 1 des Gesetzes zur Änderung des Zensusvorbereitungsgesetzes 2021 und Zweiten Dopingopfer-Hilfegesetzes sowie Bundesbesoldungsgesetzes vom 27. November 2018 (BGBl I S. 2010) in das Zensusvorbereitungsgesetz (ZensVorbG 2021) eingefügten § 9a ZensVorbG 2021 im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung durch das Bundesverfassungsgericht (§ 32 BVerfGG) außer Kraft zu setzen. I. 2 Nach der Verordnung (EG) Nr. 763/2008 in Verbindung mit der Verordnung (EU) Nr. 2017/712 ist die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet, der Europäischen Kommission für das Bezugsjahr 2021 statistische Daten und Metadaten für die Volks- und Wohnungszählung zu übermitteln. Zu diesem Zweck sieht § 9a ZensVorbG 2021, der mit Art. 1 des Gesetzes zur Änderung des Zensusvorbereitungsgesetzes 2021 und Zweiten Dopingopfer-Hilfegesetzes sowie Bundesbesoldungsgesetzes vom 27. November 2018 (BGBl I S. 2010) in das Zensusvorbereitungsgesetz eingefügt wurde, eine ab dem 14. Januar 2019 durchzuführende Pilotdatenübermittlung durch die nach Landesrecht für das Meldewesen zuständigen Behörden und die statistischen Landesämter an das Statistische Bundesamt vor, die eine Prüfung der Übermittlungswege und der Qualität der zum Zensus 2021 zu übermittelnden Daten aus den Melderegistern sowie den Test und die Weiterentwicklung der Programme für die Durchführung des Zensus 2021 ermöglichen soll (§ 9a Abs. 1 Sätze 1 und 2, Abs. 2 Satz 2 ZensVorbG 2021). Diese umfasst die nicht anonymisierten oder pseudonymisierten Meldedaten der in § 9a Abs. 1 Satz 2 ZensVorbG 2021 genannten Personen mit den in § 9a Abs. 2 bis 4 ZensVorbG 2021 genannten Merkmalen, die neben Namen und Wohnanschriften unter anderem auch Geschlecht, Staatsangehörigkeiten, Familienstand und die Zugehörigkeit zu öffentlich-rechtlichen Religionsgesellschaften einschließen. Eine Verarbeitung der Daten zu anderen als den in § 9a Abs. 1 Satz 1 ZensVorbG 2021 genannten Zwecken ist ausgeschlossen (§ 9a Abs. 5 Satz 3 ZensVorbG 2021). Die Daten sind nach § 9a Abs. 6 ZensVorbG 2021 unverzüglich zu löschen, soweit sie nicht mehr erforderlich sind, spätestens jedoch zwei Jahre nach dem Stichtag des 13. Januar 2019. Nach der Gesetzesbegründung geht der Gesetzgeber davon aus, dass die Höchstspeicherfrist von zwei Jahren im Hinblick auf alle übermittelten Daten ausgeschöpft werden muss, um ausreichend Zeit für den Test und die Weiterentwicklung der Programme zur Verfügung zu stellen (BRDrucks 206/18, S. 15). II. 3 1. Die Antragsteller werden an ihren Wohnorten im Melderegister geführt. Sie sind der Ansicht, dass der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung schon deswegen begründet sei, weil eine noch zu erhebende Verfassungsbeschwerde gegen § 9a ZensVorbG 2021 offensichtlich begründet sei. Jedenfalls aber überwiege das Interesse an der vorläufigen Aussetzung beziehungsweise Einschränkung der Datenübermittlung gegenüber dem staatlichen Vollzugsinteresse. 4 § 9a ZensVorbG 2021 verletze die Antragsteller in ihrem Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG, da er einen flächendeckenden und intensiven Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung begründe, der nicht durch die Gesetzeszwecke gerechtfertigt sei. So sei schon der Erforderlichkeitsgrundsatz in Verbindung mit dem Gebot der möglichst frühzeitigen Anonymisierung verletzt, da für die Überprüfung der Übermittlungswege eine Übermittlung anonymisierter, pseudonymisierter oder unechter Daten ausreiche und für die Zwecke der Prüfung der Datenqualität und der Programmentwicklung eine nicht anonymisierte Stichprobe genüge. Soweit die Gesetzesbegründung die Verwendung nicht anonymisierter Daten für notwendig erachte, enthalte sie keine Begründung, wieso eine hinreichend große Stichprobe hierfür nicht ausreiche. Jedenfalls sei eine nicht anonymisierte Vollerhebung unverhältnismäßig, weil die Summe der übermittelten und gespeicherten Merkmale Rückschlüsse über Lebenslauf, Wohnsituation, Migrationshintergrund, Partnerschaft, familiäre Verhältnisse und sozialen Status erlaube und gegebenenfalls Einblicke in den Kernbereich der privaten Lebensgestaltung im Hinblick auf sexuelle Orientierung, eheliche Gemeinschaft, Familienleben und religiöse Bekenntnisse ermögliche. Die hiermit verbundene Eingriffstiefe stehe außer Verhältnis zum Nutzen einer Erprobung und Optimierung der bereits weitgehend erprobten Übermittlungswege und Programme. Mit einer Speicherung der nicht anonymisierten Daten über einen Zeitraum von bis zu zwei Jahren würden diese nicht nur dem Zugriff einer Vielzahl von Behördenmitarbeitern und externen Dienstleistern zugänglich, sondern auch einem Risiko eines illegalen Zugriffs durch Dritte ausgesetzt. 5 Jedenfalls aber überwiege das Interesse an der vorläufigen Aussetzung oder Einschränkung der Datenübermittlung gegenüber dem staatlichen Vollzugsinteresse, da bei einer nicht anonymisierten Datenübermittlung irreparable Nachteile für alle melderechtlich erfassten Personen entstünden, wohingegen ein Probedurchlauf gegebenenfalls auch zu einem späteren Zeitpunkt oder in einem reduzierten Umfang möglich beziehungsweise für eine ordnungsgemäße Durchführung des Zensus 2021 nicht unverzichtbar sei. 6 2. Zum Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung haben das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat und der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit Stellung genommen. B. 7 Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist abzulehnen. 8 Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erwiese sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 112, 284 <291>; 121, 1 <14 f.>; stRspr). Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht auf Grundlage einer Folgenabwägung entscheiden (vgl. BVerfGE 117, 126 <135>; 121, 1 <17>; stRspr). 9 1. Eine gegebenenfalls noch zu erhebende Verfassungsbeschwerde wäre nach derzeitigem Erkenntnisstand nicht offensichtlich unzulässig oder unbegründet. So ist schon im Gesetzgebungsverfahren zum Teil umstritten geblieben, ob und in welchem Umfang eine zentrale Analyse und Speicherung der nicht anonymisierten oder pseudonymisierten Meldedaten zum Zweck der Erreichung der mit der Pilotdatenlieferung verfolgten Zwecke erforderlich ist (vgl. BTDrucks 206/18, S. 7 ff., 14 f. sowie BT-Plenarprotokoll 19/58, S. 6564A mit BT-Plenarprotokoll 19/52, S. 5609AB, S. 5610BC, S. 5612A - 5613A und BT-Plenarprotokoll 19/58, S. 6565BC, S. 6566B - 6567A, S. 6567B, S. 6568A - D). Auch der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit hat bis zuletzt Bedenken gegenüber der durchgehenden Verwendung von Klardaten in dem durch § 9a ZensVorbG 2021 legitimierten Testdurchlauf angemeldet, während das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat diese als zur Erreichung der Gesetzeszwecke unerlässlich ansieht. Insoweit wird sich in einem gegebenenfalls durchzuführenden Hauptsacheverfahren insbesondere die Frage stellen, ob die vom Gesetzgeber verfolgten Zwecke auch durch eine in Umfang, Form oder begrenzte Datenübermittlung und -speicherung gleichermaßen erreicht werden könnten. Auch wird zu fragen sein, welcher Mehrwert einer Verwendung der vollständigen Echtdaten im Vergleich zu einer begrenzteren Datenübermittlung - etwa in Form einer Beschränkung auf einzelne Merkmale oder einer Verwendung anonymisierter Datensätze, die gegebenenfalls durch nicht anonymisierte Stichproben ergänzt werden könnten - zukommt und ob dieser in einem angemessenen Verhältnis zum Eingriffsgewicht steht. Diese Fragen bedürfen näherer Aufklärung und können vorliegend nicht in der für das Eilverfahren gebotenen Kürze der Zeit geklärt werden. 10 2. Im Rahmen der demnach gebotenen Folgenabwägung muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 117, 126 <135>; 121, 1 <17>; stRspr). 11 Wird die Aussetzung des Vollzugs eines Gesetzes begehrt, ist bei der Folgenabwägung ein besonders strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 3, 41 <44>; 104, 51 <55>; 112, 284 <292>; 121, 1 <17>; stRspr). Das Bundesverfassungsgericht darf von seiner Befugnis, den Vollzug eines in Kraft getretenen Gesetzes auszusetzen, nur mit größter Zurückhaltung Gebrauch machen, da der Erlass einer solchen einstweiligen Anordnung stets ein erheblicher Eingriff in die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers ist (vgl. BVerfGE 64, 67 <69>; 117, 126 <135>; 121, 1 <17>; 140, 211 <219>). Müssen die für eine vorläufige Regelung sprechenden Gründe schon im Regelfall so schwer wiegen, dass sie den Erlass einer einstweiligen Anordnung unabdingbar machen, so müssen sie im Fall der begehrten Außervollzugsetzung eines Gesetzes darüber hinaus besonderes Gewicht haben (vgl. BVerfGE 104, 23 <27 f.>; 117, 126 <135>; 122, 342 <361 f.>; stRspr). Insoweit ist von entscheidender Bedeutung, ob die Nachteile irreversibel oder nur sehr erschwert revidierbar sind (vgl. BVerfGE 91, 70 <76 f.>; 118, 111 <123>; 140, 211 <219 f.>), um das Aussetzungsinteresse durchschlagen zu lassen. 12 Bei Anwendung dieser Maßstäbe scheidet eine Aussetzung der Pilotlieferung nach § 9a ZensVorbG 2021 im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung durch das Bundesverfassungsgericht aus. 13 a) Ergeht eine einstweilige Anordnung nicht, hätte die noch zu erhebende Verfassungsbeschwerde aber Erfolg, so würden die Daten der Antragsteller sowie aller melderechtlich erfassten Personen zu Unrecht in nicht anonymisierter Form zusammengeführt und für die gesetzlich vorgesehenen Zwecke genutzt, obwohl dies für deren Erfüllung nicht erforderlich oder sonst unverhältnismäßig wäre. 14 In einer solchen zweckändernden Übermittlung der in § 9a Abs. 2 bis 4 ZensVorbG 2021 genannten personenbezogenen Merkmale aller zum maßgeblichen Stichtag melderechtlich erfassten Personen liegt allerdings nicht nur aufgrund der Streubreite und Anlasslosigkeit der Maßnahme ein erheblicher Grundrechtseingriff. So trägt die nicht anonymisierte oder pseudonymisierte Weitergabe und Sammlung von Merkmalen wie Geschlecht, Staatsangehörigkeit, Familienstand oder die Zugehörigkeit zu einer öffentlich-rechtlichen Religionsgesellschaft in Verbindung mit personenbezogenen Angaben über Ehegatten, Lebenspartner und minderjährige Kinder oder gesetzliche Vertreter das Potential in sich, einzelne Lebensbereiche des Betroffen abzubilden und in vielgestaltiger Weise für eine weitere Verknüpfung und Verwendung zu erschließen (vgl. BVerfGE 65, 1 <44 f., 53>). Dies gilt umso mehr, als sich der Gesetzgeber zur Erreichung der in § 9a Abs. 1 Satz 1 ZensVorbG 2021 genannten Zwecke bewusst gegen eine im Kontext statistischer Erhebung sonst übliche und grundsätzlich auch verfassungsrechtlich gebotene frühzeitige Anonymisierung beziehungsweise Trennung von Erhebungs- und Hilfsmerkmalen (vgl. BVerfGE 65, 1 <48 ff., 53 f., 61>) entschieden hat (BTDrucks 19/3828, S. 15). 15 Jedoch verdichtet und konkretisiert sich der in der Speicherung für Einzelne liegende Nachteil für ihre Freiheit und Privatheit auch bei der Sammlung von Daten zu statistischen Zwecken erst durch einen Abruf der Daten zu einer möglicherweise irreparablen Beeinträchtigung. Die Datenbevorratung ermöglicht zwar den Abruf, doch führt erst dieser zu konkreten Belastungen. Das Gewicht eines denkbaren Einschüchterungseffekts hängt dann davon ab, unter welchen Voraussetzungen die bevorrateten Daten abgerufen und verwendet werden können. Je weiter die Befugnisse staatlicher Stellen insoweit reichen, desto eher müssen die Bürgerinnen und Bürger befürchten, dass diese Stellen ihr Kommunikationsverhalten überwachen oder - wie im Fall der Erhebung für statistische Zwecke relevanter Daten - diese für Zwecke des Verwaltungsvollzugs auswerten oder mit Daten aus anderen Quellen verknüpfen. Mit der Speicherung allein ist in der Regel jedoch noch kein derart schwerwiegender Nachteil verbunden, dass er die Außerkraftsetzung eines Gesetzes erforderte (vgl. BVerfGE 121, 1 <20> sowie BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 8. Juni 2016 - 1 BvQ 42/15 -, juris, Rn. 18 jeweils zur Vorratsdatenspeicherung). 16 Vorliegend dient die Übermittlung und Speicherung der in § 9a Abs. 2 bis 4 ZensVorbG 2021 genannten Merkmale jedoch ausschließlich der Verfolgung der in § 9a Abs. 1 Satz 2 ZensVorbG 2021 genannten Zwecke, das heißt der Vorbereitung und Ermöglichung der statistischen Erhebungen zum Zensus 2021. Eine Nutzung zu anderen als den hier genannten Zwecken - insbesondere eine Verknüpfung mit anderen Datenbeständen oder eine Verwendung zu Zwecken des Verwaltungsvollzuges - hat der Gesetzgeber hingegen ausdrücklich ausgeschlossen (§ 9a Abs. 5 Satz 5 ZensVorbG 2021). An den Inhalt der Daten selbst dürfen die Behörden hierfür nicht anknüpfen und an ihm haben sie auch keinerlei Interesse. Da die Pilotdatenübermittlung als Teil des Zensus zudem den Vorgaben des Bundesstatistikgesetzes zur Geheimhaltung und zu Sicherheitsanforderungen an die elektronische Datenübermittlung unterliegen (§§ 11a, 16 BStatG), bleiben auch insoweit die Nachteile begrenzt. 17 b) Angesichts dieser eng begrenzten Verwendungszwecke und der Vorgaben des Bundesstatistikgesetzes zur Geheimhaltung und zu Sicherheitsanforderungen an die elektronische Datenübermittlung (§§ 11a, 16 BStatG), deren Einhaltung vom Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit in Ausfüllung seiner Beratungs- und Kontrolltätigkeit auch weiter überwacht wird, überwiegen diese Nachteile nicht mit der erforderlichen Deutlichkeit gegenüber den Nachteilen, die bei Erlass der hilfsweise begehrten einstweiligen Anordnung trotz späterer Erfolglosigkeit einer noch zu erhebenden Verfassungsbeschwerde einzutreten drohen. 18 Denn bei der Erforderlichkeit (vgl. BVerfGE 65, 1 <44, 54>) der Übermittlung sämtlicher nicht anonymisierter Meldedaten für die in § 9a Abs. 1 Satz 1 ZensVorbG 2021 genannten Zwecke, deren Erreichung der Gesetzgeber als notwendige Voraussetzung für eine ungefährdete und erfolgreiche Durchführung des Zensus 2021 ansieht, drohte eine Aussetzung der Vollziehung des Gesetzes die Prüfung der Übermittlungswege und der Qualität der zu übermittelnden Daten beziehungsweise die Prüfung und Weiterentwicklung der Programme zu vereiteln. Es würden damit die Durchführung des auch unionsrechtlich vorgeschriebenen Zensus 2021 erschwert und dem Bund (sowie mittelbar auch den Ländern und den Kommunen) notwendige Entscheidungsgrundlagen und Strukturdaten für politische Entscheidungen möglicherweise entzogen (vgl. BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 19. September 2018 - 2 BvF 1/15 -, juris, Rn. 147 f.). Angesicht des unionsrechtlich vorgegebenen Termins des Zensus könnte dies auch nicht rechtzeitig nachgeholt werden. Nach dem bei vorläufiger Betrachtung nicht unplausibel erscheinenden Vortrag des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat ist der Probedurchlauf mit Daten aller Meldebehörden erforderlich, weil sonst die Qualität der Merkmale und der Programme nicht überprüft werden könnten. Dies gelte insbesondere für die Verarbeitung der Originalschreibweisen für Namen und die Prüfung von Mehrfachfällen. 19 c) Auch eine Beschränkung der Pilotdatenübermittlung auf eine stichprobenhafte Übermittlung nicht anonymisierter Daten im Wege der einstweiligen Anordnung erscheint angesichts der vorgenannten Umstände nicht geboten. Zwar wird aus den Gesetzesmaterialien und den hier vorliegenden Stellungnahmen nicht mit abschließender Gewissheit deutlich, ob eine nicht anonymisierte Datenübermittlung sämtlicher Datensätze und insbesondere eine dauerhafte Speicherung sämtlicher Datensätze über eine Dauer von bis zu zwei Jahren für die Erreichung der in § 9a Abs. 1 Satz 1 ZensVorbG 2021 genannten Zwecke erforderlich ist oder eine grundrechtsfreundlichere Ausgestaltung des Probetestlaufs auch durch Anpassung der vorgesehenen Verfahren erreicht werden könnte. Die vom Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat vorgelegte Stellungnahme lässt es jedoch zumindest plausibel erscheinen, dass eine Beschränkung auf eine nicht anonymisierte Teildatenlieferung die Gefahr in sich trüge, zumindest einzelne der vom Gesetzgeber zum Zweck der Durchführung des Zensus 2021 und zur Steigerung der Validität seiner Ergebnisse als erforderlich erachteten Prüf- und Optimierungsmaßnahmen zu vereiteln und so die Durchführung des Zensus 2021 in seiner vorgesehenen Form zu gefährden. Unter diesen Umständen ist es jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass eine Beschränkung der Datenübermittlung auf eine stichprobenhafte Übermittlung nicht anonymisierter Daten in ihrer Wirkung einer vollständigen Aussetzung des Gesetzesvollzuges gleichkäme, die aus den oben genannten Gründen nicht geboten ist. 20 Diese Entscheidung ist unanfechtbar. Masing Paulus Christ
bundesverfassungsgericht
72-2022
18. August 2022
Erfolglose Verfassungsbeschwerden gegen die Pflicht zum Nachweis einer Impfung gegen Masern Pressemitteilung Nr. 72/2022 vom 18. August 2022 Beschluss vom 21. Juli 20221 BvR 469/20, 1 BvR 472/20, 1 BvR 471/20, 1 BvR 470/20 Impfnachweis (Masern) Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts mehrere Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen, die sich gegen Vorschriften des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) über die Pflicht zum Auf- und Nachweis einer Masernimpfung sowie über die bei Ausbleiben des Nachweises eintretende Folgen richten, wie etwa das Verbot, Kinder in bestimmten Einrichtungen zu betreuen. Die Zurückweisung erfolgt allerdings mit der Maßgabe einer verfassungskonformen Auslegung, die an die zur Durchführung der Masernimpfung im Inland verfügbaren Impfstoffe anknüpft. Stehen - wie derzeit in Deutschland - ausschließlich Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung, ist § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG verfassungskonform so zu verstehen, dass die Pflicht, eine Masernimpfung auf- und nachzuweisen, nur dann gilt, wenn es sich um Kombinationsimpfstoffe handelt, die keine weiteren Impfstoffkomponenten enthalten als die gegen Masern, Mumps, Röteln oder Windpocken. Die Beschwerdeführenden sind jeweils gemeinsam sorgeberechtigte Eltern sowie ihre minderjährigen Kinder, die kommunale Kindertagesstätten besuchen oder von einer Tagesmutter mit Erlaubnis zur Kindertagespflege nach § 43 Achtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) betreut werden sollten. Sie wenden sich im Wesentlichen gegen die Bestimmungen des Infektionsschutzgesetzes, die eine solche Betreuung lediglich dann gestatten, wenn die betroffenen Kinder gegen Masern geimpft sind und diese Impfung auch nachgewiesen wird. Die angegriffenen Vorschriften berühren sowohl das die Gesundheitssorge für ihre Kinder umfassende Grundrecht der beschwerdeführenden Eltern aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes (GG) als auch und vor allem das durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleistete Grundrecht der beschwerdeführenden Kinder auf körperliche Unversehrtheit. Beide Grundrechtspositionen sind hier in spezifischer Weise miteinander verknüpft. Sowohl die Eingriffe in das Elternrecht als auch die in die körperliche Unversehrtheit sind unter Berücksichtigung der verfassungskonformen Auslegung verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Ohne Verstoß gegen Verfassungsrecht hat der Gesetzgeber dem Schutz durch eine Maserninfektion gefährdeter Menschen den Vorrang vor den Interessen der beschwerdeführenden Kinder und Eltern eingeräumt. Sachverhalt: 1. Nach § 20 Abs. 8 Satz 1 Nr. 1 IfSG müssen unter anderem Personen, die in einer Gemeinschaftseinrichtung im Sinne von § 33 Nr. 1 und 2 IfSG (zum Beispiel Kindertageseinrichtung oder erlaubnispflichtige Kindertagespflege) betreut werden, einen ausreichenden Impfschutz gegen Masern oder eine Immunität gegen Masern aufweisen. Die Pflicht, einen solchen Impfschutz aufzuweisen, gilt auch, wenn ausschließlich Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung stehen, die auch Impfstoffkomponenten gegen andere Krankheiten enthalten (§ 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG). Kinder, die in solchen Gemeinschaftseinrichtungen betreut werden sollen, müssen der Einrichtungsleitung vor Beginn ihrer Betreuung einen Nachweis darüber vorlegen, dass ein ausreichender Impfschutz oder eine Immunität gegen Masern besteht oder sie aufgrund einer medizinischen Kontraindikation nicht geimpft werden können (§ 20 Abs. 9 Satz 1 IfSG). Wird für Kinder ab der Vollendung des ersten Lebensjahres kein derartiger Nachweis vorgelegt, dürfen sie nicht in Gemeinschaftseinrichtungen betreut werden (§ 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG). Nach § 20 Abs. 13 IfSG haben bei Minderjährigen deren Sorgeberechtigte für die Einhaltung der Verpflichtung zu sorgen. 2. Die minderjährigen Beschwerdeführenden sind nicht gegen Masern geimpft und verfügen über keine Immunität. Medizinische Kontraindikationen zu einer Masernimpfung bestehen bei ihnen nicht. Die Verfassungsbeschwerden richten sich jeweils gegen die gesetzlichen Vorschriften des Infektionsschutzgesetzes (§ 20 Abs. 8 Satz 1 bis 3, Abs. 9 Satz 1 und 6, Abs. 12 Satz 1 und 3, Abs. 13 Satz 1 IfSG) über die Pflicht zum Auf- und Nachweis einer Masernimpfung sowie das bei Ausbleiben des Nachweises geltende Betreuungsverbot in bestimmten Einrichtungen. Die Beschwerdeführenden sehen in der Pflicht zur Herbeiführung und zum Nachweis der Masernimpfung unter anderem unverhältnismäßige Eingriffe in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) der minderjährigen Beschwerdeführenden, insbesondere wegen der Pflicht, sich nicht nur gegen Masern impfen zu lassen, sondern aufgrund der Nichtverfügbarkeit von Monoimpfstoffen auch gegen andere Krankheiten. Zugleich werde in unverhältnismäßiger Weise in das Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) eingegriffen. Wesentliche Erwägungen des Senats: Die zulässigen Verfassungsbeschwerden haben keinen Erfolg. I. 1. a) Die beanstandeten Regelungen des Infektionsschutzgesetzes greifen in mehrfacher Hinsicht jedenfalls zielgerichtet mittelbar in das Grundrecht der beschwerdeführenden Eltern aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG ein. Entscheiden sich die Eltern in Wahrnehmung ihrer durch Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG geschützten Gesundheitssorge gegen eine Impfung ihres Kindes, ist dies mit nachteiligen Konsequenzen für die ansonsten den Eltern – zur Wahrnehmung ihrer Sorge für die durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte Entfaltungsfreiheit ihrer Kinder – eröffneten Möglichkeiten einer Betreuung in bestimmten Gemeinschaftseinrichtungen verbunden. Art und Gewicht dieser Konsequenzen für das die Gesundheitssorge betreffende Elternrecht sind dergestalt, dass sie nach Zielsetzung und Wirkung einem unmittelbaren Eingriff in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG entsprechen. Die Wirkungen der Kombination aus Pflicht zum Nachweis der Masernimpfung und Verlust der Möglichkeit der Inanspruchnahme staatlicher Betreuungsangebote beziehungsweise fehlender Durchsetzbarkeit des Anspruchs auf einrichtungsbezogene frühkindliche und vorschulische Förderung sind denen einer zwangsweise gegen den Elternwillen durchgeführten Masernimpfung von Kindern weitgehend äquivalent. b) Die mit den Verfassungsbeschwerden angegriffenen Regelungen greifen zudem – ebenfalls zielgerichtet mittelbar – in das Grundrecht der beschwerdeführenden Kinder auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ein oder beeinträchtigen alternativ – abhängig von der Entscheidung der Eltern – das Recht der Kinder auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG). Nach Art und Gewicht wirken die beanstandeten Vorschriften in einer Weise auf die den sorgeberechtigten Eltern anvertraute Entscheidung über die körperliche Unversehrtheit ihrer Kinder ein, dass sie als zielgerichteter mittelbarer Eingriff in das Recht der Kinder aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu bewerten sind. Die Masernschutzimpfung wirkt durch das Einbringen eines Stoffes und die damit verbundenen Nebenwirkungen auf die körperliche Integrität der Kinder ein. Zwar hindert das Infektionsschutzgesetz Eltern nicht daran, auf eine Masernschutzimpfung bei ihren Kindern zu verzichten. Allerdings geht dann wegen des in § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG angeordneten Betreuungsverbots der in § 24 SGB VIII eingeräumte Anspruch auf Förderung der Kinder in bestimmten Einrichtungen verloren oder kann jedenfalls nicht mehr durchgesetzt werden. Wird eine solche frühkindliche oder vorschulische Betreuung und Förderung – wie vorliegend – von den sorgeberechtigten Eltern gewünscht, geht von den bei Ausbleiben des Impfnachweises eintretenden Folgen ein starker Anreiz aus, die Impfung vornehmen zu lassen und damit auf die körperliche Unversehrtheit der Kinder durch die Verabreichung des Impfstoffs einzuwirken. Dieser vom Gesetzgeber intendierte Druck auf die Eltern, die Gesundheitssorge für ihre Kinder in bestimmter Weise auszuüben, kommt in seiner Wirkung dem unmittelbaren Eingriff in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gleich. 2. Die Eingriffe sowohl in das Recht der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG und in die körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) der Kinder sind verfassungsrechtlich allein bei verfassungskonformer Auslegung von § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG gerechtfertigt. Dann genügen sie den Anforderungen des Grundsatzes des Gesetzesvorbehalts und sind im verfassungsrechtlichen Sinn verhältnismäßig. a) Die angegriffenen Regelungen genügen den aus dem Grundsatz des Gesetzesvorbehalts folgenden Anforderungen nur bei verfassungskonformer Auslegung. Wäre § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG so zu verstehen, dass die Norm auch gilt, wenn nur Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung stehen, die weitere Impfstoffkomponenten als die bei Verabschiedung des Gesetzes verfügbaren Impfstoffe enthielten, verstieße sie gegen den Grundsatz des Gesetzesvorbehalts. § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG kann jedoch verfassungskonform so auslegt werden, dass die daraus resultierende Pflicht zum Nachweis einer Masernimpfung bei ausschließlicher Verfügbarkeit von Kombinationsimpfstoffen nur dann gilt, wenn es sich dabei um solche handelt, die keine weiteren Impfstoffkomponenten enthalten als die gegen Masern, Mumps, Röteln oder Windpocken. Allein auf Mehrfachimpfstoffe gegen diese Krankheiten beziehen sich die vom Gesetzgeber des Masernschutzgesetzes getroffenen grundrechtlichen Wertungen. Mit diesem Verständnis werden die Grenzen verfassungskonformer Auslegung nicht überschritten. Zwar enthält der Wortlaut von § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG keine Beschränkung derjenigen Krankheiten, bezüglich derer Impfstoffkomponenten in einem Mehrfachimpfstoff enthalten sein dürfen. Durch die verfassungskonforme Beschränkung auf die vorgenannten Mehrfachimpfstoffkombinationen wird jedoch dem Gesetz weder ein entgegengesetzter Sinn verliehen noch der normative Gehalt der Norm grundlegend neu bestimmt oder das gesetzgeberische Ziel in einem wesentlichen Punkt verfehlt. b) Die angegriffenen Regelungen sind in dieser verfassungskonformen Auslegung auch verhältnismäßig. aa) Die in § 20 Abs. 8, 9 und 12 IfSG festgelegten Pflichten verfolgen ebenso wie das bei Ausbleiben des Nachweises eintretende Betreuungsverbot (§ 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG) einen verfassungsrechtlich legitimen Zweck, nämlich den Schutz vulnerabler Personen vor einer für sie gefährlichen Masernerkrankung. Gleiches gilt für die Übertragung der Erfüllung der Nachweispflicht von Kindern auf ihre Eltern in § 20 Abs. 13 Satz 1 IfSG. Die Annahme des Gesetzgebers, von Personen, die keinen ausreichenden Impfschutz oder eine Immunität gegen Masern aufweisen, könnten Gefahren für das Leben und die Gesundheit insbesondere von Personen ausgehen, die sich selbst nicht durch eine Impfung vor einer Masernerkrankung zu schützen vermögen, beruht auf zuverlässigen Grundlagen und hält auch der strengen verfassungsrechtlichen Prüfung stand. Innerhalb seines allerdings wegen der gesicherten Erkenntnislage und des Gewichts der Grundrechtseingriffe engen Einschätzungsspielraums konnte der Gesetzgeber in Einklang mit dem Verfassungsrecht von einer Gefahrenlage durch eine Masernerkrankung für verletzliche Personen ausgehen, insbesondere Säuglinge oder andere Personen, die sich nicht selbst durch eine Impfung schützen können. bb) Die auf Gemeinschafts- und Gesundheitseinrichtungen bezogene Auf- und Nachweispflicht ist ebenso wie das bei ausbleibendem Nachweis geltende Betreuungsverbot (§ 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG) im verfassungsrechtlichen Sinne geeignet, die mit dem Masernschutzgesetz verfolgten Zwecke zu erreichen. Sie können sowohl dazu beitragen, die Impfquote in der Gesamtbevölkerung zu erhöhen als auch dazu, diese in solchen Gemeinschaftseinrichtungen zu steigern, in denen vulnerable Personen betreut werden oder zumindest regelmäßig Kontakt zu den Einrichtungen und den dort betreuten und tätigen Personen haben. cc) Die Pflichten, bei Betreuung in bestimmten Gemeinschaftseinrichtungen eine Masernimpfung auf- und nachzuweisen, sowie das bei Ausbleiben des Nachweises geltende Betreuungsverbot sind sowohl zum Schutz des Einzelnen als auch zum Schutz der Bevölkerung vor Masern im verfassungsrechtlichen Sinne erforderlich. Unter Berücksichtigung des dem Gesetzgeber hier zukommenden Einschätzungsspielraums ist nicht erkennbar, dass andere, in der Wirksamkeit eindeutig gleiche, aber die betroffenen Grundrechte von Kindern und Eltern weniger stark einschränkende Mittel zur Verfügung standen. Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber andere Maßnahmen zur Gewährleistung des angestrebten Individual- und Gemeinschaftsschutzes als nicht sicher gleich wirksam angesehen hat. Dafür konnte er sich auf hinreichend tragfähige Grundlagen stützen. dd) Die beanstandeten Vorschriften über die Pflicht zum Auf- und Nachweis einer Masernimpfung sowie das bei Ausbleiben des Nachweises geltende Betreuungsverbot erweisen sich auch als angemessen und damit verhältnismäßig im engeren Sinn. Trotz des nicht unerheblichen Gewichts der mittelbaren Eingriffe in das Grundrecht der Kinder aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und in das der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG werden diese jeweils nicht unzumutbar im Hinblick auf den Schutz von Leben und Gesundheit durch eine Masernerkrankung gefährdeter Personen belastet. (1) Die angegriffenen Vorschriften greifen mit nicht unerheblichem Gewicht zielgerichtet mittelbar sowohl in das Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG als auch in die körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) der Kinder ein. Die Eingriffe erfolgen dabei in unterschiedlicher Weise und mit verschiedenem Gewicht. Das Eingriffsgewicht in das Grundrecht der beschwerdeführenden Kinder aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG korrespondiert mit dem des Eingriffs in das auf die Gesundheitssorge bezogene Elternrecht. (2) Demgegenüber verfolgt der Gesetzgeber mit den angegriffenen Vorschriften den Schutz eines überragend gewichtigen Rechtsguts, der hier auch dringlich ist. Die angegriffenen Vorschriften dienen dem Schutz vor einer Masernerkrankung. Demnach ist insoweit das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit betroffen, wobei es um den Schutz einer Vielzahl von Personen, insbesondere von vulnerablen Personen geht, die sich nicht selbst durch eine Impfung wirksam schützen können. Dem Schutz der Gesundheit der Bevölkerung kommt ein hohes Gewicht zu. Aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG kann daher eine Schutzpflicht des Staates folgen, die eine Risikovorsorge gegen Gesundheitsgefährdungen umfasst. Angesichts der sehr hohen Ansteckungsgefahr bei Masern und den mit einer Masernerkrankung verbundenen Risiken eines schweren Verlaufs besteht eine beträchtliche Gefährdung des Rechtsguts der körperlichen Unversehrtheit Dritter. Die Annahme des Gesetzgebers, ohne die in den angegriffenen Regelungen getroffenen Maßnahmen würde die Impfquote weiter stagnieren und gleichzeitig könne die Anzahl der Masernausbrüche in Kindertagesstätten und in der Kindertagespflege steigen, beruht auf tragfähigen Grundlagen und ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. (3) Ohne Verstoß gegen Verfassungsrecht hat der Gesetzgeber mit den angegriffenen Auf- und Nachweispflichten sowie den bei deren Ausbleiben eintretenden Folgen dem Schutz durch eine Maserninfektion gefährdeter Menschen den Vorrang vor den Interessen der beschwerdeführenden Kinder und Eltern eingeräumt. Die damit verbundenen nicht unerheblichen Grundrechtseingriffe sind ihnen zugunsten des Gesundheitsschutzes vor den Gefahren einer Maserninfektion von verletzlichen Personen und damit einem Gemeinwohlbelang von hohem Rang derzeit zuzumuten. Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber für die von ihm geförderte (früh)kindliche Betreuung (§ 24 Abs. 1 bis 3 SGB VIII) mit den angegriffenen Regelungen Maßnahmen ergriffen hat, die Maserninfektionen von Kindern vermeiden oder zumindest deutlich reduzieren sollen. Im Rahmen der Abwägung ist zu berücksichtigen, dass in den hier gegenständlichen Gemeinschaftseinrichtungen zur Kinderbetreuung nach den statistisch belegten Impfquoten in den dort betreuten Altersgruppen keine zum Gemeinschaftsschutz ausreichenden Quoten bestehen. Zugleich haben die betreuten Kinder typischerweise Kontakte zu besonders schutzwürdigen Personen, die eine hohe altersspezifische Inzidenz für Masern sowie eine gesteigerte Wahrscheinlichkeit aufweisen, im Falle einer Maserninfizierung Komplikationen auszubilden, sich aber wegen einer Kontraindikation nicht selbst wirksam durch eine Impfung schützen können (zum Beispiel Kinder im ersten Lebensjahr, Schwangere). Mit der Bindung der Auf- und Nachweispflicht einer Masernimpfung an die Betreuung in Gemeinschaftseinrichtungen im Sinne von § 33 Nr. 1 und 2 IfSG hat der Gesetzgeber die Reichweite der angegriffenen Regelungen gegenständlich begrenzt. Dementsprechend führt das Ausbleiben des in § 20 Abs. 8 und 9 IfSG geforderten Auf- und Nachweises der Masernimpfung auch nicht zum Ausschluss jeglicher frühkindlichen oder vorschulischen Förderung außerhalb der Familie. Die anderweitige Betreuung von Kindern in den betroffenen Alterskohorten bleibt auch familienübergreifend jedenfalls im selbstorganisierten privaten Bereich zulässig. Trotz der nicht unerheblichen Eingriffe in das Abwehrrecht der Kinder aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und das Grundrecht der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG konnte der Gesetzgeber der Schutzpflicht für die körperliche Unversehrtheit durch eine Masernerkrankung gefährdeter Personen den Vorrang einräumen. Für die Schutzpflicht streiten die hohe Übertragungsfähigkeit und Ansteckungsgefahr sowie das nicht zu vernachlässigende Risiko, als Spätfolge der Masern eine für gewöhnlich tödlich verlaufende Krankheit (die subakute sklerosierende Panenzephalitis) zu erleiden. Demgegenüber treten bei einer Impfung nahezu immer nur milde Symptome und Nebenwirkungen auf; ein echter Impfschaden ist extrem unwahrscheinlich. Die Gefahr für Ungeimpfte, an Masern zu erkranken, ist deutlich höher als das Risiko, einer auch nur vergleichsweise harmlosen Nebenwirkung der Impfung ausgesetzt zu sein. Hinzu kommt, dass die realistische Möglichkeit der Eradikation der Masern die staatliche Schutzpflicht stützt, weshalb selbst bei einer sinkenden Inzidenz von Krankheitsfällen – zu einem Sinken dürfte es kommen, je näher das Ziel der Herdenimmunität durch eine steigende Impfquote rückt – das Abwehrrecht der Beschwerdeführenden, in das die Auf- und Nachweispflicht zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit Impfunfähiger mittelbar eingreift, aufgrund geringerer Gefahrennähe weniger Gewicht für sich beanspruchen kann als der vom Gesetzgeber verfolgte Schutz impfunfähiger Grundrechtsträger. Es ist verfassungsrechtlich auch nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber im Rahmen seiner Prognose die Gefahren in der Weise bewertet, dass das geringe Restrisiko einer Impfung im Vergleich zu einer Wildinfektion mit Masern bei gleichzeitiger Beachtung der – auch den betroffenen Kindern zugutekommenden – Impfvorteile zurücksteht. Im Ergebnis führt die Masernimpfung daher zu einer erheblich verbesserten gesundheitlichen Sicherheit des Kindes. Dem Individualschutz durch die Impfung zugunsten der Kinder kommt auch in der Abwägung der Interessen durch eine Maserninfektion zumindest in ihrer Gesundheit gefährdeter Personen einerseits mit dem Elternrecht andererseits Bedeutung zu. Da auch das die Gesundheitssorge betreffende Recht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG kindeswohlorientiert auszuüben und die Vornahme empfohlener Impfungen der Gesundheit des Kindes dienlich ist, kommt dem Eingriff in das Elternrecht insoweit kein besonders hohes Gewicht zu. Eine Abwägung zugunsten der Gesundheit von Personen, die sich selbst nicht durch Impfung vor einer Masernerkrankung schützen können und deshalb nur über eine Herdenimmunität geschützt werden können, ist daher verfassungsrechtlich unbedenklich. Die Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit der Kinder und das Elternrecht ihrer sorgeberechtigten Eltern sind auch nicht insoweit unzumutbar, als § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG eine Auf- und Nachweispflicht selbst dann vorsieht, wenn zur Erlangung des Masernimpfschutzes ausschließlich Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung stehen. Zwar führt dies faktisch dazu, dass die Kinder bei entsprechender Entscheidung ihrer Eltern die Impfung mit zusätzlichen Wirkstoffen hinnehmen müssen, derer es zum Erfüllen der Auf- und Nachweispflicht aus § 20 Abs. 8 und 9 IfSG nicht bedarf und auf deren Schutzeffekte das Gesetz nicht zielt. Dennoch überwiegen im Ergebnis die für den Aufweis anhand eines Mehrfachimpfstoffs sprechenden Argumente. Denn die aktuell in den Mehrfachimpfstoffen enthaltenen weiteren Wirkstoffe betreffen ebenfalls von der Ständigen Impfkommission empfohlene, also eine positive Risiko-Nutzen-Analyse aufweisende Impfungen. Sie sind deshalb ihrerseits grundsätzlich kindeswohldienlich, wenngleich insoweit weder ein mit Masern vergleichbar hohes Infektionsrisiko besteht noch entsprechende schwere Krankheitsverläufe eintreten können. Dem steht die Dringlichkeit des Gesundheitsschutzes derjenigen Personen gegenüber, die sich nicht durch Impfung schützen können, mittels Gemeinschaftsschutz. Für diesen bedarf es der genannten Impfquote von 95 Prozent, die gerade auch in den Altersgruppen nicht erreicht ist, die in den hier betroffenen Gemeinschaftseinrichtungen betreut werden. In der Gesamtabwägung ist es vertretbar, dass der Gesetzgeber den Schutz vulnerabler Personen gegen Masern so hoch gewertet hat, dass dafür auch die Grundrechtsbeeinträchtigungen durch den vom Gesetzgeber mit der Anordnung in § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG in Kauf genommenen Einsatz der aktuell einzig verfügbaren Kombinationsimpfstoffe hinzunehmen sind. Auch weil damit objektiv ein Schutz gegen die weiteren durch Kombinationsimpfstoffe erfassten Krankheiten verbunden ist, ist das Interesse, dass mangels verfügbarer Monoimpfstoffe Kombinationsimpfstoffe zum Einsatz kommen, höher zu gewichten als die Interessen der betroffenen Kinder und Eltern, diese nicht verwenden zu müssen. II. Die angegriffenen Vorschriften des Infektionsschutzgesetzes über die Auf- und Nachweispflicht sowie das Betreuungsverbot in Einrichtungen nach § 33 Nr. 1 und 2 IfSG bei ausbleibendem Nachweis verletzen die beschwerdeführenden Kinder auch nicht in ihrem Recht auf Gleichbehandlung aus Art. 3 Abs. 1 GG. Die von den beschwerdeführenden Kindern als gleichheitswidrig gerügten Differenzierungen sind durch Sachgründe gerechtfertigt.
L e i t s ä t z e zum Beschluss des Ersten Senats vom 21. Juli 2022 - 1 BvR 469/20 - - 1 BvR 470/20 - - 1 BvR 471/20 - - 1 BvR 472/20 - Impfnachweis (Masern) Das Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) ist Freiheitsrecht im Verhältnis zum Staat, der in das Erziehungsrecht der Eltern nicht ohne rechtfertigenden Grund eingreifen darf. In der Beziehung zum Kind bildet aber das Kindeswohl die maßgebliche Richtschnur der elterlichen Pflege und Erziehung. Die Entscheidung über die Vornahme von Impfungen bei entwicklungsbedingt noch nicht selbst entscheidungsfähigen Kindern ist ein wesentliches Element der elterlichen Gesundheitssorge und fällt in den Schutzbereich von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG. Bei der Ausübung der am Kindeswohl zu orientierenden Gesundheitssorge für ihr Kind sind die Eltern jedoch weniger frei, sich gegen Standards medizinischer Vernünftigkeit zu wenden, als sie es kraft ihres Selbstbestimmungsrechts über ihre eigene körperliche Integrität wären. Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG wird nicht vom Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG erfasst. BUNDESVERFASSUNGSGERICHT - 1 BvR 469/20 - - 1 BvR 470/20 - - 1 BvR 471/20 - - 1 BvR 472/20 - IM NAMEN DES VOLKES In den Verfahren über die Verfassungsbeschwerden I.  1. der Frau (…), 2.  des Herrn (…), 3.  der Minderjährigen (…), vertreten durch die Eltern (…), - Bevollmächtigte: 1. (…) 2. (…) - gegen § 20 Absatz 8 Satz 1 bis 3 in Verbindung mit Absatz 9 Satz 1 und 6 und Absatz 12 Satz 1 und 3 sowie in Verbindung mit Absatz 13 Satz 1 des Infektionsschutzgesetzes in der Fassung des Gesetzes für den Schutz vor Masern und zur Stärkung der Impfprävention (Masernschutzgesetz) vom 10. Februar 2020 (Bundesgesetzblatt I Seite 148) - 1 BvR 469/20 - , II.  1. der Frau (…), 2.  des Herrn (…), 3.  des Minderjährigen (…), vertreten durch die Eltern (…), - Bevollmächtigte: 1.(…) 2.(…) - gegen § 20 Absatz 8 Satz 1 bis 3 in Verbindung mit Absatz 9 Satz 1 und 6 und Absatz 12 Satz 1 und 3 sowie in Verbindung mit Absatz 13 Satz 1 des Infektionsschutzgesetzes in der Fassung des Gesetzes für den Schutz vor Masern und zur Stärkung der Impfprävention (Masernschutzgesetz) vom 10. Februar 2020 (Bundesgesetzblatt I Seite 148) - 1 BvR 470/20  -, III.  1. der Frau (…), 2.  des Herrn (…), 3.  der Minderjährigen (…), vertreten durch die Eltern (…), - Bevollmächtigte: 1.(…) 2.(…) - gegen § 20 Absatz 8 Satz 1 bis 3 in Verbindung mit Absatz 9 Satz 1 und 6 und Absatz 12 Satz 1 und 3 sowie in Verbindung mit Absatz 13 Satz 1 des Infektionsschutzgesetzes in der Fassung des Gesetzes für den Schutz vor Masern und zur Stärkung der Impfprävention (Masernschutzgesetz) vom 10. Februar 2020 (Bundesgesetzblatt I Seite 148) - 1 BvR 471/20 - , IV.  1. der Frau (…), 2.  des Herrn (…), 3.  des Minderjährigen (…), vertreten durch die Eltern (…), - Bevollmächtigte: 1.(…) 2.(…) - gegen § 20 Absatz 8 Satz 1 bis 3 in Verbindung mit Absatz 9 Satz 1 und 6 und Absatz 12 Satz 1 und 3 sowie in Verbindung mit Absatz 13 Satz 1 des Infektionsschutzgesetzes in der Fassung des Gesetzes für den Schutz vor Masern und zur Stärkung der Impfprävention (Masernschutzgesetz) vom 10. Februar 2020 (Bundesgesetzblatt I Seite 148) - 1 BvR 472/20 - hat das Bundesverfassungsgericht ‒ Erster Senat ‒ unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter Präsident Harbarth, Baer, Britz, Ott, Christ, Radtke, Härtel am 21. Juli 2022 beschlossen: Die Verfassungsbeschwerden werden mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der durch das Gesetz für den Schutz vor Masern und zur Stärkung der Impfprävention vom 10. Februar 2020 (Bundesgesetzblatt I Seite 148) eingefügte § 20 Absatz 8 Satz 3 des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen in Übereinstimmung mit den Gründen dieser Entscheidung (C II 4 a) verfassungskonform auszulegen ist. G r ü n d e : A. 1 Die Verfassungsbeschwerden richten sich gegen Bestimmungen, die durch das am 1. März 2020 in Kraft getretene Gesetz für den Schutz vor Masern und zur Stärkung der Impfprävention (Masernschutzgesetz) vom 10. Februar 2020 (BGBl I S. 148) in das Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz ‒ IfSG) eingefügt wurden. Die von sämtlichen Beschwerdeführenden angegriffenen Regelungen des Infektionsschutzgesetzes verlangen in § 20 Abs. 8 Satz 1 Nr. 1 IfSG für bestimmte Personen den Aufweis eines ausreichenden Impfschutzes oder einer Immunität gegen Masern sowie in § 20 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 IfSG bei Betreuung in Kindertageseinrichtungen oder der Kindertagespflege einen im Gesetz konkretisierten Nachweis über die Impfung oder die Masern-immunität. Auf Anforderung ist der Nachweis gemäß § 20 Abs. 12 Satz 1 IfSG dem Gesundheitsamt vorzulegen, das bei ausbleibender Vorlage das Betreten bestimmter Gemeinschaftseinrichtungen untersagen kann. Für die noch minderjährigen Beschwerdeführenden erlegt § 20 Abs. 13 Satz 1 IfSG ihren sorgeberechtigten Eltern, den übrigen Beschwerdeführenden, auf, die Nachweis- und Vorlagepflicht aus § 20 Abs. 9 Satz 1 und Abs. 12 Satz 1 IfSG zu erfüllen. 2 Die minderjährigen Beschwerdeführenden sehen sich dadurch in ihrem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, die übrigen Beschwerdeführenden in ihrem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG verletzt. Ferner wird eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes aus Art. 3 Abs. 1 GG gerügt. I. 3 Die Bestimmungen des Infektionsschutzgesetzes in der ursprünglich angegriffenen Fassung des Art. 1 des Gesetzes für den Schutz vor Masern und zur Stärkung der Impfprävention (Masernschutzgesetz) vom 10. Februar 2020 (BGBl I S. 148) lauten wie folgt: § 20 Schutzimpfungen und andere Maßnahmen der spezifischen Prophylaxe (8) 1 Folgende Personen, die nach dem 31. Dezember 1970 geboren sind, müssen entweder einen nach den Maßgaben von Satz 2 ausreichenden Impfschutz gegen Masern oder ab der Vollendung des ersten Lebensjahres eine Immunität gegen Masern aufweisen: 1. Personen, die in einer Gemeinschaftseinrichtung nach § 33 Nummer 1 bis 3 betreut werden, 2. Personen, die bereits vier Wochen a) in einer Gemeinschaftseinrichtung nach § 33 Nummer 4 betreut werden oder b) in einer Einrichtung nach § 36 Absatz 1 Nummer 4 untergebracht sind, und 3. Personen, die in Einrichtungen nach § 23 Absatz 3 Satz 1, § 33 Nummer 1 bis 4 oder § 36 Absatz 1 Nummer 4 tätig sind. 2 Ein ausreichender Impfschutz gegen Masern besteht, wenn ab der Vollendung des ersten Lebensjahres mindestens eine Schutzimpfung und ab der Vollendung des zweiten Lebensjahres mindestens zwei Schutzimpfungen gegen Masern bei der betroffenen Person durchgeführt wurden. 3 Satz 1 gilt auch, wenn zur Erlangung von Impfschutz gegen Masern ausschließlich Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung stehen, die auch Impfstoffkomponenten gegen andere Krankheiten enthalten. 4 Satz 1 gilt nicht für Personen, die auf Grund einer medizinischen Kontraindikation nicht geimpft werden können. (9) 1 Personen, die in Gemeinschaftseinrichtungen nach § 33 Nummer 1 bis 3 betreut oder in Einrichtungen nach § 23 Absatz 3 Satz 1, § 33 Nummer 1 bis 4 oder § 36 Absatz 1 Nummer 4 tätig werden sollen, haben der Leitung der jeweiligen Einrichtung vor Beginn ihrer Betreuung oder ihrer Tätigkeit folgenden Nachweis vorzulegen: 1. eine Impfdokumentation nach § 22 Absatz 1 und 2 oder ein ärztliches Zeugnis, auch in Form einer Dokumentation nach § 26 Absatz 2 Satz 4 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch, darüber, dass bei ihnen ein nach den Maßgaben von Absatz 8 Satz 2 ausreichender Impfschutz gegen Masern besteht, 2. ein ärztliches Zeugnis darüber, dass bei ihnen eine Immunität gegen Masern vorliegt oder sie aufgrund einer medizinischen Kontraindikation nicht geimpft werden können oder 3. eine Bestätigung einer staatlichen Stelle oder der Leitung einer anderen in Absatz 8 Satz 1 genannten Einrichtung darüber, dass ein Nachweis nach Nummer 1 oder Nummer 2 bereits vorgelegen hat. […] 6 Eine Person, die ab der Vollendung des ersten Lebensjahres keinen Nachweis nach Satz 1 vorlegt, darf nicht in Gemeinschaftseinrichtungen nach § 33 Nummer 1 bis 3 betreut oder in Einrichtungen nach § 23 Absatz 3 Satz 1, § 33 Nummer 1 bis 4 oder § 36 Absatz 1 Nummer 4 beschäftigt werden. […] (12) 1 Folgende Personen haben dem Gesundheitsamt, in dessen Bezirk sich die jeweilige Einrichtung befindet, auf Anforderung einen Nachweis nach Absatz 9 Satz 1 vorzulegen: 1. Personen, die in Gemeinschaftseinrichtungen nach § 33 Nummer 1 bis 3 betreut werden, 2. Personen, die bereits acht Wochen a) in Gemeinschaftseinrichtungen nach § 33 Nummer 4 betreut werden oder b) in Einrichtungen nach § 36 Absatz 1 Nummer 4 untergebracht sind und 3. Personen, die in Einrichtungen nach § 23 Absatz 3 Satz 1, § 33 Nummer 1 bis 4 oder § 36 Absatz 1 Nummer 4 tätig sind. […] 3 Das Gesundheitsamt kann einer Person, die trotz der Anforderung nach Satz 1 keinen Nachweis innerhalb einer angemessenen Frist vorlegt, untersagen, dass sie die dem Betrieb einer in Absatz 8 Satz 1 genannten Einrichtung dienenden Räume betritt oder in einer solchen Einrichtung tätig wird. […] (13) 1 Wenn eine nach den Absätzen 9 bis 12 verpflichtete Person minderjährig ist, so hat derjenige für die Einhaltung der diese Person nach den Absätzen 9 bis 12 treffenden Verpflichtungen zu sorgen, dem die Sorge für diese Person zusteht. […] II. 4 1. Seit Beginn des Jahres 2001 bestimmt § 34 Abs. 10 IfSG, dass in bestimmten Gemeinschaftseinrichtungen betreute Personen oder deren Sorgeberechtigte über die Bedeutung eines vollständigen, altersgemäßen, den Empfehlungen der Ständigen Impfkommission beim Robert Koch-Institut (Ständige Impfkommission ‒ STIKO) entsprechenden, ausreichenden Impfschutzes und über die Prävention übertragbarer Krankheiten aufgeklärt werden sollen. Seit Juli 2015 müssen die Sorgeberechtigten bei der Erstaufnahme in eine Kindertageseinrichtung nach § 34 Abs. 10a IfSG einen schriftlichen Nachweis darüber erbringen, dass zeitnah vor der Aufnahme eine ärztliche Beratung in Bezug auf einen nach den Empfehlungen der Ständigen Impfkommission ausreichenden Impfschutz des Kindes erfolgt ist. Wird dieser Nachweis nicht erbracht, kann das Gesundheitsamt die Sorgeberechtigten zu einer Beratung laden. Der Verstoß gegen die Pflicht, einen Nachweis einer Impfberatung zu erbringen, ist nach § 73 Abs. 1a Nr. 17a IfSG bußgeldbewehrt. 5 Daneben gilt § 20 Abs. 6 und 7 IfSG, wenn eine übertragbare Krankheit mit klinisch schweren Verlaufsformen auftritt und mit ihrer epidemischen Verbreitung zu rechnen ist. In einem solchen Fall kann durch Rechtsverordnung angeordnet werden, dass bedrohte Teile der Bevölkerung an Schutzimpfungen teilzunehmen haben. Hiervon wurde bislang kein Gebrauch gemacht. Auch die nach § 28 Abs. 1 IfSG möglichen Schutzmaßnahmen, die im Zuge der COVID-19-Pandemie weiter konkretisiert wurden, gelangen erst zur Anwendung, wenn „Kranke […] festgestellt“ wurden. In diesem Fall können Gemeinschaftseinrichtungen geschlossen oder Personen verpflichtet werden, bestimmte Orte nicht zu betreten, bis die notwendigen Schutzmaßnahmen durchgeführt worden sind. Speziell für den Fall, dass eine Person in einer Gemeinschaftseinrichtung an Masern erkrankt, dessen verdächtig oder ansteckungsverdächtig ist, bestimmt § 28 Abs. 2 IfSG, dass Personen, die weder einen Impfschutz noch eine Immunität gegen Masern nachweisen können, der Zutritt in die Gemeinschaftseinrichtung untersagt werden kann, bis eine Weiterverbreitung der Krankheit in der Gemeinschaftseinrichtung nicht mehr zu befürchten ist. 6 2. a) Diesen Maßnahmenkatalog hat der Gesetzgeber mittlerweile um das Erfordernis eines Auf- und Nachweises der Impfung gegen Masern ergänzt. Dazu erstellte das Bundesministerium für Gesundheit im Frühjahr 2019 einen Referentenentwurf eines Masernschutzgesetzes mit einer Vorfassung des hier unter anderem angegriffenen § 20 Abs. 8 Satz 1 bis 3, Abs. 9 Satz 1 und 6 IfSG. 29 Verbände unterschiedlicher Fachrichtungen nahmen die Gelegenheit zur Stellungnahme wahr. 7 b) Die Bundesregierung beschloss am 17. Juli 2019 den Entwurf des Masernschutzgesetzes und legte ihn dem Bundesrat vor (BTDrucks 19/13452). Dieser begrüßte, dass die Bundesregierung mit dem Gesetzentwurf einen besseren individuellen Schutz vor Maserninfektionen – insbesondere von vulnerablen Personengruppen in Gemeinschafts- und Gesundheitseinrichtungen – umzusetzen beabsichtige. Im Detail forderte er allerdings Änderungen (vgl. BRDrucks 358/19), denen die Bundesregierung in einer Gegenäußerung teilweise zustimmte; im Übrigen versprach die Bundesregierung eine Prüfung der Vorschläge (vgl. BTDrucks 19/13826). 8 Der Ausschuss für Gesundheit des Deutschen Bundestags führte am 23. Oktober 2019 eine öffentliche Anhörung durch (Wortprotokoll der 68. Sitzung des Ausschusses für Gesundheit, Protokoll-Nr. 19/68) und empfahl die Annahme des Gesetzentwurfs in geänderter Fassung (BTDrucks 19/15164, S. 7). Die mit den Verfassungsbeschwerden angegriffenen Vorschriften waren unter anderem insoweit betroffen, als empfohlen wurde, den Personenkreis des § 20 Abs. 8 IfSG auf Personen zu begrenzen, die nach dem 31. Dezember 1970 geboren sind, und eine Definition für einen ausreichenden Impfschutz in § 20 Abs. 8 Satz 2 IfSG aufzunehmen. Der Deutsche Bundestag stimmte am 14. November 2019 auf der Grundlage der Beschlussempfehlungen des genannten Ausschusses für das Gesetz. Am 10. Februar 2020 wurde es im Bundesgesetzblatt verkündet (BGBl I S. 148), am 1. März 2020 trat es in Kraft. 9 3. Dieses Gesetz gibt in § 20 Abs. 8 Satz 1 Nr. 1 IfSG vor, dass Personen, die in einer Gemeinschaftseinrichtung im Sinne von § 33 Nr. 1 bis 3 IfSG betreut werden, einen ausreichenden Impfschutz gegen Masern oder eine Immunität gegen Masern aufweisen müssen. Nach § 20 Abs. 8 Satz 2 IfSG besteht ein ausreichender Impfschutz, wenn ab der Vollendung des ersten Lebensjahres mindestens eine Schutzimpfung und ab der Vollendung des zweiten Lebensjahres mindestens zwei Schutzimpfungen gegen Masern durchgeführt wurden. Die Pflicht, einen Impfschutz gegen Masern aufzuweisen, gilt nach § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG auch, wenn ausschließlich Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung stehen, die auch Impfstoffkomponenten gegen andere Krankheiten enthalten. Für Personen, die auf Grund einer medizinischen Kontraindikation nicht geimpft werden können, gilt Satz 1 nicht (§ 20 Abs. 8 Satz 4 IfSG). 10 Kinder, die in Gemeinschaftseinrichtungen betreut werden sollen, müssen der Leitung der Einrichtung nach § 20 Abs. 9 Satz 1 IfSG vor Beginn ihrer Betreuung einen Nachweis darüber vorlegen, dass ein ausreichender Impfschutz oder eine Immunität gegen Masern besteht oder sie aufgrund einer medizinischen Kontraindikation nicht geimpft werden können. Wird dieser Nachweis nicht erbracht, hat die Leitung unverzüglich das Gesundheitsamt zu benachrichtigen. Wird für Kinder ab der Vollendung des ersten Lebensjahres kein solcher Nachweis vorgelegt, dürfen sie nach § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG nicht in Gemeinschaftseinrichtungen betreut werden. In Abweichung hiervon darf allerdings ein Kind, das einer gesetzlichen Schulpflicht unterliegt, in Schulen betreut werden (§ 20 Abs. 9 Satz 9 IfSG). Die Gesundheitsämter können von Personen, die einen ausreichenden Impfschutz oder eine Immunität gegen Masern aufweisen müssen, einen Nachweis anfordern (§ 20 Abs. 12 Satz 1 Nr. 1 IfSG). Ein Verstoß gegen diese Nachweispflicht ist gemäß § 73 Abs. 1a Nr. 7d IfSG bußgeldbewehrt. Das Gesundheitsamt kann außerdem gegenüber denjenigen, die trotz Aufforderung keinen Nachweis vorlegen, Betretungsverbote erteilen, soweit sie nicht der Schulpflicht unterliegen (§ 20 Abs. 12 Satz 3 IfSG in der Fassung des Masernschutzgesetzes vom 10. Februar 2020 <BGBl I S. 148> bzw. § 20 Abs. 12 Satz 4 IfSG i.d.F. des Gesetzes zur Stärkung der Impfprävention gegen COVID-19 und zur Änderung weiterer Vorschriften im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie vom 10. Dezember 2021 <BGBl I S. 5162>). Nach § 20 Abs. 13 IfSG haben bei Minderjährigen deren Sorgeberechtigte für die Einhaltung der Verpflichtungen zu sorgen. 11 § 20 Abs. 10 Satz 1 IfSG in der Fassung des Masernschutzgesetzes vom 10. Februar 2020 (BGBl I S. 148) sah für bereits in einer Einrichtung betreute Kinder eine Übergangsregelung vor, nach der sie den Nachweis bis zum Ablauf des 31. Juli 2021 vorlegen mussten. Durch das Gesetz zur Fortgeltung der die epidemische Lage von nationaler Tragweite betreffenden Regelungen vom 29. März 2021 (BGBl I S. 370) wurde die Übergangsfrist zunächst bis zum Ablauf des 31. Dezember 2021 und durch das Gesetz zur Stärkung der Impfprävention gegen COVID-19 und zur Änderung weiterer Vorschriften im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie vom 10. Dezember 2021 (BGBl I S. 5162) nunmehr bis 31. Juli 2022 verlängert, um – so die Begründung des Gesetzentwurfs – den Umständen der COVID-19-Pandemie Rechnung zu tragen (BTDrucks 20/188, S. 36). 12 § 20 Abs. 14 IfSG nennt das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit unter Angabe von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, welches durch § 20 Abs. 6 bis 12 IfSG eingeschränkt werde. III. 13 1. Das Masernvirus ist seit langem bekannt. Seit den 1960er Jahren gibt es einen Impfstoff. Die Folgen einer Masernerkrankung und die Wirksamkeit einer Impfung, die Impfreaktionen und Impfkomplikationen sind wissenschaftlich gut erforscht. 14 Der Gesetzgeber hat ferner mit der Aufgabenzuweisung an das Robert Koch-Institut (RKI) nach § 4 Abs. 1 IfSG im Grundsatz institutionell dafür Sorge getragen, dass die zur Beurteilung von Maßnahmen der Bekämpfung übertragbarer Krankheiten benötigten Informationen erhoben und evaluiert werden. Zu den Aufgaben des Robert Koch-Instituts gehört es, die Erkenntnisse zu solchen Krankheiten durch Auswertung und Veröffentlichung der Daten zum Infektionsgeschehen in Deutschland und durch die Auswertung verfügbarer Studien aus aller Welt fortlaufend zu aktualisieren und für die Bundesregierung und die Öffentlichkeit aufzubereiten (vgl. BVerfG, Beschlüsse des Ersten Senats vom 19. November 2021 - 1 BvR 781/21 u.a. -, Rn. 178 ‒ Bundesnotbremse I und vom 27. April 2022 - 1 BvR 2649/21 -, Rn. 138 ‒ Impfnachweis COVID-19). Das Robert Koch-Institut gibt zudem regelmäßig Epidemiologische Bulletins und Ratgeber heraus, worin für Fachkreise Informationen zu wichtigen Infektionskrankheiten wie den Masern aktuell und konzentriert dargestellt werden. Die Beiträge werden in Zusammenarbeit mit den Nationalen Referenzzentren, Konsiliarlaboren sowie weiteren Expertinnen und Experten erarbeitet. 15 Masern sind nach als gesichert geltenden Erkenntnissen eine der ansteckendsten Infektionskrankheiten beim Menschen. Die Basisreproduktionszahl R0, die angibt, wie viele weitere Personen eine erkrankte Person in einer gänzlich ungeschützten Bevölkerung anstecken würde, liegt für Masern bei etwa 12 bis 18, eine Person mit Masern steckt also durchschnittlich bis zu 18 weitere Personen an. Damit liegt die Basisreproduktionszahl deutlich oberhalb anderer Infektionskrankheiten. Für die (inzwischen wohl nicht mehr vorkommende) Wildvirusvariante von SARS-CoV-2 wurde zuletzt von einer Basisreproduktionszahl zwischen 2,8 und 3,8 ausgegangen. Masern werden durch das Einatmen infektiöser Tröpfchen, die beim Sprechen, Husten oder Niesen entstehen, oder über Tröpfchenkerne in der Luft sowie durch Kontakt mit infektiösen Sekreten aus Nase oder Rachen übertragen. Da sich infektiöse Tröpfchen längere Zeit in der Luft befinden können, kann eine Übertragung von Masernviren auch ohne direkten Kontakt mit einer infektiösen Person stattfinden. Die Übertragungsfähigkeit des Virus ist sehr hoch; der Kontagiositätsindex liegt bei den Masern über 0,95. Der Manifestationsindex, der die Wahrscheinlichkeit angibt, mit der eine mit einem Erreger infizierte Person manifest, also erkennbar erkrankt, liegt bei fast 100 %. Folglich erkranken nahezu alle nicht-immunen Menschen, wenn sie mit dem Virus in Kontakt kommen. Die höchste Wahrscheinlichkeit, sich anzustecken, besteht bereits in der Vorphase, in der nur einer Krankheit vorausgehende, meist nicht charakteristische Symptome auftreten, wie Fieber, Schnupfen, Bindehautentzündung sowie der gleichzeitigen Entzündung der Schleimhäute in der Luftröhre und der Lunge. Der für Masern charakteristische Ausschlag (Exanthem) der Haut entsteht am zweiten bis vierten Tag danach. Nach überwundener Erkrankung hinterlässt die Infektion in der Regel eine lebenslange Immunität. Masern bewirken für zwölf Monate oder länger eine Einschränkung der Funktion des Immunsystems, die für andere Infektionskrankheiten anfällig macht (vgl. RKI, Epidemiologisches Bulletin 44/1999, S. 325 ff.; 2/2020, S. 5; Epidemiologisches Bulletin 10/2020, S. 3; RKI-Ratgeber Masern, Stand: 23. Juli 2021). 16 Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization ‒ WHO) starben im Jahr 2018 weltweit über 140.000 Menschen an Masern. In den 1950er und 1960er Jahren vor Einführung der Impfung kamen in der Bundesrepublik Deutschland jedes Jahr zwischen 50 und 470 Menschen durch Masern zu Tode. Aktuell liegt die Sterblichkeitsrate bei Masern in Ländern mit einem hohen Durchschnittseinkommen zwischen 0,01 und 0,1 % der Erkrankten. Masern können, insbesondere bei Kindern unter fünf Jahren und seltener bei Erwachsenen, zu schweren Komplikationen führen. Zu den häufigen Komplikationen einer akuten Masernerkrankung in Industriestaaten gehören eine Mittelohrentzündung (7 bis 9 %), eine bakterielle Lungenentzündung (1 bis 6 %) sowie Durchfall (8 %). In einem von 1.000 bis 2.000 Fällen (0,05 bis 0,1 %) tritt im weiteren Verlauf der Infektion eine akute oder postinfektiöse Entzündung des Gehirns (Enzephalitis) auf. Eine regelmäßig tödlich verlaufende Spätfolge der Masern ist eine subakute sklerosierende Panenzephalitis (SSPE), bei der es sich ebenfalls um eine Schädigung des Gehirns handelt. Diese wird nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation bei vier bis elf von 100.000 Masernfällen beobachtet und tritt durchschnittlich etwa sieben Jahre nach einer akuten Maserninfektion auf (vgl. RKI, Epidemiologische Bulletins 10/2015, S. 72 f. und 2/2020, S. 6 f.). 17 Kinder haben ein deutlich höheres Risiko für schwere Folgen. So wurde für Kinder, die im Alter unter fünf Jahren an Masern erkranken, das Risiko, eine SSPE zu entwickeln, auf 30 bis 60 von 100.000 Masernfällen (0,03 bis 0,06 %), für Kinder, die im ersten Lebensjahr erkranken, sogar auf rund 170 von 100.000 Masernfällen (0,17 %) geschätzt. Die Gefahr von Komplikationen in Folge einer Masernerkrankung ist bei Kindern im ersten Lebensjahr besonders hoch, gleichzeitig weisen Kinder dieser Altersgruppe die höchste Wahrscheinlichkeit auf, an Masern zu erkranken. Personen mit einer Immundefizienz oder Immunsuppression tragen ein besonders hohes Risiko, schwere Organkomplikationen zu entwickeln und/oder an den Masern zu versterben. Erkenntnisse aus kontrollierten Studien im Rahmen von Masernausbrüchen deuten darauf hin, dass auch schwangere Frauen ein erhöhtes Risiko haben, Komplikationen durch Masern zu erleiden. Bei diesen drei Gruppen mit erhöhtem Komplikationsrisiko besteht gleichzeitig eine Kontraindikation hinsichtlich einer Masernschutzimpfung (vgl. RKI, Epidemiologisches Bulletin 10/2015, S. 72 f.; Epidemiologisches Bulletin 2/2020, S. 5). 18 Dem Robert Koch-Institut wurden im Jahr 2020, wohl beeinflusst durch die Schutzmaßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie nur 76 Masernfälle, in den Jahren davor jährlich zwischen 327 und 2.465 Masernfälle übermittelt (RKI, Epidemiologisches Bulletin 15/2021, S. 6). 19 In der Bevölkerung sind von den Masern insbesondere 0- bis 5-jährige Kinder, Jugendliche und jüngere Erwachsene betroffen. In den Jahren 2014 bis 2018 wurden dem Robert Koch-Institut Daten von insgesamt 430 Masern-Ausbrüchen mit 3.178 Masernfällen übermittelt. Als Ausbrüche gelten Häufungen von zwei und mehr Fällen. Rund 21 % solcher Ausbrüche und rund 28 % aller Masernfälle erfolgten im Umfeld einer medizinischen Einrichtung, Betreuungseinrichtungen sowie Einrichtungen für Asylsuchende (RKI, Epidemiologisches Bulletin 2/2020, S. 8). 20 2. Es existiert keine ursächliche Behandlung von Masern. Lediglich Krankheitssymptome wie Fieber oder Schmerzen können durch entsprechende Medikamente gelindert werden. Bakterielle Folgeinfektionen, die als Masernkomplikationen vorkommen können, werden mit Antibiotika behandelt (vgl. RKI, Epidemiologisches Bulletin 44/1999, S. 326; RKI-Ratgeber Masern, Stand: 23. Juli 2021). 21 3. a) Die Masernschutzimpfung bietet einen sicheren Schutz gegen eine akute Masernerkrankung. Die Impfung bewirkt eine Immunantwort, die mit derjenigen nach einer natürlichen Infektion vergleichbar ist. Für die zweifache Impfung gegen Masern geht das Robert Koch-Institut nach Berechnungen, deren Qualität auch von Seiten der Weltgesundheitsorganisation als hoch eingeschätzt wird, von einer mittleren Impfeffektivität von 95 bis 100 % aus (RKI, Epidemiologisches Bulletin 2/2020, S. 10; vgl. auch Positionspapier der WHO zu Masern, Weekly epidemiological record, No. 17, 2017, 92, S. 205 <213 ff.>). Die nur einmalige Impfung erreicht eine Impfeffektivität von mindestens 92 % bei Kindern und Jugendlichen im Alter bis zu 15 Jahren (RKI, Epidemiologisches Bulletin 2/2020, S. 9). Die zweite Impfung erzeugt bei fast allen Personen, die nach einer ersten Impfung noch nicht reagiert haben, eine Immunität und sollte möglichst zeitnah im Mindestabstand von vier Wochen nach der ersten Impfung gegeben werden. Nach erfolgreicher Impfung mit dem Lebendimpfstoff wird ein lebenslanger Schutz gegen Masern angenommen (RKI, Epidemiologisches Bulletin 2/2020, S. 10; Positionspapier der WHO zu Masern, Weekly epidemiological record, No. 17, 2017, 92, S. 205 <215>). 22 b) Nach fachwissenschaftlicher Einschätzung soll eine Impfung gegen Masern nicht vorgenommen werden, soweit hinreichende Erkenntnisse zur Impfung fehlen oder wenn bekannt ist, dass die Impfung negative Folgen hat, also eine Kontraindikation vorliegt. 23 Für eine Impfung von Säuglingen unter neun Monaten fehlen umfassende Daten zur Sicherheit und Wirksamkeit der verwendeten Impfstoffe. Nach den vorliegenden Erkenntnissen sind diese durch das Vorhandensein mütterlicher Antikörper und durch die Unreife des kindlichen Immunsystems häufig stark vermindert. Mit der Impfung des Kindes kann daher erst zu einem Zeitpunkt begonnen werden, in dem die Antikörper vollständig abgebaut sind, was bei der Masernerkrankung nach etwa einem Jahr der Fall ist (vgl. RKI, Epidemiologisches Bulletin 34/2019, S. 327). Die Ständige Impfkommission empfiehlt daher, die erste Masernschutzimpfung erst im Alter von elf bis vierzehn Monaten durchzuführen. Die vollständige Grundimmunisierung mit zwei Impfungen kann nach dem empfohlenen Impfkalender der Ständigen Impfkommission frühestens ab einem Lebensalter von 15 bis 23 Monaten erfolgen (RKI, Epidemiologisches Bulletin 34/2019, S. 316). 24 Die Ständige Impfkommission ist ein politisch und weltanschaulich neutrales (vgl. § 2 Abs. 1 Satz 2 der Geschäftsordnung der STIKO), 1972 gegründetes Expertengremium beim Robert Koch-Institut (hierzu BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 27. April 2022 - 1 BvR 2649/21 -, Rn. 139). Es soll einen optimalen Einsatz verfügbaren Impfstoffes gewährleisten. An den Sitzungen der Ständigen Impfkommission nehmen auch Expertinnen und Experten der Gesundheitsministerien von Bund und Ländern, des Gemeinsamen Bundesausschusses der Krankenkassen, des Robert Koch-Instituts und des Paul-Ehrlich-Instituts mit beratender Stimme teil. Bei ihrer Arbeit nutzt sie Kriterien der evidenzbasierten Medizin, bezieht insbesondere die Bewertungen des Paul-Ehrlich-Instituts zur Sicherheit von Impfstoffen mit ein und bedient sich der – fachlichen und administrativen – Unterstützung des Robert Koch-Instituts. Dabei steht weniger eine wirtschaftliche Kosten-Nutzen-Bewertung im Vordergrund, sondern die Nutzen-Risiko-Abwägung der Wirksamkeit von Impfstoffen und möglichen Impfrisiken. Demnach hat die Ständige Impfkommission nicht nur den Nutzwert einer Impfung für Einzelne, sondern auch für die Gesamtbevölkerung in den Blick zu nehmen (vgl. § 1 Abs. 3 der Geschäftsordnung der STIKO). Nach § 20 Abs. 2 Satz 3 IfSG hat die Kommission die Kernaufgabe, Empfehlungen zur Durchführung von Schutzimpfungen und anderer Maßnahmen der Vorsorge gegen übertragbare Krankheiten zu geben und Kriterien zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion und einer darüber hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung zu entwickeln. Ihre Empfehlungen gelten als medizinischer Standard; sie sind auch Grundlage für die Erstattung von Kosten (vgl. § 20i Abs. 1 Satz 3, § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 15 SGB V). Nach § 20 Abs. 3 IfSG sollen die obersten Gesundheitsbehörden der Länder ihre öffentlichen Empfehlungen auf der Grundlage der jeweiligen Empfehlungen der Ständigen Impfkommission aussprechen. 25 Eine Impfung ist während einer Schwangerschaft und für Personen mit schweren Einschränkungen des Immunsystems nicht angezeigt (vgl. RKI-Ratgeber Masern, Stand: 23. Juli 2021). Die im Masernimpfstoff enthaltenen abgeschwächten, aber vermehrungsfähigen Viren können sich einerseits bei Menschen mit bestimmten angeborenen oder erworbenen Störungen des Immunsystems unkontrolliert vermehren und somit schwere Infektionen hervorrufen. Andererseits können Patienten mit eingeschränktem Immunsystem auch ein erhöhtes Risiko für eine schwer verlaufende Masernerkrankung aufweisen und in besonderer Weise von einer Impfung profitieren. Eine Impfung kann daher bei Patienten mit bestimmten Formen der Immundefizienz nach individueller Absprache nur dann in Betracht gezogen werden, wenn der Nutzen der Impfung die Risiken überwiegt (vgl. RKI, Infektionskrankheiten A - Z, Masern, Antworten auf häufig gestellte Fragen zur Schutzimpfung gegen Masern, Masernimpfung: Wirksamkeit, Sicherheit und Kontraindikationen, Stand: 4. Juni 2020). Als medizinische Kontraindikation gelten auch Allergien gegen Bestandteile des Impfstoffes. 26 c) In Deutschland sind ‒ wie auch in Nordamerika und weiten Teilen Europas (vgl. Misin et al., Microorganisms, Measles: An Overview of a Re-Emerging Disease in Children and Immunocompromised Patients, 2020, 8, 276, S. 9) ‒ schon seit längerer Zeit keine allein gegen Masern wirksamen, sogenannten Monoimpfstoffe auf dem Markt mehr verfügbar und nicht mehr zugelassen, sondern nur Masern-, Mumps- und Röteln-Kombinationsimpfstoffe beziehungsweise Masern-, Mumps-, Röteln- und Varizellen (Windpocken)-Kombinationsimpfstoffe (vgl. Paul-Ehrlich-Institut, Bundesinstitut für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel, Masern-Impfstoffe, Stand: 25. September 2020). Allerdings können auf der Grundlage von § 73 Abs. 3 Halbsatz 1 AMG im Inland nicht zugelassene Fertigarzneimittel, die zur Anwendung bei Menschen bestimmt sind, über Apotheken im Wege der Einzeleinfuhr eingeführt werden, wenn sie im ausführenden Staat zugelassen sind und im Inland keine vergleichbaren Arzneimittel hinsichtlich Wirkstoff und Wirkstärke vorhanden sind. Derzeit ist in der Schweiz ein Masern-Monoimpfstoff „Measles Vaccine Live B.P.“ zugelassen, der auf eigene Kosten nach Deutschland eingeführt und hier verimpft werden kann (siehe dazu auch VG Ansbach, Beschluss vom 5. Mai 2022 - AN 18 S 22.00535 -). 27 d) Die Masernimpfung ruft wie alle Impfungen unmittelbare Reaktionen hervor, in seltenen Fällen treten auch Komplikationen auf. An der Injektionsstelle werden Rötungen, Schwellungen und Schmerzen für ein bis drei Tage beobachtet. Ferner können Allgemeinsymptome wie Kopfschmerzen, Mattigkeit und Fieber auftreten. Etwa 5 bis 15 % der Geimpften zeigen mäßiges bis hohes Fieber zwischen dem siebten und zwölften Tag nach der Impfung, welches ein bis zwei Tage anhält. Der für Masern typische Ausschlag kann bei etwa 5 % der Geimpften in der zweiten Woche nach der Impfung auftreten. Hierbei handelt es sich um eine milde, selbstlimitierende Symptomatik, die nicht ansteckend ist und ein bis drei Tage andauert. Etwa 1 % der Geimpften berichten nach der Impfung über Gelenkschmerzen, insbesondere Erwachsene. Die beschriebenen Symptome treten nach der zweiten Impfung nur noch selten auf (RKI, Epidemiologisches Bulletin 2/2020, S. 11). 28 Schwere unerwünschte Wirkungen der Impfung sind selten. Ein in der Regel selbstlimitierender Mangel an Blutplättchen (Thrombozytopenie) oder eine idiopathische thrombozytopenische Purpura (eine Autoimmunkrankheit, bei der ebenfalls ein Mangel an Blutplättchen herrscht) wurde bei drei von 100.000 Geimpften (0,03 ‰) innerhalb von zwei Monaten nach der ersten Impfung beobachtet. Die Impfungen erhöhen bei Kindern im Alter zwischen 10 und 24 Monaten das Grundrisiko für Fieberkrämpfe um das Zwei- bis Dreifache. In ein bis vier Fällen pro einer Million Geimpfte (0,001 bis 0,004 ‰) wird eine Anaphylaxie (akute, allergische Reaktion des Immunsystems) nach der Impfung beobachtet. Ob die Impfung gegen Masern eine Entzündung des Gehirns (Enzephalitis) auslösen kann, wird kontrovers beurteilt. Eine Inzidenz von etwa eins pro eine Million Geimpfte (0,001 ‰) wird teilweise beschrieben. Fallberichte deuten aber darauf hin, dass angeborene oder erworbene Immundefekte dafür verantwortlich waren. Vereinzelt wurden bei Patienten mit einer Immunsuppression progressive Verläufe mit schweren Komplikationen, wie einer Einschlusskörper-Enzephalitis oder Pneumonie, beschrieben. Die Impfung ist daher für Personen mit schwerer Immunsuppression kontraindiziert. Dagegen besteht kein Zusammenhang zwischen der Impfung und dem Auftreten einer chronisch-entzündlichen Darmerkrankung, von Autismus oder einer aseptischen Meningitis (vgl. RKI, Epidemiologisches Bulletin 2/2020, S. 11; Mentzer u.a., Bundesgesundheitsblatt 2013, 1253 <1256>). 29 In ihren Stellungnahmen, die auf der Auswertung von drei zwischen 1981 und 2001 durchgeführten Studien beruhen, haben im Ergebnis übereinstimmend das Paul-Ehrlich-Institut und die Bundesärztekammer ausgeführt, dass keine wesentlichen Unterschiede bei den Impfreaktionen und Nebenwirkungen zwischen Masernmonoimpfstoffen und den untersuchten Mehrfachimpfstoffen bestehen. Auf die Ausführungen des Paul-Ehrlich-Instituts hat das Robert Koch-Institut in seiner im Verfahren eingeholten Stellungnahme verwiesen. Angesichts der Häufigkeit des Auftretens und der Schwere der Komplikationen bei einer Wildvirus-Infektion im Vergleich zu den beschriebenen Nebenwirkungen besteht auch für eine Masernkombinationsimpfung eine positive Risiko-Nutzen-Bewertung und wird diese Impfung insbesondere bei Kindern empfohlen. Das gilt für die Weltgesundheitsorganisation, das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (eine Agentur der Europäischen Union), die Ständige Impfkommission beziehungsweise das Robert Koch-Institut, das Paul-Ehrlich-Institut sowie das Ärztliche Zentrum für Qualität in der Medizin, die Kassenärztliche Bundesvereinigung und die Bundesärztekammer (vgl. Positionspapier der WHO zu Masern, Weekly epidemiological record, No. 17, 2017, 92, S. 205 <220>; European Centre for Disease Prevention and Control. Who is at risk for measles in the EU/EEA? Identifying susceptible groups to close immunity gaps towards measles elimination, 2019; RKI, Epidemiologisches Bulletin 32/2010, S. 1; Patienteninformation Masernimpfung bei Kindern, Mai 2015, herausgegeben vom Ärztlichen Zentrum für Qualität in der Medizin, der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und der Bundesärztekammer; Mentzer u.a., Bundesgesundheitsblatt 2013, 1253 <1259>; dazu auch Demicheli et al., Vaccines for measles, mumps and rubella in children, Cochrane Database of Systematic Reviews 2012, Issue 2, Art. No.: CD004407, S. 2). 30 e) Die Anzahl der gegen Masern Geimpften in der Bevölkerung ist in Deutschland niedriger als in vielen anderen, insbesondere europäischen Ländern. Nach einer vom Robert Koch-Institut durchgeführten Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS) sind in Deutschland 93,6 % der 3- bis 17-Jährigen (Geburtenjahrgänge 1985 bis 2013) zweifach gegen Masern geimpft. Die Quote ist bei Kindern ohne Migrationshintergrund niedriger als bei Kindern mit einem „einseitigen“ Migrationshintergrund (93,6 zu 95,9 %). In der Gruppe der 3- bis 6-Jährigen beträgt die Impfquote 91,9 %, und zum Ende des zweiten Lebensjahrs liegt die Quote einer zweifachen Masernimpfung für die Geburtenjahrgänge 2010 bis 2013 bei lediglich 64,4 %. Ausweislich einer Impfsurveillance der Kassenärztlichen Vereinigung aus dem Jahr 2020 liegt die Quote der zweifach gegen Masern geimpften Kinder bei Vollendung des zweiten Lebensjahrs bei dem Geburtenjahrgang 2014 bei 70,6 % und bei den Geburtenjahrgängen 2015 bis 2016 bei 69,9 %. Bis zur Vollendung des dritten Lebensjahrs erhöht sich die Quote auf 81,7 % (Geburtsjahr 2010) bis 82,8 % (Geburtsjahr 2014). Ausweislich der Schuleingangsuntersuchung 2018 lag die Quote bei den 4- bis 7-Jährigen (Geburtenjahrgänge 2010 bis 2013) sodann bei 93,1 % (vgl. Poethko-Müller u.a., Bundesgesundheitsblatt 2019, 410 <412, 416>; RKI, Epidemiologisches Bulletin 32/33/2020, S. 14). 31 Mit den bisher erreichten Impfquoten bleibt Deutschland hinter Zielen zurück, deren Erreichen im Rahmen internationaler Kooperationen zugesagt wurde. So verfolgen die Mitgliedstaaten der Europäischen Region der Weltgesundheitsorganisation bereits seit 1984 das Ziel der schrittweisen Eliminierung der Masern, seit 2005 auch der Röteln. Deutschland hat sich seit längerem und wiederholt zu diesen Zielen bekannt. Für das Jahr 2015 war bereits die Elimination von Masern und Röteln angestrebt (vgl. zum Vorstehenden Bundesministerium der Gesundheit <Hrsg.>, Nationaler Aktionsplan 2015-2020 zur Elimination der Masern und Röteln in Deutschland, 2015, S. 3 und 10). Um die Verbreitung von Masern zu verhindern, sind Impfraten von mehr als 95 % der Gesamtbevölkerung erforderlich. Bei einer Immunität in der Bevölkerung von 95 % und mehr können auch wirksam Personen geschützt werden, die (noch) nicht geimpft werden können (vgl. RKI, Epidemiologisches Bulletin 10/2020, S. 3). Daher haben sich die 53 Mitgliedstaaten der Europäischen Region der Weltgesundheitsorganisation auf eine Strategie zur Eliminierung der Masern und Röteln geeinigt, wonach in jeder Population mindestens 95 % durch zwei Dosen Impfstoff oder durch eine frühere Infektion mit dem Virus immun sein sollen, damit alle Mitglieder der Gemeinschaft geschützt sind, also insbesondere auch die vulnerablen Personen. Während es bis Ende 2017 insgesamt 37 von 53 Mitgliedstaaten gelungen ist, die Masern zu eliminieren, und weiteren sechs Mitgliedstaaten, zumindest die endemische Übertragung über einen Zeitraum von ein bis zwei Jahren zu unterbrechen, wurde Deutschland 2019 von der Weltgesundheitsorganisation – als einer von nur fünf Staaten der Europäischen Union – nach wie vor als Staat mit endemischer Übertragung der Masern eingestuft (European Centre for Disease Prevention and Control. Who is at risk for measles in the EU/EEA? Identifying susceptible groups to close immunity gaps towards measles elimination, 2019, S. 3 f.). IV. 32 Die vier Verfassungsbeschwerden richten sich jeweils gegen dieselben gesetzlichen Vorschriften des Infektionsschutzgesetzes zum Impfschutz gegen Masern in bestimmten Einrichtungen. 33 1. Die Beschwerdeführenden halten die von ihnen angegriffenen Regelungen für verfassungswidrig, weil diese unverhältnismäßig sowohl in das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) der minderjährigen Beschwerdeführenden als auch in das Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) der übrigen Beschwerdeführenden eingriffen sowie sämtliche Beschwerdeführenden in ihren Rechten aus Art. 3 Abs. 1 GG verletzten. 34 a) Die Beschwerdeführenden zu 1) und zu 2) im Verfahren 1 BvR 469/20 sind die gemeinsam sorgeberechtigten Eltern der im April 2019 geborenen Beschwerdeführerin zu 3), die ab April 2020 eine kommunale Kindertagesstätte besuchen sollte. Die Gemeinde hatte dem Aufnahmeantrag entsprochen und mit gesondertem Schreiben darauf hingewiesen, dass der Nachweis einer erfolgten Impfung bis 11. Mai 2020 vorgelegt werden müsse. 35 Die Beschwerdeführenden zu 1) und zu 2) im Verfahren 1 BvR 470/20 sind die gemeinsam sorgeberechtigten Eltern des im Januar 2019 geborenen Beschwerdeführers zu 3) des genannten Verfahrens. Er sollte ab Mai 2020 aufgrund eines bereits abgeschlossenen Betreuungsvertrags von einer Tagesmutter, die die Erlaubnis zur Kindertagespflege nach § 43 SGB VIII besitzt, betreut werden. 36 Die Beschwerdeführenden zu 1) und zu 2) im Verfahren 1 BvR 471/20 sind die gemeinsam sorgeberechtigten Eltern der im April 2017 geborenen Beschwerdeführerin zu 3). Das Kind sollte ab Mai 2020 eine kommunale Kindertagesstätte besuchen. Die Gemeinde hatte sich zur Aufnahme bereit erklärt, aber mitgeteilt, dass vorher eine Impfung oder Immunität gegen Masern oder eine Kontraindikation zu der Impfung nachzuweisen sei. 37 Die Beschwerdeführenden zu 1) und zu 2) im Verfahren 1 BvR 472/20 sind die gemeinsam sorgeberechtigten Eltern des im April 2018 geborenen Beschwerdeführers zu 3), der ab Mai 2020 aufgrund eines bereits abgeschlossenen Betreuungsvertrags von einer Tagesmutter, die die Erlaubnis zur Kindertagespflege nach § 43 SGB VIII besitzt, betreut werden sollte. 38 Die minderjährigen Beschwerdeführenden in den Verfassungsbeschwerdeverfahren sind nicht gegen Masern geimpft und verfügen über keine Immunität. Medizinische Kontraindikationen zu einer Masernimpfung bestehen bei ihnen nicht. 39 b) Die beschwerdeführenden Kinder seien bei Aufnahme in die Gemeinschaftseinrichtung verpflichtet, eine Masernschutzimpfung aufzuweisen (§ 20 Abs. 8 Satz 1 Nr. 1 IfSG). Für die übrigen Beschwerdeführenden bedeute dies, dass sie aufgrund ihrer elterlichen Sorge, die auch die Gesundheitssorge umfasse, diese Impfungen herbeiführen müssten und nach § 20 Abs. 9 Satz 1, Abs. 13 Satz 1 IfSG nachzuweisen hätten. Ohne Nachweis trete kraft Gesetzes (§ 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG) ein Betreuungs- und ein Aufnahmeverbot ein, das mittels einer Untersagungsverfügung im Einzelfall durch das Gesundheitsamt (§ 20 Abs. 12 Satz 3 IfSG in der Fassung des Masernschutzgesetzes bzw. § 20 Abs. 12 Satz 4 IfSG in der aktuellen Fassung) verstärkt werden könne. Beides wirke auch zulasten der Eltern. Die Kinder würden ohne Nachweis einer Impfung ihren Anspruch auf Förderung in einer Kindertagespflege beziehungsweise einer Kindertagesstätte aus § 24 Abs. 2 Satz 1 beziehungsweise Abs. 3 Satz 1 SGB VIII verlieren. Dieser Anspruchsverlust betreffe die übrigen Beschwerdeführenden bei der Ausübung ihrer elterlichen Sorge. Die jeweiligen Beschwerdeführenden zu 1) und zu 2) müssten ihre Kinder impfen lassen, um die außerfamiliäre Betreuung zu ermöglichen. Diese Pflicht zur Herbeiführung und zum Nachweis der Masernimpfung greife jedoch unverhältnismäßig in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit der minderjährigen Beschwerdeführenden zu 3) ein, insbesondere wegen der Pflicht, sich nicht nur gegen Masern impfen zu lassen (vgl. § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG), sondern aufgrund der Nichtverfügbarkeit von Monoimpfstoffen auch gegen andere Krankheiten als Masern. Dies würde die Beschwerdeführerinnen zu 3) in den Verfahren 1 BvR 469/20 und 1 BvR 471/20 aufgrund der medizinischen Besonderheiten der weiblichen Gesundheit im Lebenslauf besonders nachteilig betreffen. 40 Damit schiebe das Gesetz zugleich in unverhältnismäßiger Weise das Elternrecht beiseite. Die nach dem elterlichen Erziehungsplan vorgesehene Betreuung in einer Kindertagespflege beziehungsweise in einer Kindertagesstätte könnten sie nicht mehr verwirklichen, sondern seien stattdessen gezwungen, eine unverhältnismäßige medizinische Maßnahme zulasten ihres Kindes zu dulden. Auf ihre – mithilfe ärztlicher Beratung gebildete – elterliche Entscheidung über das „Ob“ der Impfung komme es überhaupt nicht mehr an, anders als dies bis vor Inkrafttreten des Masernschutzgesetzes der Fall gewesen sei. 41 Schließlich würden die beschwerdeführenden Kinder durch das Gesetz einer Pflicht ausgesetzt, die unter Verstoß gegen den Gleichheitssatz nicht folgerichtig umgesetzt worden sei. Sie würden in sachlicher und zeitlicher Hinsicht insbesondere mit Blick auf Übergangsfristen mit der Pflicht belastet, Impfungen auf- und nachzuweisen, ohne dass sich ihre Situation von Situationen wesentlich unterscheide, in denen der Gesetzgeber von der Pflicht, Impfungen auf- und nachzuweisen, abgesehen habe. 42 2. Die Verfassungsbeschwerden sind dem Deutschen Bundestag, dem Bundesrat, der Bundesregierung und allen Landesregierungen zur Stellungnahme zugeleitet worden. 43 Die Bundesregierung hält die Verfassungsbeschwerden für unbegründet. Soweit durch die angegriffenen Regelungen in das Recht auf körperliche Unversehrtheit der minderjährigen Beschwerdeführenden überhaupt eingegriffen werde, sei dies durch die verfolgten Schutzzwecke verfassungsrechtlich gerechtfertigt, insbesondere erforderlich und angemessen. Das gelte auch, soweit der Nachweis im Falle der Nichtverfügbarkeit eines Monoimpfstoffs nur durch Nutzung eines Kombinationsimpfstoffes erbracht werden könne. Die mit der gesetzlichen Neuregelung im Falle einer Ablehnung der Masernimpfung verbundenen Beschränkungen der sorgeberechtigten Eltern in ihrem durch Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG gewährleisteten Recht zur Gestaltung der Betreuung ihrer Kinder unter Berücksichtigung ihrer beruflichen Lebensplanungen und inner-familiären Vereinbarungen sowie der elterlichen Sorge seien ebenfalls gerechtfertigt. Soweit eine unterschiedliche Ausgestaltung des Masernimpfnachweises in Bezug auf den Schulbesuch und die häusliche Kindertagespflege im Vergleich zu den Kindertageseinrichtungen und der erlaubnispflichtigen Kindertagespflege sowie bei der Ausgestaltung der Fristen bei den Übergangsregelungen gerügt werde, seien diese durch hinreichend gewichtige Sachgründe gerechtfertigt und mit dem allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar. 44 3. Der Senat hat auf der Grundlage von § 27a BVerfGG sachkundigen Dritten Gelegenheit gegeben, zu den Verfassungsbeschwerden und ausgewählten Fachverbänden auch zu den nachfolgenden Fragen Stellung zu nehmen: Frage 1: Welche Möglichkeiten gibt es, um in der Gruppe der Personen, die das zweite Lebensjahr vollendet haben, die Quote derjenigen, die zweifach gegen Masern geimpft sind oder durch eine frühere Infektion mit dem Virus immun sind, auf 95 Prozent der Gesamtbevölkerung oder höher zu steigern? Frage 2: Unterscheidet sich die Gefahr, Impfreaktionen und unerwünschte Nebenwirkungen zu erleiden, bei einer Masernschutzimpfung mit einem Monoimpfstoff von der Gefahr bei einer solchen Impfung mit einem Kombinationsimpfstoff? Wenn ja, inwiefern? Frage 3: Haben Sie Erkenntnisse, welche Strategien in anderen europäischen Ländern zur Bekämpfung der Masern und zur Erreichung einer Masernimpfquote (im Sinne einer zweifachen Impfung) bzw. eine Immunität durch frühere Infektion von mindestens 95 Prozent der Gesamtbevölkerung verfolgt werden? 45 Von der Möglichkeit zur Stellungnahme haben Gebrauch gemacht: die Ärztinnen und Ärzte für individuelle Impfentscheidung e.V., die Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter, die Bundesärztekammer, die Bundeselternvertretung, der Berufsverband der Ärzte für Mikrobiologie, Virologie und Infektionsepidemiologie e.V., der Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes e.V., der Bundesverband privater Träger der freien Kinder-, Jugend- und Sozialhilfe e.V., die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin e.V., die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin e.V., die Deutsche Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin e.V., die Deutsche Gesellschaft für Virologie e.V. – auch im Namen der Deutschen Vereinigung zur Bekämpfung der Viruserkrankungen e.V. –, der Spitzenverband Bund der Krankenkassen, die Ständige Impfkommission beim Robert Koch-Institut unter Verweis auf eine Stellungnahme des Paul-Ehrlich-Instituts. B. 46 Die Verfassungsbeschwerden sind zulässig. I. 47 Sämtliche Beschwerdeführenden sind als Träger von Grundrechten beschwerdefähig. Den hier beschwerdeführenden Kindern steht das als verletzt gerügte Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG wie jeder anderen natürlichen Person zu. Kinder sind Träger von allen Grundrechten (vgl. BVerfGE 121, 69 <92>; siehe auch BVerfGE 47, 46 <73 f.> und BVerfGE 57, 316 <382> zur Menschenwürde und zum Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit), auch wenn sie diese aus tatsächlichen Gründen nicht von Anfang an vollumfänglich wahrnehmen können (vgl. Jestaedt/Reimer, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand: Dezember 2018, Art. 6 Abs. 2 und 3 GG, Rn. 107; siehe auch Wapler, Kinderrechte und Kindeswohl, 2015, S. 89 ff., 396 ff.). Ebenso steht ihnen der grundrechtlich gewährleistete Anspruch auf Gleichbehandlung aus Art. 3 Abs. 1 GG zu (vgl. BVerfGE 151, 101 <126 Rn. 61>). 48 Kinder werden durch ihre jeweils sorgeberechtigten Eltern gesetzlich vertreten (vgl. § 1629 Abs. 1 Satz 1 BGB). Das umfasst die Befugnis zur Einlegung der Verfassungsbeschwerde und die Vertretung der selbst wegen ihres Alters noch nicht prozessfähigen Kinder auch im verfassungsgerichtlichen Verfahren (vgl. BVerfGE 72, 122 <133>). Das gilt hier unabhängig von der Frage, ob die Entscheidung, ihre Kinder nicht gegen Masern impfen lassen zu wollen, tatsächlich im Interesse des Kindes liegt, denn dies ist eine Frage der Grenzen des Sorgerechts, die im gerichtlichen Verfahren überprüft werden. Ein zum Ausschluss der beschwerdeführenden Eltern von der Vertretung ihrer Kinder im Verfassungsprozess führender Interessenkonflikt liegt hier nicht vor. Die von den Eltern für ihre Kinder erhobenen Verfassungsbeschwerden zielen gerade darauf ab, die Durchsetzung der Grundrechte ihrer beschwerdeführenden Kinder vor dem Bundesverfassungsgericht zu ermöglichen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 12. Februar 2021 - 1 BvR 1780/20 -, Rn. 23). II. 49 Die Beschwerdeführenden wenden sich bei verständiger Auslegung nur insoweit gegen Regelungen des Masernschutzgesetzes, als sie Kinder betreffen, die in einer Kindertageseinrichtung oder in einer nach § 43 Abs. 1 SGB VIII erlaubnispflichtigen Kindestagespflege betreut werden (vgl. § 33 Nr. 1 und 2 IfSG) und die daher gemäß § 20 Abs. 8 Satz 1 Nr. 1, Abs. 9 Satz 1 IfSG eine Impfung gegen Masern auf- und nachweisen müssen. Von den Verfassungsbeschwerden nicht erfasst sind daher von der Auf- und Nachweispflicht betroffene Schülerinnen und Schüler (vgl. § 33 Nr. 3 IfSG), Personen, die bereits vier Wochen in einem Heim betreut werden oder in Einrichtungen zur gemeinschaftlichen Unterbringung von Asylbewerbern, vollziehbar Ausreisepflichtigen, Flüchtlingen und Spätaussiedlern untergebracht sind (vgl. § 20 Abs. 8 Satz 1 Nr. 2 IfSG), sowie Personen, die in bestimmten Einrichtungen tätig sind (vgl. § 20 Abs. 8 Satz 1 Nr. 3 IfSG). 50 Die angegriffenen Regelungen des Infektionsschutzgesetzes sind nach Erhebung der Verfassungsbeschwerden zwar insoweit geändert worden, als der angegriffene § 20 Abs. 12 Satz 3 IfSG a.F. durch das Gesetz zur Stärkung der Impfprävention gegen COVID-19 und zur Änderung weiterer Vorschriften im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie vom 10. Dezember 2021 (BGBl I S. 5162) zu Satz 4 und um einen Einschub erweitert wurde. Zudem hat der Gesetzgeber den für den Auf- und Nachweis insbesondere der Masernimpfung maßgeblichen Zeitpunkt mehrfach verändert und zuletzt auf den 31. Juli 2022 festgelegt. Dem den Änderungen nachfolgenden Vorbringen der Beschwerdeführenden lässt sich aber eine Anpassung der Beschwerde an die geänderte Gesetzeslage hinreichend entnehmen. III. 51 Die Beschwerdeführenden sind auch hinsichtlich aller von ihnen angegriffenen Regelungen beschwerdebefugt. Sie werden durch diese jeweils selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen. Zudem haben sie hinreichend dargelegt, in jeweils eigenen Grundrechten verletzt sein zu können. 52 1. a) Sämtliche beanstandeten Regelungen betreffen sowohl die beschwerdeführenden Kinder als auch deren beschwerdeführende Eltern selbst. Teils sind sie ohnehin Adressaten der angegriffenen Regelungen (vgl. BVerfGE 119, 181 <212>; 140, 42 <57 Rn. 57> m.w.N.). Teils wenden sie sich gegen gesetzliche Regelungen, die, wie etwa das Betreuungsverbot in § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG, zwar an Dritte gerichtet sind. Jedoch besteht durchgängig eine hinreichend enge Beziehung zwischen den Beschwerdeführenden und den angegriffenen Regelungen. Das ist bei Beanstandung einer an Dritte gerichteten gesetzlichen Norm dann der Fall, wenn sie die Grundrechtsposition der Beschwerdeführenden unmittelbar zu deren Nachteil verändert und sie nicht lediglich faktisch betrifft (vgl. BVerfGE 51, 386 <395>; 78, 350 <354>). 53 Die beschwerdeführenden Kinder sind Adressaten der Aufweispflicht aus § 20 Abs. 8 Satz 1 Nr. 1 IfSG und der Nachweispflicht nach § 20 Abs. 9 Satz 1 IfSG. Das in § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG für den Fall des ausgebliebenen Nachweises einer Impfung gegen Masern angeordnete Betreuungsverbot richtet sich zwar an die in der Regelung genannten Einrichtungen, trifft aber die Kinder in eigener Person. Ihre Eltern hatten bereits vor Inkrafttreten der hier gegenständlichen Vorschriften des Infektionsschutzgesetzes in Ausübung ihres Sorgerechts entschieden, die Kinder in Gemeinschaftseinrichtungen im Sinne von § 33 Nr. 1 und 2 IfSG betreuen lassen zu wollen. Auch von § 20 Abs. 12 Satz 1 und 3 IfSG sowie § 20 Abs. 13 Satz 1 IfSG sind die Kinder selbst betroffen. Zwar gibt § 20 Abs. 13 Satz 1 IfSG den Eltern auf, den Nachweis einer Impfung gegen Masern (§ 20 Abs. 9 Satz 1 IfSG) ihrer Kinder vorzulegen. Das ändert aber nichts daran, dass in § 20 Abs. 12 Satz 1 Nr. 1 IfSG die zu betreuenden Personen, also die Kinder, originäre Adressaten der Nachweispflicht sind. 54 Die beschwerdeführenden Eltern sind ebenfalls sämtlich von den beanstandeten gesetzlichen Regelungen in ihrem Recht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG selbst betroffen. Das folgt nicht allein aus der ihnen in § 20 Abs. 13 Satz 1 IfSG übertragenen Aufgabe, den Nachweis der Masernimpfung für ihre Kinder zu erbringen. Bereits die Aufweispflicht (§ 20 Abs. 8 IfSG) trifft sie selbst. Denn grundsätzlich können ihre Kinder eine Masernimpfung nur auf- und nachweisen, wenn die Eltern ihr die Gesundheitssorge für ihre Kinder umfassendes Sorgerecht dahingehend ausgeübt haben, diese gegen Masern impfen zu lassen. Damit sind sie selbst betroffen. 55 b) Die angegriffenen Regelungen des Infektionsschutzgesetzes betreffen alle Beschwerdeführenden gegenwärtig. Zum maßgeblichen Zeitpunkt der Erhebung der Verfassungsbeschwerde (vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 19. November 2021 - 1 BvR 781/21 u.a. -, Rn. 86; Beschluss vom 27. April 2022 - 1 BvR 2649/21 -, Rn. 82 jeweils m.w.N.) wirkten die Vorschriften bereits aktuell auf die Rechtsstellung der beschwerdeführenden Kinder und Eltern ein. Es war bereits klar abzusehen, dass und wie sie in der Zukunft von den Regelungen betroffen sein werden (vgl. BVerfGE 114, 258 <277>; 119, 181 <212>; stRspr). Die beschwerdeführenden Eltern hatten entschieden, ihre Kinder in Einrichtungen im Sinne von § 33 Nr. 1 und 2 IfSG betreuen zu lassen, und auch bereits entsprechende Aufnahmebescheide erwirkt beziehungsweise Betreuungsverträge abgeschlossen. 56 Auch die Beschwerdeführerin zu 3) im Verfahren 1 BvR 469/20 war bereits bei Erhebung ihrer Verfassungsbeschwerde durch die angegriffenen Regelungen gegenwärtig betroffen. Zwar hat sie ihr erstes Lebensjahr erst am 12. April 2020 vollendet, sollte jedoch bereits ab 1. April 2020 in einer Kindertagesstätte betreut werden. Zu diesem Zeitpunkt musste sie noch keinen Masernimpfschutz im Sinne von § 20 Abs. 8 Satz 2 IfSG aufweisen; dessen bedurfte es erst mit Vollendung des ersten Lebensjahrs. Dann hätte die Beschwerdeführerin zu 3) ohne entsprechenden Nachweis nach § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG allerdings nicht mehr in Gemeinschaftseinrichtungen (§ 33 Nr. 1 und 2 IfSG) betreut werden dürfen. Deshalb war bereits bei Einlegung ihrer Verfassungsbeschwerde klar abzusehen, dass und wie sie von den angegriffenen Regelungen betroffen sein wird. Die für ihre Betreuung vorgesehene Einrichtung hatte dementsprechend bereits einen Impfnachweis bis Mitte Mai 2020 angefordert. 57 c) Alle angegriffenen Vorschriften des Infektionsschutzgesetzes betreffen sämtliche Beschwerdeführenden auch unmittelbar. Wirkungen der Regelungen auf die Rechtsstellung der Kinder und deren Eltern gehen weder erst von einem weiteren Akt in Vollzug des Gesetzes aus noch sind sie vom Ergehen eines solchen Akts abhängig (zum Maßstab vgl. BVerfGE 125, 39 <75 f.>; 126, 112 <133>; stRspr). Die Pflichten, nach § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG eine ausreichende Masernimpfung aufzuweisen und nach § 20 Abs. 9 Satz 1 IfSG diese gegenüber der Einrichtung der Betreuungseinrichtung nachzuweisen, begründet das Gesetz selbst in zeitlich und inhaltlich genau geregelter Weise. Gleiches gilt für das Gebot in § 20 Abs. 12 Satz 1 IfSG, den Impfnachweis der zuständigen Behörde vorzulegen, und die Übertragung der in § 20 Abs. 9 bis 12 IfSG begründeten Pflichten zur Erfüllung auf die Eltern durch § 20 Abs. 13 Satz 1 IfSG. Das bei Ausbleiben des Nachweises geltende Betreuungsverbot ordnet § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG selbst an. 58 Auf die Rechtsstellung der beschwerdeführenden Kinder wird zudem durch die Auf- und Nachweispflicht sowie die mit ihrem Ausbleiben verknüpften Folgen deshalb unmittelbar eingewirkt, weil diese bei Ausbleiben des Nachweises nach § 20 Abs. 9 Satz 1 IfSG den ihnen nach § 24 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 SGB VIII fachrechtlich zustehenden Rechtsanspruch auf einrichtungsgestützte Betreuung (vgl. BVerfGE 147, 185 <245 Rn. 134>; BVerwGE 160, 212 <219 f.>; BGHZ 212, 303 <313 f. Rn. 25> m.w.N.) nach der Auffassung des Gesetzgebers verlieren (vgl. BTDrucks 19/13452, S. 29; VG Magdeburg, Beschluss vom 30. Juli 2020 - 6 B 251/20 -, Rn. 9; siehe aber auch Gebhard, Impfpflicht und Grundgesetz, 2022, S. 256 Fn. 780), diesen aber jedenfalls zeitweilig nicht verwirklichen können (vgl. Rixen, NJW 2020, 647 <649>). Dass in die körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) gegenständlich erst aufgrund der Ausübung der Entscheidungsbefugnis ihrer Eltern darüber eingegriffen wird, steht wegen der dargestellten Wirkungen der angegriffenen Regelungen der Unmittelbarkeit im Sinne der Beschwerdebefugnis nicht entgegen. 59 2. Die Beschwerdeführenden zu 1) und 2) in den vier Verfahren legen die Möglichkeit einer Verletzung ihres Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, die minderjährigen Beschwerdeführenden zu 3) in den vier Verfahren die Möglichkeit einer Verletzung ihres Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG sowie die Möglichkeit einer Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG hinreichend substantiiert dar. IV. 60 Das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis, das grundsätzlich noch im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bestehen muss (vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 19. November 2021 - 1 BvR 781/21 u.a. -, Rn. 98 m.w.N.), ist nicht nachträglich weggefallen. Die beschwerdeführenden Kinder in den vier Verfahren haben im Zeitpunkt der Entscheidung noch den Anspruch auf frühkindliche Förderung aus § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII oder auf Förderung in einer Tageseinrichtung nach § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII, und ihre Eltern möchten weiterhin diese Angebote nutzen. 61 Auch der Beschwerdeführerin zu 3) im Verfahren 1 BvR 471/20, die im April ihr fünftes Lebensjahr vollendet hat, steht der letztgenannte Anspruch bis zum Schuleintritt grundsätzlich zu. Nach dem für sie maßgeblichen § 58 Abs. 1 Satz 1 des Hessischen Schulgesetzes beginnt die Schulpflicht grundsätzlich erst mit Beginn des Schuljahres für alle Kinder, die bis zum 30. Juni des laufenden Kalenderjahres das sechste Lebensjahr vollendet haben. V. 62 Die Verfassungsbeschwerden genügen dem Grundsatz der Subsidiarität (zum Maßstab BVerfG, Beschlüsse des Ersten Senats vom 19. November 2021 - 1 BvR 781/21 u.a. -, Rn. 101 und vom 27. April 2022 - 1 BvR 2649/21 -, Rn. 103 m.w.N.). C. 63 Die Verfassungsbeschwerden haben keinen Erfolg. Die angegriffenen Vorschriften berühren zwar sowohl das die Gesundheitssorge für ihre Kinder umfassende Grundrecht der beschwerdeführenden Eltern aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG als auch und vor allem das durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleistete Grundrecht der beschwerdeführenden Kinder auf körperliche Unversehrtheit; beide Grundrechtspositionen sind vorliegend in spezifischer Weise miteinander verknüpft (I). Sowohl die Eingriffe in das Elternrecht als auch die in die körperliche Unversehrtheit sind aber verfassungsrechtlich gerechtfertigt (II). Die beschwerdeführenden Kinder sind in ihrem Anspruch auf Gleichbehandlung (Art. 3 Abs. 1 GG) ebenfalls nicht verletzt (III). I. 64 Die angegriffenen Regelungen des Infektionsschutzgesetzes beeinträchtigen sowohl die körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) der beschwerdeführenden Kinder als auch das Recht ihrer ebenfalls beschwerdeführenden Eltern aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG. Dabei stehen die Beeinträchtigungen nicht unverbunden nebeneinander, sondern sind hier wegen der Wirkungsweise der beanstandeten Vorschriften in spezifischer Weise miteinander verknüpft. Denn die tatsächliche Einwirkung auf die körperliche Integrität der Kinder durch Vornahme der Impfung hängt von einer entsprechenden Ausübung des auf die Gesundheitssorge für die Kinder bezogenen Elternrechts ab. Die angegriffenen Regelungen bezwecken einen verbesserten Schutz vor Maserninfektionen. Angestrebt ist nicht allein, die Einzelnen gegen die Erkrankung zu schützen (Individualschutz), sondern auch die Weiterverbreitung der Krankheit in der Bevölkerung zu verhindern (Gemeinschaftsschutz), was eine ausreichend hohe Impfquote erfordert (vgl. BTDrucks 19/13452, S. 16). Um diese Zwecke zu erreichen, greifen die beanstandeten Vorschriften sowohl in Grundrechte der Kinder als auch in solche ihrer Eltern ein. Wegen der Ausgestaltung des Gesetzes, die Inanspruchnahme von bestimmten Einrichtungen der frühkindlichen und vorschulischen Förderung vom Auf- und Nachweis einer Masernimpfung der Kinder abhängig zu machen (§ 20 Abs. 8 Satz 1 bis 3, Abs. 9 Satz 1 IfSG), sind deren Grundrechtspositionen mit denen ihrer sorgeberechtigten Eltern hier in spezifischer Weise miteinander verwoben. Der Gesetzgeber kann sowohl den Individual- als auch den Gemeinschaftsschutz im geregelten Bereich nur erreichen, wenn die Eltern ihr die Gesundheitssorge für ihre Kinder umfassendes Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG dahingehend ausüben, die Kinder impfen zu lassen. Um dafür einen nachdrücklichen Anreiz zu setzen und einen entsprechenden Entschluss der Eltern herbeizuführen, verknüpft das Gesetz das Ausbleiben des von den Eltern zu erbringenden Impfnachweises (§ 20 Abs. 13 Satz 1 IfSG) mit dem einrichtungsbezogenen Betreuungsverbot in § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG. II. 65 Die angegriffenen Regelungen über den Auf- und Nachweis einer Masernimpfung sowie diejenigen über die Rechtsfolgen bei Ausbleiben des Nachweises greifen in das Grundrecht der beschwerdeführenden Eltern aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG (1 a) und in die körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) ihrer Kinder ein und beschränken deren Recht auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit aus Art. 2 Abs. 1 GG (1 b). Dies ist jedoch bei verfassungskonformer Auslegung von § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG gerechtfertigt (2 bis 4). 66 1. a) Das Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) der Beschwerdeführenden zu 1) und zu 2) in den vier Verfahren wird durch die verschiedenen angegriffenen Regelungen in unterschiedlicher Weise betroffen. 67 aa) Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG garantiert Eltern das Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Eltern können grundsätzlich frei von staatlichen Einflüssen und Eingriffen nach eigenen Vorstellungen darüber entscheiden, wie sie die Pflege und Erziehung ihrer Kinder gestalten und damit ihrer Elternverantwortung gerecht werden wollen (vgl. BVerfGE 107, 104 <117>; 121, 69 <92>). Das Elternrecht unterscheidet sich allerdings von den anderen Freiheitsrechten des Grundrechtskatalogs wesentlich dadurch, dass es keine Freiheit im Sinne einer Selbstbestimmung der Eltern, sondern eine solche zum Schutze des Kindes und in dessen Interesse gewährt (vgl. BVerfGE 121, 69 <92>). Es beruht auf dem Grundgedanken, dass in aller Regel Eltern das Wohl des Kindes mehr am Herzen liegt als irgendeiner anderen Person oder Institution. Das Elternrecht ist Freiheitsrecht im Verhältnis zum Staat, der in das Erziehungsrecht der Eltern nicht ohne rechtfertigenden Grund eingreifen darf. In der Beziehung zum Kind bildet aber das Kindeswohl die maßgebliche Richtschnur der elterlichen Pflege und Erziehung (vgl. BVerfGE 103, 89 <107>; 121, 69 <92>; 133, 59 <77 f. Rn. 49>). 68 Das Elternrecht ist umfassend zu verstehen. Den Eltern und anderen Personen, die elterliche Verantwortung im Sinne von Art. 6 Abs. 2 GG tragen, steht ein verfassungsrechtlich geschützter Einfluss auf sämtliche Lebens- und Entwicklungsbedingungen des Kindes zu, auch außerhalb der Familie (vgl. BVerfGE 107, 104 <120>). Allerdings bedarf das in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleistete Elternrecht einer – vor allem durch die §§ 1626 ff. BGB erfolgten – gesetzlichen Ausgestaltung (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 24. Juni 2015 - 1 BvR 486/14 -, Rn. 11), ohne dass damit sämtliche fachrechtlichen Regelungen zum Sorgerecht in die verfassungsrechtliche Gewährleistung des Elternrechts einbezogen wären (vgl. BVerfGE 84, 168 <180>). Es erstreckt sich aber auf die wesentlichen Elemente des Sorgerechts, ohne die Elternverantwortung nicht ausgeübt werden kann (vgl. BVerfGE 84, 168 <180>; 107, 150 <173>). 69 Dazu gehört im Grundsatz die Sorge für das körperliche Wohl, worunter die Gesundheitssorge insgesamt und damit auch die Entscheidung über medizinische Maßnahmen fällt (vgl. Brosius-Gersdorf, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2013, Art. 6 Rn. 158 m.w.N.). Schon wegen der möglichen Auswirkungen von Impfungen auf die weitere Entwicklung des Kindes (vgl. BGH, Beschluss vom 3. Mai 2017 - XII ZB 157/16 -, Rn. 20) handelt es sich bei der elterlichen Entscheidung darüber um ein wesentliches Element des Sorgerechts. Diese Entscheidung fällt deshalb in den Schutzbereich des Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG. Das gilt jedenfalls, soweit es sich um die Gesundheitssorge für Kinder handelt, die aufgrund ihres Alters entwicklungsbedingt noch nicht selbst über Maßnahmen medizinischer Behandlung (siehe § 630d Abs. 1 Satz 2 BGB zur Einwilligungsfähigkeit) entscheiden oder mitentscheiden können (vgl. Jestaedt/Reimer, in: Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand: Dezember 2018, Art. 6 Abs. 2 und 3 GG, Rn. 115 i.V.m. Rn. 117 f.). Auch insoweit bildet im Eltern-Kind-Verhältnis aber das Kindeswohl die maßgebliche Richtschnur des Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG. Fehlt dem Kind entwicklungsbedingt noch die für die Selbstbestimmung über seine körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) erforderliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit, wird das darauf bezogene Elternrecht daher durch das Kindeswohl geleitet und durch die Kindeswohlgefährdung begrenzt (vgl. Wapler, Kinderrechte und Kindeswohl, 2015, S. 541 ff.; von Landenberg-Roberg, Elternverantwortung im Verfassungsstaat, 2021, S. 652 ff., insb. 656 f.). 70 Darüber hinaus schließt das Elternrecht die Aufgabe ein, dafür zu sorgen, dass sich das Kind in Ausübung seines eigenen Rechts aus Art. 2 Abs. 1 GG auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit in der sozialen Gemeinschaft entwickeln kann (vgl. BVerfGE 133, 59 <73 f. Rn. 42>; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 19. November 2021 - 1 BvR 971/21 u.a. -, Rn. 45 ‒ Bundesnotbremse II). Art. 6 Abs. 2 GG gewährleistet damit insbesondere das Recht der Eltern, in ihrer Erziehungsverantwortung zu entscheiden, ob und in welchem Entwicklungsstadium das Kind überwiegend von einem Elternteil allein, von beiden Eltern oder von Dritten betreut werden soll (vgl. BVerfGE 99, 216 <231>; 130, 240 <251>). 71 bb) Sämtliche angegriffenen Regelungen des Infektionsschutzgesetzes greifen in dieses Grundrecht der beschwerdeführenden Eltern ein. 72 (1) Grundrechtsschutz ist nicht auf unmittelbar adressierte Eingriffe beschränkt. Auch staatliche Maßnahmen, die eine mittelbare oder faktische Wirkung entfalten, können in ihrer Zielsetzung und Wirkung einem normativen und direkten Eingriff als funktionales Äquivalent gleichkommen und müssen dann wie ein solcher behandelt werden. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn ein Gesetz eine nachteilige Folge an die Wahrnehmung einer grundrechtlich geschützten Freiheit knüpft, um dieser Grundrechtswahrnehmung entgegen zu wirken (BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 27. April 2022 - 1 BvR 2649/21 -, Rn. 113). An einer solchen eingriffsgleichen Wirkung fehlt es dagegen, wenn mittelbar durch die Regelung eintretende Folgen ein bloßer Reflex einer nicht entsprechend ausgerichteten Regelung sind (vgl. BVerfGE 148, 40 <51 Rn. 28 f.> m.w.N.). 73 (2) Die beanstandeten Regelungen des Infektionsschutzgesetzes greifen in mehrfacher Hinsicht jedenfalls zielgerichtet mittelbar in das Grundrecht der beschwerdeführenden Eltern aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG ein. Entscheiden sich die Eltern in Wahrnehmung ihrer durch Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG geschützten Gesundheitssorge gegen eine Impfung ihres Kindes, ist dies mit nachteiligen Konsequenzen (vgl. zum Kriterium BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 27. April 2022 - 1 BvR 2649/21 -, Rn. 114; vgl. auch EGMR <GK>, Vavřička and others v. the Czech Republic, Urteil vom 8. April 2021, Nr. 47621/13, § 263) für die ansonsten den Eltern ‒ zur Wahrnehmung ihrer Sorge für die durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte Entfaltungsfreiheit ihrer Kinder ‒ eröffneten Möglichkeiten einer Betreuung in Einrichtungen im Sinne von § 33 Nr. 1 bis 3 IfSG verbunden. Art und Gewicht dieser Konsequenzen für das die Gesundheitssorge betreffende Elternrecht sind dergestalt, dass sie nach Zielsetzung und Wirkung einem unmittelbaren staatlichen Eingriff in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG entsprechen. 74 Auf die durch das Elternrecht gewährleistete Entscheidung darüber, die Kinder vor Schuleintritt in vorhandenen Tageseinrichtungen oder Kindertagespflegestellen durch Dritte betreuen zu lassen, nehmen die angegriffenen Vorschriften sowohl über die Auf- und Nachweispflicht als auch das an die Einrichtungen nach § 33 Nr. 1 und 2 IfSG adressierte Betreuungsverbot bei fehlendem Nachweis der Masernimpfung erheblichen Einfluss. Wollen Eltern ihren vorhandenen Wunsch nach solcher Betreuung umsetzen, ist dies rechtlich grundsätzlich nur dann möglich, wenn sie einen Nachweis über die Masernimpfung ihrer Kinder vorlegen (§ 20 Abs. 13 Satz 1 IfSG). Die Entscheidung selbst, Kinder impfen zu lassen, ist wiederum wesentlicher Teil des durch Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG garantierten elterlichen Sorgerechts, das die Entscheidungsbefugnis über die körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) der Kinder umfasst. Bei Ausbleiben des Nachweises wirken die angegriffenen Vorschriften erheblich auf die Entschließungsfreiheit der Eltern bei der Ausübung des Elternrechts in beiden Komponenten ein. 75 Die gesetzlichen Regelungen über die Pflicht zum Auf- und Nachweis einer Masernimpfung sowie das Betreuungsverbot bei Ausbleiben dieses Nachweises kommen in Zielsetzung und Wirkung als funktionales Äquivalent dem direkten Eingriff gleich, der durch eine rechtlich durchsetzbare Impfpflicht bewirkt würde. Der Gesetzgeber intendiert eine möglichst vollständige oder zumindest nahezu vollständige Immunisierung der Bevölkerung gegen Masern. Mit dem bei ausbleibendem Nachweis geltenden Betreuungsverbot nach § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG bezweckt er zugleich, nicht gegen Masern geimpfte Personen aus Einrichtungen mit zahlreichen Personenkontakten fernzuhalten, um Menschen zu schützen, die aus vor allem gesundheitlichen Gründen selbst eine Schutzimpfung nicht in Anspruch nehmen können (vgl. BTDrucks 19/13452, S. 1 f.). Damit entsprechen die Vorschriften dem mit einer rechtlich durchsetzbaren Impfpflicht verfolgten Ziel des Gemeinschaftsschutzes vor Maserninfektionen. 76 Auch die Wirkungen der Kombination aus Pflicht zum Nachweis der Masernimpfung und Verlust der Möglichkeit der Inanspruchnahme staatlicher Betreuungsangebote beziehungsweise fehlender Durchsetzbarkeit des Anspruchs auf einrichtungsbezogene frühkindliche und vorschulische Förderung (dazu Rn. 58) sind denen einer zwangsweise, gegen den Elternwillen durchgeführten Masernimpfung von Kindern weitgehend äquivalent. Dafür spricht die erhebliche Verengung der elterlichen Entscheidungsfreiheit über die Betreuung ihrer Kinder und die entsprechende Förderung von Kindern in Einrichtungen im Sinne von § 33 Nr. 1 und 2 IfSG. Wie sich aus der Bezugnahme in § 24 Abs. 2 SGB VIII auf die Fördergrundsätze des § 22 Abs. 2 SGB VIII ergibt, misst der Gesetzgeber selbst der einrichtungsgestützten Förderung erhebliche Bedeutung für die Entwicklung von Kindern zu selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten zu (vgl. BTDrucks 16/9299, S. 10 und 15). Jedenfalls bei dieser fachrechtlichen Ausgestaltung des Anspruchs von Kindern auf diese frühkindliche und vorschulische Förderung, der damit den sorgeberechtigten Eltern die Freiheit eröffnet, ihre Kinder entsprechend fördern zu lassen, übt die Kombination von Auf- und Nachweispflicht und Anspruchsverlust bei Nichterfüllen einen erheblichen Druck aus, das Sorgerecht in der vom Gesetzgeber gewünschten Weise wahrzunehmen. Halten Eltern an ihrem Wunsch fest, ein staatliches Betreuungsangebot für ihre Kinder wahrzunehmen, können sie dies wegen der angegriffenen Vorschriften nur durch die an sich von ihnen nicht gewollte Gestattung einer Einwirkung auf die körperliche Unversehrtheit des Kindes verwirklichen. Auf die hier in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG wurzelnde Entschließungsfreiheit der Eltern wird damit erheblich in Richtung der Vornahme von Masernimpfungen bei ihren Kindern eingewirkt. Die angegriffenen Vorschriften des Infektionsschutzgesetzes verknüpfen die Wahrnehmung grundrechtlich gewährleisteter Freiheit daher mit so gewichtigen nachteiligen Konsequenzen, dass sie in ihrer Wirkung einer Impfpflicht gleichkommen. 77 b) Die mit den Verfassungsbeschwerden angegriffenen Regelungen greifen zudem ‒ ebenfalls zielgerichtet mittelbar ‒ in das Grundrecht der beschwerdeführenden Kinder auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ein oder beeinträchtigen alternativ ‒ abhängig von der Entscheidung der Eltern ‒ das Recht der Kinder auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG). 78 aa) Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG schützt die körperliche Integrität des Grundrechtsträgers (vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 27. April 2022 - 1 BvR 2649/21 -, Rn. 111). Träger dieses Rechts ist „jeder“, mithin auch ein Kleinkind (vgl. insofern zum Recht auf Leben BVerfGE 115, 118 <139>). 79 Kindern kommt außerdem ein eigenes Recht auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit zu (Art. 2 Abs. 1 GG). Dabei bedürfen sie des Schutzes und der Hilfe, um sich zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten innerhalb der sozialen Gemeinschaft entwickeln zu können. Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit verpflichtet den Gesetzgeber, die hierfür erforderlichen Lebensbedingungen des Kindes zu sichern. Diese im grundrechtlich geschützten Entfaltungsrecht der Kinder wurzelnde besondere Schutzverantwortung des Staates erstreckt sich auf alle für die Persönlichkeitsentwicklung wesentlichen Lebensbedingungen. Die vom Gesetzgeber näher auszugestaltende Schutzverantwortung für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes teilt das Grundgesetz zwischen Eltern und Staat auf. Nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG ist sie in erster Linie den Eltern zugewiesen (vgl. zu alledem BVerfGE 133, 59 <73 ff. Rn. 42 f.>; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 19. November 2021 - 1 BvR 971/21 u.a. -, Rn. 45 f.). 80 bb) Die beanstandeten gesetzlichen Regelungen greifen zielgerichtet mittelbar in die körperliche Unversehrtheit der Kinder ein. 81 Nach Art und Gewicht wirken die beanstandeten Vorschriften in einer Weise auf die den sorgeberechtigten Eltern anvertraute Sorge über die körperliche Unversehrtheit ihrer Kinder ein, dass sie als zielgerichteter mittelbarer Eingriff in das Recht der Kinder aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu bewerten sind. Die Masernschutzimpfung wirkt durch das Einbringen eines Stoffes und die damit verbundenen Nebenwirkungen auf die körperliche Integrität der Kinder ein. Zwar hindert das Infektionsschutzgesetz Eltern nicht daran, auf die Masernschutzimpfung bei ihren Kindern zu verzichten. Dadurch wäre eine gegenständliche Einwirkung auf die körperliche Integrität vermieden. Allerdings sind mit dieser Disposition über die körperliche Unversehrtheit der Kinder erhebliche nachteilige Folgen für diese verbunden. Wegen des in § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG angeordneten Betreuungsverbots verlieren sie ihren eingeräumten Anspruch auf frühkindliche oder vorschulische Förderung nach § 24 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 SGB VIII oder können diesen jedenfalls nicht mehr durchsetzen (dazu Rn. 58). Diesen Förderformen misst der Gesetzgeber aber selbst erhebliche Bedeutung für die durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte kindliche Persönlichkeitsentwicklung zu. Wird eine solche Betreuung und Förderung ‒ wie vorliegend ‒ von den sorgeberechtigten Eltern gewünscht, geht von den bei Ausbleiben des Impfnachweises eintretenden Folgen ein starker Anreiz aus, die Impfung vornehmen zu lassen und damit auf die körperliche Unversehrtheit der Kinder durch die Verabreichung des Impfstoffs einzuwirken. Dieser vom Gesetzgeber intendierte Druck auf die Eltern, die Gesundheitssorge für ihre Kinder in bestimmter Weise auszuüben, kommt in seiner Wirkung dem unmittelbaren Eingriff in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gleich. Da insbesondere der von dem Betreuungsverbot ausgehende Druck auf die entscheidungsbefugten Eltern nach den Vorstellungen des Gesetzgebers die Gestattung der Impfungen befördern soll, handelt es sich ebenfalls um einen zielgerichteten mittelbaren Eingriff in die körperliche Unversehrtheit der Kinder. 82 c) Aus Art. 6 Abs. 1 GG, der ein Grundrecht auf Schutz vor störenden Eingriffen des Staates und darüber hinaus eine wertentscheidende Grundsatznorm für das die gesamte Ehe und Familie betreffende Recht enthält (vgl. BVerfGE 6, 55 <71 f.>; 62, 323 <329>; stRspr), folgen hier keine weitergehenden Gewährleistungen. Für das hier vornehmlich betroffene Eltern-Kind-Verhältnis ist das Elternrecht des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG spezieller. Es umfasst auch die elterlichen Entscheidungen über die Ausgestaltung der Kinderbetreuung (dazu Rn. 69). 83 2. Die Eingriffe in die betroffenen Grundrechte der Beschwerdeführenden bedürfen verfassungsrechtlicher Rechtfertigung. In das vorbehaltlos gewährleistete Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) darf auf Grundlage eines formell und materiell verfassungsgemäßen Gesetzes lediglich mit Rücksicht auf kollidierendes Verfassungsrecht eingegriffen werden (vgl. BVerfGE 98, 218 <244 f.>; 107, 104 <118 und 120>). Ein Eingriff in das nach Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG unter einfachem Gesetzesvorbehalt stehende Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit kann ebenfalls nur durch eine formell und materiell verfassungsgemäße Regelung gerechtfertigt werden (vgl. grundlegend BVerfGE 6, 32 <41>). 84 3. Die angegriffenen Vorschriften sind formell verfassungsgemäß. 85 a) Dem Bundesgesetzgeber stand die konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG zu. Sowohl bei den Pflichten, eine Impfung gegen Masern auf- und nachzuweisen, als auch bei den im Fall des ausbleibenden Nachweises eintretenden Folgen, insbesondere dem Betreuungsverbot nach § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG, handelt es sich um Maßnahmen gegen übertragbare Krankheiten bei Menschen (vgl. zum Maßstab BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 19. November 2021 - 1 BvR 781/21 u.a. -, Rn. 118 ff.), die diesem Kompetenztitel zuzuordnen sind. 86 Die Masernerkrankung ist eine Infektionskrankheit, die durch das Masernvirus hervorgerufen wird und damit eine übertragbare Krankheit, die auch einen gewissen Grad an Schwere der Erkrankung mit sich bringt und sogar zum Tode führen kann (vgl. RKI-Ratgeber Masern, Stand: 23.07.2021, „Klinische Symptomatik“, S. 3 f. und oben Rn. 16). Die Gefahr von Komplikationen in Folge einer Masernerkrankung ist bei Kindern im ersten Lebensjahr besonders hoch; zugleich weist die Altersgruppe die höchste altersspezifische Inzidenz für Masern auf (vgl. RKI, Epidemiologisches Bulletin 10/2015, S. 72 f. und oben Rn. 16 f.). 87 Nach ihrem unmittelbaren Regelungsgegenstand, dem Normzweck und der Wirkung der angegriffenen Vorschriften (vgl. zum Maßstab BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 19. November 2021 - 1 BvR 781/21 u.a. -, Rn. 121 m.w.N.) handelt es sich im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG um Maßnahmen gegen eine übertragbare Krankheit. Der Auf- und Nachweis eines ausreichenden Impfschutzes gegen Masern oder einer Immunität beugt dem Auftreten der Krankheit vor, insbesondere auch einer Infektion vulnerabler Personen, die sich nicht selbst durch eine Impfung schützen können. Zweck der Regelung ist das Erreichen einer Herdenimmunität, um Personen mit erhöhtem Komplikationsrisiko bei gleichzeitig bestehender Kontraindikation zu einer Masernschutzimpfung dauerhaft und wirksam vor dieser übertragbaren Krankheit zu schützen. Insgesamt zielt der Gesetzgeber auch in der Kooperation mit anderen Staaten und internationalen Organisationen darauf, die Krankheit ganz zu beseitigen (oben Rn. 31). 88 b) Das Gesetz für den Schutz vor Masern und zur Stärkung der Impfprävention (Masernschutzgesetz) vom 10. Februar 2020 ist ohne die Zustimmung des Bundesrats wirksam zustande gekommen. 89 Die angegriffenen Vorschriften enthalten selbst keine zustimmungspflichtigen Inhalte. Auch aus Art. 104a Abs. 4 GG folgt kein Zustimmungsbedürfnis. Nach dieser Bestimmung bedürfen Bundesgesetze, die Pflichten der Länder zur Erbringung von Geldleistungen, geldwerten Sachleistungen oder vergleichbaren Dienstleistungen gegenüber Dritten begründen und von den Ländern als eigene Angelegenheit oder nach Abs. 3 Satz 2 dieses Artikels im Auftrag des Bundes ausgeführt werden, der Zustimmung des Bundesrats, wenn daraus entstehende Ausgaben von den Ländern zu tragen sind. Eine die Zustimmungsbedürftigkeit auslösende bundesgesetzliche Verpflichtung der Länder zur Erbringung von Geldleistungen, geldwerten Sachleistungen oder vergleichbaren Dienstleistungen gegenüber Dritten liegt nur dann vor, wenn das Gesetz nach seinem objektiven Regelungsgehalt bezweckt, Dritten einen Vorteil zu verschaffen (BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 19. November 2021 - 1 BvR 971/21 u.a. -, Rn. 90 und 99). Die Änderung bereits bestehender Geld-, Sach- oder Dienstleistungsgesetze nach Art. 104a Abs. 4 GG ist jedoch nicht zustimmungspflichtig, wenn hierdurch keine Pflichten der Länder zur Erbringung von Geldleistungen, geldwerten Sachleistungen oder vergleichbaren Dienstleistungen gegenüber Dritten begründet, sondern im Gegenteil Leistungen nach einem bestehenden zustimmungspflichtigen Gesetz gestrichen oder gemindert werden (vgl. Hellermann, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 104a, Rn. 109). 90 So verhält es sich hier. Zwar ist durch Art. 1 Nr. 12c des Masernschutzgesetzes die bestehende Entschädigungsregelung in § 56 Abs. 1 IfSG durch Anfügen eines Satzes 3 geändert worden. Dieser schränkt aber das vorherige Recht lediglich ein. 91 c) Das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG ist gewahrt. Das von den beschwerdeführenden Kindern als verletzt gerügte Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG wird in § 20 Abs. 14 IfSG benannt. 92 Dessen bedurfte es für das Elternrecht nicht. Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG wird nicht von Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG erfasst (vgl. Remmert, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, 95. EL Juli 2021, Art. 19 Abs. 1, Rn. 53; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 16. Aufl. 2020, Art. 6, Rn. 54 und Art. 19, Rn. 5 und 5a; a.A. Huber, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 19 Abs. 1, Rn. 71 f.). Das Zitiergebot dient der Sicherung derjenigen Grundrechte, die aufgrund eines spezifischen, vom Grundgesetz vorgesehenen Gesetzesvorbehalts über die im Grundrecht selbst angelegten Grenzen hinaus eingeschränkt werden können (vgl. BVerfGE 24, 267 <396>; 28, 36 <46>; 64, 72 <79>). Von solchen Grundrechtseinschränkungen grenzt es andersartige grundrechtsrelevante Regelungen ab, die der Gesetzgeber in Ausführung ihm obliegender, im Grundrecht vorgesehener Regelungsaufträge, Inhaltsbestimmungen oder Schrankenziehungen vornimmt (vgl. BVerfGE 64, 72 <80 f.>). Kommt es danach für die Anwendbarkeit von Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG maßgeblich auf das Vorhandensein grundrechtsspezifischer Gesetzesvorbehalte an, fällt das Elternrecht des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG nicht in den Anwendungsbereich. Es unterliegt gerade keinem solchen Gesetzesvorbehalt und ist deshalb lediglich sich aus der Verfassung selbst ergebenden Einschränkungen zugänglich (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 15. März 2007 - 1 BvR 2780/06 -, Rn. 34). Aus Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG folgt nichts Anderes. Es handelt sich nicht um einen Gesetzesvorbehalt in dem hier maßgeblichen Sinn. 93 4. Die Eingriffe sowohl in das Recht der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG als auch diejenigen in die körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) der Kinder sind verfassungsrechtlich allein bei verfassungskonformer Auslegung von § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG gerechtfertigt. Dann genügen sie den Anforderungen des Grundsatzes des Gesetzesvorbehalts (a) und sind im verfassungsrechtlichen Sinn verhältnismäßig (b). 94 a) Die angegriffenen Regelungen genügen den aus dem Grundsatz des Gesetzesvorbehalts folgenden Anforderungen nur bei verfassungskonformer Auslegung von § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG. Verfassungskonform muss diese Vorschrift so verstanden werden, dass bei ausschließlicher Verfügbarkeit von Kombinationsimpfstoffen, die auch Impfstoffkomponenten gegen andere Krankheiten als Masern enthalten, die Pflicht aus § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG nur besteht, wenn es sich nicht um andere Impfstoffkomponenten als solche gegen Mumps, Röteln oder Windpocken handelt. 95 aa) Demokratie- (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG) und Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) gebieten, dass der Gesetzgeber die wesentlichen Fragen selbst regelt. „Wesentlich“ bedeutet zum einen „wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte“. Eine Pflicht des Gesetzgebers, die für den fraglichen Lebensbereich erforderlichen Leitlinien selbst zu bestimmen, kann etwa dann bestehen, wenn miteinander konkurrierende Freiheitsrechte aufeinandertreffen, deren Grenzen fließend und nur schwer auszumachen sind. Der Gesetzgeber ist zum anderen zur Regelung der Fragen verpflichtet, die für Staat und Gesellschaft von erheblicher Bedeutung sind (BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 27. April 2022 - 1 BvR 2649/21 -, Rn. 125 m.w.N.). Mit diesen Anforderungen soll auch gewährleistet werden, dass Entscheidungen von besonderer Tragweite aus einem Verfahren hervorgehen, das der Öffentlichkeit Gelegenheit bietet, ihre Auffassungen auszubilden und zu vertreten, und das die Volksvertretung dazu anhält, Notwendigkeit und Ausmaß von Grundrechtseingriffen in öffentlicher Debatte zu klären. Allerdings kennt das Grundgesetz keinen Gewaltenmonismus in Form eines umfassenden Parlamentsvorbehalts. Unter Wahrung der Voraussetzungen von Art. 80 Abs. 1 GG kann der Verordnungsgeber in die Regelungsaufgabe einbezogen werden, wobei die wesentlichen Fragen aber durch den Gesetzgeber zu klären sind (vgl. BVerfGE 157, 30 <172 f. Rn. 260> m.w.N.). 96 bb) (1) Diesen Anforderungen genügte § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG nicht, wenn er so zu verstehen wäre, dass § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG auch gilt, wenn nur Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung stehen, die weitere Impfstoffkomponenten als die bei Verabschiedung des Gesetzes verfügbaren Impfstoffe enthielten (siehe dazu etwa Aligbe, in: BeckOK/Infektionsschutzrecht, 12. Edition, Stand 1. Juli 2022, § 20 Rn. 207; Amhaouach/Kießling, MedR 2019, 853 <861>; Pieper/Schwager-Wehming, DÖV 2021, 287 <290>; siehe auch Gebhard, Impfpflicht und Grundgesetz, 2022, S. 287). Der Wortlaut von § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG enthält keine ausdrücklichen Beschränkungen von Impfstoffkomponenten „gegen andere Krankheiten“ als Masern, die in auch zur Masernimpfung verwendeten Kombinationsimpfstoffen enthalten sind. So verstanden, wirkte § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG ähnlich wie eine dynamische Verweisung, nach der die Pflicht zum Auf- und Nachweis einer Masernimpfung auch zukünftig bei ausschließlicher Verfügbarkeit von Mehrfachimpfstoffen mit beliebig vielen weiteren Impfstoffkomponenten gegen andere Krankheiten als Masern gölte. Die tatsächlichen Bedingungen der Erfüllung der Auf- und Nachweispflicht wären dann davon abhängig, welche Impfstoffe mit welchen Komponenten nach der jeweiligen Marktlage verfügbar sind. Dann fänden die tatsächlich vorhandenen Möglichkeiten, den Pflichten aus § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG nachzukommen, jedoch keine hinreichende Grundlage mehr im Gesetz (vgl. zu einer ähnlichen Wirkung einer dynamischen Verweisung BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 10. Februar 2022 - 1 BvR 2649/21 -, Rn. 14; siehe auch BRDrucks 358/1/19, S. 32). Das Gewicht des Eingriffs in die hier betroffenen Grundrechte der Kinder und ihrer Eltern wird aber durch die Anzahl der in einem Kombinationsimpfstoff enthaltenen Impfstoffkomponenten mitbestimmt. Die Frage, durch welche Impfstoffe die Pflicht erfüllt werden kann, eine Masernimpfung auf- und nachzuweisen, ist daher wesentlich für die Grundrechte und grundsätzlich durch den Gesetzgeber zu klären. Inwieweit er darin den Verordnungsgeber einbeziehen kann, bestimmt sich nach Art. 80 Abs. 1 GG. 97 (2) § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG ist dennoch nicht wegen Verstoßes gegen den Grundsatz des Gesetzesvorbehalts verfassungswidrig. Bei verfassungskonformer Auslegung genügt die Vorschrift dessen Anforderungen. 98 § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG kann verfassungskonform so auslegt werden, dass die Pflicht aus § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG bei ausschließlicher Verfügbarkeit von Kombinationsimpfstoffen nur dann gilt, wenn es sich dabei um solche handelt, die keine weiteren Impfstoffkomponenten enthalten als die gegen Masern, Mumps, Röteln oder Windpocken. Allein auf Mehrfachimpfstoffe gegen diese Krankheiten beziehen sich die vom Gesetzgeber des Masernschutzgesetzes getroffenen grundrechtlichen Wertungen (vgl. BTDrucks 19/13452, S. 28). 99 Damit werden die Grenzen verfassungskonformer Auslegung nicht überschritten. Zwar enthält der Wortlaut von § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG keine Beschränkung derjenigen Krankheiten, bezüglich derer Impfstoffkomponenten in einem Mehrfachimpfstoff enthalten sein dürfen. Durch die verfassungskonforme Beschränkung auf die vorgenannten Mehrfachimpfstoffkombinationen wird jedoch dem Gesetz weder ein entgegengesetzter Sinn verliehen, noch der normative Gehalt der Norm grundlegend neu bestimmt, oder das gesetzgeberische Ziel in einem wesentlichen Punkt verfehlt (näher dazu BVerfGE 149, 126 <154 f. Rn. 73 ff.> m.w.N.). So bietet die Entstehungsgeschichte der Vorschrift ausreichende Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber die Erfüllung der Pflichten aus § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG bei ausschließlicher Verfügbarkeit von Mehrfachimpfstoffen auf die genannten Kombinationen beschränken wollte. Die Begründung des Gesetzentwurfs nennt allein Kombinationsimpfstoffe gegen Masern-Mumps-Röteln oder Masern-Mumps-Röteln-Windpocken (vgl. BTDrucks 19/13452, S. 28) und geht von der Anwendbarkeit von Satz 1 bei Verfügbarkeit nur dieser Kombinationsimpfstoffe aus. So heißt es in der Begründung zu dem jetzigen § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG, der in dem Entwurf noch Satz 2 war: „Satz 2 berücksichtigt den Umstand, dass für die Durchführung von Masernimpfungen, die nach Satz 1 erforderlich werden, gegenwärtig ausschließlich Kombinationsimpfstoffe gegen Masern-Mumps-Röteln beziehungsweise gegen Masern-Mumps-Röteln-Windpocken zur Verfügung stehen. Soweit eine Immunisierung gegen Masern nur mit diesen Kombinationsimpfstoffen erfolgen kann, steht das der grundsätzlichen Regel nach Satz 1 nicht entgegen.“ 100 Auch die in der Begründung ausdrücklich angesprochene Einbindung der gesetzlichen Regelungen in die Zielsetzung der Mitgliedstaaten der Europäischen Region der Weltgesundheitsorganisation, Masern schrittweise zu eliminieren, auf die sich der Gesetzgeber bezieht (vgl. BTDrucks 19/13452, S. 1), sprechen für eine Begrenzung der Maßnahme zur Zielerreichung gerade durch die seit langem in diesen Staaten verwendeten Mehrfachimpfstoffe, die sich auf die genannten Kombinationen beschränken (oben Rn. 26). Die Wirkstoffkombination und Wirkungsweise dieser Impfstoffe war seit Jahren unverändert und bewährt, deren Anwendung wurde und wird seit vielen Jahren von der Ständigen Impfkommission empfohlen. Die vom Paul-Ehrlich-Institut geführte Liste zugelassener Kombinationsimpfstoffe weist zudem aus, dass es sich bei den auch masernwirksamen Kombinationsimpfstoffen seit langem ausschließlich um solche mit den weiteren Komponenten gegen Mumps, Röteln und Windpocken handelt. Es bestehen keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber davon ausgegangen wäre, dass sich die seit Jahren unveränderte Lage dahingehend verändern könnte, dass sich Wirkstoffkombinationen der in Deutschland zugelassenen Masernimpfstoffe in absehbarer Zeit ändern und zu den Mumps-, Röteln- und Windpocken-Impfstoffkomponenten weitere hinzukommen könnten. 101 Auf dieser Grundlage lässt sich nicht annehmen, der Gesetzgeber habe mit § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG eine Regelung schaffen wollen, die zukünftige Mehrfachimpfstoffe mit weitere Krankheiten betreffenden Impfstoffkomponenten umfasste. Dass sein Wortlaut trotz der im Gesetzgebungsverfahren geäußerten Zweifel an der Regelungstechnik (vgl. BRDrucks 358/1/19, S. 32) nicht geändert worden ist, steht der verfassungskonformen Auslegung nicht entgegen. 102 b) Die angegriffenen Regelungen sind in dieser Auslegung auch im verfassungsrechtlichen Sinne verhältnismäßig. Mit ihnen verfolgt der Gesetzgeber legitime Zwecke (aa). Die Regelungen sind zur Erreichung dieses Zwecks sowohl geeignet (bb) als auch erforderlich (cc). Trotz des nicht unbeträchtlichen Eingriffsgewichts belasten sie weder die betroffenen Kinder noch deren Eltern in ihren jeweiligen Grundrechten unzumutbar, sondern sind zum Schutz von einer Masernerkrankung besonders gefährdeter Personen verhältnismäßig im engeren Sinne (dd). 103 aa) Die in § 20 Abs. 8, 9 und 12 IfSG festgelegten Pflichten, für den Fall einer Betreuung in bestimmten Gemeinschaftseinrichtungen eine Masernimpfung auf- und nachzuweisen, verfolgen ebenso wie das bei Ausbleiben des Nachweises eintretende Betreuungsverbot (§ 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG) einen verfassungsrechtlich legitimen Zweck. Gleiches gilt für die Übertragung der Erfüllung der Nachweispflicht von Kindern auf ihre Eltern in § 20 Abs. 13 Satz 1 IfSG. 104 (1) Durch gesetzliche Regelungen erfolgende Eingriffe in Grundrechte können nur dann gerechtfertigt sein, wenn der Gesetzgeber mit dem Gesetz verfassungsrechtlich legitime Zwecke verfolgt. Will der Gesetzgeber Gefahren für die Allgemeinheit oder für Rechtsgüter Einzelner begegnen, muss die dahingehende Annahme des Gesetzgebers auf hinreichend tragfähigen Grundlagen beruhen. Je nach Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, der Bedeutung der auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter und den Möglichkeiten des Gesetzgebers, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, kann die verfassungsgerichtliche Kontrolle dabei von einer bloßen Evidenz- über eine Vertretbarkeitskontrolle bis hin zu einer intensivierten inhaltlichen Kontrolle reichen. Je schwerer die durch die zur Überprüfung gestellte gesetzliche Regelung bewirkte Grundrechtsbeeinträchtigung wiegt, desto höher ist auch die Kontrolldichte. Umgekehrt können die Schwere der drohenden Gefahren, die der Gesetzgeber abwehren will, und das Gewicht der gefährdeten Rechtsgüter, die der Gesetzgeber schützen will, einen größeren Einschätzungsspielraum mit sich bringen (vgl. BVerfG, Beschlüsse des Ersten Senats vom 19. November 2021 - 1 BvR 781/21 u.a. -, Rn. 169 ff. m.w.N. und vom 27. April 2022 - 1 BvR 2649/21 -, Rn. 151 f.). 105 (2) Danach verfolgt der Gesetzgeber durch die hier angegriffenen Regelungen mit dem Schutz vulnerabler Personen vor einer für sie gefährlichen Masernerkrankung einen verfassungsrechtlich legitimen Zweck (a). Seine Annahme, von Personen, die keinen ausreichenden Impfschutz oder eine Immunität gegen Masern aufweisen, könnten Gefahren für das Leben und die Gesundheit insbesondere von Personen ausgehen, die sich selbst nicht durch eine Impfung vor einer Masernerkrankung zu schützen vermögen, beruht auf zuverlässigen Grundlagen und hält auch der strengen verfassungsrechtlichen Prüfung stand (b). 106 (a) Die angegriffenen Vorschriften des Masernschutzgesetzes bezwecken einen verbesserten Schutz vor Maserninfektionen, insbesondere bei Personen, die regelmäßig in Gemeinschafts- und Gesundheitseinrichtungen mit anderen Personen in Kontakt kommen (vgl. BTDrucks 19/13452, S. 16). Das soll nicht nur die Einzelnen gegen die Erkrankung schützen, sondern gleichzeitig die Weiterverbreitung der Krankheit in der Bevölkerung verhindern, was eine ausreichend hohe Impfquote in der Bevölkerung erfordert. So können auch Personen geschützt werden, die aus medizinischen Gründen selbst nicht geimpft werden können, bei denen aber schwere klinische Verläufe im Fall einer Infektion drohen. Das kann vor allem bei Personen mit geschwächtem oder fehlendem Immunsystem der Fall sein. Aber auch Säuglinge können betroffen sein. Sie sollen in der Regel frühestens im Alter von neun Monaten geimpft werden. Dann hat ihr gegebenenfalls durch die Mutter erlangter Immunschutz aber bereits nachgelassen. Sie sind deswegen darauf angewiesen, dass alle Menschen in ihrer Umgebung geimpft sind und sie dadurch vor einer Ansteckung bewahrt werden. Es besteht daher ein hohes öffentliches Interesse an einem den Empfehlungen der Ständigen Impfkommission entsprechenden Impfschutz der Bevölkerung. Zudem will der Gesetzgeber das von der Weltgesundheitsorganisation verfolgte Ziel unterstützen, die Masernkrankheit in den Mitgliedstaaten sukzessiv zu eliminieren, um die Krankheit schließlich weltweit zu überwinden (vgl. BTDrucks 19/13452, S. 26). 107 Ausweislich der Begründung des Gesetzentwurfs zielen die gegenständlichen Vorschriften des Masernschutzgesetzes darauf ab, durch Schutzimpfungen eine Infektion mit hochansteckenden Masern sowie die mit schweren Komplikationen bis hin zu Todesfällen verlaufenden Masernerkrankungen zu verhindern (vgl. BTDrucks 19/13452, S. 16). Damit kommt der Gesetzgeber erkennbar seiner in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG wurzelnden Schutzpflicht nach. Lebens- und Gesundheitsschutz sind bereits für sich genommen überragend wichtige Gemeinwohlbelange und daher verfassungsrechtlich legitime Gesetzeszwecke. Die Schutzpflicht des Staates aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG greift nicht erst dann ein, wenn Verletzungen bereits eingetreten sind, sondern ist auch in die Zukunft gerichtet. Aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, der den Schutz Einzelner vor Beeinträchtigungen ihrer körperlichen Unversehrtheit und ihrer Gesundheit umfasst, kann daher auch eine Schutzpflicht des Staates folgen, Vorsorge gegen Gesundheitsbeeinträchtigungen zu treffen (BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 27. April 2022 - 1 BvR 2649/21 -, Rn. 155 m.w.N.). Die Pflicht umfasst auch den Schutz solcher Personen vor den Gefahren einer Masernerkrankung, die sich durch eine Impfung individuell nicht dagegen schützen können. Bei dem durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gebotenen Lebens- und Gesundheitsschutz von vulnerablen Personen handelt es sich selbst um ein Verfassungsgut, das grundsätzlich eine Einschränkung des nicht mit einem Gesetzesvorbehalt versehenen Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG wie auch des Grundrechts der zu impfenden Kinder auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG rechtfertigen kann. 108 (b) Die Annahme des Gesetzgebers, es handele sich bei Masern um eine der ansteckendsten Infektionskrankheiten beim Menschen, die in einer nicht geringen Zahl von Fällen zu schweren Komplikationen führt (vgl. BTDrucks 19/13452, S. 16 und 26), beruht auf zuverlässigen Grundlagen. Gleiches gilt für die Einschätzungen einer bei Inkrafttreten des Masernschutzgesetzes für den Gemeinschaftsschutz nicht ausreichend hohen Impfquote und von Infektionsgefahren für vulnerable Personen in Gemeinschafts- und Gesundheitseinrichtungen (vgl. BTDrucks 19/13452, S. 1 f. und 16). Innerhalb seines allerdings wegen der gesicherten Erkenntnislage und des Gewichts der Grundrechtseingriffe engen Einschätzungsspielraums konnte der Gesetzgeber in Einklang mit Verfassungsrecht von einer Gefahrenlage für durch eine Masernerkrankung verletzliche Personen ausgehen, insbesondere Säuglinge oder andere Personen, die sich nicht selbst durch eine Impfung schützen können. 109 (aa) Masern sind nach gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnis eine nicht therapierbare Krankheit, die zu den ansteckendsten Infektionskrankheiten gehört (vgl. RKI, Infektionskrankheiten A - Z, Masern, Gemeinschaftsschutz und Elimination, Stand 28. Februar 2020; siehe auch oben Rn. 15). Eine Übertragung von Masernviren kann auch ohne direkten Kontakt mit einer infektiösen Person stattfinden (z.B. durch Aufenthalt in einem Raum, in dem sich zuvor ein Masern-Erkrankter befand). Infolge der hohen Übertragungsfähigkeit des Krankheitserregers und der hohen Wahrscheinlichkeit, dass eine mit dem Erreger infizierte Person manifest, also erkennbar erkrankt, erkranken faktisch alle nicht immunen Menschen, die unmittelbar Übertragungsbedingungen ausgesetzt waren. Masern können, insbesondere bei Kindern unter fünf Jahren und bei Erwachsenen, zum Teil zu schweren Komplikationen (u.a. bakterielle Pneumonie, Enzephalitis) führen. Hinzu kommt, dass Personen mit einer medizinischen Kontraindikation zu einer Masernschutzimpfung (Säuglinge bis zum neunten Lebensmonat, Schwangere, Personen mit schweren Einschränkungen des Immunsystems) sich nicht selbst wirksam vor der Infektion schützen können. Zugleich besteht bei ihnen jedoch im Falle der Erkrankung eine höhere Wahrscheinlichkeit für schwere Verläufe und eine besonders hohe altersspezifische Inzidenz für Masern. Die höchste altersspezifische Wahrscheinlichkeit für eine Ansteckung mit Masern besteht bei Kindern im ersten Lebensjahr (RKI, Epidemiologisches Bulletin 10/2015, S. 72 f.; siehe auch Mers, Infektionsschutz im liberalen Rechtsstaat, 2019, S. 174 sowie oben Rn. 16 f.). 110 (bb) Auch die Annahme fehlender Herdenimmunität und des Auftretens von Maserninfektionen in vom Masernschutzgesetz erfassten Gemeinschafts- und Gesundheitseinrichtungen beruhte bei dessen Verabschiedung auf zuverlässigen Erkenntnissen. So wurden in den Jahren 2014 bis 2018 dem Robert Koch-Institut Daten von insgesamt 430 Masern-Ausbrüchen mit 3.178 Masernfällen übermittelt. Als Ausbrüche gelten Häufungen von zwei und mehr Fällen. Für rund 21 % dieser Ausbrüche wurde das Umfeld einer medizinischen Einrichtung, Betreuungseinrichtungen sowie Einrichtungen für Asylsuchende angegeben. Rund 28 % aller Masernfälle traten in diesen Umfeldern auf (RKI, Epidemiologisches Bulletin 2/2020, S. 8 und oben Rn. 19). Für den angestrebten Gemeinschaftsschutz durch einen ausreichend hohen Anteil von gegen Masern geimpften oder sonst immunisierten Personen ist nach gesichertem Wissen eine Quote von 95 % erforderlich (vgl. RKI, Epidemiologisches Bulletin 10/2020, S. 3). Diese Quote ist in Deutschland weder in der Gesamtbevölkerung noch in den Altersgruppen erreicht, die in Gemeinschaftseinrichtungen betreut werden, die im vorliegenden Verfahren gegenständlich sind (näher Rn. 30 f.). 111 (cc) Die tatsächlichen Grundlagen der gesetzgeberischen Annahme einer Gefahrenlage für Personen mit fehlender Immunität gegen Masern haben sich nachträglich nicht in einer Weise verändert, die die verfassungsrechtliche Legitimität der verfolgten Zwecke in Frage stellt. Zwar ist die Anzahl der dem Robert Koch-Institut gemeldeten Masernfälle im Jahr 2020 mit 76 deutlich gegenüber dem Niveau der Vorjahre abgesunken (vgl. RKI, Epidemiologisches Bulletin 15/2021, S. 6). Das ist jedoch auf die zeitweilig ergriffenen Maßnahmen zum Schutz vor dem SARS-CoV-2-Virus zurückzuführen. Da diese Maßnahmen derzeit in weitem Umfang entfallen und wieder ein Anstieg von Infektionskrankheiten, und damit auch von Masern, zu erwarten ist (vgl. allgemein zu dieser Tendenz Buda u.a., ARE-Wochenbericht KW 25/2022, Arbeitsgemeinschaft Influenza, Robert Koch-Institut), kann weiter von einer Gefahrenlage für vulnerable Personen ausgegangen werden. Der Gesetzgeber verfolgt daher mit dem Individualschutz durch Impfung impfgeeigneter Personen und auch dem Schutz der Bevölkerung als Instrument für diejenigen, die sich selbst nicht durch Impfung vor einer Masernerkrankung schützen können, verfassungsrechtlich legitime Ziele. 112 bb) Die auf Gemeinschafts- und Gesundheitseinrichtungen bezogene Auf- und Nachweispflicht ist ebenso wie das bei ausbleibendem Nachweis geltende Betreuungsverbot (§ 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG) im verfassungsrechtlichen Sinne geeignet, die mit dem Masernschutzgesetz verfolgten Zwecke zu erreichen. 113 (1) Verfassungsrechtlich genügt für die Eignung bereits die Möglichkeit, durch die gesetzliche Regelung den Gesetzeszweck zu erreichen. Eine Regelung ist erst dann nicht mehr geeignet, wenn sie die Erreichung des Gesetzeszwecks in keiner Weise fördern oder sich sogar gegenläufig auswirken kann (BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 27. April 2022 - 1 BvR 2649/21 -, Rn. 166; stRspr). 114 (2) Daran gemessen erweisen sich die angegriffenen Regelungen als geeignetes Mittel, um vulnerable Personen vor einer Masernerkrankung und damit gegebenenfalls einhergehenden schweren Krankheitsverläufen zu schützen. Sie können sowohl dazu beitragen, die Impfquote in der Gesamtbevölkerung zu erhöhen als auch dazu, diejenige in solchen Gemeinschaftseinrichtungen zu steigern, in denen vulnerable Personen betreut werden oder zumindest regelmäßig Kontakt zu den Einrichtungen und den dort betreuten und tätigen Personen haben. Werden dort künftig grundsätzlich nur noch Kinder mit Impfschutz oder Immunität betreut, trägt das ‒ ebenso wie das Betreuungsverbot des § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG ‒ zu einer Reduzierung der Ansteckungsgefahr mit dem Masernvirus bei. Angesichts einer Betreuungsquote in Kindertagesbetreuung von 34,3 % bei unter 3-Jährigen und von 93 % bei 3- bis 5-Jährigen (vgl. Statistisches Bundesamt, Betreuungsquoten der Kinder unter 6 Jahren in der Kindertagesbetreuung am 1. März 2019 nach Ländern, Stand: 26. September 2019) erhöht sich hierdurch auch insgesamt die Impfquote in der Bevölkerung. 115 Bei einer von § 20 Abs. 8 Satz 2 IfSG vorgegebenen zweifachen Impfung gegen Masern wird nach gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen von einer Impfeffektivität von 95 bis 100 % im Mittel ausgegangen. Das gilt auch bei der Verwendung eines von § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG erfassten Kombinationsimpfstoffs (vgl. zu beidem RKI, Epidemiologisches Bulletin 2/2020, S. 10 f.; siehe auch WHO Positionspapier - April 2017, Weekly epidemiological record, No. 17, 2017, 92, 213 ff.). Der Impfschutz wirkt lebenslang. 116 cc) Die Pflichten, bei Betreuung in bestimmten Gemeinschaftseinrichtungen eine Masernimpfung auf- und nachzuweisen, sowie das bei Ausbleiben des Nachweises geltende Betreuungsverbot nach § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG sind sowohl zum Schutz der Einzelnen als auch zum Schutz der Bevölkerung vor Masern im verfassungsrechtlichen Sinne erforderlich. Unter Berücksichtigung eines dem Gesetzgeber hier zukommenden Einschätzungsspielraums ist nicht erkennbar, dass andere, in der Wirksamkeit eindeutig gleichen, aber die betroffenen Grundrechte von Kindern und Eltern weniger stark einschränkenden Mittel zur Verfügung standen. 117 (1) Grundrechtseingriffe dürfen nicht weitergehen, als es der Gesetzeszweck erfordert. Daran fehlt es, wenn ein gleich wirksames Mittel zur Erreichung des gesetzgeberischen Ziels zur Verfügung steht, das Grundrechtsträger weniger und Dritte und die Allgemeinheit nicht stärker belastet. Die sachliche Gleichwertigkeit der alternativen Maßnahmen zur Zweckerreichung muss dafür in jeder Hinsicht eindeutig feststehen. Dem Gesetzgeber steht grundsätzlich auch für die Beurteilung der Erforderlichkeit ein Einschätzungsspielraum zu. Dieser bezieht sich unter anderem darauf, die Wirkung der von ihm gewählten Maßnahmen auch im Vergleich zu anderen, weniger belastenden Maßnahmen zu prognostizieren. Der Spielraum kann sich wegen des betroffenen Grundrechts und der Intensität des Eingriffs verengen. Umgekehrt reicht er umso weiter, je höher die Komplexität der zu regelnden Materie ist. Auch hier gilt, dass bei schwerwiegenden Grundrechtseingriffen tatsächliche Unsicherheiten grundsätzlich nicht ohne Weiteres zulasten der Grundrechtsträger gehen dürfen. Dient der Eingriff dem Schutz gewichtiger verfassungsrechtlicher Güter und ist es dem Gesetzgeber angesichts der tatsächlichen Unsicherheiten nur begrenzt möglich, sich ein hinreichend sicheres Bild zu machen, ist die verfassungsgerichtliche Prüfung auf die Vertretbarkeit der gesetzgeberischen Eignungsprognose beschränkt (BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 27. April 2022 - 1 BvR 2649/21 -, Rn. 187 m.w.N.). 118 (2) Hiervon ausgehend stand dem Gesetzgeber trotz des Gewichts des Eingriffs in die Grundrechte von Kindern und Eltern bei der Eignungsprognose alternativer Mittel ein Einschätzungsspielraum zu. Anders als die Annahme einer Gefahrenlage für vulnerable Personen im Falle einer Masernerkrankung (dazu Rn. 107) erweist sich die Einschätzung der Wirksamkeit der vom Gesetzgeber geregelten Maßnahmen im Vergleich zu Alternativen als weniger gesichert. Das betrifft vor allem die Einschätzung darüber, ob durch eine verbesserte Aufklärung, vermehrte Ansprache sowie eine verstärkte Überwachung eine für die Herdenimmunität ausreichende Impfquote bei der von den angegriffenen Regelungen erfassten Personengruppe erreicht werden könnte. Die Wirksamkeit solcher Kinder- und Elterngrundrechte weniger beeinträchtigenden Maßnahmen wird auch von den im Verfahren um Stellungnahmen ersuchten sachkundigen Dritten unterschiedlich beurteilt. 119 So hält etwa der Verein Ärztinnen und Ärzte für individuelle Impfentscheidung eine Vielzahl anderer Maßnahmen als eine Pflicht zum Auf- und Nachweis einer Impfung für in zumindest gleicher Weise geeignet, um Impflücken zu schließen. Er verweist unter anderem auf Erinnerungs- und Recallsysteme, niederschwellige Impfangebote in Kindertagesstätten und Schulen sowie sogenannte Catch-up-Impfkampagnen in den von Impflücken besonders betroffenen Geburtenjahrgängen. Ähnlich weist auch die Bundeselternvertretung auf die Notwendigkeit besserer Information und Beratung über Masernschutzimpfungen hin und fordert eine umfassende Evaluation vorhandener Impfhindernisse ein. Zugleich äußert sie Zweifel, ob bereits alle zur Verfügung stehenden Mittel genutzt worden seien, um Impfhürden abzubauen. 120 Demgegenüber gelangt die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin zu der Einschätzung, sämtliche bisherigen Maßnahmen, um die Impfquoten zu erhöhen – beispielsweise die seit 2015 bestehende verpflichtende ärztliche Impfberatung vor der Aufnahme eines Kindes nach § 34 Abs. 10a IfSG – reichten nicht aus, um frühzeitig Impfraten über 95 % zu erreichen, insbesondere bei Kindern, die in Gemeinschaftseinrichtungen betreut würden und dort einem erhöhten Infektionsrisiko ausgesetzt seien. In vergleichbarer Weise beurteilt die Deutsche Gesellschaft für Virologie ‒ auch im Namen der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung von Viruserkrankungen stellungnehmend ‒ die Wirksamkeit bislang ergriffener Maßnahmen zur Steigerung der Impfquote. So hätten etwa die Impfempfehlungen der Ständigen Impfkommission, der kostenfreie Zugang zu Kombinationsimpfstoffen, das Erstellen eines Nationalen Aktionsplans oder Informationskampagnen der Bundeszentrale für politische Aufklärung zwar zur Steigerung der Durchimpfungsrate geführt. Das Ziel von wenigstens 95 % mit zwei Dosen bis zum Ende des zweiten Lebensjahrs sei jedoch nicht erreicht worden. 121 Derartige Unsicherheiten über die Wirksamkeit der vom Gesetzgeber gewählten Maßnahmen zur Zielerreichung einerseits und weiterer möglicherweise geeigneter Maßnahmen andererseits eröffnen dem hier zum Schutz besonders gewichtiger verfassungsrechtlicher Güter, nämlich von Leben und Gesundheit vulnerabler Personen, handelnden Gesetzgeber nach dem dargelegten Maßstab einen Einschätzungsspielraum. Das Bundesverfassungsgericht ist dann auf eine Vertretbarkeitskontrolle seiner Eignungseinschätzung beschränkt (vgl. BVerfG, Beschlüsse des Ersten Senats vom 19. November 2021 - 1 BvR 781/21 u.a. -, Rn. 185 und vom 27. April 2022 - 1 BvR 2649/21 -, Rn. 187). 122 (3) Danach ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber andere Maßnahmen zur Gewährleistung des angestrebten Individual- und Gemeinschaftsschutzes als nicht sicher gleich wirksam angesehen hat. Dafür konnte er sich auf hinreichend tragfähige Grundlagen stützen. 123 (a) Der Gesetzgeber konnte davon ausgehen, dass Maßnahmen zur Steigerung der Masernimpfquote, die nicht mit Auf- und Nachweispflichten sowie dem bei deren Ausbleiben geltenden Ausschluss von einrichtungsbezogener frühkindlicher und kindlicher Förderung verbunden sind, zur Erreichung der Gesetzesziele nicht sicher gleich wirksam sind. Auf der Grundlage der vorhandenen, wenn auch kontrovers bewerteten Erkenntnisse zur Impfbereitschaft und den dafür maßgeblichen Gründen durfte der Gesetzgeber unter Berücksichtigung seines Einschätzungsspielraums annehmen, ohne entsprechenden Druck auf die Willensbildung der Eltern die erforderliche Impfquote nicht gleichermaßen erreichen zu können. 124 Dafür gibt es belastbare Anhaltspunkte. So wurden ab dem Jahr 1972 durch die Ständige Impfkommission öffentliche Empfehlungen für Schutzimpfungen ausgesprochen. Deren Bedeutung wurde durch das Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der Gesetzlichen Krankenversicherung vom 26. März 2007 (BGBl I 2007 S. 378) deutlich gesteigert, weil auf der Grundlage dieser Empfehlung Schutzimpfungen in den Pflichtleistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung übernommen wurden (vgl. 20d Abs. 1 Satz 3 SGB V in der Fassung vom 26. März 2007 bzw. jetzt: § 20i Abs. 1 Satz 3 SGB V). Mit dem Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention vom 17. Juli 2015 (BGBl I 2015 S. 1368) sollte durch eine Reihe weiterer gesetzlicher Maßnahmen die Impfprävention gefördert werden. Neben Informationskampagnen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung („Deutschland sucht den Impfpass“), der Überprüfung des Impfschutzes bei allen Routine-Gesundheitsuntersuchungen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene sowie der Möglichkeit für Betriebsärzte, allgemeine Schutzimpfungen vorzunehmen, wurde die Aufnahme eines Kindes in einer Kindertagesstätte von dem Nachweis einer ärztlichen Impfberatung abhängig gemacht (§ 34 Abs. 10a IfSG). Auch der vorübergehende Ausschluss von ungeimpften Kindern beim Auftreten von Masern in einer Gemeinschaftseinrichtung wurde ermöglicht (§ 28 Abs. 2 IfSG). Die für den Schutz der Bevölkerung mittels Herdenimmunität erforderliche Impfquote konnte aber dadurch nicht erreicht werden. 125 Aus den ihm vorliegenden wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen konnte der Gesetzgeber daher ungeachtet abweichender Einschätzungen eines Teils der im hiesigen Verfahren um Stellungnahme gebetenen sachkundigen Dritten den Schluss ziehen, dass diese Maßnahmen bislang nicht genügt haben, um eine Herdenimmunität gegen Masern herzustellen. Für die Vertretbarkeit seiner Einschätzung spricht weiterhin, dass trotz der bisher ergriffenen Anreizmaßnahmen die Impfquoten nach einem zunächst deutlichen Anstieg seit Jahren stagnieren (vgl. RKI, Epidemiologisches Bulletin 18/2019, S. 150). Bei von den hier angegriffenen Regelungen betroffenen Altersgruppen wird die erforderliche Durchimpfungsrate ebenfalls bislang nicht erreicht (dazu oben Rn. 30 f.). Ausweislich einer Erhebung der Kassenärztlichen Vereinigung aus dem Jahr 2020, auf deren Ergebnisse das Robert Koch-Institut Bezug nimmt, lag sie bezogen auf den Geburtenjahrgang 2014 bei 70,6 % und bezüglich der Geburtenjahrgänge 2015 bis 2016 bei 69,9 % (vgl. RKI, Epidemiologisches Bulletin 32/33/2020, S. 13). Auf der Grundlage dieser Informationen konnte der Gesetzgeber annehmen, mittels Intensivierung der Aufklärung über Sinn und Zweck der Masernschutzimpfung nicht gleich sicher die mit dem Gesetz verfolgten Ziele erreichen zu können. 126 (b) Der Erforderlichkeit der angegriffenen Regelungen steht nicht entgegen, dass § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG den Aufweis einer durch Impfung erlangten Masernimmunität auch dann verlangt, wenn lediglich Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung stehen und es im Inland seit einigen Jahren auch keine zugelassenen Monoimpfstoffe mehr gibt. Zwar würde die Verpflichtung, eine Impfung mit einem Monoimpfstoff auf- und nachzuweisen, weniger stark in die durch das Elternrecht geschützte Gesundheitssorge und die durch eine Impfstoffinjektion beeinträchtigte körperliche Unversehrtheit der Kinder eingreifen. Eltern und Kinder müssten dann nicht die Injektion weiterer Impfstoffe hinnehmen, um den Aufweis der Masernimpfung zu erlangen. Gegen die gleiche Eignung des Mittels zur Zielerreichung spricht dabei nicht, dass der Monoimpfstoff eben nur gegen Masernerkrankung und nicht auch gegen die durch den Mehrfachimpfstoff darüber hinaus bekämpften Krankheiten schützt. Denn die Frage der gleichen Eignung muss anhand des Gesetzeszwecks beurteilt werden. Die Bekämpfung sonstiger Krankheiten ist aber nicht Zweck der allein gegen Masern gerichteten Regelung. 127 Gegen die gleiche Eignung einer nur auf Monoimpfstoffe gerichteten Regelung spricht jedoch, dass es im Inland mittlerweile keine Masernmonoimpfstoffe mehr gibt, für früher angebotene Monoimpfstoffe inzwischen mangels Nutzung sogar die Zulassung entfallen ist. Vor diesem Hintergrund wäre der Zweck des Gesetzes mit einer auf Monoimpfstoffe beschränkten Verpflichtung weniger gut zu erreichen, weil alle Kinder ungeimpft blieben, deren Eltern der Verwendung eines Kombinationsimpfstoffs nicht freiwillig zustimmen. Auch eine gesetzliche Verpflichtung zuständiger staatlicher Stellen, solche Monoimpfstoffe herstellen zu lassen oder sonst für deren Verfügbarkeit im Inland zu sorgen, wäre keine gleich geeignete Maßnahme im Sinne der verfassungsrechtlichen Erforderlichkeit. Zwar könnte möglicherweise eine gesetzliche Regelung zur zentralen Beschaffung oder Herstellung sowie das Inverkehrbringen von Monoimpfstoffen getroffen werden (vgl. für den Fall einer Pandemie etwa die Verordnung zur Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung mit Produkten des medizinischen Bedarfs bei der durch das Coronavirus SARS-CoV-2 verursachten Epidemie <Medizinischer Bedarf Versorgungssicherstellungsverordnung – MedBVSV> vom 25. Mai 2020). So wird derzeit ein Monoimpfstoff etwa in der Schweiz vertrieben. Da aber bereits seit längerem weder in Deutschland noch in den übrigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ein Markt für solche Monoimpfstoffe ‒ wohl wegen der Ausrichtung der Hersteller an den bei Masern auf Kombinationsimpfstoffe lautenden Empfehlungen der zuständigen Impfkommissionen (vgl. BTDrucks 19/15301, S. 4; zur entsprechenden Impfempfehlung der STIKO vgl. RKI Epidemiologisches Bulletin 34/2019, S. 327) ‒ vorhanden zu sein scheint, ginge eine staatlich verantwortete Beschaffung des Impfstoffs mit einer Belastung der Allgemeinheit einher. Mit einer Belastung von Dritten oder der Allgemeinheit verbundene alternative Maßnahmen stellen die Erforderlichkeit der angegriffenen Maßnahmen aber gerade nicht in Frage (vgl. BVerfGE 113, 167 <259>; 148, 40 <57 Rn. 47>). 128 Ist allerdings der von § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG geforderte Impfschutz durch einen, etwa auf der Grundlage von § 73 Abs. 3 Halbsatz 1 AMG aus dem Ausland eingeführten, Monoimpfstoff erlangt worden, ist dies regelmäßig als zur Erreichung des Gesetzeszwecks ebenso geeignetes Mittel anzusehen (vgl. VG Ansbach, Beschluss vom 5. Mai 2022 - AN 18 S 22.00535 -, Rn. 46 ff.). Die Impfung mit einem im Inland zur Verfügung stehenden Mehrfachimpfstoff ist dann nicht erforderlich und darf zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit nicht gefordert werden. 129 dd) Die beanstandeten Vorschriften über die Pflicht zum Auf- und Nachweis einer Masernimpfung sowie das bei Ausbleiben des Nachweises geltende Betreuungsverbot erweisen sich auch als angemessen und damit verhältnismäßig im engeren Sinn. Trotz des nicht unerheblichen Gewichts der mittelbaren Eingriffe in das Grundrecht der Kinder aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und in das der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG werden diese jeweils nicht unzumutbar im Hinblick auf den Schutz von Leben und Gesundheit durch eine Masernerkrankung gefährdeter Personen belastet. 130 (1) Die Angemessenheit und damit die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne erfordern, dass der mit der Maßnahme verfolgte Zweck und die zu erwartende Zweckerreichung nicht außer Verhältnis zu der Schwere des Eingriffs stehen (vgl. BVerfGE 155, 119 <178 Rn. 128>; stRspr). Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, in einer Abwägung Reichweite und Gewicht des Eingriffs in Grundrechte einerseits der Bedeutung der Regelung für die Erreichung legitimer Ziele andererseits gegenüberzustellen (vgl. BVerfGE 156, 11 <48 Rn. 95>). Insbesondere im Fall einer Kollision der abwehr- und der schutzrechtlichen Dimensionen der Grundrechte obliegt es vorrangig dem demokratisch besonders dafür legitimierten Gesetzgeber, die entgegenstehenden verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgüter unter Ausnutzung seines Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraums gegeneinander abzuwägen und in einen Ausgleich zu bringen. Um dem Übermaßverbot zu genügen, müssen hierbei die Interessen des Gemeinwohls umso gewichtiger sein, je empfindlicher die Einzelnen in ihrer Freiheit beeinträchtigt werden. Die verfassungsrechtliche Prüfung bezieht sich dann darauf, ob der Gesetzgeber seinen Einschätzungsspielraum in vertretbarer Weise gehandhabt hat. Bei der Kontrolle prognostischer Entscheidungen setzt dies wiederum voraus, dass die Prognose des Gesetzgebers auf einer hinreichend gesicherten Grundlage beruht (vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 27. April 2022 - 1 BvR 2649/21 -, Rn. 203 f. m.w.N.). 131 (2) Danach greifen die angegriffenen Vorschriften mit nicht unerheblichem Gewicht zielgerichtet mittelbar sowohl in das Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG als auch in die körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) der Kinder ein (a). Dem steht jedoch mit dem Schutz vor den Gefahren einer Masernerkrankung als dringlicher Zweck der Schutz hochwertiger Rechtsgüter Dritter gegenüber (b). Die Abwägung zwischen den Grundrechtsbeeinträchtigungen einerseits und den mit den beanstandeten Regelungen bezweckten Gemeinwohlbelangen andererseits hält verfassungsrechtlicher Prüfung stand (c). 132 (a) Die angegriffenen Vorschriften des Infektionsschutzgesetzes greifen in unterschiedlicher Weise und mit verschiedenem Gewicht sowohl in das Elternrecht als auch in die körperliche Unversehrtheit der Kinder ein. 133 (aa) Der Eingriff in das Elternrecht der jeweiligen Beschwerdeführenden zu 1) und 2) durch § 20 Abs. 13 Satz 1 IfSG, der ihnen die Erfüllung der Pflichten aus den Absätzen 9 bis 12 auferlegt, ist für sich genommen lediglich von geringem Gewicht. Insoweit handelt es sich letztlich um eine Ausprägung der gesetzlichen Vertretung ihrer Kinder nach § 1629 Abs. 1 Satz 1 BGB. 134 Größeres Eingriffsgewicht kommt aber der Nachweispflicht aus § 20 Abs. 9 Satz 1 IfSG wegen der Einengung elterlicher Entscheidungsoptionen zur Förderung ihrer Kinder in der Phase vor Schuleintritt zu. Die angegriffenen Regelungen greifen in das vom Elternrecht umfasste Recht auf Gesundheitssorge ein, da sie gebieten, dass Eltern einer Impfung ihrer Kinder zustimmen. Zwar sind sie letztlich nicht unausweichlich verpflichtet, einer Impfung zuzustimmen. Tun sie dies aber nicht, ist dies jedoch mit spürbaren Nachteilen für sie selbst und ihre Kinder verbunden. Das Elternrecht des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG eröffnet in der derzeitigen Ausgestaltung seiner wesentlichen Elemente sorgeberechtigten Eltern vermittels des Anspruchs ihrer Kinder aus § 24 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 SGB VIII die Möglichkeit, eine einrichtungsgestützte frühkindliche und vorschulische Förderung für ihre Kinder zu wählen. Entscheiden sie sich dafür, kommen sie ihrer Elternverantwortung bei der Unterstützung der Kinder in deren Entwicklung zu selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten nach. Davon geht der Gesetzgeber in § 22 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 2 SGB VIII unmissverständlich selbst aus. Mit der angegriffenen Nachweispflicht verengt das Infektionsschutzrecht die Wahlmöglichkeit der Eltern nicht unbeträchtlich, indem der Betreuungsanspruch ohne Impfnachweis entfällt oder zumindest nicht durchgesetzt werden kann (dazu Rn. 58). Die Option einer einrichtungsgestützten frühkindlichen und vorschulischen Förderung ist damit ausschließlich noch in Kombination mit der von den jeweiligen Beschwerdeführenden zu 1) und 2) an sich abgelehnten zweifachen Impfung ihrer Kinder gegen Masern verfügbar. Dabei dient die Nachweispflicht nicht ihrerseits der Förderung der Persönlichkeitsentwicklung von Kindern im Alter vor Schuleintritt, sondern bezweckt neben deren Eigenschutz gegen eine Maserninfektion vor allem den Gemeinschaftsschutz vor den Gefahren von Maserninfektionen (vgl. BTDrucks 19/13452, S. 1 f. und 26). Das verstärkt die Intensität des Eingriffs in das Elternrecht, weil die betroffenen Eltern im fremdnützigen Interesse des Schutzes der Bevölkerung entgegen den eigenen Vorstellungen zu einer Disposition über die körperliche Unversehrtheit ihrer Kinder gedrängt werden. 135 Da die Wahrnehmung des Betreuungsanspruchs aus § 24 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 IfSG an den Auf- und Nachweis der Masernimpfung geknüpft ist (vgl. § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG), wirken die beanstandeten Vorschriften auch auf das auf die Gesundheitssorge bezogene Elternrecht ein. Entscheidungen über die Vornahme von Impfungen bei Kindern gehören als Teil der Gesundheitssorge zu den wesentlichen Elementen der durch Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleisteten Elternverantwortung (dazu Rn. 68). Wie stets ist aber das Kindeswohl die maßgebliche Richtschnur der Ausübung des Elternrechts (vgl. BVerfGE 60, 79 <88>; 103, 89 <107>; 121, 69 <92>). Bei der Ausübung der Gesundheitssorge durch die Eltern haben diese zwar grundsätzlich den Primat der Beurteilung der Kindeswohldienlichkeit. Das schließt jedoch staatliche Maßnahmen zum Schutz des Kindes nicht aus (vgl. Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG). Seine absolute Grenze findet der Vorrang bei einer (konkreten) Gefährdung des Kindeswohls. 136 Bei den hier zu beurteilenden Regelungen ist das Gewicht des die Gesundheitssorge treffenden Eingriffs in das Elternrecht dadurch reduziert, dass die Impfung nach medizinischen Standards gerade auch dem Gesundheitsschutz der auf- und nachweisverpflichteten Kinder selbst dient. Nach fachgerichtlicher Einschätzung bilden die Impfempfehlungen der Ständigen Impfkommission den medizinischen Standard ab, und der Nutzen der jeweils empfohlenen „Routineimpfung“ überwiegt das Impfrisiko (vgl. BGHZ 144, 1 <9>; BGH, Beschluss vom 3. Mai 2017 - XII ZB 157/16 -, Rn. 25). Regelmäßig ist damit die Vornahme empfohlener Impfungen dem Kindeswohl dienlich. Davon geht auch die fachgerichtliche Rechtsprechung für Sorgerechtsentscheidungen bei Streitigkeiten über empfohlene Schutzimpfungen zwischen gemeinsam sorgeberechtigten Eltern aus (vgl. OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 17. August 2021 - 6 UF 120/21 -, Rn. 21; OLG München, Beschluss vom 18. Oktober 2021 - 26 UF 928/2 -, Rn. 25). 137 Das lässt den Eingriff in das Gesundheitssorgerecht der Eltern zwar nicht entfallen. Deren Entscheidungen in Fragen der Gesundheitssorge für ihr Kind bleiben auch bei entgegenstehenden medizinischen Einschätzungen im Ausgangspunkt verfassungsrechtlich schutzwürdig. Da das Grundgesetz ihnen aber die Gesundheitssorge wie alle anderen Bestandteile der elterlichen Sorge im Interesse des Kindes ‒ insoweit zum Schutz seiner durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geschützten Gesundheit ‒ überträgt, ist es jedoch für die Eingriffstiefe von Bedeutung, wenn die Einschränkung der Gesundheitssorge ihrerseits nach medizinischen Standards gerade den Schutz der Gesundheit des Kindes fördert. Zwar gewährleistet das auf die körperliche Integrität bezogene Selbstbestimmungsrecht im Grundsatz auch, Entscheidungen über die eigene Gesundheit nicht am Maßstab objektiver Vernünftigkeit auszurichten. Diese Freiheit ist Ausdruck der persönlichen Autonomie (vgl. BVerfGE 142, 313 <339 Rn. 74>; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 27. April 2022 - 1 BvR 2649/21 -, Rn. 111). Bei der Ausübung der am Kindeswohl zu orientierenden Gesundheitssorge für ihr Kind sind die Eltern jedoch weniger frei, sich gegen Standards medizinischer Vernünftigkeit zu wenden, als sie es kraft ihres Selbstbestimmungsrechts über ihre eigene körperliche Integrität wären (vgl. dazu Rn. 68 f.). Das Elternrecht bleibt ein dem Kind dienendes Grundrecht. Ein nach medizinischen Standards gesundheitsförderlicher Eingriff in die elterliche Gesundheitssorge wiegt weniger schwer als ein Eingriff, der nach fachlicher Einschätzung die Gesundheit des Kindes beeinträchtigte. Dieser objektiv vorhandene Impfvorteil für die Kinder mindert daher das Gewicht des Eingriffs in die elterliche Gesundheitssorge durch das Betreuungsverbot. 138 Hier wirkt sich insoweit nur begrenzt eingriffsintensivierend aus, dass in Deutschland für die Masernimpfung derzeit lediglich Dreifach- oder Vierfach-Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung stehen, die in die Pflicht aus § 20 Abs. 8 IfSG nach dessen Satz 3 einbezogen sind. Zwar wird dadurch die auf die körperliche Unversehrtheit bezogene Dispositionsbefugnis ohnehin nicht impfbereiter Eltern stärker beeinträchtigt als bei einer Impfentscheidung für eine Masernimpfung mit einem Monoimpfstoff. Jedoch erhöht die Verwendung dieser Kombinationsimpfstoffe das Risiko von unerwünschten Nebenwirkungen nicht wesentlich (dazu Rn. 29). Für die in Kombination angebotenen Impfungen gegen Mumps, Röteln und Windpocken (Varizellen) bestehen zudem ebenfalls Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (vgl. RKI, Epidemiologisches Bulletin 4/2022, S. 6), wenngleich der Gesetzgeber keine auf eine Impfung gegen Mumps, Röteln und Windpocken bezogene Auf- und Nachweispflicht vorgesehen hat. Dennoch ist das Verabreichen dieser Kombinationsimpfstoffe nach medizinischen Standards ebenfalls kindeswohldienlich. Das reduziert wie bei Verabreichung von Monoimpfstoffen das Gewicht des Eingriffs in das seinerseits auf das Kindeswohl ausgerichtete Elternrecht. 139 Eingriffsintensivierend wirkt dagegen unter einem anderen Aspekt des Elternrechts das bei ausbleibendem Impfnachweis geltende Betreuungsverbot aus § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG. Denn dadurch wird die Vereinbarkeit von Familie und Elternschaft mit der Erwerbstätigkeit der Eltern (vgl. dazu BTDrucks 16/9299, S. 1, S. 10; BTDrucks 19/26107, S. 54) beeinträchtigt. Zur Schaffung von Voraussetzungen dieser Vereinbarkeit ist der Staat in Erfüllung seiner Schutzpflicht aus Art. 6 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich gehalten (vgl. BVerfGE 99, 216 <234> m.w.N.; siehe auch Struck/Schweigler, in: Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 22 Rn. 17). Das Betreuungsverbot wirkt sich nicht unerheblich auf die Gestaltung der Erziehung aus, weil ohne Nachweis der Masernimpfung der Anspruch auf eine einrichtungsgestützte Betreuung und Förderung nach § 24 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 SGB VIII nicht wahrgenommen werden kann. Betroffene Eltern müssen daher entweder auf Betreuung außerhalb von Einrichtungen nach § 33 Nr. 1 und 2 IfSG ausweichen oder die eigene Erwerbstätigkeit umgestalten, um die Kinderbetreuung selbst wahrnehmen zu können. Daher geht mit dem Betreuungsverbot wegen der durch Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleisteten Freiheit von Eltern, ihr familiäres Leben nach ihren Vorstellungen zu planen und zu verwirklichen, ein nicht unerhebliches Eingriffsgewicht einher. 140 Das Gewicht des Eingriffs in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG unter diesem Aspekt wird durch die Beeinträchtigung damit korrespondierender Rechtspositionen der Kinder verstärkt. Entscheiden sich Eltern in Wahrnehmung ihrer Gesundheitssorge gegen die Durchführung der in § 20 Abs. 8 IfSG geforderten Impfungen, greift wegen des dann fehlenden Nachweises einer Masernimpfung das Betreuungsverbot aus § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG. Damit kann der fachrechtlich in § 24 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 SGB VIII gewährte Anspruch der Kinder auf eine einrichtungsgestützte frühkindliche und vorschulische Förderung jedenfalls nicht durchgesetzt werden (dazu Rn. 58). Der Gesetzgeber selbst ordnet die Betreuung von Kindern im Alter vor Schuleintritt als Maßnahme der Förderung der Persönlichkeitsentwicklung ein (dazu Rn. 81). Er misst der frühkindlichen Bildung, mit der grundlegende Dispositionen für das spätere Lernverhalten gelegt würden, erhebliche Bedeutung für die kindliche Entwicklung zu (vgl. BTDrucks 19/26107, S. 54). Das Betreuungsverbot aus § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG versperrt aber betroffenen Kindern, auch den jeweiligen Beschwerdeführenden zu 3), die Wahrnehmung ihres Anspruchs, wenn die Eltern eine das Verbot auslösende Entscheidung zur Gesundheitssorge getroffen haben. Dem kommt Gewicht auch deshalb zu, weil nicht allein der dargestellte fachrechtlich eingeräumte Förderanspruch von Kindern betroffen ist, sondern wegen der in § 24 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 SGB VIII erfolgten Ausgestaltung auch das in Art. 2 Abs. 1 GG wurzelnde, gegen den Staat gerichtete Recht von Kindern auf Unterstützung und Förderung bei ihrer Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Person in der sozialen Gemeinschaft (vgl. dazu BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 19. November 2021 - 1 BvR 971/21 u.a. -, Rn. 46 m.w.N., Bundesnotbremse II). 141 (bb) Die angegriffenen Vorschriften des Infektionsschutzgesetzes greifen in das Grundrecht der beschwerdeführenden Kinder aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG mit ebenfalls nicht unerheblichem Gewicht ein. Das Eingriffsgewicht korrespondiert mit dem des Eingriffs in das auf die Gesundheitssorge bezogene Elternrecht. 142 (α) Der Eingriff in das Grundrecht der Kinder aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG erfolgt mittelbar durch die Einwirkung auf die Ausübung des die Gesundheitssorge betreffenden Elternrechts. Entscheiden sich die sorgeberechtigten Eltern zwecks Meidung des Betreuungsverbots aus § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG, ihr in einer betroffenen Einrichtung betreutes Kind impfen zu lassen, geht dies mit einer Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit des Kindes einher. 143 (β) Allerdings ist dieser mittelbare Eingriff weder nach der Art der sich anschließenden körperlichen Einwirkung selbst noch aufgrund der Beeinträchtigung der Dispositionsfreiheit über die körperliche Unversehrtheit besonders schwerwiegend. Zwar kann selbst eine Impfung mit erprobten, weitgehend komplikationslosen Impfstoffen (dazu Rn. 21 ff.) nicht ohne Weiteres als unbedeutender vorbeugender ärztlicher Eingriff eingeordnet werden (so noch BGHSt 4, 375 <377 f.>). Die Wahrscheinlichkeit gravierender, mitunter tödlicher Komplikationen im Falle einer Maserninfektion ist jedoch um ein Vielfaches höher als die Wahrscheinlichkeit schwerwiegender Impfkomplikationen. Etwas häufiger vorkommende harmlose Impfreaktionen erhöhen das Gewicht des Eingriffs in die körperliche Unversehrtheit nicht maßgeblich (zu den fachwissenschaftlichen Grundlagen näher oben Rn. 27 ff.). 144 Die für eine Masernschutzimpfung positive Risiko-Nutzen-Bewertung ist für die Beurteilung des Eingriffsgewichts in die körperliche Unversehrtheit der beschwerdeführenden Kinder von Bedeutung. Zwar gewährleistet das auf die körperliche Integrität bezogene Selbstbestimmungsrecht im Grundsatz auch, Entscheidungen über die eigene Gesundheit nicht am Maßstab objektiver Vernünftigkeit auszurichten (vgl. BVerfGE 142, 313 <339 Rn. 74>; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 27. April 2022 - 1 BvR 2649/21 -, Rn. 111). Zur Wahrnehmung dieser Autonomie ist ein Kind anfangs allerdings zunächst entwicklungsbedingt nicht in der Lage. Im Ansatz ähnlich ist aber auch die elterliche Ausübung der durch das Elterngrundrecht geschützten Gesundheitssorge entgegen medizinischer Einschätzung verfassungsrechtlich grundsätzlich schutzwürdig. Bei der Ausübung der am Kindeswohl zu orientierenden Gesundheitssorge (dazu Rn. 73 und 81) sind die Eltern jedoch weniger gegen staatliche Vorgaben geschützt als sie es kraft ihres Selbstbestimmungsrechts über ihre eigene körperliche Integrität wären. Das Elternrecht ist ein dem Kind dienendes Grundrecht. Die aus dem dienenden Charakter folgenden Beschränkungen des Elternrechts werden nicht dadurch überspielt, dass die Eltern in das von den Kindern anfangs nicht wahrnehmbare Selbstbestimmungsrecht vollumfänglich einträten. Mit dem Grundrecht des Kindes aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verbindet sich darum kein ebenso weitreichendes Recht auf medizinisch unvernünftige Entscheidung wie bei Erwachsenen, die über den Umgang mit ihrer eigenen Gesundheit nach eigenem Gutdünken entscheiden können (vgl. BVerfGE 142, 313 <339 Rn. 74>). Dem stärker an medizinischen Standards auszurichtenden körperlichen Kindeswohl dienlich ist regelmäßig die Vornahme empfohlener Impfungen, nicht ihr Unterbleiben. Das gilt auch für die Verabreichung von Kombinationsimpfstoffen (oben Rn. 29). Daher kann den angegriffenen, gerade zur Vornahme einer empfohlenen Impfung anreizenden gesetzlichen Regelungen kein besonders hohes Gewicht des Eingriffs in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG beigemessen werden. 145 Dabei wird das Gewicht des Eingriffs in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG auch dadurch abgemildert, dass die angegriffenen Maßnahmen die Freiwilligkeit der Impfentscheidung der Eltern als solche nicht aufheben und diesen damit die Ausübung der Gesundheitssorge für ihre Kinder im Grundsatz belassen. Sie ordnen keine mit Zwang durchsetzbare Impfpflicht an (vgl. auch § 28 Abs. 1 Satz 3 IfSG). Vielmehr verbleibt den für die Ausübung der Gesundheitssorge zuständigen Eltern im Ergebnis ein relevanter Freiheitsraum (vgl. zum verbleibenden Freiheitsraum auch BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 27. April 2022 - 1 BvR 2649/21 -, Rn. 209, 221, 232). Sorgeberechtigte Eltern können auf eine Schutzimpfung des Kindes verzichten. Dann müssen sie allerdings den Nachteil in Kauf nehmen, dass sie eine andere Form der Kinderbetreuung (bspw. in der nicht erlaubnispflichtigen Tagespflege) finden müssen. 146 (b) Demgegenüber verfolgt der Gesetzgeber mit den angegriffenen Vorschriften den Schutz eines überragend gewichtigen Rechtsguts, der hier auch dringlich ist. Die angegriffenen Vorschriften dienen dem Schutz vor einer Masernerkrankung. Demnach ist insoweit das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit betroffen, wobei es um den Schutz einer Vielzahl von Personen, insbesondere von vulnerablen Personen geht, die sich nicht selbst durch eine Impfung wirksam schützen können. Dem Schutz der Gesundheit der Bevölkerung kommt ein hohes Gewicht zu (vgl. BVerfGE 110, 141 <163>; 121, 317 <356>). Aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG kann daher eine Schutzpflicht des Staates folgen, die eine Risikovorsorge gegen Gesundheitsgefährdungen umfasst (vgl. BVerfGE 56, 54 <78>; 121, 317 <356>; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 19. November 2021 - 1 BvR 781/21 u.a. -, Rn. 176). Angesichts der bei Masern sehr hohen Ansteckungsgefahr und der mit einer Masernerkrankung verbundenen Risiken eines schweren Verlaufs besteht eine beträchtliche Gefährdung des Rechtsguts der körperlichen Unversehrtheit Dritter. Die Annahme des Gesetzgebers, ohne die in den angegriffenen Regelungen getroffenen Maßnahmen würde die Impfquote weiter stagnieren, und gleichzeitig könne die Anzahl der Masernausbrüche in Kindertagesstätten und in der Kindertagespflege steigen, beruht auf tragfähigen Grundlagen und ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. 147 (c) Ohne Verstoß gegen Verfassungsrecht hat der Gesetzgeber mit den angegriffenen Auf- und Nachweispflichten sowie den bei deren Ausbleiben eintretenden Folgen dem Schutz durch eine Maserninfektion gefährdeter Menschen den Vorrang vor den Interessen der beschwerdeführenden Kinder und Eltern eingeräumt. Die damit verbundenen nicht unerheblichen Grundrechtseingriffe sind ihnen zugunsten des Gesundheitsschutzes vor den Gefahren einer Maserninfektion von verletzlichen Personen und damit einem Gemeinwohlbelang von hohem Rang derzeit zuzumuten. 148 Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber für die von ihm geförderte (früh)kindliche Betreuung (§ 24 Abs. 1 bis 3 SGB VIII) mit den angegriffenen Regelungen Maßnahmen ergriffen hat, die Maserninfektionen von Kindern vermeiden oder zumindest deutlich reduzieren sollen. Im Rahmen der Abwägung ist zu berücksichtigen, dass in den hier gegenständlichen Gemeinschaftseinrichtungen zur Kinderbetreuung nach den statistisch belegten Impfquoten in den dort betreuten Altersgruppen keine zum Gemeinschaftsschutz ausreichenden Quoten bestehen. Zugleich haben die betreuten Kinder typischerweise Kontakte zu besonders schutzwürdigen Personen, die eine hohe altersspezifische Inzidenz für Masern sowie eine gesteigerte Wahrscheinlichkeit aufweisen, im Falle einer Maserninfizierung Komplikationen auszubilden, sich aber wegen einer Kontraindikation nicht selbst wirksam durch eine Impfung schützen können (z.B. Kinder im ersten Lebensjahr, Schwangere). Mit der Bindung der Auf- und Nachweispflicht einer Masernimpfung an die Betreuung in Gemeinschaftseinrichtungen im Sinne von § 33 Nr. 1 und 2 IfSG hat der Gesetzgeber die Reichweite der angegriffenen Regelungen gegenständlich begrenzt. Dementsprechend führt das Ausbleiben des in § 20 Abs. 8 und 9 IfSG geforderten Auf- und Nachweises der Masernimpfung auch nicht zum Ausschluss jeglicher frühkindlichen oder vorschulischen Förderung außerhalb der Familie. Die anderweitige Betreuung von Kindern in den betroffenen Alterskohorten bleibt auch familienübergreifend jedenfalls im selbstorganisierten privaten Bereich zulässig. An der gegenständlichen Beschränkung wird deutlich, dass der Gesetzgeber das die freie Gestaltung der Kindererziehung umfassende Elternrecht nicht aus dem Blick verloren hat, auch wenn der Ausschluss von der einrichtungsbezogenen Kinderbetreuung nach § 24 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 SGB VIII mit nicht unbeträchtlichen Veränderungen gegenüber der eigentlich gewünschten Gestaltung des familiären Lebens sowie der Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbunden sein können. 149 Trotz der nicht unerheblichen Eingriffe in das Abwehrrecht der Kinder aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und das Grundrecht der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG konnte der Gesetzgeber der Schutzpflicht für die körperliche Unversehrtheit durch eine Masernerkrankung gefährdeter Personen den Vorrang einräumen. Für die Schutzpflicht streiten die hohe Übertragungsfähigkeit und Ansteckungsgefahr sowie das nicht zu vernachlässigende Risiko, als Spätfolge der Masern eine für gewöhnlich tödlich verlaufende Krankheit (die subakute sklerosierende Panenzephalitis, SSPE) zu erleiden. Bei Kindern unter fünf Jahren liegt dieses Risiko bei etwa 0,03 und bei Kindern unter einem Jahr bei etwa 0,17 % (RKI, Epidemiologisches Bulletin 10/2015, S. 72 f.; näher oben Rn. 17). Demgegenüber treten bei einer Impfung nur milde Symptome und Nebenwirkungen auf; ein echter Impfschaden ist extrem unwahrscheinlich (oben Rn. 28 f.). Die Gefahr für Ungeimpfte, an Masern zu erkranken, ist deutlich höher als das Risiko, einer auch nur vergleichsweise harmlosen Nebenwirkung der Impfung ausgesetzt zu sein. Hinzu kommt, dass die realistische Möglichkeit der Eradikation der Masern die staatliche Schutzpflicht stützt, weshalb selbst bei einer sinkenden Inzidenz von Krankheitsfällen – zu einem Sinken dürfte es kommen, je näher das Ziel der Herdenimmunität durch eine steigende Impfquote rückt – das Abwehrrecht der Beschwerdeführenden, in das die Auf- und Nachweispflicht zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit Impfunfähiger mittelbar eingreift, aufgrund geringerer Gefahrennähe weniger Gewicht für sich beanspruchen kann, als der vom Gesetzgeber verfolgte Schutz impfunfähiger Grundrechtsträger. 150 Es ist verfassungsrechtlich auch nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber im Rahmen seiner Prognose die Gefahren in der Weise bewertet, dass das geringe Restrisiko einer Impfung im Vergleich zu einer Wildinfektion mit Masern bei gleichzeitiger Beachtung der – auch den betroffenen Kindern zugutekommenden – Impfvorteile zurücksteht. Im Ergebnis führt die Masernimpfung daher zu einer erheblich verbesserten gesundheitlichen Sicherheit des Kindes. Dem Individualschutz durch die Impfung zugunsten der Kinder kommt auch in der Abwägung der Interessen durch eine Masern-infektion zumindest in ihrer Gesundheit gefährdeter Personen einerseits mit dem Elternrecht andererseits Bedeutung zu. Da auch das die Gesundheitssorge betreffende Recht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG kindeswohlorientiert auszuüben und die Vornahme empfohlener Impfungen der Gesundheit des Kindes dienlich ist, kommt dem Eingriff in das Elternrecht insoweit kein besonders hohes Gewicht zu. Eine Abwägung zugunsten der Gesundheit von Personen, die sich selbst nicht durch Impfung vor einer Masernerkrankung schützen können und deshalb nur über eine Herdenimmunität geschützt werden können, ist daher verfassungsrechtlich unbedenklich. 151 Die Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit der Kinder und das Elternrecht ihrer sorgeberechtigten Eltern sind auch nicht insoweit unzumutbar, als § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG eine Auf- und Nachweispflicht selbst dann vorsieht, wenn zur Erlangung des Masernimpfschutzes – wie es derzeit in Deutschland der Fall ist – ausschließlich Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung stehen (kritisch Aligbe, in: BeckOK/Infektionsschutzrecht, 12. Edition, Stand 1. Juli 2022, § 20 IfSG, Rn. 206 f.; Deutscher Ethikrat, Stellungnahme „Impfen als Pflicht?“, S. 66; Heiderhoff, in: von Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 6, Rn. 176; Gebhard, in: Kießling, IfSG, 2. Aufl. 2021, § 20, Rn. 46 f.; wie hier Schaks, in: Kluckert, Das neue Infektionsschutzrecht, § 14, Rn. 41; ders., MedR 2020, 201 <206>). Zwar führt dies faktisch dazu, dass die Kinder bei entsprechender Entscheidung ihrer Eltern die Impfung mit zusätzlichen Wirkstoffen hinnehmen müssen, derer es zum Erfüllen der Auf- und Nachweispflicht aus § 20 Abs. 8 und 9 IfSG nicht bedarf und auf deren Schutzeffekte das Gesetz nicht zielt. Das führt jedoch nicht zur Unangemessenheit der angegriffenen Regelungen. Sofern Impfschutz durch einen, etwa auf der Grundlage von § 73 Abs. 3 Halbsatz 1 AMG aus dem Ausland eingeführten, Monoimpfstoff erlangt wurde, ist die Impfung mit einem im Inland zur Verfügung stehenden Kombinationsimpfstoff ohnehin nicht erforderlich und darf dessen Verwendung nicht gefordert werden. Aber selbst wenn dies nicht der Fall ist, überwiegen im Ergebnis die für den Aufweis anhand eines Mehrfachimpfstoffs sprechenden Argumente. Denn die aktuell in den Mehrfachimpfstoffen enthaltenen weiteren Wirkstoffe betreffen ebenfalls von der Ständigen Impfkommission empfohlene, also eine positive Risiko-Nutzen-Analyse aufweisende Impfungen. Sie sind deshalb ihrerseits grundsätzlich kindeswohldienlich, wenngleich insoweit weder ein mit Masern vergleichbar hohes Infektionsrisiko besteht noch entsprechende schwere Krankheitsverläufe eintreten können. Ausweislich der Stellungnahmen des Paul-Ehrlich-Instituts und der Ständigen Impfkommission besteht zwischen dem Nebenwirkungsprofil eines Monoimpfstoffs und den in Deutschland zugelassenen Kombinationsimpfstoffen jedenfalls kein wesentlicher Unterschied. 152 Dem steht die Dringlichkeit gegenüber, diejenigen Personen, die sich nicht selbst durch Impfung schützen können, mittels Gemeinschaftsschutz zu schützen. Für diesen bedarf es der genannten Impfquote von 95 %, die gerade auch in den Altersgruppen nicht erreicht ist, die in den hier betroffenen Gemeinschaftseinrichtungen betreut werden. Würde die Pflicht zum Auf- und Nachweis der Masernimpfung auf Situationen beschränkt, in denen ein Monoimpfstoff zur Verfügung steht, würde die erforderliche Impfquote weniger gut erreicht. In der Gesamtabwägung ist es vertretbar, dass der Gesetzgeber den Schutz für vulnerable Personen gegen Masern so hoch gewertet hat, dass dafür auch die Grundrechtsbeeinträchtigungen durch den vom Gesetzgeber mit der Anordnung in § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG in Kauf genommenen Einsatz der aktuell einzig verfügbaren Kombinationsimpfstoffe hinzunehmen sind. Auch weil damit objektiv ein Schutz gegen die weiteren durch Kombinationsimpfstoffe erfassten Krankheiten verbunden ist, ist das Interesse, dass mangels verfügbarer Monoimpfstoffe Kombinationsimpfstoffe zum Einsatz kommen, höher zu gewichten als die Interessen der betroffenen Kinder und Eltern, diese nicht verwenden zu müssen. Angesichts des die Beeinträchtigungen deutlich überwiegenden Interesses am Schutz vulnerabler Personen gegen Masern erscheint zudem derzeit auch zur Wahrung der Angemessenheit nicht geboten, dass der Staat durch Beschaffung, Herstellung oder Marktintervention die Verfügbarkeit von Monoimpfstoff sichert. 153 Das gilt auch, soweit die gesetzlichen Regelungen Mädchen betreffen wie die Beschwerdeführerinnen zu 3) in den Verfahren 1 BvR 469/20 und 1 BvR 471/20. Allerdings ist die Nutzung eines die Impfung gegen Mumps enthaltenden Kombinationsimpfstoffes nicht deshalb unzumutbar, weil es Belege dafür gäbe, dass Frauen, die als Kinder an Mumps erkrankt waren, eine geringere Wahrscheinlichkeit aufwiesen, später an Eierstockkrebs zu erkranken. Nach dem in das Verfahren eingebrachten fachwissenschaftlichen Erkenntnisstand trägt die Annahme nicht, dass die Verwendung eines solchen Kombinationsimpfstoffs für Mädchen erhebliche Nachteile hätte. Zwar wurde in einer vereinzelt gebliebenen Studie aus dem Jahr 2010 angedeutet, eine durch eine Mumpsinfektion ausgelöste Entzündung der Ohrspeicheldrüse könne möglicherweise eine Immunüberwachung von Eierstockkrebszellen bewirken (Cramer et al., Cancer Causes Control, 2010, S. 1193). Jedoch wurde und wird ihre Aussagekraft bezweifelt, weil der Abgleich mit einem höheren Anteil geimpfter Frauen in der Kontrollgruppe keinen Unterschied in der Rate von Eierstockkrebs gezeigt hat (vgl. Weigel et al., Deutsches Ärzteblatt International 2015, S. 402 <403>). Auch die Autoren der Studie selbst weisen auf die begrenzte Aussagekraft ihrer Studie hin, da nur eine geringe Anzahl von Proben zur Verfügung stand (vgl. Cramer et al., Cancer Causes Control, 2010, S. 1193 <1199>). Es liegen damit keine hinreichend tragfähigen Grundlagen vor, die einer Impfung gegen Mumps auch von Mädchen entgegenstünden. III. 154 Die angegriffenen Vorschriften des Infektionsschutzgesetzes über die Auf- und Nachweispflicht sowie das Betreuungsverbot in Einrichtungen nach § 33 Nr. 1 und 2 IfSG bei ausbleibendem Nachweis verletzen die beschwerdeführenden Kinder auch nicht in ihrem Recht auf Gleichbehandlung aus Art. 3 Abs. 1 GG. 155 1. Der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) gebietet dem Gesetzgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln (vgl. BVerfGE 116, 164 <180>; 138, 136 <180 Rn. 121>; stRspr). Er gilt für ungleiche Belastungen wie auch für ungleiche Begünstigungen (vgl. BVerfGE 110, 412 <431>; 138, 136 <180 Rn. 121>; 145, 20 <86 f. Rn. 171>). Aus dem allgemeinen Gleichheitssatz ergeben sich je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen (vgl. BVerfGE 110, 274 <291>; 138, 136 <180 f. Rn. 122>; stRspr). 156 Ungleichbehandlungen bedürfen jedoch stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Ziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind. Dabei gilt ein stufenloser, am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab, dessen Inhalt und Grenzen sich nicht abstrakt, sondern nur nach den jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereichen bestimmen lassen. Hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Anforderungen an den die Ungleichbehandlung tragenden Sachgrund ergeben sich aus dem allgemeinen Gleichheitssatz je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die von gelockerten, auf das Willkürverbot beschränkten Bindungen, bis hin zu strengen Verhältnismäßigkeitserfordernissen reichen können. Eine strengere Bindung des Gesetzgebers kann sich aus den jeweils betroffenen Freiheitsrechten ergeben. Zudem verschärfen sich die verfassungsrechtlichen Anforderungen, je weniger die Merkmale, an die die gesetzliche Differenzierung anknüpft, für den Einzelnen verfügbar sind oder je mehr sie sich denen des Art. 3 Abs. 3 GG annähern (vgl. BVerfGE 138, 136 <180 f. Rn. 121 f.>; stRspr). 157 2. Hier knüpfen die in den Verfassungsbeschwerden gerügten Ungleichbehandlungen stärker an situationsgebundene als an personenbezogene Kriterien an und enthalten zudem keine Differenzierungsmerkmale, die in der Nähe des Art. 3 Abs. 3 GG angesiedelt sind. Demnach steht dem Gesetzgeber ein größerer Regelungsspielraum offen (vgl. BVerfGE 88, 87 <96>; 124, 199 <220>; 129, 49 <69>; 130, 240 <254>; 138, 136 <180 f. Rn. 122>); allerdings handelt es sich um Ungleichbehandlungen im Anwendungsbereich der Freiheitsrechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG. Bei der Bestimmung des stufenlosen Prüfungsmaßstabs ist hierbei von Bedeutung, ob die Betroffenen die Anwendung der eine Ungleichbehandlung auslösenden Regelung durch Gebrauchmachen von einer Wahlmöglichkeit beeinflussen oder gar ausschließen können. Für die Anforderungen an Rechtfertigungsgründe für gesetzliche Differenzierungen kommt es ferner wesentlich darauf an, in welchem Maß sich die Ungleichbehandlung von Personen oder Sachverhalten auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten auswirken kann (vgl. BVerfGE 112, 164 <174>; 138, 136 <180 f. Rn. 122>; 145, 20 <86 f. Rn. 171>; stRspr). Genauere Maßstäbe und Kriterien dafür, unter welchen Voraussetzungen der Gesetzgeber den Gleichheitssatz verletzt, lassen sich allerdings nicht abstrakt und allgemein, sondern nur in Bezug auf die jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereiche bestimmen (vgl. BVerfGE 105, 73 <111>; 132, 179 <188 Rn. 30>; 138, 136 <180 Rn. 121>). 158 Hinsichtlich Stichtags- und anderen Übergangsvorschriften muss sich die verfassungsrechtliche Prüfung darauf beschränken, ob der Gesetzgeber den ihm zukommenden Spielraum in sachgerechter Weise genutzt hat, ob er die für die zeitliche Anknüpfung in Betracht kommenden Faktoren hinreichend gewürdigt hat und die gefundene Lösung sich im Hinblick auf den gegebenen Sachverhalt und das System der Gesamtregelung durch sachliche Gründe rechtfertigen lässt oder als willkürlich erscheint (vgl. BVerfGE 44, 1 <21 f.>; 136, 127 <143 f. Rn. 50>). 159 3. Gemessen daran sind die von den beschwerdeführenden Kindern als gleichheitswidrig gerügten Differenzierungen durch Sachgründe gerechtfertigt. 160 a) Die Pflicht, einen ausreichenden Masernimpfschutz aufzuweisen, gilt nach § 20 Abs. 8 Satz 1 Nr. 1 IfSG in Verbindung mit § 33 Nr. 2 IfSG nur in der nach § 43 Abs. 1 SGB VIII erlaubnispflichtigen Kindertagespflege. Für Kinder, die in einer nicht erlaubnispflichtigen Kindertagespflege betreut werden, ordnet § 20 Abs. 8 Satz 1 Nr. 1 IfSG nicht an, dass sie einen Masernimpfschutz aufweisen müssen. Für diese Unterscheidung bestehen jedoch ausreichende Sachgründe. 161 Die Betreuungsformen nicht erlaubnispflichtiger Kindertagespflege sind vielfältig und unterscheiden sich wesentlich von der erlaubnispflichtigen Kindertagespflege. So bedarf es keiner besonderen Erlaubnis, wenn Personen die Betreuung von Kindern im Elternhaus der Kinder vornehmen. Für diese Fälle kann angenommen werden, dass die Eltern ausreichend für die Ausgestaltung und Durchführung dieser Betreuung Sorge tragen und darauf in Ausübung ihres Sorgerechts Einfluss nehmen. 162 Die Erlaubnispflicht der Kindertagespflege und die hinter ihr stehenden Gründe sind ein zulässiges Differenzierungskriterium für eine unterschiedliche gesetzliche Regelung der Auf- und Nachweispflicht einer Masernimpfung oder -immunität. Bei einer Kinderbetreuung im Elternhaus haben es die Eltern schon aufgrund ihres Hausrechts ohne weiteres selbst in der Hand, dafür zu sorgen, dass alle weiteren im eigenen Haushalt betreuten Kinder eine Impfung aufweisen und damit ein ausreichender Schutz für ihre Kinder gewährleistet ist. Auch sofern es sich nur um eine sehr kurze, vorübergehende Betreuung oder eine zeitlich überschaubare Wochenzeit (beispielsweise nur an einem Tag) handelt, ist es nachvollziehbar, dass diese Fälle anders behandelt werden. Denn im Gegensatz hierzu haben die von § 20 Abs. 8 Satz 1 Nr. 1 IfSG erfassten Fällen gemeinsam, dass eine Vielzahl von Kindern auf Dauer angelegt, regelmäßig und für viele Stunden in der Woche zusammenkommen, ohne dass Eltern zu dieser Zeit unmittelbaren Zugriff oder Einfluss auf Maßnahmen zum Masernschutz haben. Gerade die Anzahl der in erlaubnispflichtiger Kindertagespflege betreuten Kinder, die damit typischerweise verbundene höhere Zahl von Kontakten sowie die zeitliche Dauer der Betreuung bringen häufigere Masernausbrüche dort mit sich. Diese Unterschiede zwischen den tatsächlichen Gegebenheiten erlaubnispflichtiger Kindertagespflege einerseits und nicht erlaubnispflichtiger Kindertagespflege andererseits rechtfertigen die unterschiedliche Regelung zum Auf- und Nachweis einer Masernimpfung oder -immunität. 163 b) Das Gesetz regelt die Rechtsfolgen bei ausbleibendem Nachweis in der erlaubnispflichtigen Kindertagespflege auf der einen Seite und in Schulen auf der anderen Seite unterschiedlich. § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG bestimmt, dass Personen, die keinen ausreichenden Impfschutz nachweisen, nicht in den betroffenen Gemeinschaftseinrichtungen betreut werden dürfen. § 20 Abs. 12 Satz 4 IfSG erlaubt es dem Gesundheitsamt, diesen Personen zu untersagen, dass sie die betroffene Gemeinschaftseinrichtung betreten. Während dies Kinder in Kindertagesstätten und in der erlaubnispflichtigen Kindertagespflege trifft, gilt dies für schulpflichtige Kinder bei ihrem Aufenthalt in der Schule nicht. Für diese unterschiedliche Regelung besteht allerdings ein in der Schulpflicht selbst liegender rechtfertigender Grund. Bei der Betreuung in Kindertagesstätten und der (erlaubnispflichtigen) Kindertagespflege können Eltern eine Masernschutzimpfung ihrer Kinder dadurch vermeiden, dass sie diese anderweitig betreuen oder betreuen lassen. Im Falle eines der allgemeinen Schulpflicht unterfallenden Schulkindes ginge dies mit einem Verstoß gegen diese Pflicht einher. Da der Gesetzgeber keine mit Zwang durchzusetzende Impfpflicht gegen Masern statuiert hat, sondern den Eltern die Impfentscheidung weitgehend belassen wollte, ist es konsequent, den Vorrang der Schulpflicht vor der Auf- und Nachweispflicht klarzustellen. 164 c) Auch die für verschiedene Personengruppen unterschiedlich geregelten maßgeblichen Zeitpunkte für den Nachweis einer Masernimpfung halten verfassungsrechtlicher Prüfung stand und verletzen die beschwerdeführenden Kinder ebenfalls nicht in ihrem Anspruch auf Gleichbehandlung aus Art. 3 Abs. 1 GG. Das gilt sowohl für die Differenzierung zwischen verschiedenen Formen von Gemeinschaftseinrichtungen (aa) als auch für die Unterschiede bei Stichtagsregelungen (bb). 165 aa) Während für Personen, die in Kindertagesstätten oder in der erlaubnispflichtigen Kindertagespflege betreut werden, die Pflicht, ausreichenden Masernimpfschutz aufzuweisen, vom ersten Tag der Betreuung gilt, müssen Kinder in Heimen und Asylbewerber in Gemeinschaftseinrichtungen im Sinne von § 36 Abs. 1 Nr. 4 IfSG einen solchen Schutz erst aufweisen, wenn sie bereits vier Wochen betreut wurden oder untergebracht waren. 166 Für diese Differenzierung bestehen ebenfalls nachvollziehbare sachliche Gründe. Vom Begriff der „Heime“ sind auch Einrichtungen erfasst, in denen Kinder und Jugendliche nach Inobhutnahme durch das Jugendamt in einem akuten Kinderschutzfall beziehungsweise bis zur Klärung der Gefährdungslage untergebracht werden. Ebenso sind Einrichtungen der Heimerziehung und anderer stationärer Erziehungshilfen umfasst, die Kinder und Jugendliche aufnehmen, wenn eine dem Kindeswohl entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und auch nicht durch ambulante Hilfeleistungen sichergestellt werden kann. Nach der Intention des Gesetzgebers dürfen die angegriffenen Vorschriften nicht dazu führen, dass eine Inobhutnahme und nachfolgende Unterbringung sowie eine stationäre Erziehungshilfe aus Kinderschutzgesichtspunkten unterbleiben, weil kein hinreichender Impfschutz des betreffenden Kindes oder Jugendlichen besteht beziehungsweise nachgewiesen werden kann (vgl. BTDrucks 19/13452, S. 27). Daher soll für in Heimen betreute Personen eine vierwöchige Übergangszeit gelten, nach der diese Personen erst einen ausreichenden Impfschutz gegen Masern oder eine Immunität gegen Masern aufweisen müssen. Auch die Unterbringung von Asylbewerbern, Flüchtlingen, vollziehbar Ausreisepflichtigen und Spätaussiedlern in Einrichtungen nach § 36 Abs. 1 Nr. 4 IfSG soll nach den Vorstellungen des Gesetzgebers nicht von einem Masernimpfschutz abhängig gemacht werden, weshalb diese Personen einen ausreichenden Impfschutz gegen Masern oder eine Immunität gegen Masern erst nach einer Übergangszeit von vier Wochen aufweisen müssen (vgl. BTDrucks 19/13452, S. 27). 167 Damit liegen je unterschiedliche Lebensverhältnisse und -situationen der Betreuung oder des Aufenthalts in den verschiedenen Gemeinschaftseinrichtungen vor. Der Gesetzgeber behandelt hier nicht etwa Gleiches in rechtlich ungleicher Weise, sondern trifft für verschiedene Sachverhalte unterschiedliche, auf die jeweilige Konstellation abgestimmte Regelungen. 168 bb) Entsprechendes gilt auch für die Festlegung unterschiedlicher Stichtagsregelungen. Personen, die bereits vor Inkrafttreten der angegriffenen Vorschriften in einer Gemeinschaftseinrichtung betreut wurden, müssen den Nachweis ausreichenden Impfschutzes nach § 20 Abs. 10 Satz 1 IfSG nunmehr erst bis zum Ablauf des 31. Juli 2022 vorlegen, während Personen, deren Betreuung nach Inkrafttreten beginnen soll, den Nachweis schon vorher, mit Beginn der Betreuung erbringen müssen. Dass die angegriffenen Vorschriften für alle Personen, die erst nach Inkrafttreten in einer Gemeinschaftseinrichtung betreut werden sollen, sofort Geltung beanspruchen, stößt auf keine Bedenken. Soweit Personen sich zum Zeitpunkt des Inkrafttretens bereits in einem Betreuungsverhältnis befanden, gibt es hingegen eine Übergangsvorschrift. Die differenzierende Regelung ist durch Sachgründe gerechtfertigt. 169 Die Vorschriften greifen in laufende Betreuungsverhältnisse ein, die als Reaktion auf die neuen Regelungen angepasst oder beendet werden müssen. So dürften Eltern im Wissen um eine geregelte Betreuung in großem Umfang von ihrem Recht, ihr familiäres Leben nach ihren Vorstellungen zu planen und zu verwirklichen – beispielsweise durch Berufstätigkeit – Gebrauch gemacht haben (vgl. BVerfGE 99, 216 <231>; 130, 240 <251>). Durch die angegriffenen Regelungen müssen nicht zur Impfung ihrer Kinder bereite Eltern entsprechend umplanen, wofür (bspw. aufgrund bestehender Arbeitsverträge) eine gewisse Übergangszeit erforderlich ist. Die ursprüngliche Festlegung des Stichtags auf den 31. Juli 2021 und damit auf einen (der ganz wenigen) Tage im Jahr 2021, an welchem in jedem Bundesland Sommerferien sind, demnach alle Schuljahre unterbrochen sind, liegt sehr nahe. Dass der Gesetzgeber nicht bereits diesen Tag im Jahr 2020 gewählt hat, lässt sich – angesichts einer dann nur viermonatigen Übergangszeit – ebenfalls nachvollziehen. Auch für die Verlängerung der Übergangsfrist bis zum Ablauf des 31. Dezember 2021 hat der Gesetzgeber nachvollziehbare Sachgründe benannt. Sowohl die Gesundheitsämter als auch Kindertageseinrichtungen, Kinderhorte und Schulen hatten und haben infolge der COVID-19-Pandemie einen teils deutlich erhöhten Organisationsaufwand. Auch die Kontrolle des Vorliegens eines Nachweises der Masernschutzimpfung beziehungsweise die Maßnahmen, die beim Fehlen eines solchen Nachweises zu erwägen sind, verursachen dort Arbeit, weshalb die Verlängerung der Frist zu einer besseren Verteilung der Belastung führen dürfte. D. 170 Die Entscheidung ist hinsichtlich der Frage, ob § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist, mit 6 : 1 Stimmen ergangen. E. 171 Gemäß § 4 Abs. 4, § 15 Abs. 3 Satz 1 BVerfGG hat der Erste Senat in der Besetzung von sieben Richterinnen und Richtern entschieden. Harbarth Baer Britz Ott Christ Radtke Härtel
bundesverfassungsgericht
58-2020
9. Juli 2020
Zulässigkeit einer Berichterstattung über lange zurückliegende Fehltritte öffentlich bekannter Personen Pressemitteilung Nr. 58/2020 vom 9. Juli 2020 Beschluss vom 23. Juni 20201 BvR 1240/14 Die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat mit heute veröffentlichtem Beschluss einer Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung der Meinungs- und Pressefreiheit stattgegeben. Sie richtet sich gegen ein zivilgerichtliches Verbot, in einem Porträtbeitrag über einen öffentlich bekannten Unternehmer dessen mehrere Jahrzehnte zurückliegenden Täuschungsversuch im juristischen Staatsexamen zu thematisieren. Die Kammer greift damit die Maßgaben der Senatsentscheidungen zum „Recht auf Vergessen“ auf und konkretisiert sie für die Konstellation aktueller Berichterstattung über vergangene Ereignisse. Dabei hat sie bekräftigt, dass eine wahrhafte Berichterstattung über Umstände des sozialen und beruflichen Lebens im Ausgangspunkt hinzunehmen ist. Zudem hat sie klargestellt, dass die Gewährleistung einer „Chance auf Vergessenwerden“ durch das Grundgesetz nicht dazu führt, dass die Möglichkeit der Presse, in ihren Berichten Umstände zu erwähnen, die den davon Betroffenen unliebsam sind, schematisch durch bloßen Zeitablauf erlischt. Vielmehr kommt es darauf an, ob für den Bericht als Ganzen ein hinreichendes Berichterstattungsinteresse besteht und ob es für die Einbeziehung des das Ansehen negativ berührenden Umstands objektivierbare Anknüpfungspunkte gibt. Solange das der Fall ist, ist es Aufgabe der Presse, selbst zu beurteilen, welche Umstände und Einzelheiten sie im Zusammenhang eines Berichts für erheblich hält und der Öffentlichkeit mitteilen will. Dies gilt auch unter den Verbreitungsbedingungen des Internets. Sachverhalt: Mitte 2011 veröffentlichte die Beschwerdeführerin, die Verlegerin eines Wirtschaftsmagazins, einen Porträtbeitrag über den Betroffenen und das seinen Namen tragende und damals von ihm geleitete börsennotierte Unternehmen. Zur Sprache kommen unter anderem seine Stellung als Vorstandsvorsitzender, die Stellung seiner Ehefrau als Aufsichtsratsmitglied, die geschäftlichen Aktivitäten, die wirtschaftliche Entwicklung und jüngere Liquiditätsschwierigkeiten des Unternehmens und verschiedene rechtliche Probleme des Betroffenen und des Unternehmens. Einleitend heißt es, der Betroffene habe „zwei große Leidenschaften: die Fliegerei und die Juristerei“. Einen Pilotenschein besitze er, weniger gut sei es um seinen rechtswissenschaftlichen Abschluss bestellt. Vom Staatsexamen sei er wegen Täuschungsversuchs ausgeschlossen worden. Anschließend schildert der Artikel, der Betroffene habe immer wieder rechtliche Schwierigkeiten. So sei er jüngst in einem Strafprozess wegen Bestechung einer Krankenkassengutachterin zu einem Jahr Haft auf Bewährung verurteilt worden. Die Entscheidung über seine Revision in einem weiteren Strafverfahren wegen versuchter Anstiftung zur Falschaussage und Nötigung stehe noch aus. Das Ende des Artikels kommt auf die strafgerichtlichen Verurteilungen zurück und wirft die Frage auf, ob dem Kläger des Ausgangsverfahrens nun möglicherweise wegen Unzuverlässigkeit ein Entzug seines Pilotenscheins drohe. Auf Klage des Betroffenen untersagten die Zivilgerichte die Erwähnung des Täuschungsversuchs in dem Bericht. Zwar müsse man die Mitteilung wahrer Tatsachen aus der Sozialsphäre in weitem Umfang hinnehmen. Der Betroffene werde jedoch durch die Mitteilung als ein Mensch dargestellt, dem unredliche Methoden nicht wesensfremd seien. Ein konkreter Anlass für das neuerliche Aufgreifen des Täuschungsversuchs habe nicht bestanden. Der Betroffene dürfte wegen dieses längst vergangenen Fehlverhaltens nicht dauerhaft an den Pranger gestellt werden. Auch werde die Berichterstattung durch das Verbot nur unwesentlich eingeschränkt, da die Beschwerdeführerin weiter über die angebliche Prozessfreude und das nicht abgeschlossene Jurastudium berichten könne, nur nicht über die konkreten Umstände seiner erfolglosen Beendigung. Wesentliche Erwägungen der Kammer: 1. Die Kammer hat für die gebotene Abwägung zwischen dem Berichterstattungsinteresse der Presse und den Persönlichkeitsinteressen Betroffener zentrale Gesichtspunkte aufgegriffen, die im Fall eines Wiederaufgreifens lange zurückliegender Ereignisse zu beachten sind. Danach gilt im Ausgangspunkt, dass die Mitteilung wahrer Tatsachen mit Sozialbezug hinzunehmen ist. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht vermittelt kein Recht, in der Öffentlichkeit so dargestellt zu werden, wie es dem eigenen Selbstbild und der beabsichtigten Wirkung entspricht. Betroffene können sich nicht aus der Gesamtheit ihres vergangenen sozialbezogenen Verhaltens und der darin zum Ausdruck kommenden Persönlichkeit die Aspekte herausgreifen, von denen sie sich eine positive Außenwirkung versprechen und alles andere einseitig dem Blick der Öffentlichkeit entziehen. Anderes gilt für die Mitteilung von Tatsachen und Handlungen, die dem Kern der Privatsphäre zuzurechnen sind und deshalb im Grundsatz einer öffentlichen Erörterung entzogen sind. Hierzu gehören etwa Details privater Beziehungen und persönliche Ausdrucksformen der Sexualität. Eine unzumutbare Beeinträchtigung der freien Persönlichkeitsentfaltung auch durch eine wahre Tatsachenberichterstattung kann darüber hinaus - insbesondere angesichts der großen Breitenwirkung personenbezogener Informationen über das Internet - unter besonderen Umständen auch aus einer unzumutbar anprangernden Wirkung erwachsen. Diese kann sich z.B. aus der außergewöhnlichen Art, Weise und Hartnäckigkeit einer Berichterstattung ergeben oder daraus, dass eine einzelne Person aus einer Vielzahl vergleichbarer Fälle herausgegriffen und zum „Gesicht“ einer personalisierten und individualisierenden Anklage für ein damit verfolgtes Sachanliegen gemacht wird. Einzelne müssen nicht unbegrenzt hinnehmen, ohne, dass sie dafür Anlass gegeben haben, in aller Öffentlichkeit mit ihrem gesamten, teils lange zurückliegenden Verhalten förmlich zermürbt zu werden. Für ein Überwiegen des Interesses an einem Schutz der Persönlichkeit genügt es hingegen nicht, dass der mitgeteilte Umstand dazu geeignet ist, das soziale Ansehen oder den Respekt, den die betreffende Person genießt, zu mindern. Jenseits dieser besonderen Fälle ist im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen, dass das öffentliche Berichterstattungsinteresse durch Zeitablauf weniger akut werden kann. Das gilt besonders für die Berichterstattung über lange zurückliegende Straftaten, bei der zusätzlich das Resozialisierungsinteresse in Rechnung zu stellen ist. Dieses Abflauen des Berichterstattungsinteresses in der Zeit lässt sich jedoch nicht aus dem zeitlichen Abstand des zu berichtenden Ereignisses als solchem ableiten. Es ist vielmehr bei einer neuerlichen Berichterstattung anhand ihres jeweiligen Anlasses zu bemessen. Dieser kann neu entstehen und einem Vorgang neue Aktualität geben. Andernfalls könnte man über Fehltritte, Ansichten oder Äußerungen von öffentlich bekannten Personen, die diese als Heranwachsende oder in früheren Lebensphasen charakterisieren, regelmäßig nicht berichten. Denn oft werden seit dem betreffenden Ereignis mehrere Jahrzehnte vergangen sein, wenn diese erstmals in die Öffentlichkeit treten. Für die Frage, wie sich der Faktor Zeit auf das Berichterstattungsinteresse auswirkt, ist auch das Verhalten der betroffenen Person von Bedeutung. Eine aktiv in die Öffentlichkeit tretende und dort kontinuierlich präsente Person kann nicht in derselben Weise verlangen, dass ihr vergangenes Verhalten nicht mehr Gegenstand öffentlicher Erörterung wird, wie eine Privatperson, deren zwischenzeitliches Verhalten von einem „Vergessenwerdenwollen“ getragen war. Ebenfalls erheblich für die von den Fachgerichten vorzunehmende Abwägung können Gegenstand und Herkunft der mitgeteilten Information sein. War eine Information ohne Weiteres zugänglich, darf sie eher öffentlich berichtet werden, als wenn sie über aufwändige Recherchen oder gar rechtswidrige Handlungen erlangt wurde. Relevant ist auch, ob der mitgeteilte Umstand eher dem privaten Bereich zugeordnet ist oder ein Verhalten betrifft, das einen stärkeren Sozialbezug aufweist. Für die Schwere der Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts aussagekräftig ist schließlich die Breitenwirkung der beanstandeten Berichterstattung, also etwa der Adressatenkreis der Publikation, die Auflagenzahl und die Verfügbarkeit im Internet. Bei Würdigung des Interesses an einer freien Presseberichterstattung ist in Rechnung zu stellen, dass die öffentliche Vermittlung wahrer Tatsachen von allgemeinem Interesse zu den elementaren Aufgaben der Presse gehört. Die Herstellung eines Tatsachenfundaments, von dem die Allgemeinheit ausgehen kann, ist elementare Voraussetzung demokratischen aber auch privaten Entscheidens – sowohl bei einer politischen Wahl als auch bei wirtschaftlichen Entscheidungen. Dabei ist es Ausgangspunkt und Voraussetzung einer freien Presse, selbst zu entscheiden, was berichtet wird und wie Umstände miteinander verknüpft, bewertet und zu einer Aussage verwoben werden. 2. Diesen verfassungsrechtlichen Maßgaben genügen die angegriffenen Entscheidungen nicht. Sie verkennen, dass die grundsätzliche Berechtigung der Presse zur Mitteilung wahrer, nicht allgemein der öffentlichen Erörterung entzogener Umstände über in der Öffentlichkeit stehende Personen nicht schematisch durch Zeitablauf erlischt. Besondere Gründe des Falls jenseits des Zeitfaktors, die eine Unzulässigkeit der Mitteilung begründen könnten, werden weder aus den Feststellungen noch aus der von den Gerichten getroffenen Abwägung ersichtlich. Insbesondere ist der Täuschungsversuch im juristischen Staatsexamen im Zusammenhang mit der Berichterstattung kein Makel, der geeignet wäre, das Gesamtbild einer Person zu dominieren und ein selbstbestimmtes Privatleben des Betroffenen ernstlich zu gefährden. Die Gefahr einer sozialen Ausgrenzung geht von der Mitteilung nicht aus. Dass es sich bei der Einbeziehung des Täuschungsversuchs in den Artikel um eine nach ihrer Form und Hartnäckigkeit unzumutbar anprangernde Art der Berichterstattung handelt, ist ebenfalls nicht erkennbar. Stattdessen war in die Abwägung maßgeblich einzustellen, dass der Betroffene stets öffentlich tätig war und die Öffentlichkeit suchte. Eine Person, die aus eigenem Zutun derart dauerhaft in der Öffentlichkeit steht, kann nicht verlangen, dass ihre in der Vergangenheit liegenden Fehler, nicht aber ihre Vorzüge, in Vergessenheit geraten. Gegenstand des „Rechts auf Vergessen“ sind nicht einzelne Handlungen, deren Interesse, erinnert zu werden, absolut und schematisch mit Zeitablauf erlischt. Vielmehr kommt es stets auf den jeweiligen Bericht und das daran bestehende Informationsinteresse an. Dieses ist im Ausgangspunkt von den Presseorganen selbst zu beurteilen. Rechtlich erforderlich ist allein, dass die Einbeziehung eines Umstands in den jeweiligen Bericht nicht objektiv ohne jeden Anknüpfungspunkt ist. Dem genügen die angegriffenen Entscheidungen nicht.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT - 1 BvR 1240/14 - IM NAMEN DES VOLKES In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde der M… mbH, vertreten durch die Geschäftsführung, - Bevollmächtigte: … - gegen a) den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 25. März 2014 - VI ZR 480/12 -, b) das Urteil des Hanseatischen Oberlandesgerichts vom 30. Oktober 2012 - 7 U 34/12 -, c) das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 23. März 2012 - 324 O 552/11 - hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Richter Masing, Paulus, Christ am 23. Juni 2020 einstimmig beschlossen: Die Urteile des Landgerichts Hamburg vom 23. März 2012 - 324 O 552/11 - und des Hanseatischen Oberlandesgerichts vom 30. Oktober 2012 - 7 U 34/12 - verletzen die Beschwerdeführerin in ihrer Presse- und Meinungsfreiheit aus Artikel 5 Absatz 1 des Grundgesetzes. Die Entscheidungen werden aufgehoben. Damit wird der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 25. März 2014 - VI ZR 480/12 - gegenstandslos. Die Sache wird an das Landgericht Hamburg zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen. Die Freie und Hansestadt Hamburg hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 25.000 € (in Worten: fünfundzwanzigtausend Euro) festgesetzt. G r ü n d e : I. 1 Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die zivilgerichtliche Untersagung der Erwähnung einer lange zurückliegenden Verfehlung eines öffentlich bekannten Unternehmers in einem Pressebericht. 2 1. Die Beschwerdeführerin und Beklagte des Ausgangsverfahrens verlegt eine monatlich erscheinende Zeitschrift, die sich mit Wirtschaftsthemen in Deutschland befasst. Der Kläger des Ausgangsverfahrens (im Weiteren: der Betroffene) ist Gründer und war zum Zeitpunkt der untersagten Berichterstattung und der angegriffenen Entscheidungen Mehrheitsaktionär und Vorstandsvorsitzender der bundesweit agierenden M.-Kliniken AG. Wegen eines Täuschungsversuchs im Dezember 1983 wurde der Betroffene vom Staatsexamen ausgeschlossen. Er besitzt keinen juristischen Studienabschluss. Im Jahr 2002 kandidierte er als Spitzenkandidat der Schill-Partei bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt. Im Zuge dieses Wahlkampfs berichteten verschiedene Medien über den Täuschungsversuch und den Umstand, dass er kein juristisches Staatsexamen besitzt. Auf der Internetseite des von ihm geführten Unternehmens gab er bis ins Jahr 2011 an, unter anderem Rechtswissenschaften studiert zu haben. 3 Im August 2011 berichtete die Beschwerdeführerin unter dem Titel „Der Rechtspfleger“ in einem sechsseitigen Beitrag über den Betroffenen und das von ihm geleitete Unternehmen. Zur Sprache kommen unter anderem seine Stellung als Vorstandsvorsitzender, die Stellung seiner Ehefrau als Aufsichtsratsmitglied des Unternehmens, deren Beraterverträge über ein Volumen von mehreren hunderttausend Euro, die geschäftlichen Aktivitäten, die wirtschaftliche Entwicklung und den verfallenden Börsenkurs des Unternehmens sowie jüngere Liquiditätsschwierigkeiten, häufige Personalwechsel in der Hauptverwaltung und verschiedene rechtliche Probleme des Betroffenen und des Unternehmens. Einleitend heißt es: „M. (55) hat zwei große Leidenschaften: die Fliegerei und die Juristerei. Einen Pilotenschein besitzt er. Weniger gut ist es um seinen rechtswissenschaftlichen Abschluss bestellt. Vom Staatsexamen wurde er wegen Täuschungsversuchs ausgeschlossen.“ Anschließend schildert der Artikel einen angeblich weiterhin bestehenden Hang des Betroffenen zur Führung von Prozessen, in denen er sich stets im Recht sehe, aber oft verliere. Zudem habe er auch sonst immer wieder rechtliche Schwierigkeiten. So sei er jüngst in einem Strafprozess in Sachsen-Anhalt wegen Bestechung einer Krankenkassengutachterin zu einem Jahr Haft auf Bewährung verurteilt worden. Die Entscheidung über seine Revision in einem weiteren Strafverfahren wegen versuchter Anstiftung zur uneidlichen Falschaussage und Nötigung stehe noch aus. Nach einer Überleitung dahingehend, dass solche Rechtshändel ihn persönlich und das Unternehmen viel Geld kosteten, das anderweitig benötigt werde, geht der Artikel zu den oben genannten Themen über, die den Großteil des Artikels ausmachen. Das Ende des Artikels kommt auf die in der Revision bestätigte strafgerichtliche Verurteilung zurück und wirft die Frage auf, ob dem Betroffenen nun möglicherweise wegen Unzuverlässigkeit ein Entzug seines Pilotenscheins drohe. 4 2. Wegen dieser Berichterstattung verurteilte das Landgericht die Beschwerdeführerin, es zu unterlassen, über den täuschungsbedingten Ausschluss vom Staatsexamen zu berichten. Die Mitteilung sei geeignet, sich abträglich auf das Ansehen des Betroffenen auszuwirken. Zwar müsse die Mitteilung wahrer Tatsachen aus der Sozialsphäre in weitem Umfang hingenommen werden. Allerdings sei bereits zweifelhaft, ob der Umstand weiterhin der Sozialsphäre zuzurechnen sei. Denn das Wissen über solche Umstände schwinde mit der Zeit, sodass es mehr und mehr zu einem Geheimnis des Betroffenen werde. Unabhängig von dieser Frage überwiege jedenfalls das Interesse am Persönlichkeitsschutz. Zwar wiege der mitgeteilte Sachverhalt nicht so schwer wie die Begehung einer Straftat. Dennoch werde der Betroffene dadurch als ein Mensch dargestellt, dem unredliche Methoden nicht wesensfremd seien. Damit werde er zumindest partiell ausgegrenzt, da insinuiert werde, dass er jemand sei, der keine Prozesse führen sollte. Dem stehe kein ausreichend gewichtiges Berichterstattungsinteresse gegenüber. Zwar sei der Betroffene als Mehrheitsaktionär eines börsennotierten Unternehmens im Wirtschaftsleben öffentlich präsent, und es habe eine Reihe aktueller Anlässe bestanden, die ein gesteigertes Interesse an ihm begründet hätten. Ein objektiver Zusammenhang der thematisierten aktuellen Ereignisse mit dem circa dreißig Jahre zurückliegenden Täuschungsversuch sei jedoch nicht erkennbar. Die Annahme einer „Prozesswut“ des Betroffenen sei Spekulation. Im Artikel werde keine ausreichende gedankliche Verknüpfung zwischen dem Täuschungsversuch und dem heutigen Verhalten des Betroffenen hergestellt. 5 3. Die hiergegen gerichtete Berufung wies das Oberlandesgericht ohne Zulassung der Revision zurück. Zwar sei in Rechnung zu stellen, dass der Betroffene selbst durch den öffentlichen Verweis auf sein rechtswissenschaftliches Studium Interesse daran geweckt habe, ob er es erfolgreich abgeschlossen habe. Auch sei zu berücksichtigen, dass es sich bei dem Täuschungsversuch um einen Baustein der kritischen Gesamtbewertung der Tätigkeit des Betroffenen als Unternehmer handele. Der mitgeteilte Umstand stelle jedoch einen Makel dar, der mit erheblicher sittlicher Missbilligung belegt sei. Durch sein „Ausgraben“ im Kontext aktueller Berichterstattung werde der Betroffene erneut der Missbilligung und Häme ausgesetzt, ohne dass er sich – da das Geschehen zutreffe – hiergegen wehren könne. Ein konkreter Anlass für das neuerliche Aufgreifen habe nicht bestanden, zumal der Betroffene ein Fehlverhalten solcher Art nicht mehr an den Tag gelegt habe und das gesteigerte öffentliche Interesse wegen seiner politischen Betätigung bereits wieder zehn Jahre zurückliege. Eine Zulässigkeit der angegriffenen Berichterstattung liefe darauf hinaus, dass sich der Betroffene wegen eines einmaligen Fehlverhaltens dauerhaft an den Pranger gestellt und als Mensch porträtiert sehen müsste, der bereit sei, unredliche und betrügerische Mittel einzusetzen. Demgegenüber werde die Berichterstattung durch das Verbot nur unwesentlich eingeschränkt, da die Beschwerdeführerin weiter über die angebliche Prozessfreude und das nicht abgeschlossene Jurastudium berichten könne, nur nicht über die konkreten Umstände seiner erfolglosen Beendigung. Die Nichtzulassungsbeschwerde wies der Bundesgerichtshof mangels grundsätzlicher Bedeutung zurück. 6 4. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihrer Meinungs- und Pressefreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG. 7 5. Den Äußerungsberechtigten wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben, wovon der Betroffene Gebrauch gemacht hat. Er hält die Entscheidungen für zutreffend und beruft sich ergänzend auf die Senatsentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aus dem November 2019 zum „Recht auf Vergessen“. 8 6. Die Gerichtsakte des Ausgangsverfahrens hat der Kammer bei ihrer Entscheidung vorgelegen. II. 9 1. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte der Beschwerdeführerin angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG; vgl. BVerfGE 90, 22 <25>). Das Bundesverfassungsgericht hat die hier maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden. Dies gilt namentlich für die Maßstäbe einer zulässigen Mitteilung wahrer Begebenheiten, für die Umstände und Kriterien, unter denen trotz Wahrheit einer Mitteilung eine neuerliche Berichterstattung ausgeschlossen ist und für den Einfluss des Faktors Zeit auf die rechtliche Zulässigkeit einer Presseberichterstattung (vgl. BVerfGE 35, 202; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 6. November 2019 - 1 BvR 16/13 - Recht auf Vergessen I). 10 2. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und im Sinne des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG offensichtlich begründet. 11 Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführerin in ihren Grundrechten auf Presse- und Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG. 12 a) Das Grundrecht auf Pressefreiheit gewährleistet das Recht, ein Presseerzeugnis in inhaltlicher und formaler Hinsicht nach eigenen Vorstellungen zu gestalten (vgl. BVerfGE 95, 28 <35 f.>). Hinsichtlich des Inhalts der Berichterstattung ergeben sich Umfang und Grenzen des grundrechtlichen Schutzes aus dem Grundrecht der Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG (vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 6. November 2019 - 1 BvR 16/13 -, Rn. 94). Allerdings gehört es gerade zu den Aufgaben der Presse, die Öffentlichkeit über Angelegenheiten von öffentlichem Interesse zu informieren (vgl. BVerfGE 7, 198 <208>; 12, 113 <125>), was eine Verstärkung des durch Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleisteten Schutzes begründen kann (vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 6. November 2019 - 1 BvR 16/13 -, Rn. 94, 111). 13 Indem die angegriffenen Entscheidungen der Beschwerdeführerin eine bestimmte, von ihr berichtete wahrhafte Tatsachenmitteilung für die Zukunft untersagen, beschränken sie deren Presse- und Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG. 14 b) Die Grundrechte der Presse- und Meinungsfreiheit gelten allerdings nicht vorbehaltlos. Nach Art. 5 Abs. 2 GG finden sie ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze. Dazu gehören auch das zivilrechtliche allgemeine Persönlichkeitsrecht und zu seinem Schutz bestehende Unterlassungsansprüche analog § 1004, § 823 Abs. 1 BGB, auf denen die angegriffenen Entscheidungen beruhen. 15 aa) Die Anwendung des zivilrechtlichen Äußerungsrechts auf den Einzelfall ist Sache der Zivilgerichte und grundsätzlich einer Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen. Nur bei der Verletzung spezifischen Verfassungsrechts kann das Bundesverfassungsgericht auf Verfassungsbeschwerden hin eingreifen (vgl. BVerfGE 18, 85 <92>). Handelt es sich um Gesetze, die die Presse- oder Meinungsfreiheit beschränken, ist allerdings bei der fachgerichtlichen Rechtsanwendung das eingeschränkte Grundrecht zu beachten, damit dessen wertsetzende Bedeutung auch auf Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt (vgl. BVerfGE 7, 198 <208 f.>; 82, 43 <50>; 82, 272 <280>; 93, 266 <292>; 94, 1 <8>; stRspr). Die verfassungsgerichtliche Überprüfung erstreckt sich dabei nicht nur auf die Frage, ob die angegriffenen Entscheidungen auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs beruhen. Darüber hinaus prüft das Bundesverfassungsgericht, ob die Entscheidungen bei Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts die besonderen Anforderungen an eine Beschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit gewahrt haben (vgl. BVerfGE 43, 130 <136>; 82, 43 <50>; 82, 272 <280 f.>; 93, 266 <292 ff.>). Das Ergebnis der von den Fachgerichten im Rahmen des einfachen Rechts geforderten abwägenden Berücksichtigung der gegenläufigen grundrechtlich geschützten Interessen ist verfassungsrechtlich nicht allgemein vorgegeben, sondern hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. In der Rechtsprechung ist allerdings eine Reihe von Gesichtspunkten entwickelt worden, die Kriterien für die konkrete Abwägung vorgeben. Dabei geht es vorliegend um die Frage des Wiederaufgreifens von vergangenen Ereignissen durch eine aktuelle Presseberichterstattung, nicht um das langfristige öffentliche Vorhalten von personenbezogenen Informationen und Berichten, etwa in Online-Archiven, und deren spätere Auffindbarkeit mittels namensbezogener Suchanfragen (vgl. dazu BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 6. November 2019 - 1 BvR 16/13 -, Rn. 98 ff.). Die hierbei an die Abwägung zu stellenden Anforderungen sind jeweils verschieden. 16 (1) Zu den in Konstellationen einer neuerlichen Berichterstattung zu berücksichtigenden Gesichtspunkten gehört als Ausgangspunkt, dass die Mitteilung wahrer Tatsachen mit Sozialbezug grundsätzlich hinzunehmen ist (vgl. BVerfGE 97, 391 <403>; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 6. November 2019 - 1 BvR 16/13 -, Rn. 82). Das allgemeine Persönlichkeitsrecht vermittelt kein Recht, in der Öffentlichkeit so dargestellt zu werden, wie es dem eigenen Selbstbild und der beabsichtigten öffentlichen Wirkung entspricht (vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 6. November 2019 - 1 BvR 16/13 -, Rn. 82, 107; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 25. Februar 2020 - 1 BvR 1282/17 -, Rn. 9, 17). Aus diesem Grund ist etwa auch eine individualisierende Berichterstattung über Straftaten – jedenfalls ab dem Zeitpunkt einer rechtskräftigen Verurteilung – grundsätzlich zulässig (vgl. BVerfGE 35, 202 <231 ff.>; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 6. November 2019 - 1 BvR 16/13 -, Rn. 98). Betroffene können sich nicht von Rechts wegen aus der Gesamtheit ihres vergangenen sozialbezogenen Verhaltens und der darin zum Ausdruck kommenden Persönlichkeit diejenigen Aspekte herausgreifen, von denen sie sich eine positive Außenwirkung versprechen und alles andere einseitig dem Blick der Öffentlichkeit entziehen (vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 6. November 2019 - 1 BvR 16/13 -, Rn. 107). 17 (2) Etwas anderes gilt allerdings für die Mitteilung solcher Tatsachen und Handlungen, die dem Kern der Privatsphäre zuzurechnen sind und deshalb im Grundsatz einer öffentlichen Erörterung entzogen sind. Hierzu gehören etwa Details privater Beziehungen und persönliche Ausdrucksformen der Sexualität (vgl. BVerfGE 97, 391 <403 f.>; 119, 1 <34 f.>). Für ein regelmäßiges Überwiegen des Interesses an einem Schutz der Persönlichkeit genügt es hingegen nicht, dass der mitgeteilte Umstand dazu geeignet ist, das Ansehen oder den Respekt, den die betreffende Person genießt, zu mindern, ohne dass dies unzumutbare Folgen für deren selbstbestimmte Lebensgestaltung hat. Allein, dass ein mitgeteilter Umstand nicht dem Bild entspricht, das man öffentlich vermitteln will und bisher vermittelt hat, beeinträchtigt die freie Persönlichkeitsentfaltung nicht (vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 6. November 2019 - 1 BvR 16/13 -, Rn. 82, 107). 18 Eine solche Beeinträchtigung der freien Persönlichkeitsentfaltung auch durch eine wahre Tatsachenberichterstattung kann – insbesondere angesichts der allgemeinen Verfügbarkeit und großen Breitenwirkung personenbezogener Informationen über das Internet – unter besonderen Umständen auch aus einer unzumutbar anprangernden Wirkung einer zutreffenden Meldung erwachsen. Dies kann sich zum Beispiel aus der außergewöhnlichen Art und Weise und der Hartnäckigkeit einer Berichterstattung ergeben oder daraus, dass eine einzelne Person aus einer Vielzahl vergleichbarer Fälle herausgegriffen und zum „Gesicht“ einer personalisierten und individualisierenden Anklage für ein damit verfolgtes Sachanliegen gemacht wird (vgl. für einen solchen Fall BVerfGK 8, 107 <116>). Einzelne müssen nicht hinnehmen, ohne dass sie dafür Anlass gegeben haben, in aller Öffentlichkeit mit ihrem gesamten, teils lange zurückliegenden Verhalten konfrontiert und förmlich zermürbt zu werden. Öffentlichkeitskampagnen solcher Art können eine persönlichkeits- und freiheitsbeeinträchtigende Dimension gewinnen, die man – jedenfalls in Bezug auf lange zurückliegende Umstände – nicht hinnehmen muss. 19 (3) Jenseits dieser besonderen Fälle ist im Rahmen der Abwägung auch allgemein zu berücksichtigen, dass das öffentliche Berichterstattungsinteresse durch Zeitablauf weniger akut werden kann (vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 6. November 2019 - 1 BvR 16/13 -, Rn. 98 ff.). Das gilt insbesondere für die Berichterstattung über zurückliegende Straftaten. Während über sie im zeitlichen Zusammenhang der Tat – jedenfalls nach Rechtskraft – grundsätzlich auch individualisierend berichtet werden darf, muss eine spätere Berichterstattung auch dem Resozialisierungsinteresse der Betroffenen und ihrem aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht folgenden Anspruch, möglichst unbeeinträchtigt wieder ein normales Privatleben führen zu können, Rechnung tragen. Entsprechend kann zum Schutz der Privatsphäre auch sonst das Berichterstattungsinteresse hinter dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht zurücktreten und die Verbreitung lange zurückliegender, die Entfaltung der Persönlichkeit erheblich beeinträchtigender Ereignisse unzulässig machen. Dieses Abflauen des Berichterstattungsinteresses in der Zeit lässt sich jedoch nicht aus dem zeitlichen Abstand des zu berichtenden Ereignisses als solchem ableiten, sondern ist bei einer neuerlichen Berichterstattung anhand des Anlasses der jeweiligen Berichterstattung zu bemessen, der neu entstehen und aktualisiert werden kann (vgl. zum Gesichtspunkt der Reaktualisierung BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 6. November 2019 - 1 BvR 16/13 -, Rn. 122 f.). Andernfalls könnte man etwa über Fehltritte, Ansichten oder Äußerungen von Politikern und anderen öffentlich bekannten Personen, die diese als Heranwachsende oder in früheren Lebensphasen charakterisieren, regelmäßig nicht berichten, da oftmals seit dem betreffenden Ereignis mehrere Jahrzehnte vergangen sein werden, wenn diese erstmals in die Öffentlichkeit treten. Ein ganzes journalistisches Genre – nämlich Persönlichkeitsportraits oder Biographien in der Öffentlichkeit präsenter Personen – würde dadurch unzulässig oder zu einem Ort einseitig von den Betroffenen gesteuerter Selbstdarstellung, welche durch das Persönlichkeitsrecht gerade nicht gewährleistet ist (vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 6. November 2019 - 1 BvR 16/13 -, Rn. 107). 20 Für die Frage, wie sich der Faktor Zeit auf das fortdauernde Bestehen eines Berichterstattungsinteresses auswirkt, ist außerdem das Verhalten der betroffenen Person von maßgeblicher Bedeutung. Eine aktiv in die Öffentlichkeit tretende und dort kontinuierlich präsente Person kann nicht in derselben Weise verlangen, dass ihr vergangenes Verhalten nicht mehr Gegenstand öffentlicher Erörterung wird, wie eine Privatperson, deren zwischenzeitliches Verhalten von einem „Vergessenwerdenwollen“ getragen war (vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 6. November 2019 - 1 BvR 16/13 -, Rn. 123). 21 (4) Ebenfalls erheblich für die von den Fachgerichten vorzunehmende Abwägung können – auch jenseits des engen Kreises grundsätzlich der öffentlichen Erörterung entzogener Gegenstände – Gegenstand und Herkunft der mitgeteilten Information sein. War eine Information ohne Weiteres zugänglich, darf sie eher öffentlich berichtet werden, als wenn sie über aufwendige Recherchen oder sogar rechtswidrige Handlungen erlangt wurde. Ebenso erheblich kann es sein, ob der mitgeteilte Umstand eher dem privaten Bereich zugeordnet ist oder ein Verhalten betrifft, das einen stärkeren Sozialbezug aufweist (vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 6. November 2019 - 1 BvR 276/17 - Recht auf Vergessen II, Rn. 128). 22 Für die Schwere der Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts erheblich ist schließlich die Breiten- und Öffentlichkeitswirkung der beanstandeten Berichterstattung, also etwa der Adressatenkreis der betreffenden Publikation, die Auflagenzahl und die Verfügbarkeit im Internet (vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 6. November 2019 - 1 BvR 16/13 -, Rn. 114). 23 (5) Bei Würdigung des den Persönlichkeitsinteressen gegenüberstehenden Interesses an einer freien Presseberichterstattung ist in Rechnung zu stellen, dass die öffentliche Vermittlung und Kommunikation wahrer Tatsachen von allgemeinem Interesse zu den elementaren Aufgaben einer freien Presse gehört (vgl. BVerfGE 20, 162 <174 f.>; 35, 202 <230 f.>; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 6. November 2019 - 1 BvR 16/13 -, Rn. 111). Die Herstellung eines gemeinsamen Tatsachenfundaments, von dem die Allgemeinheit ausgehen kann, ist elementare Voraussetzung demokratischen aber auch privaten Entscheidens – sowohl bei einer politischen Wahl als auch bei wirtschaftlichen Entscheidungen wie die, für die die Beschwerdeführerin Information bereitzustellen sucht. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es Ausgangspunkt und unaufhebbare Voraussetzung einer freien Presse ist, selbst zu entscheiden, was berichtenswert ist und wie berichtete Umstände miteinander verknüpft, bewertet und zu einer Aussage verwoben werden (vgl. BVerfGE 101, 361 <389>; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 6. November 2019 - 1 BvR 16/13 -, Rn. 112 m.w.N.). 24 bb) Diesen verfassungsrechtlichen Maßgaben genügen die angegriffenen Entscheidungen nicht. Sie verkennen, dass die im Ausgangspunkt bestehende Berechtigung der Presse zur Mitteilung wahrer, nicht grundsätzlich der öffentlichen Erörterung entzogener Umstände über in der Öffentlichkeit stehende Personen nicht in schematischer Weise durch bloßen Zeitablauf erlischt. Besondere Gründe des Falles jenseits des Zeitablaufs, die eine Unzulässigkeit der beanstandeten Mitteilung begründen könnten, werden weder aus den Feststellungen noch aus der von den Gerichten getroffenen Abwägung ersichtlich. Die Entscheidungen verkennen damit Bedeutung und Tragweite der Meinungs- und Pressefreiheit und verlassen den fachgerichtlichen Wertungsrahmen. 25 (1) Im Ausgangspunkt zutreffend gehen die angegriffenen Entscheidungen davon aus, dass die Anerkennung des geltend gemachten Unterlassungsanspruchs durch eine konkrete Abwägung der widerstreitenden grundrechtlichen Interessen im Einzelfall zu bestimmen ist. Ebenfalls erkennen sie an, dass dem Betroffenen keine gravierende Straftat vorgehalten wird, dass der Gesichtspunkt der Resozialisierung daher nicht berührt ist, dass der Betroffene durch Erwähnung seines Jurastudiums in seinem öffentlichen Lebenslauf ein Interesse daran geweckt hatte, ob er diese Ausbildung abgeschlossen hat, und dass es sich bei dem mitgeteilten Umstand um einen „Baustein“ im Gesamtporträt der Persönlichkeit des Betroffenen handelte. 26 (2) Die Gesichtspunkte, die die Gerichte in Anbetracht dieser erheblichen für die Zulässigkeit der Berichterstattung sprechenden konkreten Umstände des Falles anführen, um ein Überwiegen des Interesses am Persönlichkeitsschutz zu begründen, sind verfassungsrechtlich nicht tragfähig. 27 (a) Dass es sich bei dem mitgeteilten wahren Umstand – dem Täuschungsversuch im juristischen Staatsexamen – um einen solchen handelt, der mit gesellschaftlicher Missbilligung verbunden ist, ist unstrittig. Es geht jedoch im Zusammenhang mit der Berichterstattung nicht um einen Makel, der geeignet ist – wie etwa die Verurteilung wegen eines schweren Verbrechens (vgl. dazu BVerfGE 35, 202 <233 ff.>; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 6. November 2019 - 1 BvR 16/13 -, Rn. 146 ff.) – das Gesamtbild einer Person zu dominieren und ein selbstbestimmtes Privatleben des Betroffenen zu gefährden oder zu beeinträchtigen. Die Gefahr einer sozialen Ausgrenzung, die den Betroffenen als Privatperson daran hinderte, ein normales Leben zu führen, geht von der Mitteilung des Täuschungsversuchs im vorliegenden Fall ersichtlich nicht aus und ist auch nicht dargetan. 28 (b) Dass es sich bei der Einbeziehung des Täuschungsversuchs in den Artikel um eine nach ihrer Form und Hartnäckigkeit unzumutbar anprangernde Art der Berichterstattung handelt, ist ebenfalls nicht erkennbar. Der Bericht greift den Betroffenen auch nicht beliebig aus der Masse derjenigen, die im Ersten Staatsexamen Täuschungsversuche begangen haben, heraus, sondern erwähnt diesen Umstand einleitend in einem kritischen Porträt eines öffentlich bekannten Unternehmers, dessen Person und sozialwirksames Verhalten insgesamt beleuchtet wird. Eine in besonderen Konstellationen unzulässige, willkürlich anprangernde Personalisierung eines Sachanliegens ist daher nicht gegeben. 29 (c) Ebenso wenig trägt die angedeutete Einordnung des mitgeteilten Umstands als private Angelegenheit des Betroffenen. Maßgeblich einzustellen ist vielmehr, dass der Betroffene stets öffentlich tätig war und die Öffentlichkeit suchte. Dies zeigt sich bereits daran, dass das von ihm gegründete und mehrheitlich gehaltene, bundesweit aktive Unternehmen zum Zeitpunkt der Berichterstattung und der angegriffenen Entscheidungen seinen Familiennamen trug und ihm damit eine große öffentliche Sichtbarkeit verschaffte. Es zeigt sich auch an seinen zwischenzeitlich entfalteten politischen Aktivitäten. Es zeigt sich drittens an seiner Bereitschaft, einem börsennotierten Unternehmen vorzustehen, wodurch seine Verlässlichkeit als Unternehmerpersönlichkeit zwangsläufig auch zu Anliegen der interessierten Öffentlichkeit und jedenfalls aller Anleger des Unternehmens wurden. Schließlich ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass der Betroffene in seiner Selbstdarstellung als Unternehmer auf seine rechtliche Ausbildung verwies. Eine Person, die derart dauerhaft in der Öffentlichkeit steht und sich darum auch bemüht, kann nicht verlangen, dass ihre in der Vergangenheit liegenden Fehler, nicht aber ihre Vorzüge, allmählich in Vergessenheit geraten. Gegenstand des „Rechts auf Vergessen“ sind nicht einzelne Handlungen, deren Interesse, erinnert zu werden, absolut und schematisch mit Zeitablauf erlischt. Es besteht vielmehr als Ergebnis eines Abwägungsprozesses, für den die jeweilige Berichterstattung, das Interesse daran und die dadurch begründete Einbuße freier Lebensgestaltung für die betroffene Person maßgebliche Größen sind (vgl. zum relativen Charakter BVerfG, Beschluss vom 6. November 2019 - 1 BvR 16/13 -, Rn. 107). 30 (d) Grundrechtlich nicht tragfähig sind auch die Ausführungen der angegriffenen Entscheidungen zum mangelnden Zusammenhang des berichteten Täuschungsversuchs zu den aktuellen Ereignissen, die der Artikel aufgreift. Grundsätzlich ist es Aufgabe der Presse, selbst zu entscheiden, was und wie sie (wahrheitsgetreu) berichtet, was sie mit anderen Umständen in Zusammenhang bringt und wie sie einen Sachverhalt bewertet. Angesichts dessen darf das abwägungserhebliche öffentliche Berichterstattungsinteresse nicht für jeden mitgeteilten Umstand einzeln gerichtlich bewertet werden, sondern ist es für den Artikel in seiner Gesamtheit zu würdigen. Dies verkennen die angegriffenen Entscheidungen. Sie erkennen ein öffentliches Interesse und einen genügenden Anlass des Berichts als ganzen an, stellen aber zugleich wertend darauf ab, dass ein hinreichender Zusammenhang der im Artikel berichteten Straftaten und Tätigkeiten als Unternehmer zwar zum Nichtbestehen des Staatsexamens gegeben sei, dass jedoch die Erwähnung des Täuschungsversuchs hierfür nicht nötig sei. Dies verlässt den fachgerichtlichen Wertungsrahmen jedenfalls deshalb, weil hier die Herstellung eines Zusammenhangs mit den zwei berichteten strafrechtlichen Verfahren aus jüngerer Zeit zumindest nicht ohne Anknüpfungspunkt war. 31 3. Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf den aufgezeigten verfassungsrechtlichen Fehlern und sind aufzuheben. Es ist nicht auszuschließen, dass die Gerichte bei erneuter Befassung zu einer anderen Entscheidung in der Sache kommen werden. 32 4. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG. 33 5. Die Festsetzung des Gegenstandswerts der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>). 34 Diese Entscheidung ist unanfechtbar. Masing Paulus Christ
bundesverfassungsgericht
106-2020
16. Dezember 2020
Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen die Versagung von Amtshaftungsansprüchen wegen eines Auslandseinsatzes der Bundeswehr Pressemitteilung Nr. 106/2020 vom 16. Dezember 2020 Beschluss vom 18. November 20202 BvR 477/17 Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, die sich gegen die zivilgerichtliche Versagung von Amtshaftungsansprüchen gegen die Bundesrepublik Deutschland, zuletzt durch den Bundesgerichtshof, richtete. Im September 2009 wurden in Kunduz (Afghanistan) bei einem Luftangriff, der von einem Oberst der Bundeswehr angeordnet worden war, auch zahlreiche Zivilisten getötet oder verletzt. Die Beschwerdeführer erhoben – in allen Instanzen erfolglos – Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland als Angehörige von bei dem Luftangriff getöteten Opfern und machten Amtshaftungsansprüche geltend. Die Kammer führt aus, dass die Versagung unmittelbar aus dem Völkerrecht resultierender Ansprüche sowie die Verneinung einer Amtspflichtverletzung verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sind. Offen ließ die Kammer allerdings, ob die Gewährung von Amtshaftungs-, Ausgleichs- oder Entschädigungsansprüchen bei Grundrechtsverletzungen vom Gesetzgeber generell ausgeschlossen werden kann. Sachverhalt: Die Beschwerdeführer wenden sich gegen die Abweisung ihrer Amtshaftungsklagen durch die Zivilgerichte, letztinstanzlich durch den Bundesgerichtshof. Nach dem Sturz des Taliban-Regimes in Afghanistan richtete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mit der Resolution vom 20. Dezember 2001 eine internationale Sicherheitsunterstützungstruppe (International Security Assistance Force – ISAF) ein. Der Deutsche Bundestag beschloss am 22. Dezember 2001 die Beteiligung deutscher Streitkräfte an den ISAF-Truppen. Am 3. September 2009 bemächtigte sich eine Gruppe von Taliban-Kämpfern zweier Tanklastwagen in Kunduz. Als der zuständige Oberst i. G. die Information über die Entführung der Tanklastwagen erhielt, forderte er Luftunterstützung durch zwei US-amerikanische Kampfflugzeuge an. Ihm wurde durch einen Informanten des Militärs mehrfach bestätigt, dass sich bei den Lastwagen lediglich Aufständische und keine Zivilisten befänden, worauf er den Befehl zum Bombenabwurf gab. Hierdurch wurden beide Tanklastwagen zerstört sowie zahlreiche Personen, darunter auch Zivilisten, getötet oder verletzt. Die Beschwerdeführer erhoben Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland und begehrten als Angehörige von getöteten Opfern Schmerzensgeld und Schadensersatz. Der Bundesgerichtshof wies mit Urteil vom 6. Oktober 2016 die Revision der Beschwerdeführer insbesondere mit der Begründung zurück, dass sich aus dem Völkerrecht ein individueller Schadensersatzanspruch nicht ableiten lasse und das deutsche Amtshaftungsrecht (§ 839 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG) auf Schäden keine Anwendung finde, die ausländischen Bürgern bei einem bewaffneten Auslandseinsatz deutscher Streitkräfte zugefügt würden. Darüber hinaus liege auch keine Amtspflichtverletzung des zuständigen Oberst i. G. vor. Wesentliche Erwägungen der Kammer: 1. Verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist, dass der Bundesgerichtshof Entschädigungs- und Ersatzansprüche unmittelbar aus dem Völkerrecht verneint hat. Sekundärrechtliche Ansprüche wegen völkerrechtswidriger Handlungen eines Staates gegenüber fremden Staatsangehörigen stehen grundsätzlich nur dem Heimatstaat des Geschädigten als originärem Völkerrechtssubjekt zu. Es besteht keine allgemeine Regel des Völkerrechts, nach welcher dem Einzelnen bei Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht auch Ansprüche auf Schadensersatz oder Entschädigung gegen den verantwortlichen Staat zustehen müssten. Insbesondere begründen weder Art. 3 des IV. Haager Abkommens noch Art. 91 des Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte vom 8. Juni 1977 individuelle Schadensersatz- oder Entschädigungsansprüche bei Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht. 2. Die Verneinung von Ansprüchen aus enteignungsgleichem Eingriff und Aufopferung begegnet ebenfalls keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Beide Rechtsinstitute wurden durch die Rechtsprechung für Sachverhalte des alltäglichen Verwaltungshandelns entwickelt und sind auf Kriegsschäden, die nicht Folge regulärer Verwaltungstätigkeit sind, nicht anwendbar. 3. Nicht ausgeschlossen erscheint dagegen, dass der Bundesgerichtshof die Bedeutung und Tragweite von Art. 2 Abs. 2 und Art. 14 Abs. 1 GG verkannt hat, als er Amtshaftungsansprüche (§ 839 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG) als Folge von Einsätzen der Bundeswehr im Ausland generell verneint hat. a) Angesichts der grundsätzlichen Bindung aller deutschen Staatsgewalt an die Grundrechte, die auch bei Handlungen im Ausland besteht, begegnet das Urteil insoweit Zweifeln. Die Haftung für staatliches Unrecht ist nicht nur eine Ausprägung des Legalitätsprinzips, sondern auch Ausfluss der jeweils betroffenen Grundrechte, die den zentralen Bezugspunkt für staatliche Einstandspflichten bilden. Die Grundrechte schützen nicht nur vor nicht gerechtfertigten Eingriffen des Staates in Freiheit und Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger und sind insoweit Grundlage von Unterlassungs- und Beseitigungsansprüchen, die die Integrität der grundrechtlichen Gewährleistungen sicherstellen. Wo dies nicht möglich ist, ergeben sich aus ihnen – und nicht allein aus dem auf einer politischen Entscheidung des Gesetzgebers beruhenden einfachen Recht – grundsätzlich auch Kompensationsansprüche, sei es als Schadensersatz-, sei es als Entschädigungs- und Ausgleichsleistungen. Eine derartige Rückbindung der staatlichen Unrechtshaftung ist heute ein allgemeiner Rechtsgrundsatz im europäischen Rechtsraum. Dies wird schon wegen des Vorrangs der Verfassung durch die vom Bundesgerichtshof angeführten Gründe, die gegen eine Anwendung des Amtshaftungsrechts auf Auslandseinsätze der Bundeswehr sprechen könnten, insbesondere die Beeinträchtigung der internationalen Bündnisfähigkeit Deutschlands und die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, nicht in Frage gestellt. b) Im Ergebnis ist das Urteil des Bundesgerichtshofs gleichwohl nicht zu beanstanden, da er - entscheidungstragend - auch das Vorliegen einer Amtspflichtverletzung des zuständigen Oberst i. G. verneint hat. Ob in einem bewaffneten Konflikt eine Amtspflichtverletzung deutscher Soldaten vorliegt, bemisst sich nach der Verfassung, dem Soldatengesetz und vor allem den gewaltbegrenzenden Regeln des humanitären Völkerrechts. Nicht jede Tötung einer Zivilperson im Rahmen kriegerischer Auseinandersetzungen stellt auch einen Verstoß hiergegen dar. Ein solcher ist nach dem Urteil nicht deshalb gegeben, weil vor dem Befehl zum Bombenabwurf nicht habe ausgeschlossen werden können, dass sich im Zielgebiet auch Zivilisten aufhielten. Der Oberst i. G. der Bundeswehr habe bei Erteilung des Angriffsbefehls die ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen ausgeschöpft, bei der notwendigen ex ante-Betrachtung eine gültige Prognoseentscheidung getroffen und somit keine Amtspflichtverletzung begangen. Diese Würdigung ist nachvollziehbar und verstößt jedenfalls nicht gegen das Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT - 2 BvR 477/17 - In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde 1.  des Herrn H…, 2.  der Frau R…, - Bevollmächtigte: … - gegen a)  den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 12. Januar 2017 - III ZR 140/15 -, b)  das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 6. Oktober 2016 - III ZR 140/15 -, c)  das Urteil des Oberlandesgerichts Köln vom 30. April 2015 - 7 U 4/14 -, d)  das Urteil des Landgerichts Bonn vom 11. Dezember 2013 - 1 O 460/11 - hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Richter Huber und die Richterinnen Kessal-Wulf, Wallrabenstein gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 18. November 2020 einstimmig beschlossen: Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. G r ü n d e : A. 1 Gegenstand der Verfassungsbeschwerde ist die Abweisung einer Amtshaftungsklage wegen eines Bundeswehreinsatzes in Kunduz (Afghanistan) durch die Zivilgerichte. Die Beschwerdeführer verlangten von der Bundesrepublik Deutschland die Zahlung von Schmerzensgeld und Schadensersatz. I. 2 Nach dem Sturz des Taliban-Regimes in Afghanistan richtete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mit der Resolution 1386 vom 20. Dezember 2001 eine internationale Sicherheitsunterstützungstruppe (International Security Assistance Force – ISAF) ein. Deren Aufgabe bestand darin, die gewählte Regierung Afghanistans bei der Herstellung und Aufrechterhaltung eines sicheren Umfelds zu unterstützen. Die ISAF-Truppen durften zur Erfüllung ihres Auftrags alle notwendigen Maßnahmen einschließlich der Anwendung von Waffengewalt ergreifen. Der Deutsche Bundestag beschloss am 22. Dezember 2001 die Beteiligung deutscher Streitkräfte an den ISAF-Truppen. Im April 2009 übernahm Oberst i.G. K. das Kommando über das Provinz-Wiederaufbauteam (Provincial Reconstruction Team – PRT) Kunduz. 3 Am Nachmittag des 3. September 2009 bemächtigte sich eine Gruppe von Taliban-Kämpfern zweier Tanklastwagen. Bei dem Versuch, die Tanklastwagen auf die Westseite des Flusses Kunduz zu verbringen, blieben diese gegen 18:15 Uhr etwa sieben Kilometer Luftlinie vom Feldlager des PRT Kunduz entfernt auf einer Sandbank manövrierunfähig stecken. Gegen 20:30 Uhr erhielt Oberst i.G. K. die Information über die Entführung der Tanklastwagen. Durch Einsatz eines Aufklärungsflugzeugs konnten die Lastwagen gegen Mitternacht aufgespürt werden. Gegen 01:00 Uhr des 4. September 2009 forderte Oberst i.G. K. Luftunterstützung an, die von zwei US-amerikanischen Kampfflugzeugen gewährt wurde. Diese übermittelten ab 01:17 Uhr Echtzeit-Infrarot-Luftaufnahmen vom Geschehen auf der Sandbank an die Operationszentrale im Feldlager Kunduz, wo sich auch Oberst i.G. K. aufhielt. Diesem wurde durch einen Informanten des Militärs unter Vermittlung eines Verbindungsoffiziers insgesamt sieben Mal telefonisch bestätigt, dass sich auf der Sandbank lediglich Aufständische und keine Zivilisten befänden. Gegen 01:40 Uhr gab Oberst i.G. K. den Befehl zum Abwurf von zwei 500-Pfund-Bomben. Dadurch wurden beide Tanklastwagen zerstört sowie zahlreiche Personen, hierunter auch Zivilisten, getötet oder verletzt. II. 4 1. Die Beschwerdeführer erhoben – jeweils gestützt auf § 839 Abs. 1 BGB in Verbindung mit Art. 34 Satz 1 GG – Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland. Der Beschwerdeführer zu 1. machte Schmerzensgeld aufgrund der Tötung zweier seiner Söhne durch den Luftangriff geltend. Die Beschwerdeführerin zu 2. beansprucht den Ersatz von Unterhaltsschäden wegen der Tötung ihres Ehemanns und des Vaters der gemeinsamen Kinder. Der Bombenangriff sei unter Verletzung humanitären Völkerrechts erfolgt; für Oberst i.G. K. sei die Anwesenheit von Zivilpersonen im Abwurfgebiet erkennbar gewesen. 5 a) Das Landgericht Bonn wies die Klage ab; ein Anspruch sei bereits dem Grunde nach nicht gegeben. Die Beweisaufnahme habe keine schuldhafte Verletzung einer drittschützenden Amtspflicht ergeben. Zwar sei das Amtshaftungsrecht auf ein völkerrechtsrelevantes Delikt deutscher Amtsträger grundsätzlich anwendbar. Der Befehl zum Bombenabwurf habe jedoch keine Verletzung einer drittschützenden Amtspflicht dargestellt, sondern sei mit den Regelungen des humanitären Völkerrechts in Einklang gestanden. Aufgrund der zum Zeitpunkt der Angriffsentscheidung vorliegenden Erkenntnis sei nicht von einer Verletzung von Zivilpersonen auszugehen gewesen. 6 b) Das Oberlandesgericht Köln wies die hiergegen eingelegte Berufung zurück und ließ die Revision zu. Das deutsche Amtshaftungsrecht sei auf Auslandseinsätze der Bundeswehr zwar grundsätzlich anwendbar; das Landgericht habe jedoch auf der Grundlage für das Berufungsgericht bindender tatsächlicher Feststellungen eine schuldhafte Amtspflichtverletzung verneint. 7 c) Die hiergegen eingelegte Revision wies der Bundesgerichtshof mit Urteil vom 6. Oktober 2016 zurück. Aus dem Völkerrecht lasse sich ein individueller Schadensersatzanspruch ebenso wenig ableiten wie aus der Verpflichtung, das innerstaatliche Recht völkerrechtsfreundlich auszulegen (Art. 25 Satz 1 GG). Soweit § 839 Abs. 1 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG dem Wortlaut nach auch auf schuldhafte Verletzungen dem Schutz der Zivilbevölkerung dienender völkerrechtlicher Regeln durch Soldaten der Bundeswehr bei Auslandseinsätzen Anwendung finde, führe dies zu keinem anderen Ergebnis, weil eine Ausweitung des traditionellen Amtshaftungsrechts dem Gesetzgeber vorbehalten und weder verfassungsrechtlich noch völkerrechtlich geboten sei. 8 Im Übrigen fehle es an einem amtspflichtwidrigen Verhalten von Oberst i.G. K., für dessen rechtliche Beurteilung auf die Erkenntnisse sowie tatsachenbasierten Erwartungen abzustellen sei, die einem Befehlshaber bei der Planung und Durchführung einer militärischen Maßnahme ex ante zur Verfügung stünden. Insoweit habe Oberst i.G. K. alle in der konkreten Planungs- und Entscheidungssituation praktisch möglichen Aufklärungsmaßnahmen vorgenommen. 9 2. Die hiergegen erhobene Anhörungsrüge wies der Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 12. Januar 2017 zurück. III. 10 Die Beschwerdeführer rügen eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 14 Abs. 1 GG. Auch sei ihr Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt sowie gegen die Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 beziehungsweise Art. 20 Abs. 3 GG und die aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG folgende Gesetzesbindung der Gerichte verstoßen worden. 11 Das Amtshaftungsrecht sei auf den Einsatz deutscher Soldaten im Ausland ausweislich des Wortlauts von § 839 Abs. 1 BGB und Art. 34 Satz 1 GG uneingeschränkt anwendbar; eine diesbezügliche Einschränkung müsse der Gesetzgeber normieren. Mit dem vollständigen Ausschluss des Amtshaftungsrechts für Auslandseinsätze der Bundeswehr habe der Bundesgerichtshof nicht nur gegen die Gesetzesbindung der Rechtsprechung verstoßen, sondern sich auch eine ihm nicht zukommende Rechtsetzungskompetenz angemaßt. Das Revisionsurteil verkenne Ausstrahlungswirkung und Bedeutung der betroffenen Grundrechte grob. Im Übrigen sei die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes (Art. 25 GG) zu berücksichtigen. B. 12 Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil sie jedenfalls unbegründet ist. I. 13 1. Der Verfassungsbeschwerde kommt keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu (§ 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG). Diese liegt nur vor, wenn die Verfassungsbeschwerde eine verfassungsrechtliche Frage aufwirft, die sich nicht ohne Weiteres aus dem Grundgesetz beantworten lässt und noch nicht durch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung geklärt oder durch veränderte Verhältnisse erneut klärungsbedürftig geworden ist (vgl. BVerfGE 90, 22 <24 f.>; 96, 245 <248>). Soweit vorliegend verfassungsrechtliche Fragen – insbesondere zur Herleitung und Reichweite des Amtshaftungsanspruchs – in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts noch nicht geklärt sind, können sie auch hier offen bleiben. 14 2. Die Annahme ist auch nicht nach § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Durchsetzung der als verletzt gerügten Rechte gemäß § 90 Abs. 1 BVerfGG angezeigt (vgl. BVerfGE 90, 22 <25 f.>; 111, 1 <4>), weil sie keine Aussicht auf Erfolg hat. II. 15 Die Verfassungsbeschwerde ist jedenfalls unbegründet. Fachgerichtliche Entscheidungen überprüft das Bundesverfassungsgericht zum einen lediglich daraufhin, ob sie auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des betroffenen Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs, beruhen (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 f., 96>; 85, 248 <257 f.>; 87, 287 <323>; 134, 242 <353 Rn. 323>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 1. August 2014 - 2 BvR 200/14 -, Rn. 15; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 23. März 2020 - 2 BvR 2051/19 -, Rn. 29; stRspr). Dies ist der Fall, wenn die von den Fachgerichten vorgenommene Auslegung des einfachen Rechts die Tragweite des Grundrechts nicht hinreichend berücksichtigt oder im Ergebnis zu einer unverhältnismäßigen Beschränkung der grundrechtlichen Freiheit führt (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 f.>; 85, 248 <257 f.>; 87, 287 <323>; 134, 242 <353 Rn. 323>). Eine verfassungsgerichtliche Kontrolle findet zum anderen statt, wenn die Fachgerichte übersehen haben, dass bei Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts Grundrechte zu beachten sind, wenn deren Schutzbereich unrichtig oder unvollkommen bestimmt oder ihr Gewicht unrichtig eingeschätzt wird (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 f., 96>; 101, 361 <388>; 106, 28 <45>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 3. April 2019 - 2 BvQ 28/19 -, Rn. 8). 16 Soweit der Bundesgerichtshof Entschädigungs- und Ersatzansprüche unmittelbar aus dem Völkerrecht verneint hat, verletzt dies die Beschwerdeführer nicht in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 25 GG (1.). Auch die Ablehnung von Ansprüchen aus enteignungsgleichem Eingriff und Aufopferung verletzt die Beschwerdeführer nicht in ihren Grundrechten (2.). Dass die vom Bundesgerichtshof zugrunde gelegte Auffassung, Amtshaftungsansprüche gemäß § 839 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG seien auf Einsätze der Bundeswehr im Ausland nicht anwendbar, auf einer grundsätzlichen unzutreffenden Vorstellung von der Bedeutung und Tragweite der Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 14 Abs. 1 GG beruht (3.), begegnet zwar Zweifeln, kann jedoch offen bleiben. Denn auch im Falle einer Zurückverweisung gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG hätte die Verfassungsbeschwerde im Ergebnis keinen Erfolg, weil das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 6. Oktober 2016 verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist, soweit es ein rechtswidriges Verhalten des Oberst i.G. K. und damit die Tatbestandsvoraussetzungen eines Amtshaftungsanspruchs verneint (4.). 17 1. Mit der Verfassungsbeschwerde kann zwar grundsätzlich geltend gemacht werden, dass zivilgerichtliche Urteile nicht zur verfassungsmäßigen Ordnung im Sinne von Art. 2 Abs. 1 GG gehörten, weil sie sich über gemäß Art. 25 GG als Bestandteil des Bundesrechts geltende völkergewohnheitsrechtliche Regeln hinweggesetzt hätten (vgl. BVerfGE 31, 145 <177>; 66, 39 <64>; BVerfGK 13, 246 <252>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 13. August 2013 - 2 BvR 2660/06 u.a. -, Rn. 41). Solche allgemeinen Regeln des Völkerrechts haben aber trotz voranschreitender Subjektivierung des Völkerrechts bisher nicht zu individuellen Ansprüchen geführt (a). Dass der Bundesgerichtshof entsprechende Ansprüche verneint hat, ist daher nicht zu beanstanden (b). 18 a) Die Mediatisierung des Einzelnen durch den Staat im Völkerrecht hat seit dem Zweiten Weltkrieg aufgrund der Fortentwicklung und der Kodifizierung des internationalen Menschenrechtsschutzes, der zunehmend mit dem humanitären Völkerrecht verwoben ist (vgl. Schmahl, ZaöRV 66 <2006>, S. 699 <703>), deutliche Korrekturen erfahren. Vor allem die menschenrechtlichen Gewährleistungen weisen einen genuin individualschützenden Charakter auf (vgl. Rojahn, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 25 Rn. 42; Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 25 Rn. 86 <Dezember 2016>; Koenig/König, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 7. Aufl. 2018, Art. 25 Rn. 68) und sind im Laufe der Zeit immer weiter verdichtet worden. Auch spezifisch personenbezogene Normen des Konfliktrechts bestätigen, dass der Einzelne durch das Völkerrecht unmittelbar berechtigt und verpflichtet werden kann. Gleichsam als Kehrseite dieser Entwicklung erkennt etwa der Internationale Gerichtshof bei Völkerrechtsverstößen zunehmend eine Individualhaftung an (vgl. IGH, Advisory Opinion vom 9. Juli 2004 – Legal Consequences of a Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory –, I.C.J. Reports 2004, S. 136 <198 Rn. 153>); auch kann der Einzelne durch das Völkerstrafrecht in Anspruch genommen und für sein Handeln zur Rechenschaft gezogen werden (vgl. BGH, Urteil vom 2. November 2006 - III ZR 190/05 -, juris, Rn. 7; Rojahn, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 25 Rn. 45; Raap, NVwZ 2013, S. 552 <553>; Heintschel v. Heinegg/Frau, in: Epping/ Hillgruber, BeckOK GG, Art. 25 Rn. 33 <1. Dezember 2019>). Insoweit wird er zumindest partiell als Völkerrechtssubjekt anerkannt (vgl. BVerfGK 7, 303 <308>; Rojahn, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 25 Rn. 42; Wollenschläger, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 25 Rn. 34; Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 25 Rn. 85 ff. <Dezember 2016>; Koenig/König, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 7. Aufl. 2018, Art. 25 Rn. 68; Streinz, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 25 Rn. 68). 19 Sekundärrechtliche Ansprüche wegen völkerrechtswidriger Handlungen eines Staates gegenüber fremden Staatsangehörigen stehen aber weiterhin grundsätzlich nur dem Heimatstaat des Geschädigten als originärem Völkerrechtssubjekt zu (vgl. BVerfGE 94, 315 <329 f.>; 112, 1 <32 f.>; BVerfGK 7, 303 <308>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 13. August 2013 - 2 BvR 2660/06 u.a. -, Rn. 41; Dutta, AöR 133 <2008>, S. 191 <198>; Rojahn, in: v. Münch/Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 25 Rn. 53; Raap, NVwZ 2013, S. 552 <552 f.>; Wollenschläger, in: Dreier, GG, Bd. 2, 3. Aufl. 2015, Art. 25 Rn. 38; Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 25 Rn. 92 <Dezember 2016>; Papier/Shirvani, in: Münchener Kommentar zum BGB, Bd. 6, 7. Aufl. 2017, § 839 Rn. 187a; Ackermann, NVwZ 2017, S. 87 <95>; Schmahl, ZaöRV 66 <2006>, S. 699 <702 f.>; dies., NJW 2017, S. 128 <129 f.>; Streinz, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 25 Rn. 76; Wolff, in: Hömig/ders., GG, 12. Aufl. 2018, Art. 25 Rn. 3). Insoweit reichen die Individualrechte weiter als ihre Absicherung durch Sekundäransprüche (vgl. Starski/Beinlich, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Bd. 66 <2018>, S. 299 <302>). Es besteht keine allgemeine Regel des Völkerrechts, nach welcher dem Einzelnen bei Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht auch Ansprüche auf Schadensersatz oder Entschädigung gegen den verantwortlichen Staat zustehen müssten (vgl. BVerfGE 27, 253 <273 f.>; 94, 315 <329 f.>; 112, 1 <32 f.>; BVerfGK 3, 277 <283 f.>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 13. August 2013 - 2 BvR 2660/06 u.a. -, Rn. 43; Dörr, in: ders./Grote/Marauhn, EMRK/GG Konkordanzkommentar, 2. Aufl. 2013, Kapitel 33 Rn. 1). Insoweit bleibt der Einzelne nach wie vor nur über seinen Herkunftsstaat mit dem Völkerrecht verbunden (vgl. Raap, NVwZ 2013, S. 552 <552>). 20 b) Soweit der Bundesgerichtshof in seinem Urteil vom 6. Oktober 2016 unmittelbar aus dem Völkerrecht resultierende Ansprüche der Beschwerdeführer verneint hat, begegnet dies daher keinen Bedenken. Insbesondere begründen weder Art. 3 des IV. Haager Abkommens noch Art. 91 des Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte vom 8. Juni 1977 (BGBl 1990 II S. 1551) individuelle Schadensersatz- oder Entschädigungsansprüche bei eventuellen Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht (vgl. BVerfGK 3, 277 <283 f.>; 7, 303 <308>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 13. August 2013 - 2 BvR 2660/06 u.a. -, Rn. 45 ff.). 21 2. Soweit der Bundesgerichtshof Ansprüche der Beschwerdeführer aus enteignungsgleichem Eingriff und Aufopferung abgelehnt hat, ist dies auch verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. 22 Es widerspricht nicht grundgesetzlichen Wertungen, wenn der Bundesgerichtshof darauf abstellt, dass beide Rechtsinstitute im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung auf der Grundlage der §§ 74, 75 der Einleitung zum Allgemeinen Landrecht für die preußischen Staaten für Sachverhalte des alltäglichen Verwaltungshandelns entwickelt wurden. Er kann daher weiter davon ausgehen, dass sie auf Kriegsschäden keine Anwendung finden, weil sich aus der kriegerischen Besetzung eines anderen Staates oder aus vergleichbaren Handlungen ergebende Schäden nicht Folge regulärer Verwaltungstätigkeit sind, die allein beide Rechtsinstitute im Blick haben (vgl. BVerfGK 7, 303 <310 f.>; Schmahl, NJW 2017, S. 128 <130>; in diese Richtung Papier/Shirvani, in: Münchener Kommentar zum BGB, Bd. 6, 7. Aufl. 2017, § 839 Rn. 187a; krit. Starski/Beinlich, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Bd. 66 <2018>, S. 299 <307>). 23 3. Soweit der Bundesgerichtshof dagegen die Anwendbarkeit von § 839 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG auf Einsätze der Bundeswehr im Ausland verneint, erscheint eine grundsätzliche Verkennung der norminternen Direktiven von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 14 Abs. 1 GG jedoch möglich. Zwar ist die Frage in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bisher nicht geklärt. Angesichts der im Schrifttum betonten grundrechtlichen Radizierung des Amtshaftungsanspruchs (a) und der grundsätzlich umfassenden, räumlich nicht begrenzten Bindung deutscher Staatsgewalt an die Grundrechte (b) begegnet das Urteil vom 6. Oktober 2016 Zweifeln (c). 24 a) Die Haftung für staatliches Unrecht ist nicht nur eine Ausprägung des Legalitätsprinzips (vgl. Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 34 Rn. 12 <Januar 2009>; Wieland, in: Dreier, GG, Bd. 2, 3. Aufl. 2015, Art. 34 Rn. 30; v. Danwitz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 7. Aufl. 2018, Art. 34 Rn. 40), sondern auch Ausfluss der jeweils betroffenen Grundrechte, die insoweit den zentralen Bezugspunkt für die Einstandspflichten des Staates bilden (vgl. Schoch, Die Verwaltung 34 <2001>, S. 261 <288>; Höfling, VVDStRL 61 <2002>, S. 260 <269>; ders., in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, GVwR III, 2009, § 51 Rn. 83; Stelkens, DÖV 2006, S. 770 <772 f.>; Enders, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, GVwR III, 2009, § 53 Rn. 13; Grzeszick, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte III, 2009, § 75 Rn. 108; Starski/Beinlich, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Bd. 66 <2018>, S. 299 <307>). 25 aa) Die Grundrechte schützen nicht nur vor nicht gerechtfertigten Eingriffen des Staates in Freiheit und Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger und sind insoweit Grundlage für Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche, die die Effektivität des Grundrechtsschutzes sicherstellen. Wo dies nicht möglich ist, ergeben sich aus ihnen – und nicht allein aus dem auf einer politischen Entscheidung des Gesetzgebers beruhenden einfachen Recht (vgl. Höfling, VVDStRL 61 <2002>, S. 260 <273>; Sachs, in: ders., GG, 8. Aufl. 2018, Art. 19 Rn. 137) – grundsätzlich auch Kompensationsansprüche, sei es als Schadensersatz-, sei es als Entschädigungs- und Ausgleichsleistungen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 8. März 2000 - 1 BvR 1127/96 -, Rn. 9; BGH, Urteil vom 17. Dezember 2013 - VI ZR 211/12 -, juris, Rn. 40; BAG, Urteil vom 19. Februar 2015 - 8 AZR 1007/13 -, juris, Rn. 30; Murswiek/Rixen, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 2 Rn. 38a; Unterreitmeier, NVwZ 2018, S. 383 <384 f.>). Derartige Sekundäransprüche können zwar nicht die Integrität der betroffenen grundrechtlich geschützten Interessen sicherstellen, die Eingriffsintensität jedoch mindern (vgl. Axer, DVBl 2001, S. 1322 <1328>; Schoch, Die Verwaltung 34 <2001>, S. 261 <274>; Grzeszick, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte III, 2009, § 75 Rn. 91 f., 104) und verhindern so zumindest das vollständige Leerlaufen der in Rede stehenden grundrechtlich geschützten Interessen. Sie sind insoweit ein Minus zu den Unterlassungs- und Beseitigungsansprüchen (vgl. Höfling, VVDStRL 61 <2002>, S. 260 <271, 273 f.>; Röder, Die Haftungsfunktion der Grundrechte, 2002, S. 282) und verhindern unberechtigte und unverhältnismäßige Verkürzungen des Grundrechtsschutzes (vgl. Höfling, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/ Voßkuhle, GVwR III, 2009, § 51 Rn. 83, 87; Morlok, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, GVwR III, 2009, § 52 Rn. 12; vgl. auch Scherzberg, DVBl 1991, S. 84 <87>). Ohne grundrechtlich radizierte Sekundäransprüche blieben die Verletzungen grundrechtlich geschützter Interessen häufig sanktionslos (vgl. BVerfGE 34, 269 <292 f.>; BGH, Urteil vom 17. Dezember 2013 - VI ZR 211/12 -, juris, Rn. 40). 26 bb) Mit Blick auf die gemäß Art. 1 Abs. 2 GG gebotene europäische Einbindung Deutschlands ist zudem von Bedeutung, dass eine derartige Rückbindung der staatlichen Unrechtshaftung auch den allgemeinen Rechtsgrundsätzen im europäischen Rechtsraum entspricht (vgl. Schoch, Die Verwaltung 34 <2001>, S. 261 <275 ff.>; Höfling, VVDStRL 61 <2002>, S. 260 <268, 274 f.>). So kennen etwa Frankreich (vgl. Gonod, in: v. Bogdandy/Cassese/Huber, IPE V, 2014, § 75 Rn. 31, 135, 144), Griechenland (vgl. Efstratiou, in: v. Bogdandy/Cassese/Huber, IPE V, 2014, § 76 Rn. 49, 59, 68), Italien (vgl. de Pretis, in: v. Bogdandy/Cassese/ Huber, IPE V, 2014, § 78 Rn. 56) oder Ungarn (vgl. Szente, in: v. Bogdandy/ Cassese/Huber, IPE V, 2014, § 85 Rn. 81) eine grundsätzlich umfassende und verschuldensunabhängige Haftung des Staates für jegliches Verwaltungshandeln. Auch die spanischen Gerichte erkennen eine Staatshaftung für von der Verwaltung verursachte Schäden an (vgl. Mir, in: v. Bogdandy/Cassese/Huber, IPE V, 2014, § 84 Rn. 152), ebenso Schweden (vgl. Marcusson, in: v. Bogdandy/Cassese/Huber, IPE V, 2014, § 82 Rn. 61), die Schweiz (vgl. Jaag, in: v. Bogdandy/ Cassese/Huber, IPE V, 2014, § 83 Rn. 152) oder das Vereinigte Königreich (vgl. Craig, in: v. Bogdandy/Cassese/Huber, IPE V, 2014, § 77 Rn. 114, 116). 27 Der Gedanke einer unmittelbar auf der Verletzung von Grundrechten gründenden Ersatzpflicht hat zudem in Art. 41 EMRK Niederschlag gefunden. Danach spricht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bei einer festgestellten – regelmäßig nicht mehr (vollständig) rückgängig zu machenden – Verletzung der Konvention und ihrer Protokolle eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist. Die Entschädigung stellt sich dabei als zur Feststellung einer Konventionsverletzung akzessorische Nebenentscheidung dar (vgl. Streinz, VVDStRL 61 <2002>, S. 300 <313>) und umfasst zwischenzeitlich sämtliche Konventionsverletzungen (vgl. Meyer-Ladewig/Brunozzi, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/v. Raumer, EMRK, 4. Aufl. 2017, Art. 41 Rn. 5); Ausnahmen sind insoweit nicht vorgesehen, auch nicht für bewaffnete Konflikte (vgl. Dutta, AöR 133 <2008>, S. 191 <200>; Ackermann, NVwZ 2017, S. 87 <96>; Schmahl, NJW 2017, S. 128 <130>; Terwiesche, NVwZ 2004, S. 1324 <1326>; einschränkend Raap, NVwZ 2013, S. 552 <553>). Dass diesem Entschädigungsanspruch der Sache nach ein grundrechtlicher Gehalt zukommt (vgl. Klatt, in: v. der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 41 GRCh Rn. 17; Jarass, in: ders., Charta der Grundrechte der EU, 3. Aufl. 2016, Art. 41 Rn. 32), liegt auf der Hand. 28 cc) Die grundrechtliche Verankerung des Amtshaftungsanspruchs wird schließlich durch andere Institute unterstrichen, denen ein vergleichbarer Gedanke zugrunde liegt. Das gilt neben der Enteignungsentschädigung nach Art. 14 Abs. 3 GG namentlich für die ausgleichspflichtige Inhaltsbestimmung, die dazu bestimmt ist, die Intensität eines Eingriffs in die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG zu mindern (vgl. BVerfGE 100, 226 <244 ff.>; 143, 246 <338 f. Rn. 260>; Axer, DVBl 2001, S. 1322 <1328>; Grzeszick, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte III, 2009, § 75 Rn. 18). Der Ansatz ist auch nicht auf das Schutzgut des Art. 14 Abs. 1 GG beschränkt (vgl. Dörr, in: ders./Grote/Marauhn, EMRK/GG Konkordanzkommentar, 2. Aufl. 2013, Kapitel 33 Rn. 155), sondern gilt wegen der grundsätzlichen Gleichwertigkeit und Gleichrangigkeit der Grundrechte auch über Art. 14 GG hinaus (vgl. Hösch, DÖV 1999, S. 192 <200>; Höfling, VVDStRL 61 <2002>, S. 260 <275>). So findet er sich etwa auch in den Entschädigungsansprüchen für eine überlange Verfahrensdauer (§§ 198 ff. GVG). Diese normieren als Minus zu dem von Art. 19 Abs. 4 GG gewährleisteten effektiven Rechtsschutz einen Entschädigungsanspruch als einen speziellen Fall der Staatshaftung (vgl. BTDrucks 17/3802, S. 19; Zimmermann, in: Münchener Kommentar zur ZPO, Bd. 3, 5. Aufl. 2017, § 198 GVG Rn. 4). 29 dd) Dermaßen grundrechtlich radizierte Sekundäransprüche nehmen am Schutz des Art. 19 Abs. 4 GG teil, der die Durchsetzung und Effektivierung gerade der materiellen (Grund-)Rechte gewährleistet (vgl. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, 3. Aufl. 2013, Art. 19 Rn. 80; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Rn. 21 <Juli 2014>). Auch wenn dieser vorrangig auf die Integrität der von der öffentlichen Gewalt beeinträchtigten subjektiven öffentlichen Rechte zielt, mithin auf einen Primärrechtsschutz in Form von Unterlassungs- und (Folgen-)Beseitigungsansprüchen, umfasst er auch die effektive Geltendmachung und Durchsetzung von Entschädigungs- und Schadensersatzansprüchen (vgl. Axer, DVBl 2001, S. 1322 <1329>; Höfling, VVDStRL 61 <2002>, S. 260 <267 f., 274>; ders., in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, GVwR III, 2009, § 51 Rn. 88; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 285 <Juli 2014>; Starski/Beinlich, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Bd. 66 <2018>, S. 299 <310>). 30 ee) Nach alledem kann der Gesetzgeber Voraussetzungen und Umfang von Amtshaftungs- und Entschädigungsansprüchen zwar näher ausgestalten; er kann Subsidiaritätserfordernisse vorsehen, Privilegierungen einführen oder die gesamtschuldnerische Haftung des Staates mit anderen Schädigern ausschließen. Schon jetzt erscheint eine gesamtschuldnerische Haftung Deutschlands für gemeinsame Militäreinsätze auf der Grundlage von §§ 839, 830 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG zweifelhaft, weil diese weder an das Grundgesetz (Art. 1 Abs. 3 GG) gebunden noch dem deutschen Staatshaftungsrecht unterworfen sind. Über die Existenz von Amtshaftungs- und Entschädigungsansprüchen bei Grundrechtsverletzungen verfügen kann er jedoch nicht. Dem haben die Fachgerichte bei der Auslegung der §§ 839 ff. BGB Rechnung zu tragen (vgl. Ehlers, VVDStRL 51 <1992>, S. 211 <243 f.>; Schoch, Die Verwaltung 34 <2001>, S. 261 <287>; Grzeszick, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte III, 2009, § 75 Rn. 117). 31 b) Die deutsche Staatsgewalt ist grundsätzlich auch bei Handlungen im Ausland an die Grundrechte gebunden. Zwar kann sich diese Grundrechtsbindung von derjenigen im Inland unterscheiden. Die umfassende Bindung der deutschen Staatsgewalt an die Grundrechte lässt unberührt, dass sich die aus den Grundrechten konkret folgenden Schutzwirkungen danach unterscheiden können, unter welchen Umständen sie zur Anwendung kommen. Das gilt – wie schon für die verschiedenen Wirkungsdimensionen der Grundrechte im Inland – auch für die Reichweite ihrer Schutzwirkung im Ausland. So mögen einzelne Gewährleistungen schon hinsichtlich des persönlichen und sachlichen Schutzbereichs im Inland und Ausland in unterschiedlichem Umfang Geltung beanspruchen. Ebenso kann zwischen verschiedenen Grundrechtsdimensionen, etwa der Wirkung der Grundrechte als Abwehrrechte, als Leistungsrechte, als verfassungsrechtliche Wertentscheidungen oder als Grundlage von Schutzpflichten zu unterscheiden sein (BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 19. Mai 2020 - 1 BvR 2835/17 -, Rn. 104). Soweit die Grundrechte auf Konkretisierungen des Gesetzgebers angewiesen sind, kann auch insoweit den besonderen Bedingungen im Ausland Rechnung zu tragen sein (vgl. BVerfGE 92, 26 <41 ff.>; dazu auch BVerfGE 100, 313 <363>). Erst recht ist der Einbindung staatlichen Handelns in ein ausländisches Umfeld bei der Bestimmung von Anforderungen an die Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen Rechnung zu tragen (vgl. BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 19. Mai 2020 - 1 BvR 2835/17 -, Rn. 104). 32 c) Der Bundesgerichtshof setzt sich in seinem Urteil vom 6. Oktober 2016 zwar mit verfassungsrechtlichen Vorgaben auseinander. Er beschränkt sich jedoch auf Argumente, die gegen eine Anwendung des Amtshaftungsanspruchs aus § 839 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG sprechen, insbesondere die Beeinträchtigung der internationalen Bündnisfähigkeit Deutschlands und die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung. Er erörtert hingegen nicht, inwieweit aus der territorial nicht begrenzten Geltung der Grundrechte und der daraus abzuleitenden staatlichen Verpflichtung zum Ausgleich oder zur Entschädigung für Grundrechtsverletzungen eine Auslegung des bestehenden gesetzlichen Amtshaftungsanspruchs folgt, die – gegebenenfalls mit Abweichungen von Ansprüchen bei innerstaatlichen Grundrechtsverletzungen – auch bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr zu Ansprüchen führen kann. 33 4. Dies kann jedoch letztlich dahinstehen, weil das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 6. Oktober 2016 jedenfalls nicht auf dieser zweifelhaften Vorstellung von Bedeutung und Tragweite von Art. 2 Abs. 2 und Art. 14 Abs. 1 GG beruht (vgl. zum Beruhenserfordernis BVerfGE 89, 48 <59>; 96, 68 <86>; 104, 92 <114>; 112, 185 <206>; 131, 66 <85>; stRspr). Dieser hat seine Entscheidung vielmehr auch damit tragend begründet, dass Oberst i.G. K. keine Amtspflichtverletzung begangen hat. Das ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. 34 a) Ob in einem bewaffneten Konflikt eine Amtspflichtverletzung deutscher Soldaten vorliegt, bemisst sich nach der Verfassung und dem Soldatengesetz sowie vor allem nach den gewaltbegrenzenden Regeln des humanitären Völkerrechts (vgl. Raap, NVwZ 2013, S. 552 <554>; Starski/Beinlich, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Bd. 66 <2018>, S. 299 <308 f.>). Vor diesem Hintergrund stellt – wie auch Art. 115a GG zu entnehmen ist – nicht jede Tötung einer Zivilperson im Rahmen kriegerischer Auseinandersetzungen auch einen Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht dar (vgl. Schmahl, ZaöRV 66 <2006>, S. 699 <713, 716>). 35 b) Nach der insoweit nicht zu beanstandenden Auffassung des Bundesgerichtshofs trägt der Anspruchsteller für einen Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht nach den allgemeinen Grundsätzen die volle Darlegungs- und Beweislast (vgl. Dutta, AöR 133 <2008>, S. 191 <220 f.>). Die Beschwerdeführer haben insoweit lediglich behauptet, dass der Befehl zum Bombenabwurf hätte unterbleiben müssen, weil nicht habe ausgeschlossen werden können, dass es sich bei den identifizierten Personen um Zivilisten gehandelt habe. Damit haben sie nach Auffassung des Bundesgerichtshofs einen Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht nicht dargelegt. Er sei vorliegend auch nicht ersichtlich, weil Oberst i.G. K. bei der Erteilung des Angriffsbefehls die ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen ausgeschöpft, bei der notwendigen ex ante-Betrachtung eine gültige Prognoseentscheidung getroffen und daher keine Amtspflichtverletzung begangen habe. Das verstößt weder gegen das allgemeine Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG) noch gibt es dagegen somit etwas verfassungsrechtlich zu erinnern. III. 36 Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen. 37 Diese Entscheidung ist unanfechtbar. Huber Kessal-Wulf Wallrabenstein
bundesverfassungsgericht
28a-2020
29. April 2020
Vorläufige Eröffnung der Möglichkeit, auf Antrag im Einzelfall Ausnahmen vom generellen Verbot von Gottesdiensten in Kirchen, Moscheen und Synagogen zuzulassen Pressemitteilung Nr. 28a/2020 vom 29. April 2020 Beschluss vom 29. April 20201 BvQ 44/20 Die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat mit heutigem Beschluss das Verbot von Gottesdiensten in Kirchen, Moscheen und Synagogen sowie von Zusammenkünften anderer Glaubensgemeinschaften zur gemeinsamen Religionsausübung nach der Corona-Verordnung des Landes Niedersachsen im Wege der einstweiligen Anordnung insoweit vorläufig außer Vollzug gesetzt, als danach ausgeschlossen ist, auf Antrag im Einzelfall Ausnahmen von dem Verbot zuzulassen. Sachverhalt: Der Antragsteller, ein eingetragener Verein mit rund 1300 Mitgliedern, beabsichtigt, insbesondere in den noch ausstehenden Wochen des Fastenmonats Ramadan das Freitagsgebet in der von ihm genutzten Moschee durchzuführen. Er hat beim Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht eine Normenkontrollklage mit dem Ziel eingelegt, das in der niedersächsischen Corona-Verordnung enthaltene Verbot von Gottesdiensten insoweit für ungültig zu erklären, als die für Verkaufsstellen und Ladengeschäfte geltenden Schutzvorkehrungen eingehalten werden. Den mit der Normenkontrollklage verbundenen Antrag auf einstweilige Außervollzugsetzung des Verbots lehnte das Oberverwaltungsgericht ab. Zwar stelle das ausnahmslose Verbot des gemeinsamen Freitagsgebets im Fastenmonat Ramadan einen überaus schwerwiegenden Eingriff in die grundrechtlich geschützte Glaubensfreiheit dar. Dem Freitagsgebet komme insbesondere in dieser Zeit eine zentrale liturgische Bedeutung zu. Das Verbot sei jedoch zur Vermeidung von Infektionen weiterhin erforderlich. Das Gefährdungspotenzial von Gottesdiensten sei wesentlich höher als bei Einkäufen in Verkaufsstellen und Ladengeschäften. Im Unterschied zu Einkäufen seien Gottesdienste durch gezielte, auf längere Dauer ausgerichtete gemeinsame Aktivitäten geprägt, bei denen insbesondere wegen der Gleichzeitigkeit von Gebeten und Gesängen mit einem hohen Virenausstoß zu rechnen sei. Wesentliche Erwägungen der Kammer: Die Kammer hat dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung in dem oben genannten Umfang stattgegeben. Einstweiliger Rechtsschutz ist zu gewähren, weil ein Abwarten bis zum Abschluss eines Verfassungsbeschwerdeverfahrens die vom Antragsteller vor allem erstrebte Durchführung von Freitagsgebeten während des Fastenmonats Ramadan mit hoher Wahrscheinlichkeit vereiteln und ihm auf lange Zeit das gemeinsame Beten als eine wesentliche Form der Ausübung seiner Religion unmöglich machen würde, obwohl eine Verfassungsbeschwerde gegen den Ablehnungsbeschluss des Oberverwaltungsgerichts voraussichtlich Erfolg hätte. Nicht zu beanstanden ist allerdings die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, dass die Gefährdungslage bei Einkäufen und Gottesdiensten unterschiedlich zu beurteilen sein kann. Aus dem Vorbringen des Antragstellers selbst ergibt sich, dass die Einschätzung des Risikos von Infektionen durch Kontakte zwischen Personen bei der Veranstaltung von Gottesdiensten in Moscheen in größerem Umfang von den konkreten Umständen des Einzelfalles etwa hinsichtlich der Größe und Struktur der jeweiligen Glaubensgemeinschaft abhängt als bei der Erledigung von Einkäufen in Verkaufsstellen. So weist er etwa darauf hin, dass es auf die jeweils vertretene Lehre ankomme, ob beim Freitagsgebet gesungen und das Gemeinschaftsgebet von allen Gläubigen laut gesprochen werde. Außerdem macht er für seinen Fall geltend, dass ihm die Mitglieder seiner Gemeinde bekannt seien, was es ihm ermögliche, diese individuell zu jeweils einem Freitagsgebet einzuladen, wodurch Warteschlangen vor der Moschee vermieden werden könnten. Jedoch ist mit Blick auf den schwerwiegenden Eingriff in die Glaubensfreiheit, den das Verbot von Gottesdiensten in Moscheen nach dem Vorbringen des Antragstellers jedenfalls insoweit bedeutet, als auch Freitagsgebete während des Fastenmonats Ramadan erfasst sind, kaum vertretbar, dass die Verordnung keine Möglichkeit für eine ausnahmsweise Zulassung solcher Gottesdienste in Einzelfällen eröffnet, in denen bei umfassender Würdigung der konkreten Umstände – eventuell unter Hinzuziehung der zuständigen Gesundheitsbehörde – eine relevante Erhöhung der Infektionsgefahr zuverlässig verneint werden kann. Das gilt jedenfalls angesichts der derzeitigen Gefahrensituation und der sich hieran anschließenden aktuellen Strategie zur Bekämpfung der epidemiologischen Gefahren. Es ist nicht erkennbar, dass eine einzelfallbezogene positive Einschätzung in keinem Fall erfolgen kann. Das Vorbringen des Antragstellers macht deutlich, welche Möglichkeiten insoweit in Betracht kommen. Er weist darauf hin, dass in den von ihm durchgeführten Freitagsgebeten nicht gesungen werde und beim Gemeinschaftsgebet nur der Imam laut vorbete. Als Schutzvorkehrungen werden angeboten eine Pflicht der Gläubigen zum Tragen von Mund-Nasen-Schutz, die Markierung derjenigen Stellen in der Moschee, welche die Gläubigen zum Gebet einnehmen können und eine Vergrößerung des Sicherheitsabstands gegenüber den für Verkaufsstellen geltenden Vorgaben um das Vierfache, um eine gegenüber der Einkaufssituation erhöhte Infektionsgefahr durch das längere Beisammensein einer größeren Personengruppe zu vermeiden. Auch habe er nach Rücksprache mit den zuständigen theologischen Instanzen die Genehmigung erhalten, in der von ihm genutzten Moschee mehrere Freitagsgebete durchzuführen und damit die einzelnen Veranstaltungen klein zu halten. Bei einem Antrag auf ausnahmsweise Zulassung von Gottesdiensten, wie er nunmehr auch vom Antragsteller eingelegt werden kann, ist maßgeblich für die Risikoeinschätzung das Gewicht des mit dem Verbot verbundenen Eingriffs in die Glaubensfreiheit, das hier insbesondere hinsichtlich des Freitagsgebets im Fastenmonat Ramadan besonders groß ist, aber auf der anderen Seite unter anderem auch die Möglichkeit, die Einhaltung von Auflagen und Beschränkungen effektiv kontrollieren zu können, die örtlichen Gegebenheiten sowie Struktur und Größe der jeweiligen Glaubensgemeinschaft und nicht zuletzt die – gegebenenfalls auch auf die Region bezogene – aktuelle Einschätzung der von sozialen Kontakten ausgehenden Gefährdungen für Leib und Leben. Die Kammer weist abschließend darauf hin, dass Gegenstand des Beschlusses allein die Frage einer vorläufigen ausnahmsweisen Zulassung von Gottesdiensten auf der Grundlage der spezifisch dazu vorgetragenen und im gerichtlichen Verfahren erörterten konkreten Umstände ist.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT - 1 BvQ 44/20 - IM NAMEN DES VOLKES In dem Verfahren über den Antrag, im Wege der einstweiligen Anordnung dem Antragsteller zu gestatten, unter Einhaltung der Vorschriften aus den §§ 2, 8 und 9 der Niedersächsischen Verordnung zum Schutze vor Neuinfektionen mit dem Corona-Virus vom 17. April 2020 in der Fassung der Änderungsverordnung vom 24. April 2020, in der Zeit vom 1. Mai bis zum 23. Mai das Freitagsgebet in seiner Moschee … durchzuführen, Antragsteller:  F… e.V., - Bevollmächtigte: … - hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Richter Masing, Paulus, Christ gemäß § 32 Abs. 1 in Verbindung mit § 93d Abs. 2 BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 29. April 2020 einstimmig beschlossen: Das Verbot von Zusammenkünften in Kirchen, Moscheen und Synagogen sowie das Verbot von Zusammenkünften anderer Glaubensgemeinschaften zur gemeinsamen Religionsausübung in § 1 Absatz 5 Satz 1 Nummer 3 der Niedersächsischen Verordnung zum Schutz vor Neuinfektionen mit dem Corona-Virus vom 17. April 2020 in der Fassung der Änderungsverordnung vom 24. April 2020 wird insoweit vorläufig außer Vollzug gesetzt, als danach ausgeschlossen ist, auf Antrag im Einzelfall Ausnahmen von dem Verbot zuzulassen. Das Land Niedersachsen hat dem Antragsteller die notwendigen Auslagen zu erstatten. G r ü n d e : I. 1 Der Antragsteller begehrt den Erlass einer einstweiligen Anordnung, mit der ihm gestattet wird, in der Zeit vom 1. Mai bis 23. Mai 2020 unter Einhaltung der Vorschriften aus den §§ 2, 8 und 9 der Niedersächsischen Verordnung zum Schutze vor Neuinfektionen mit dem Corona-Virus vom 17. April 2020 in der Fassung der Änderungsverordnung vom 24. April 2020 das Freitagsgebet in der von ihm genutzten Moschee durchzuführen. 2 1. Der Antragsteller ist ein eingetragener Verein mit rund 1.300 Mitgliedern. Er bietet religiöse Zusammenkünfte und Gottesdienste an und beabsichtigt insbesondere in den noch ausstehenden Wochen des Fastenmonats Ramadan das Freitagsgebet in der von ihm genutzten Moschee durchzuführen. Die Niedersächsische Verordnung zum Schutze vor Neuinfektionen mit dem Corona-Virus vom 17. April 2020 in der Fassung der Änderungsverordnung vom 24. April 2020 (im Folgenden: Verordnung) enthält unter anderem folgenden Bestimmungen: § 1 (1) Jede Person hat physische Kontakte zu anderen Menschen, die nicht zu den Angehörigen des eigenen Hausstandes gehören, auf ein absolut nötiges Minimum zu reduzieren. (3) 1 Für den Publikumsverkehr und Besuche sind geschlossen: 1.Bars, Clubs, Kulturzentren, Diskotheken und ähnliche Einrichtungen, 2.Theater, Opern, Konzerthäuser, Museen und ähnliche Einrichtungen und unabhängig von der jeweiligen Trägerschaft oder von Eigentumsverhältnissen, 3.Messen, Ausstellungen, Kinos, Zoos, Freizeit- und Tierparks, Seilbahnen und Angebote von Freizeitaktivitäten, Spezialmärkte, Spielhallen, Spielbanken, Wettannahmestellen und ähnliche Einrichtungen, jeweils sowohl innerhalb als auch außerhalb von Gebäuden, 4.Prostitutionsstätten, Bordelle und ähnliche Einrichtungen, 5.öffentliche und private Sportanlagen, Schwimm- und Spaßbäder, Fitnessstudios, Saunen und ähnliche Einrichtungen, 6.alle Spielplätze einschließlich Indoor-Spielplätze, 7.alle Verkaufsstellen des Einzelhandels, einschließlich der Outlet-Center und der Verkaufsstellen in Einkaufscentern, soweit sie nicht nach § 3 Nrn. 6 und 7 zulässig sind. 2 Zulässig im Sinne von Satz 1 Nr. 7 sind auch Verkaufsstellen mit gemischtem Sortiment, das auch regelmäßig Waren umfasst, die dem Sortiment einer der in § 3 Nr. 7 Buchst. a bis t genannten Verkaufsstellen entspricht, wenn die Waren den Schwerpunkt des Sortiments bilden; bilden die betreffenden Waren nicht den Schwerpunkt des Sortiments, so ist der Verkauf nur dieser Waren zulässig. (5) 1 Verboten sind: 1.Zusammenkünfte in Vereinseinrichtungen und sonstigen Sport- und Freizeiteinrichtungen sowie die Wahrnehmung von Angeboten in Volkshochschulen, Musikschulen und sonstigen öffentlichen und privaten Bildungseinrichtungen im außerschulischen Bereich, 2.der kurzfristige Aufenthalt zu touristischen Zwecken in Zweitwohnungen, 3.Zusammenkünfte in Kirchen, Moscheen, Synagogen und die Zusammenkünfte anderer Glaubensgemeinschaften, einschließlich der Zusammenkünfte in Gemeindezentren, 4.alle öffentlichen Veranstaltungen, ausgenommen Sitzungen der kommunalen Vertretungen, Gremien, Fraktionen und Gruppen sowie des Landtages und seiner Ausschüsse, Gremien und Fraktionen. 2 Auch der Besuch der Zusammenkünfte nach Satz 1 Nrn. 1, 3 und 4 ist mit Ausnahme der Sitzungen kommunaler Vertretungen, Gremien, Fraktionen und Gruppen sowie des Landtages und seiner Ausschüsse, Gremien und Fraktionen verboten. (6) In jedem Fall bleiben mindestens bis zum Ablauf des 31. August 2020 verboten Veranstaltungen, Zusammenkünfte und ähnliche Ansammlungen von Menschen mit 1 000 oder mehr Teilnehmenden, Zuschauenden und Zuhörenden (Großveranstaltungen); auch der Besuch dieser Großveranstaltungen ist verboten. 3 2. Der Antragsteller beantragte vor dem Oberverwaltungsgericht den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 47 Abs. 6 VwGO, die es ihm und seinen Mitgliedern ermöglicht, sich unter Einhaltung der Hygienemaßnahmen nach §§ 2 und 8 der Verordnung a.F. in den Wochen vom 23. April bis 23. Mai 2020 zum Freitagsgebet in der von ihm genutzten Moschee zu treffen. 4 Er bot dabei an, dafür zu sorgen, dass die Schutzvorkehrungen eingehalten werden, nach denen Verkaufsstellen für den Publikumsverkehr geöffnet werden dürfen. Als konkrete Maßnahmen führt er an, dass zwischen den Gläubigen der Mindestabstand von 1,5 m eingehalten und dazu die Zahl der Teilnehmer am jeweiligen Freitagsgebet auf 24 reduziert werde; an sich biete die Moschee Platz für 300 Gläubige. Die Gemeindemitglieder seien ihm im Wesentlichen bekannt. Daher könne er die Gläubigen individuell zu einzelnen Freitagsgebeten einladen, wodurch Warteschlangen vor der Moschee vermieden werden könnten. Um die Einhaltung des Sicherheitsabstands zu gewährleisten, würden Bodenmarkierungen angebracht. Auch habe er nach Rücksprache mit den theologischen Instanzen die Genehmigung erhalten, mehrere Freitagsgebete an einem Freitag durchführen zu können. Vor dem Betreten der Moschee finde eine rituelle Waschung statt, die mit Seife durchgeführt werden könne. Entsprechende Waschräume stünden in der Moschee zur Verfügung. Die Gläubigen würden gebeten, einen Mundschutz zu tragen. Türgriffe und ähnliche Flächen würden desinfiziert, weiteres Desinfektionsmittel werde zur Verfügung gestellt. Die Räume würden stark durchlüftet. Erkrankte Gläubige dürften nach den Vorschriften des Islam nicht am gemeinsamen Gebet teilnehmen. Das gelte selbstverständlich auch für eine Infektion mit dem Coronavirus. Darauf werde er nochmals hinweisen. Nach der von ihm vertretenen Lehre werde im Gottesdienst nicht gesungen und werde das gemeinschaftliche Gebet nur vom Imam laut vorgetragen. 5 Das Oberverwaltungsgericht lehnte den Antrag ab (Beschluss vom 23. April 2020 - 13 MN 109/20 -). II. 6 Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. 7 1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die – hier noch zu erhebende – Verfassungsbeschwerde erwiese sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 112, 284 <291>; 121, 1 <14 f.>; stRspr). Im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nach § 32 Abs. 1 BVerfGG sind die erkennbaren Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde zu berücksichtigen, wenn ein Abwarten den Grundrechtsschutz vereitelte (vgl. BVerfGE 111, 147 <153>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 15. April 2020 - 1 BvR 828/20 - Rn. 9 f.). 8 2. Nach diesen Maßstäben ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang geboten. Eine Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts über die Ablehnung des Antrags auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nach § 47 Abs. 6 VwGO hätte voraussichtlich Erfolg. Ein Abwarten bis zum Abschluss des Verfassungsbeschwerdeverfahrens oder des Hauptsacheverfahrens würde das vom Antragsteller vorrangig verfolgte Begehren, dass sich seine Mitglieder während des Fastenmonats Ramadan zum Freitagsgebet in der von ihm genutzten Moschee versammeln können, mit hoher Wahrscheinlichkeit vereiteln und ihm auf lange Zeit das gemeinsame Beten als eine wesentliche Form der Ausübung seiner Religion unmöglich machen. Unter diesen Umständen läge in der Nichtgewährung von einstweiligem Rechtsschutz ein schwerer Nachteil für das gemeine Wohl im Sinne des § 32 Abs. 1 BVerfGG (vgl. BVerfGE 111, 147 <153>). 9 3. Das Oberverwaltungsgericht ist davon ausgegangen, dass der in der Hauptsache gemäß § 47 Abs. 1 VwGO gestellte Antrag, die Verordnung insoweit für ungültig zu erklären, als sie die Durchführung von Gottesdiensten in Moscheen auch bei Einhaltung der in §§ 2 und 8 der Verordnung a.F. genannten Hygienevorschriften untersagt, voraussichtlich unbegründet sein werde, weil das ausnahmslose Verbot nicht zu beanstanden sei. Dem kann so nicht gefolgt werden. Jedenfalls nach derzeitigem Stand der Erkenntnis und der Strategien zur Bekämpfung der epidemiologischen Gefahrenlage ist ein generelles Verbot von Gottesdiensten in Moscheen ohne die Möglichkeit, im Einzelfall und gegebenenfalls in Abstimmung mit dem Gesundheitsamt Ausnahmen unter situationsgerechten Auflagen und Beschränkungen zulassen zu können, voraussichtlich nicht mit Art. 4 GG vereinbar. 10 a) Das Oberverwaltungsgericht hat die Ablehnung des Eilantrags im Wesentlichen auf folgende Erwägungen gestützt: Nach wie vor müsse die Verbreitung der Erkrankung so gut wie möglich verlangsamt werden, um eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern. Dazu sei es notwendig, soziale Distanz zu schaffen. Zwar stelle das ausnahmslose Verbot des gemeinsamen Freitagsgebets im Fastenmonat Ramadan einen überaus schwerwiegenden Eingriff in die nach Art. 4 GG geschützte Glaubensfreiheit dar. Insbesondere im Fastenmonat Ramadan komme dem Freitagsgebet eine zentrale liturgische Bedeutung zu. Der Antragsteller habe außerdem unter Berufung auf verschiedene Koranstellen dargetan, dass nach den Regeln des Islam eine „vollwertige“ religiöse Teilnahme am Freitagsgebet die physische Anwesenheit der Gläubigen erfordere. 11 Das Verbot von Gottesdiensten in Moscheen sei zur Vermeidung von Infektionen jedoch weiterhin erforderlich. Die Annahme des Antragstellers, Moscheen könnten ebenso wie Verkaufsstätten und Ladengeschäfte bei vergleichbaren Beschränkungen und Auflagen (Einhaltung der für Verkaufsstellen geltenden Abstands- und Flächenregelung und entsprechende Begrenzung der Personenzahl mit Zutrittskontrolle, Tragen von Mund-Nasenschutz-Masken, Bereitstellung von Desinfektionsmitteln, rituelle Waschungen mit Seife) wieder geöffnet werden, könne nicht gefolgt werden. Zusammenkünfte in Moscheen hätten auch dann ein wesentlich höheres Gefährdungspotenzial als der Besuch von Verkaufsstätten und Ladengeschäften, wenn vergleichbare Schutzvorkehrungen gälten, wie sie die Verordnung für deren Öffnung vorsehe. Bei Gottesdiensten in Moscheen handele es sich im Unterschied zur Situation des Einkaufens um gezielte, auf längere Dauer ausgerichtete gemeinsame Aktivitäten, bei denen insbesondere wegen der Gleichzeitigkeit des Gebets und von Gesängen mit einem hohen Virenausstoß zu rechnen sei. Auch bestehe gerade im Fastenmonat Ramadan die Gefahr, dass wegen der Vielzahl von Gläubigen und der beengten baulichen Situation vieler Gebetsräume Kontrollen versagten und die Sicherheitsabstände ständig unterschritten würden. Daher stünden Versammlungen in Moscheen, Kirchen und Synagogen den ebenfalls nach wie vor verbotenen oder strikt beschränkten Veranstaltungen wie Konzerten, Sportveranstaltungen und Freizeitaktivitäten deutlich näher als den in wesentlich größerem Umfang zugelassenen Verkaufsstätten. Diese Bewertung teilten offenbar auch die Dachverbände der Muslime. 12 Angesichts der danach geringen Erfolgsaussichten des Normenkontrollantrags in der Hauptsache überwögen auch die für den weiteren Vollzug der Verordnung sprechenden Gründe die vom Antragsteller für die einstweilige Außervollzugsetzung genannten Gründe, obwohl damit der Schutz vor schwerwiegenden Grundrechtseingriffen vereitelt werde. Denn ohne einen weiteren Vollzug der Verordnung würde sich die Gefahr der Ansteckung mit dem Virus, der Erkrankung vieler Personen, der Überlastung der gesundheitlichen Einrichtungen bei der Behandlung schwerwiegender Fälle und schlimmstenfalls des Todes von Menschen nach derzeitigen Erkenntnissen erheblich erhöhen. 13 b) aa) Diese Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts sind zwar derzeit insoweit tragfähig, als es eine vorläufige Öffnung aller Moscheen während dieser Zeit bei ähnlichen Schutzvorkehrungen wie bei Verkaufsstätten abgelehnt hat. Das Gericht kommt zu diesem Ergebnis, obwohl es zutreffend den überaus schwerwiegenden Eingriff in die Glaubensfreiheit nach Art. 4 GG anerkennt, den der Antragsteller mit seinen Ausführungen zur Bedeutung des Freitagsgebets im Fastenmonat Ramadan plausibel dargelegt hat. Die Annahme des Oberverwaltungsgerichts ist nicht zu beanstanden, dass der Verordnungsgeber hier nicht von vergleichbar einheitlichen Umständen ausgehen musste wie bei der Erledigung von Einkäufen. Die Einschätzung des Risikos von Infektionen durch Kontakte zwischen Personen hängt bei der Veranstaltung von Gottesdiensten in Moscheen in deutlich größerem Umfang von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab. Der Antragsteller weist selbst darauf hin, dass sich der islamische Gottesdienst erheblich unterscheide, je nachdem, welche Lehre zugrunde gelegt werde. So werde nach der von ihm vertretenen Lehre, anders als bei anderen Moscheegemeinden, beim Freitagsgebet nicht gesungen und bete beim Gemeinschaftsgebet nur der Imam laut vor. Für die Risikoeinschätzung bedeutsam dürften unter anderem auch die Größe, Lage und bauliche Beschaffenheit der jeweiligen Moschee sowie Größe und Struktur der Religionsgemeinschaft sein. So macht der Antragsteller geltend, dass ihm selbst die rund 1.300 Mitglieder seiner Gemeinde im Wesentlichen bekannt seien, was es ihm ermögliche, die Gläubigen individuell zu jeweils einem Freitagsgebet einzuladen, wodurch Warteschlangen vor der Moschee vermieden werden könnten. 14 bb) Jedoch ist mit Blick auf den schwerwiegenden Eingriff in die Glaubensfreiheit, den das Verbot von Gottesdiensten in Moscheen nach dem Vorbringen des Antragstellers jedenfalls insoweit bedeutet, als auch Freitagsgebete während des Fastenmonats Ramadan erfasst sind, jedenfalls bei der derzeitigen Gefahrensituation und der sich hieran anschließenden aktuellen Strategie zur Bekämpfung der epidemiologischen Gefahren kaum vertretbar, dass die Verordnung keine Möglichkeit für eine ausnahmsweise Zulassung solcher Gottesdienste in Einzelfällen eröffnet, in denen bei umfassender Würdigung der konkreten Umstände – eventuell unter Hinzuziehung der zuständigen Gesundheitsbehörde – eine relevante Erhöhung der Infektionsgefahr zuverlässig verneint werden kann. Es ist nicht erkennbar, dass eine solche einzelfallbezogene positive Einschätzung in keinem Fall erfolgen kann. 15 Das Vorbringen des Antragstellers lässt erkennen, welche Möglichkeiten insoweit in Betracht kommen. Eine von der jeweiligen Lehre abhängige Gestaltung des Freitagsgebets und denkbare Maßnahmen zur Vermeidung von Menschenansammlungen vor der Moschee wurden bereits genannt. Der Antragsteller weist in diesem Zusammenhang ferner darauf hin, er habe nach Rücksprache mit den zuständigen theologischen Instanzen die Genehmigung erhalten, in der von ihm genutzten Moschee an Freitagen mehrere Freitagsgebete durchzuführen und damit die einzelnen Veranstaltungen sehr klein zu halten. Als weitere Maßnahmen werden genannt eine Pflicht der Gläubigen zum Tragen von Mund-Nasen-Bedeckung, die Markierung derjenigen Stellen in der Moschee, welche die Gläubigen zum Gebet einnehmen können, und eine Vergrößerung des Sicherheitsabstandes gegenüber den für Verkaufsstätten geltenden Vorgaben um das Vierfache, um eine gegenüber der Einkaufssituation erhöhte Infektionsgefahr durch das längere Beisammensein einer größeren Personengruppe zu vermeiden. 16 c) Aufgrund der aus dem Tenor dieses Beschlusses ersichtlichen vorläufigen und teilweisen Außervollzugsetzung des Verbots von Zusammenkünften in Moscheen ist nach einem entsprechenden Antrag, wie er nunmehr auch vom Antragsteller eingelegt werden kann, von der zuständigen Behörde – gegebenenfalls in Abstimmung mit der zuständigen Gesundheitsbehörde – einzelfallbezogen zu prüfen, ob ausnahmsweise bei situationsbezogen geeigneten Auflagen und Beschränkungen Gottesdienste stattfinden können, soweit eine relevante Erhöhung der Infektionsgefahr zuverlässig verneint werden kann. Maßgeblich für die Einschätzung ist auch das Gewicht des mit dem Verbot verbundenen Eingriffs in die Glaubensfreiheit, das insbesondere hinsichtlich des Freitagsgebets im Fastenmonat Ramadan besonders groß ist, aber auf der anderen Seite unter anderem auch die Möglichkeit, die Einhaltung von Auflagen und Beschränkungen effektiv zu kontrollieren, die örtlichen Gegebenheiten sowie Struktur und Größe der jeweiligen Moscheegemeinde und nicht zuletzt die – gegebenenfalls auch auf die Region bezogene – aktuelle Einschätzung der von sozialen Kontakten ausgehenden Gefährdungen von Leib und Leben. 17 Gegenstand des vorliegenden Beschlusses ist allein die Frage einer vorläufigen ausnahmsweisen Zulassung von Gottesdiensten auf der Grundlage der spezifisch dazu vorgetragenen und im gerichtlichen Verfahren erörterten konkreten Umstände. 18 4. Die Entscheidung über die Erstattung der Auslagen beruht auf § 34a Abs. 3 BVerfGG. 19 Diese Entscheidung ist unanfechtbar. Masing Paulus Christ
bundesverfassungsgericht
9-2020
6. Februar 2020
Vorlagen zum Ausschluss ausländischer Staatsangehöriger und Auszubildender von bestimmten Sozialleistungen unzulässig Pressemitteilung Nr. 9/2020 vom 6. Februar 2020 Beschlüsse vom 4. Dezember 2019 - 1 BvL 4/16 - und vom 17. Dezember 2019 - 1 BvL 6/16 - Ausländerinnen und Ausländer, die in Deutschland nicht erwerbstätig sein dürfen, sind von bestimmten existenzsichernden Sozialleistungen ausgeschlossen. Gleiches gilt für Auszubildende, deren Ausbildung im Rahmen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (BAFöG) förderungsfähig ist. Mit heute veröffentlichten Beschlüssen hat die 3. Kammer des Ersten Senats zwei Vorlagen eines Sozialgerichts zurückgewiesen, das diese Regelungen mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums für unvereinbar hielt. Das vorlegende Gericht hatte nicht erschöpfend dargelegt, dass die vorgelegten Normen in den jeweiligen Verfahren entscheidungserheblich seien, und sich insbesondere nicht mit der Möglichkeit befasst, sie verfassungskonform auszulegen. Sachverhalt: 1. Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) sind hilfebedürftige Erwerbsfähige, die das 15. Lebensjahr vollendet, das Rentenalter noch nicht erreicht und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben, berechtigt, Leistungen zur Sicherung ihrer menschenwürdigen Existenz zu erhalten. Dies ist unabhängig von der Staatsangehörigkeit, aber abhängig von ihrer Erwerbsfähigkeit und damit auch davon, ob die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt ist oder erlaubt werden kann. Ist eine Erwerbstätigkeit nach dem Aufenthaltsrecht nicht zulässig, sind auch Ansprüche auf die Leistungen ausgeschlossen. 2. Nach § 7 Abs. 5 SGB II erfasst der Leistungsausschluss hilfebedürftige erwerbsfähige Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt in Deutschland, die das 15. Lebensjahr vollendet und das Rentenalter noch nicht erreicht haben und eine nach BAFöG förderungsfähige Ausbildung machen. Dabei kommt es nur darauf an, ob die Ausbildung ihrer Art nach gefördert werden könnte, nicht aber, ob sie tatsächlich gefördert wird. 3. Im Ausgangsverfahren zu 1 BvL 4/16 klagte eine Familie auf Leistungen nach dem SGB II für die Zeit ab dem 1. November 2015. Sie sind usbekische Staatsangehörige und leben seit mehreren Jahren in Deutschland. Der Vater hat erfolgreich ein Studium abgeschlossen, mit einer Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG), und war neben und nach dem Studium erwerbstätig. Danach hatte er eine bis Mai 2017 befristete Aufenthaltserlaubnis zur Arbeitsplatzsuche nach dem Studium, die ihm auch eine Erwerbstätigkeit gestattet. Die Mutter hatte eine befristete Aufenthaltserlaubnis wegen Ehegattennachzugs. Die gemeinsame Tochter besitzt eine Aufenthaltserlaubnis aufgrund ihrer Geburt im Bundesgebiet. Die Familie erhob Klage, weil das Jobcenter die beantragten Leistungen abgelehnt hatte. 4. Die Klägerin im Ausgangsverfahren zu 1 BvL 6/16 macht einen Anspruch auf Arbeitslosengeld II geltend. Sie ist iranische Staatsangehörige, hat eine unbefristete Niederlassungserlaubnis, und lebt mit ihrem Ehemann, ebenfalls Iraner mit Niederlassungserlaubnis, in einer gemeinsamen Mietwohnung. In der Vergangenheit bezogen sie teilweise ergänzend zum Erwerbseinkommen auch Arbeitslosengeld II. Die Klägerin erhielt einen nicht vergüteten Ausbildungsplatz zur Medizinisch-technischen Radiologieassistentin und beantragte weiter Arbeitslosengeld II. Ihr Antrag auf Berufsausbildungsbeihilfe wurde abgelehnt, da eine schulische Ausbildung nach § 57 Abs. 1 SGB III nicht förderungsfähig sei. Der Antrag auf Arbeitslosengeld II wurde nach § 7 Abs. 5 und 6 SGB II abgelehnt, weil ihre Ausbildung dem Grunde nach förderungsfähig sei. Der Antrag auf Ausbildungsförderung wurde abgelehnt, da sie bei Beginn bereits das 30. Lebensjahr vollendet hatte. Darauf sah sie sich gezwungen, ihre Ausbildung abzubrechen, und erhob Klage zum Sozialgericht. Wesentliche Erwägungen der Kammer: Die Vorlagen genügen nicht den Begründungsanforderungen aus § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG. 1. Das Sozialgericht hat im Verfahren 1 BvL 4/16 zwar seine Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit der Leistungsausschlüsse dargelegt und Literatur und Rechtsprechung berücksichtigt. Doch übergeht die Vorlage mehrere Fragen zur Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten Normen, die für die verfassungsrechtliche Prüfung unverzichtbar sind und ohne deren Klärung das Bundesverfassungsgericht nicht entscheiden kann. Dargelegt wurde, dass die Eltern erwerbsfähig sind, da beide aufenthaltsrechtlich eine Beschäftigung aufnehmen durften. Ungeklärt ist jedoch, wie sich der Umstand auswirkt, dass die Aufenthaltserlaubnis erst kurz vor Antragstellung verlängert wurde und dafür gegenüber der Ausländerbehörde angegeben werden muss, über Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts zu verfügen. Dies gehört nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG zu den allgemeinen Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels. Danach müssen eigene Mittel in Höhe des monatlichen Bedarfs zur Verfügung stehen, der nach den §§ 13, 13a Abs. 1 BAföG bestimmt wird. Verfügen die Kläger jedoch über solche Mittel, wirkt sich dies auf ihre Hilfebedürftigkeit aus. Es ist dann auch entscheidungserheblich. Darüber hinaus ist nicht hinreichend dargelegt, ob die Ausschlussregelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II im Ausgangsfall entscheidungserheblich ist. Fände die insoweit relevante Rechtsprechung des Bundesozialgerichts Anwendung, wonach die Ausschlussregelungen verfassungskonform auszulegen sind, läge es zumindest nahe, dass die Kläger einen Anspruch auf Leistungen hätten. Soweit das vorlegende Gericht die verfassungskonforme Auslegung ablehnt, weil damit kein gesetzlicher Anspruch begründet werde, legt es nicht hinreichend dar, warum eine Leistung, die im Ermessen steht, nicht dem verfassungsrechtlichen Gebot genügt, die menschenwürdige Existenz im Wege gesetzlicher Ansprüche zu sichern, obwohl sich das Ermessen auf Null reduzieren kann und dann zum unmittelbaren Anspruch auf Leistung wird. Schließlich fehlen weitere fachrechtliche Darlegungen. So kann aus dem Vorlagebeschluss nicht entnommen werden, welchen aktuellen Aufenthaltsstatus die Kläger haben. 2. Auch die Vorlage im Verfahren 1 BvL 6/16 ist unzulässig, weil die Darlegungen den Anforderungen nur teilweise genügen. a) Das Sozialgericht hat die Verfassungswidrigkeit des § 7 Abs. 5 SGB II mit Blick auf Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG begründet. Es sei nicht ersichtlich, warum Personen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht zustehen solle, weil sie eine Ausbildung oder ein Studium ohne Förderung absolvierten. Es hat seine Überzeugung der Verfassungswidrigkeit im Ausgangspunkt auch hinreichend dargelegt. Doch fehlen weitere für die verfassungsrechtliche Prüfung zentrale Darlegungen. Es fehlt eine hinreichende Auseinandersetzung mit der Möglichkeit, die Regelung zum Leistungsausschluss verfassungskonform auszulegen. Soweit das vorlegende Gericht argumentiert, die Vorschrift sei unbestimmt, fehlt eine Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu unbestimmten Rechtsbegriffen. Diese wurden im Rahmen der Arbeitslosenhilfe nicht beanstandet und müssen nach ständiger Rechtsprechung auch nur so bestimmt sein, wie dies nach der Eigenart der zu regelnden Sachverhalte mit Rücksicht auf den Normzweck möglich ist, solange die Betroffenen die Rechtslage erkennen und ihr Verhalten danach einrichten können. Was daraus vorliegend folgt, erschließt sich aus der Vorlage nicht. Desgleichen fehlen Darlegungen zur Anwendung der damaligen Härtefallvorschrift des § 27 Abs. 4 SGB II. Insoweit wäre die Frage zu beantworten, was daraus folgt, wenn die vom vorlegenden Gericht geforderte Zuschussregelung die Betroffenen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch besserstellen würde als diejenigen, die im Rahmen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes Leistungen lediglich als Darlehen erhalten. b) Die Vorlage genügt den verfassungsprozessualen Darlegungsanforderungen zudem nicht, weil entscheidungserhebliche Fragen nicht thematisiert werden, deren Beantwortung in diesem konkreten Fall für die verfassungsrechtliche Prüfung unverzichtbar ist. Grundsätzlich ist ein Gericht im Rahmen einer Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG allerdings nur gehalten, das Fachrecht aufzuarbeiten, über das es auch selbst zu entscheiden hat. Richten sich die Bedenken jedoch gegen eine Vorschrift, von deren Anwendung die Entscheidung nicht allein abhängt, müssen die weiteren mit ihr im Zusammenhang stehenden Bestimmungen einbezogen werden, soweit dies zum Verständnis der zur Prüfung gestellten Norm oder zur Darlegung ihrer Entscheidungserheblichkeit erforderlich ist. Die hier vorgelegte Regelung zum Leistungsausschluss in einem System der sozialen Sicherung normiert das Verhältnis zweier Leistungssysteme zueinander, der Grundsicherung und des BAFöG. Beide sind untrennbar verzahnt. Mit dem Ausbildungsförderungsrecht befasst sich das vorlegende Gericht aber nicht. Zudem ist nicht geklärt, ob im konkreten Fall der aus § 14 SGB I folgende Beratungsanspruch verletzt sein könnte und daher ein Anspruch aus Amtshaftung oder als sozialrechtlicher Herstellungsanspruch in Betracht kommt. Das würde sich auf die Entscheidung des Ausgangsverfahrens auswirken. Hier erschließt sich aus dem fachgerichtlichen Verfahren nicht, inwiefern der Leistungsträger, der von der Entscheidung der Klägerin des Ausgangsverfahrens wusste, eine Ausbildung aufzunehmen, diese dazu aufgefordert hat. Ungeklärt ist auch, ob die Klägerin vom Träger darüber informiert worden ist, dass dann kein Leistungsanspruch mehr bestünde. Unklar bleibt schließlich, welche Rolle es hier wie auch in der Auslegung der Härtefallregelung spielt, dass die Klägerin mit Aufnahme der Ausbildung eine typische Mitwirkungsanforderung erfüllt, die im Rahmen des Sozialgesetzbuchs Zweites Buch gestellt wird.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT - 1 BvL 4/16 - In dem Verfahren zur verfassungsrechtlichen Prüfung, ob a)  § 7 Absatz 1 Satz 2 Nummer 2 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (SGB II) in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. Mai 2011 (Bundesgesetzblatt I Seite 857) mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 1 des Grundgesetzes – Sozialstaatlichkeit – und dem sich daraus ergebenden Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar ist, b)  § 7 Absatz 5 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (SGB II) in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. Mai 2011 (Bundesgesetzblatt I Seite 857), zuletzt geändert mit Wirkung zum 1. April 2012 durch Gesetz vom 20. Dezember 2011 (Bundesgesetzblatt I Seite 2917), mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 1 des Grundgesetzes – Sozialstaatlichkeit – und dem sich daraus ergebenden Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar ist. - Aussetzungs- und Vorlagebeschluss des Sozialgericht Mainz vom 18. April 2016 (S 3 AS 149/16) - hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Vizepräsidenten Harbarth und die Richterinnen Baer, Ott gemäß § 81a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 4. Dezember 2019 einstimmig beschlossen: Die Vorlage ist unzulässig. G r ü n d e : A. 1 Das Vorlageverfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG betrifft den Ausschluss von Ausländerinnen und Ausländern von bestimmten Sozialleistungen nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II und den Leistungsausschluss von Auszubildenden nach § 7 Abs. 5 SGB II, der auch Gegenstand einer weiteren Vorlage des Sozialgerichts Mainz ist (1 BvL 6/16). 2 1. Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II sind Erwerbsfähige, die das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben, die hilfebedürftig sind und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben, berechtigt, Leistungen zur Sicherung ihrer menschenwürdigen Existenz nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch zu erhalten. Dies ist unabhängig von der Staatsangehörigkeit, aber abhängig von ihrer Erwerbsfähigkeit (vgl. BSGE 102, 60 <63, Rn. 21>; Leopold, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Aufl. 2015, § 7 Rn. 79). Wer als erwerbsfähig gilt, definiert § 8 SGB II; danach können der Erwerbsfähigkeit tatsächliche wie auch rechtliche Hindernisse entgegenstehen. So muss nach § 8 Abs. 2 SGB II die Aufnahme einer Beschäftigung auch erlaubt sein oder erlaubt werden können. Für diejenigen, die nicht Deutsche im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG sind, bestimmt sich das nach dem Aufenthaltsrecht. Ist eine Erwerbstätigkeit danach nicht zulässig, sind auch Ansprüche nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch ausgeschlossen. 3 a) Das Bundessozialgericht und der Gerichtshof der Europäischen Union hatten bereits über den Leistungsausschluss in Bezug auf Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union zu entscheiden. Der Gerichtshof beanstandete den Leistungsausschluss nicht (vgl. EuGH, Urteil vom 25. Februar 2016 - C-299/14 -, ECLI:EU:C:2016:114, Garcia-Nieto; EuGH, Urteil vom 15. September 2015 - C-67/14 -, ECLI:EU:C:2015:597, Alimanovic; EuGH, Urteil vom 11. November 2014 - C-333/13 -, ECLI:EU:C:2014:2358, Dano). 4 Im Anschluss entschied das Bundessozialgericht, dass Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt oder die über kein Aufenthaltsrecht verfügen, im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch von einem Anspruch auf Leistungen ausgeschlossen seien (BSGE 120, 149). Unabhängig von einem Freizügigkeitsrecht seien davon nichterwerbstätige ehemalige Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die die elterliche Sorge für Schülerinnen und Schüler während deren Ausbildung ausübten, nicht erfasst. Sie hätten Anspruch auf Leistungen nach § 23 SGB XII, wobei das diesbezügliche Ermessen bei einem verfestigten Aufenthalt, der im Regelfall nach sechs Monaten vorliege, auf Null reduziert sei (BSGE 120, 149 <153 Rn. 44 ff.>; ebenso BSG, Urteil vom 9. August 2018 - B 14 AS 32/17 R -, Rn. 42). 5 b) Der Gesetzgeber reagierte darauf mit dem „Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch“ vom 22. Dezember 2016 (BGBl I 2016 S. 3155). Er wollte klarstellen, dass diejenigen, die kein materielles Aufenthaltsrecht aus dem FreizügigG/EU oder ein Aufenthaltsrecht allein zur Arbeitsuche oder ein Aufenthaltsrecht nur aus Art. 10 VO (EU) Nr. 492/2011 haben, von Leistungen ausgeschlossen sind (vgl. BTDrucks 18/10211, S. 3). Dagegen blieben Personen, die als Arbeitnehmer, Selbständige oder aufgrund des § 2 Abs. 3 FreizügigG/EU freizügigkeitsberechtigt sind, ergänzend leistungsberechtigt (vgl. BTDrucks 18/10211, S. 13). 6 2. Der vom Sozialgericht wie auch im Verfahren 1 BvL 6/16 dem Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 1 GG zur Prüfung vorgelegte Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 SGB II erfasst hilfebedürftige erwerbsfähige Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland, die das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben und die in Ausbildung stehen (vgl. § 7 Abs. 1 SGB II). In der Begründung zum Gesetzentwurf heißt es, die Bedarfsdeckung von Auszubildenden sei außerhalb des Sozialgesetzbuchs Zweites Buch abschließend geregelt (vgl. BTDrucks 17/3404, S. 103); die Rechtsprechung stellt vor allem darauf ab, dass die Sozialhilfe keine „versteckte“ Ausbildungsförderung auf einer „zweiten Ebene“ sei (vgl. BSG, Urteil vom 6. September 2007 - B 14/7b AS 28/06 R - juris, Rn. 25 ff.; Urteil vom 17. Februar 2016 - B 4 AS 2/15 R - juris, Rn. 23). Entscheidend ist nach der Norm allein, ob die Ausbildung ihrer Art nach gefördert werden könnte, nicht aber, ob sie tatsächlich im konkreten Fall gefördert wird. 7 3. Die klägerische Familie beansprucht Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch für die Zeit ab dem 1. November 2015. Sie sind usbekische Staatsangehörige und leben seit mehreren Jahren in Deutschland. Der Kläger zu 1) hat erfolgreich ein Studium abgeschlossen, die Klägerin zu 2) ist seine Ehefrau und beide sind die Eltern der Klägerin zu 3). Der Kläger zu 1) verfügte während seines Studiums über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) und war neben und nach Abschluss des Studiums erwerbstätig. Danach verfügte er über eine bis Mai 2017 befristete Aufenthaltserlaubnis zur Arbeitsplatzsuche nach dem Studium, die ihm auch eine Erwerbstätigkeit gestattet (§ 16 Abs. 4 AufenthG). Auch die Klägerin zu 2) verfügte über eine befristete Aufenthaltserlaubnis wegen Ehegattennachzugs (§ 30 AufenthG). Die Klägerin zu 3) besitzt eine Aufenthaltserlaubnis aufgrund ihrer Geburt im Bundesgebiet (§ 33 AufenthG). 8 Die Familie beantragte erfolglos Leistungen. Die Ablehnung erfolgte jeweils unter Verweis auf den Aufenthaltstitel. Weder bestehe ein Anspruch auf Arbeitslosengeld II noch hätten nach § 23 Abs. 3 SGB XII Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zwecke der Arbeitsuche ergebe, und deren Angehörige einen Anspruch auf Sozialhilfe. Ihr Widerspruch war erfolglos; der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz war vor dem Sozialgericht zunächst erfolgreich, wurde aber vom Landessozialgericht letztlich abgelehnt. 9 Auf die fristgerechte Klage gegen die ablehnende Entscheidung des Jobcenters setzte das Sozialgericht das Verfahren in der Hauptsache aus und legte dem Bundesverfassungsgericht die Frage zur Entscheidung vor, ob die Ausschlussregelungen in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. Mai 2011 (BGBl I S. 857) und des § 7 Abs. 5 SBG II in der Fassung dieser Bekanntmachung, zuletzt geändert mit Wirkung zum 1. April 2012 durch Gesetz vom 20. Dezember 2011 (BGBl I S. 2917), mit Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG und dem sich daraus ergebenden Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar seien. B. 10 Die Vorlage ist unzulässig. Sie entspricht nicht den Anforderungen an die Begründung aus § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG. Die Kammer hat daher nach § 81a Satz 1 BVerfGG die Unzulässigkeit der Vorlage festzustellen. 11 1. Dem Begründungserfordernis des § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG genügt ein Vorlagebeschluss nur, wenn die Ausführungen des Gerichts erkennen lassen, dass es sowohl die Entscheidungserheblichkeit der Vorschrift als auch ihre Verfassungsmäßigkeit sorgfältig geprüft hat (vgl. BVerfGE 127, 335 <355 f.>, m.w.N.). Das Gericht muss sich dabei eingehend mit der Rechtslage auseinandersetzen und die in Literatur und Rechtsprechung entwickelten Rechtsauffassungen berücksichtigen, die für die Auslegung der vorgelegten Rechtsvorschrift von Bedeutung sind (vgl. BVerfGE 65, 308 <316>; 94, 315 <323>; 97, 49 <60>; 105, 61 <67>; 121, 233 <237 f.>). Richten sich die Bedenken gegen eine Vorschrift, von deren Anwendung die Entscheidung nicht allein abhängt, müssen die weiteren mit ihr im Zusammenhang stehenden Bestimmungen in die rechtlichen Erwägungen einbezogen werden, soweit dies zum Verständnis der zur Prüfung gestellten Norm oder zur Darlegung ihrer Entscheidungserheblichkeit erforderlich ist (BVerfGE 131, 1 <15>). 12 Das vorlegende Gericht muss zudem von der Verfassungswidrigkeit der vorgelegten Norm überzeugt sein und die dafür maßgeblichen Erwägungen nachvollziehbar und erschöpfend darlegen (vgl. BVerfGE 78, 165 <171 f.>; 86, 71 <77 f.>; 88, 70 <74>; 88, 198 <201>; 93, 121 <132>). Es muss den verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab angeben, die naheliegenden tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte erörtern, sich eingehend mit der Rechtslage auseinandersetzen und die in Literatur und Rechtsprechung entwickelten Rechtsauffassungen berücksichtigen (vgl. BVerfGE 76, 100 <104>; 79, 240 <243 f.>; 85, 329 <333>; 86, 52 <57>; 86, 71 <77 f.>; 88, 187 <194>; 88, 198 <202>; 94, 315 <326>). Dazu gehört die Erörterung der in Rechtsprechung und Schrifttum vertretenen Auffassungen zu denkbaren Auslegungsmöglichkeiten (vgl. BVerfGE 85, 329 <333>; 97, 49 <60>; 105, 61 <67>), insbesondere auch der verfassungskonformen Auslegung. Das vorlegende Gericht muss diese prüfen und vertretbar begründen, weshalb sie ausgeschlossen sein soll (vgl. BVerfGE 85, 329 <333>; 121, 108 <117>). Es muss erkennbar sein, dass das vorlegende Gericht alle Möglichkeiten einer Problemlösung durch Auslegung des einfachen Rechts erwogen hat (vgl. BVerfGE 127, 335 <359 f.>; 131, 88 <117 f.>). 13 2. Dem genügen die Darlegungen des Sozialgerichts hier nicht. Es hat zwar seine Überzeugung der Verfassungswidrigkeit der Leistungsausschlüsse von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 und § 7 Abs. 5 SGB II dargelegt und in Literatur und Rechtsprechung entwickelte Rechtsauffassungen berücksichtigt. Doch übergeht die Vorlage mehrere Fragen zur Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten Normen, die für die verfassungsrechtliche Prüfung unverzichtbar sind, und ohne deren Klärung das Bundesverfassungsgericht in diesem Verfahren nicht entscheiden kann. 14 a) Das vorlegende Gericht hat dargelegt, dass der Kläger zu 1) und die Klägerin zu 2) erwerbsfähig im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II sind, da beiden die Aufnahme einer Beschäftigung als Nebenbestimmung zur Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Abs. 4 beziehungsweise § 30 AufenthG erlaubt war (§ 8 Abs. 2 Satz 1 SGB II). 15 aa) Ungeklärt ist jedoch, wie sich der Umstand auswirkt, dass die Aufenthaltserlaubnis erst kurz vor Antragstellung verlängert wurde, und dafür gegenüber der Ausländerbehörde angegeben werden muss, über Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts zu verfügen. Dies gehört nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG zu den allgemeinen Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels (vgl. BSG, Urteil vom 30. Januar 2013 - B 4 AS 37/12 R -, Rn. 23). Insoweit dürfen keine öffentlichen Mittel im Sinne des § 2 Abs. 3 AufenthG in Anspruch genommen werden; vielmehr müssen Mittel in Höhe des monatlichen Bedarfs zur Verfügung stehen, der nach den §§ 13, 13a Abs. 1 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (BAföG) bestimmt und vom Bundesministerium des Innern jährlich bekanntgemacht wird (§ 2 Abs. 3 Satz 6 AufenthG). Verfügen die Kläger jedoch über solche Mittel, wirkt sich dies auf ihre Hilfebedürftigkeit aus und ist dies insoweit entscheidungserheblich. 16 Die für den Kläger zu 1) abgegebene Verpflichtungserklärung reicht zwar für die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus. Mit ihr entsteht nach § 68 Abs. 1 AufenthG eine Verpflichtung gegenüber dem Staat (vgl. LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 9. Oktober 2015 - L 5 AS 643/15 B ER - Rn. 30 unter Bezugnahme auf BVerwGE 149, 65 <67 Rn. 8 ff.>), die Kosten für den Lebensunterhalt des Klägers zu 1) für die Dauer seines tatsächlichen Aufenthaltes zu tragen. Eine vor dem 6. August 2016 abgegebene Verpflichtungserklärung erlischt jedoch nach § 68a AufenthG nach drei Jahren, weshalb sie zum Zeitpunkt der Neuerteilung keine Wirkung mehr entfalten konnte. Sie erstreckt sich nach Angaben des vorlegenden Gerichts auch nicht auf die Klägerinnen zu 2) und 3). 17 bb) Es ist darüber hinaus nicht hinreichend begründet, dass § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II im Ausgangsfall entscheidungserheblich ist. Fände die im Ausgangsfall relevante Rechtsprechung des Bundesozialgerichts (vgl. BSG, Urteil vom 30. August 2017 - B 14 AS 31/16 R - Rn. 29, Urteil vom 9. August 2018 - B 14 AS 32/17 R -, Rn. 23) Anwendung und würden die Ausschlussregelungen entsprechend verfassungskonform ausgelegt, liegt es zumindest nahe, dass die Kläger einen Anspruch auf Leistungen hätten. Unabhängig von der umstrittenen Frage, ob eine solche verfassungskonforme Auslegung trägt, steht es nach Auffassung des Bundessozialgerichts im Ermessen der zuständigen Behörde, Leistungen nach dem dritten Kapitel des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch zu gewähren. Dieses Ermessen verdichte sich zu einem Anspruch, wenn sich der Aufenthalt von EU-Ausländern nach Ablauf von sechs Monaten tatsächlichen Aufenthalts in Deutschland verfestigt hat (vgl. BSG, Urteil vom 9. August 2018 - B 14 AS 32/17 R -, Rn. 42 unter Bezugnahme auf BSG, Urteil vom 30. August 2017 - B 14 AS 31/16 R -; BSGE 120, 149, Rn. 53 ff; BSG, Urteil vom 20. Januar 2016 - B 14 AS 35/15 R -, Rn. 44 ff.). Das vorlegende Gericht klärt aber nicht, ob dies auch für Drittstaatsangehörige wie im hiesigen Ausgangsfall gilt, und was daraus für den Leistungsanspruch folgt. 18 Soweit das vorlegende Gericht diesen Weg der verfassungskonformen Auslegung ablehnt, weil damit kein gesetzlicher Anspruch begründet werde, verkennt es die verfassungsrechtlichen Ausgangspunkte. Auch eine Leistung, die im Ermessen steht, kann dem verfassungsrechtlichen Gebot genügen, die menschenwürdige Existenz im Wege gesetzlicher Ansprüche zu sichern. Insbesondere reduziert sich das Ermessen auf Null und wird zum unmittelbaren Anspruch auf Leistung, wenn die Existenz beispielsweise in Härtefällen nur so gesichert werden kann. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums durch einen gesetzlichen Anspruch gesichert sein muss (BVerfGE 125, 175 <223>; 132, 134 <173 Rn. 96>), weil der Gesetzgeber in der Pflicht steht, die hier maßgeblichen Entscheidungen selbst zu treffen. Damit sind Ermessensleistungen im Bereich der Grundsicherung oder sonstige Öffnungsklauseln nicht von vornherein verfassungswidrig (vgl. zu § 6 AsylbLG BVerfGE 132, 134 <170 Rn. 89>); vielmehr wird zur Sicherung der menschenwürdigen Existenz darauf verwiesen, dass Verwaltung und Gerichte vorhandene Auslegungsspielräume nutzen müssen, um Bedarfe zu decken, wenn die für den Regelbedarf pauschal angesetzten knappen Summen dafür nicht genügen (vgl. BVerfGE 137, 34 <76 Rn. 84; 90 f. Rn. 116>). Ohnehin ist § 23 SGB XII nicht als Ermessensvorschrift ausgestaltet, sondern enthält in § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII eine Öffnungsklausel, die in Ausnahmefällen der Behörde Spielräume eröffnet, um Härten im Einzelfall aufzufangen. 19 cc) Hinsichtlich der Bestimmtheit der vorgelegten Regelung verkennt das Gericht, dass auch Ermessensregeln und Öffnungsklauseln den diesbezüglichen verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen müssen. Dem steht gerade nicht entgegen, wenn der Gesetzgeber der Verwaltung einen Spielraum für besonders schutzwürdige Ausnahmefälle eröffnet und die oft notwendige Flexibilität bei außergewöhnlichen Umständen schafft (vgl. BVerfGE 116, 24 <69 Rn. 54 f.>). 20 dd) Schließlich fehlen weitere fachrechtliche Darlegungen. Aus dem Vorlagebeschluss kann nicht entnommen werden, welchen aktuellen Aufenthaltsstatus die Kläger haben. Der Aufenthaltstitel nach § 16 Abs. 4 Satz 1 AufenthG wurde dem Kläger zu 1) und der Klägerin zu 2) bis zum 22. Mai 2017 erteilt. Es ist weder bekannt, ob die Titel verlängert wurden oder ein anderes Aufenthaltsrecht etwa zur Beschäftigung nach § 18 AufenthG besteht, noch ist bekannt, ob sich die Familie noch in Deutschland aufhält. Zudem ist unklar, wie sich die Einkommenssituation der Familie gestaltet und damit nicht geklärt, ob ihre Hilfebedürftigkeit fortbesteht. Auch insoweit ist nicht hinreichend dargelegt, ob die Vorlagefrage weiterhin entscheidungserheblich ist. Damit ist über die Frage, ob der Leistungsausschluss bestimmter ausländischer Staatsangehöriger gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II mit dem Grundgesetz zu vereinbaren ist, in diesem Verfahren nicht zu entscheiden. 21 b) Die Vorlage genügt auch hinsichtlich des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 5 SGB II nicht den Darlegungsanforderungen. Der Beschluss übergeht auch insoweit mehrere Fragen zur Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten Norm, die für die verfassungsrechtliche Prüfung unverzichtbar sind. Die Begründung ist nahezu identisch mit der Vorlage der Kammer im Verfahren 1 BvL 6/16, auf das insoweit verwiesen werden kann. Auch hier fehlt die Auseinandersetzung mit den über die Ausschlussregelung in Bezug genommen Regelungen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes. Zudem ist unklar, ob der Kläger zu 1) jemals Leistungen nach diesem Gesetz beantragt hat. 22 Diese Entscheidung ist unanfechtbar. Harbarth Baer Ott
bundesverfassungsgericht
89-2022
11. November 2022
Erfolglose Verfassungsbeschwerde von Eltern gegen Sorgerechtsentziehung wegen des Verdachts der Kindesmisshandlung Pressemitteilung Nr. 89/2022 vom 11. November 2022 Beschluss vom 16. September 20221 BvR 1807/20 Mit am heutigen Tag veröffentlichtem Beschluss hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts eine Verfassungsbeschwerde von Eltern nicht zur Entscheidung angenommen, denen wegen des Verdachts erheblicher Misshandlungen ihres zu den Vorfallzeitpunkten nur wenige Monate alten Kindes weite Teile des Sorgerechts entzogen wurden. Das als Beschwerdegericht zuständige Oberlandesgericht hat sich nach Einholung mehrerer medizinischer Gutachten und weiterer ärztlicher Stellungnahmen auf der Grundlage einer ausführlichen Beweiswürdigung die Überzeugung verschafft, dass sowohl der bei dem Kind festgestellte Spiralbruch eines Oberschenkels als auch der im Verhältnis zum Gesichtsschädel überdimensionierte Gehirnschädel auf körperlichen Misshandlungen im elterlichen Haushalt und nicht auf einem Unfallgeschehen oder einer Erkrankung des Kindes beruhen. Aus den in der Vergangenheit zugefügten Misshandlungen leitete das Oberlandesgericht ab, dass das Kindeswohl im elterlichen Haushalt auch zukünftig erheblich gefährdet sein werde und entzog deshalb den Eltern insbesondere das Aufenthaltsbestimmungsrecht mit einer Folge einer Fremdunterbringung des Kindes. Die Eltern sahen sich dadurch vor allem in ihrem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG verletzt, blieben mit ihrer auch darauf gestützten Verfassungsbeschwerde aber erfolglos. Sachverhalt: Die Beschwerdeführenden sind die miteinander verheirateten Eltern ihres am 29. August 2017 geborenen Kindes. Im September 2017 kam es in ihrem Haushalt zu einem nicht genau aufklärbaren Vorfall, aufgrund dessen das Kind einen Spiralbruch des rechten Oberschenkels erlitt, der operativ versorgt werden musste. Die Mutter rief deshalb einen Rettungswagen, der das Kind in ein Krankenhaus brachte. Dort wurden der Oberschenkelbruch sowie drei Hämatome am Unterschenkel festgestellt, die nach Einschätzung der behandelnden Ärzte zu Griffmarken passten. Nachdem zunächst von sorgerechtlichen Maßnahmen abgesehen worden war, wurde im November 2017 bei einer Untersuchung des Kindes festgestellt, dass der Gehirnschädel im Verhältnis zum Gesichtsschädel überdimensional war (Macrocephalie) und dass die Fontanelle vorgewölbt und gespannt war. Der Kopfumfang war bis dahin fortlaufend gemessen worden. Die Ärzte vermuteten ein Schütteltrauma und eine Misshandlung des Kindes durch die Beschwerdeführenden. Sie informierten das Jugendamt, das das Kind im Einverständnis mit den Eltern in Obhut nahm. Auch nach einer Untersuchung mittels Ultraschall und Magnetresonanztomographie (MRT) nahmen die Ärzte ein Schütteltrauma und die Einlagerung von Blut im Kopfbereich des Kindes an. Die Beschwerdeführenden erklärten, sich keinerlei Handlungen bewusst zu sein, die zu einem Schütteltrauma hätten führen können. Das Amtsgericht hatte daraufhin den Eltern weite Teil des Sorgerechts, insbesondere das Aufenthaltsbestimmungsrecht, entzogen. Die dagegen gerichtete Beschwerde der Eltern wies das Oberlandesgericht zurück. Nach seiner Prognose würde es für den Fall der Rückkehr des Kindes zu den Eltern mit hoher Wahrscheinlichkeit in überschaubarer Zeit aufgrund eines Erziehungsversagens eines Elternteils oder beider Elternteile zu einer erheblichen Schädigung der körperlichen Unversehrtheit des Kindes kommen. Die Prognose beruhe darauf, dass innerhalb der ersten drei Lebensmonate des Kindes zwei separate erhebliche Verletzungen entstanden seien, die beide Anlass für Rückschlüsse auf für die Zukunft relevante Einschränkungen der Erziehungsfähigkeit der Eltern gäben. Der Vater habe im September 2017 aufgrund groben Erziehungsversagens den rechten Oberschenkel des Kindes mit massiver Gewalt verdreht und gebrochen. Zudem sei es zwischen dem 2. Oktober und dem 14. November 2017 zu einer Einblutung zwischen harter und weicher Hirnhaut und einem Subduralhämatom gekommen. Das ursächliche Ereignis sei entweder eine massive zielgerichtete gewalttätige Einwirkung eines der Elternteile auf den Körper des Kindes oder zumindest ein Sturz des Kindes aus einer Höhe von mindestens 90 cm mit Aufprallen auf dem Kopf, den die Eltern jedenfalls bemerkt hätten, ohne die erforderliche medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Auf welche Beweismittel und sonstigen Umstände das Oberlandesgericht seine Überzeugung von den vorgenannten Vorfällen stützt, hat es im von den die Verfassungsbeschwerde führenden Eltern angegriffenen Beschluss ausführlich dargelegt. Wesentliche Erwägungen der Kammer: Die Begründung der Verfassungsbeschwerde zeigt die Möglichkeit einer Verletzung des Elternrechts der Beschwerdeführenden aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG nicht auf. 1. Das Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) garantiert den Eltern das Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Art. 6 Abs. 3 GG erlaubt eine räumliche Trennung des Kindes von seinen Eltern nur unter der strengen Voraussetzung, dass das elterliche Fehlverhalten ein solches Ausmaß erreicht, dass das Kind bei den Eltern in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet wäre. Eine solche Gefährdung des Kindes ist dann anzunehmen, wenn bei ihm bereits ein Schaden eingetreten ist oder sich eine erhebliche Gefährdung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt. Ob eine Trennung des Kindes von der Familie verfassungsrechtlich zulässig und zum Schutz der Grundrechte des Kindes verfassungsrechtlich geboten ist, hängt danach regelmäßig von einer Gefahrenprognose ab. Dem muss die Ausgestaltung des gerichtlichen Verfahrens Rechnung tragen. Das gerichtliche Verfahren muss geeignet und angemessen sein, eine möglichst zuverlässige Grundlage für die vom Gericht anzustellende Prognose über die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu erlangen. Bei dieser Prognose, ob eine solche erhebliche Gefährdung vorauszusehen ist, muss von Verfassungs wegen die drohende Schwere der Beeinträchtigung des Kindeswohls berücksichtigt werden. Je gewichtiger der zu erwartende Schaden für das Kind oder je weitreichender mit einer Beeinträchtigung des Kindeswohls zu rechnen ist, desto geringere Anforderungen müssen an den Grad der Wahrscheinlichkeit gestellt werden, mit der auf eine drohende oder erfolgte Verletzung geschlossen werden kann, und desto weniger belastbar muss die Tatsachengrundlage sein, von der auf die Gefährdung des Kindeswohl geschlossen wird. 2. Aus der Begründung der Verfassungsbeschwerde und den vorgelegten Unterlagen ergibt sich nicht, dass die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts diesen Anforderungen nicht genügt. Insbesondere werden deutliche Fehler bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhalts, die zu einer Verletzung des Rechts der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG führen können, nicht aufgezeigt. Das Oberlandesgericht hat ohne erkennbare verfassungsrechtlich relevante Fehler festgestellt, dass das Kind durch ein schweres Erziehungsversagen und eine bewusst gesteuerte Handlung des Vaters im September 2017 einen Spiralbruch des Oberschenkels und dass es durch einen weiteren Vorfall zwischen dem 2. Oktober und dem 14. November 2017 ein Subduralhämatom erlitten hat. Die Feststellung und Würdigung des Sachverhalts weisen keine deutlichen Fehler auf, aus denen eine Verletzung des Elternrechts der Beschwerdeführenden folgen könnte. Das vom Oberlandesgericht hierbei herangezogene Beweismaß ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Es hat in Übereinstimmung mit der fachrechtlichen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auf die Grundsätze der freien Beweiswürdigung nach § 286 ZPO auch im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit zurückgegriffen und als Maß für den Beweis einen Grad von Gewissheit ausreichen lassen, der Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen. Die hier vorzunehmende strenge verfassungsrechtliche Prüfung der Sachverhaltsfeststellung und -würdigung des Beschwerdegerichts gebietet keinen höheren Grad der Gewissheit. Dies liefe auf die Notwendigkeit einer in jeder Hinsicht unumstößlichen Sicherheit hinaus, die im Ergebnis praktisch unerfüllbare Anforderungen an den Beweis stellte. Angesichts der drohenden erheblichen Schädigungen des Kindeswohls sind keine erhöhten Anforderungen an die richterliche Überzeugung im Rahmen der Beweiswürdigung zu stellen. Die verfassungsrechtliche Überprüfung der Beweiswürdigung erstreckt sich auch im Fall einer nach Art. 6 Abs. 3 GG zu beurteilenden Trennung des Kindes von seinen Eltern trotz der intensiveren Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich nur darauf, ob die Feststellungen auf einer tragfähigen Grundlage beruhen und ob sie nachvollziehbar begründet sind. Ferner hat das Oberlandesgericht aufgrund der notwendigen Begehungsweise ohne erkennbare Rechtsfehler in der Beweiswürdigung festgestellt, dass der Vater zumindest in dem Bewusstsein gehandelt haben muss, dem Kind Schmerzen zuzufügen und es womöglich schwer zu verletzen, und es schließt einen bloßen ungeschickten Umgang mit dem Kind als Ursache der Verletzung nachvollziehbar aus. Es hat sich mit Hilfe der Behandlungsunterlagen, der Berichte der behandelnden Ärzte und rechtsmedizinischer Sachverständigengutachten davon überzeugt, dass es sich bei der Verletzung um einen Spiralbruch des Oberschenkels handelt, dessen Entstehung sowohl eine Drehbewegung als auch eine starke Beugung des Oberschenkels und insbesondere eine massive Gewalteinwirkung erfordert. Weiterhin schließt das Oberlandesgericht mit Hilfe der auf ihrer wissenschaftlichen Sachkunde beruhenden Ausführungen der rechtsmedizinischen Sachverständigen die von den Beschwerdeführenden vorgebrachten alternativen Geschehensabläufe wie eine Eigenbewegung des Kindes oder einen Sturz, nachdem das Kind aus den Armen gerutscht ist, in nicht zu beanstandender Weise aus. Entgegen der Behauptung der Eltern ist insoweit nicht erkennbar, dass die Ausführungen der Sachverständigen auf Vermutungen beruhen. Vielmehr stützen sich die Ausführungen ausweislich der Darstellung der Sachverständigengutachten auf die vorhandenen wissenschaftlichen Erkenntnisse über die notwendige Entstehungsweise der Verletzung, aus der die Sachverständigen ‒ und ihnen folgend das Oberlandesgericht ‒ auf die dazu erforderlichen Vorgänge schließen. Ebenso stellt das Oberlandesgericht ohne erkennbare Fehler fest, dass das Kind durch einen weiteren Vorfall zwischen dem 2. Oktober und dem 14. November 2017 ein Subduralhämatom erlitten hat und dass mindestens ein Elternteil das Verletzungsgeschehen zumindest mitbekommen haben muss. Weder die Feststellung, dass das Kind ein Subduralhämatom erlitten hat noch die Feststellung, dass diese Verletzung im vorgenannten Zeitraum erfolgt ist und dass sie durch ein Geschehen entstanden sein muss, das zumindest ein Elternteil bemerkt hat, ist verfassungsrechtlich zu beanstanden. Das Oberlandesgericht hat in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise festgestellt, dass das Kind ein Subduralhämatom erlitten hat. Es hat nachvollziehbar und unter Bezugnahme auf die verschiedenen medizinischen Sachverständigengutachten dargelegt, dass bei einer MRT-Untersuchung am 15. November 2017 ein subdurales Hygrom erkannt worden sei. Zwar hat die radiologische Sachverständige insoweit erklärt, dass aufgrund einer rein radiologischen Beurteilung nicht auf ein Subduralhämatom geschlossen werden könne, weil lediglich eine Ansammlung einer anderen Flüssigkeit als Hirnflüssigkeit radiologisch festzustellen sei. Entgegen der Ansicht der Eltern stützt das Oberlandesgericht seine Feststellung aber nicht alleine hierauf, sondern insbesondere auf die Ausführungen der rechtsmedizinischen Sachverständigen Dr. B. Aufgrund dieser Ausführungen hat das Oberlandesgericht sämtliche anderen möglichen Ursachen des subduralen Hygroms als eine vorangegangene Subduralblutung ausgeschlossen. Es hat ausführlich dargelegt, warum es eine Stoffwechselerkrankung als mögliche Ursache dieser Flüssigkeitsansammlung ausschließt. Nicht zu beanstanden ist insoweit, dass das Oberlandesgericht auf eine aufwändige, nur durch ein Labor im Ausland mögliche Untersuchung zum vollständigen Ausschluss dieser Krankheit verzichtet hat, nachdem sonstige typische Symptome dieser Krankheit nicht erkennbar sind, sowohl ein Neugeborenenscreening als auch eine molekulargenetische Untersuchung keine Hinweise auf das Vorliegen dieser Krankheit ergeben haben und die Sachverständige Dr. B. unter Bewertung aller Faktoren das Vorliegen dieser Krankheit als medizinisch ausgeschlossen angesehen hat. Mit den hier maßgeblichen strengen verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Feststellung und Würdigung ist es vereinbar, dass das Oberlandesgericht sich nicht veranlasst gesehen hat, einem behaupteten alternativen Ursachenzusammenhang nachzugehen, für dessen Vorliegen die sonstigen beanstandungsfrei gewonnenen Beweisergebnisse keine konkreten Anhaltspunkte ergeben haben. Auch die Feststellung, dass die Subduralblutung ‒ wenn nicht durch eine Misshandlung des Kindes durch starkes Schütteln ‒ zumindest durch einen schweren Unfall, insbesondere durch ein Sturzereignis aus einer Höhe von mindestens 90 cm, verursacht wurde, ist nachvollziehbar begründet und beruht auf einer hinreichenden Grundlage. Insofern hat das Oberlandesgericht mit Hilfe der medizinischen Sachverständigen die möglichen Verletzungsursachen überzeugend auf diese Möglichkeiten eingegrenzt. Angesichts dieses Hergangs der Verletzungen ist auch die Schlussfolgerung überzeugend, dass mindestens ein Elternteil das Geschehen zumindest mitbekommen hat, ohne medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT - 1 BvR 1807/20 - In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde 1.  des Herrn (…), 2.  der Frau (…), - Bevollmächtigter: (…) - gegen a)  den Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 16. Juni 2020 - 6 UF 131/18 -, b)  den Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 9. März 2020 - 6 UF 131/18 -, c)  den Beschluss des Amtsgerichts Michelstadt vom 11. Mai 2018 - 44 F 635/17 SO - hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Richterin Britz, und die Richter Christ, Radtke gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 16. September 2022 einstimmig beschlossen: Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. G r ü n d e : 1 Die Verfassungsbeschwerde betrifft den Entzug wesentlicher Teile des Sorgerechts wegen des Verdachts von erheblichen Körperverletzungen zum Nachteil des betroffenen Kindes im elterlichen Haushalt. I. 2 1. Die Beschwerdeführenden sind die miteinander verheirateten Eltern ihres am 29. August 2017 geborenen Kindes. 3 a) Am 17. September 2017 kam es im Haushalt der Beschwerdeführenden zu einem nicht genau aufklärbaren Vorfall, aufgrund dessen das Kind einen Spiralbruch des rechten Oberschenkels erlitt, der operativ versorgt werden musste. Die Beschwerdeführerin zu 2) rief deshalb einen Rettungswagen, der das Kind in ein Krankenhaus brachte. Dort wurden der Oberschenkelbruch sowie drei Hämatome am Unterschenkel festgestellt, die nach Einschätzung der behandelnden Ärzte zu Griffmarken passten. Das Jugendamt rief das Familiengericht an. Nach gewährter Hilfe zur Erziehung, die in Form einer Familienhebamme und einer Familienhilfe geleistet wurde, sah das Familiengericht von sorgerechtlichen Maßnahmen ab. 4 b) Am 14. November 2017 wurde bei einer Untersuchung des Kindes festgestellt, dass der Gehirnschädel im Verhältnis zum Gesichtsschädel überdimensional war (Macrocephalie) und dass die Fontanelle vorgewölbt und gespannt war. Der Kopfumfang war bis dahin fortlaufend gemessen worden. Die Ärzte vermuteten ein Schütteltrauma und eine Misshandlung des Kindes durch die Beschwerdeführenden. Sie informierten das Jugendamt, das das Kind im Einverständnis mit den Eltern am 16. November 2017 in Obhut nahm. Auch nach einer Untersuchung mittels Ultraschall und Magnetresonanztomographie (MRT) nahmen die Ärzte ein Schütteltrauma und die Einlagerung von Blut im Kopfbereich des Kindes an. Die Beschwerdeführenden erklärten, sich keinerlei Handlungen bewusst zu sein, die zu einem Schütteltrauma hätten führen können. Bei ärztlichen Untersuchungen am 20. Oktober und 7. November 2017 sei keine auffällige Entwicklung des Schädels festgestellt worden. 5 2. Das Jugendamt rief das Familiengericht mit dem Ziel eines Sorgerechtsentzugs an. Die Eltern stimmten der vorläufigen Fremdunterbringung des Kindes bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens zu. 6 a) Mit angegriffenem Beschluss vom 11. Mai 2018 entzog das Amtsgericht den Beschwerdeführenden das Aufenthaltsbestimmungsrecht, die Gesundheitssorge sowie das Recht zur Beantragung von Jugendhilfemaßnahmen für das Kind und übertrug diese Rechte auf das Jugendamt als Pfleger. 7 b) Die hiergegen gerichtete Beschwerde der Beschwerdeführenden wies das Oberlandesgericht mit angegriffenem Beschluss vom 9. März 2020 zurück. Es hatte im Beschwerdeverfahren insbesondere weitere rechtsmedizinische und radiologische Gutachten und ärztliche Stellungnahmen eingeholt. 8 Bei weiterer Ausübung der entzogenen Teile der elterlichen Sorge durch die Beschwerdeführenden läge eine Kindeswohlgefährdung vor, so dass die Voraussetzungen aus §§ 1666, 1666a BGB für den Entzug von Teilen der elterlichen Sorge gegeben seien. Bei einer Rückkehr des Kindes in die Familie werde es mit hoher Wahrscheinlichkeit in überschaubarer Zeit aufgrund eines Erziehungsversagens eines Elternteils oder beider Elternteile zu einer erheblichen Schädigung der körperlichen Unversehrtheit des Kindes kommen. Die Prognose beruhe darauf, dass innerhalb der ersten drei Lebensmonate des Kindes zwei separate erhebliche Verletzungen entstanden seien, die beide Anlass für Rückschlüsse auf für die Zukunft relevante Einschränkungen der Erziehungsfähigkeit der Eltern gäben. Der Beschwerdeführer zu 1) habe am 17. September 2017 aufgrund groben Erziehungsversagens den rechten Oberschenkel des Kindes mit massiver Gewalt verdreht und gebrochen (aa). Zudem sei es zwischen dem 2. Oktober und dem 14. November 2017 zu einer Einblutung zwischen harter und weicher Hirnhaut und einem Subduralhämatom gekommen. Das ursächliche Ereignis sei entweder eine massive zielgerichtete gewalttätige Einwirkung eines der Elternteile auf den Körper des Kindes oder zumindest ein Sturz des Kindes aus einer Höhe von mindestens 90 cm mit Aufprallen auf dem Kopf, den die Eltern jedenfalls bemerkt hätten, ohne die erforderliche medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen (bb). 9 aa) Der Beinbruch sei durch ein bewusstes, gesteuertes und mit erheblicher Gewalt verbundenes Verhalten des Beschwerdeführers zu 1) verursacht worden. Eine weitere konkrete Feststellung des Tatgeschehens sei nicht erforderlich, weil die familienrechtlichen Maßnahmen eine Gefahrenfeststellung, nicht aber eine strafrechtlich relevante Feststellung eines konkreten Verhaltens erforderten. Es sei von einem Verhalten auszugehen, das als bedingt vorsätzlich oder auch bewusst und grob fahrlässig zu charakterisieren sei; kinderschutzrechtlich sei es als punktuelles schweres Erziehungsversagen in einer Überforderungssituation zu sehen. Dies ergebe sich aus der Beweisaufnahme, insbesondere auch aus den verwertbaren schriftlich und mündlich erstatteten Sachverständigengutachten: 10 (1) Bereits aufgrund der ‒ in Einzelheiten wechselnden ‒ Angaben der Eltern selbst sei davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer zu 1) dem Kind die Verletzung zugefügt habe. 11 (a) So sei in einem Polizeibericht vom Abend des Vorfalls vermerkt, der Beschwerdeführer zu 1) habe angegeben, er habe das Kind gewickelt. Dabei habe er ein Knacken gehört und das Kind habe im gleichen Augenblick geschrien. Nach einem Arztbrief des Krankenhauses habe die Beschwerdeführerin zu 2) dort berichtet, sie sei im Bad gewesen, als der Beschwerdeführer zu 1) das Kind gewickelt habe. Dabei habe es im Oberschenkel „geknackst“ und sie habe den Rettungsdienst gerufen. 12 In einem Vermerk über ein im Krankenhaus geführtes Gespräch mit dem Allgemeinen sozialen Dienst des Jugendamts sei festgehalten, dass die Beschwerdeführenden berichtet hätten, der Beschwerdeführer zu 1) habe das Kind auf den Arm genommen, um es zu halten. Hierbei habe er dem Kind das Bein gebrochen. An den genauen Ablauf könne er sich nicht erinnern, er habe nur ein Knacken gehört. Die Beschwerdeführerin zu 2) sei aufgrund des Schreiens des Kindes aus der Dusche gesprungen und habe umgehend den Rettungswagen gerufen. In einem weiteren Vermerk des Jugendamts sei festgehalten, der Beschwerdeführer zu 1) habe gesagt, das Kind habe geweint, während die Mutter geduscht habe. Er habe es aus dem Bett genommen, gewickelt und hochgenommen. Dann habe es „geknackst“. Er habe die Beschwerdeführerin zu 2) gerufen, die bereits auf dem Weg zu ihm gewesen sei, und sie habe den Rettungswagen gerufen. 13 Der vorläufige Arztbrief des Krankenhauses weise aus, der Beschwerdeführer zu 1) habe mitgeteilt, das Kind auf dem Arm gehabt zu haben und sich nicht an den Ablauf erinnern zu können. 14 In einer Anhörung vor dem Amtsgericht habe der Beschwerdeführer zu 1) erklärt, er habe das Kind hochgenommen, weil es geschrien habe. Er habe es wie bisher immer im Bereich der Kniekehle festgehalten. Dann wisse er nur noch, dass er ein Knacken gehört habe. Er habe unter Schock gestanden und eine Erinnerungslücke. 15 Gegenüber der Verfahrensbeiständin habe die Beschwerdeführerin zu 2) angegeben, das Kind sei aufgewacht, während sie geduscht habe. Der Beschwerdeführer zu 1) habe es gewickelt und ihm die Flasche geben wollen. Als das Kind anders geweint habe als sonst, sei sie in den Flur gegangen, um nachzusehen. Der Beschwerdeführer zu 1) habe der Verfahrensbeiständin berichtet, er habe das Kind gewickelt und auf den Arm genommen. Plötzlich habe es geknackt. Er sei schnell zur Beschwerdeführerin zu 2) gegangen. Er habe aber keine Erinnerung an den Sachverhalt. 16 (b) Zwar wichen die zu verschiedenen Zeitpunkten abgegebenen Darstellungen des Geschehens durch die Eltern teilweise voneinander ab, jedoch sei zumindest glaubhaft, dass sich das Kind auf den Armen des Beschwerdeführers zu 1) befunden habe, als es die Verletzung erlitten habe. Hierfür spreche die von mehreren Personen berichtete Erschütterung des Beschwerdeführers zu 1) über den Vorfall, sein Rückzugsverhalten und sein Zögern, in das Krankenhaus zu fahren, während die Beschwerdeführerin zu 2) nach dem Substrat aller Darstellungen „einen kühlen Kopf“ bewahrt und Hilfe organisiert habe. 17 (2) Die vom Oberlandesgericht beauftragte Sachverständige Dr. B. und der bereits vom Amtsgericht beauftragte Sachverständige Dr. K. hätten übereinstimmend und überzeugend dargestellt, dass zum Herbeiführen der Verletzung eine erhebliche, massive Gewalteinwirkung erforderlich sei, die einen bloßen ungeschickten Umgang mit dem Kind, etwa beim Wickeln oder beim Anpacken oder Bewegen der Beine des Kindes ausschließe. Aus der notwendigen Begehungsweise sei zu schließen, dass der Beschwerdeführer zu 1) in dem Bewusstsein gehandelt haben müsse, dem Kind Schmerzen zuzufügen und es womöglich schwer zu verletzen. Die Sachverständige Dr. B. habe überzeugend dargelegt, dass der Junge vor Schmerzen geschrien haben müsse, bevor der Knochen erst durch die fortgesetzte Handlung gebrochen sei. Anhaltspunkte für einen Zustand des Kontrollverlusts lägen nicht vor, auch der vom Beschwerdeführer zu 1) aufgesuchte Psychiater bescheinige ihm, nicht krank zu sein. 18 (3) Sämtliche von den Beschwerdeführenden benannten alternativen Verursachungsmöglichkeiten seien auszuschließen. 19 (a) Das Kind könne sich die Verletzungen nicht durch eine Eigenbewegung zugezogen haben. Nach den Ausführungen der Sachverständigen Dr. K. und Dr. B. sei ein so großer Kraftaufwand für das Brechen des Knochens erforderlich, dass ein Kind in diesem Alter zu einer solchen Energieentfaltung nicht in der Lage sei. Gleichermaßen ausgeschlossen sei die Verursachung der Verletzung durch einen Sturz auf den Boden aus den Armen des Beschwerdeführers zu 1). Soweit das Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. V. diese Möglichkeit noch ausweise, habe der Mitunterzeichner dieses Gutachtens, Dr. K., in der mündlichen Gutachtenerstattung vor dem Amtsgericht eingeräumt, dass bei der Erstellung des schriftlichen Gutachtens die Röntgenbilder des Bruchs nicht zur Verfügung gestanden hätten und dass diese Ausführungen lediglich rechtsmedizinisches Lehrbuchwissen referierten. Er habe sodann überzeugend ausgeführt, dass ein Spiralbruch vorliege, der nicht mit einem Durchrutschen durch den Arm erklärbar sei. Ebenso habe die Sachverständige Dr. B. ausgeführt, es bedürfe für die Herbeiführung dieses Bruchs einer Belastung des Knochens sowohl in einer Drehbewegung als auch einer Biegungskomponente. Dies sei bei einem Sturzgeschehen allenfalls in einer solchen Weise erklärbar, dass der Beschwerdeführer zu 1) mit dem Kind stürze und mit seinem Körpergewicht auf das am Boden liegende verdrehte Bein des Kindes falle. Ein Unfallgeschehen, dass auf eine solche Entstehung des Bruches schließen lasse, sei von den Beschwerdeführenden nach den Angaben der Sachverständigen Dr. B. nicht geschildert worden. Diese Ausführungen der Sachverständigen seien nachvollziehbar und in sich schlüssig, zumal bei einem solchen Sturzgeschehen mit weiteren Verletzungen zu rechnen gewesen wäre. 20 (b) Auch der Erklärungsansatz der Beschwerdeführenden, durch die Art des Festhaltens des Kindes seitens des Beschwerdeführers zu 1) könne der Bruch beim Abrutschen des Kindes erfolgt sein, sei auszuschließen. Die Sachverständige Dr. B. habe überzeugend ausgeführt, bei dem geschilderten Ablauf sei die für einen Spiralbruch erforderliche Art und Richtung der Krafteinwirkung nicht zu erklären, zumal die geschilderte Bewegung ungewöhnlich sei. Das Bein des Kindes würde nicht brechen, wenn man das Kind am Bein hochreiße, weil der Knochen einen deutlichen Widerstand biete, bis er gebrochen werde. Die Verletzung könne auch nicht durch eine andere Handlung erklärt werden, die entweder nicht auf ein gesteuertes Verhalten zurückgeführt werden könne, nicht mit einem massiven Kraftaufwand des Beschwerdeführers zu 1) verbunden sei oder nicht im Bewusstsein der möglichen schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen für das Kind vorgenommen worden wäre. 21 (4) Diese Feststellung zum Fehlen alternativer Ursachen sei nicht mit einer Umkehr der Beweislast verbunden. Gegenstand der Feststellung im kinderschutzrechtlichen Verfahren sei nicht die Begehung oder Nichtbegehung einer Handlung, für die sich ein Beteiligter verantworten müsste, sondern das Bestehen oder Nichtbestehen einer Kindeswohlgefährdung. Das zu würdigende Elternverhalten habe akzessorische Funktion, sofern es die Anknüpfung für die Prognose dahin ermögliche, ob es in Zukunft zu einer Schädigung des Kindeswohls kommen werde. Eine hinreichend zuverlässige Entwicklungsprognose könne sich auch anhand eines lediglich in den Grundzügen umrissenen Sachverhalts und sogar in anderen Fällen beim Bestehen des bloßen Verdachts einer erfolgten Schädigungshandlung ergeben. Der Ausschluss jeder theoretischen Möglichkeit des Gegenteils einer Feststellung sei nicht zu verlangen. Es genüge in zweifelhaften Fällen ein Grad von Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen. Bei der Beurteilung einer Verursachungskette bestehe kein Anlass, von Annahmen auszugehen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten Anhaltspunkte gebiete. Eine Verursachung der Verletzung des Kindes durch ein Verhalten ohne erheblichen Kraftaufwand, ein nicht willensgesteuertes oder ein Verhalten ohne das Bewusstsein einer schweren Schädigung der körperlichen Unversehrtheit des Kindes komme nicht in Betracht. Ein entsprechender Geschehensablauf sei von den Eltern nicht benannt worden. Die einzige naturwissenschaftlich mögliche Variante, die von der Sachverständigen Dr. B. benannt worden sei, sei ein gemeinsamer Sturz mit dem Kind von einer Treppe. Diese könne ausgeschlossen werden, da es in der Wohnung der Beschwerdeführenden keine Treppe gebe. 22 bb) Aufgrund der Beweisaufnahme sei auch davon auszugehen, dass das Kind in der Zeit zwischen dem 2. Oktober und dem 14. November 2017 ein zweites Mal dadurch verletzt worden sei, dass es durch mindestens ein Sturzereignis aus einer Höhe von mindestens 90 cm ein Subduralhämatom erlitten habe und zumindest einer der Elternteile das Verletzungsgeschehen mitbekommen haben müsse. Gleichzeitig bestehe ein nicht ausgeräumter signifikanter Verdacht eines durch gewaltsames Schütteln oder eine vergleichbare körperliche Einwirkung auf das Kind durch die Beschwerdeführenden verursachten Subduralhämatoms. 23 (1) Dies sei aus dem MRT-Befund vom 15. November 2017 zu schließen, der ein subdurales Hygrom zeige, eine Ansammlung von anderer Flüssigkeit als Hirnflüssigkeit zwischen der harten und weichen Hirnhaut. Zwar habe die radiologische Sachverständige erklärt, dass aufgrund einer rein radiologischen Beurteilung lediglich festzustellen sei, dass eine andere Flüssigkeit als Hirnflüssigkeit vorhanden sei und dass allein daraus nicht auf eine Blutung geschlossen werden könne. Sie könne andere Ursachen als resorbiertes Blut, zum Beispiel Stoffwechselerkrankungen, nicht ausschließen. Eine solche Erkrankung sowie andere Ursachen für die Flüssigkeitsansammlung als ein vorangegangenes Subduralhämatom seien aber nach den überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen Dr. B. als medizinisch ausgeschlossen anzusehen. Zu erwartende weitere Symptome einer insoweit in Betracht kommenden sehr seltenen Erkrankung seien nicht zu erkennen, auch eine erfolgte molekulargenetische Untersuchung habe keine Anhaltspunkte für diese Krankheit ergeben. Das Kind sei ferner als Neugeborenes auf diese Erkrankung im Screening untersucht worden. Andere Verletzungsformen kämen aufgrund der bildgebenden Dokumentation und der Ausführungen der Sachverständigen ebenfalls nicht in Betracht. 24 (2) Es sei weiterhin auszuschließen, dass die Subduralblutung vor der Entlassung des Kindes aus dem Krankenhaus am 2. Oktober 2017 in den Haushalt der Eltern verursacht worden sei. Eine solche Blutung wäre bei der zuvor erfolgten Krankenhausbehandlung aufgefallen, zumal die Ärzte den Verdacht der Kindesmisshandlung gehegt und das Kind daher engmaschig untersucht hätten. Die als Zeugin vernommene behandelnde Ärztin habe berichtet, keine neurologischen Auffälligkeiten festgestellt zu haben. Die Angaben seien auch mit der Behandlungsdokumentation übereinstimmend. Die Verursachung einer Blutung bei der Operation des Beinbruchs oder durch blutverdünnende Medikamente sei nach den überzeugenden Angaben der Sachverständigen ausgeschlossen. Ebenso könne die Flüssigkeit auch nicht auf eine Verletzung vor dem Beinbruch, insbesondere ein Geburtstrauma, zurückgeführt werden. 25 Eine zeitliche Eingrenzung dahingehend, dass ein Mindestabstand zur MRT-Untersuchung am 15. November 2017 gegeben sein müsse, sei nach den Angaben der Sachverständigen Dr. K. und Dr. B. nicht möglich. Eine solche Eingrenzung setze den Nachweis einer frischen Blutung voraus, der hier nicht gegeben sei. Auch die in der fraglichen Zeit vorgenommenen ärztlichen Untersuchungen und ein Treffen mit der Familienhelferin sprächen nicht dagegen, dass die Blutung während der Betreuung durch die Eltern verursacht worden sei. Die Familienhelferin habe keine medizinische Ausbildung, die ärztlichen Untersuchungen beträfen nur Teilzeiträume. So habe am 7. November 2017 der letzte ärztliche Kontakt und vor dem 11. November 2017 der letzte Kontakt zur Familienhelferin vor der Untersuchung am 14. November 2017 stattgefunden. Nach den überzeugenden Angaben der Sachverständigen kämen als Ursache nur ein Schütteln oder ein schwerer Unfall, insbesondere ein Sturzereignis aus einer Höhe von mindestens 90 cm in Betracht. Ein solches Ereignis hätte von den Eltern bemerkt werden müssen und es stünde außer Frage, dass in einem solchen Falle die fehlende Inanspruchnahme medizinischer Hilfe mit einer Gesundheitsgefährdung einhergehe. 26 cc) Die vorzunehmende Prognose führe zu der Annahme einer gegenwärtigen Gefahr für Leben und körperliche Unversehrtheit des Kindes bei einer Rückkehr in den Haushalt der Eltern, die über ein noch hinzunehmendes Restrisiko hinausgehe. Ein familienpsychologisches Gutachten habe insoweit nicht eingeholt werden müssen. Maßgeblich sei die Prognose im Hinblick auf das zukünftige Verhalten zweier erwachsener Elternteile, hinsichtlich derer es keine Anhaltspunkte für psychische Erkrankungen, Persönlichkeitsstörungen, oder andere überdauernde Beeinträchtigungen gebe, die eine fachwissenschaftliche Beurteilung erforderten. Auch hätten die Eltern keine Angaben zum Hergang der Verletzungsereignisse gemacht, die als Anknüpfungspunkte für psychologische Einschätzungen dienen könnten. Vielmehr habe sich die Wiederholungsgefahr binnen acht Wochen bereits realisiert, so dass der Sachverhalt ohne weitere psychologische Feststellungen eine hinreichende Entscheidungsgrundlage biete. 27 Es bestehe die Gefahr, dass der Beschwerdeführer zu 1) oder ‒ mit geringerer Wahrscheinlichkeit ‒ die Beschwerdeführerin zu 2) dem Kind vorsätzlich oder grob fahrlässig erhebliche Verletzungen zufüge oder auch, dass es sich unfallbedingt erheblich verletze und dass der andere Elternteil oder beide Elternteile dies bemerkten, aber mit dem Ziel der Verheimlichung des Vorfalls die erforderliche Hilfe nicht holten, was mit einer erheblichen Gesundheits- und Lebensgefahr für das Kind einhergehe. In Zusammenschau dieser Prognosen sei eine hohe Wahrscheinlichkeit einer Schädigung an Leib oder Leben des Kindes in überschaubarer Zeit anzunehmen. Im Hinblick auf den Beschwerdeführer zu 1) habe der erfolgte gewalttätige Übergriff Indizfunktion im Hinblick auf eine zukünftige Schädigung. 28 Begünstigende Faktoren seien nicht ersichtlich. Insbesondere sei die Familiensituation unverändert. Der Beschwerdeführer zu 1) habe sein Fehlverhalten nicht eingeräumt und die verschiedenen Einlassungen zum Geschehen seien derart widersprüchlich, dass von einer gezielten Verschleierung und fehlender Verantwortungsübernahme auszugehen sei. Dass das Kind jetzt zweieinhalb Jahre alt sei, stehe einer Wiederholungsgefahr nicht entgegen. Es könne nicht angenommen werden, dass der Körper des Kleinkindes wesentlich weniger vulnerabel gegen Gewalteinwirkung sei, zumal eine massive Gewaltanwendung zum Brechen des Knochens erforderlich gewesen sei. Auch bei Kindern in diesem Alter könne es zu Überlastungs- und Überreaktionen der Beschwerdeführenden kommen. Daher bestehe eine hohe Gefahr eines erneuten Übergriffs des Beschwerdeführers zu 1) auf das Kind. Die Beschwerdeführerin zu 2) könne es vor einem solchen Übergriff nicht schützen. Ihr fehle die Gefahrabwendungskompetenz, was einen Erziehungsmangel darstelle. Ihr Verhalten, insbesondere die Bereitschaft, fernliegende Erklärungen wie die Vertuschung ärztlicher Kunstfehler anzunehmen, zeige, dass sie nicht zu einer realitätsnahen Gefährdungseinschätzung in der Lage sei. Die gezeigte Abwehrhaltung der Eltern im Verfahren lasse auch befürchten, dass sie bei einer unfallbedingten Verletzung des Kindes erforderliche Hilfe nicht holen würden, um das Geschehen zu verheimlichen. Der Gefährdungsprognose stünden die positiven Berichte der Familienhelferin nicht entgegen. Die Annahme einer Verletzung in einer Überforderungssituation mit anschließender Verheimlichung der Tat lasse sich mit der Fähigkeit, das Kind im Übrigen über lange Zeit gut zu versorgen, vereinbaren. 29 dd) Die Trennung des Kindes von der Familie und die Fremdunterbringung sei geeignet und erforderlich um der Gefahr zu begegnen. Angesichts der zu erwartenden Schäden sei die Maßnahme auch verhältnismäßig. Mildere Mittel seien nicht geeignet, insbesondere bei ambulanten oder teilstationären Maßnahmen sei nicht ausschließbar, dass die Eltern mit dem Kind in Stresssituationen alleine seien. Die vorgeschlagene Betreuung des Kindes durch die ehemaligen Pflegeeltern des Beschwerdeführers zu 1) sei nicht geeignet. Sie wären aufgrund ihrer Einstellung zu den leiblichen Eltern, denen sie keinerlei Erziehungsmängel zuschrieben, nicht in der Lage, das Kind adäquat zu schützen. Die Nachteile der Fremdunterbringung würden durch die Beseitigung der erheblichen Gefahr aufgewogen. Der Entzug der weiteren Teile der elterlichen Sorge neben dem Aufenthaltsbestimmungsrecht sei erforderlich. Das Recht zur Beantragung von Jugendhilfemaßnahmen könne den Eltern nicht belassen werden, weil sie sonst die Fremdunterbringung beenden könnten. Auch die Gesundheitssorge müsse entzogen werden. Bei der Fremdunterbringung sei mit medizinischem Versorgungsbedarf zu rechnen, der sofortiges Handeln erfordere. Auch ließen im Verfahren geäußerte haltlose Vorwürfe gegen Ärzte befürchten, dass die Eltern gegebenenfalls ärztlichem Rat nicht folgen würden. 30 c) Eine Anhörungsrüge der Beschwerdeführenden wies das Oberlandesgericht mit angegriffenem Beschluss vom 16. Juni 2020 als unbegründet zurück. 31 3. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde machen die Beschwerdeführenden eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 6 Abs. 2 und aus Art. 103 Abs. 1 GG geltend. 32 a) Sie wenden sich gegen die Feststellung und Würdigung des Sachverhalts durch die Fachgerichte. So rügen sie, die Annahme der Verletzung des Kindes durch eine bewusst gesteuerte Handlung des Beschwerdeführers zu 1) trotz wahrnehmbarer Schmerzensschreie des Kindes sei allein auf den medizinischen Befund gestützt. Das Oberlandesgericht übersehe dabei, dass die Sachverständigen Dr. K. und Dr. B. sich nur auf Vermutungen und nicht auf wissenschaftliche Erkenntnisse stützten. Keineswegs sei ein Unfall ausgeschlossen. Ebenso sei die Feststellung eines Subduralhämatoms nicht nachvollziehbar. Einziger Anhaltspunkt sei der MRT-Befund, der eine Ansammlung einer anderen Flüssigkeit als Hirnflüssigkeit zeige. Keiner der befragten Sachverständigen habe sich auf ein Subduralhämatom festgelegt. Wissenschaftlich gesicherte Rückschlüsse auf die Zusammensetzung der Flüssigkeit, insbesondere auf ein Subduralhämatom, lägen nicht vor. Es werde auch nicht gewürdigt, dass keinerlei Schäden vorlägen, die im Falle eines Schütteltraumas zu erwarten seien. Zudem sei die Annahme eines Sturzes aus über 90 cm Höhe schon deshalb nicht überzeugend, weil entsprechende Hämatome oder andere Verletzungen zu keinem Zeitpunkt, insbesondere nicht von der Familienhilfe, festgestellt worden seien. Festgestellt sei lediglich ein Hygrom. Zu dessen Ursachen würden allein Vermutungen angestellt. Die Schlussfolgerungen der Fachgerichte seien rein spekulativ. Mit der Gefahrenabwehrkompetenz der Eltern und der Prognose weiterer Gefahren für das Kind im elterlichen Haushalt setzten sich die Fachgerichte nicht auseinander. Die Persönlichkeit der Beschwerdeführenden werde ohne entsprechende Fachkunde bewertet. 33 b) Ihr Recht auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG sei verletzt, weil tatsächliche und rechtliche Ausführungen aus zwei Schriftsätzen nicht berücksichtigt worden seien. Ferner sei die Beschwerdeentscheidung des Oberlandesgerichts eine unzulässige Überraschungsentscheidung. Es habe in der Sache entschieden, ohne ein mit Schreiben vom 11. Dezember 2018 angekündigtes familienpsychologisches Sachverständigengutachten eingeholt zu haben. Das Oberlandesgericht habe zwar sodann mit Schreiben vom 18. November 2019 sowie im Termin vom 9. März 2020 darauf hingewiesen, dass ein solches Gutachten nicht beabsichtigt sei. Die Beschwerdeführenden hätten daraufhin aber ausgeführt, dass aufgrund der vorliegenden Erkenntnisse keine hinreichenden Schlüsse in Bezug auf ihre Erziehungsfähigkeit möglich seien. II. 34 Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil sie weder grundsätzliche Bedeutung hat noch ihre Annahme zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte der Beschwerdeführenden angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 BVerfGG). Sie ist insgesamt aus unterschiedlichen Gründen unzulässig. 35 1. Soweit sie sich gegen den Beschluss des Amtsgerichts vom 11. Mai 2018 richtet, ist sie unzulässig, weil diese Entscheidung durch die Beschwerdeentscheidung des Oberlandesgerichts prozessual überholt ist und eine isoliert verbleibende Grundrechtsverletzung weder vorgetragen noch ersichtlich ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 27. November 2020 - 1 BvR 836/20 -, Rn. 13 m.w.N.). Es mangelt daher insoweit an dem erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis. 36 2. Die Verfassungsbeschwerde gegen den die Anhörungsrüge der Beschwerdeführenden zurückweisenden Beschluss des Oberlandesgerichts vom 16. Juni 2020 ist unzulässig, weil sich aus ihrem Vortrag keine eigenständige Beschwer durch diese Entscheidung ergibt (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 20. November 2019 - 2 BvR 31/19, 2 BvR 886/19 -, Rn. 43 m.w.N.). 37 3. Soweit die Verfassungsbeschwerde gegen die Beschwerdeentscheidung des Oberlandesgerichts vom 9. März 2020 gerichtet ist, genügt ihre Begründung nicht den daran nach § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG zu stellenden Anforderungen. Die Beschwerdeführenden zeigen weder die Möglichkeit einer Verletzung ihres grundrechtsgleichen Rechts aus Art. 103 Abs. 1 GG noch eine solche ihres Elternrechts (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) in der gebotenen substantiierten Weise auf. 38 a) Die Möglichkeit einer Verletzung des Rechts der Beschwerdeführenden auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG ergibt sich aus der Begründung der Verfassungsbeschwerde nicht. 39 Die pauschale Bezugnahme auf im Verfahren eingereichte Schriftsätze genügt nicht für die Benennung von übergangenem Vortrag. Es ist insoweit nicht Sache des Bundesverfassungsgerichts, auf der Grundlage pauschaler Inbezugnahmen aus den vorgelegten Unterlagen des vorangegangenen Gerichtsverfahrens selbst Anhaltspunkte für Verfassungsverstöße herauszufinden (vgl. BVerfGE 83, 216 <228>). 40 Ebenso wenig ergeben sich aus der Begründung der Verfassungsbeschwerde Anhaltspunkte für eine unzulässige Überraschungsentscheidung. Nach ihrem eigenen Vortrag hatten die Beschwerdeführenden keinen Anlass, mit der Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens zu rechnen, nachdem das Oberlandesgericht sie schriftlich und im Termin darauf hingewiesen hatte, dass es nicht mehr beabsichtigt, ein solches Gutachten einzuholen. Im Übrigen ergibt sich aus der Verfassungsbeschwerde nicht, dass die Beschwerdeführenden bei einem entsprechenden Hinweis entscheidungserheblichen Vortrag vorgebracht hätten (vgl. BVerfGE 28, 17 <20>; 72, 122 <132>; 91, 1 <25 f.>; 112, 185 <206>). 41 b) Die Begründung der Verfassungsbeschwerde zeigt auch die Möglichkeit einer Verletzung des Elternrechts der Beschwerdeführenden aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG nicht auf. 42 aa) (1) Das Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) garantiert den Eltern das Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Der Schutz des Elternrechts erstreckt sich auf die wesentlichen Elemente des Sorgerechts (vgl. BVerfGE 84, 168 <180>; 107, 150 <173>; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 21. Juli 2022 - 1 BvR 469/20 u.a. -, Rn. 68). Art. 6 Abs. 3 GG erlaubt eine räumliche Trennung des Kindes von seinen Eltern nur unter der strengen Voraussetzung, dass das elterliche Fehlverhalten ein solches Ausmaß erreicht, dass das Kind bei den Eltern in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet wäre (vgl. BVerfGE 60, 79 <91>; 136, 382 <391 Rn. 28 f.>; stRspr). Eine solche Gefährdung des Kindes ist dann anzunehmen, wenn bei ihm bereits ein Schaden eingetreten ist oder sich eine erhebliche Gefährdung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 1. Kammer des Ersten Senats vom 10. Juni 2020 - 1 BvR 572/20 -, Rn. 22 m.w.N. und vom 21. September 2020 - 1 BvR 528/19 -, Rn. 30). Die negativen Folgen einer Trennung des Kindes von den Eltern und einer Fremdunterbringung sind dabei zu berücksichtigen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 10. Juni 2020 - 1 BvR 572/20 -, Rn. 23 m.w.N.), und diese Folgen müssen durch die hinreichend gewisse Aussicht auf Beseitigung der festgestellten Gefahr aufgewogen werden, so dass sich die Situation des Kindes in der Gesamtbetrachtung verbessert (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 23. April 2018 - 1 BvR 383/18 -, Rn. 15 ff.; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 21. September 2020 - 1 BvR 528/19 -, Rn. 30 m.w.N.). Zudem darf eine Trennung des Kindes von seinen Eltern nur unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erfolgen (vgl. BVerfGE 60, 79 <89>; stRspr). 43 (2) Dem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG kann der verfassungsrechtliche Anspruch des Kindes aus Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG auf Schutz durch den Staat gegenüberstehen, wenn die Eltern ihrer Pflege- und Erziehungsverantwortung nicht gerecht werden und wenn sie ihrem Kind den erforderlichen Schutz und die notwendige Hilfe aus anderen Gründen nicht bieten können (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. Februar 2017 - 1 BvR 2569/16 -, Rn. 39). Ist das Kindeswohl nachhaltig gefährdet, kann der Staat verfassungsrechtlich verpflichtet sein, die räumliche Trennung des Kindes von den Eltern zu veranlassen oder aufrechtzuerhalten (vgl. BVerfGE 60, 79 <91>; 72, 122 <140>; 136, 382 <391 Rn. 28>; stRspr). Bestehen Anhaltspunkte, dass dem Kind durch eine Misshandlung erhebliche, unumkehrbare Schäden drohen, insbesondere weil es in der Vergangenheit bereits zu einer solchen Misshandlung kam und die Eltern hierfür auf die ein oder andere Art als verantwortlich anzusehen sind, so verlangt ein Absehen von einer Trennung des Kindes von der Familie ein hohes Maß an Prognosesicherheit, dass dieser Schaden nicht eintreten wird. Dies schlägt sich in hohen Begründungsanforderungen einer Entscheidung nieder (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. Februar 2017 - 1 BvR 2569/16 -, Rn. 54). 44 (3) Ob eine Trennung des Kindes von der Familie verfassungsrechtlich zulässig und zum Schutz der Grundrechte des Kindes verfassungsrechtlich geboten ist, hängt danach regelmäßig von einer Gefahrenprognose ab. Dem muss die Ausgestaltung des gerichtlichen Verfahrens Rechnung tragen. Das gerichtliche Verfahren muss geeignet und angemessen sein, eine möglichst zuverlässige Grundlage für die vom Gericht anzustellende Prognose über die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu erlangen. Ob etwa Psychologen als Sachverständige hinzuzuziehen sind, um die für die Prognose notwendigen Erkenntnisse zu erlangen, muss das erkennende Gericht im Lichte seiner grundrechtlichen Schutzpflicht nach den Umständen des Einzelfalls beurteilen (vgl. BVerfGE 55, 171 <182>; BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. Februar 2017 - 1 BvR 2569/16 -, Rn. 46 und der 1. Kammer des Ersten Senats vom 12. Februar 2021 - 1 BvR 1780/20 -, Rn. 28). 45 Bei dieser Prognose, ob eine solche erhebliche Gefährdung vorauszusehen ist, muss von Verfassungs wegen die drohende Schwere der Beeinträchtigung des Kindeswohls berücksichtigt werden. Je gewichtiger der zu erwartende Schaden für das Kind oder je weitreichender mit einer Beeinträchtigung des Kindeswohls zu rechnen ist, desto geringere Anforderungen müssen an den Grad der Wahrscheinlichkeit gestellt werden, mit der auf eine drohende oder erfolgte Verletzung geschlossen werden kann (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 21. September 2020 - 1 BvR 528/19 -, Rn. 30), und desto weniger belastbar muss die Tatsachengrundlage sein, von der auf die Gefährdung des Kindeswohl geschlossen wird (vgl. zu den allgemeinen Grundsätzen der Gefahrenabwehr BVerfGE 100, 313 <392>; 113, 348 <385>). 46 (4) Die fachgerichtlichen Annahmen zu der Frage, ob diese Voraussetzungen im Einzelfall erfüllt sind, unterliegen wegen des besonderen Eingriffsgewichts einer strengen verfassungsgerichtlichen Überprüfung. Sie beschränkt sich nicht darauf, ob eine angegriffene Entscheidung Fehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des Grundrechts beruht (vgl. BVerfGE 18, 85 <93>), sondern erstreckt sich auch auf einzelne Auslegungsfehler (vgl. BVerfGE 60, 79 <91>) sowie auf deutliche Fehler bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhalts (vgl. BVerfGE 136, 382 <391 Rn. 28>). 47 bb) Aus der Begründung der Verfassungsbeschwerde und den ‒ allerdings nicht vollständig ‒ vorgelegten Unterlagen ergibt sich nicht, dass die Entscheidung des Oberlandesgerichts vom 9. März 2020 diesen Anforderungen nicht genügt. Weder werden deutliche Fehler bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhalts aufgezeigt (1) noch lässt die darauf aufbauende Auslegung und Anwendung des Fachrechts, insbesondere von §§ 1666, 1666a BGB, verfassungsrechtlich relevante Auslegungsfehler erkennen (2). 48 (1) Das Oberlandesgericht hat ohne erkennbare verfassungsrechtlich relevante Fehler festgestellt, dass das Kind durch ein schweres Erziehungsversagen und eine bewusst gesteuerte Handlung des Beschwerdeführers zu 1) am 17. September 2017 einen Spiralbruch des Oberschenkels (a) und dass es durch einen weiteren Vorfall zwischen dem 2. Oktober und dem 14. November 2017 ein Subduralhämatom (b) erlitten hat. Die Beschwerdeführenden legen auch nicht dar, dass eine weitere Sachverhaltsaufklärung, insbesondere durch Einholung eines familienpsychologischen Gutachtens, erfolgversprechend gewesen wäre (c). 49 (a) Die Feststellung, dass der Beschwerdeführer zu 1) am 17. September 2017 durch ein bewusst gesteuertes Verhalten einen Spiralbruch des rechten Oberschenkels des Kindes verursacht hat, weist bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhalts keine deutlichen Fehler auf, aus denen eine Verletzung des Elternrechts der Beschwerdeführenden folgen könnte. 50 (aa) Das vom Oberlandesgericht hierbei herangezogene Beweismaß ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Es hat in Übereinstimmung mit der fachrechtlichen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auf die Grundsätze der freien Beweiswürdigung nach § 286 ZPO auch im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit zurückgegriffen (vgl. BGHZ 184, 269 <280 f. Rn. 34>) und als Maß für den Beweis einen Grad von Gewissheit ausreichen lassen, der Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen (vgl. BGH, Urteil vom 19. Juli 2019 - V ZR 255/17 -, Rn. 27). Die hier vorzunehmende strenge verfassungsrechtliche Prüfung der Sachverhaltsfeststellung und -würdigung des Beschwerdegerichts gebietet keinen höheren Grad der Gewissheit. Dies liefe auf die Notwendigkeit einer in jeder Hinsicht unumstößlichen Sicherheit hinaus, die im Ergebnis praktisch unerfüllbare Anforderungen an den Beweis stellte (vgl. BGH, Urteil vom 19. Juli 2019 - V ZR 255/17 -, Rn. 27). Angesichts der drohenden erheblichen Schädigungen des Kindeswohls sind keine erhöhten Anforderungen an die richterliche Überzeugung im Rahmen der Beweiswürdigung zu stellen. Die verfassungsrechtliche Überprüfung der Beweiswürdigung erstreckt sich auch im Fall einer nach Art. 6 Abs. 3 GG zu beurteilenden Trennung des Kindes von seinen Eltern trotz der intensiveren Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich nur darauf, ob die Feststellungen auf einer tragfähigen Grundlage beruhen und ob sie nachvollziehbar begründet sind (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 12. Februar 2021 - 1 BvR 1780/20 -, Rn. 29, 31). 51 (bb) Das Oberlandesgericht hat in nachvollziehbarer Weise angenommen, dass sich die Verletzung ereignete, als der Beschwerdeführer zu 1) alleine mit dem Kind in einem Raum der Familienwohnung war, während sich die Beschwerdeführerin zu 2) im Bade- oder im Schlafzimmer aufhielt. Insoweit stimmen die ansonsten in vielen Punkten widersprüchlichen Aussagen der Beschwerdeführenden überein. 52 (cc) Ferner hat das Oberlandesgericht aufgrund der notwendigen Begehungsweise ohne erkennbare Rechtsfehler in der Beweiswürdigung festgestellt, dass der Beschwerdeführer zu 1) zumindest in dem Bewusstsein gehandelt haben muss, dem Kind Schmerzen zuzufügen und es womöglich schwer zu verletzen, und es schließt einen bloßen ungeschickten Umgang mit dem Kind als Ursache der Verletzung nachvollziehbar aus. Es hat sich mit Hilfe der Behandlungsunterlagen, der Berichte der behandelnden Ärzte und rechtsmedizinischer Sachverständigengutachten davon überzeugt, dass es sich bei der Verletzung um einen Spiralbruch des Oberschenkels handelt, dessen Entstehung sowohl eine Drehbewegung als auch eine starke Beugung des Oberschenkels und insbesondere eine massive Gewalteinwirkung erfordert. Weiterhin schließt das Oberlandesgericht mit Hilfe der auf ihrer wissenschaftlichen Sachkunde beruhenden Ausführungen der rechtsmedizinischen Sachverständigen die von den Beschwerdeführenden vorgebrachten alternativen Geschehensabläufe wie eine Eigenbewegung des Kindes oder einen Sturz, nachdem das Kind aus den Armen gerutscht ist, in nicht zu beanstandender Weise aus. Entgegen der Behauptung der Beschwerdeführenden ist insoweit nicht erkennbar, dass die Ausführungen der Sachverständigen auf Vermutungen beruhen. Vielmehr stützen sich die Ausführungen ausweislich der Darstellung der Sachverständigengutachten auf die vorhandenen wissenschaftlichen Erkenntnisse über die notwendige Entstehungsweise der Verletzung, aus der die Sachverständigen ‒ und ihnen folgend das Oberlandesgericht ‒ auf die dazu erforderlichen Vorgänge schließen. 53 (b) Ebenso stellt das Oberlandesgericht ohne erkennbare Fehler fest, dass das Kind durch einen weiteren Vorfall zwischen dem 2. Oktober und dem 14. November 2017 ein Subduralhämatom erlitten hat und dass mindestens ein Elternteil das Verletzungsgeschehen zumindest mitbekommen haben muss. Weder die Feststellung, dass das Kind ein Suburalhämatom erlitten hat noch die Feststellung, dass diese Verletzung zwischen dem 2. Oktober 2017 und dem 14. November 2017 erfolgt ist, und dass sie durch ein Geschehen entstanden sein muss, das zumindest ein Elternteil bemerkt hat, ist verfassungsrechtlich zu beanstanden. Deutliche Fehler bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhalts sind auch insoweit in der Verfassungsbeschwerde weder substantiiert dargelegt noch aus den beigefügten Unterlagen sonst ersichtlich. 54 (aa) Das Oberlandesgericht hat in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise festgestellt, dass das Kind ein Subduralhämatom erlitten hat. Es hat nachvollziehbar und unter Bezugnahme auf die verschiedenen medizinischen Sachverständigengutachten dargelegt, dass bei einer MRT-Untersuchung am 15. November 2017 ein subdurales Hygrom erkannt worden sei. Zwar hat die radiologische Sachverständige insoweit erklärt, dass aufgrund einer rein radiologischen Beurteilung nicht auf ein Subduralhämatom geschlossen werden könne, weil lediglich eine Ansammlung einer anderen Flüssigkeit als Hirnflüssigkeit radiologisch festzustellen sei. Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführenden stützt das Oberlandesgericht seine Feststellung aber nicht alleine hierauf, sondern insbesondere auf die Ausführungen der rechtsmedizinischen Sachverständigen Dr. B. Aufgrund dieser Ausführungen hat das Oberlandesgericht sämtliche anderen möglichen Ursachen des subduralen Hygroms als eine vorangegangene Subduralblutung ausgeschlossen. Es hat ausführlich dargelegt, warum es eine Stoffwechselerkrankung als mögliche Ursache dieser Flüssigkeitsansammlung ausschließt. Nicht zu beanstanden ist insoweit, dass das Oberlandesgericht auf eine aufwändige, nur durch ein Labor im Ausland mögliche Untersuchung zum vollständigen Ausschluss dieser Krankheit verzichtet hat, nachdem sonstige typische Symptome dieser Krankheit nicht erkennbar sind, sowohl ein Neugeborenenscreening als auch eine molekulargenetische Untersuchung keine Hinweise auf das Vorliegen dieser Krankheit ergeben haben und die Sachverständige Dr. B. unter Bewertung aller Faktoren das Vorliegen dieser Krankheit als medizinisch ausgeschlossen angesehen hat. Mit den hier maßgeblichen strengen verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Feststellung und Würdigung ist es vereinbar, dass das Oberlandesgericht sich nicht veranlasst gesehen hat, einem behaupteten alternativen Ursachenzusammenhang nachzugehen, für dessen Vorliegen die sonstigen beanstandungsfrei gewonnenen Beweisergebnisse keine konkreten Anhaltspunkte ergeben haben. 55 (bb) Ebenso weist die Feststellung, dass die Subduralblutung erst nach dem 2. Oktober 2017 aufgetreten ist, keine verfassungsrechtlich relevanten Fehler auf. Die Würdigung, dass eine vorhergehende entsprechende Verletzung ausgeschlossen ist, hat das Oberlandesgericht nachvollziehbar begründet. Es hat darauf abgestellt, dass das Kind zuvor im Krankenhaus wegen des Verdachts einer Misshandlung ausführlich untersucht worden ist, ohne dass Anzeichen für eine solche Verletzung festgestellt werden konnten, und es hat auch andere mögliche Ursachen nach Beratung durch die medizinischen Sachverständigen mit umfassender Begründung verneint. Ebenso hat es nachvollziehbar dargelegt, warum trotz der erfolgten Familienhilfe und der ärztlichen Untersuchungen in der Zwischenzeit nicht ausgeschlossen ist, dass es zu einer entsprechenden Verletzung kam, die vom Fachpersonal nicht erkannt wurde. Das findet in der tatsachengestützten Erwägung, es hätten mehrfach Zeiträume von mehreren Tagen vorgelegen, in denen weder eine ärztliche Untersuchung noch ein Besuch der ‒ ohnehin nicht medizinisch ausgebildeten ‒ Familienhelferin erfolgte, eine ausreichende Grundlage. 56 (cc) Auch die Feststellung, dass die Subduralblutung ‒ wenn nicht durch eine Misshandlung des Kindes durch starkes Schütteln ‒ zumindest durch einen schweren Unfall, insbesondere durch ein Sturzereignis aus einer Höhe von mindestens 90 cm, verursacht wurde, ist nachvollziehbar begründet und beruht auf einer hinreichenden Grundlage. Insofern hat das Oberlandesgericht mit Hilfe der medizinischen Sachverständigen die möglichen Verletzungsursachen überzeugend auf diese Möglichkeiten eingegrenzt. Angesichts dieses Hergangs der Verletzungen ist auch die Schlussfolgerung überzeugend, dass mindestens ein Elternteil das Geschehen zumindest mitbekommen hat, ohne medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen. 57 (c) Anhaltspunkte, dass die Sachverhaltsaufklärung durch das Oberlandesgericht im Übrigen unzureichend gewesen sein könnte, ergeben sich nicht aus der Begründung der Verfassungsbeschwerde. Sie sind auch sonst nicht ersichtlich. Nachvollziehbar hat das Oberlandesgericht insbesondere begründet, dass angesichts der fehlenden Angaben zum Geschehen durch die Eltern für ein familienpsychologisches Gutachten kaum hinreichende Anknüpfungspunkte vorliegen, auf denen eine psychologische Empfehlung überhaupt aufgebaut werden könnte. Dass die Beschwerdeführenden sich in einer Begutachtung weiter geöffnet und mehr Einblick in ihr Leben, insbesondere die Umstände der Verletzungen gegeben hätten, ist nicht ersichtlich. Etwas Anderes legen die Beschwerdeführenden in der Verfassungsbeschwerde auch nicht dar. 58 (2) Einzelne Fehler des Oberlandesgerichts bei Auslegung und Anwendung der §§ 1666, 1666a BGB, auf die es die getroffene Sorgerechtsentscheidung gestützt hat, zeigt die Verfassungsbeschwerde ebenfalls nicht auf. 59 Es begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, dass das Oberlandesgericht eine nachhaltige Kindeswohlgefährdung durch mögliche zukünftige Misshandlungen oder erhebliche körperliche Verletzungen des Kindes festgestellt hat, obwohl es keine konkreteren Feststellungen zu den einzelnen Verletzungshandlungen oder Versäumnissen der Beschwerdeführenden als die erfolgten treffen konnte. Wegen des auf beanstandungsfrei gewonnener tatsächlicher Grundlage prognostizierten schweren gesundheitlichen Schadens für das Kind ist der Schluss aus den festgestellten Tatsachen darauf, dass bei der Betreuung durch die Beschwerdeführenden mit ziemlicher Sicherheit mit weiteren ähnlichen Verletzungen des Kindes zu rechnen ist, verfassungsrechtlich unbedenklich. Nach den nicht zu beanstandenden Feststellungen geht das Oberlandesgericht davon aus, dass das Kind aufgrund eines schwerwiegenden Erziehungsversagens des Beschwerdeführers zu 1) durch dessen bewusstes und gesteuertes Verhalten einen Beinbruch erlitt sowie, dass durch ein hiervon unabhängiges Geschehen eine Subduralblutung entstand und die Eltern die notwendige ärztliche Versorgung nach dieser Verletzung nicht sicherstellten. Es hat somit zwei erhebliche Verletzungen des Kindes festgestellt, die innerhalb der ersten drei Lebensmonate des Kindes und während der Betreuung durch die Beschwerdeführenden erfolgten. Solche während der Betreuung durch die Eltern entstandenen Verletzungen sind hinreichende Anhaltspunkte für die Annahme der Gefahr weiterer Verletzungen des Kindes, wenn es weiterhin von den Eltern betreut wird (vgl. BVerfGK 17, 212 <219>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. Februar 2017 - 1 BvR 2569/16 -, Rn. 54). Die Beschwerdeführenden haben dabei widersprüchliche Erklärungen zu den Verletzungen abgegeben. Bei beiden Verletzungen handelt es sich um erhebliche Verletzungen, letztere ist potentiell lebensbedrohlich. Angesichts der Schwere der durch weitere Verletzungen drohenden Schäden sind verfassungsrechtlich keine weitergehenden Feststellungen zum Grad der Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts und auch keine weitergehende Konkretisierung möglicher Verletzungshandlungen geboten. 60 Die Verfassungsbeschwerde zeigt auch nicht substantiiert auf, dass die Entscheidung des Oberlandesgerichts dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht gerecht wird. Es begründet nachvollziehbar, warum mildere Mittel als die Fremdunterbringung des Kindes nicht geeignet sind, die Gefahr für das Kindeswohl in gleicher Weise abzuwehren. Die Beschwerdeführenden bringen hiergegen keine durchgreifenden Einwände vor. Angesichts der drohenden erheblichen Verletzungen des Kindes ist die Fremdunterbringung auch im Übrigen verhältnismäßig. 61 4. Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen. 62 Diese Entscheidung ist unanfechtbar. Britz Christ Radtke
bundesverfassungsgericht
40-2020
26. Mai 2020
Externe Teilung im Versorgungsausgleich ist bei verfassungskonformer Normanwendung mit dem Grundgesetz vereinbar Pressemitteilung Nr. 40/2020 vom 26. Mai 2020 Urteil vom 26. Mai 20201 BvL 5/18 Bei verfassungskonformer Anwendung ist die Regelung zur externen Teilung bestimmter Anrechte aus der betrieblichen Altersvorsorge mit den Eigentumsgrundrechten der ausgleichspflichtigen und der ausgleichsberechtigten Person vereinbar. Sie wahrt dann auch die verfassungsrechtlichen Grenzen faktischer Benachteiligung von Frauen. Dafür müssen die Gerichte den Ausgleichswert bei der Begründung des Anrechts bei einem anderen Versorgungsträger so bestimmen, dass die ausgleichsberechtigte Person keine unangemessene Verringerung ihrer Versorgungsleistungen zu erwarten hat. Der Versorgungsträger muss dabei entstehende Belastungen vermeiden können, indem ihm die Wahl der internen Teilung stets möglich bleibt. Mit dieser Begründung hat der Erste Senat mit Urteil vom heutigen Tage entschieden, dass § 17 VersAusglG mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Sachverhalt: Das Vorlageverfahren betrifft § 17 des Gesetzes über den Versorgungsausgleich (VersAusglG), der bei Ehescheidung für bestimmte Anrechte aus der betrieblichen Altersvorsorge auch ohne Zustimmung der im Versorgungsausgleich ausgleichsberechtigten Person die externe Teilung ermöglicht. Grundsätzlich wird der Versorgungsausgleich heute im Wege der sogenannten internen Teilung durchgeführt, bei der das Familiengericht für die ausgleichsberechtigte Person ein Anrecht bei dem Versorgungsträger überträgt, bei dem auch das im Versorgungsausgleich zu teilende Anrecht der ausgleichspflichtigen Person besteht. Nach § 17 VersAusglG ist hingegen auf Wunsch des Versorgungsträgers auch gegen den Willen der ausgleichsberechtigten Person die sogenannte externe Teilung vorzunehmen. Dies gilt für Anrechte aus einer Direktzusage oder einer Unterstützungskasse, sofern sie nicht die Beitragsbemessungsgrenze überschreiten. Bei der externen Teilung wird für die ausgleichsberechtigte Person ein Anrecht nicht beim Versorgungsträger der ausgleichspflichtigen Person, sondern bei einem anderen Versorgungsträger begründet. Im Zentrum des Vorlagebeschlusses stehen sogenannte Transferverluste. Diese resultieren aus der Art und Weise, wie der aktuelle Kapitalwert des Ehezeitanteils des im Versorgungsausgleich zu teilenden Anrechts berechnet wird. Der aktuelle Kapitalwert ist Grundlage des Ausgleichswerts, den der Versorgungsträger der ausgleichspflichtigen Person als Kapitalbetrag an den Versorgungsträger der ausgleichsberechtigten Person zahlen muss. Dieser vom „alten“ Versorgungsträger zu zahlende Betrag wird unter anderem ermittelt, indem der Gesamtbetrag der künftig voraussichtlich zu erbringenden Versorgungsleistungen auf den Bewertungszeitpunkt abgezinst wird. Ist dabei der Abzinsungszinssatz höher als der Zinssatz, mit dem der Zielversorgungsträger aktuell kalkuliert, wird der Zielversorgungsträger aus dem an ihn gezahlten Kapitalbetrag Anrechte regelmäßig lediglich in solcher Höhe begründen, dass die ausgleichsberechtigte Person entsprechend verringerte Versorgungsleistungen zu erwarten hat. Faktisch trifft dies ganz überwiegend die Ehefrau, nicht den Ehemann. Wesentliche Erwägungen des Senats: § 17 VersAusglG ist nicht verfassungswidrig. I. Bei verfassungskonformer Anwendung ist § 17 VersAusglG mit den Eigentumsgrundrechten der ausgleichspflichtigen und der ausgleichsberechtigten Person vereinbar und wahrt die verfassungsrechtlichen Grenzen faktischer Benachteiligung von Frauen. Die Gerichte müssen den Ausgleichswert bei der externen Teilung so bestimmen, dass die ausgleichsberechtigte Person keine unangemessene Verringerung ihrer Versorgungsleistungen zu erwarten hat. Das Gesetz belässt den Gerichten den dafür erforderlichen Entscheidungsspielraum, den die Gerichte nutzen müssen. 1. Zum einen wird beim Versorgungsausgleich das Eigentumsgrundrecht der ausgleichspflichtigen Person durch die Teilung ihrer Versorgungsrechte und -anwartschaften beschränkt. Die Beschränkung ist zwar grundsätzlich verfassungsrechtlich gerechtfertigt, weil sie dazu dient, für die ausgleichsberechtigte Person eine eigenständige Alters- und Invaliditätssicherung zu begründen. Sofern sich allerdings die Kürzung nicht annähernd spiegelbildlich im Erwerb eines Anrechts durch die ausgleichsberechtigte Person auswirkt, kann dies jedoch zur Verfassungswidrigkeit führen. 2. Auch das Eigentumsgrundrecht der ausgleichsberechtigten Person wird durch die externe Teilung beschränkt. Auch diese Beschränkung bedarf besonderer Rechtfertigung, wenn die ausgleichsberechtigte Person infolge externer Teilung mit niedrigeren Versorgungsleistungen rechnen muss als die Kürzung auf Seiten der ausgleichspflichtigen Person beträgt und als sie selbst erhielte, wenn auch ihr ein Anrecht durch interne Teilung beim ursprünglichen Versorger übertragen würde. 3. Wenn die externe Teilung nach § 17 VersAusglG bei unterstellt identischen biometrischen Faktoren dazu führt, dass die aus dem neu begründeten Anrecht erwartbaren Versorgungsleistungen im Vergleich zum Ertrag bei interner Teilung und im Vergleich zur Kürzung des Anrechts der ausgleichspflichtigen Person verringert ist, bedarf dies also eigener Rechtfertigung sowohl gegenüber der ausgleichspflichtigen Person als auch gegenüber der ausgleichsberechtigten Person. Im Ergebnis kann die externe Teilung nach § 17 VersAusglG jedoch in verfassungskonformer Weise durchgeführt werden. a) Es dient verfassungsrechtlich legitimen Zwecken, die externe Teilung der in § 17 VersAusglG genannten Anrechte (Betriebsrenten aus einer Direktzusage oder Unterstützungskasse) auch über die Wertgrenze des § 14 Abs. 2 Nr. 2 VersAusglG hinaus zu erlauben. Die Regelung zielt darauf ab, Arbeitgeber, die eine Zusage betrieblicher Altersversorgung in Gestalt einer Direktzusage oder aus einer Unterstützungskasse erteilt haben, davor zu schützen, weitere Personen in ihre Versorgung aufnehmen zu müssen, die sie nicht selbst als Vertragspartner ausgewählt haben. Mittelbar dient die Regelung des § 17 VersAusglG zudem der Förderung der betrieblichen Altersvorsorge. Diese als zweite Säule der sozialen Absicherung im Alter zu unterstützen, ist ein legitimes Ziel des Gesetzgebers. b) Bei der Durchführung der externen Teilung sind die gegenläufigen Interessen angemessen in Ausgleich zu bringen. aa) In die Abwägung einzustellen sind auf der einen Seite neben den Eigentumsgrundrechten der ausgleichsberechtigten und der ausgleichspflichtigen Person auch die verfassungsrechtlichen Grenzen faktischer Benachteiligung von Frauen. Denn das Grundgesetz steht auch solchen Regelungen entgegen, die neutral formuliert und auch nicht verdeckt auf Benachteiligung ausgerichtet sind, jedoch tatsächlich ganz überwiegend Frauen benachteiligen. Auf der anderen Seite ist das berechtigte Interesse von Arbeitgebern zu berücksichtigen, im Fall der Zusage einer betrieblichen Altersversorgung im Wege der Direktzusage oder der Unterstützungskasse von zusätzlichen Lasten interner Teilung verschont zu bleiben, zugleich aber im Rahmen der externen Teilung lediglich aufwandsneutralen Kapitalabfluss hinnehmen zu müssen. Dabei dürfen die Nachteile der externen Teilung nicht um jeden Preis auf die ausgleichsberechtigte Person verlagert werden. bb) Der einseitigen Belastung der ausgleichsberechtigten Person sind – zumal wegen der Aufteilung von familienbezogener und berufsbezogener Tätigkeit zwischen den Ehepartnern überwiegend Frauen ausgleichsberechtigt und von den Nachteilen externer Teilung betroffen sind – enge Grenzen gesetzt. Das vorlegende Oberlandesgericht hat die Grenze bei einer Abweichung der Zielversorgung von der Ausgangsversorgung um mehr als 10 % gesehen. Dagegen ist verfassungsrechtlich nichts einzuwenden. Zwar mag – je nach Zinsentwicklung – die Begrenzung der Leistungsverminderung bei externer Teilung nach § 17 VersAusglG auf maximal 10 % dazu führen, dass Ausgleichswerte in einer Höhe festgesetzt werden, die der Arbeitgeber nicht aufwandsneutral an den Zielversorger leisten kann. Wenn der Arbeitgeber den Aufwand der Zahlung eines entsprechenden Kapitalbetrags vermeiden will, kann er jedoch die interne Teilung nach § 10 VersAusglG wählen, was ihm nach § 17 VersAusglG immer möglich bleibt und auch im gerichtlichen Verfahren sichergestellt werden muss. c) § 17 VersAusglG hindert die Gerichte nicht daran, den Versorgungsausgleich im Fall externer Teilung in verfassungsgemäßer Weise zu regeln und lässt insbesondere eine Festsetzung des Ausgleichswerts zu, die erwartbare verfassungswidrige Effekte der externen Teilung vermeidet. Ob die Grundrechte der Ausgleichsberechtigten gewahrt sind, ist daher eine Frage der gerichtlichen Norm-anwendung im Einzelfall. Zwar unterbreitet der Versorgungsträger dem Familiengericht einen Vorschlag für die Bestimmung des Ausgleichswerts. Dieser Vorschlag ist jedoch nicht bindend. Kann aus dem vom Arbeitgeber vorgeschlagenen Ausgleichswert weder bei dem gewählten Zielversorger noch bei der aufnahmeverpflichteten Versorgungsausgleichskasse noch bei der aufnahmebereiten gesetzlichen Rentenversicherung eine den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügende Versorgung begründet werden, muss das Familiengericht den Ausgleichswert so anpassen, dass Transferverluste, die außer Verhältnis zu den Vorteilen der externen Teilung stehen, vermieden werden. d) Dem Arbeitgeber muss dabei die Möglichkeit bleiben, angesichts des gerichtlich bestimmten Ausgleichsbetrags doch die interne Teilung zu wählen. II. Die Vorlage macht auch eine Verletzung des Halbteilungsgrundsatzes geltend. Die Frage der hälftigen Aufteilung von Anrechten zwischen den Geschiedenen betrifft jedoch allein deren Verhältnis, nicht aber den in § 17 VersAusglG angelegten Interessenausgleich im Verhältnis zwischen ausgleichsberechtigter Person und Arbeitgeber. Der auf Gleichheit im Innenverhältnis der Geschiedenen gerichtete Halbteilungsgrundsatz bietet dafür keinen geeigneten Maßstab. III. Auch am allgemeinen Gleichheitssatz gemessen ist § 17 VersAusglG verfassungsgemäß. Die Regelung benachteiligt zwar Inhaber von Versorgungsanrechten aus Direktzusage und Unterstützungskasse gegenüber Inhabern sonstiger betrieblicher Versorgungsanrechte, die eine einseitig verlangte externe Teilung nur in den deutlich geringeren Wertgrenzen des § 14 VersAusglG hinzunehmen haben. Zudem benachteiligt § 17 VersAusglG Inhaber von Versorgungsanrechten, die sich innerhalb der Wertgrenze des § 17 VersAusglG halten und daher eine externe Teilung hinnehmen müssen, gegenüber jenen, deren Anrechte die Wertgrenze des § 17 VersAusglG überschreiten und daher intern geteilt werden. Beides ist jedoch bei verfassungskonformer Anwendung zu rechtfertigen. Auch insoweit kommt es auf die Rechtsanwendung durch die Gerichte an.
Leitsätze zum Urteil des Ersten Senats vom 26. Mai 2020 - 1 BvL 5/18 - Versorgungsausgleich ‒ Externe Teilung Der Versorgungsausgleich kann verfassungswidrig sein, wenn bei der verpflichteten Person eine Kürzung des Anrechts erfolgt, ohne dass sich dies entsprechend im Erwerb eines selbständigen Anrechts für die berechtigte Person auswirkt. Transferverluste aufgrund externer Teilung können zur Zweckverfehlung der Kürzung des Anrechts und damit zu deren Verfassungswidrigkeit führen (Klarstellung zu BVerfGE 53, 257 <302 f.>; 136, 152 <169 ff. Rn. 40 ff.>). Art. 14 Abs. 1 GG schützt bei dem Versorgungsausgleich neben der ausgleichspflichtigen Person auch die ausgleichsberechtigte Person selbst. Transferverluste aufgrund externer Teilung sind auch an ihrem Eigentumsgrundrecht zu messen. Bei der gerichtlichen Festsetzung des für die externe Teilung nach § 17 VersAusglG maßgeblichen Ausgleichswerts ist neben den Grundrechten der ausgleichsberechtigten und der ausgleichspflichtigen Person das Interesse des Arbeitgebers in die Abwägung einzustellen, extern teilen zu können, zugleich aber im Rahmen der externen Teilung lediglich aufwandsneutralen Kapitalabfluss hinnehmen zu müssen. Das Grundgesetz steht auch solchen Regelungen entgegen, die neutral formuliert und auch nicht verdeckt auf Benachteiligung ausgerichtet sind, jedoch tatsächlich ganz überwiegend Frauen benachteiligen. Von nachteiligen Effekten externer Teilung sind wegen der überwiegenden Aufteilung von familienbezogener und berufsbezogener Tätigkeit zwischen den Ehepartnern weit mehr Frauen als Männer betroffen. Solche faktischen Benachteiligungen können nur gerechtfertigt werden, wenn dafür hinreichend gewichtige Gründe bestehen. Es ist Aufgabe der Gerichte, bei Durchführung des Versorgungsausgleichs im Wege externer Teilung nach § 17 VersAusglG den als Kapitalbetrag zu zahlenden Ausgleichswert so festzusetzen, dass die Grundrechte aller beteiligten Personen gewahrt sind. Verkündet am 26. Mai 2020 Sommer Amtsinspektorin als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle BUNDESVERFASSUNGSGERICHT - 1 BvL 5/18 - IM NAMEN DES VOLKES In dem Verfahren zur verfassungsrechtlichen Prüfung, ob § 17 des Gesetzes über den Versorgungsausgleich vom 3. April 2009 (Bundesgesetzblatt I Seite 700) verfassungsgemäß ist - Aussetzungs- und Vorlagebeschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 9. Oktober 2018 (II-10 UF 178/17, nunmehr: II-12 UF 12/19) - hat das Bundesverfassungsgericht ‒ Erster Senat ‒ unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter Vizepräsident Harbarth, Masing, Paulus, Baer, Britz, Ott, Christ, Radtke aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 10. März 2020 durch Urteil für Recht erkannt: § 17 des Gesetzes über den Versorgungsausgleich vom 3. April 2009 (Bundesgesetzblatt I Seite 700) ist mit dem Grundgesetz vereinbar. G r ü n d e : A. 1 Das Vorlageverfahren betrifft § 17 des Gesetzes über den Versorgungsausgleich (VersAusglG), der bei Ehescheidung für bestimmte Anrechte aus der betrieblichen Altersvorsorge auch ohne Zustimmung der im Versorgungsausgleich ausgleichsberechtigten Person die externe Teilung ermöglicht. Bei der externen Teilung wird für die ausgleichsberechtigte Person ein Anrecht nicht beim Versorgungsträger der ausgleichspflichtigen Person, sondern bei einem anderen Versorgungsträger begründet. I. 2 1. Der Versorgungsausgleich hat die Aufgabe, im Falle einer Scheidung die von den Eheleuten während der Ehe erworbenen Anrechte auf eine Versorgung wegen Alters oder Invalidität aufzuteilen. Der im Jahr 1977 mit der grundlegenden Neufassung des Eherechts durch das Erste Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts eingeführte Versorgungsausgleich ist seit der Reform im Jahr 2009 im Gesetz über den Versorgungsausgleich geregelt. § 17 VersAusglG wurde im Zuge dieser Reform eingeführt. Die Reform zielte auf eine gerechtere Teilhabe an dem in der Ehe erworbenen Vorsorgevermögen, indem Anrechte nunmehr grundsätzlich systemintern, das heißt beim Versorgungsträger der ausgleichspflichtigen Person, geteilt werden. Das gilt auch für Anrechte aus der betrieblichen Altersvorsorge. Davon sollen vor allem Frauen profitieren, die nach wie vor während der Ehe häufig aufgrund von Kinderbetreuungszeiten nicht selbst in der Lage sind, entsprechende, nicht nur geringfügige eigenständige Versorgungsansprüche zu erwerben. Durch die interne Teilung sollten Transferverluste und Wertverzerrungen vermieden werden, die sich aufgrund der bis dahin geltenden Ausgleichsregelungen ergeben hatten (vgl. zu alledem BTDrucks 16/10144, S. 1 f., 29 f.). 3 2. Nach § 9 Abs. 2 VersAusglG hat die interne Teilung heute grundsätzlich Vorrang vor der externen Teilung. Bei der internen Teilung überträgt das Familiengericht nach § 10 Abs. 1 VersAusglG für die ausgleichsberechtigte Person zulasten des Anrechts der ausgleichspflichtigen Person ein Anrecht bei dem Versorgungsträger, bei dem auch das Anrecht der ausgleichspflichtigen Person besteht. Gemäß § 14 Abs. 2 Nr. 2 VersAusglG kann ein Versorgungsträger jedoch abweichend vom Grundsatz interner Teilung in engen Wertgrenzen ohne die Zustimmung der ausgleichsberechtigten Person die externe Teilung verlangen. Bei der externen Teilung wird für die ausgleichsberechtigte Person ein Anrecht bei einem anderen Versorgungsträger begründet (§ 14 Abs. 1 VersAusglG). Der Versorgungsträger der ausgleichspflichtigen Person hat dafür den Ausgleichswert als Kapitalbetrag an diesen anderen Versorgungsträger zu zahlen (§ 14 Abs. 4 VersAusglG). 4 § 14 VersAusglG lautet wie folgt: (1) Das Familiengericht begründet für die ausgleichsberechtigte Person zulasten des Anrechts der ausgleichspflichtigen Person ein Anrecht in Höhe des Ausgleichswerts bei einem anderen Versorgungsträger als demjenigen, bei dem das Anrecht der ausgleichspflichtigen Person besteht (externe Teilung). (2) Eine externe Teilung ist nur durchzuführen, wenn 1. die ausgleichsberechtigte Person und der Versorgungsträger der ausgleichspflichtigen Person eine externe Teilung vereinbaren oder 2. der Versorgungsträger der ausgleichspflichtigen Person eine externe Teilung verlangt und der Ausgleichswert am Ende der Ehezeit bei einem Rentenbetrag als maßgeblicher Bezugsgröße höchstens 2 Prozent, in allen anderen Fällen als Kapitalwert höchstens 240 Prozent der monatlichen Bezugsgröße nach § 18 Abs. 1 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch beträgt. (3) § 10 Abs. 3 gilt entsprechend. (4) Der Versorgungsträger der ausgleichspflichtigen Person hat den Ausgleichswert als Kapitalbetrag an den Versorgungsträger der ausgleichsberechtigten Person zu zahlen. (5) Eine externe Teilung ist unzulässig, wenn ein Anrecht durch Beitragszahlung nicht mehr begründet werden kann. 5 Der hier zur Überprüfung gestellte § 17 VersAusglG enthält eine Sonderregelung zur externen Teilung von betrieblichen Anrechten aus einer Direktzusage oder einer Unterstützungskasse. Bei solchen Anrechten kann der Versorgungs-träger die externe Teilung ohne Zustimmung der ausgleichsberechtigten Person in deutlich höheren Wertgrenzen verlangen als dies nach § 14 Abs. 2 Nr. 2 VersAusglG möglich ist. 6 § 17 VersAusglG hat folgenden Wortlaut: Ist ein Anrecht im Sinne des Betriebsrentengesetzes aus einer Direktzusage oder einer Unterstützungskasse auszugleichen, so darf im Fall des § 14 Abs. 2 Nr. 2 der Ausgleichswert als Kapitalwert am Ende der Ehezeit höchstens die Beitragsbemessungsgrenze in der allgemeinen Rentenversicherung nach den §§ 159 und 160 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch erreichen. 7 Im Gesetzgebungsverfahren wurde die Sondervorschrift des § 17 VersAusglG mit den Interessen des Arbeitgebers begründet, der bei den beiden in § 17 VersAusglG genannten Arten betrieblicher Anrechte unmittelbar (Direktzusage) oder mittelbar (Unterstützungskasse) die Funktion des Versorgungsträgers einnimmt (BTDrucks 16/10144, S. 60): Eine höhere Wertgrenze für die internen Durchführungswege der betrieblichen Altersversorgung ist gerechtfertigt, weil der Arbeitgeber hier, anders als bei Anrechten aus einem externen Durchführungsweg (Direktversicherung, Pensionskasse, Pensionsfonds), unmittelbar mit den Folgen einer internen Teilung konfrontiert ist, also die Verwaltung der Ansprüche betriebsfremder Versorgungsempfänger übernehmen muss. Das mögliche Interesse der ausgleichsberechtigten Person an der systeminternen Teilhabe muss in diesen Fällen zurückstehen, bleibt aber insoweit gewahrt, als sie nach § 15 VersAusglG über die Zielversorgung entscheidet, die durchaus auch bessere Bedingungen bieten kann als das zu teilende betriebliche Anrecht. 8 3. Im Zentrum des Vorlagebeschlusses stehen sogenannte Transferverluste (vgl. BTDrucks 16/10144, S. 37), die sowohl bei externer Teilung nach § 14 Abs. 2 Nr. 2 VersAusglG als auch bei externer Teilung nach § 17 VersAusglG eintreten können. Für verfassungswidrig hält das vorlegende Gericht diese Effekte aber nur bei der externen Teilung nach § 17 VersAusglG, die höherwertige Anrechte betrifft. 9 a) Die Transferverluste resultieren aus der Art und Weise der Berechnung des aktuellen Kapitalwerts des Ehezeitanteils des im Versorgungsausgleich zu teilenden Anrechts. Der aktuelle Kapitalwert ist Grundlage des Ausgleichswerts, den der Versorgungsträger der ausgleichspflichtigen Person (Quellversorgungsträger; hier unmittelbar oder mittelbar der Arbeitgeber) nach § 14 Abs. 4 VersAusglG als Kapitalbetrag an den Versorgungsträger der ausgleichsberechtigten Person (Zielversorgungsträger) zahlen muss. Dieser Betrag wird unter anderem ermittelt, indem der Gesamtbetrag der künftig voraussichtlich zu erbringenden Versorgungsleistungen auf den Bewertungszeitpunkt abgezinst wird. Die Höhe des zu zahlenden Kapitalbetrags hängt demnach auch von dem Zinssatz ab, der für die Abzinsung verwendet wird. Ist dieser Abzinsungszinssatz höher als Zinssätze, mit denen Zielversorgungsträger aktuell kalkulieren, wird auch der gewählte Zielversorgungsträger aus dem an ihn gezahlten Kapitalbetrag Anrechte regelmäßig lediglich in solcher Höhe begründen, dass die ausgleichsberechtigte Person daraus entsprechend verringerte Versorgungsleistungen zu erwarten hat. Die zu erwartenden Versorgungsleistungen bleiben sowohl hinter dem zurück, was die ausgleichspflichtige Person aufgrund der Teilung an Versorgungsleistungen einbüßt, als auch hinter dem, was die ausgleichsberechtigte Person bei interner Teilung beim Quellversorgungsträger an Leistungen zu erwarten hätte (vgl. BGHZ 209, 218 <228 Rn. 24>). 10 b) Zinsunterschiede und die damit verbundenen Transferverluste beruhen auf historischen Zinsverläufen. Zu den beschriebenen Effekten kommt es, wenn der Abzinsungszinssatz an einen früheren, höheren Zinssatz angelehnt ist, als aufnahmebereite Zielversorgungsträger aktuell an (garantierten) Renditeaussichten bieten. 11 aa) Wird wie in dem der Vorlage zugrunde liegenden Fall ein durch Rückdeckungsversicherung kongruent gesichertes betriebliches Anrecht extern geteilt, wird regelmäßig die bis dahin erreichte Höhe des Deckungskapitals der Rückdeckungsversicherung zur Kapitalwertbestimmung herangezogen; rechnerisch ist darin der Rechnungszins der bereits früher geschlossenen Rückdeckungsversicherung betragsmindernd berücksichtigt (vgl. BGHZ 209, 218 <225 Rn. 19>). Wurde die Rückdeckungsversicherung zu einem Zeitpunkt geschlossen, in dem der marktübliche Zinssatz höher lag als im Zeitpunkt des Versorgungsausgleichs, kommt es zu dem beschriebenen Effekt; es tritt also ein Transferverlust ein (siehe auch unten Rn. 14). 12 bb) In der Praxis wird für die betrieblichen Anrechte, anders als hier, überwiegend keine Rückdeckungsversicherung geschlossen. Mit Blick auf die vom Quellversorgungsträger nach § 249 HGB zu bildenden bilanziellen Rückstellungen wird dann zur Kapitalwertbestimmung für die externe Teilung regelmäßig der bilanzrechtliche Zinssatz des § 253 Abs. 2 HGB herangezogen. Dieser nach dem Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz sogenannte BilMoG-Zinssatz ist ein über die vergangenen Jahre „geglätteter“, also gemittelter Zinssatz. Für den Versorgungsausgleich wird die Summe der künftigen Zahlungen mit diesem BilMoG-Zinssatz abgezinst (vgl. BGHZ 209, 218 <225 ff. Rn. 20 ff.>). Bei sinkenden Zinsen liegt der BilMoG-Zinssatz wegen der historischen Glättungs-Komponente wiederum über aktuell realistischen Zinssätzen. Auch hierdurch kann es bei externer Teilung nach § 17 VersAusglG zu Unterschieden zwischen dem Zinssatz des Quellversorgungsträgers und dem niedrigeren aktuellen Zinssatz des Zielversorgungsträgers kommen. Wie auch im Fall kongruenter Sicherung (oben Rn. 11) hat das zur Folge, dass die ausgleichsberechtigte Person eine geringere Versorgung erhält als der geschiedene Ehepartner durch die Teilung einbüßt und als die berechtigte Person selbst bei interner Teilung erhielte. II. 13 1. a) In dem der Vorlage zugrunde liegenden Ausgangsverfahren schied das Familiengericht die 1999 geschlossene Ehe der Beteiligten im Jahr 2017 und führte den Versorgungsausgleich durch. Das Familiengericht teilte ein betriebliches Anrecht des Ehemannes bei der Unterstützungskasse zur Förderung der betrieblichen Altersversorgung e.V. (im Folgenden: Unterstützungskasse) auf Verlangen der Unterstützungskasse extern. Das Anrecht des Ehemannes ist ein auf lebenslange Rente lautendes Anrecht. Es ist durch eine Rückdeckungsversicherung kongruent gesichert, die die Unterstützungskasse für das Anrecht geschlossen hat. Der jährliche Garantiezins dieser Rückdeckungsversicherung beträgt 3,25 %. Der von der Unterstützungskasse für dieses Anrecht berechnete Ausgleichswert (näher unten Rn. 14) überschritt die Grenze für eine externe Teilung nach § 14 Abs. 2 Nr. 2 VersAusglG. Diese lag 2017 bei 7.140 Euro. Der Ausgleichswert lag schon nach der im familiengerichtlichen Verfahren zunächst unzutreffend bemessenen Ehezeit über dieser Grenze und beträgt auch nach im Beschwerdeverfahren korrigierter Berechnung durch die Unterstützungskasse ohne Überschussanteile und Schlussüberschussbeteiligung rund 7.400 Euro. Deshalb erfolgte die externe Teilung nicht nach § 14 VersAusglG, sondern nach der hier zur Überprüfung gestellten Sondervorschrift des § 17 VersAusglG. 14 b) Die Unterstützungskasse berechnete den aktuellen Kapitalwert des Ehezeitanteils des Anrechts des Mannes anhand der für dieses Anrecht geschlossenen Rückdeckungsversicherung. Sie zog als aktuellen Kapitalwert des Anrechts den Betrag des in der Ehezeit (§ 3 Abs. 1 VersAusglG) entstandenen Deckungskapitals der Rückdeckungsversicherung heran. Damit ist der Rechnungszins der bereits früher geschlossenen Rückdeckungsversicherung betragsmindernd im für den Versorgungsausgleich berechneten Kapitalwert enthalten. Das Deckungskapital der Rückdeckungsversicherung ist noch nicht zur vollen Versorgungshöhe angewachsen, sondern wird sich erst im Laufe der Jahre bis zum Eintritt des Versorgungsfalls durch Verzinsung mit 3,25 % p.a. dahin entwickeln. Entsprechendes gilt für den aus dem Deckungskapital errechneten Kapitalwert des Versorgungsanrechts des Ehemannes, der ebenfalls mit dem Rechnungszins von 3,25 % p.a. wachsen wird. Die ausgleichsberechtigte Frau wird an diesem Anwachsen nach rechtskräftiger externer Teilung nicht mehr teilhaben; die alten Berechnungsgrundlagen gelten für ihr neues, extern begründetes Anrecht nicht. Der Garantiezins, mit dem der Zielversorgungsträger – hier mangels Auswahlentscheidung der Ehefrau die Versorgungsausgleichskasse Pensionskasse VVaG (im Folgenden: Versorgungsausgleichskasse) als Auffangzielversorgungsträger (vgl. § 15 Abs. 5 Satz 2 VersAusglG) – rechnet, ist geringer. Im Scheidungsjahr 2017 betrug er 0,9 % p.a. Das Oberlandesgericht unterstellt zudem eine Überschussbeteiligung, die diesen Garantiezins um einen Prozentpunkt übersteigt. 15 2. Gegen den Beschluss des Familiengerichts richteten sich Beschwerden der geschiedenen Ehefrau, der Deutschen Rentenversicherung Bund und der Deutschen Rentenversicherung Westfalen. Sie rügten eine unrichtige Teilung, weil das Familiengericht Auskünfte zu einer unzutreffend angegebenen Ehezeit eingeholt habe. III. 16 Das Oberlandesgericht Hamm hat das Verfahren gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG, § 13 Nr. 11, § 80 Abs. 1 BVerfGG ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob § 17 VersAusglG verfassungsgemäß ist. Die Norm verstoße gegen den sich aus Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 2 GG ergebenden Halbteilungsgrundsatz und gegen den allgemeinen Gleichheitssatz. Es sei verfassungswidrig, dass bei externer Teilung nach § 17 VersAusglG bis zu einer sehr hohen Wertgrenze keine annähernd gleiche Aufteilung von Anrechten gewährleistet sei und der abgebende Versorgungsträger die externe Teilung ohne oder gegen den Willen der ausgleichsberechtigten Person durchsetzen könne. Das Problem bestehe in den Unterschieden bei Ermittlung des Kapitalwerts des Anrechts durch den abgebenden Versorgungsträger einerseits und der Umrechnung/Rückrechnung dieses Kapitalwerts in ein Rentenanrecht durch die aufnahmebereiten Zielversorgungsträger andererseits. Die Unterschiede resultierten ganz überwiegend aus der Verwendung unterschiedlicher Zinssätze. Die Versorgungsträger ermittelten den Kapitalwert mit Billigung des Gesetzgebers für rückstellungsfinanzierte Anrechte in der Regel unter Verwendung des BilMoG-Zinssatzes (§ 253 Abs. 2 HGB). Dieser Zinssatz habe erheblich über demjenigen Zinssatz gelegen, mit dem festverzinsliche Anlagen nunmehr in Deutschland verzinst werden könnten und mit dem in Deutschland die Anbieter von Altersvorsorgeprodukten das bei ihnen eingezahlte Altersvorsorgevermögen verzinsten. 17 Zwar sei denkbar, dass die ausgleichsberechtigte Person einen Träger einer betrieblichen Altersversorgung finde, welcher das Kapital mit denselben Umrechnungsfaktoren in ein Rentenanrecht umrechne. Tatsächlich seien die betrieblichen Versorgungsträger aber im betrachteten Zeitraum zu diesen Bedingungen nicht aufnahmebereit gewesen. Die Folge sei, dass die ausgleichsberechtigte Person ‒ auch wenn bei der ausgleichspflichtigen Person identische biometrische Faktoren (Lebensalter und -erwartung, Invaliditätsrisiko) unterstellt werden ‒ aufgrund der externen Teilung mit einer deutlich niedrigeren Rente rechnen müsse, als der ausgleichspflichtigen Person aus dem Ehezeitanteil des geteilten Anrechts verbleibe. 18 Eine Veränderung des Rechnungszinses um einen Prozentpunkt wirke sich bei einer Anwartschaft mit mindestens 10 % auf die Höhe des Barwerts aus, bei jüngeren Anwärtern sogar noch deutlich stärker. Der Bundesgerichtshof habe diese Verwerfungen durch Gegenüberstellung von Zinssätzen im Zeitraum zwischen 2009 und 2015 sichtbar gemacht (Verweis BGHZ 209, 218 <229 f. Rn. 26>). Ausgleichsberechtigte hätten – bei unterstellter biometrischer Identität – infolge externer Teilung teils bis weit über 50 % niedrigere Renten zu erwarten. Bis 2017 seien nach überschlägiger Rechnung über 60.000 Personen von wesentlichen Abweichungen betroffen gewesen. 19 Die wirtschaftlichen Folgen der durch § 17 VersAusglG sehr weitreichend eröffneten externen Teilung stünden in einem deutlichen Missverhältnis zu den mit der Vorschrift bezweckten Vorteilen. Ziel des § 17 VersAusglG sei es, den Trägern der betrieblichen Altersversorgung bei den internen Durchführungswegen in weitem Umfang zu ersparen, die geschiedenen Ehegatten ihrer Arbeitnehmer in ihr Versorgungssystem aufnehmen zu müssen. Es sei unzumutbar, dass das Ziel einer weitgehend gleichwertigen Teilhabe am Altersvorsorgevermögen im Falle der Scheidung den Interessen der Träger der betrieblichen Altersversorgung in einem wirtschaftlich derart einschneidenden Umfang untergeordnet werde. 20 Zwar richte sich im vorliegenden Fall die Verzinsung des Anrechts des Ausgleichspflichtigen nicht nach dem zum Ende der Ehezeit maßgeblichen BilMoG-Zins, sondern nach dem Garantiezins der für das Anrecht abgeschlossenen Rückdeckungsversicherung. Dieser Garantiezins habe aber, bezogen auf das Ehezeitende, mit 3,25 % p.a. sogar noch über dem entsprechenden BilMoG-Zins von 3,12 % p.a. gelegen. 21 Eine verfassungskonforme Anwendung des § 17 VersAusglG scheide aus. Ein verfassungskonformes Ergebnis lasse sich insbesondere nicht dadurch erreichen, dass dem Versorgungsträger für die Wertermittlung im Versorgungsausgleich, abweichend von der handelsbilanziellen Bewertung, die Verwendung eines stichtagsbezogenen, marktgerechten Zinssatzes bei externer Teilung aufgegeben werde. Das reibe sich mit dem handelsbilanziellen Ansatz der Rückstellungen für das betroffene Anrecht. Zudem bestehe das Problem, einen für das jeweilige Ehezeitende passenden marktgerechten Zinssatz zu ermitteln. Werde ein nicht geglätteter Zinssatz verwendet, stoße das seinerseits mit Blick auf die Grundrechte der Versorgungsträger (Art. 12 und 14 GG) auf verfassungsrechtliche Bedenken. Es müsse auch mit der Möglichkeit gerechnet werden, dass bei einer Ermittlung durch verschiedene Sachverständige unterschiedliche und damit schwer vermittelbare Ergebnisse, verbunden mit einem entsprechenden Prognoserisiko, erzielt würden. Zudem werde eine solche Handhabung gerade nicht den Erfordernissen des Massengeschäfts Versorgungsausgleich gerecht. Sie sei in der Praxis nicht umsetzbar. IV. 22 Zu dem Vorlagebeschluss haben die Bundesregierung, der Bundesgerichtshof, die Arbeitsgemeinschaft für betriebliche Altersvorsorge e.V., die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände e.V., der Deutsche Familiengerichtstag e.V., der Deutsche Anwaltverein e.V., der Deutsche Gewerkschaftsbund, der Deutsche Juristinnenbund e.V. sowie als Beteiligte des Ausgangsverfahrens die Versorgungsausgleichskasse schriftlich Stellung genommen. Abgesehen von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände und der Versorgungsausgleichskasse waren diese auch an der mündlichen Verhandlung beteiligt. Der Deutsche Anwaltverein, der Deutsche Gewerkschaftsbund und der Deutsche Juristinnenbund halten die Vorlage für zulässig und die vorgelegte Norm für verfassungswidrig. Die Versorgungsausgleichskasse, die Bundesregierung und der Bundesgerichtshof wie auch die anderen sachkundigen Dritten halten die Vorlage teils schon für unzulässig, jedenfalls aber die vorgelegte Norm für verfassungsgemäß. 23 1. Die Bundesregierung ist der Auffassung, die Vorlage sei unzulässig und unbegründet. § 17 VersAusgIG sei mit dem Grundgesetz vereinbar. Werde der Kapitalwert des zu teilenden Anrechts ermittelt und anschließend hälftig geteilt, ohne dass eine Unterbewertung vorliege, seien die gleichwertige Teilhabe am in der Ehezeit erworbenen Vorsorgevermögen und damit der Halbteilungsgrundsatz gewahrt. Der Halbteilungsgrundsatz fordere nicht, dass der Versorgungsausgleich für beide Ehegatten – bei unterstellt gleichen biometrischen Faktoren – nach der wertmäßigen Teilung des ehezeitlichen Anrechts nach dem Eintritt des Versorgungsfalls auch zu gleich hohen Versorgungsleistungen führe. Dies ergebe sich insbesondere aus dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Mai 2014 (Verweis auf BVerfGE 136, 152 <172 Rn. 48>). Überdies gebe das Gesetz den bei der Bestimmung des Kapitalwerts zu verwendenden Zinssatz nicht vor, sondern überlasse die Wahl dem Arbeitgeber beziehungsweise Versorgungs-träger. Zögen diese einen Zinssatz heran, der zu einer Unterbewertung des Anrechts führe, sei nicht § 17 VersAusgIG verfassungswidrig. Vielmehr sei der Versorgungsausgleich gegebenenfalls verfassungskonform so zu handhaben, dass die Gerichte bei ihrer Berechnung einen anderen – eine eventuelle strukturelle Unterbewertung vermeidenden oder begrenzenden – Zinssatz zugrunde zu legen hätten. 24 Die Sonderregelung für die in § 17 VersAusglG genannten Durchführungs- wege der betrieblichen Altersversorgung sei durch sachliche Gründe gerechtfertigt. Der Arbeitgeber beziehungsweise die Unterstützungskasse müssten sonst (das heißt bei interner Teilung des Versorgungsanrechts) den geschiedenen Ehegatten, der zu ihnen in keinem Arbeits- oder sonstigen Vertragsverhältnis stehe, in das Versorgungssystem aufnehmen und ihm (mindestens) Leistungen im Alter nach Maßgabe der Versorgungsordnung gewähren. Jenseits der individuellen Rechtspositionen der betroffenen Arbeitgeber und Unterstützungskassen habe der Gesetzgeber die in § 17 VersAusgIG getroffene Unterscheidung auch zu dem sozialpolitischen Zweck vornehmen dürfen, die betriebliche Altersversorgung zu stärken. Der Gesetzgeber habe vermeiden wollen, dass die Arbeitgeber auf Belastungen durch Kürzungen oder gar den Verzicht auf neue Zusagen der betrieb- lichen Altersvorsorge reagierten. 25 2. Der Bundesgerichtshof hält die Vorlage für unzulässig und für unbegründet. Um eine Unvereinbarkeit von § 17 VersAusgIG mit dem Halbteilungsgrundsatz begründen zu können, müsse das Vorlagegericht darlegen, dass keine zulässigen Bewertungsregeln angewendet werden könnten, mit denen aus seiner Sicht verfassungsgemäße Ausgleichsergebnisse zu erzielen seien. Es gebe aber keine gesetzliche Regelung, welche die Verwendung des BilMoG-Zinssatzes oder auch nur die Billigung der Verwendung dieses Zinssatzes durch die Gerichte vorschreibe. Auch der von dem Vorlagegericht formulierte Gedanke, dass sich die Heranziehung eines von der handelsbilanziellen Bewertung abweichenden Zinssatzes mit dem handelsbilanziellen Ansatz der Rückstellungen für das betroffene Anrecht reibe und dadurch die Grundrechte der betroffenen Versorgungsträger (Art. 12 und 14 GG) berühre, erscheine nicht tragfähig, denn das Verlangen nach externer Teilung gemäß § 17 VersAusgIG stelle für den Versorgungsträger eine bloße Handlungsoption dar. 26 Das vorlegende Gericht habe überdies selbst in einer Entscheidung aus dem Jahr 2012 den von einem Versorgungsträger als Abzinsungsfaktor verwendeten BilMoG-Zins beanstandet und nach sachverständiger Beratung einen anderen Abzinsungsfaktor angesetzt (Verweis auf OLG Hamm, Beschluss vom 6. Februar 2012 - 12 UF 207/10 -, juris, Rn. 12 ff.). Es habe damit erkennen lassen, dass es den Ansatz eines an den aktuellen Renditeerwartungen in der privaten Lebensversicherung orientierten Rechnungszinses als Abzinsungsfaktor für geeignet halte, um bei der externen Teilung nach § 17 VersAusgIG zu verfassungsgemäßen Ausgleichsergebnissen zu gelangen. Soweit das Gericht nunmehr unter Verweis auf Anwendungsprobleme davon Abstand nehme, lasse sich daraus schwerlich die Verfassungswidrigkeit der Ausgleichsform der externen Teilung insgesamt folgern. Zudem könne der seinerzeit vom Oberlandesgericht gewählte Ansatz zum Zwecke größerer Praktikabilität auch pauschaliert werden. Darüber hinaus wäre auch der Rückgriff auf andere im Massengeschäft einfach zu handhabende Ab- zinsungskonzeptionen zu diskutieren gewesen, etwa der Ansatz des Rechnungszinses für die Abzinsung von Pensionsrückstellungen nach internationalen Rechnungslegungsvorschriften. 27 Im Übrigen weist der Bundesgerichtshof darauf hin, dass sich das Vorlage-gericht bei seinen Erörterungen auf den Vergleich des BilMoG-Zinssatzes mit den Renditeaussichten in der privaten Lebensversicherung beschränke und dabei unerörtert lasse, dass der ausgleichsberechtigte Ehegatte im Rahmen seines Wahlrechts (§ 15 Abs. 1 VersAusgIG) auch die gesetzliche Rentenversicherung als Zielversorgung wählen könne. 28 3. Die Arbeitsgemeinschaft für betriebliche Altersvorsorge fordert, die Regelung des § 17 VersAusglG unverändert beizubehalten. Die Durchführungswege Direktzusage und Unterstützungskasse hätten für die Verbreitung der betrieb-lichen Altersversorgung eine herausragende Bedeutung. Eine spezifische Besonderheit der Direktzusage und der Unterstützungskassenzusage liege darin, dass Steigerungen der Verwaltungskosten die jeweiligen Arbeitgeber in vollem Umfang und außerordentlich belasteten. Auf Seiten der Versorgungseinrichtungen bestehe vor diesem Hintergrund ein erhebliches Interesse daran, keine betriebsfremden Personen in das eigene Versorgungssystem einbeziehen zu müssen, die zu dem Unternehmen in keinem Treue- und Abhängigkeitsverhältnis stünden. Der Administrationsaufwand steige durch die Einbeziehung von Anrechten ausgleichsberechtigter Ehegatten nach interner Teilung erheblich. Das Scheitern der Ehe sei dem privaten Lebensbereich des Arbeitnehmers zugeordnet und dürfe nicht zulasten des Arbeitgebers und damit mittelbar zulasten der politisch gewünschten Verbreitung der betrieblichen Altersversorgung gehen. Wäre ein niedrigerer als der BilMoG-Zinssatz anzusetzen und würde in der Folge mehr Kapital benötigt, zöge dies eine wirtschaftliche Mehrbelastung der Versorgungsträger nach sich, weil der dem Unternehmen gegenüber dem Zielversorgungsträger auferlegten Zahlungspflicht keine wertentsprechende Teilauflösung der Bilanz gegenüberstünde. 29 4. Auch die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände hält die streitgegenständliche Regelung für verfassungsgemäß. Die sogenannten „internen Durchführungswege“ Direktzusage und Unterstützungskasse seien für die betriebliche Altersvorsorge als wichtiger Baustein der Alterssicherung von überragender Bedeutung. Die erhöhten Wertgrenzen für die internen Durchführungswege berücksichtigten den erhöhten Aufwand für die Administration von Anwartschaften betriebsfremder Personen, der bei den zusagenden Unternehmen regelmäßig anfalle und ein Verbreitungsrisiko begründe. Betriebliche Versorgungszusagen würden auch aus personalpolitischen Gründen erteilt, um qualifiziertes Personal zu gewinnen beziehungsweise zu binden. Diese personalpolitische Zwecksetzung würde durch die Aufnahme betriebsfremder Personen verwässert. Der aus Art. 3 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG herzuleitende Halbteilungsgrundsatz sei nicht verletzt, da die Versorgungsanrechte – verstanden als das während der Ehezeit erworbene Versorgungsvermögen – zwischen den Eheleuten gleichmäßig aufgeteilt worden seien. 30 5. Der Deutsche Familiengerichtstag sieht den Halbteilungsgrundsatz durch die Regelung des § 17 VersAusglG nicht verletzt. Der Halbteilungsgrundsatz beziehe sich auf den Wert des Ehezeitanteils des auszugleichenden Anrechts. Er sei gewahrt, wenn dieser Wert zutreffend ermittelt und hälftig aufgeteilt werde, ohne Rücksicht darauf, ob der Ausgleichsberechtigte aus dem so erworbenen Anrecht (später) eine höhere oder eine geringere Versorgung erhalte als der Ausgleichspflichtige. Aber auch wenn man den Halbteilungsgrundsatz im Sinne der Gewährleistung einer Teilhabegerechtigkeit weiter verstehe und auf die Berechnungsparameter der durch gerichtliche Entscheidung begründeten Zielversorgung er-strecke, werde dieser nicht verletzt. Die Privilegierung der internen Durchführungswege finde ihre Rechtfertigung darin, dass diese Versorgungsträger davor geschützt werden sollten, gegen ihren Willen betriebsfremde Personen in ihr Versorgungswerk aufnehmen zu müssen. Eine weitere Rechtfertigung sei in dem gesetzgeberischen Ziel der Förderung der internen Durchführungswege zu erblicken. Der von dem Gesetzgeber gewählte Grenzwert verstoße schließlich nicht gegen das Willkürverbot. Durch die Wahl der in der Deutschen Rentenversicherung maßgeblichen Beitragsbemessungsgrenze werde vermieden, dass durch externe Teilung besonders hohe, der gesetzlichen Rentenversicherung fremde Anwartschaften begründet werden könnten. 31 6. Der Deutsche Anwaltverein hält § 17 VersAusglG für verfassungswidrig. Bei einer externen Teilung eines Anrechts nach § 17 VersAusglG könne eine erhebliche Entwertung des in ein neues Versorgungssystem übertragenen Ausgleichswerts eintreten. Insbesondere könne der ausgleichsberechtigte Ehegatte die Auswahl der Zielversorgung nur bedingt beeinflussen. Betriebliche Versorgungen stünden – entgegen der ursprünglichen Annahme des Gesetzgebers – als Zielversorgungen nicht zur Verfügung, private Versorgungen böten aufgrund der aktualisierten Versicherungsparameter keine im Vergleich zur Quellversorgung angemessene Versorgung. Das Gleiche gelte für die Deutsche Rentenversicherung, solange die für die Bestimmung des Kapitalwerts maßgeblichen Rechnungszinsen über 3 % p.a. lägen. Die Deutsche Rentenversicherung komme darüber hinaus als Zielversorgung nicht in Betracht, wenn die ausgleichsberechtigte Person bereits eine Vollrente wegen Alters beziehe (§ 187 SGB VI). 32 Indem der Gesetzgeber dem Versorgungsträger die Möglichkeit eingeräumt habe, den auszukehrenden Kapitalwert der Versorgung nach bilanziellen Gesichtspunkten zu bestimmen, also nach dem Wert zu berechnen, der als Wert der konkreten Pensionsrückstellung in der Bilanz des Unternehmens erscheine, habe der Gesetzgeber die legale Möglichkeit der Unterbewertung von Versorgungen eröffnet. Das sei nicht mit der Erwägung zu rechtfertigen, dass zum Ehezeitende der Ausgleichswert halbiert werde und es auf die zu erwartenden Renten bei unterschiedlichen Versorgungen der ausgleichspflichtigen und ausgleichsberechtigten Person nicht ankomme. Es seien keine nachehezeitlichen Entwicklungen der Versorgung im neuen Versorgungssystem, die die niedrige Versorgung verursachten, sondern die strukturellen Unterschiede bei der Bewertung der Versorgung im Quell- und im Zielversorgungssystem. 33 7. Der Deutsche Gewerkschaftsbund hält die Regelung für verfassungswidrig. Eine besondere Belastung der Betriebe und Unternehmen bei der Durchführung einer internen Teilung in den internen Durchführungswegen werde nicht näher belegt oder hergeleitet. Dass „betriebsfremde“ Personen zur Versorgung in die Aktenführung aufzunehmen wären, genüge nicht. Während sich der Versorgungsträger durch eine externe Teilung von künftigen Obliegenheiten und Verbindlichkeiten befreien könne und spiegelbildlich Verluste der ausgleichsberechtigten Person herbeiführe, könne die ausgleichsberechtigte Person ohne Zustimmung des Versorgungsträgers keine externe Teilung verlangen. Schließlich sei auch eine mittelbare Diskriminierung von Frauen nicht auszuschließen. Frauen könnten in besonderer Weise negativ von der externen Teilung betroffen sein, da sie häufiger Ausgleichsberechtigte seien. 34 8. Der Deutsche Juristinnenbund hält § 17 VersAusgIG für verfassungswidrig. § 17 VersAusgIG führe zum einen zu einer mittelbaren Diskriminierung von Frauen, weil die negativen Effekte der externen Teilung ganz überwiegend Frauen träfen, und zum anderen zu einer verfassungswidrigen Verfehlung des Halbteilungsgrundsatzes. Sei der für die Rückabzinsung angenommene Zins gegenüber dem echten Marktzins zu hoch, stehe der für die Rente benötigte Kapitalbetrag am Ende der Zeit nicht zur Verfügung. Der ausgleichsberechtigte Ehegatte erhalte mithin zu wenig Rente. Eine etwaige Erholung des Zinsniveaus könne die für ab 2009 geschiedene Ehegatten erzeugten Nachteile nicht ausgleichen. Bei den im Versorgungsausgleich ausgleichsberechtigten Personen handele es sich mit einer überwältigenden Mehrheit um Frauen: Von den 600.000 schon im Rentenbezug stehenden geschiedenen Eheleuten seien 93,6 % der ausgleichsberechtigten Personen weiblich. Die einseitige Besserstellung der Versorgungsträger sei verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt und lasse sich entgegen der Gesetzesbegründung auch nicht mit ungewollten Folgen interner Teilung auf Seiten des Arbeitgebers, insbesondere durch die zusätzliche Verwaltung von Ansprüchen betriebsfremder Versorgungsempfängerinnen und Versorgungsempfänger, begründen. Ohnehin betreffe dies nur die Direktzusage, da eine Absicherung über die Unterstützungskasse bereits die Einbeziehung eines betriebsfremden dritten Trägers enthalte. Diese Rechtfertigung stoße darüber hinaus auch insoweit an ihre Grenzen, als der Gesetzgeber noch davon ausgegangen sei, dass das Interesse der ausgleichsberechtigten Person an einer systeminternen Teilhabe hinter dem Interesse des Arbeitgebers zurücktreten müsse, weil sie über § 15 VersAusgIG über eine frei wählbare Zielversorgung mit durchaus auch besseren Bedingungen ausreichend abgesichert sei. Dies habe sich aber schon mit dem Inkrafttreten des Versorgungsausgleichsgesetzes in der Praxis nicht realisieren lassen. Eine verfassungskonforme Auslegung komme nicht in Betracht, denn die Höchstgrenzen ließen hier keinen Spielraum und § 17 VersAusgIG sei zwingend anzuwenden, wenn der Versorgungsträger bei Unterschreitung der Höchstgrenzen die externe Teilung wähle. 35 9. Die Versorgungsausgleichskasse hält die Regelung für verfassungsgemäß. Bei der Scheidung zwischen den Eheleuten seien die Versorgungsanrechte gleichmäßig aufzuteilen, sodass jeder Ehegatte die Hälfte der in der Ehezeit erworbenen Vermögenswerte auf den künftigen Lebensweg mitnehme. Eine weitergehende Vorgabe, wonach aus der Aufteilung des zum Zeitpunkt der Scheidung existierenden Versorgungsvermögens auch gleich hohe Versorgungsleistungen nach Teilung entstehen müssten, existiere nicht. Ein Eingriff in den Halbteilungsgrundsatz wäre nur bei einer erheblichen Unterbewertung des auszugleichenden Anrechts gegeben. Eine solche sei nicht erkennbar. B. 36 Die Vorlage des Oberlandesgerichts Hamm ist zulässig. I. 37 Nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 GG hat ein Gericht das Verfahren auszusetzen und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen, wenn es ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig hält. Gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG muss das vorlegende Gericht darlegen, aus welchen Gründen es von der Verfassungswidrigkeit der Vorschrift überzeugt ist. Der Vorlagebeschluss muss außerdem mit hinreichender Deutlichkeit erkennen lassen, dass und weshalb das Gericht im Falle der Gültigkeit der für verfassungswidrig gehaltenen Rechtsvorschrift zu einem anderen Ergebnis käme als im Falle ihrer Ungültigkeit (vgl. BVerfGE 147, 253 <300 f. Rn. 87> m.w.N.; stRspr). II. 38 Diesen Anforderungen genügt der Vorlagebeschluss. 39 1. Das Vorlagegericht hat seine Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit des § 17 VersAusglG unter Auswertung von Rechtsprechung und Literatur hinreichend dargelegt. Es hat jedenfalls hinreichend begründet, dass die Regelung zu seiner Überzeugung gegen den Halbteilungsgrundsatz aus Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 2 GG verstößt, weil sie keine annähernd gleiche Aufteilung des Erworbenen zwischen den Geschiedenen gewährleiste. Ob auch die Ausführungen zur Gleichheitswidrigkeit den Anforderungen des § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG genügen, kann dahinstehen. Ist eine Richtervorlage zumindest unter einem Gesichtspunkt zulässig, hat das Bundesverfassungsgericht die vorgelegte Norm unter allen in Betracht kommenden verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten zu prüfen (vgl. BVerfGE 133, 1 <12 Rn. 41>; 141, 1 <14 f. Rn. 31> m.w.N.; stRspr). 40 Das Gericht begründet auch, dass es sich an einer verfassungskonformen Auslegung der beanstandeten Regelung gehindert sieht. Zwar ist dem im Ergebnis nicht zu folgen (unten Rn. 80 ff.). Für die Zulässigkeit der Vorlage ist das jedoch nicht entscheidend. Insoweit genügt, dass das Vorlagegericht in nicht offensichtlich unhaltbarer Auslegung des einfachen Rechts dargelegt hat, dass aus seiner Sicht eine verfassungskonforme Auslegung nicht möglich ist. 41 2. Das Vorlagegericht begründet auch hinreichend, dass die vorgelegte Frage entscheidungserheblich ist. Das Oberlandesgericht erklärt, für die Frage, ob das Versorgungsanrecht ohne Zustimmung der Ausgleichsberechtigten extern zu teilen ist, komme es wegen Überschreitung der Wertgrenze des § 14 VersAusglG auf die Gültigkeit des § 17 VersAusglG an. Aus dem Vorlagebeschluss geht auch noch hinreichend hervor, dass die Antragstellerin des Ausgangsverfahrens von den vom Vorlagegericht für verfassungswidrig gehaltenen Effekten der externen Teilung selbst betroffen wäre. Für verfassungswidrig hält das Gericht die externe Teilung nach § 17 VersAusglG dann, wenn zur Berechnung des vom Quellversorger zu zahlenden Kapitalbetrags der Gesamtwert der künftig voraussichtlich zu erbringenden Leistungen mit einem Zinssatz auf den Bewertungszeitpunkt abgezinst wird, der mehr als einen Prozentpunkt über dem Rechnungszins der Zielversorgung liegt und damit zu einer Abweichung der Zielversorgung von der Ausgangsversorgung von mehr als 10 % führe. Der Vorlagebeschluss erläutert, dass der hier zur Abzinsung verwendete Zinssatz der Rückdeckungsversicherung 3,25 % p.a. beträgt. Hingegen betrug der Garantiezins der Versorgungsausgleichskasse als Zielversorgungsträger im Scheidungsjahr 2017 0,9 % p.a., wobei das Oberlandesgericht eine darüber hinausgehende Überschussbeteiligung von 1 % p.a. unterstellt. C. 42 § 17 VersAusglG ist nicht verfassungswidrig. Bei verfassungskonformer Anwendung ist er mit den Eigentumsgrundrechten der ausgleichspflichtigen und der ausgleichsberechtigten Person vereinbar und wahrt die verfassungsrechtlichen Grenzen faktischer Benachteiligung von Frauen. Die Gerichte müssen den Ausgleichswert bei der externen Teilung so bestimmen, dass die ausgleichsberechtigte Person keine unangemessene Verringerung ihrer Versorgungsleistungen zu erwarten hat. Das Gesetz lässt den Gerichten den dafür erforderlichen Entscheidungsspielraum (I). Inwiefern der Halbteilungsgrundsatz Anwendung findet, kann offenbleiben; daraus ergeben sich hier keine weitergehenden Anforderungen (II). Die Ungleichbehandlung von Inhabern der von § 17 VersAusglG erfassten Anrechte gegenüber Inhabern der nicht in § 17 VersAusglG genannten Arten betrieblicher Versorgungsanrechte und gegenüber den Inhabern besonders hochwertiger Versorgungsanrechte verstößt nicht gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz (III). I. 43 Die externe Teilung nach § 17 VersAusglG beschränkt die Eigentumsgrundrechte der ausgleichspflichtigen Person (1) und der ausgleichsberechtigten Person (2). Bei verfassungskonformer Anwendung von § 17 VersAusglG sind diese Grundrechtsbeschränkungen jedoch verfassungsrechtlich gerechtfertigt; sie führen dann auch nicht zur unzulässigen faktischen Benachteiligung von Frauen (3). 44 1. Das Eigentumsgrundrecht der ausgleichspflichtigen Person wird durch die Teilung ihrer Versorgungsrechte und -anwartschaften beim Versorgungsausgleich beschränkt (a). Die Beschränkung ist grundsätzlich verfassungsrechtlich gerechtfertigt, weil sie dazu dient, für die ausgleichsberechtigte Person eine eigenständige Alters- und Invaliditätssicherung zu begründen. Sofern sich allerdings die Kürzung nicht annähernd spiegelbildlich im Erwerb eines Anrechts durch die ausgleichsberechtigte Person auswirkt, bedarf diese Beschränkung des Eigentums der ausgleichspflichtigen Person besonderer Rechtfertigung (b). 45 a) Die ausgleichspflichtige Person wird durch die Teilung ihres Anrechts auf betriebliche Altersvorsorge in ihrem durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Eigentum beschränkt. 46 aa) Die nach § 17 VersAusglG der externen Teilung unterworfenen betrieblichen Anrechte sind bereits in der Anwartschaftsphase als verfassungsrechtliches Eigentum der ausgleichspflichtigen Person durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützt. Anwartschaften auf Betriebsrenten weisen die konstituierenden Merkmale des Eigentums im Sinne des Art. 14 Abs. 1 GG auf und genießen darum den Schutz des Eigentumsgrundrechts (vgl. BVerfGE 131, 66 <80>; 136, 152 <167 Rn. 34>). Die dem Versorgungsausgleich unterliegenden Anwartschaften sind wegen § 19 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1 VersAusglG stets unverfallbar (zu diesem Erfordernis BVerfGE 136, 152 <167 Rn. 34> m.w.N.). 47 bb) Der Versorgungsausgleich führt zu Kürzungen der durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Renten und Anwartschaften der ausgleichspflichtigen Person sowie zur Übertragung entsprechender eigenständiger Anrechte auf die ausgleichsberechtigte Person und beschränkt so das Eigentumsgrundrecht der ausgleichspflichtigen Person. Die zugrunde liegenden Regelungen bestimmen damit Inhalt und Schranken des verfassungsrechtlichen Eigentums an den Versorgungsanrechten (vgl. BVerfGE 136, 152 <167 Rn. 35> m.w.N.; stRspr). 48 b) Die Grundrechtsbeschränkung durch Versorgungsausgleich ist grundsätzlich gerechtfertigt (aa). Sofern durch externe Teilung für die ausgleichsberechtigte Person nur ein Anrecht auf verminderte Leistung begründet werden kann, bedarf die Kürzung jedoch besonderer Rechtfertigung (bb). 49 aa) Der Versorgungsausgleich dient dem legitimen Zweck, für die ausgleichsberechtigte Person bei Scheidung eine eigenständige Alters- und Invaliditätssicherung zu begründen. Die Beschränkung des verfassungsrechtlichen Eigentums der ausgleichspflichtigen Person zu diesem Zweck ist im Grundsatz verfassungsrechtlich gerechtfertigt (vgl. BVerfGE 136, 152 <167 f. Rn. 35 ff.> m.w.N.; stRspr). 50 bb) Die Rechtfertigung des Versorgungsausgleichs kann allerdings entfallen, soweit bei der verpflichteten Person eine Kürzung des Anrechts erfolgt, ohne dass sich dies entsprechend im Erwerb eines selbständigen Anrechts für die berechtigte Person auswirkt. 51 (1) Die verpflichtete Person erbringt dann insoweit ein Opfer, das seinen Zweck verfehlt (grundlegend BVerfGE 53, 257 <302 f.>). Dass der entzogene Anteil grundsätzlich nicht ohne besonderen Grund verloren gehen oder in seinem Ertrag reduziert werden darf, ergibt sich bei verfassungsrechtlicher Betrachtung schon daraus, dass das von der ausgleichspflichtigen Person erworbene Anrecht auf eigener Leistung beruht, weil es Ertrag ihrer Erwerbsarbeit ist (vgl. BVerfGE 131, 66 <80>). Grundsätzlich reicht es danach für die verfassungsrechtliche Rechtfertigung der Beschränkung des Grundrechts der ausgleichspflichtigen Person weder aus, noch kommt es für die Rechtfertigung darauf an, dass ihr Anrecht exakt hälftig geteilt ist. Entscheidend ist vielmehr, dass die ausgleichsberechtigte Person aus dem im Versorgungsausgleich erworbenen Anrecht im Einzelfall Versorgungsleistungen erwarten kann, die der Kürzung auf Seiten der ausgleichspflichtigen Person entsprechen. Demgegenüber bedarf es besonderer Rechtfertigung, wenn die ausgleichsberechtigte Person aufgrund der externen Teilung – bei Unterstellung identischer biometrischer Faktoren – mit einer niedrigeren Rente rechnen muss als sich die Rente der ausgleichspflichtigen Person durch den Versorgungsausgleich verringert. 52 (2) Zwar hat das Bundesverfassungsgericht in Abkehr von früherer Rechtsprechung entschieden, dass die verfassungsrechtliche Rechtfertigung der Teilung nicht deshalb entfällt, weil das neu begründete Anrecht infolge versicherungstypischer Umstände aus der Sphäre der ausgleichsberechtigten Person nur zu verminderten Versorgungsleistungen führt (vgl. BVerfGE 136, 152 <169 ff. Rn. 40 ff.>). So ist es keine von Verfassungs wegen korrekturbedürftige Zweckverfehlung des Versorgungsausgleichs, wenn aus der von der ausgleichspflichtigen Person hinzunehmenden Kürzung auf Seiten der ausgleichsberechtigten Person wegen Vorversterbens, also aufgrund ihres individuellen Versicherungsschicksals, eine betragsmäßig geringere Leistung resultiert (vgl. BVerfGE 136, 152 <171 Rn. 45> m.w.N.). Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch nicht festgestellt, dass beim Versorgungsausgleich die Kürzung des Anrechts auf Seiten der ausgleichspflichtigen Person – auch über diese versicherungstypischen Risiken hinaus – immer schon dann verfassungsgemäß sei, wenn der dem Ehezeitanteil entsprechende Kapitalwert eines Anrechts aus der betrieblichen Altersversorgung zwischen den Ehegatten exakt hälftig geteilt wird, und dass es nicht darauf ankomme, welche Versorgung die ausgleichsberechtigte Person mithilfe dieses Kapitalbetrags für sich erlangen kann. Ein solch weitreichender Grundsatz wäre mit den aus Art. 14 Abs. 1 GG folgenden Rechtfertigungsanforderungen an Beschränkungen des Eigentums der ausgleichspflichtigen Person nicht vereinbar. Die grundsätzliche verfassungsrechtliche Anerkennung rentenrechtlicher Unabhängigkeit der zwischen den Geschiedenen geteilten Versorgungsanrechte (vgl. BVerfGE 136, 152 <170 f. Rn. 44>) betrifft nach der Teilung eintretende Umstände, nicht aber solche, die bereits für eine der Gewährleistung aus Art. 14 Abs. 1 GG gerecht werdende Teilung selbst maßgeblich sind. 53 (3) Die vom vorlegenden Gericht beanstandeten leistungsmindernden Effekte können zur Zweckverfehlung der Kürzung des Anrechts und damit zu deren Verfassungswidrigkeit führen. Die beanstandeten Effekte resultieren aus der Art und Weise, wie der Ausgleichswert (§ 1 Abs. 2 Satz 2 VersAusglG) berechnet wird, den der Versorgungsträger der ausgleichspflichtigen Person für die externe Teilung als Kapitalbetrag an den Versorgungsträger der ausgleichsberechtigten Person zu zahlen hat (§ 14 Abs. 4 VersAusglG). Sie entstehen etwa dann, wenn bei der Bestimmung des Kapitalwerts des Anrechts zur Abzinsung ein Rechnungszins verwendet wird, der über für aktuell begründete Versorgungsanrechte realistischen und garantierten Renditeaussichten liegt. Dazu kommt es insbesondere in Niedrigzinsphasen nach einem zuvor in relativ kurzer Zeit erfolgten starken Zinsverfall (oben Rn. 10 ff.). 54 Dieses Risiko der Zinsentwicklung ist nicht mit dem Risiko der eigenen Lebensbiografie im Falle des Vorversterbens vergleichbar, das im Versorgungsausgleich im Grundsatz hinzunehmen ist (oben Rn. 52). Im frühzeitigen Tod realisiert sich ein Risiko verringerter Versorgungsleistungen, das mit vielen Ausgestaltungen der Altersvorsorge wesensmäßig verbunden ist. Es betrifft durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützte Versorgungsanrechte unabhängig von Scheidung, Teilung und Übertragung. Dass das Risiko frühzeitigen Versterbens auch bei der ausgleichsberechtigten Person eintreten kann, liegt in der Natur der Sache. Es hat nichts mit dem Versorgungsausgleich zu tun, wenn die ausgleichspflichtige oder auch die ausgleichsberechtigte Person wegen kürzerer Lebensdauer geringere Leistungen erhalten. Die vorliegend beanstandeten Effekte externer Teilung sind hingegen gerade durch den Versorgungsausgleich bedingt; sie lassen sich nicht mit dem allgemeinen und wesenhaften Risiko von Versorgungsanrechten erklären und rechtfertigen. Mit den zinsentwicklungsbedingten Effekten realisiert sich kein den Versorgungsanrechten von vornherein innewohnendes Risiko. 55 (4) Wenn die externe Teilung nach § 17 VersAusglG also aufgrund des bei der Kapitalwertbestimmung verwandten Rechnungszinses dazu führt, dass der erwartbare Ertrag des neuen Anrechts im Vergleich zur Kürzung des Anrechts der ausgleichspflichtigen Person verringert ist, bedarf dies besonderer Rechtfertigung (dazu unten Rn. 60 ff.). 56 2. Auch das Eigentumsgrundrecht der ausgleichsberechtigten Person wird durch die externe Teilung beschränkt (a). Die Beschränkung bedarf besonderer Rechtfertigung, sofern die ausgleichsberechtigte Person infolge externer Teilung aufgrund des bei der Kapitalwertbestimmung verwandten Rechnungszinses mit niedrigeren Versorgungsleistungen rechnen muss als die Kürzung auf Seiten der ausgleichspflichtigen Person beträgt und als sie selbst erhielte, wenn auch ihr ein Anrecht durch interne Teilung beim ursprünglichen Versorgungsträger übertragen würde (b). 57 a) aa) Die Position der ausgleichsberechtigten Person ist durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützt. Nach § 1 Abs. 1 VersAusglG sind im Versorgungsausgleich die in der Ehezeit erworbenen Anteile von Anrechten jeweils zur Hälfte zwischen den geschiedenen Ehegatten zu teilen. Angesichts dieser gesetzlichen Ausgestaltung des Versorgungsausgleichs wird mit der Scheidung die Hälfte eines zu teilenden Anrechts der ausgleichspflichtigen Person im verfassungsrechtlichen Sinne Eigentum der ausgleichsberechtigten Person. In der nach § 1 Abs. 1 VersAusglG abzugebenden Hälfte setzt sich das verfassungsrechtliche Eigentum der ausgleichspflichtigen Person nun als verfassungsrechtliches Eigentum der ausgleichsberechtigten Person fort. Diese durch die Scheidung entstehende Position der ausgleichsberechtigten Person weist auch wesentliche Merkmale auf, die nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einen Schutz durch das Eigentumsgrundrecht rechtfertigen. Diese Position hat für sie dieselbe Sicherungsfunktion (vgl. dazu BVerfGE 131, 66 <79 f.>), die die verfassungsrechtlich geschützte unverfallbare Anwartschaft für die ausgleichspflichtige Person erfüllt. Sie beruht zudem in vergleichbarer Weise auf Leistung (vgl. dazu BVerfGE 53, 257 <291 f.>) wie die Anwartschaft der verpflichteten Person; sie ist ebenfalls unmittelbarer Ertrag der während der Ehezeit erbrachten Erwerbsarbeit der verpflichteten Person, die auf der Grundlage einfachgesetzlicher Ausgestaltung verfassungsrechtlich gleichermaßen der ausgleichspflichtigen wie der ausgleichsberechtigten Person zugeordnet ist (vgl. BVerfGE 105, 1 <11 f.>). Verfassungsrechtlich durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützt ist nicht nur das vom Familiengericht nach § 14 Abs. 1 VersAusglG bei einem anderen Versorgungsträger erst durch Gestaltungsakt neu zu begründende eigenständige Anrecht der ausgleichsberechtigten Person, sondern auch schon der Anteil des beim Quellversorgungsträger für die ausgleichspflichtige Person bestehenden Anrechts, das in einem (sei es auch nur juristischen) Moment zwischen Scheidung und Begründung des neuen eigenen Anrechts zum Teil bereits verfassungsrechtliches Eigentum der ausgleichsberechtigten Person wird. Der verfassungsrechtliche Eigentumsschutz gegen unzulässige Beeinträchtigungen, den das ungeteilte Anrecht in Händen der ausgleichspflichtigen Person in voller Höhe genießt, ist so für den zu übertragenden Teil auch zugunsten der ausgleichsberechtigten Person subjektivrechtlich gesichert. Verminderungen, die sich bei der Übertragung dieses Teils zur externen Begründung eines Anrechts ergeben, sind auch am Eigentumsgrundrecht der ausgleichsberechtigten Person zu messen. Etwaige Grundrechtsverletzungen können von ihr selbst geltend gemacht werden. Anderenfalls könnte sie sich nicht selbst gegen sie treffende Beeinträchtigungen bei der externen Teilung zur Wehr setzen, sondern wäre darauf angewiesen, dass die ausgleichspflichtige Person, von der sie gerade geschieden wird, den eigentumsrechtlichen Schutz gegen zweckverfehlende Kürzung (oben Rn. 50 ff.) zugleich auch zu ihren Gunsten geltend macht. 58 bb) Diese verfassungsrechtlich geschützte Position der ausgleichsberechtigten Person wird dadurch beschränkt, dass der beim Quellversorger anlässlich der Scheidung für die ausgleichsberechtigte Person bereitstehende Teil des Anrechts infolge der externen Teilung entfällt. Auch im Verhältnis zur ausgleichsberechtigten Person ist der zugrunde liegende § 17 VersAusglG Inhalts- und Schrankenbestimmung des verfassungsrechtlichen Eigentums (vgl. für die ausgleichspflichtige Person BVerfGE 136, 152 <167 Rn. 35>). 59 b) In der Regel ist diese Beschränkung bereits deshalb gerechtfertigt, weil zugleich ein entsprechendes Anrecht bei einem anderen Versorgungsträger begründet wird. Auch gegenüber der ausgleichsberechtigten Person bedarf dies jedoch weiterer Rechtfertigung, wenn die externe Teilung dazu führt, dass sie bei Unterstellung identischer biometrischer Faktoren wegen des bei der Kapitalwertbestimmung verwandten Rechnungszinses mit niedrigeren Leistungen zu rechnen hat, als die ausgleichspflichtige Person an Kürzung hinnehmen muss und als sie selbst an Leistungen erwarten könnte, wenn auch ihr Anrecht durch interne Teilung beim ursprünglichen Versorgungsträger begründet würde. 60 3. Wenn die externe Teilung nach § 17 VersAusglG bei unterstellt identischen biometrischen Faktoren dazu führt, dass der aus dem neu begründeten Anrecht erwartbare Ertrag im Vergleich zum Ertrag bei interner Teilung und im Vergleich zur Kürzung des Anrechts der ausgleichspflichtigen Person verringert ist, bedarf dies eigener Rechtfertigung sowohl gegenüber der ausgleichspflichtigen Person als auch gegenüber der ausgleichsberechtigten Person. Im Ergebnis kann die externe Teilung nach § 17 VersAusglG in verfassungskonformer Weise durchgeführt werden. Die gesetzliche Zulassung externer Teilung in den Fällen des § 17 VersAusglG dient für sich genommen verfassungsrechtlich legitimen Zwecken (a). Bei der zur Durchführung der externen Teilung notwendigen Berechnung des Kapitalwerts des bestehenden Anrechts sind gegenläufige Grundrechtsbelange des Arbeitgebers einerseits und der ausgleichspflichtigen und der ausgleichsberechtigten Personen andererseits zu berücksichtigen und zu einem verfassungsrechtlich vertretbaren Ausgleich zu bringen (b). Entgegen der Einschätzung des vorlegenden Gerichts lässt § 17 VersAusglG, auch im Zusammenspiel mit anderen Vorschriften, den Gerichten die Möglichkeit, den Ausgleichswert für die externe Teilung so festzusetzen, dass übermäßige und damit verfassungsrechtlich unzulässige Transferverluste verhindert werden (c). Für die Gerichte ergeben sich dabei aus den Grundrechten gewisse Verfahrensanforderungen (d). 61 a) Es dient verfassungsrechtlich legitimen Zwecken, die externe Teilung der in § 17 VersAusglG genannten Anrechte (Betriebsrenten aus einer Direktzusage oder Unterstützungskasse) auch über die Wertgrenze des § 14 Abs. 2 Nr. 2 VersAusglG hinaus zu erlauben. 62 aa) Die Regelung zielt darauf ab, Arbeitgeber, die eine Zusage betrieblicher Altersversorgung in Gestalt einer Direktzusage oder aus einer Unterstützungskasse erteilt haben, davor zu schützen, weitere Personen in ihre Versorgung aufnehmen zu müssen, die sie nicht selbst als Vertragspartner ausgewählt haben. Nach Auffassung des Gesetzgebers ist eine höhere Wertgrenze, bis zu der der Arbeitgeber eine externe Teilung fordern kann, für Anrechte aus diesen beiden sogenannten unmittelbaren Durchführungswegen gerechtfertigt, weil der Arbeitgeber hier, anders als bei Anrechten aus einem externen Durchführungsweg (Direktversicherung, Pensionskasse, Pensionsfonds), unmittelbar mit den Folgen einer internen Teilung konfrontiert sei, also die Verwaltung der Ansprüche betriebsfremder Versorgungsempfänger übernehmen müsse, wobei ein zusätzlicher organisatorischer Aufwand entstehe (vgl. BTDrucks 16/10144, S. 30, 42, 60). Gegen das Ziel des Gesetzgebers, Arbeitgeber vor diesen Folgen interner Teilung zu schützen, bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken. 63 bb) Mittelbar dient die Regelung des § 17 VersAusglG zudem der Förderung der betrieblichen Altersvorsorge. Insbesondere die Bundesregierung hat in diesem Verfahren hervorgehoben, die Entlastung der betrieblichen Versorgungsträger fördere die mit dem Versorgungsausgleich verfolgte sozialpolitische Zielsetzung der Verbreitung der betrieblichen Altersvorsorge, hier in Form der Direktzusage und der unterstützungskassengedeckten Zusage. Diese als zweite Säule der sozialen Absicherung im Alter zu sichern, ist ein legitimes Ziel des Gesetzgebers (vgl. bereits BVerfGE 71, 364 <395 f.>). Die Bundesregierung legt plausibel dar, dass insbesondere kleine und mittlere Unternehmen die Administration zusätzlicher im internen Durchführungsweg begründeter Anwartschaften als erhebliche Schwierigkeit ansehen und sich daraus ein Risiko ergibt, dass diese beiden Formen der betrieblichen Altersvorsorge von den Unternehmen eher gemieden werden. 64 b) Das Ziel, Arbeitgeber, die eine betriebliche Altersversorgung im Wege der Direktzusage oder der Unterstützungskasse anbieten, vor zusätzlichen Lasten interner Teilung zu schützen, kann sich jedoch nicht um jeden Preis durchsetzen. Bei der zur Durchführung der externen Teilung notwendigen Berechnung des Kapitalwerts des bestehenden Anrechts sind vielmehr die gegenläufigen Grundrechtsbelange sowohl des Arbeitgebers auf der einen Seite als auch der ausgleichsberechtigten und der ausgleichspflichtigen Person auf der anderen Seite zu berücksichtigen und zu einem verfassungsrechtlich vertretbaren Ausgleich zu bringen. 65 aa) In die Abwägung einzustellen sind auf der einen Seite die Eigentumsgrundrechte der ausgleichsberechtigten sowie der ausgleichspflichtigen Person (1) und die verfassungsrechtlichen Grenzen faktischer Benachteiligung von Frauen (2). Auf der anderen Seite ist das berechtigte Interesse von Arbeitgebern zu berücksichtigen, im Falle der Zusage einer betrieblichen Altersversorgung im Wege der Direktzusage oder der Unterstützungskasse von zusätzlichen Lasten interner Teilung verschont zu bleiben, zugleich aber im Rahmen der externen Teilung lediglich aufwandsneutralen Kapitalabfluss hinnehmen zu müssen (3). 66 (1) In die Abwägung einzustellen sind auf der einen Seite die durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Positionen der ausgleichsberechtigten und der ausgleichspflichtigen Person. Zwar dürfte ein bloßes Interesse der ausgleichsberechtigten Person, ihr eigenes Anrecht ebenfalls gerade beim Quellversorgungsträger zu erhalten, gegenüber den für die externe Teilung sprechenden Interessen hintangestellt werden. Dass das Anrecht bei einem anderen Versorgungsträger begründet wird, ist der ausgleichsberechtigten Person für sich genommen zumutbar, zumal das regelmäßig mit keiner spürbaren Belastung für sie verbunden ist. Insoweit hat auch das vorlegende Gericht keine Bedenken geäußert. 67 Wenn jedoch die externe Teilung zu einer prognostischen Leistungsverminderung führt, die bei interner Teilung nicht einträte, haben die ausgleichsberechtigte wie auch die insoweit ohne entsprechenden Nutzen um einen Teil ihres Anrechts gebrachte ausgleichspflichtige Person dies nicht ohne Weiteres hinzunehmen. Beide haben ein im Grundsatz grundrechtlich geschütztes Interesse daran, dass die nach der externen Teilung auf das Anrecht der ausgleichsberechtigten Person zu erwartenden Versorgungsleistungen durch den neuen Versorgungsträger bei unterstellt identischen biometrischen Faktoren nicht geringer sind, als sie bei interner Teilung zu erwarten wären und als die ausgleichspflichtige Person an Kürzung hinnehmen muss. Der vom Arbeitgeber nach § 14 Abs. 4 VersAusglG an den Zielversorgungsträger als Kapitalbetrag zu zahlende Ausgleichswert muss dafür entsprechend bemessen sein. 68 (2) Darüber hinaus ist in Rechnung zu stellen, dass die externe Teilung nach § 17 VersAusglG zur faktischen Benachteiligung von Frauen führen kann. § 17 VersAusglG unterscheidet zwar nicht zwischen Frauen und Männern und zielt auch nicht verdeckt auf eine Benachteiligung von Frauen. Das Grundgesetz steht aber auch solchen Regelungen entgegen, die neutral formuliert und auch nicht verdeckt auf Benachteiligung ausgerichtet sind, jedoch tatsächlich ganz überwiegend Frauen benachteiligen (vgl. BVerfGE 85, 191 <206>; 97, 35 <43>; 104, 373 <393>; 113, 1 <20>; 121, 241 <254>; 126, 29 <53> m.w.N.; 132, 72 <97 Rn. 57>; 138, 296 <354 Rn. 144>). Insbesondere Art. 3 Abs. 2 GG bietet Schutz gerade auch vor faktischen Benachteiligungen. Die Verfassungsnorm zielt auf die Angleichung der Lebensverhältnisse von Frauen und Männern. Durch die Anfügung von Satz 2 in Art. 3 Abs. 2 GG ist ausdrücklich klargestellt worden, dass sich das Gleichberechtigungsgebot auf die gesellschaftliche Wirklichkeit erstreckt. Demnach ist es nicht entscheidend, dass eine Ungleichbehandlung unmittelbar und ausdrücklich an das Geschlecht anknüpft. Über eine solche unmittelbare Ungleichbehandlung hinaus haben verfassungsrechtlich insbesondere auch die faktisch unterschiedlichen Auswirkungen einer Regelung für Frauen und Männer Bedeutung (vgl. BVerfGE 126, 29 <53> m.w.N.). 69 Hier treffen die Nachteile der externen Teilung mehr geschiedene Frauen als Männer. Der Gesetzgeber ging davon aus, dass ungefähr 80 % aller ausgleichsberechtigten Personen Frauen seien (vgl. BTDrucks 16/10144, S. 44), die den Nachteil von Transferverlusten bei externer Teilung tragen. Dass von den nachteiligen Effekten weit mehr Frauen betroffen sind, liegt an der überwiegenden Aufteilung von familienbezogener und berufsbezogener Tätigkeit zwischen den Ehepartnern in Orientierung an überkommenen Rollenverteilungen (vgl. BVerfGE 85, 191 <207>). Solche faktischen Benachteiligungen können nur gerechtfertigt werden, wenn dafür hinreichend gewichtige Gründe bestehen (vgl. BVerfGE 113, 1 <20 f.>; 121, 241 <255>; 126, 29 <54>; 132, 72 <97 f. Rn. 57 f.>; 138, 296 <354 Rn. 144>). 70 (3) Auf der anderen Seite ist das Interesse des Arbeitgebers in die Abwägung einzustellen, extern teilen zu können, zugleich aber im Rahmen der externen Teilung lediglich aufwandsneutralen Kapitalabfluss hinnehmen zu müssen. Inwiefern es ihn belastet, einen Kapitalbetrag in solcher Höhe zu zahlen, dass daraus ein dem Anrecht bei interner Teilung vergleichbares und der Kürzung beim Ausgleichspflichtigen entsprechendes neues Anrecht beim Zielversorger begründet werden könnte, hängt von der näheren Ausgestaltung des Anrechts und den konkreten Umständen des Einzelfalls ab. 71 Schafft der Arbeitgeber, was der Regelfall sein dürfte, keine Kapitaldeckung, die ihn später davon entlastet, sein Versorgungsversprechen aus den laufenden Erträgen seines Geschäfts finanzieren zu müssen, muss er die von ihm eingegangenen Versorgungsverpflichtungen in Form von Rückstellungen in seiner Handelsbilanz abbilden. Die Rückstellungen sind nach § 253 Abs. 2 HGB mit dem dort genannten Zinssatz abzuzinsen. Bei externer Teilung steht dem Kapitalabfluss dann eine Teilauflösung der bilanziellen Rückstellungen in der gerade durch diesen BilMoG-Zinssatz bestimmten Höhe gegenüber. Wird der nach § 14 Abs. 4 VersAusglG zu zahlende Ausgleichswert anhand dieses Rechnungszinses festgesetzt, ist dies für den Arbeitgeber bilanziell aufwandsneutral. 72 Hat der Arbeitgeber sein Risiko hingegen – etwa mit einer Lebensversicherung – vollständig rückgedeckt, wird in der Praxis regelmäßig das insofern entstandene Deckungskapital zur Berechnung des Ausgleichswerts herangezogen. Auch das ist aus Sicht des Arbeitgebers aufwandsneutral. Wenn dabei die Rückdeckungsversicherung ungeachtet des Versorgungsausgleichs unverändert weiterbestehen und der Arbeitgeber den Vorteil der weiteren Verzinsung des vollen Deckungskapitals zu einem historisch bedingt günstigen Zinssatz haben sollte, minderte dieser Vorteil allerdings den Aufwand des Arbeitgebers für die Zahlung des Ausgleichswerts. Insoweit wären Transferverluste der ausgleichsberechtigten Person von vornherein nicht zu rechtfertigen. 73 bb) Die gegenläufigen Interessen sind angemessen in Ausgleich zu bringen. Angesichts des legitimen Interesses des Arbeitgebers an der externen Teilung ist auch dessen Interesse, dafür lediglich einen aufwandsneutralen Kapitalbetrag zahlen zu müssen, im Grundsatz anzuerkennen. Jedoch dürfen die Nachteile der externen Teilung nicht um jeden Preis auf die ausgleichsberechtigte Person verlagert werden. Einer solchen Verlagerung der Lasten sind – zumal wegen der Aufteilung von familienbezogener und berufsbezogener Tätigkeit zwischen den Ehepartnern überwiegend Frauen ausgleichsberechtigt und von den Nachteilen externer Teilung betroffen sind – enge Grenzen gesetzt. 74 (1) Allein der Umstand, dass der nach § 14 Abs. 4 VersAusglG zu zahlende Kapitalbetrag durch Abzinsung anhand des BilMoG-Zinssatzes (§ 253 Abs. 2 HGB) berechnet oder – in Fällen kongruent rückgedeckter Anrechte – nach dem Deckungskapital der Rückdeckungsversicherung bestimmt wurde (vgl. oben Rn. 71), rechtfertigt damit verbundene Transferverluste nicht ausreichend. Der im Ausgangspunkt plausible Berechnungsmodus legitimiert nicht jeglichen Verlust auf Seiten der ausgleichsberechtigten Person. Vielmehr muss die Verringerung der aus dem neu begründeten Anrecht zu erwartenden Leistungen in angemessenem Verhältnis zu den Vorteilen der externen Teilung für den Arbeitgeber stehen. 75 (2) Allerdings kann es sich auch insoweit lediglich um eine Prognose handeln, weil die weitere Entwicklung der beiden Teile des geteilten Anrechts beim Quellversorgungsträger einerseits und beim Zielversorgungsträger andererseits im Zeitpunkt des Ausgleichs nicht in jeder Hinsicht vorhersehbar ist. Das vom Gesetzgeber mit der Reform des Versorgungsausgleichs im Jahr 2009 verfolgte Ziel, frühzeitig eigenständige Versorgungsanrechte der ausgleichsberechtigten Person zu schaffen und damit die Versorgungsschicksale der geschiedenen Eheleute möglichst bei der Scheidung endgültig zu trennen (BTDrucks 16/10144, S. 30), ist auch verfassungsrechtlich anzuerkennen (vgl. bereits BVerfGE 136, 152 <170 f. Rn. 44>). Im Zeitpunkt der Teilung nicht vorhersehbare Unterschiede in der Entwicklung der Anrechte sind unvermeidbar. 76 Die Anerkennung dieses Reformziels schließt jedoch nicht aus, Faktoren, die bereits im Zeitpunkt der externen Teilung erkennbar zu einer Verringerung der für die ausgleichsberechtigte Person erwartbaren Leistung im Vergleich zur internen Teilung führen, auf das unter Berücksichtigung der gegenläufigen Positionen angemessene Maß zu begrenzen (vgl. OLG Nürnberg, Beschluss vom 31. Januar 2014 - 11 UF 1498/13 -, juris, Rn. 46 a.E.). Der bei Berechnung des Ausgleichswerts einerseits und vom Zielversorgungsträger andererseits verwendete Rechnungszins kann ein solcher Faktor sein. Indessen müssen Faktoren, die dazu führen, dass die ausgleichsberechtigte Person gerade wegen der externen Teilung aus dem neu begründeten Anrecht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Vorteile gegenüber der bei interner Teilung erwartbaren Leistung zieht, ebenfalls berücksichtigt werden. 77 (3) In welchem Maß die Verringerung der erwartbaren Versorgungsleistung verfassungsrechtlich hinzunehmen ist, um dem Arbeitgeber aufwandsneutral die externe Teilung zu ermöglichen, ist durch das Grundgesetz nicht zahlengenau vorgegeben. Das vorlegende Oberlandesgericht hat die Grenze bei einer Abweichung der Zielversorgung von der Ausgangsversorgung um mehr als 10 % gesehen. Dagegen ist verfassungsrechtlich nichts einzuwenden. 78 Eine Grenze von 10 % trägt auf der einen Seite den eigentumsrechtlich geschützten Interessen der geschiedenen Ehepartner und den verfassungsrechtlichen Grenzen faktischer Benachteiligung von Frauen Rechnung. Wegen der Kostenregelung in § 13 VersAusglG wäre ohnehin auch bei interner Teilung mit gewissen Einbußen zu rechnen, weil danach die bei interner Teilung entstehenden Kosten jeweils hälftig mit den Anrechten beider Ehegatten verrechnet werden können, soweit sie angemessen sind. 79 Auf der anderen Seite werden mit einer Grenze von 10 % im Regelfall auch die Interessen des Arbeitgebers nicht unzumutbar hintangestellt und ist damit das objektive Interesse an einer Stärkung der betrieblichen Altersvorsorge hinreichend berücksichtigt. Ohnehin sind Arbeitgeber im Falle sehr kleiner Anrechte durch § 14 Abs. 2 Nr. 2 VersAusglG ungeachtet etwaiger Transferverluste von der internen Teilung und dem damit verbundenen Aufwand befreit, woran verfassungsrechtlich kein Anstoß zu nehmen ist. Zwar mag – je nach Zinsentwicklung – die Begrenzung der Leistungsverminderung bei externer Teilung nach § 17 VersAusglG auf maximal 10 % dazu führen, dass Ausgleichswerte in einer Höhe festgesetzt werden, die der Arbeitgeber nicht aufwandsneutral an den Zielversorgungsträger leisten kann. Wenn der Arbeitgeber den Aufwand der Zahlung eines entsprechenden Kapitalbetrags vermeiden will, kann er jedoch die interne Teilung nach § 10 VersAusglG wählen, was ihm nach § 17 VersAusglG immer möglich bleibt. Durch interne Teilung kann der Arbeitgeber einen ihn übermäßig belastenden Kapitalabfluss vollständig vermeiden (vgl. BTDrucks 16/10144, S. 43). Zwar bringt ihn das um die Vorteile externer Teilung. Auch die interne Teilung ist jedoch im Rahmen von § 13 VersAusglG für den Arbeitgeber kostenneutral (vgl. BGHZ 209, 218 <237 f. Rn. 46>). Seine Belastung durch interne Teilung ist damit von vornherein begrenzt. In die interne Teilung auszuweichen, wenn sich die externe Teilung angesichts des gerichtlich bestimmten Ausgleichswerts nicht aufwandsneutral realisieren lässt, ist dem Arbeitgeber regelmäßig zumutbar, wenn die aufwandsneutrale Teilung zu Transferverlusten von über 10 % führen würde. 80 c) § 17 VersAusglG hindert die Gerichte nicht daran, den Versorgungsausgleich im Fall externer Teilung in verfassungsgemäßer Weise zu regeln und lässt insbesondere eine Festsetzung des Ausgleichswerts zu, die erwartbare verfassungswidrige Effekte der externen Teilung vermeidet. Ob die Grundrechte der Ausgleichsberechtigten gewahrt sind, ist daher eine Frage der gerichtlichen Normanwendung im Einzelfall (unten Rn. 89 ff.). 81 aa) Der Gesetzgeber hat keine eigene Regelung zur Begrenzung von Transferverlusten getroffen. Auch § 15 Abs. 2 VersAusglG, wonach die gewählte Zielversorgung eine angemessene Versorgung gewährleisten muss, kann nicht ausschließen, dass es wegen der Bemessung des vom Quellversorgungsträger zu entrichtenden Kapitalbetrags zu Transferverlusten kommt. 82 Das Gesetz hindert die Gerichte jedoch nicht daran, den Versorgungsausgleich im Fall externer Teilung in verfassungsgemäßer Weise zu regeln. Zwar darf das Familiengericht nicht abweichend von § 17 VersAusglG die interne Teilung anordnen. Es kann jedoch bei der Bestimmung des Ausgleichswerts für die externe Teilung (§ 14 Abs. 4 VersAusglG) das erwartbare Maß der Transferverluste steuern. Dem stehen weder der Wortlaut noch der gesetzgeberische Wille entgegen (vgl. zu den Grenzen verfassungskonformer Auslegung BVerfGE 149, 126 <154 ff. Rn. 72 ff.> m.w.N.). Nach Vorstellung des Gesetzgebers sollen die Familiengerichte die vom Versorgungsträger nach § 5 Abs. 1 VersAusglG vorzunehmende Berechnung des Ehezeitanteils und dessen nach § 5 Abs. 3 VersAusglG zu unterbreitenden Vorschlag des Ausgleichswerts prüfen und sollen in eigener Verantwortung den Ausgleichswert festsetzen (vgl. BTDrucks 16/10144, S. 50; näher unten Rn. 89 ff.). 83 Dabei dürfte es im Sinne des Gesetzgebers sein, dass die Familiengerichte zu große Transferverluste verhindern. Insgesamt war die Rechtsreform des Jahres 2009 von dem Ziel getragen, Transferverluste beim Versorgungsausgleich zu vermeiden (vgl. BTDrucks 16/10144, S. 37). Zwar hat der Gesetzgeber die externe Teilung im Falle des § 17 VersAusglG gezielt zugelassen und hat durchaus gesehen, dass dies mit Transferverlusten verbunden sein kann (vgl. BTDrucks 16/10144, S. 38). Der Gesetzgeber nahm jedoch an, das Interesse der ausgleichsberechtigten Person an der systeminternen Teilhabe bleibe gewahrt, weil sie nach § 15 VersAusglG über die Zielversorgung entscheide, die auch bessere Bedingungen bieten könne als das zu teilende betriebliche Anrecht (vgl. BTDrucks 16/10144, S. 60). Sofern aber von der Erlangung solch besserer Bedingungen infolge spezifischer Zinsentwicklung keine Rede sein kann, spricht diese gesetzgeberische Annahme eher für als gegen eine Anpassung des Ausgleichswerts durch die Familiengerichte. In der mündlichen Verhandlung hat auch die Bundesregierung deutlich zu erkennen gegeben, dass die zwischenzeitlich bei der Anwendung von § 17 VersAusglG wegen der besonderen Zinsentwicklung aufgetretenen Transferverluste ungewollte Effekte sind, die künftig vermieden werden müssten, was aber unter Fortgeltung von § 17 VersAusglG durchaus möglich sei. 84 Dem stehen auch keine Bestimmungen zur Berechnung des Ausgleichswerts entgegen. Wie der Ausgleichswert zu berechnen ist, hat der Gesetzgeber nicht im Detail geregelt. Insbesondere hat er den Gerichten nicht die Verwendung des BilMoG-Zinssatzes (§ 253 Abs. 2 HGB) auferlegt. § 45 Abs. 1 VersAusglG bestimmt, dass bei einem Anrecht im Sinne des Betriebsrentengesetzes (BetrAVG) der Wert des Anrechts als Rentenbetrag nach § 2 BetrAVG oder der Kapitalwert nach § 4 Abs. 5 BetrAVG maßgeblich ist. In der Praxis ist im Rahmen von § 17 VersAusglG allein die zweite Alternative, die Ermittlung des Werts als Kapitalwert, relevant. Der dabei anzuwendende § 4 Abs. 5 BetrAVG bestimmt, dass der Übertragungswert bei einer unmittelbar über den Arbeitgeber oder über eine Unterstützungskasse durchgeführten betrieblichen Altersversorgung dem Barwert der nach § 2 BetrAVG bemessenen künftigen Versorgungsleistung im Zeitpunkt der Übertragung entspricht und dass bei der Berechnung des Barwerts die Rechnungsgrundlagen sowie die anerkannten Regeln der Versicherungsmathematik maßgebend sind. Zu den maßgeblichen Faktoren für die Berechnung des Kapitalwerts zählt insbesondere der für die Diskontierung herangezogene Rechnungszins (vgl. BGHZ 209, 218 <223 f. Rn. 15>). § 45 VersAusglG und § 4 Abs. 5 BetrAVG geben indessen nicht vor, welcher Zinssatz der Berechnung des Kapitalwerts der Anwartschaft auf eine Betriebsrente zugrunde zu legen ist. Insbesondere ist die Heranziehung des Zinssatzes gemäß § 253 Abs. 2 HGB nicht zwingend vorgegeben. In den Begründungen des Gesetzentwurfs der Bundesregierung und der Ausschussempfehlung findet sich lediglich der Vorschlag, diesen Zins heranzuziehen, nicht aber eine entsprechende Verpflichtung. 85 In der Begründung des Regierungsentwurfs ist zu lesen (BTDrucks 16/10144, S. 85, Hervorhebung hinzugefügt): Die Wahl des Rechnungszinses für die Diskontierung wird den Versorgungsträgern überlassen, denn es soll hierbei ein möglichst realistischer und für das jeweilige Anrecht spezifischer Zins verwendet werden. Als Maßstab könnte die bilanzielle Bewertung der entsprechenden Pensionsverpflichtung dienen. So sieht beispielsweise der Referentenentwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Bilanzrechts (Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz – BilMoG) in § 253 Abs. 2 Satz 1 und 2 HGB-E vor, dass Rückstellungen für Rentenverpflichtungen mit dem durchschnittlichen Marktzinssatz zu bewerten sind. Die anzuwendenden Abzinsungszinssätze sollen nach § 253 Abs. 2 Satz 3 HGB-E von der Deutschen Bundesbank ermittelt und monatlich bekannt gegeben werden. 86 In der Begründung der Ausschussempfehlung heißt es (BTDrucks 16/11903, S. 56): In Ergänzung der Begründung des Regierungsentwurfs zu § 47 Abs. 4 VersAusglG (Drucksache 16/10144, Seite 85) wird darauf hingewiesen, dass der Regierungsentwurf für ein Gesetz zur Modernisierung des Bilanzrechts (Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz – BilMoG, Drucksache 16/10067) die Bestimmungen für den maßgeblichen Rechnungszins bei der Bewertung von Pensionsrückstellungen weiter konkretisiert hat: Nach § 253 Abs. 2 HGB-RegE soll dieser Rechnungszins nach Maßgabe einer Rechtsverordnung ermittelt und monatlich von der Deutschen Bundesbank bekannt gegeben werden. Das neue handelsrechtliche Bewertungsrecht führt so zu realistischen Stichtagswerten, die also – ohne erheblichen Mehraufwand für die Versorgungsträger – auch für Zwecke des Versorgungsausgleichs nutzbar gemacht werden können. 87 Dabei ist die Wortwahl in der Begründung des Gesetzentwurfs insofern missverständlich, als es dort heißt, die Wahl des Rechnungszinses für die Diskontierung werde den Versorgungsträgern überlassen. Zwar unterbreitet der Versorgungsträger dem Familiengericht nach § 5 Abs. 3 VersAusglG einen Vorschlag für die Bestimmung des Ausgleichswerts. Dieser Vorschlag ist jedoch nicht bindend. Nach § 222 Abs. 3 FamFG setzt das Gericht den nach § 14 Abs. 4 VersAusglG zu zahlenden Kapitalbetrag fest. Die Gerichte können und müssen eine eigene rechtliche Entscheidung treffen und müssen gegebenenfalls den vom Versorgungsträger zugrunde gelegten Zinssatz korrigieren, um verfassungsrechtlich übermäßige Transferverluste zu vermeiden (vgl. BTDrucks 16/10144, S. 50; OLG Nürnberg, Beschluss vom 31. Januar 2014 - 11 UF 1498/13 -, juris, Rn. 46). 88 bb) Das vorlegende Gericht hält die vorgelegte Norm allerdings auch deshalb für verfassungswidrig, weil es aus praktischen Gründen ausgeschlossen sei, im gerichtlichen Verfahren einen für das jeweilige Ehezeitende passenden marktgerechten Zinssatz zu ermitteln. Es müsse mit der Möglichkeit gerechnet werden, dass bei einer Ermittlung durch verschiedene Sachverständige, verbunden mit einem entsprechenden Prognoserisiko, unterschiedliche und damit auch schwer vermittelbare Ergebnisse erzielt würden. Eine solche Handhabung werde den Erfordernissen des Massengeschäfts Versorgungsausgleich nicht gerecht. Dem ist der Bundesgerichtshof mit seiner in diesem verfassungsgerichtlichen Verfahren abgegebenen schriftlichen Stellungnahme überzeugend entgegengetreten. Aus Anwendungsproblemen der für die externe Teilung erforderlichen Kapitalwert-ermittlung lässt sich nicht ohne Weiteres auf die Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Regelung schließen, zumal alternative Berechnungsansätze pauschaliert werden können. 89 d) Es ist demnach Aufgabe der Gerichte, bei Durchführung des Versorgungsausgleichs nach § 17 VersAusglG den als Kapitalbetrag zu zahlenden Ausgleichswert so festzusetzen, dass neben den Interessen des Arbeitgebers auch die Grundrechte insbesondere der ausgleichsberechtigten Person gewahrt sind, indem übermäßige Transferverluste verhindert werden. 90 In der praktischen Durchführung der externen Teilung genügt zur Wahrung der verfassungsrechtlichen Anforderungen, dass aus dem vom Arbeitgeber vorgeschlagenen Ausgleichswert bei dem von der ausgleichsberechtigten Person gegebenenfalls gewählten Zielversorgungsträger oder bei der gemäß § 15 Abs. 5 Satz 2 VersAusglG aufnahmeverpflichteten Versorgungsausgleichskasse oder – sofern die Anrechtsbegründung dort möglich ist – bei der gesetzlichen Rentenversicherung eine verfassungsrechtlich ausreichende Versorgung begründet werden kann. Das Familiengericht muss dies aufklären. 91 Kann aus dem vom Arbeitgeber vorgeschlagenen Ausgleichswert weder bei dem gewählten Zielversorgungsträger noch bei der gemäß § 15 Abs. 5 Satz 2 VersAusglG aufnahmeverpflichteten Versorgungsausgleichskasse noch bei der aufnahmebereiten gesetzlichen Rentenversicherung eine den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügende Versorgung begründet werden, muss das Familiengericht den Ausgleichswert so anpassen, dass Transferverluste, die außer Verhältnis zu den Vorteilen der externen Teilung stehen (oben Rn. 64 ff.), vermieden werden. Wie die Berechnung im Einzelnen vorzunehmen ist, gibt das Grundgesetz nicht vor (vgl. zu unterschiedlichen Berechnungswegen aus der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte: OLG Hamm, Beschluss vom 6. Februar 2012 - 12 UF 207/10 -, juris; OLG Nürnberg, Beschluss vom 31. Januar 2014 - 11 UF 1498/13 -, juris; OLG Koblenz, Beschluss vom 24. November 2014 - 11 UF 342/13 -, juris). Dem Arbeitgeber muss die Möglichkeit bleiben, angesichts des gerichtlich bestimmten Ausgleichsbetrags doch die interne Teilung zu wählen. II. 92 Die Vorlage macht eine Verletzung des Halbteilungsgrundsatzes geltend. Inwiefern dem einfachrechtlich in § 1 Abs. 1 VersAusglG geregelten Halbteilungsgrundsatz beim Versorgungsausgleich über die Bedeutung als Rechtfertigungsgrund (vgl. BVerfGE 53, 257 <296>; 87, 348 <356>; 136, 152 <178 Rn. 61>; stRspr) hinaus verfassungsrechtliche Relevanz zukommt, ist in der Senatsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht abschließend geklärt (vgl. aber BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 2. Mai 2006 - 1 BvR 1275/97 -, Rn. 13 ff.) und kann offenbleiben. Die Frage der hälftigen Aufteilung von Anrechten zwischen den Geschiedenen betrifft allein deren Verhältnis, nicht aber den in § 17 VersAusglG angelegten Interessenausgleich im Verhältnis zwischen ausgleichsberechtigter Person und Arbeitgeber. Der auf Gleichheit im Innenverhältnis der Geschiedenen gerichtete Halbteilungsgrundsatz bietet dafür keinen geeigneten Maßstab. III. 93 Auch an Art. 3 Abs. 1 GG gemessen (1) ist § 17 VersAusglG verfassungsgemäß. Die Regelung benachteiligt zwar zum einen Inhaber von Versorgungsanrechten aus Direktzusage und Unterstützungskasse gegenüber Inhabern sonstiger betrieblicher Versorgungsanrechte, die eine einseitig verlangte externe Teilung nur in den deutlich geringeren Wertgrenzen des § 14 VersAusglG hinzunehmen haben (2). Zum anderen benachteiligt § 17 VersAusglG Inhaber von Versorgungsanrechten, die sich innerhalb der Wertgrenze des § 17 VersAusglG halten und daher eine externe Teilung hinnehmen müssen, gegenüber jenen, deren Anrechte die Wertgrenze des § 17 VersAusglG überschreiten und daher intern geteilt werden (3). Beides ist jedoch bei verfassungskonformer Anwendung zu rechtfertigen. 94 1. Art. 3 Abs. 1 GG gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Das hieraus folgende Gebot, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln, gilt für ungleiche Belastungen und ungleiche Begünstigungen. Verboten ist daher auch ein gleichheitswidriger Begünstigungsausschluss, bei dem eine Begünstigung einem Personenkreis gewährt, einem anderen Personenkreis aber vorenthalten wird. Dabei verwehrt Art. 3 Abs. 1 GG dem Gesetzgeber nicht jede Differenzierung. Differenzierungen bedürfen jedoch stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Ziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind. Dabei gilt ein stufenloser, am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab, dessen Inhalt und Grenzen sich nicht abstrakt, sondern nur nach den jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereichen bestimmen lassen. 95 Hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Anforderungen an den die Ungleichbehandlung tragenden Sachgrund ergeben sich aus dem allgemeinen Gleichheitssatz je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die von gelockerten, auf das Willkürverbot beschränkten Bindungen bis hin zu strengen Verhältnismäßigkeitserfordernissen reichen können. Eine strengere Bindung des Gesetzgebers kann sich aus den jeweils betroffenen Freiheitsrechten ergeben. Zudem verschärfen sich die verfassungsrechtlichen Anforderungen, je weniger die Merkmale, an die die gesetzliche Differenzierung anknüpft, für den Einzelnen verfügbar sind oder je mehr sie sich denen des Art. 3 Abs. 3 GG annähern (BVerfGE 138, 136 <180 f. Rn. 121 f.> m.w.N.; stRspr). 96 2. Die Benachteiligung der Inhaber von Versorgungsanrechten aus Direktzusage und Unterstützungskasse kann danach im Ergebnis gerechtfertigt sein. Auch insoweit kommt es auf die Rechtsanwendung durch die Gerichte an. 97 a) Nach den oben genannten Grundsätzen gehen die Anforderungen an die Rechtfertigung dieser Ungleichbehandlung über ein bloßes Willkürverbot hinaus. 98 aa) Die Ungleichbehandlung weist zwar keine Nähe zu den in Art. 3 Abs. 3 GG genannten Merkmalen auf. Die Differenzierung richtet sich nach der Art der betroffenen Anrechte, nicht nach persönlichen oder sonstigen Merkmalen, deren Verwendung ähnlich wie die in Art. 3 Abs. 3 GG genannten Merkmale die Gefahr der Diskriminierung einer der dort genannten Gruppen begründen könnte. Dass mehr Frauen als Männer im Versorgungsausgleich ausgleichsberechtigt sind und damit mehr Frauen wegen § 17 VersAusglG Transferverluste erleiden, ist in diesem Zusammenhang (anders oben Rn. 68 f.) ohne Bedeutung. Denn in der hier relevanten Vergleichsgruppe der Ausgleichsberechtigten, deren betriebliche Anrechte nicht unter § 17 VersAusglG fallen, dürften sich statistisch betrachtet ebenso viele Frauen finden wie in der durch § 17 VersAusglG betroffenen Gruppe von Ausgleichsberechtigten. 99 bb) Die Merkmale, an die die gesetzliche Differenzierung anknüpft, sind für die Betroffenen auch in gewissem Maße verfügbar. Zum einen können die Ausgleichspflichtigen, wenn auch sicherlich nur sehr eingeschränkt, Einfluss darauf nehmen, ob für sie ein Anrecht begründet wird, das nach § 17 VersAusglG externer Teilung unterliegt. Zum anderen können die Ehepartner durch Vereinbarungen (§§ 6 bis 8 VersAusglG) beeinflussen, wie sich die Durchführung der externen Teilung im Rahmen des Versorgungsausgleichs auf ihre Altersversorgung auswirkt, und können damit in gewissem Rahmen auch den in § 17 VersAusglG geregelten Rechtsfolgen der externen Teilung begegnen. So ist etwa der Abschluss einer Vereinbarung denkbar, die zur Vermeidung externer Teilung eine Verrechnung bestehender Anrechte vorsieht, um damit schädliche Auswirkungen einer etwaigen Zinsdifferenz abzumildern (vgl. Weil, FPR 2013, S. 254 <256>; Hauß, in: Schulz/Ders., Familienrecht, 3. Auflage 2018, § 14 VersAusglG Rn. 19; Ackermann-Sprenger, in: BeckOGK, VersAusglG, Stand 1. August 2019, § 17 Rn. 14). In Betracht kommen auch sonstige vermögensrechtliche Vereinbarungen (vgl. Hauß, in: FS Brudermüller, 2014, S. 277 <288>). 100 cc) Jedoch sind durch die Regelung das Eigentumsgrundrecht der ausgleichsberechtigten und das der ausgleichspflichtigen Person betroffen. Wie schwer dies wiegt, hängt von der Höhe der durch die externe Teilung verursachten Transferverluste ab. Danach richten sich auch das Gewicht der Ungleichbehandlung und die Anforderungen an deren Rechtfertigung. 101 b) Die in § 17 VersAusglG getroffene Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Arten betrieblicher Anrechte ist danach grundsätzlich mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar. 102 aa) Mit der Entscheidung, bei betrieblichen Anrechten aus Direktzusage und Unterstützungskasse die externe Teilung über die Wertgrenze des § 14 Abs. 2 Nr. 2 VersAusglG hinaus in den Grenzen des § 17 VersAusglG zu erlauben, verfolgt der Gesetzgeber grundsätzlich legitime Ziele. Die Differenzierung zwischen internen und externen Durchführungswegen bezweckt zum einen, Arbeitgeber, die eine Zusage auf eine betriebliche Altersversorgung in einem unmittelbaren Durchführungsweg erteilt haben, davor zu schützen, betriebsfremde Personen in ihr Versorgungssystem aufnehmen zu müssen (oben Rn. 62). Die Entlastung der Versorgungsträger fördert zum anderen die mit dem Gesetz über den Versorgungsausgleich verfolgte sozialpolitische Zielsetzung der Verbreitung der betrieblichen Altersvorsorge als zweiter Säule der Altersvorsorge (oben Rn. 63) hier in Form der Direktzusage und der unterstützungskassengedeckten Zusage. Der Deutsche Familiengerichtstag hat in seiner Stellungnahme zu diesem Verfahren dargelegt, dass es sich gerade bei der Direktzusage und der unterstützungskassengedeckten Zusage um für die Beschäftigten besonders günstige Formen der betrieblichen Altersversorgung handelt, die größere Freiheit bei der konkreten Ausgestaltung bieten, eine Rendite aufweisen, die durch externe versicherungsförmige Wege nicht erzielt werden kann, und von den Arbeitnehmern nicht um den Preis von Entgeltverzicht oder -umwandlung erkauft sind. 103 bb) Diese Vorteile der Sonderbehandlung der in § 17 VersAusglG genannten Anrechte sind gegen die Nachteile derjenigen abzuwägen, die nach § 17 VersAusglG gegen ihren Willen eine externe Teilung hinnehmen müssen. Das Ergebnis der Abwägung hängt davon ab, wie hoch die Transferverluste externer Teilung im konkreten Fall vermutlich wären. Die Rechtfertigung der Ungleichbehandlung ist im Einzelfall durch gerichtliche Abwägung zu überprüfen. § 17 VersAusglG lässt auch insoweit erforderliche Anpassungen des Ausgleichswerts zu (oben Rn. 80 ff.). Sofern sich die zu erwartenden Transferverluste aufgrund externer Teilung in den bereits durch Art. 14 Abs. 1 GG gebotenen Grenzen halten (oben Rn. 64 ff.), ist auch die in § 17 VersAusglG getroffene Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Arten betrieblicher Anrechte gerechtfertigt und mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar. 104 3. Die Benachteiligung der Inhaber von Versorgungsanrechten, die sich innerhalb der Wertgrenze des § 17 VersAusglG halten und daher eine externe Teilung hinzunehmen haben, gegenüber jenen, deren Anrechte die Wertgrenze des § 17 VersAusglG überschreiten und daher grundsätzlich intern geteilt werden, kann im Ergebnis ebenfalls gerechtfertigt sein. Auch insofern bedarf es aber der verfassungskonformen Anwendung. 105 a) Die Benachteiligung jener Ausgleichsberechtigter, deren Ehezeitanteil die Wertgrenze des § 17 VersAusglG nicht erreicht, bemisst sich nach gleich strengen Anforderungen wie die Benachteiligung der Inhaber von in § 17 VersAusglG genannten Anrechten im Verhältnis zu den Inhabern anderer Rechte (oben Rn. 97). 106 b) Obwohl die Gesetzgebungsmaterialien hierzu keine Ausführungen enthalten, lassen sich für die gesetzliche Differenzierung zwischen besonders hochwertigen und sonstigen Anrechten noch hinreichende Gründe finden. Die Wertgrenze des § 17 VersAusglG entspricht der Beitragsbemessungsgrenze der gesetzlichen Rentenversicherung und damit dem Betrag, bis zu dem höchstens ein Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen als Beitragsbemessungsgrundlage (§ 161 SGB VI) zur Beitragsberechnung zugrunde gelegt wird (§ 157 SGB VI). Aus der Beitragsbemessungsgrenze resultiert eine Leistungs- und Anspruchsbegrenzung, weil die Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung von der Beitragszahlung abhängen (vgl. § 63 Abs. 1 SGB VI). Übersteigt das Einkommen die Beitragsbemessungsgrenze, könnten auch durch freiwillige zusätzliche Beiträge keine weiteren Ansprüche bei der gesetzlichen Rentenversicherung begründet werden. Die Wertgrenze des § 17 VersAusglG setzt so die durch die Beitragsbemessungsgrenze gesetzte Leistungsgrenze der gesetzlichen Rentenversicherung auch bei dem Versorgungsausgleich um. 107 Der Prozessbevollmächtigte der Bundesregierung hat in der mündlichen Verhandlung dargelegt, die vom Gesetzgeber getroffene Wahl der Wertgrenze sei Ergebnis einer Abwägung. Je höherwertig das geteilte Anrecht sei, desto größer seien gegebenenfalls die Transferverluste externer Teilung und desto weniger seien sie demgemäß durch den Vorteil des Arbeitgebers gerechtfertigt. Die Beitragsbemessungsgrenze habe der Gesetzgeber insofern als angemessene Grenze für die externe Teilung angesehen. Verfassungsrechtlich ist dies insofern nicht unbedenklich, als sich wegen der relativ hohen Wertgrenze des § 17 VersAusglG bei den Betroffenen durch Transferverluste gleichwohl ein wichtiger Teil ihrer Altersvorsorge erheblich reduzieren könnte, während diejenigen, die über noch höhere Anrechte verfügen, dank interner Teilung von Transferverlusten verschont bleiben. Verfassungsrechtlich zu rechtfertigen ist die Benachteiligung der durch § 17 VersAusglG Betroffenen gegenüber den Inhaberinnen und Inhabern besonders hochwertiger Versorgungsanrechte nur, wenn auch erstere allenfalls begrenzte Transferverluste wegen externer Teilung hinnehmen müssen. Sofern sich die Transferverluste aufgrund externer Teilung in den bereits durch Art. 14 Abs. 1 GG gebotenen Grenzen halten (oben Rn. 64), ist die Ungleichbehandlung anhand der in § 17 VersAusglG geregelten Wertgrenze verfassungsrechtlich gerechtfertigt. § 17 VersAusglG ist nicht verfassungswidrig, bedarf jedoch auch insofern verfassungskonformer Anwendung. 108 Soweit die Bundesregierung und der Deutsche Familiengerichtstag zudem darauf hingewiesen haben, dass nach der ursprünglichen Gesetzesfassung der gesetzlichen Rentenversicherung bei der externen Teilung auch für die betrieb-lichen Anrechte eine Auffangfunktion zugedacht war (vgl. § 15 Abs. 5 Satz 1 VersAusglG) und diese vor Anrechten bewahrt werden sollte, deren Höhe zu den ansonsten von ihr zu verwaltenden Anrechten außer Verhältnis steht, kommt dem nach der Übernahme der Auffangfunktion durch die Versorgungsausgleichskasse (§ 15 Abs. 5 Satz 2 VersAusglG) keine ausschlaggebende Bedeutung mehr zu. Harbarth Masing Paulus Baer Britz Ott Christ Radtke
bundesverfassungsgericht
15-2022
24. Februar 2022
Verfassungsbeschwerden gegen familiengerichtliche Entscheidungen, die die Aufhebung infektionsschutzrechtlicher Maßnahmen in der Schule abgelehnt haben, erfolglos Pressemitteilung Nr. 15/2022 vom 24. Februar 2022 Beschluss vom 18. Januar 20221 BvR 2318/21 Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts die Verfassungsbeschwerde einer Mutter nicht zur Entscheidung angenommen, mit der diese sich gegen familiengerichtliche Entscheidungen gewandt hatte, welche die Aufhebung infektionsschutzrechtlicher Maßnahmen in der Grundschule des Sohnes der Beschwerdeführerin abgelehnt haben. Sachverhalt: Die Beschwerdeführerin ist die Mutter eines Sohnes, in dessen Schule auf infektionsschutzrechtlicher Grundlage unter anderem die Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung und zur Durchführung von Coronatests galt. Sie regte gegenüber den Familiengerichten ein Kinderschutzverfahren wegen Kindeswohlgefährdung (vgl. § 1666 BGB) an. Damit blieb sie erfolglos. Die Familiengerichte begründeten dies vor allem damit, dass der Anwendungsbereich von § 1666 BGB nicht eröffnet sei, weil der Staat und seine Institutionen keine Dritten im Sinne von Absatz 4 der genannten Vorschrift seien. Wesentliche Erwägungen der Kammer Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin nicht zur Entscheidung an. Annahmegründe (§ 93a Abs. 2 BVerfGG) liegen nicht vor, weil die Verfassungsbeschwerde unzulässig ist und zudem eine Verletzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten der Beschwerdeführerin nicht ersichtlich ist. Die Fachgerichte haben in Übereinstimmung mit der verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs § 1666 Abs. 4 BGB dahingehend ausgelegt, dass damit eine Befugnis der Familiengerichte zum Erlass von Anordnungen zur Durchsetzung des Kindeswohls gegenüber Behörden und sonstigen Trägern der öffentlichen Gewalt nicht verbunden ist. Angesichts der durch den Bundesgerichtshof geklärten fachrechtlichen Rechtslage waren die Voraussetzungen für die Zulassung der Rechtsbeschwerde von vornherein nicht gegeben. Ihr Unterbleiben verletzt die Beschwerdeführerin daher nicht in ihrem Anspruch auf den gesetzlichen Richter. Soweit die Beschwerdeführerin meint, sich auf Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts stützen zu können, verkennt sie deren Inhalt. Die gerichtliche Kontrolle von Behördenhandeln, auch hinsichtlich Infektionsschutzmaßnahmen in den jeweiligen Schulen, obliegt auch nach dessen Rechtsprechung allein den Verwaltungsgerichten.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT - 1 BvR 2318/21 - In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde der Frau (…), - Bevollmächtigter: (…) - gegen a) den Beschluss des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 23. Juni 2021 - 9 UF 105/21 -, b) den Beschluss des Amtsgerichts Königs Wusterhausen vom 26. April 2021 - 5 F 263/21 - hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Präsidenten Harbarth, die Richterin Britz und den Richter Radtke gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 18. Januar 2022 einstimmig beschlossen: Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. G r ü n d e : I. 1 Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Einleitung eines Kinderschutzverfahrens nach § 1666 BGB ablehnende familiengerichtliche Entscheidungen, welche die Beschwerdeführerin zur Aufhebung infektionsschutzrechtlicher Maßnahmen in der Grundschule ihres Sohnes angeregt hatte. 2 Familiengericht und Oberlandesgericht haben die Einleitung eines Kinderschutzverfahrens abgelehnt, weil die Familiengerichte keine Hoheitsbefugnisse gegenüber staatlichen Stellen hätten. Die Beschwerdeführerin macht mit ihrer Verfassungsbeschwerde unter anderem einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG geltend, weil das Oberlandesgericht die Rechtsbeschwerde nicht zugelassen hat. II. 3 Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin nicht zur Entscheidung an. Annahmegründe (§ 93a Abs. 2 BVerfGG) liegen nicht vor, weil die Verfassungsbeschwerde unzulässig ist und zudem eine Verletzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten der Beschwerdeführerin nicht ersichtlich ist. 4 1. Die Verfassungsbeschwerde genügt aus mehreren Gründen den aus § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG folgenden Begründungsanforderungen nicht. 5 Die Beschwerdeführerin hat es entgegen den genannten gesetzlichen Anforderungen bereits versäumt, innerhalb der Monatsfrist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG für die Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde erforderliche Unterlagen vorzulegen oder deren wesentlichen Inhalt vorzutragen. 6 Für die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde ist nach § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG erforderlich, dass diese innerhalb eines Monats ab Zustellung der angegriffenen Entscheidung beim Bundesverfassungsgericht eingelegt und begründet wird. Zur Begründung gehört die fristgerechte Vorlage aller für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde notwendigen Anlagen, insbesondere der angegriffenen Entscheidungen und aller sonstigen wichtigen Dokumente (vgl. BVerfGE 93, 266 <288>; 129, 269 <278> m.w.N.; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 4. September 2019 - 1 BvR 1789/19 -, Rn. 3). Ein Nachreichen von Unterlagen nach Ablauf der Monatsfrist ist, vorbehaltlich einer Wiedereinsetzung, grundsätzlich nicht möglich (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 16. Juni 2017 - 1 BvR 1877/15 -, Rn. 9). 7 Hier erfolgte die Vorlage der angegriffenen Entscheidungen acht Tage nach Ablauf der Monatsfrist. Die Begründung der Verfassungsbeschwerde gibt insbesondere den Inhalt der Beschwerdeentscheidung des Oberlandesgerichts auch nicht in der gebotenen Weise wieder. 8 2. Die Begründung der Verfassungsbeschwerde genügt im Übrigen den Anforderungen nach § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG nicht und zeigt insbesondere die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung nicht auf. 9 Liegt zu den mit der Verfassungsbeschwerde aufgeworfenen Verfassungsfragen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bereits vor, der die angegriffenen Gerichtsentscheidungen folgen, so ist der behauptete Grundrechtsverstoß in Auseinandersetzung mit den vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Maßstäben zu begründen (vgl. BVerfGE 151, 67 <84 f. Rn. 49>; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 19. November 2021 - 1 BvR 781/21 u.a. -, Rn. 89 jeweils m.w.N.). 10 Hier hat die Beschwerdeführerin die angeblich verletzten Grundrechte nur genannt, sich aber nicht mit den Maßstäben des Bundesverfassungsgerichts zu diesen Normen auseinandergesetzt. Das gilt auch und vor allem für die behauptete Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG wegen der unterbliebenen Zulassung der Rechtsbeschwerde durch das Oberlandesgericht. 11 3. Eine Verletzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten der Beschwerdeführerin ist auch nicht ersichtlich. 12 Die Fachgerichte haben in Übereinstimmung mit der verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. BGH, Beschlüsse vom 6. Oktober 2021 - XII ARZ 35/21 -, Rn. 8, und vom 3. November 2021 - XII ZB 289/21 -, Rn. 15) § 1666 Abs. 4 BGB dahingehend ausgelegt, dass damit eine Befugnis der Familiengerichte zum Erlass von Anordnungen zur Durchsetzung des Kindeswohls gegenüber Behörden und sonstigen Trägern der öffentlichen Gewalt nicht verbunden ist. Angesichts der durch den Bundesgerichtshof geklärten fachrechtlichen Rechtslage waren die Voraussetzungen für die Zulassung der Rechtsbeschwerde von vornherein nicht gegeben. Ihr Unterbleiben verletzt die Beschwerdeführerin daher nicht in ihrem Anspruch auf den gesetzlichen Richter. 13 Soweit die Beschwerdeführerin meint, sich auf Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts stützen zu können, verkennt sie deren Inhalt. Die gerichtliche Kontrolle von Behördenhandeln, auch hinsichtlich Infektionsschutzmaßnahmen in den jeweiligen Schulen, obliegt auch nach dessen Rechtsprechung allein den Verwaltungsgerichten (vgl. BVerwG, Beschluss vom 16. Juni 2021 - 6 AV 1/21 -, Rn. 7). 14 Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen. 15 Diese Entscheidung ist unanfechtbar. Harbarth Britz Radtke
bundesverfassungsgericht
48-2021
17. Juni 2021
Weiterer Eilantrag zur Ausfertigung des Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetzes abgelehnt („EU-Wiederaufbaufonds“) Pressemitteilung Nr. 48/2021 vom 17. Juni 2021 Beschluss vom 08. Juni 20212 BvE 4/21 Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts einen weiteren Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung im Zusammenhang mit dem „EU-Wiederaufbaufonds“ abgelehnt, mit dem die Fraktion der Alternative für Deutschland im Deutschen Bundestag beantragt hatte, dem Bundespräsidenten zu untersagen, das Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz (ERatG) auszufertigen, zu unterschreiben und zu verkünden. Sachverhalt: Die Antragstellerin wendet sich im Wege der Organklage gegen die Mitwirkung von Bundesregierung und Deutschem Bundestag am Zustandekommen des Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetzes sowie gegen die Mitwirkung der Bundesregierung am Beschluss des Rates der Europäischen Union über die Verordnung (EU) 2020/2094 des Rates vom 14. Dezember 2020. Sie beantragt zugleich, dem Bundespräsidenten im Wege der einstweiligen Anordnung zu untersagen, das Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz auszufertigen, zu unterschreiben und zu verkünden. Ferner soll dem zuständigen Bundesminister untersagt werden, das Gesetz vor der Unterzeichnung durch den Bundespräsidenten gegenzuzeichnen. Nach Auffassung der Antragstellerin sind Bundesregierung und Bundestag bei der Novellierung des Eigenmittelbeschlusses vom 14. Dezember 2020 ihrer sich aus der Integrationsverantwortung aus Art. 23 in Verbindung mit Art. 38 und Art. 20 GG ergebenden Pflicht, die Souveränität Deutschlands und die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Bundestages zu wahren, nicht gerecht geworden und haben dadurch die Antragstellerin sowie den Bundestag, für den sie in Prozessstandschaft handele, in ihren jeweiligen Rechten verletzt. Wesentliche Erwägungen des Senats: Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig. Mit der auf den Beschluss des Senats vom 15. April 2021 (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 15. April 2021 - 2 BvR 547/21 -) folgenden Ausfertigung des Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetzes durch den Bundespräsidenten und seiner Verkündung im Bundesgesetzblatt hat sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung erledigt. Im Übrigen wäre dem Antrag, unabhängig von der Frage, ob und inwieweit die Anträge im Hauptsacheverfahren von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet sind, aus den im Beschluss des Senats vom 15. April 2021 dargelegten Gründen, die sich auf das vorliegende Verfahren entsprechend übertragen lassen, der Erfolg in der Sache auch von vornherein zu versagen gewesen.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT - 2 BvE 4/21 - IM NAMEN DES VOLKES In dem Verfahren über den Antrag festzustellen, a)  dass die Zustimmung der Antragsgegnerin zu 1., der Bundesregierung, im Rat der Europäischen Union am 14. Dezember 2020 zur Novellierung des Eigenmittelbeschlusses (Beschluss <EU, Euratom> 2020/2053 des Rates) wegen dessen Ermächtigung in Artikel 5 zur Kreditaufnahme im Umfang von 750 Mrd. Euro und einer Erhöhung der Eigenmittelbeiträge in Artikel 6 um 0,6 % des BNE sowie Regelungen über die Ausfallhaftung für jeweils andere Mitgliedstaaten und die Vorlage des Entwurfs eines Gesetzes für die Zustimmung im Deutschen Bundestag, dem Antragsgegner zu 2., mit evident strukturverschiebender Wirkung die Identität des Grundgesetzes, das demokratische Prinzip und das Rechtsstaatsprinzip, die Souveränität Deutschlands und die wirtschaftspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages verletzen und die Integrationsverantwortung missachten, weil diese Maßnahmen mit den Gründungsverträgen der Europäischen Union nicht vereinbar, sondern ultra vires sind und damit die Rechte und Pflichten der Antragstellerin als Fraktion und die Rechte und Verantwortlichkeiten des Deutschen Bundestages, die die Antragstellerin in Prozessstandschaft für den Deutschen Bundestag wahrnimmt, verletzt haben; b)  dass die gesetzliche Zustimmung des Deutschen Bundestages am 25. März 2021 zu dem novellierten Eigenmittelbeschluss mit der Ermächtigung in Artikel 5 zur Kreditaufnahme im Umfang von 750 Mrd. Euro zum Zwecke der Finanzierung des Aufbauinstruments der Europäischen Union mit evident strukturverschiebender Wirkung die Identität des Grundgesetzes, das demokratische Prinzip und das Rechtsstaatsprinzip, die Souveränität Deutschlands und die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages verletzt und die Integrationsverantwortung missachtet, weil diese Maßnahmen mit den Gründungsverträgen der Europäischen Union nicht vereinbar, sondern ultra vires sind und damit die Rechte und Pflichten der Antragstellerin als Fraktion und die Rechte und Verantwortlichkeiten des Deutschen Bundestages, die die Antragstellerin in Prozessstandschaft für den Deutschen Bundestag wahrnimmt, verletzt haben; c)  dass die Bundesregierung, die Antragsgegnerin zu 1., durch die Zustimmung zur Verordnung (EU) 2020/2094 des Rates vom 14. Dezember 2020, die das Wiederaufbauinstrument eingeführt hat, die Integrationsverantwortung aus Art. 23 GG in Verbindung mit Art. 38 GG und Art. 20 GG, nämlich das demokratische Prinzip und das Rechtsstaatsprinzip, aber auch die Souveränität Deutschlands und die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages verletzt hat, und festzustellen, dass die Bundesregierung, die Antragsgegnerin zu 1., entgegen ihren Verpflichtungen aus ihrer Integrationsverantwortung, aus der Identität des Grundgesetzes, dem demokratischen Prinzip und Rechtsstaatsprinzip, sowie der Souveränität Deutschlands und der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages unterlassen hat, durch Nichtigkeitsklage hinsichtlich dieser Verordnung vor dem Europäischen Gerichtshof gemäß Art. 263 AEUV das Recht wiederherzustellen oder zumindest die Rechtslage zu klären, und damit die Rechte und Pflichten der Antragstellerin als Fraktion und die Rechte und Verantwortlichkeiten des Deutschen Bundestages, die die Antragstellerin in Prozessstandschaft für den Deutschen Bundestag wahrnimmt, verletzt hat; d)  dass der Deutsche Bundestag es entgegen seiner Integrationsverantwortung aus Art. 23 GG in Verbindung mit Art. 38 GG und Art. 20 GG, der Identitätsverantwortung für das Grundgesetz, des demokratischen Prinzips und des Rechtsstaatsprinzips, aber auch der Souveränität Deutschlands und der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung unterlassen hat, darauf hinzuwirken, dass die Bundesregierung ihre rechtsverletzende Maßnahme durch die Zustimmung zu dem Wiederaufbauinstrument unterlässt und nach dieser Rechtsverletzung durch Nichtigkeitsklage vor dem Europäischen Gerichtshof gemäß Art. 263 AEUV das Recht wiederherzustellen oder zumindest die Rechtslage zu klären unternimmt, und damit die Rechte und Pflichten der Antragstellerin als Fraktion und die Rechte und Verantwortlichkeiten des Deutschen Bundestages, die die Antragstellerin in Prozessstandschaft für den Deutschen Bundestag wahrnimmt, verletzt hat; Antragstellerin:  Fraktion der Alternative für Deutschland im Deutschen Bundestag, vertreten durch die Fraktionsvorsitzenden Dr. Alice Weidel und Dr. Alexander Gauland, Platz der Republik 1, 11011 Berlin, - Bevollmächtigter: … - Antragsgegner:  1.  Bundesregierung, vertreten durch die Bundeskanzlerin, Bundeskanzleramt, Willy-Brandt-Straße 1, 10557 Berlin, 2.  Deutscher Bundestag, vertreten durch den Präsidenten, Platz der Republik 1, 11011 Berlin, hier:  Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat - unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter Vizepräsidentin König, Huber, Hermanns, Müller, Kessal-Wulf, Maidowski, Langenfeld, Wallrabenstein am 8. Juni 2021 gemäß § 24 BVerfGG beschlossen: Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird verworfen. G r ü n d e : I. 1 Die Antragstellerin wendet sich im Wege der Organklage gegen die Mitwirkung von Bundesregierung und Deutschem Bundestag am Zustandekommen des Gesetzes zum Beschluss des Rates vom 14. Dezember 2020 über das Eigenmittelsystem der Europäischen Union und zur Aufhebung des Beschlusses 2014/335/EU, Euratom (Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz – ERatG) sowie gegen die Mitwirkung der Bundesregierung am Beschluss des Rates der Europäischen Union über die Verordnung (EU) 2020/2094 des Rates vom 14. Dezember 2020. Sie beantragt zugleich, dem Bundespräsidenten im Wege der einstweiligen Anordnung zu untersagen, das Gesetz zum Beschluss des Rates vom 14. Dezember 2020 über das Eigenmittelsystem der Europäischen Union und zur Aufhebung des Beschlusses 2014/335/EU, Euratom (Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz – ERatG) auszufertigen, zu unterschreiben und zu verkünden. Ferner soll dem zuständigen Bundesminister untersagt werden, das Gesetz vor der Unterzeichnung durch den Bundespräsidenten gegenzuzeichnen. 2 Nach Auffassung der Antragstellerin sind Bundesregierung und Bundestag bei der Novellierung des Eigenmittelbeschlusses vom 14. Dezember 2020 ihrer sich aus der Integrationsverantwortung aus Art. 23 in Verbindung mit Art. 38 und Art. 20 GG ergebenden Pflicht, die Souveränität Deutschlands und die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Bundestages zu wahren, nicht gerecht geworden und haben dadurch die Antragstellerin sowie den Bundestag, für den sie in Prozessstandschaft handele, in ihren jeweiligen Rechten verletzt. 3 1. Als Fraktion im Deutschen Bundestag sei die Antragstellerin Organ im Sinne des Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 63 BVerfGG und daher im Organstreit beteiligtenfähig. Sie sei durch Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG und Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG sowie durch die Geschäftsordnung des Bundestages mit eigenen Rechten ausgestattet und berechtigt, diese sowie in Prozessstandschaft Rechte, die dem Bundestag zustünden, geltend zu machen. Dies gelte auch gegenüber dem Bundestag selbst. Bundesregierung und Bundestag seien mögliche Antragsgegner im Organstreitverfahren. Die Antragstellerin sei auch nach § 64 Abs. 1 BVerfGG antragsbefugt, weil sie in substantiierter Weise jedenfalls die Möglichkeit dargelegt habe, dass Bundesregierung und Bundestag die ihr gegenüber bestehenden Verpflichtungen verletzt sowie ihre Integrationsverantwortung gemäß Art. 23 in Verbindung mit Art. 38 und Art. 20 GG, die Souveränität Deutschlands und die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Bundestages zu wahren, vernachlässigt hätten. Dies gelte auch für die Zustimmung der Bundesregierung zu der Verordnung (EU) 2020/2094 des Rates vom 14. Dezember 2020, die das Wiederaufbauinstrument „Next Generation EU“ eingerichtet habe. Ebenso verletze das Unterlassen einer Nichtigkeitsklage vor dem Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 263 AEUV das demokratische Prinzip des Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG, die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Bundestages, die Souveränität Deutschlands, das Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG, die Integrationsverantwortung aus Art. 23 GG und die Identität des Grundgesetzes. Damit hätten die Antragsgegner zugleich Rechte des Bundestages, aber auch ihre eigenen Rechte als stärkster Oppositionsfraktion verletzt. Das Rechtsschutzbedürfnis sei gegeben, da die Antragstellerin im Bundestag Initiativen ergriffen habe (unter Hinweis auf BTDrucks 19/18725, 19/24391, 19/25806, 19/26895, 19/27210), die von der Mehrheit des Bundestages aber durchwegs abgelehnt worden seien. 4 Zur Begründetheit der Organklage trägt die Antragstellerin vor, die Zustimmung des Bundestages zum Eigenmittelbeschluss genüge nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Zwar habe der Bundestag mit mehr als zwei Dritteln seiner Abgeordneten zugestimmt, diese Mehrheit sei aber nicht in einem den Anforderungen des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG entsprechenden Verfahren zustande gekommen. Die Europäische Union sei nicht befugt, die Europäische Kommission zur Aufnahme von Krediten – zumal in einer Höhe von 750 Milliarden Euro – zu ermächtigen. Eine solche Ermächtigung ergebe sich weder aus Art. 122 AEUV noch aus Art. 311 Abs. 3 AEUV. Sie erfolge ultra vires, was auch Art. 17 Abs. 2 der Haushaltsordnung der Europäischen Union bestätige. Die COVID-19-Krise könne die Kreditaufnahme nicht rechtfertigen. Eine allgemeine Befugnis der Europäischen Union, in Notlagen den Mitgliedstaaten finanzielle Hilfestellung zu geben, sei den Verträgen nicht zu entnehmen. Die Europäische Union sei kein Staat, der aus dem Staatsprinzip eine Notstandsbefugnis herzuleiten vermöge, sondern nur ein Staatenverbund. Art. 136 Abs. 3 AEUV entfalte eine Sperrwirkung für eine Kreditfinanzierung der Europäischen Union. Es lägen zudem ein Verstoß gegen das Bail-out-Verbot des Art. 125 AEUV und eine offensichtliche und strukturell bedeutsame Verschiebung zulasten mitgliedstaatlicher Kompetenzen vor. Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung werde grob und strukturwidrig missachtet. Ebenso missachtet werde der Europäische Fiskalpakt. Die vertragswidrige Ermächtigung der Europäischen Kommission zur Kreditaufnahme im Umfang von 750 Milliarden Euro sei auch mit der Identität des Grundgesetzes unvereinbar. Sie bedeute eine Belastung zukünftiger Generationen mit hohen Schulden, zu der der gegenwärtige Bundestag nicht berechtigt sei. Der Wiederaufbaufonds trage weniger dem Ausgleich der wirtschaftlichen und gesundheitlichen Folgen der Coronakrise Rechnung, sondern transferiere vornehmlich Ressourcen von den finanzstärkeren zu den finanzschwächeren Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Dies gehe vor allem zulasten Deutschlands, das mit 25 % den größten Anteil der Kosten der Europäischen Union trage. Darüber hinaus werde Deutschland durch das Wiederaufbauinstrument zusätzlich in Anspruch genommen, wenn andere Mitgliedstaaten Verpflichtungen aus dem Eigenmittelbeschluss nicht erfüllten, was angesichts der hohen Verschuldung der meisten Mitgliedstaaten mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten sei. Die Verletzung der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung und damit des demokratischen Prinzips durch das Wiederaufbauprogramm sei – in Anbetracht eines Volumens von zirka 800 Milliarden Euro und derzeit nicht überblickbarer Haftungsfolgen – offensichtlich. Die Haushaltsordnung der Verträge sei verletzt. Schließlich lege die Übersicherung der auszureichenden Kredite mit etwa 1200 % die Vermutung nahe, dass Kreditausfälle einiger Mitgliedstaaten bereits einkalkuliert seien. 5 2. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung sei ebenfalls zulässig und begründet, weil die einstweilige Anordnung zur Abwehr schwerer Nachteile für das gemeine Wohl dringend geboten sei (§ 32 Abs. 1 BVerfGG). Nach Inkrafttreten des Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetzes und des Eigenmittelbeschlusses werde sich die Europäische Kommission am Markt zügig mit Krediten ausstatten und die Mittel schnell verausgaben. Wenn die ausgereichten Darlehen – wie zu erwarten – nicht beglichen würden, könne dies zu einer Belastung Deutschlands in Höhe der gesamten Kreditsummen von 750 Milliarden Euro führen, was untragbar sei und dem Bundestag jede Möglichkeit nehme, seine haushaltspolitische Gesamtverantwortung wahrzunehmen. Die finanzielle Notlage der Mitgliedstaaten sei keinesfalls so groß, dass sie diese nicht auch ohne die finanziellen Hilfen der Europäischen Union durchstehen könnten. Sie könnten selbst Kredite aufnehmen; zudem biete der Europäische Stabilitätsmechanismus im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie Notfallkredite ohne strenge Auflagen an. Die Unvereinbarkeit der Kreditaufnahme und damit des Aufbauinstruments mit den Verträgen und dem Grundgesetz sei so augenfällig, dass der Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig geregelt werden müsse. Das solle verhindern, dass sich das Bundesverfassungsgericht bei der Entscheidung über die Hauptsache vollendeten Tatsachen gegenübersehe, nämlich dass Kreditmittel bereits verteilt und verausgabt seien. II. 6 Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist unzulässig. Voraussetzung für einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist das Vorliegen eines Rechtsschutzbedürfnisses im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 23, 33 <39 f.>; 23, 42 <48 f.>; 150, 163 <167 Rn. 12>). Daran fehlt es hier. Mit der auf den Beschluss des Senats vom 15. April 2021 (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 15. April 2021 - 2 BvR 547/21 -) folgenden Ausfertigung des Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetzes durch den Bundespräsidenten und seiner Verkündung im Bundesgesetzblatt (vgl. BGBl II 2021 S. 322) hat sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung erledigt (vgl. BVerfGE 126, 158 <167>). 7 Im Übrigen wäre dem Antrag, unabhängig von der Frage, ob und inwieweit die Anträge im Hauptsacheverfahren von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet sind, aus den im Beschluss des Senats vom 15. April 2021 dargelegten Gründen (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 15. April 2021 - 2 BvR 547/21 -, Rn. 95), die sich auf das vorliegende Verfahren entsprechend übertragen lassen, der Erfolg in der Sache auch von vornherein zu versagen gewesen. König Huber Hermanns Müller Kessal-Wulf Maidowski Langenfeld Wallrabenstein
bundesverfassungsgericht
30-2022
14. April 2022
Wahlprüfungsbeschwerde der NPD wegen Nichtzulassung der Landesliste im Land Berlin für die Bundestagswahl im Jahr 2017 erfolgreich Pressemitteilung Nr. 30/2022 vom 14. April 2022 Beschluss vom 23. März 20222 BvC 22/19 Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass die Nichtzulassung der Landesliste der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) für die Wahl des 19. Deutschen Bundestages im Land Berlin die Beschwerdeführerin zu 1. in ihrer Parteienfreiheit aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG und die weiteren Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer in ihrem Wahlrecht aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG verletzt. Soweit sich die Wahlprüfungsbeschwerde gegen die Gültigkeit der Wahl richtete, wurde sie als unzulässig verworfen. Im Oktober 2016 fand in Berlin die besondere Vertreterversammlung der Beschwerdeführerin zu 1. zur Aufstellung einer Landesliste für die Bundestagswahl 2017 statt. Die Vertreter eines Kreisverbandes waren bereits im Februar 2016 gewählt worden, nahmen an der besonderen Vertreterversammlung jedoch nicht teil. Weil die Wahlen der Delegierten zur Vertreterversammlung gemäß § 27 Abs. 5 in Verbindung mit § 21 Abs. 3 Satz 4 BWahlG erst frühestens 29 Monate nach dem Beginn der Wahlperiode des Deutschen Bundestages stattfinden dürfen, lehnte der Landeswahlausschuss die Zulassung der eingereichten Landesliste ab. Der Zweite Senat hat nun entschieden, dass eine Landesliste, die – wie im vorliegenden Fall – unter Nichtbeteiligung verfrüht gewählter Delegierter aufgestellt wurde, wegen des damit verbundenen schwerwiegenden Eingriffs in die Parteienfreiheit und die Wahlfreiheit regelmäßig nicht allein aus diesem Grund zurückgewiesen werden darf. Sachverhalt: Am 8. Oktober 2016 führte die Beschwerdeführerin zu 1. einen Landesparteitag in Berlin durch. Im Anschluss fand die besondere Vertreterversammlung zur Aufstellung einer Landesliste für die Bundestagswahl 2017 im Land Berlin statt. Gemäß § 21 Abs. 3 Satz 4 BWahlG darf die Wahl der Delegierten zur Vertreterversammlung frühestens 29 Monate nach Beginn der Wahlperiode des Deutschen Bundestages stattfinden. Die Vertreter eines Kreisverbandes waren aber bereits im Februar 2016 gewählt worden. Sie versicherten gegenüber dem Landeswahlausschuss an Eides statt, an der besonderen Vertreterversammlung zur Aufstellung einer Landesliste für die Bundestagswahl im Land Berlin am 8. Oktober 2016 nicht teilgenommen zu haben. Der Landeswahlausschuss lehnte die Zulassung der eingereichten Landesliste gleichwohl ab, weil die Liste wegen der zu früh erfolgten Wahl von Vertretern für die Vertreterversammlung nicht den wahlrechtlichen Bestimmungen entspreche. Eine solche Wahl habe erst im März 2016 stattfinden dürfen. Einzelne Vertreter seien aber bereits im Februar 2016 und damit einen Monat zu früh gewählt worden. Nach erfolgloser Beschwerde wies auch der Deutsche Bundestag den erhobenen Wahleinspruch als unbegründet zurück, weil die Landesliste den gesetzlichen Bestimmungen nicht entsprochen habe. Die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer machen geltend, dass die Bundestagswahl 2017 im Land Berlin für ungültig zu erklären und eine Wiederholung der Wahl anzuordnen sei. Jedenfalls seien die Beschwerdeführerin zu 1. in ihrem Recht der Parteienfreiheit aus Art. 21 Abs. 1 GG, die Beschwerdeführer zu 2. bis 7. in ihrem passiven Wahlrecht und die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer zu 8. bis 19. in ihrem aktiven Wahlrecht verletzt. Wesentliche Erwägungen des Senats: A. Die Wahlprüfungsbeschwerde ist nur teilweise zulässig. Die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer haben unzureichend dargetan, dass die Nichtzulassung der Landesliste zur Wahl zum 19. Deutschen Bundestag im Land Berlin zur Ungültigerklärung der Wahl führen könnte. Eine Mandatsrelevanz des gerügten Wahlfehlers kann dem Beschwerdevorbringen nicht entnommen werden. Die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer behaupten nicht, dass die Beschwerdeführerin zu 1. im Falle einer Zulassung der Landesliste eigene Bundestagsmandate errungen hätte. Vielmehr beschränken sie ihr Vorbringen zur Mandatsrelevanz auf mittelbare Auswirkungen der Nichtzulassung der Landesliste auf die Sitzverteilung im 19. Deutschen Bundestag. Die Beschwerdeführer legen aber schon nicht substantiiert dar, dass die Nichtzulassung der Landesliste zur Folge hatte, dass potentielle Wählerinnen und Wähler der Beschwerdeführerin zu 1. an der Wahl teilgenommen und ihre Stimme für eine bestimmte Partei des gleichen politischen Spektrums abgegeben haben. Daneben hätte nachvollziehbar dargelegt werden müssen, dass trotz der bei den vorangegangenen Bundestagswahlen im Land Berlin erzielten Wahlergebnisse der Beschwerdeführerin zu 1. in einer Größenordnung von nur 1,5 % durch die Zulassung ihrer Landesliste auch quantitativ Umschichtungen von Wählerstimmen in einem Umfang zu erwarten gewesen wären, die sich hätten mandatsrelevant auswirken können. Im Übrigen ist die Wahlprüfungsbeschwerde zulässig. B. Die Nichtzulassung der Landesliste der Beschwerdeführerin zu 1. im Land Berlin zur Wahl des 19. Deutschen Bundestages stellt einen Wahlfehler dar, der die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer in ihren Rechten auf Wahlfreiheit aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG und auf Parteienfreiheit aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG verletzt. I. Die in § 28 BWahlG vorgesehene Zulassungsbedürftigkeit von Landeslisten steht mit der Parteienfreiheit und der Wahlfreiheit grundsätzlich im Einklang. Die Vorschrift greift zwar sowohl in die Parteienfreiheit als auch in die Wahlfreiheit ein. Die Regelung dient jedoch dem Schutz von Verfassungsgütern, die den Grundsätzen der Wahl- und der Parteienfreiheit die Waage halten können. Das Erfordernis der Zulassung der Landesliste einer Partei zur Wahl soll zunächst die ordnungsgemäße Durchführung der Wahl und die Sicherung ihres Charakters als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes gewährleisten. Es zielt darauf ab, den Wahlakt auf Wahlvorschläge zu beschränken, die in einem formellen und materiellen Anforderungen genügenden Verfahren beschlossen wurden und dadurch den Rückschluss auf die Ernsthaftigkeit der Wahlteilnahme rechtfertigen. Daneben soll durch das Zulassungserfordernis gewährleistet werden, dass bei der Aufstellung der Landesliste das aktive und passive Wahlrecht der Parteimitglieder beachtet wird. II. Ungeachtet der grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit hat die Auslegung und Anwendung von § 28 BWahlG jedoch im Lichte der Gewährleistungen der Parteienfreiheit und der Wahlfreiheit zu erfolgen. Es ist dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die Nichtzulassung einer Landesliste einen schwerwiegenden Eingriff in die Wahl- und die Parteienfreiheit darstellt. Unter mehreren möglichen Auslegungsvarianten ist daher derjenigen der Vorzug zu geben, die die Grundsätze der Parteien- und der Wahlfreiheit einerseits und die das Zulassungserfordernis rechtfertigenden Verfassungsgüter andererseits zu einem bestmöglichen Ausgleich bringt. Insoweit ist § 28 BWahlG verfassungskonform auszulegen. Deshalb darf eine Landesliste, die – wie im vorliegenden Fall – unter Nichtbeteiligung verfrüht gewählter Delegierter aufgestellt wurde, regelmäßig nicht allein aus diesem Grund zurückgewiesen werden. 1. Gemäß § 27 Abs. 5 in Verbindung mit § 21 Abs. 3 Satz 4 BWahlG dürfen die Wahlen der Delegierten für die Vertreterversammlung zur Aufstellung der Landeslisten zwar frühestens 29 Monate nach dem Beginn der Wahlperiode des Deutschen Bundestages stattfinden. Von einem Verstoß gegen die Fristbestimmung zu unterscheiden ist jedoch die Frage, welche Rückwirkungen sich hieraus für die Zulassungsfähigkeit einer Landesliste ergeben. Dabei kann nicht davon ausgegangen werden, dass jegliche Verletzung einer Bestimmung des Bundestagswahlrechts ohne Weiteres dazu führt, dass eine Landesliste den „Anforderungen“ im Sinne von § 28 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BWahlG nicht entspricht, die an eine zulassungsfähige Landesliste zu stellen sind. 2. Zwar führt die Wahl einzelner Vertreter unter Verstoß gegen § 21 Abs. 3 Satz 4 BWahlG dazu, dass diese bei der Vertreterversammlung weder stimm- noch vorschlagsberechtigt sind. Nehmen diese Delegierten an der Vertreterversammlung aber gar nicht teil, hat dies nicht zur Folge, dass die aufgestellte Landesliste zurückgewiesen werden muss. a) Das gesetzliche Gebot, die Wahl der Vertreter für die Vertreterversammlung zur Aufstellung der Landesliste frühestens 29 Monate nach Beginn der Wahlperiode des Deutschen Bundestages stattfinden zu lassen, bezweckt, dass die gewählten Kandidatinnen und Kandidaten den aktuellen mehrheitlichen Willen der Parteimitglieder repräsentieren. Nehmen die vorzeitig gewählten Vertreter an der Listenaufstellung aber gar nicht teil, besteht kein Risiko, dass diese Vertreter zu einer Listenaufstellung beitragen, die den gegenwärtigen mehrheitlichen Willen der Parteimitglieder nicht abbildet. b) Daneben soll § 21 Abs. 3 Satz 4 BWahlG das Wahlvorschlagsrecht relativ kurz vor der Listenaufstellung eingetretener Neumitglieder der jeweiligen Partei schützen. Zwar mag bei einer vorzeitigen Vertreterwahl neuen Parteimitgliedern zunächst die Möglichkeit genommen sein, sich selbst um eine Benennung als Delegierter zu bemühen und von ihrem Wahl- beziehungsweise Wahlvorschlagsrecht Gebrauch zu machen. Nehmen die stattdessen bestimmten Delegierten ihr Mandat aber nicht wahr, besteht zumindest nicht das Risiko, dass die Listenaufstellung nur durch angestammte Parteimitglieder erfolgt und die gewählten Wahlbewerberinnen und ‑bewerber nicht den aktuellen Parteiwillen repräsentieren. Außerdem bleibt es den neuen Mitgliedern unbenommen, die erneute – fristgemäße – Benennung von Delegierten für die Vertreterversammlung zur Aufstellung der Landesliste einzufordern und sich dabei als Delegierte zu bewerben. Jedenfalls tritt die potentielle Beeinträchtigung des Wahlvorschlagsrechts einzelner Parteimitglieder aufgrund einer vorzeitigen Delegiertenwahl hinter dem schwerwiegenden Eingriff in die Wahl- und die Parteienfreiheit, die mit der Nichtzulassung einer Landesliste verbunden ist, zurück.
Leitsätze zum Beschluss des Zweiten Senats vom 23. März 2022 - 2 BvC 22/19 - § 28 BWahlG trägt den Anforderungen an die Rechtfertigung der mit der Norm verbundenen Eingriffe in die Wahl- und Parteienfreiheit bei verfassungskonformer Auslegung Rechnung. Bei der Konkretisierung des Begriffs der „Anforderungen“ im Sinne von § 28 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BWahlG ist dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die Nichtzulassung einer Landesliste einen schwerwiegenden Eingriff in die Wahl- und Parteienfreiheit darstellt. Eine Landesliste, an deren Aufstellung unter Verstoß gegen § 21 Abs. 3 Satz 4 BWahlG verfrüht gewählte Delegierte nicht mitgewirkt haben, darf regelmäßig nicht allein aus diesem Grund zurückgewiesen werden. BUNDESVERFASSUNGSGERICHT - 2 BvC 22/19 - IM NAMEN DES VOLKES In dem Verfahren über die Wahlprüfungsbeschwerde 1.  der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD), Landesverband Berlin, (…), 2.  des Herrn (…), sowie weiterer 17 Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer, - Bevollmächtigter: (…) - gegen den Beschluss des Deutschen Bundestages vom 21. Februar 2019 - WP 14/17 - hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat - unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter Vizepräsidentin König, Huber, Hermanns, Müller, Kessal-Wulf, Maidowski, Langenfeld, Wallrabenstein am 23. März 2022 beschlossen: Die Wahlprüfungsbeschwerde wird verworfen, soweit sie sich gegen die Gültigkeit der Wahl des 19. Deutschen Bundestages im Land Berlin richtet. Die Nichtzulassung der Landesliste der Beschwerdeführerin zu 1. für die Wahl des 19. Deutschen Bundestages im Land Berlin verletzt die Beschwerdeführerin zu 1. in ihrer Parteienfreiheit aus Artikel 21 Absatz 1 Satz 1 und 2 des Grundgesetzes und die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer zu 2. bis 19. in ihrem Wahlrecht aus Artikel 38 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes. Die Bundesrepublik Deutschland hat den Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführern ihre notwendigen Auslagen zu erstatten. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 50.000 (in Worten: fünfzigtausend) Euro festgesetzt. G r ü n d e : A. 1 Die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer wenden sich mit ihrer Wahlprüfungsbeschwerde gegen die Entscheidung des Deutschen Bundestages vom 21. Februar 2019, mit der ihr Einspruch gegen die Wahl des 19. Deutschen Bundestages am 24. September 2017 im Land Berlin, der sich auf die Nichtzulassung der Landesliste der Beschwerdeführerin zu 1. stützte, zurückgewiesen wurde. I. 2 1. a) Am 8. Oktober 2016 führte die Beschwerdeführerin zu 1. einen Landesparteitag in Berlin durch. Im Anschluss fand die besondere Vertreterversammlung zur Aufstellung einer Landesliste der Beschwerdeführerin zu 1. für die Bundestagswahl 2017 im Land Berlin statt. 3 b) Die Vertreter des Kreisverbandes (…) waren bereits am 12. Februar 2016 und damit 27 Monate und elf Tage nach Beginn der laufenden Legislaturperiode des Deutschen Bundestages gewählt worden. Sie versicherten am 28. Juli 2017 gegenüber dem Landeswahlausschuss an Eides statt, an der besonderen Vertreterversammlung zur Aufstellung einer Landesliste für die Bundestagswahl im Land Berlin am 8. Oktober 2016 nicht teilgenommen zu haben. Der zuvor durchgeführte Landesparteitag habe sehr lange gedauert, sie hätten deswegen schon vor Beginn der Aufstellungsversammlung die Rückreise angetreten. 4 2. Mit Beschluss vom 28. Juli 2017 lehnte der Landeswahlausschuss die Zulassung der von der Beschwerdeführerin zu 1. eingereichten Landesliste ab. Zur Begründung führte er aus, dass die Liste wegen der zu früh erfolgten Wahl von Vertretern für die Vertreterversammlung nicht den wahlrechtlichen Bestimmungen entspreche. Eine solche Wahl habe erst ab dem 23. März 2016 stattfinden dürfen. Einzelne Vertreter seien aber bereits am 12. Februar 2016 und damit einen Monat zu früh gewählt worden. Wegen der besonderen Formenstrenge des Wahlrechts habe dieser Fehler zur Zurückweisung der gesamten Liste gezwungen. 5 3. Die hiergegen gerichtete Beschwerde wies der Bundeswahlausschuss in seiner Sitzung vom 3. August 2017 zurück. 6 a) Nach § 28 Abs. 1 Satz 2 BWahlG habe der Landeswahlausschuss Landeslisten zurückzuweisen, wenn sie den Anforderungen nicht entsprächen, die durch das Bundeswahlgesetz oder die Bundeswahlordnung aufgestellt seien. Gemäß § 27 Abs. 5 in Verbindung mit § 21 Abs. 3 Satz 4 BWahlG dürften Wahlen für die Delegierten einer Vertreterversammlung frühestens 29 Monate nach Beginn der Wahlperiode des Deutschen Bundestages stattfinden. Dies sei im Hinblick auf die aus dem Kreisverband (…) entsandten Delegierten nicht der Fall gewesen. 7 b) Der Gesetzgeber habe mit dem 15. Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 27. April 2001 in § 21 Abs. 3 BWahlG die Frist zwischen der Bewerberaufstellung und dem Wahltag bewusst um sechs Monate verkürzt. Damit habe eine angemessene Repräsentation der Parteibasis und ihrer aktuellen Meinung gewährleistet und ein Anspruch auf Teilnahme an der Kandidatenaufstellung auch für neue Parteimitglieder gesichert werden sollen. Ein Wahlvorschlag, der unter Missachtung einer – für eine demokratische Bewerberaufstellung konstitutiven – Wahlrechtsregelung zustande gekommen sei, müsse vom zuständigen Wahlausschuss ohne Rücksicht darauf zurückgewiesen werden, ob der Rechtsverstoß für die Bewerberaufstellung erheblich sei. 8 c) Hielten Parteien die ihnen in § 21 BWahlG abverlangten demokratischen Mindestregeln einer parteiinternen Kandidatenaufstellung nicht ein, berühre dies die Voraussetzungen einer Wahl im Sinne des § 21 Abs. 1 BWahlG. Fehle an einer Stelle des Aufstellungsverfahrens die demokratische Legitimation der Delegierten, sei der Wahlvorschlag ungültig. II. 9 Mit Beschluss vom 21. Februar 2019 wies der Deutsche Bundestag den mit Schreiben vom 27. September 2017 erhobenen Wahleinspruch gemäß der Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsausschusses vom 14. Februar 2019 (BTDrucks 19/7660) als zulässig, aber unbegründet zurück. Dem Vortrag der Einspruchsführer lasse sich keine Verletzung von Wahlrechtsvorschriften und mithin kein Wahlfehler entnehmen. 10 1. Die Zurückweisung der Landesliste sei rechtmäßig gewesen. Gemäß § 28 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BWahlG habe der Landeswahlausschuss Landeslisten unter anderem dann zurückzuweisen, wenn sie den Anforderungen dieses Gesetzes und der Bundeswahlordnung nicht entsprächen, es sei denn, dass in diesen Vorschriften etwas Anderes bestimmt sei. 11 2. Die Landesliste der Einspruchsführer habe den gesetzlichen Bestimmungen nicht entsprochen. 12 a) Nach § 27 Abs. 5 in Verbindung mit § 21 Abs. 1 BWahlG könnten Landeslisten von Parteien im Rahmen von besonderen Vertreterversammlungen aufgestellt werden. Gemäß § 21 Abs. 3 BWahlG würden die Vertreter für die Vertreterversammlungen in geheimer Abstimmung gewählt, wobei die Wahlen frühestens 29 Monate nach Beginn der Wahlperiode des Deutschen Bundestages stattfinden dürften. Damit hätten Vertreter für Vertreterversammlungen zur Aufstellung von Landeslisten für die Wahl zum 19. Deutschen Bundestag frühestens am 23. März 2016 gewählt werden dürfen. Die Vertreter des Kreisverbandes (…) seien jedoch bereits am 12. Februar 2016 gewählt worden. Die Wahl sei auch nicht wiederholt worden, um diesen Fehler zu heilen, obwohl dies angesichts des zeitlichen Abstands zur besonderen Vertreterversammlung am 8. Oktober 2016 durchaus möglich gewesen wäre. 13 b) Dieser Fehler habe sich in der besonderen Vertreterversammlung fortgesetzt. Dabei komme es nicht darauf an, dass die Vertreter des Kreisverbandes (…) tatsächlich nicht an der Wahl der Kandidaten für die Landesliste teilgenommen hätten und sich ihre Stimmen mithin nicht auf das Wahlergebnis hätten auswirken können. Ziel der Regelung des Bundeswahlgesetzes sei es, die Parteimitglieder und ihre Meinungen bei der Listenaufstellung angemessen zu repräsentieren. Die Regelung diene der Absicherung einer demokratischen Bewerberaufstellung; ihre Beachtung sei hierfür konstitutiv. Der Verstoß gegen die gesetzliche Vorgabe sei zum Zeitpunkt der besonderen Vertreterversammlung bereits eingetreten gewesen; er habe sich nicht in der konkreten Teilnahme an der Wahl verfestigen oder gar eine Auswirkung auf das Wahlergebnis haben müssen. 14 c) Wenn in Ausnahmefällen Wahlvorschläge trotz Verstoßes gegen die Vorgaben des § 21 BWahlG vom Deutschen Bundestag und vom Bundesverfassungsgericht, insbesondere bei einer versehentlich unberechtigten Teilnahme einzelner Personen an der Vertreterversammlung, zugelassen worden seien, weil eine Zurückweisung des Wahlvorschlags unverhältnismäßig gewesen wäre, so sei dies nicht auf alle weiteren Verstöße gegen § 21 BWahlG übertragbar. Dies gelte insbesondere vor dem Hintergrund, dass solche Fehler nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur hinzunehmen seien, wenn die zuständigen Parteigremien organisatorisch alle zumutbaren Vorkehrungen zur Wahrung der elementaren Wahlrechtsregelungen für die Bewerberaufstellung getroffen hätten. Im Hinblick auf die Fristenregelungen des § 21 Abs. 3 Satz 4 BWahlG sei für Verhältnismäßigkeitserwägungen kein Raum. Zudem sei es für die Beschwerdeführerin zu 1. zumutbar gewesen, die fristgerechte Wahl der Vertreter für die besondere Vertreterversammlung im Vorfeld derselben zu prüfen und damit für eine rechtmäßige Aufstellung der Landesliste zu sorgen. 15 d) An dieser – dem klaren Wortlaut der Norm entsprechenden – Auslegung ändere auch die von den Einspruchsführern erläuterte Gefahr nichts, dass es einzelne Kreisverbände einer Partei durch rechtswidriges Verhalten in der Hand hätten, die Aufstellung einer gesamten Landesliste zu gefährden. Abgesehen davon, dass grundsätzlich vom gemeinsamen Ziel aller Parteimitglieder und Parteigliederungen auszugehen sei, erfolgreich an Wahlen teilzunehmen, sei dem Bundeswahlleiter darin zuzustimmen, dass es in der Hand der Parteien liege, es zum Beispiel durch Regelungen in ihren Satzungen zu unterbinden, dass einzelne Parteigliederungen oder Mitglieder gegen die Interessen ihrer Partei handelten. Im konkreten Fall hätte eine Prüfung der ordnungsgemäßen Durchführung der Delegiertenwahlen im Vorfeld der Vertreterversammlung ebenfalls zu einer Aufdeckung des (grundsätzlich heilbaren) Verstoßes gegen § 21 Abs. 3 BWahlG geführt. III. 16 Mit Schreiben vom 12. März 2019 haben die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer gegen die Entscheidung des Deutschen Bundestages eine Wahlprüfungsbeschwerde erhoben. 17 1. Die Landesliste habe nicht wegen der zu früh durchgeführten Wahl der Vertreter des Kreisverbandes (…) zurückgewiesen werden dürfen. 18 a) Ein Fehler, der sich auf die Listenaufstellung nicht auswirke, sei wahlrechtlich irrelevant. Die verfrühte Wahl habe auf das Ergebnis der Listenaufstellung keinen Einfluss gehabt und sei deswegen ungeeignet, diese zu „infizieren“. 19 b) Die Formenstrenge des Wahlrechts stehe nach ihrem Sinn und Zweck hier nicht entgegen. Die Fristenregelung solle sicherstellen, dass die parteiinternen Wahlen in nicht zu großem Abstand vor den Parlamentswahlen erfolgten, damit das Ergebnis noch am Wahltag dem politischen Willen der Mitgliedschaft der Partei entspreche. Dieser Zweck sei nicht berührt, wenn die zu früh Gewählten an der Listenaufstellung gar nicht mitwirkten. 20 c) Der Bundestag verkenne den Kern des Problems, wenn er argumentiere, dass in einer politischen Partei normalerweise alle Akteure an einem Strang zögen. Auch der Hinweis auf mögliche Ordnungsmaßnahmen gegen fehlerhaft wählende Kreisverbände greife zu kurz, weil die Beschwerdeführerin zu 1. nur solche Fehler rügen und sanktionieren könne, die ihr auch bekannt seien. Daran habe es hier gefehlt. 21 d) Der Landesvorstand habe keinen Einfluss darauf, wann die Kreisverbände ihre Delegierten wählten. Der Versammlungsleiter der besonderen Vertreterversammlung könne lediglich überprüfen, ob die anwesenden Delegierten rechtzeitig und ordnungsgemäß gewählt worden seien, und gegebenenfalls rechtsfehlerhaft gewählte Delegierte von der Versammlung ausschließen. Eine erneute Delegiertenwahl durch die Kreismitgliederversammlung könne er ebenso wenig erzwingen wie der Landesvorstand. Der Sachverhalt liege nicht anders als im Fall des Verzichts eines Kreisverbandes, Delegierte für die Aufstellungsversammlung zu wählen. Das sei wahlrechtlich unstreitig irrelevant. 22 e) Träfe die Rechtsauffassung der Wahlausschüsse zu, könnte in dem Falle, in dem der Versammlungsleiter erst zu Beginn der Versammlung die fehlerhaft verfrühte Delegiertenwahl feststelle, gar keine rechtswirksame Liste mehr aufgestellt werden. Sollte sich der betreffende Kreisverband weigern, nachträglich und fristgerecht neue Delegierte zu wählen, würde die Aufstellung einer rechtswirksamen Landesliste endgültig unmöglich, so dass ein einzelner Kreisverband darüber disponieren könnte, ob der Landesverband eine Landesliste aufstellen kann oder nicht. Das hierdurch ermöglichte Diktat einer Minderheit über die Mehrheit sei mit demokratischen Grundsätzen schlechthin unvereinbar. 23 f) Die Nichtzulassung der Landesliste sei jedenfalls evident unverhältnismäßig. In der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung sei geklärt, dass ein Wahlvorschlag selbst dann zuzulassen sei, wenn nicht stimmberechtigte Personen an einer Listenaufstellung mitgewirkt hätten, solange der betroffenen Partei keine Verletzung ihrer organisatorischen Pflichten zur Sicherstellung der Einhaltung der elementaren Wahlrechtsgrundsätze vorgeworfen werden könne. Wenn ein Wahlvorschlag trotz der Mitwirkung nicht stimmberechtigter Personen zuzulassen sei, müsse dies erst recht gelten, wenn Delegierte ohne Stimmberechtigung nicht mitgewirkt hätten. 24 g) Verstöße der Beschwerdeführerin zu 1. gegen ihre Pflichten zur Sicherstellung der Einhaltung der Wahlrechtsgrundsätze seien nicht erkennbar. Mehr als die Überprüfung der Stimmberechtigung der bei der Listenaufstellung anwesenden Delegierten könne vom Sitzungsvorstand nicht verlangt werden. Wenn alle anwesenden Delegierten stimmberechtigt seien, sei es völlig unerheblich, ob tatsächlich gar nicht anwesende Delegierte nicht stimmberechtigt gewesen seien. Die den politischen Parteien obliegenden organisatorischen Pflichten dienten dem Zweck, die Mitwirkung von nicht stimmberechtigten Personen bei der Listenaufstellung zu vermeiden, und nicht dazu, die ordnungsgemäße Wahl von Delegierten sicherzustellen, die bei der Listenaufstellung nicht mitwirkten. 25 2. Die Nichtzulassung der Landesliste der Beschwerdeführerin zu 1. sei zudem mandatsrelevant. Nach der allgemeinen Lebenserfahrung sei nicht auszuschließen, dass der 19. Deutsche Bundestag im Falle der Zulassung der zurückgewiesenen Landesliste anders zusammengesetzt gewesen wäre, als er es dann gewesen sei. Die Wähler, welche bei Zulassung der Liste die Beschwerdeführerin zu 1. gewählt hätten, hätten mit großer Wahrscheinlichkeit stattdessen die Alternative für Deutschland (AfD) gewählt, so dass deren Ergebnis im Land Berlin fehlerhaft zu hoch gewesen sein dürfte. Ohne diese zusätzlichen Stimmen, deren exakte Höhe nicht prognostiziert werden könne, hätte die AfD im Land Berlin möglicherweise einen Sitz zugunsten einer anderen Partei verloren. 26 3. Im Ergebnis sei die Bundestagswahl deswegen im Land Berlin für ungültig zu erklären und eine Wiederholung der Wahl anzuordnen. Jedenfalls sei festzustellen, dass die Beschwerdeführerin zu 1. durch die rechtswidrige Listenzurückweisung in ihrem Recht aus Art. 21 Abs. 1 GG, die Beschwerdeführer zu 2. bis 7. in ihrem passiven Wahlrecht und die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer zu 8. bis 19. in ihrem aktiven Wahlrecht verletzt seien. B. 27 1. Dem Deutschen Bundestag, dem Bundesrat, der Bundesregierung, dem Bundeswahlleiter, der Landeswahlleiterin im Land Berlin und den im 19. Deutschen Bundestag vertretenen Parteien ist Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden. Der Bundeswahlleiter hat unter Bezug auf die Niederschrift der Wahlausschusssitzung vom 3. August 2017 sowie auf seine Erklärung im Rahmen des Wahleinspruchsverfahrens Stellung genommen. 28 2. Von einer mündlichen Verhandlung ist gemäß § 48 Abs. 2 BVerfGG abgesehen worden. C. 29 Die Wahlprüfungsbeschwerde ist im zulässigen Umfang begründet. I. 30 Sie ist unzulässig, soweit die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer sich gegen die Gültigkeit der Wahl zum 19. Deutschen Bundestag im Land Berlin wenden (1.). Im Übrigen ist sie zulässig (2.). 31 1. Die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer haben unzureichend dargetan, dass die Nichtzulassung der Landesliste der Beschwerdeführerin zu 1. zur Wahl zum 19. Deutschen Bundestag im Land Berlin zur Ungültigerklärung der Wahl führen könnte. Eine Mandatsrelevanz des gerügten Wahlfehlers kann dem Beschwerdevorbringen nicht entnommen werden. 32 a) Gemäß § 48 Abs. 1 Halbsatz 2, § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG hat der Beschwerdeführer auch im Verfahren der Wahlprüfungsbeschwerde seinen Antrag zu begründen und die erforderlichen Beweismittel anzugeben. Greift er mit der Wahlprüfungsbeschwerde die Gültigkeit der Wahl an, hat er grundsätzlich auch die Mandatsrelevanz des geltend gemachten Wahlfehlers substantiiert darzulegen (vgl. BVerfGE 130, 212 <223>; 146, 327 <342 Rn. 40>). Es muss zwar nicht der Nachweis einer Auswirkung des Wahlfehlers auf die Sitzverteilung erbracht werden. Die nur theoretische Möglichkeit eines Kausalzusammenhangs zwischen der geltend gemachten Rechtsverletzung und dem Ergebnis der angefochtenen Wahl genügt jedoch nicht. Vielmehr gilt der Grundsatz der potentiellen Kausalität (vgl. BVerfGE 146, 327 <342 Rn. 40> m.w.N.). Demgemäß hat der Beschwerdeführer darzulegen, dass es sich bei der Auswirkung des Wahlfehlers auf die Sitzverteilung um eine nach der allgemeinen Lebenserfahrung konkrete und nicht ganz fernliegende Möglichkeit handelt (vgl. BVerfGE 89, 243 <254>; 89, 291 <304>; 146, 327 <342 Rn. 40>). 33 b) Davon ausgehend, ist die Mandatsrelevanz der Nichtzulassung der Landesliste der Beschwerdeführerin zu 1. für die Wahl des 19. Deutschen Bundestages im Land Berlin von den Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführern nur unzureichend dargelegt worden. Sie behaupten nicht, dass im Falle einer Zulassung der Landesliste die Beschwerdeführerin zu 1. eigene Bundestagsmandate errungen hätte. Vielmehr beschränken sie ihr Vorbringen zur Mandatsrelevanz auf mittelbare Auswirkungen der Nichtzulassung der Landesliste auf die Sitzverteilung im 19. Deutschen Bundestag, indem sie geltend machen, potentielle Wählerinnen und Wähler der Beschwerdeführerin zu 1. hätten stattdessen die AfD gewählt. Deshalb könnten der AfD zusätzliche Mandate zugefallen sein. 34 Dass es sich dabei um eine hinreichend konkrete und nicht ganz fernliegende Konsequenz der Nichtzulassung der Landesliste der Beschwerdeführerin zu 1. handelt, erschließt sich nicht. Bereits die Behauptung, potentielle Wähler der Beschwerdeführerin zu 1. hätten mit großer Wahrscheinlichkeit stattdessen die AfD gewählt, erscheint spekulativ. Allein daraus, dass zwei politische Parteien in der Öffentlichkeit dem gleichen politischen Spektrum zugerechnet werden, folgt nicht ohne Weiteres, dass sich potentielle Wählerinnen und Wähler nur zwischen diesen beiden Parteien entscheiden können. Die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer legen nicht substantiiert dar, dass Wählerinnen und Wähler im Fall der Nichtwählbarkeit der Beschwerdeführerin zu 1. regelmäßig der AfD ihre Stimme geben würden. Ausführungen zu einer Übereinstimmung der Programmatik beider Parteien in einem Umfang, der einen solchen Wechsel erwarten ließe, fehlen. Die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer verhalten sich auch nicht dazu, dass bei der Wahl zum 19. Deutschen Bundestag im Land Berlin weitere Parteien zur Wahl zugelassen waren, die dem gleichen politischen Spektrum wie die Beschwerdeführerin zu 1. zugeordnet werden und daher als mögliche Alternativen bei der Stimmabgabe zur Verfügung standen. 35 Daneben hätte nachvollziehbar dargelegt werden müssen, dass trotz der von der Beschwerdeführerin zu 1. bei den vorhergehenden Bundestagswahlen im Land Berlin erzielten Wahlergebnisse in einer Größenordnung von nur 1,5 % durch die Zulassung ihrer Landesliste auch quantitativ Umschichtungen von Wählerstimmen in einem Umfang zu erwarten gewesen wären, die sich hätten mandatsrelevant auswirken können. Auch dazu verhalten die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer sich nicht. 36 2. Demgegenüber ist die Wahlprüfungsbeschwerde zulässig, soweit die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer eine Verletzung subjektiver Rechte aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG und Art. 21 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG geltend machen. 37 a) Soweit im Rahmen einer Wahlprüfungsbeschwerde die Feststellung einer subjektiven Rechtsverletzung begehrt wird, ist die Darlegung der Mandatsrelevanz entbehrlich. Der Beschwerdeführer muss aber die Möglichkeit einer Verletzung eigener Rechte substantiiert darlegen (vgl. BVerfGE 151, 1 <15 Rn. 32>). 38 b) Dem ist vorliegend Rechnung getragen worden. Die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer haben die Möglichkeit hinreichend dargelegt, durch die Nichtzulassung der Landesliste der Beschwerdeführerin zu 1. in ihrem Recht aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG, zu wählen beziehungsweise gewählt zu werden, sowie in ihrer Parteienfreiheit gemäß Art. 21 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG verletzt worden zu sein. Dem steht nicht entgegen, dass sie den Beschluss des Bundeswahlausschusses vom 3. August 2017, mit dem die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Landesliste zurückgewiesen wurde, nicht vorgelegt haben. Dieser Beschluss wird in der Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsausschusses des Deutschen Bundestages vom 14. Februar 2019 vollständig wiedergegeben (vgl. BTDrucks 19/7660), so dass es einer eigenständigen Vorlage ausnahmsweise nicht bedurfte. 39 c) Die Wahlprüfungsbeschwerde ist auch nicht dadurch unzulässig geworden, dass am 26. Oktober 2021 ein neuer Deutscher Bundestag zusammengetreten ist. 40 aa) (1) Soweit das Wahlprüfungsverfahren die gesetzmäßige Zusammensetzung des Deutschen Bundestages gewährleisten soll (vgl. BVerfGE 122, 304 <305 f.>; stRspr), kann eine Entscheidung dieses Ziel zwar nicht mehr erreichen, wenn die Wahlperiode des durch die Wahlprüfungsbeschwerde betroffenen Bundestages gemäß Art. 39 Abs. 1 Satz 2 GG mit dem Zusammentritt eines neuen Bundestages beendet ist (vgl. BVerfGE 22, 277 <280 f.>; 34, 201 <203>; 122, 304 <306>). Auch nach der Auflösung eines Bundestages oder dem regulären Ablauf einer Wahlperiode bleibt das Bundesverfassungsgericht jedoch berufen, die im Rahmen einer zulässigen Wahlprüfungsbeschwerde erhobenen Rügen der Verfassungswidrigkeit von Wahlrechtsnormen und wichtige wahlrechtliche Zweifelsfragen zu entscheiden. Zwar steht es in der freien Entscheidung jedes Beschwerdeberechtigten, ob er eine Wahlprüfungsbeschwerde einlegt. Insoweit kommt der Wahlprüfungsbeschwerde eine Anstoßfunktion zu. Über den weiteren Verlauf des überwiegend objektiven Verfahrens (vgl. BVerfGE 34, 81 <97>) entscheidet jedoch das Bundesverfassungsgericht nach Maßgabe des öffentlichen Interesses. Ein solches öffentliches Interesse an einer Entscheidung über eine Wahlprüfungsbeschwerde kann auch nach Ablauf einer Wahlperiode bestehen, wenn ein möglicher Wahlfehler über den Einzelfall hinaus grundsätzliche Bedeutung hat (vgl. BVerfGE 122, 304 <306> m.w.N.). 41 (2) Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass Wahlrechtsvorschriften über die jeweilige Wahlperiode hinaus so lange Wirkung entfalten, bis sie vom Gesetzgeber geändert oder vom Bundesverfassungsgericht für nichtig oder für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt werden. Die Fortsetzung einer durch die Wahlprüfungsbeschwerde veranlassten mittelbaren Normenkontrolle liegt daher regelmäßig auch nach Ablauf der Wahlperiode im öffentlichen Interesse. Gleiches gilt für sonstige wahlrechtliche Fragestellungen, die über den Einzelfall hinaus von Bedeutung sind und deren Klärung für die beanstandungsfreie Durchführung von Wahlen geboten ist (vgl. BVerfGE 122, 304 <306>; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 12. Januar 2022 - 2 BvC 17/18 -, Rn. 40). Besteht ein öffentliches Interesse an der Fortsetzung des Verfahrens, kann dahinstehen, ob stets vom Fortbestand des Rechtsschutzinteresses auch nach Ablauf der Wahlperiode auszugehen ist, wenn die Feststellung einer subjektiven Rechtsverletzung begehrt wird (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 12. Januar 2022 - 2 BvC 17/18 -, Rn. 41). 42 bb) Demgemäß ist keine Erledigung der Wahlprüfungsbeschwerde eingetreten, da auch nach Ablauf der 19. Wahlperiode des Deutschen Bundestages ein öffentliches Interesse an der Klärung der mit der Wahlprüfungsbeschwerde aufgeworfenen Rechtsfrage besteht. Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist die Frage, ob die Zurückweisung einer Landesliste gemäß § 28 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BWahlG wegen der vorzeitigen Wahl einzelner Delegierter der Landesvertreterversammlung (§ 21 Abs. 3 Satz 4 BWahlG) auch dann gerechtfertigt ist, wenn sich diese Delegierten an der Listenaufstellung nicht beteiligt haben. Dabei handelt es sich um eine über den konkreten Einzelfall hinausgehende Frage von grundsätzlicher Bedeutung. Trifft die von Bundes- und Landeswahlausschuss vertretene Auffassung zu, hat dies zur Folge, dass die Zulassung einer Landesliste bereits dann ausgeschlossen ist, wenn ein einzelner Kreisverband seine Delegierten unter Verstoß gegen § 21 Abs. 3 Satz 4 BWahlG verfrüht gewählt hat, obwohl diese Delegierten an der Aufstellungsversammlung nicht teilnehmen. Es ist nicht auszuschließen, dass derartige Fälle mit der schwerwiegenden Folge einer Nichtzulassung betroffener Landeslisten zur Bundestagswahl wiederholt auftreten. Insoweit besteht ein über den vorliegenden Einzelfall hinausgehender Klärungsbedarf. II. 43 Soweit die Wahlprüfungsbeschwerde zulässig ist, ist sie begründet. Die Nichtzulassung der Landesliste der Beschwerdeführerin zu 1. im Land Berlin zur Wahl des 19. Deutschen Bundestages stellt einen Wahlfehler (1.) dar, der die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer in ihren Rechten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG und Art. 21 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG verletzt (2.). 44 1. Das Bundesverfassungsgericht hat bei der im Rahmen einer Wahlprüfungsbeschwerde nach § 13 Nr. 3, § 48 BVerfGG durchzuführenden Kontrolle der Entscheidung des Deutschen Bundestages über den Wahleinspruch sowohl die Einhaltung der Vorschriften des Bundeswahlrechts durch die zuständigen Wahlorgane als auch die Verfassungsmäßigkeit dieser Vorschriften zu prüfen und gegebenenfalls Wahlfehler festzustellen (vgl. BVerfGE 151, 1 <13 Rn. 26> m.w.N.; stRspr). Als Wahlfehler kommen vor allem Verstöße gegen die Wahlrechtsgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG sowie gegen die Regelungen des Bundeswahlgesetzes und der Bundeswahlordnung in Betracht. Daneben können auch Verstöße gegen sonstige Vorschriften einen Wahlfehler begründen, soweit sie mit einer Wahl in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen. Relevant sind alle Normwidrigkeiten, die den vom Gesetz vorausgesetzten regelmäßigen Ablauf des Wahlverfahrens zu stören geeignet sind. Lediglich Sachverhalte, die „bei Gelegenheit“ einer Wahl geschehen, ohne in einem auch nur mittelbaren Bezug zum Wahlvorgang und dessen Ergebnis zu stehen, sind zur Begründung eines Wahlfehlers ungeeignet (vgl. BVerfGE 146, 327 <341 f. Rn. 38 f.> m.w.N.). 45 2. Gemessen hieran, stellt die Zurückweisung der von der Beschwerdeführerin zu 1. eingereichten Landesliste einen objektiven Wahlfehler dar, der die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer zugleich in ihren subjektiven Rechten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG und Art. 21 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG verletzt. Zwar bestehen gegen die grundsätzliche Zulassungsbedürftigkeit von Landeslisten gemäß § 28 BWahlG keine verfassungsrechtlichen Bedenken (a). Bei der Auslegung und Anwendung der Norm ist allerdings dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die Zurückweisung einer Landesliste einen schwerwiegenden Eingriff in die Wahl- und die Parteienfreiheit beinhaltet (b). Dies hat zur Folge, dass eine Landesliste nicht allein deswegen zurückgewiesen werden darf, weil einzelne Vertreter verfrüht gewählt worden sind, wenn diese an der Vertreterversammlung nicht teilgenommen haben (c). Demgemäß hat die Nichtzulassung der Beschwerdeführerin zu 1. zur Wahl des 19. Deutschen Bundestages die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer in ihren subjektiven Wahlrechten verletzt (d). 46 a) Die in § 28 BWahlG vorgesehene Zulassungsbedürftigkeit von Landeslisten steht mit der Parteienfreiheit gemäß Art. 21 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG (aa) und der Wahlfreiheit gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG (bb) grundsätzlich im Einklang (cc). 47 aa) Parteien sind Vereinigungen von Bürgern, die dauernd oder für längere Zeit für den Bereich des Bundes oder eines Landes auf die politische Willensbildung Einfluss nehmen und an der Vertretung des Volkes im Deutschen Bundestag oder einem Landtag mitwirken wollen, wenn sie nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse, insbesondere nach Umfang und Festigkeit ihrer Organisation, nach der Zahl ihrer Mitglieder und nach ihrem Hervortreten in der Öffentlichkeit eine ausreichende Gewähr für die Ernsthaftigkeit ihrer Zielsetzung bieten (§ 2 Abs. 1 Satz 1 PartG). Zentrale Aufgabe der Parteien ist gemäß Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG die Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Volkes. Aufgrund dieses Verfassungsauftrags wirken die Parteien in den Bereich der institutionalisierten Staatlichkeit hinein, ohne selbst diesem Bereich anzugehören. Sie sind Mittler zwischen Meinungen, Interessen und Bestrebungen des Volkes und der staatlichen Willensbildung (vgl. BVerfGE 20, 56 <101>). 48 Um ihrem Verfassungsauftrag und der darin enthaltenen Mittlerrolle gerecht werden zu können, gewährleistet das Grundgesetz den Parteien ein Bündel an Freiheiten, die unter dem Begriff „Parteienfreiheit“ zusammengefasst werden. Neben der ausdrücklich genannten Gründungsfreiheit garantiert Art. 21 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG den politischen Parteien auch die Freiheit der Betätigung, die insbesondere das Recht zur Erstellung von Wahlvorschlägen umfasst (vgl. BVerfGE 156, 224 <262 Rn. 105>). Die Beteiligung an Wahlen ist Kernstück der Tätigkeit der Parteien (vgl. BVerfGE 24, 260 <264>; 52, 63 <82>; 61, 1 <11>). Dem entspricht es, wenn das Bundeswahlgesetz die Aufgabe, im Rahmen der Vorbereitung der Bundestagswahl Kandidatenvorschläge einzureichen, – abgesehen von den Kreiswahlvorschlägen nach § 20 Abs. 3 BWahlG – in die Hände der Parteien legt. 49 bb) Außer an der Parteienfreiheit ist § 28 BWahlG an der Wahlfreiheit aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG zu messen. Das Recht, als Wähler oder Wahlbewerber an der Wahl der Volksvertretung teilzunehmen, ist das vornehmste Recht der Bürgerinnen und Bürger im demokratischen Staat (vgl. BVerfGE 1, 14 <33>). Die Wahlfreiheit gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleistet neben der Möglichkeit der freien Ausübung des Stimmrechts durch jede Wählerin und jeden Wähler – ohne Zwang, Druck oder sonstige unzulässige Beeinflussung von außen – die freie Wählbarkeit (vgl. BVerfGE 25, 44 <63>) und das freie Wahlvorschlagsrecht für alle Wahlberechtigten (vgl. BVerfGE 89, 243 <251> m.w.N.). Die Möglichkeit, Wahlvorschläge zu machen, ist ein Kernstück des Bürgerrechts auf aktive Teilnahme an der Wahl (vgl. BVerfGE 41, 399 <416>). Daher erstreckt sich der Grundsatz der Wahlfreiheit auch auf das gesamte Wahlvorbereitungsverfahren. Die Entschließungsfreiheit des Wählers darf schon im Vorfeld der Wahl nicht in einer innerhalb des gewählten Wahlsystems vermeidbaren Weise verengt werden (vgl. BVerfGE 95, 335 <350>). Die Aufstellung der Landeslisten stellt sich als wesentlicher Teil des Wahlvorgangs in seiner Gesamtheit dar, durch den eine notwendige Voraussetzung der Wahl geschaffen und daher das aktive und passive Wahlrecht berührt wird (vgl. BVerfGE 89, 243 <251>; 156, 224 <260 Rn. 101> m.w.N.). 50 cc) Das Erfordernis der Zulassung einer Landesliste zur Wahl gemäß § 28 BWahlG greift zwar sowohl in die Parteienfreiheit gemäß Art. 21 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG als auch in die Wahlfreiheit gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG ein. § 28 BWahlG trägt jedoch den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Rechtfertigung dieser Eingriffe grundsätzlich Rechnung. 51 (1) Durch § 28 BWahlG werden die Parteien in ihrem Recht, Wahlvorschläge zu machen und mit diesen an der Wahl teilzunehmen, eingeschränkt. Für die Wählerinnen und Wähler kann die Nichtzulassung einer Landesliste zu einer Beschränkung ihres Rechts führen, Wahlvorschläge zu machen beziehungsweise zu wählen oder gewählt zu werden. Daher bedarf das Zulassungserfordernis des § 28 BWahlG verfassungsrechtlicher Rechtfertigung. 52 (2) Dieses Erfordernis ist dem Grunde nach mit Blick sowohl auf das Parteien- als auch auf das Wahlrecht ausreichend legitimiert. Die Regelung dient jedenfalls dem Schutz von Verfassungsgütern, die den Grundsätzen der Wahl- und Parteienfreiheit die Waage halten können. 53 (a) Das Erfordernis der Zulassung der Landesliste einer Partei zur Wahl gemäß § 28 BWahlG soll zunächst die ordnungsgemäße Durchführung der Wahl (vgl. dazu BVerfGE 157, 300 <316 f. Rn. 40>) und die Sicherung ihres Charakters als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes (vgl. dazu BVerfGE 95, 408 <418>; 120, 82 <111>; 129, 300 <320 f.>; 135, 259 <286 Rn. 52>) gewährleisten. Es zielt darauf ab, den Wahlakt auf Wahlvorschläge zu beschränken, die in einem formellen und materiellen Anforderungen genügenden Verfahren beschlossen wurden und dadurch den Rückschluss auf die Ernsthaftigkeit der Wahlteilnahme rechtfertigen. Durch die Beschränkung auf ernsthafte Wahlvorschläge sollen die Stimmberechtigten davor bewahrt werden, ihre Stimmen an aussichtslose Wahlvorschläge zu vergeben. Dies dient der Integrationsfunktion der Wahl und beugt der Gefahr der Stimmenzersplitterung vor (vgl. BVerfGE 157, 300 <316 Rn. 40>). 54 (b) Daneben soll durch das Zulassungserfordernis gewährleistet werden, dass bei der Aufstellung der Landesliste das – den Prozess der Wahlvorbereitung umfassende – aktive und passive Wahlrecht der Parteimitglieder (vgl. dazu BVerfGE 89, 243 <251 f.>) beachtet wird. Insoweit zielen insbesondere die im Rahmen von § 28 BWahlG grundsätzlich zu berücksichtigenden Regelungen in § 21 in Verbindung mit § 27 Abs. 5 BWahlG darauf ab, dass jedes wahlberechtigte Parteimitglied auf der untersten Gebietsstufe der Parteiorganisation – jedenfalls mittelbar durch die Wahl von Vertretern – die Möglichkeit erhält, auf die Auswahl der Kandidaten für die Landesliste Einfluss zu nehmen. Die Vorschrift ist auf den Schutz des aktiven und passiven Wahlrechts bereits im Wahlvorbereitungsverfahren gerichtet, indem sie anordnet, dass ein Verstoß gegen Vorschriften der Kandidatennominierung, die der Beachtung dieser Rechte dienen, die Nichtzulassung der Landesliste zur Folge hat. Sie stellt sich als Ausfluss des Gestaltungsauftrags aus Art. 38 Abs. 3 GG dar, der dem Gesetzgeber die Aufgabe überträgt, verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter und die Wahlrechtsgrundsätze – auch in ihrem Verhältnis zueinander – zum Ausgleich zu bringen (vgl. dazu BVerfGE 95, 408 <420>; 121, 316 <338>; 132, 39 <48 Rn. 26>). 55 b) Ungeachtet der grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit von § 28 BWahlG hat die Auslegung und Anwendung der Norm im Lichte der Gewährleistungen der Parteienfreiheit gemäß Art. 21 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG und der Wahlfreiheit gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG zu erfolgen. Dies gilt insbesondere, soweit § 28 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BWahlG bestimmt, dass der Landeswahlausschuss Landeslisten zurückzuweisen hat, wenn sie den Anforderungen nicht entsprechen, die durch das Bundeswahlgesetz und die Bundeswahlordnung aufgestellt sind, es sei denn, dass in diesen Vorschriften etwas Anderes bestimmt ist. Bei der Konkretisierung des Begriffs der „Anforderungen“ ist dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die Nichtzulassung einer Landesliste einen schwerwiegenden Eingriff in die Wahl- und Parteienfreiheit darstellt. Unter mehreren möglichen Auslegungsvarianten ist daher derjenigen der Vorzug zu geben, die die Grundsätze der Parteien- und Wahlfreiheit einerseits und die das Zulassungserfordernis rechtfertigenden Verfassungsgüter andererseits zu einem bestmöglichen Ausgleich bringt. Insoweit ist § 28 BWahlG verfassungskonform auszulegen. 56 c) Danach darf eine Landesliste, die – wie im vorliegenden Fall – unter Nichtbeteiligung verfrüht gewählter Delegierter aufgestellt wurde, regelmäßig nicht allein aus diesem Grund zurückgewiesen werden. Zwar verstößt die Wahl von Vertretern für die Vertreterversammlung zur Aufstellung der Landesliste vor Ablauf des 29. Monats nach Beginn der Wahlperiode des Deutschen Bundestages gegen § 21 Abs. 3 Satz 4 BWahlG (aa). Von einem Verstoß gegen die Fristbestimmung des § 21 Abs. 3 Satz 4 BWahlG zu unterscheiden ist jedoch die Frage, welche Rückwirkungen sich hieraus für die Zurückweisung einer Landesliste gemäß § 28 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BWahlG ergeben. Es erscheint bereits zweifelhaft, ob allein aus einem Verstoß gegen die Fristbestimmung des § 21 Abs. 3 Satz 4 BWahlG folgt, dass kein gültiger Wahlvorschlag im Sinne von § 27 Abs. 5 in Verbindung mit § 25 Abs. 2 Satz 2 BWahlG vorliegt, mit der Folge, dass die Landesliste nach § 28 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BWahlG den Anforderungen nicht entspricht, die durch das Bundeswahlgesetz aufgestellt sind (bb). Jedenfalls soweit die verfrüht gewählten Delegierten an der Aufstellung der Landesliste nicht teilgenommen haben, ist eine einschränkende Auslegung von § 28 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BWahlG verfassungsrechtlich geboten, nach der es an einem für die Nichtzulassung relevanten Verstoß gegen „Anforderungen“ des Bundeswahlgesetzes fehlt (cc). 57 aa) Gemäß § 27 Abs. 5 in Verbindung mit § 21 Abs. 3 Satz 4 BWahlG dürfen die Wahlen der Delegierten für die Vertreterversammlung zur Aufstellung der Landeslisten frühestens 29 Monate nach dem Beginn der Wahlperiode des Deutschen Bundestages stattfinden. Die Regelung dient der Verwirklichung des Prinzips der demokratischen Teilhabe. Durch die möglichst enge zeitliche Verknüpfung der innerparteilichen Kandidatenwahl mit der Bundestagswahl soll gewährleistet werden, dass die den Wählerinnen und Wählern am Wahltag unterbreitete Liste nicht veraltet ist und die für die Liste ausgewählten Kandidaten den mehrheitlichen Willen der Parteimitglieder repräsentieren. Zugleich wird angestrebt, die Mitwirkung an der Listenaufstellung nicht nur angestammten Parteimitgliedern vorzubehalten, sondern auch relativ kurz vor der Wahl eintretenden Neumitgliedern die Möglichkeit einzuräumen, auf die Bestimmung der Listenplätze Einfluss zu nehmen. § 21 Abs. 3 Satz 4 BWahlG stellt sich insoweit als Ausprägung des Gebotes innerparteilicher Demokratie gemäß Art. 21 Abs. 1 Satz 3 GG dar. Der Gesetzgeber hat damit zum Ausdruck gebracht, dass er nicht nur der Kandidatenaufstellung selbst eine hohe Bedeutung beimisst, sondern bereits die Vorauswahl der Delegierten für so relevant hält, dass auch diese erst zu einem nicht zu sehr vom eigentlichen Wahltermin entfernt liegenden Zeitpunkt bestimmt werden sollen. 58 Diese Zielsetzung hat der Gesetzgeber mit dem Gesetz vom 27. April 2001 (BGBl I 2001 S. 698) bekräftigt, durch das der zur vorangegangenen Bundestagswahl zu beachtende Abstand von 23 auf 29 Monate erhöht und damit der Zeitraum zwischen Delegiertenwahl und kommender Bundestagswahl weiter verkürzt wurde. Die Gesetzesänderung hat er damit begründet, dass die parteiinternen Wahlen nicht in zu großem zeitlichen Abstand zur Bundestagswahl erfolgen sollten, da andernfalls nicht gewährleistet sei, dass das Ergebnis auch noch am Wahltag dem politischen Willen der Mitglieder der Partei und der sie repräsentierenden Vertreter entspreche. Auch sollten durch die Fristsetzung neuere Strömungen in der Partei berücksichtigt werden können. Je größer der Abstand zwischen den Wahlen der Vertreter, der Bewerberaufstellung und dem Wahltag sei, desto größer sei die Gefahr, dass die gewählten Vertreter und die von diesen gewählten Bewerber am Wahltag nicht mehr eine angemessene Repräsentation der Parteibasis und ihrer aktuellen politischen Meinung darstellten. Schließlich sei zu berücksichtigen, dass nach dem Gleichheitsprinzip auch neue Mitglieder in einer Partei einen Anspruch auf Teilnahme an der Kandidatenaufstellung hätten (vgl. BTDrucks 14/3764, S. 8). 59 bb) Von einem Verstoß gegen die Fristbestimmung des § 21 Abs. 3 Satz 4 BWahlG zu unterscheiden ist die Frage, welche Rückwirkungen sich hieraus für die Anwendbarkeit von § 28 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BWahlG ergeben. Dabei kann nicht davon ausgegangen werden, dass jegliche Verletzung einer Bestimmung des Bundestagswahlrechts ohne Weiteres dazu führt, dass eine Landesliste den „Anforderungen“ nicht entspricht, die nach diesem Gesetz und der Bundeswahlordnung an eine zulassungsfähige Landesliste zu stellen sind. 60 Das einfache Recht legt bereits nahe, ausschließlich auf diejenigen Anforderungen abzustellen, die für das Vorliegen eines gültigen Wahlvorschlags gemäß § 27 Abs. 5 in Verbindung mit § 25 Abs. 2 BWahlG erfüllt sein müssen. Dabei fehlt es in § 25 Abs. 2 Satz 2 BWahlG, der die Voraussetzungen regelt, bei deren Erfüllung ein gültiger Wahlvorschlag nicht vorliegt, an einer ausdrücklichen Bezugnahme auf § 21 Abs. 3 Satz 4 BWahlG. 61 Gemäß § 25 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 BWahlG liegt ein gültiger Wahlvorschlag nicht vor, wenn die Nachweise des § 21 BWahlG nicht erbracht sind. Als insoweit erforderliche Nachweise bestimmt § 21 Abs. 6 Satz 1 BWahlG lediglich die Niederschrift über die Aufstellungsversammlung mit Angaben über Ort und Zeit, Form der Einladung, Zahl der erschienenen Mitglieder und das Ergebnis der Abstimmung. Dabei soll gemäß § 39 Abs. 4 Nr. 3 BWahlO die Niederschrift nach dem Muster der Anlage 23 gefertigt werden. Demgemäß stellt der Versammlungsleiter fest, in welchem Zeitraum die Delegierten gewählt wurden und ob alle Erschienenen, die Anspruch auf die Stimmabgabe erhoben haben, stimmberechtigt waren. Neben der Vorlage der Niederschrift haben gemäß § 25 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 in Verbindung mit § 21 Abs. 6 Satz 2 BWahlG der Versammlungsleiter und zwei weitere Versammlungsteilnehmer die Beachtung der Anforderungen gemäß § 21 Abs. 3 Satz 1 bis 3 BWahlG an Eides statt zu versichern. 62 Die rechtzeitige Wahl der Delegierten gemäß § 21 Abs. 3 Satz 4 BWahlG zählt demgegenüber nicht zu den Angaben, deren Richtigkeit eidesstattlich zu versichern ist. Demgemäß dürften die nach § 25 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 BWahlG erforderlichen Nachweise erbracht sein, wenn eine ordnungsgemäße Sitzungsniederschrift vorliegt, aus der sich ergibt, dass die Aufstellung der Landesliste in geheimer Wahl stattgefunden hat, dabei alle stimmberechtigten Versammlungsteilnehmer vorschlagsberechtigt waren sowie alle Bewerber die Möglichkeit hatten, sich und ihr Programm in angemessener Zeit vorzustellen (§ 27 Abs. 5 i.V.m. § 21 Abs. 3 Satz 1 bis 3 BWahlG), und dieser Niederschrift die erforderlichen eidesstattlichen Versicherungen beigefügt sind. Die vorzeitige Wahl einzelner Delegierter wäre dann allenfalls als ein „behebbarer Mangel“ im Sinne von § 27 Abs. 5 in Verbindung mit § 25 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 BWahlG anzusehen. Wird in diesem Fall der Nachweis geführt, dass die vorzeitig gewählten Delegierten an der Aufstellung der Liste nicht teilgenommen haben, könnte dieser Mangel als beseitigt anzusehen sein, folglich ein gültiger Wahlvorschlag vorliegen und für eine Zurückweisung des Wahlvorschlags gemäß § 28 Abs. 1 Satz 2 BWahlG aus diesem Grund kein Raum verbleiben. 63 cc) Diese Auslegung von § 28 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BWahlG ist jedenfalls für den Fall, dass lediglich einzelne Delegierte für die Vertreterversammlung zur Aufstellung der Landesliste verfrüht gewählt wurden, an dieser aber nicht teilgenommen haben, mit Blick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verfassungsrechtlich geboten. Zwar führt die Wahl einzelner Vertreter unter Verstoß gegen § 21 Abs. 3 Satz 4 BWahlG dazu, dass diese bei der Vertreterversammlung weder stimm- noch vorschlagsberechtigt sind. Nehmen diese Delegierten an der Vertreterversammlung aber gar nicht teil, hat dies nicht zur Folge, dass die aufgestellte Landesliste zurückgewiesen werden muss, weil sie den Anforderungen des Bundeswahlgesetzes nicht entspricht. Verfassungsrechtlich findet dieses Ergebnis seine Begründung in dem Umstand, dass die Nichtzulassung einer Landesliste wegen der verfrühten Wahl einzelner Delegierter einen besonders schweren Eingriff in die Wahl- und Parteienfreiheit beinhaltet (1). Ein solcher würde nicht durch die Schutzzwecke des § 21 Abs. 3 Satz 4 BWahlG gerechtfertigt (2). Die Betrachtung vergleichbarer Fallkonstellationen bestätigt das Ergebnis der Zulassungsfähigkeit einer Landesliste, die ohne die Beteiligung der in einzelnen Fällen verfrüht gewählten Delegierten zustande gekommen ist (3). 64 (1) Die Nichtzulassung einer Landesliste allein wegen der verfrühten Wahl einzelner, an der Listenaufstellung nicht beteiligter Delegierter greift schwerwiegend in die Parteienfreiheit gemäß Art. 21 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG und in die Wahlfreiheit gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG ein. 65 (a) Durch die Zurückweisung ihrer Landesliste wird die betroffene Partei daran gehindert, ihrem Verfassungsauftrag zur Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Volkes aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG im Wege der Erstellung von Wahlvorschlägen und der Wahlteilnahme zu erfüllen. Soweit die Zurückweisung der Landesliste allein auf die verfrühte Wahl einzelner Delegierter – unabhängig von deren Mitwirkung an der Listenaufstellung – gestützt wird, findet der damit verbundene Eingriff in die Betätigungsfreiheit der betroffenen Partei zudem aufgrund von Umständen statt, die der zuständige Landesverband der Partei allenfalls begrenzt beeinflussen kann. Er dürfte weder faktisch noch rechtlich in der Lage sein, eine fristgerechte Delegiertenwahl in den einzelnen Kreisverbänden oder sonstigen Untergliederungen sicherzustellen. Er kann die Kreisverbände zwar zur fristgerechten Delegiertenwahl anhalten, hat darüber hinaus aber keine Handhabe, die fristgerechte Wahl durchzusetzen oder verfrüht gewählte Delegierte aus eigener Veranlassung auszutauschen. 66 Soweit der angegriffene Beschluss des Deutschen Bundestages dazu ausführt, es sei Sache der Parteien, durch Satzungsregelungen und Ordnungsmaßnahmen zu unterbinden, dass Parteigliederungen oder einzelne Mitglieder gegen die Interessen der Gesamtpartei handelten, rechtfertigt dies keine andere Einschätzung. Den Satzungsregelungen einer Partei kommt zwar nicht zuletzt hinsichtlich der Ernsthaftigkeit der Teilnahme an der politischen Willensbildung eigenständige Bedeutung zu. Auch wenn in der Satzung einer Partei die Beachtung der Frist des § 21 Abs. 3 Satz 4 BWahlG ausdrücklich eingefordert und deren Nichteinhaltung mit Sanktionen bis hin zum Parteiausschluss versehen würde, gewährleistete dies aber nicht, dass die verfrühte Wahl einzelner Delegierter tatsächlich unterbleibt. Selbst wenn die Landespartei aufgrund entsprechender – gegebenenfalls satzungsrechtlich festgeschriebener – Meldepflichten davon frühzeitig erführe, ist nicht ersichtlich, wie sie – über die bloße Aufforderung zur Wahlwiederholung hinaus – eine fristgerechte Delegiertenwahl gegenüber der jeweiligen Untergliederung durchsetzen könnte. Damit läge es aber in der Hand einzelner Kreisverbände oder sonstiger entsendebefugter Untergliederungen, die Aufstellung einer Landesliste allein durch eine verfrühte Delegiertenwahl endgültig zu verhindern. 67 Folgte man der vom Bundeswahlausschuss und dem Deutschen Bundestag vertretenen Auffassung, könnte der Landesverband einer Partei dem Risiko der Nichtzulassung seiner Landesliste auch nicht dadurch begegnen, dass er vor Beginn der entsprechenden Aufstellungsversammlung überprüfte, ob einzelne Delegierte verfrüht gewählt worden sind, und diese gegebenenfalls von der Versammlung ausschlösse. Dies hülfe nach der im angegriffenen Beschluss vertretenen Auffassung nicht darüber hinweg, dass die gesamte Landesliste an dem außerhalb des Einflussbereichs des Landesverbandes liegenden Makel einer verfrühten Delegiertenwahl litte, der für sich genommen ausreicht, die Landesliste zurückzuweisen. Eine solche Interpretation von § 28 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 in Verbindung mit § 27 Abs. 5, § 21 Abs. 3 Satz 4 BWahlG verkennt Bedeutung und Tragweite der Parteienfreiheit, die beinhaltet, dass eine Partei auf der jeweils betroffenen Ebene zumindest in der Lage sein muss, eigenständig einen gültigen Wahlvorschlag zu erstellen und einzureichen. 68 (b) Nichts Anderes gilt mit Blick auf das durch die Zurückweisung der Liste betroffene aktive Wahlrecht der Wählerinnen und Wähler beziehungsweise das passive Wahlrecht der Listenkandidatinnen und -kandidaten. Mit der Nichtzulassung der Landesliste wird den Wählern die Möglichkeit genommen, sich zugunsten dieser Liste zu entscheiden. Zugleich wird es den aufgestellten Listenkandidaten unmöglich gemacht, sich für ein Bundestagsmandat zu bewerben, ohne dass sie darauf in irgendeiner Weise Einfluss nehmen könnten. Die Zurückweisung einer Landesliste stellt sich insoweit als ein schwerwiegender Eingriff vor allem in das passive Wahlrecht der Wahlbewerberinnen und -bewerber dar. 69 (2) Demgegenüber werden bei der Aufstellung einer Landesliste ohne die Beteiligung verfrüht gewählter Delegierter die Schutzzwecke des § 21 Abs. 3 Satz 4 BWahlG nicht in einem Maße berührt, dass die Nichtzulassung dieser Liste geboten wäre. 70 (a) Das gesetzliche Gebot, die Wahl der Vertreter für die Vertreterversammlung zur Aufstellung der Landesliste frühestens 29 Monate nach Beginn der Wahlperiode des Deutschen Bundestages stattfinden zu lassen, bezweckt (vgl. oben Rn. 57), dass die gewählten Kandidatinnen und Kandidaten den aktuellen mehrheitlichen Willen der Parteimitglieder repräsentieren. Es dient dem Schutz der Wahlfreiheit derjenigen, die eine Partei wegen ihrer gegenwärtig vertretenen Positionen wählen wollen. Nehmen die vorzeitig gewählten Vertreter an der Listenaufstellung aber überhaupt nicht teil, wird der Schutzzweck der Norm nicht in relevantem Umfang berührt. Es besteht kein Risiko, dass diese Vertreter zu einer Listenaufstellung beitragen, die den gegenwärtigen mehrheitlichen Willen der Parteimitglieder nicht abbildet. Vielmehr bleibt die Listenaufstellung denjenigen Delegierten der Vertreterversammlung vorbehalten, die unter Beachtung der Frist des § 21 Abs. 3 Satz 4 BWahlG gewählt wurden; die Annahme, dass bei einer zeitgerechten Wahl der Vertreter statt der vorzeitig Gewählten andere Personen gewählt worden wären, die auf die Listenaufstellung Einfluss genommen hätten, bleibt demgegenüber spekulativ. 71 (b) Daneben soll § 21 Abs. 3 Satz 4 BWahlG das Wahlvorschlagsrecht relativ kurz vor der Listenaufstellung eingetretener Neumitglieder der jeweiligen Partei schützen. Auch insoweit überwiegt der Schutzzweck der Norm den Eingriff in die Parteien- und die Wahlfreiheit bei Zurückweisung der ohne Beteiligung der vorzeitig gewählten Delegierten aufgestellten Wahlliste nicht. Zwar mag bei einer vorzeitigen Vertreterwahl neuen Parteimitgliedern zunächst die Möglichkeit genommen sein, sich selbst um eine Benennung als Delegierter zu bemühen und von ihrem Wahl- beziehungsweise Wahlvorschlagsrecht Gebrauch zu machen. Nehmen die stattdessen bestimmten Delegierten ihr Mandat aber nicht wahr, besteht zumindest nicht das Risiko, dass die Listenaufstellung nur durch angestammte Parteimitglieder erfolgt und die gewählten Wahlbewerberinnen und -bewerber nicht den aktuellen Parteiwillen repräsentieren. Außerdem bleibt es den neuen Mitgliedern unbenommen, unter Hinweis auf den Verstoß gegen § 21 Abs. 3 Satz 4 BWahlG die erneute – fristgemäße – Benennung von Delegierten für die Vertreterversammlung zur Aufstellung der Landesliste einzufordern und sich dabei als Delegierte zu bewerben. Jedenfalls tritt die potentielle Beeinträchtigung des Wahlvorschlagsrechts einzelner Parteimitglieder aufgrund einer vorzeitigen Delegiertenwahl hinter dem schwerwiegenden Eingriff in die Wahl- und Parteienfreiheit, die mit der Nichtzulassung einer Landesliste verbunden ist, zurück. 72 (3) Dieses Ergebnis – eine Landesliste, an deren Aufstellung unter Verstoß gegen § 21 Abs. 3 Satz 4 BWahlG gewählte Delegierte nicht teilgenommen haben, muss zugelassen werden – wird durch die Betrachtung vergleichbarer Fallkonstellationen bestätigt. 73 (a) So dürfte eine ähnliche Situation gegeben sein, wenn fristgerecht gewählte Delegierte an der Vertreterversammlung nicht teilnehmen. Auch in diesem Fall könnten nicht als Vertreter gewählte Parteimitglieder an der Vertreterversammlung nicht teilnehmen und keine Wahlvorschläge machen. Gleichwohl dürfte die Ordnungsgemäßheit der Listenaufstellung in diesem Fall keinen Bedenken begegnen. Bleiben einzelne ordnungsgemäß gewählte Vertreter der Aufstellungsversammlung fern, dürfte dies für die Listenaufstellung jedenfalls solange ohne Belang sein, als dadurch die repräsentative Vertretung der Parteimitglieder nicht infrage gestellt wird. 74 (b) Für die Richtigkeit des vorstehenden Ergebnisses spricht, dass die Zurückweisung einer Landesliste auch dann nicht in Betracht kommen dürfte, sollte im Rahmen einer Überprüfung der Stimmberechtigung der anwesenden Vertreter die vorzeitige Wahl einzelner Delegierter festgestellt und sollten diese von der Mitwirkung an der Vertreterversammlung ausgeschlossen werden. Könnte in diesem Fall trotz des Ausschlusses nicht stimmberechtigter Vertreter die Landesliste zurückgewiesen werden, wäre ihre Zulassung von Umständen abhängig, auf die die betroffene Landespartei letztlich keinen Einfluss hätte. Dies überspannte die Anforderungen an die Wahrnehmung des den Parteien zugewiesenen Verfassungsauftrags in unzulässiger Weise und verletzte deren Betätigungsfreiheit aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG. 75 (c) Dahinstehen kann, ob eine andere Einschätzung geboten ist, sollten verfrüht gewählte Delegierte an der Listenaufstellung mitwirken. Folge eines Verstoßes gegen § 21 Abs. 3 Satz 4 BWahlG dürfte sein, dass den vorzeitig benannten Delegierten keine Stimm- oder sonstigen Mitwirkungsrechte auf der Vertreterversammlung zuwachsen. Nehmen sie trotzdem aktiv an der Aufstellung der Landesliste teil, setzt sich der Makel der vorzeitigen Wahl im Ergebnis der Landesliste fort. Ob in diesen Fällen die Landesliste gleichwohl zulassungsfähig wäre und inwiefern es dabei darauf ankommt, ob die Partei alle ihr rechtlich möglichen und zumutbaren Maßnahmen getroffen hat, um sicherzustellen, dass nur stimmberechtigte Vertreter an der Listenaufstellung teilnehmen (vgl. in diese Richtung BVerfGE 89, 243 <257>; VerfGH Saarland, NVwZ-RR 2012, S. 169 <175>), bedarf vorliegend keiner Entscheidung. Im hier relevanten Zusammenhang fehlt es gerade an der Mitwirkung fehlerhaft gewählter Delegierter an der Bestimmung der Kandidatinnen und Kandidaten auf der Landesliste der Beschwerdeführerin zu 1. 76 d) Ist § 28 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BWahlG demgemäß dahingehend auszulegen, dass eine Landesliste nicht allein deswegen zurückgewiesen werden darf, weil einzelne Delegierte, die nicht an der Vertreterversammlung zur Listenaufstellung teilgenommen haben, unter Verstoß gegen § 21 Abs. 3 Satz 4 BWahlG verfrüht gewählt wurden, durfte die Landesliste der Beschwerdeführerin zu 1. zur Wahl des 19. Deutschen Bundestages im Land Berlin nicht zurückgewiesen werden. Die Wahlausschüsse und der Deutsche Bundestag sind aufgrund der vorgelegten eidesstattlichen Versicherungen übereinstimmend davon ausgegangen, dass die vorzeitig gewählten Delegierten des Kreisverbandes (…) an der Vertreterversammlung zur Aufstellung der Landesliste am 8. Oktober 2016 nicht teilgenommen haben. Damit ist die Liste nicht unter Verstoß gegen die Anforderungen des Bundeswahlgesetzes im Sinne von § 28 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BWahlG zustande gekommen. Durch die gleichwohl erfolgte Zurückweisung der Liste wurden daher die Beschwerdeführerin zu 1. in ihrer Parteienfreiheit aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG und die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer zu 2. bis 19. in ihrem Wahlrecht aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG verletzt. D. 77 Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 3 BVerfGG in Verbindung mit §§ 18, 19 WahlPrüfG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 131, 320 <239>). König Huber Hermanns Müller Kessal-Wulf Maidowski Langenfeld Wallrabenstein
bundesverfassungsgericht
4-2021
15. Januar 2021
Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen strafrechtliche Verurteilung wegen Beleidigung einer örtlichen Polizeieinheit Pressemitteilung Nr. 4/2021 vom 15. Januar 2021 Beschluss vom 08. Dezember 20201 BvR 842/19 Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, die sich gegen eine strafgerichtliche Verurteilung wegen Beleidigung aufgrund des Zurschaustellens eines Pullovers mit dem Schriftzug „FCK BFE“ („Fuck Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit“) richtete. Die fachgerichtliche Würdigung der Botschaft als eine strafbare Beleidigung im Sinne des § 185 StGB ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Das Amtsgericht hat mit Blick auf die gesamten Umstände des Falls nachvollziehbar begründet, dass sich die Äußerung auf die örtliche Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit (BFE) bezog und damit hinreichend individualisiert war. Der Fall unterscheidet sich insoweit erheblich von vergangenen Fällen, in denen die Strafgerichte bei den herabsetzenden Botschaften „ACAB“ („all cops are bastards“) und „FCK CPS“ („fuck cops“) ohne zureichende Feststellungen zu Unrecht eine individualisierende Zuordnung zu bestimmten Personen und damit ein strafbares Verhalten angenommen hatten. Sachverhalt: Der Beschwerdeführer gehört nach den Feststellungen der Strafgerichte der „linken Szene“ an und hatte in diesem Zusammenhang verschiedene Auseinandersetzungen mit der örtlichen Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit der Polizei. Aus Anlass eines Strafverfahrens gegen einen Angehörigen der rechtsextremen Szene demonstrierte er gemeinsam mit anderen Personen vor dem Gerichtsgebäude. Nach den gerichtlichen Feststellungen war ihm bewusst, dass Mitglieder der örtlichen BFE vor Ort anwesend sein würden, um den Einlass in das Gebäude und das Verfahren zu sichern. Hierbei trug er einen Pullover mit der Aufschrift „FCK BFE“ gut sichtbar unter seiner geöffneten Jacke. Unter dem Pullover trug er noch ein T-Shirt mit der identischen Aufschrift, welches nach der Beschlagnahme des Pullovers zum Vorschein kam. Das Amtsgericht verurteilte den Beschwerdeführer wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe in Höhe von 15 Tagessätzen. Angesichts der Vorgeschichte war das Gericht überzeugt, dass sich der Schriftzug gerade und ausschließlich auf die örtliche Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit beziehen sollte. Diese stelle, weil es sich um eine hinreichend überschaubare Personengruppe handele, ein beleidigungsfähiges Kollektiv dar. Dem Beschwerdeführer sei bewusst gewesen, dass sich Beamte der örtlichen BFE und jedenfalls andere mit der Bedeutung dieses Kürzels vertraute Polizeibeamte an diesem Tag vor Ort befinden und von seiner Schmähschrift Kenntnis nehmen würden. Die dagegen eingelegte Sprungrevision des Beschwerdeführers blieb erfolglos. Der Beschwerdeführer rügt insbesondere eine Verletzung seiner Meinungsfreiheit. Wesentliche Erwägungen der Kammer: Die Verfassungsbeschwerde ist jedenfalls unbegründet. Der Eingriff in die Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG durch die strafgerichtliche Verurteilung ist gerechtfertigt. Auslegung und Anwendung des § 185 StGB durch die Fachgerichte begegnen keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Diese haben die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Individualisierung potentiell beleidigender Schriftzüge auf konkrete Personen oder Personengruppen beachtet. Das Amtsgericht durfte aus dem gesamten Zusammenhang des Verhaltens des Beschwerdeführers, insbesondere der gerade die örtliche BFE betreffenden Vorgeschichte, annehmen, dass sich die Äußerung auf die spezifische örtliche Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit und deren Beamtinnen und Beamte bezieht. In vergangenen verfassungsgerichtlichen Verfahren fehlte es bei den herabsetzenden Botschaften „ACAB“ („all cops are bastards“) und „FCK CPS“ („fuck cops“) an ausreichenden strafgerichtlichen Feststellungen zur personalisierenden Zuordnung dieser Äußerungen. In diesen Fällen gab es keine Vorgeschichte mit einer bestimmten Polizeieinheit. Ein planvolles, bestimmte Beamtinnen und Beamte herabsetzendes Vorgehen war aus den Feststellungen nicht erkennbar. Die Botschaften konnten daher auch als allgemeine politische Stellungnahmen zum Kollektiv „Polizei“ im Sinne des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG verstanden werden. Ein Unterschied ergibt sich auch daraus, dass vorliegend das ausdrücklich in Bezug genommene Kollektiv der BFE - auch ohne den Ortszusatz - erheblich spezifischer und eher abgrenzbar ist als der Begriff „cops“. Bei Letzterem ist nicht einmal erkennbar, ob sich dieser auf die deutsche Polizei oder ganz allgemein auf alle Personen mit polizeilichen Funktionen auf der Welt bezieht.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT - 1 BvR 842/19 - In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Herrn R…, - Bevollmächtigter: … - gegen a)  den Beschluss des Oberlandesgerichts Braunschweig vom 5. März 2019 - 1 Ss 77/18 -, b)  das Urteil des Amtsgerichts Göttingen vom 17. Juli 2018 - 39 Cs 32 Js 41752/17 (34/18) - hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Richter Paulus, Christ und die Richterin Härtel gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 8. Dezember 2020 einstimmig beschlossen: Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. G r ü n d e : I. 1 Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen eine strafgerichtliche Verurteilung wegen Beleidigung aufgrund des Zurschaustellens eines Pullovers mit dem Schriftzug „FCK BFE“ („Fuck Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit“). 2 1. Nach den tatgerichtlichen Feststellungen gehört der Beschwerdeführer der Göttinger „linken Szene“ an und hatte in diesem Zusammenhang verschiedene Auseinandersetzungen mit der dortigen Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit (BFE) der Polizei. Aus Anlass eines Strafverfahrens gegen einen Angehörigen der rechtsextremen Szene demonstrierte der Beschwerdeführer im Oktober 2017 gemeinsam mit anderen Personen unter dem Motto „Kein Platz für Neonazis in Göttingen“ vor dem Gerichtsgebäude. Nach den gerichtlichen Feststellungen war ihm bewusst, dass Mitglieder der BFE vor Ort anwesend sein würden, um den Einlass in das Gebäude und das Verfahren zu sichern. Hierbei trug er nach den tatgerichtlichen Feststellungen einen Pullover mit der Aufschrift „FCK BFE“ gut sichtbar unter seiner geöffneten Jacke. Nachdem Beamte der Einheit darauf aufmerksam geworden waren, forderte ein Beamter den Beschwerdeführer mehrfach auf, die Aufschrift zu bedecken und belehrte ihn über die mögliche Strafbarkeit dieses Verhaltens. Nachdem der Beschwerdeführer auf diese Aufforderung nicht reagierte, ordnete der Beamte die Beschlagnahme des Pullovers an und forderte den Beschwerdeführer auf, den Pullover auszuziehen. Hierbei zeigte sich, dass der Beschwerdeführer unter dem Pullover ein T-Shirt mit der identischen Aufschrift trug, was er nach den tatgerichtlichen Feststellungen spöttisch kommentierte. 3 2. Wegen dieses Verhaltens verurteilte das Amtsgericht den Beschwerdeführer wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe in Höhe von 15 Tagessätzen je 40 Euro. Angesichts der Vorgeschichte sei das Gericht überzeugt, dass sich der Schriftzug gerade und ausschließlich auf die Göttinger Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit beziehen sollte. Diese stelle, weil es sich um eine hinreichend überschaubare Personengruppe handele, ein beleidigungsfähiges Kollektiv dar. Das englische Wort „fuck“ bringe nicht bloß Kritik zum Ausdruck, sondern werde – inzwischen auch im Deutschen – allgemein als Schmäh- oder Schimpfwort verwendet, das eine verächtliche Geringschätzung der so titulierten Person unmittelbar ausdrücke. Dem Beschwerdeführer sei wegen des politischen Charakters des Strafverfahrens bewusst gewesen, dass sich Beamte der örtlichen BFE und jedenfalls andere mit der Bedeutung dieses Kürzels vertraute Polizeibeamte an diesem Tag vor Ort befinden und von seiner Schmähschrift Kenntnis nehmen würden. Unter anderem der Umstand, dass er auf den Hinweis hin den Schriftzug nicht verdeckt habe, verdeutliche, dass es ihm gerade auf eine Beleidigung der Beamten angekommen sei. Aus den in der Hauptverhandlung gezeigten Aufnahmen zeige sich zudem das vorsätzlich schmähende Präsentieren der Aufschrift gegenüber Polizeibeamten. Angesichts der Gesamtumstände sei die Annahme, dass der Beschwerdeführer nicht vorsätzlich gehandelt habe, vollkommen lebensfremd. Eine Rechtfertigung der Äußerung durch § 193 StGB scheide aus, da diese sich in einer vulgären Beschimpfung erschöpfe, die keinerlei sachbezogenen Beitrag im Rahmen einer politischen Auseinandersetzung leiste. Im Rahmen der Strafzumessung sei der vorherige Konflikt mit Beamten der BFE strafmildernd berücksichtigt worden. Allerdings müsse durch die geringfügig bemessene Geldstrafe zum Ausdruck gebracht werden, dass die vom Beschwerdeführer gewählte Form des Protestes strafbar sei und geahndet werde. 4 3. Die Sprungrevision des Beschwerdeführers verwarf das Oberlandesgericht auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft als unbegründet. 5 4. Der Beschwerdeführer rügt mit seiner Verfassungsbeschwerde insbesondere eine Verletzung seiner Meinungsfreiheit. II. 6 Die Verfassungsbeschwerde ist ohne Aussicht auf Erfolg. Sie genügt hinsichtlich einiger Rügen bereits nicht dem Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) beziehungsweise den aus § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG sich ergebenden Substantiierungsanforderungen. Jedenfalls ist sie unbegründet. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer nicht in seinem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. 7 1. Die strafrechtliche Verurteilung wegen Zurschaustellens des Schriftzugs „FCK BFE“ gegenüber Beamten einer Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit greift in die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG ein. Dieses Grundrecht schützt wertende Äußerungen unabhängig von deren etwaigen polemischen, unsachlichen oder verletzenden Gehalt (vgl. BVerfGE 54, 129 <138 f.>; 61, 1 <7 f.>; 93, 266 <289 f.>; stRspr). 8 2. Dieser Grundrechtseingriff ist jedoch gerechtfertigt. Die in erster Linie den Strafgerichten obliegende Auslegung und Anwendung des die Meinungsfreiheit beschränkenden § 185 StGB begegnet in den differenziert festgestellten Umständen des Falles keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Eine Missachtung der aus dem Grundsatz praktischer Konkordanz folgenden verfassungsrechtlichen Maßgaben für Verurteilungen nach § 185 StGB (vgl. dazu zusammenfassend BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 19. Mai 2020 - 1 BvR 2397/19 -, Rn. 14 ff.) und ein Überschreiten des bei der Anwendung dieser Maßgaben bestehenden fachgerichtlichen Wertungsrahmens sind nicht erkennbar. 9 a) Insbesondere haben die Fachgerichte die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die tatgerichtliche Feststellung einer Individualisierung potentiell beleidigender Schriftzüge auf konkrete Personen oder Personengruppen beachtet (vgl. dazu BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 26. Februar 2015 - 1 BvR 1036/14 -, Rn. 15 ff.; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 17. Mai 2016 - 1 BvR 2150/14 -, Rn. 16 ff.; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 16. Januar 2017 - 1 BvR 1593/16 -, Rn. 16 f.; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 13. Juni 2017 - 1 BvR 2832/15 -, Rn. 4 ff.). Der Beschwerdeführer beruft sich insoweit im Wesentlichen darauf, dass seine Äußerung nicht auf die spezifische Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit in Göttingen und deren Beamtinnen und Beamte, sondern allgemein auf solche Einheiten bei der Polizei bezogen gewesen sei. Er erwidert jedoch nicht auf die detaillierte Begründung des Amtsgerichts, wonach diese Zielrichtung aus dem gesamten Zusammenhang seines Verhaltens, insbesondere der gerade die BFE Göttingen betreffenden Vorgeschichte, hervorgehe. In Rechnung gestellt werden kann dabei auch, dass eine spezifisch die Beamtinnen und Beamten in Göttingen betreffende Zielrichtung angesichts der zwei übereinander getragenen Kleidungsstücke mit der identischen Aufschrift und des Verhaltens des Beschwerdeführers bei und nach dem polizeilich angeordneten Ausziehen seines Pullovers nicht fernlag. 10 b) Insofern liegt der Fall erheblich anders als in vergangenen verfassungsgerichtlichen Verfahren, in denen strafgerichtliche Feststellungen zur personalisierenden Zuordnung der herabsetzenden Botschaften „ACAB“ („all cops are bastards“) und „FCK CPS“ („fuck cops“) beanstandet wurden (vgl. dazu BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 26. Februar 2015 - 1 BvR 1036/14 -; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 17. Mai 2016 - 1 BvR 2150/14 -; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 16. Januar 2017 - 1 BvR 1593/16 -). In diesen Fällen gab es keine Vorgeschichte mit einer bestimmten Polizeieinheit und war ein planvolles, bestimmte Beamtinnen und Beamte herabsetzendes Vorgehen nicht aus den Feststellungen erkennbar. Vielmehr konnten die Botschaften auf den Kleidungsstücken auch als allgemeine politische Stellungnahmen zum Kollektiv „Polizei“ verstanden werden. Ein Verständnis als Stellungnahme zur Institution der Polizei und ihrer gesellschaftlichen Funktion war daher naheliegend, wozu Art. 5 Abs. 1 GG jeden Menschen berechtigt. Ein Unterschied ergibt sich auch daraus, dass vorliegend das ausdrücklich in Bezug genommene Kollektiv der BFE – auch ohne den Ortszusatz – erheblich spezifischer und eher abgrenzbar ist als der Begriff „cops“. Bei Letzterem ist nicht einmal erkennbar, ob sich dieser auf die deutsche Polizei oder ganz allgemein auf alle Personen mit polizeilichen Funktionen auf der Welt bezieht. 11 c) Ausgehend von dieser nicht zu beanstandenden fachgerichtlichen Deutung des Verhaltens des Beschwerdeführers als auf die Beamtinnen und Beamten der BFE Göttingen bezogen begegnet die Würdigung des Schriftzugs als strafbare Beleidigung keinen verfassungsrechtlichen Einwänden. Der Beschwerdeführer trägt insoweit nichts vor, was die implizite amtsgerichtliche Einordnung des Schriftzugs als Schmähung beziehungsweise als Formalbeleidigung verfassungsrechtlich in Zweifel ziehen würde. Dabei ist unerheblich, dass das angegriffene Urteil des Amtsgerichts zwischen diesen Rechtsfiguren (vgl. dazu ausführlich BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 19. Mai 2020 - 1 BvR 2397/19 -, Rn. 17 ff. und 21) nicht differenziert. Dies deckt sich zum einen mit der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung, in der diese Fallgruppen nicht immer klar gegeneinander abgegrenzt wurden (vgl. zur Formalbeleidigung als Unterfall der Schmähkritik BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 19. Mai 2020 - 1 BvR 2397/19 -, Rn. 21). Zum anderen hat diese fehlende Differenzierung auch inhaltliche Gründe. Denn die Entbehrlichkeit einer grundrechtlich angeleiteten Abwägung sowohl bei Schmähkritik als auch bei der Formalbeleidigung gründet darauf, dass bei einer Äußerung die inhaltliche Auseinandersetzung und Stellungnahme gänzlich in den Hintergrund tritt und das Mittel der Sprache mit Vorbedacht nur noch dazu eingesetzt wird, andere Personen zu verletzen und in den Augen anderer herabzusetzen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 19. Mai 2020 - 1 BvR 2397/19 -, Rn. 21). 12 Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen. 13 Diese Entscheidung ist unanfechtbar. Paulus Christ Härtel
bundesverfassungsgericht
16-2023
7. Februar 2023
Weitere Übergangsregelung vom Anrechnungs- zum Halbeinkünfteverfahren im Jahressteuergesetz 2010 ist mit dem Grundgesetz unvereinbar Pressemitteilung Nr. 16/2023 vom 7. Februar 2023 Beschluss vom 06. Dezember 20222 BvL 29/14 Körperschaftsteuerminderungspotenzial III Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts auf die Vorlage eines Finanzgerichts entschieden, dass auch § 36 Absatz 6a Körperschaftsteuergesetz (KStG) in der Fassung von § 34 Abs. 13f KStG in der Fassung des Jahressteuergesetzes 2010 (im Folgenden: § 36 Abs. 6a KStG) mit Art. 14 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) unvereinbar ist. Die Regelung kann zu einem Verlust von im Zeitpunkt des Systemwechsels vom Anrechnungs- zum Halbeinkünfteverfahren realisierbarem Körperschaftsteuerminderungspotenzial führen, ohne dass dies durch die gleichzeitige Verringerung von Körperschaftsteuererhöhungspotenzial vollständig kompensiert wird. Nach dem bis Ende 2000 geltenden Anrechnungsverfahren wurden nicht ausgeschüttete steuerbare Gewinne von Körperschaften mit (zuletzt) 40 % Körperschaftsteuer belastet (Tarifbelastung). Kam es später zu Gewinnausschüttungen, reduzierte sich der Steuersatz auf (zuletzt) 30 % (Ausschüttungsbelastung). Für die Körperschaft entstand so ein Körperschaftsteuerminderungspotenzial in Höhe der Differenz zwischen Tarif- und Ausschüttungsbelastung, zuletzt also in Höhe von 10 Prozentpunkten. Steuerfreie Vermögensmehrungen der Körperschaft wurden dagegen zum Teil bei einer Ausschüttung mit dem Ausschüttungssteuersatz von 30 % nachbelastet, enthielten also ein Steuererhöhungspotenzial. § 36 KStG ist Teil der Übergangsvorschriften, die den Wechsel vom Anrechnungs- zum Halbeinkünfteverfahren regeln. Danach wurden die unter dem Anrechnungsverfahren gebildeten, unterschiedlich mit Körperschaftsteuer belasteten und die nicht belasteten Teilbeträge des verwendbaren Eigenkapitals in mehreren Schritten zusammengefasst und umgegliedert. Das in den verbleibenden belasteten Eigenkapitalteilen enthaltene Körperschaftsteuerminderungspotenzial wurde in ein Körperschaftsteuerguthaben umgewandelt, das während einer mehrjährigen Übergangszeit abgebaut werden konnte. Die Regelung in § 36 Abs. 6a KStG sieht die Umgliederung des mit 45 % vorbelasteten Eigenkapitals (EK 45) in mit 40 % vorbelastetes Eigenkapital (EK 40) vor; gleichzeitig wird ein positiver nicht mit Körperschaftsteuer vorbelasteter Eigenkapitalteil (EK 02) verringert, bis er verbraucht ist. Bei dieser Umgliederung kann es zu einem Verlust von im Zeitpunkt des Systemwechsels realisierbarem Körperschaftsteuerminderungspotenzial kommen, ohne dass dies durch die Verringerung eines im EK 02 ruhenden und im Zeitpunkt des Systemwechsels realisierbaren Körperschaftsteuererhöhungspotenzials ausgeglichen wird. Das unter dem Anrechnungsverfahren angesammelte Körperschaftsteuerminderungspotenzial unterfällt in dem Umfang, in dem es im Zeitpunkt des Systemwechsels vom Anrechnungs- zum Halbeinkünfteverfahren realisierbar war, dem Schutz des Eigentums (Art. 14 Abs. 1 GG). In dieses Schutzgut greift § 36 Abs. 6a KStG bei einer bestimmten Eigenkapitalstruktur nachteilig ein. Dieser Eingriff ist nicht gerechtfertigt. Er ist zur Erreichung der gesetzgeberischen Ziele jedenfalls nicht erforderlich und wird den Anforderungen des Gleichheitssatzes an die Umgestaltung von Eigentümerbefugnissen nicht gerecht. Sachverhalt: Während der Geltung des Anrechnungsverfahrens wurde das verwendbare Eigenkapital (vEK) der Gesellschaft entsprechend seiner Vorbelastung mit Körperschaftsteuer in verschiedene „Eigenkapitaltöpfe“ (EK) gegliedert. Eine Belastung des einbehaltenen Gewinns mit 45 % wurde im sogenannten „EK 45“ vermerkt, eine Belastung mit 40 % im „EK 40“. Diese belasteten Eigenkapitalteile enthielten ein Körperschaftsteuerminderungspotenzial in Höhe der Differenz zwischen Tarif- und Ausschüttungsbelastung. Steuerfreie Vermögensmehrungen wurden im „EK 0“ erfasst. Letzteres unterteilte sich in die nach Doppelbesteuerungsabkommen steuerfreien ausländischen Gewinne und Verluste (EK 01), Altrücklagen aus den Jahren vor 1977 (EK 03), offene und verdeckte Einlagen der Gesellschafter (EK 04) sowie sonstige der Körperschaftsteuer nicht unterliegende Vermögensmehrungen (EK 02). Das EK 02 und das EK 03 wurden bei einer Ausschüttung mit dem Ausschüttungssteuersatz von 30 % nachbelastet, sie enthielten also ein Körperschaftsteuererhöhungspotenzial. Den Übergang vom Anrechnungs- zum Halbeinkünfteverfahren gestaltete der Gesetzgeber durch die mit dem Steuersenkungsgesetz vom 23.Oktober 2000 neu in das Körperschaftsteuergesetz eingefügten §§ 36 bis 40 KStG. Gemäß § 36 KStG wurden die unterschiedlich mit Körperschaftsteuer belasteten Teilbeträge des Eigenkapitals in mehreren Umrechnungsschritten zusammengefasst und umgegliedert und die so ermittelten Endbestände gesondert festgestellt. Diese Feststellung bildete die Grundlage für die Ermittlung des Körperschaftsteuerguthabens nach § 37 Abs. 1 KStG einerseits und der Nachbelastung mit Körperschaftsteuer gemäß § 38 KStG andererseits. Mit Beschluss vom 17. November 2009 (BVerfGE 125, 1 – Körperschaftsteuerminderungspotenzial I) erklärte der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts § 36 Abs. 3 und 4 KStG in der Fassung des Steuersenkungsgesetzes für mit dem Grundgesetz unvereinbar, soweit die Regelung durch die Umgliederung von EK 45 in EK 40 unter gleichzeitiger Verringerung des EK 02 zu einem Verlust von Körperschaftsteuerminderungspotenzial führte. Daraufhin änderte der Gesetzgeber mit dem Jahressteuergesetz 2010 die Übergangsvorschriften der §§ 36 und 37 KStG durch Einfügung von § 34 Abs. 13f, 13g KStG. Nach der Neuregelung wurde die vorrangige Umgliederung von EK 45 in EK 40 durch § 36 Abs. 3 KStG gestrichen. Gemäß § 36 Abs. 4 bis 6 KStG findet zunächst in mehreren Schritten eine Verrechnung belasteter und unbelasteter Eigenkapitalteile statt. Daran schließt sich im letzten Schritt gemäß § 36 Abs. 6a KStG die Umgliederung des EK 45 in EK 40 unter gleichzeitiger Verringerung des EK 02 an, sofern nach den vorgenannten Verrechnungsschritten ein positiver Teilbetrag des EK 02 verblieben ist. Dieser wird zunächst um 5/22 eines positiven Bestands an EK 45, jedoch maximal bis auf null vermindert und das EK 45 entsprechend erhöht. In Höhe von 27/5 des Betrags, um den das EK 02 gemindert worden ist, wird sodann das EK 40 erhöht und das EK 45 vermindert. Damit wird – anders als nach § 36 Abs. 3 KStG in der Fassung des Steuersenkungsgesetzes – vermieden, dass das EK 02 durch die Umgliederung negativ wird und die anschließende Verrechnung mit belasteten Eigenkapitalteilen umgliederungsbedingt zu einem Verlust von Körperschaftsteuerminderungspotenzial führt. Bei der Klägerin des Ausgangsverfahrens, einem Kreditinstitut in der Rechtsform einer eingetragenen Genossenschaft, führte die Feststellung der Endbestände des vEK gemäß § 36 Abs. 7 KStG durch das Finanzamt aufgrund der Regelung in § 36 Abs. 6a KStG zu einer Verringerung des Körperschaftsteuerguthabens gemäß § 37 Abs. 1 KStG gegenüber dem im Zeitpunkt des Systemwechsels vorhandenen Körperschaftsteuerminderungspotenzial. Nach erfolglosem Einspruch erhob sie Klage zum Finanzgericht. Dieses hat das Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob § 36 Abs. 6a KStG mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar ist. Wesentliche Erwägungen des Senats: § 36 Abs. 6a KStG verstößt gegen Art. 14 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG. I. 1. Der Schutz des Eigentums nach Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG umfasst nicht nur das zivilrechtliche Sacheigentum, sondern auch andere dingliche und sonstige gegenüber jedermann wirkende Rechte sowie schuldrechtliche Forderungen. Er ist nicht auf bestimmte vermögenswerte Rechte beschränkt. Geschützt sind nur Rechtspositionen, die einem Rechtssubjekt bereits zustehen, nicht jedoch bloße Interessen, Chancen und Verdienstmöglichkeiten. Das verfassungsrechtlich geschützte Eigentum ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Wesentlichen durch Privatnützigkeit und grundsätzliche Verfügungsfähigkeit über das Eigentumsobjekt gekennzeichnet. Vermögenswerte öffentlich-rechtlicher Rechtspositionen hat das Bundesverfassungsgericht in den Schutz der Eigentumsgarantie einbezogen, wenn sie eine Rechtsstellung begründen, die der des Eigentums entspricht und die so stark ist, dass ihre ersatzlose Entziehung dem rechtsstaatlichen Gehalt des Grundgesetzes widersprechen würde. Hierfür ist neben der Privatnützigkeit der Rechtsposition und einer zumindest eingeschränkten Verfügungsbefugnis des Inhabers insbesondere von Bedeutung, inwieweit eine derartige Rechtsstellung sich als Äquivalent eigener Leistung erweist. 2. Die Eigentumsgarantie gebietet nicht, einmal ausgestaltete Rechtspositionen für alle Zukunft in ihrem Inhalt unangetastet zu lassen. Der Gesetzgeber kann insbesondere, wenn sich eine Reform des geltenden Rechts als notwendig erweist, vor der Entscheidung stehen, bisher eingeräumte rechtliche Befugnisse zu beseitigen oder zu beschränken. Im Rahmen von Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG ist er bei der Neuordnung eines Rechtsgebiets zur Umgestaltung individueller Rechtspositionen im Wege einer angemessenen und zumutbaren Überleitungsregelung befugt. Er unterliegt dabei jedoch besonderen verfassungsrechtlichen Schranken. Der Eingriff in die nach früherem Recht entstandenen Rechte muss mit Blick auf die in Art. 14 Abs. 1 GG enthaltene subjektive Rechtsstellungsgarantie durch Gründe des öffentlichen Interesses unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gerechtfertigt sein. Darüber hinaus ist der Gesetzgeber an den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) auch bei der inhaltlichen Festlegung von Eigentümerbefugnissen und -pflichten gebunden. 3. Bei der Umgestaltung komplexer Regelungssysteme steht dem Gesetzgeber für die Überleitung bestehender Rechtslagen, Berechtigungen und Rechtsverhältnisse ein weiter Gestaltungsspielraum zur Verfügung. Der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht unterliegt nur, ob der Gesetzgeber bei der Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht und der Dringlichkeit der ihn rechtfertigenden Gründe unter Berücksichtigung aller Umstände die Grenze der Zumutbarkeit überschritten hat. II. Nach diesen Maßstäben ist § 36 Abs. 6a KStG mit Art. 14 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar. 1. Das unter dem Anrechnungsverfahren angesammelte Körperschaftsteuerminderungspotenzial unterfällt in dem Umfang, in dem es im Zeitpunkt des Systemwechsels vom Anrechnungs- zum Halbeinkünfteverfahren realisierbar war, dem Schutzbereich von Art. 14 Abs. 1 GG. Es erfüllt die Kriterien der Privatnützigkeit und jedenfalls eingeschränkten Verfügbarkeit. Ferner beruht es auf einer eigenen Leistung der Körperschaft, weil es sich aus der von dieser in Höhe der Tarifbelastung entrichteten Körperschaftsteuer ableitet. Soweit es im Zeitpunkt des Systemwechsels realisierbar war, handelt es sich bei dem Körperschaftsteuerminderungspotenzial nicht lediglich um eine bloße Chance oder zukünftige Verdienstmöglichkeit, sondern um eine vermögenswerte Rechtsposition, die der Körperschaft bereits zustand und bezifferbar war. 2. In das im Zeitpunkt des Systemwechsels vom Anrechnungs- zum Halbeinkünfteverfahren bestehende, im EK 45 gespeicherte und realisierbare Körperschaftsteuerminderungspotenzial greift § 36 Abs. 6a KStG je nach Eigenkapitalstruktur ein. Die Vorschrift führt gegenüber dem Zeitpunkt des Systemwechsels zu einer Reduzierung des Körperschaftsteuerminderungspotenzials, ohne dass dieser Eingriff durch die gleichzeitige Verringerung von Körperschaftsteuererhöhungspotenzial vollständig kompensiert wird. a) Unter dem Anrechnungsverfahren konnte in positivem EK 45 gespeichertes Körperschaftsteuerminderungspotenzial bei einer Vollausschüttung wegen der Verwendungsreihenfolge des § 28 Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit § 30 KStG 1999 nur dann nicht oder nicht vollständig realisiert werden, wenn die Summe aller übrigen Teilbeträge des verwendbaren Eigenkapitals negativ war. In allen anderen Fällen hat § 36 Abs. 6a KStG eine Verringerung des unter dem Übergangsrecht noch realisierbaren Körperschaftsteuerminderungspotenzials zur Folge. Die Umgliederung von EK 45 in EK 40 gemäß § 36 Abs. 6a Satz 2 KStG führt zwar zu einem höheren Bestand an EK 40, dieses enthält aber mit 1/6 nur ein geringeres Minderungspotenzial als das EK 45, bei dem das Minderungspotenzial 15/55 des Teilbetrags beträgt. Dadurch tritt insgesamt eine Reduzierung des Minderungspotenzials ein. b) Der Verlust an Körperschaftsteuerminderungspotenzial wird allerdings rechnerisch kompensiert durch die gleichzeitige entsprechende Reduktion von EK 02 und damit des darin enthaltenen Körperschaftsteuererhöhungspotenzials. Nach § 36 Abs. 6a Satz 1 KStG verringert sich der Bestand des EK 02 um 5/22 des Bestands an EK 45 bis zum Verbrauch des EK 02. Da die Verrechnung auf den positiven EK 02-Bestand beschränkt ist, entspricht die umgliederungsbedingte Reduktion des unter dem Anrechnungsverfahren gebildeten Körperschaftsteuerminderungspotenzials stets der umgliederungsbedingten Reduktion des Körperschaftsteuererhöhungspotenzials. Jedoch bleibt infolge der Regelung von § 36 Abs. 6a KStG nur der Saldo aus Körperschaftsteuerminderungs- und -erhöhungspotenzial identisch, nicht das Körperschaftsteuerminderungspotenzial als solches. Die Regelung zieht deshalb ungeachtet des rechnerischen Ausgleichs unter zwei Aspekten eine gegenüber dem Anrechnungsverfahren nachteilige Veränderung nach sich: aa) Zum einen bewirkt die Verrechnung mit EK 45 eine zwangsweise Nachbelastung des EK 02 mit 30 %, während die Nachbelastung unter der Geltung des Anrechnungsverfahrens nur bei einer tatsächlichen Ausschüttung erfolgt ist. Die betroffenen Körperschaften konnten also durch eine entsprechende Steuerung des Ausschüttungsverhaltens das Körperschaftsteuerminderungspotenzial realisieren, ohne dass zugleich eine Körperschaftsteuererhöhung anfiel. bb) Zum anderen wäre auch bei einer unterstellten Vollausschüttung im Zeitpunkt des Systemwechsels EK 02 nur in dem Umfang nachbelastet worden, in dem der Bestand in diesem Zeitpunkt als zur Ausschüttung verwendet gegolten hätte. Das hängt davon ab, ob negative Teilbeträge des vEK zu einer Ausschüttungssperre geführt hätten und gegebenenfalls welche Bestandteile des vEK nach der Verwendungsreihenfolge des § 28 Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit § 30 KStG 1999 davon betroffen gewesen wären. Da EK 02 gegenüber den belasteten Teilbeträgen des vEK nachrangig war, ist nicht ausgeschlossen, dass bei einer Vollausschüttung zwar Körperschaftsteuerminderungspotenzial realisiert worden wäre, dagegen nicht oder jedenfalls nicht in vollem Umfang Körperschaftsteuererhöhungspotenzial. Dies bleibt bei der Verrechnungsregelung des § 36 Abs. 6a KStG, die allein an den verbliebenen Bestand an EK 02 anknüpft, unberücksichtigt. Eine Konzentration auf den Teil des EK 02, der bei einer Vollausschüttung im Zeitpunkt des Systemwechsels verwendet worden wäre, wird auch nicht durch die nach § 36 Abs. 4 bis 6 KStG vorausgehenden Schritte zur Ermittlung der Endbestände der Teilbeträge des verwendbaren Eigenkapitals gewährleistet. Denn die danach erfolgende Verrechnung der verschiedenen Teilbeträge des unbelasteten und des belasteten vEK ist ebenfalls von der Verwendungsreihenfolge des § 28 Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit § 30 KStG 1999 gelöst. 3. Der in der beschriebenen belastenden Wirkung von § 36 Abs. 6a KStG liegende Eingriff in das durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützte Körperschaftsteuerminderungspotenzial ist nicht gerechtfertigt. a) Der Gesetzgeber verfolgte mit der Neuregelung der Übergangsvorschriften legitime Ziele. Er wollte die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in BVerfGE 125, 1 umsetzen, zugleich aber soweit möglich an dem bisherigen System des Übergangsrechts festhalten. In diesem System war es ein legitimes (Zwischen-)Ziel des Gesetzgebers, die unter dem Halbeinkünfteverfahren nicht mehr benötigte Eigenkapitalgliederung abzubauen. Das gilt umso mehr, als er dabei anstrebte, die bei Fortgeltung des Anrechnungsverfahrens im Falle einer Ausschüttung künftig entstandenen Körperschaftsteuerminderungen im Ergebnis zu erhalten. Zugleich sollte der Übergang vom alten zum neuen Körperschaftsbesteuerungssystem von Anfang an möglichst einfach abgewickelt werden. Teil der Vereinfachung war das Bestreben des Gesetzgebers, die EK-Konten vom Beginn des Übergangs an auf den dafür absolut erforderlichen Umfang zu reduzieren, nämlich auf einen mit 40 % belasteten Eigenkapitalanteil, anhand dessen das Körperschaftsteuerguthaben ermittelt wird (§ 37 Abs. 1 KStG), einen unbelasteten Eigenkapitalanteil (früheres EK 02), dessen Ausschüttung zu einer Erhöhung der Körperschaftsteuer um 3/7 der Gewinnausschüttung führt (§ 38 KStG), und ein steuerliches Einlagekonto (§ 27 KStG, vormals EK 04). Grundsätzlich legitim war auch die nicht ausdrücklich als gesetzgeberisches Ziel formulierte, der Sache nach aber verwirklichte Zwangsrealisation eines im positiven EK 02 ruhenden Körperschaftsteuererhöhungspotenzials durch Verrechnung mit im EK 45 enthaltenem Körperschaftsteuerminderungspotenzial derselben steuerpflichtigen Körperschaft. Soweit das eine wie das andere realisierbar war, entspricht sie dem Gedanken einer fiktiven Vollausschüttung im Zeitpunkt des Systemwechsels, der insgesamt dem Übergangsrecht der §§ 36 ff. KStG zugrunde lag. Dieser Ansatz ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, weil die Steuerpflichtigen auch unter dem Anrechnungsverfahren – jedenfalls dem Grunde nach – spätestens für den Zeitpunkt der Liquidation mit einer Nachbelastung des EK 02 rechnen mussten. b) Zur Erreichung der genannten legitimen Ziele war § 36 Abs. 6a KStG nur teilweise geeignet. Mit der Regelung wurden zwar die angestrebte Reduktion der Teilbeträge des belasteten verwendbaren Eigenkapitals auf EK 40 und eine weitgehende Eliminierung des EK 02 erreicht, wenn in hinreichendem Umfang positives EK 02 zur Verrechnung mit EK 45 zur Verfügung stand. In allen Fällen, in denen der EK 02-Bestand nach Anwendung von § 36 Abs. 4 bis 6 KStG geringer als 5/22 des EK 45-Bestands war, blieb aber auch danach ein mit 45 % vorbelastetes Eigenkapitalkonto bestehen. Der Vereinfachungseffekt wurde dadurch insgesamt nicht unerheblich beeinträchtigt. Auch zum (vollständigen) Erhalt des Körperschaftsteuerminderungspotenzials war die Regelung nicht uneingeschränkt geeignet. Erhalten wurde allenfalls der Saldo aus Körperschaftsteuerminderung und -erhöhung. Denn der nach Verrechnung von EK 45 und EK 02 verbleibende erhöhte Bestand an EK 40 wies ein geringeres Minderungspotenzial auf als der Ausgangsbestand an EK 45. Die gleichzeitige Minderung des EK 02 stellte jedenfalls insoweit keinen legitimen und für die Steuerpflichtigen zumutbaren Ausgleich dar, als das darin ruhende Körperschaftsteuererhöhungspotenzial im Zeitpunkt des Systemwechsels nicht realisierbar gewesen wäre, weil EK 02 bei einer Vollausschüttung infolge einer handelsrechtlichen Ausschüttungssperre nach Maßgabe von § 28 Abs. 3 KStG 1999 nicht zur Verwendung gekommen wäre. c) Zur Vereinfachung des Übergangs und zum Erhalt des Körperschaftsteuerminderungspotenzials war der Verrechnungsschritt des § 36 Abs. 6a KStG, selbst wenn man ihn als dafür zumindest teilweise geeignet betrachtet, jedenfalls nicht erforderlich. Der Gesetzgeber hätte eine ebenso einfache Abwicklung unter vollständigem Erhalt des (realisierbaren) Körperschaftsteuerminderungspotenzials dadurch erreichen können, dass er das Körperschaftsteuerguthaben nach § 37 KStG unmittelbar aus den zum Stichtag vorhandenen Teilbeträgen des belasteten Eigenkapitals, dem EK 45 und dem EK 40, gebildet hätte, ohne zuvor die Umgliederung von EK 45 vorzunehmen. Es hätte lediglich der Endbestand beider Teilbeträge zum Stichtag jeweils gesondert festgestellt werden müssen. Auch bei dieser Lösung wäre eine anschließende Saldierung von Körperschaftsteuerguthaben und -erhöhung für die einzelnen Steuerpflichtigen ohne weiteres durchzuführen gewesen. d) Davon unabhängig ist § 36 Abs. 6a KStG mit der Bindung des Gesetzgebers an den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG bei der Festlegung und Beschränkung von Eigentümerbefugnissen nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG nicht vereinbar. aa) Das EK 45 unterscheidet sich nicht wesentlich vom EK 40. Beide sind Teilbeträge des belasteten vEK, in denen somit Körperschaftsteuerminderungspotenzial enthalten ist. Sie unterscheiden sich lediglich – abhängig von ihrem jeweiligen Entstehungszeitpunkt – hinsichtlich der Höhe des in ihnen enthaltenen Körperschaftsteuerminderungspotenzials. bb) Durch die Umgliederungsregelung des § 36 Abs. 6a KStG werden Unternehmen mit umzugliederndem EK 45 schlechter gestellt als Unternehmen mit (von der Umgliederung nicht erfasstem) EK 40. Die Umgliederung führt zu einem partiellen Untergang des im EK 45 gespeicherten Körperschaftsteuerminderungspotenzials, das zwar durch die Reduktion des EK 02 rechnerisch kompensiert wird, aber mit einer entsprechenden „Zwangsrealisation“ des im EK 02 ruhenden Körperschaftsteuererhöhungspotenzials verbunden ist. Demgegenüber bleibt das in dem EK 40 gespeicherte Körperschaftsteuerminderungspotenzial von der Umgliederung gänzlich unbeeinflusst; korrespondierend findet eine Zwangsrealisation des Körperschaftsteuererhöhungspotenzials zu Beginn der Übergangsphase nicht und ab dem Jahressteuergesetz 2008 nur in Höhe von 3 % statt. cc) Für diese Ungleichbehandlung von EK 40 und EK 45 fehlt ein einleuchtender Grund. Sie war nicht geeignet, den vom Gesetzgeber angestrebten Erhalt des Körperschaftsteuerminderungspotenzials in allen Fällen zu erreichen. Zur Vereinfachung des Übergangs vom Anrechnungs- zum Halbeinkünfteverfahren war sie jedenfalls nicht erforderlich. III. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, den festgestellten Verfassungsverstoß bis zum 31. Dezember 2023 rückwirkend zu beseitigen. Diese Verpflichtung erfasst alle noch nicht bestandskräftigen Entscheidungen, die auf den für verfassungswidrig erklärten Vorschriften beruhen. Bis zu einer Neuregelung dürfen Gerichte und Verwaltungsbehörden die Normen im Umfang der festgestellten Unvereinbarkeit nicht mehr anwenden, laufende Verfahren sind auszusetzen.
Leitsatz zum Beschluss des Zweiten Senats vom 6. Dezember 2022 - 2 BvL 29/14 - Körperschaftsteuerminderungspotenzial III Die Regelung des § 36 Abs. 6a KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. des JStG 2010) für den Übergang vom körperschaftsteuerrechtlichen Anrechnungs- zum Halbeinkünfteverfahren ist mit Art. 14 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar, soweit sie zu einem Verlust von im Zeitpunkt des Systemwechsels realisierbarem Körperschaftsteuerminderungspotenzial führt, ohne dass dieser Eingriff durch die gleichzeitige Verringerung von Körperschaftsteuererhöhungspotenzial vollständig kompensiert wird. Er ist zur Erreichung der gesetzgeberischen Ziele jedenfalls nicht erforderlich und wird zudem den Anforderungen des Gleichheitssatzes an die Umgestaltung von Eigentümerbefugnissen nicht gerecht. BUNDESVERFASSUNGSGERICHT - 2 BvL 29/14 - Körperschaftsteuerminderungspotenzial III IM NAMEN DES VOLKES In dem Verfahren zur verfassungsrechtlichen Prüfung, ob der durch § 34 Absatz 13f des Körperschaftsteuergesetzes (KStG) 2002 in der Fassung des Jahressteuergesetzes 2010 vom 8. Dezember 2010 (BGBl I 2010 S. 1768 = BStBl I 2010 S. 1394) eingefügte § 36 Abs. 6a KStG mit Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes unvereinbar ist, - Aussetzungs- und Vorlagebeschluss des Finanzgerichts Münster vom 16. September 2014 - 9 K 1600/12 F - hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat - unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter Vizepräsidentin König, Huber, Hermanns, Müller, Kessal-Wulf, Langenfeld, Wallrabenstein am 6. Dezember 2022 beschlossen: § 36 Absatz 6a Körperschaftsteuergesetz in der Fassung von § 34 Absatz 13f Körperschaftsteuergesetz in der Fassung des Jahressteuergesetzes 2010 vom 8. Dezember 2010 (Bundesgesetzblatt I Seite 1768) sowie § 36 Absatz 6a Körperschaftsteuergesetz in der Fassung von § 34 Absatz 11 Körperschaftsteuergesetz in der Fassung des Gesetzes zur Anpassung des nationalen Steuerrechts an den Beitritt Kroatiens zur EU und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften vom 25. Juli 2014 (Bundesgesetzblatt I Seite 1266) sind unvereinbar mit Artikel 14 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes. G r ü n d e : A. 1 Die konkrete Normenkontrolle betrifft die Verfassungsmäßigkeit der Übergangsregeln vom Anrechnungsverfahren zum Halbeinkünfteverfahren bei der Körperschaftsteuer zum Jahreswechsel 2000/2001 in der durch das Jahressteuergesetz 2010 – JStG 2010 – vom 8. Dezember 2010 (BGBl I S. 1768) geänderten Fassung. I. 2 1. Von 1977 bis Ende 2000 wurde das Einkommen der Körperschaften nach dem Körperschaftsteueranrechnungsverfahren besteuert (§§ 27 ff. des Körperschaftsteuergesetzes, zuletzt in der Fassung der Bekanntmachung der Neufassung des Körperschaftsteuergesetzes 1999 – KStG 1999 – vom 22. April 1999, BGBl I S. 817). 3 a) Das Anrechnungsverfahren sah auf der Ebene der Körperschaft zwei Steuersätze vor: Der von der Körperschaft einbehaltene und nicht ausgeschüttete Gewinn wurde zunächst mit dem Körperschaftsteuersatz von (zuletzt) 40 % besteuert (§ 23 Abs. 1 KStG 1999). Wurde der Gewinn später ausgeschüttet, reduzierte sich die Körperschaftsteuer auf (zuletzt) 30 % (§ 27 Abs. 1 KStG 1999). Auf der Ebene der Anteilseigner – soweit sie natürliche Personen waren – erfolgte sodann die Besteuerung der Ausschüttung mit dem individuellen Einkommensteuersatz des Steuerpflichtigen. Hierbei wurde die von der Kapitalgesellschaft entrichtete Körperschaftsteuer auf die Einkommensteuer des Anteilseigners angerechnet (§ 36 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 16. April 1997 – EStG 1997 –, BGBl I S. 821). Das Anrechnungsverfahren verfolgte damit das Ziel, eine Doppelbelastung durch Körperschaftsteuer und Einkommensteuer zu vermeiden. 4 Die Differenz zwischen der Tarifbelastung von (zuletzt) 40 % und der reduzierten Ausschüttungsbelastung von (zuletzt) 30 % führte gemäß § 27 Abs. 1 KStG 1999 zu einer Minderung der von der Körperschaft zu entrichtenden Körperschaftsteuer, wenn es zur Ausschüttung kam. Der Minderungsbetrag galt als für die Gewinnausschüttung verwendet (§ 28 Abs. 6 Satz 1 KStG 1999). Wegen des gespaltenen Körperschaftsteuersatzes stand mit der Tarifbelastung eines einbehaltenen Gewinns fest, dass diesem (mit Körperschaftsteuer) belasteten Eigenkapital im Falle der Ausschüttung ein Minderungsbetrag in Höhe der Differenz zwischen Tarif- und Ausschüttungsbelastung zugeschlagen wurde. Es entstand also bei Gewinnthesaurierung bis zum Zeitpunkt der Ausschüttung des belasteten Eigenkapitals auf der Ebene der Gesellschaft ein Körperschaftsteuerminderungspotenzial, das sich nach der Höhe dieser Steuersatzdifferenz bestimmte. 5 Die Tarifbelastung gemäß § 23 Abs. 1 KStG 1999 war in der Vergangenheit häufigen Änderungen ausgesetzt (u.a. von 56 % im Jahre 1977 auf 50 %, dann 1994 auf 45 % und 1999 auf 40 %). Auch die Ausschüttungsbelastung änderte sich seit dem Jahr 1994 von 36 % auf 30 %. Dementsprechend variierte die Höhe des Körperschaftsteuerminderungspotenzials. Wurde ein Gewinn einbehalten und mit 45 % Körperschaftsteuer belastet, enthielt er bei einer Ausschüttungsbelastung von 30 % ein Minderungspotenzial von 15 Prozentpunkten (oder 15/55). War er mit 40 % belastet, enthielt er ein Minderungspotenzial von 10 Prozentpunkten (oder 10/60). Unterlagen einzelne Gewinnteile auf der Ebene der Körperschaft nicht der Körperschaftsteuer (Tarifbelastung von null), so entstand unter bestimmten Voraussetzungen ein Erhöhungspotenzial in Höhe von 30 Prozentpunkten. 6 b) Um bei Ausschüttungen angesichts der unterschiedlichen Steuersätze den jeweiligen Minderungsbetrag bestimmen zu können, musste die entsprechende Vorbelastung des zur Ausschüttung kommenden Eigenkapitals bekannt sein. Sie wurde im System des Anrechnungsverfahrens durch eine diese Vorbelastung wiedergebende Gliederung des „verwendbaren Eigenkapitals“ – vEK – (§ 29 KStG 1999) dargestellt. Das Eigenkapital der Gesellschaften wurde entsprechend seiner Tarifbelastung in verschiedene „Eigenkapitaltöpfe“ – EK – gegliedert (§ 30 KStG 1999). Eine Belastung des thesaurierten Gewinns mit 45 % wurde im sogenannten „EK 45“ vermerkt, eine Belastung mit 40 % im „EK 40“ (vgl. § 30 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 und 2 KStG 1999). 7 Steuerfreie Vermögensmehrungen, die aufgrund spezialgesetzlicher Steuerbefreiungen nicht mit Körperschaftsteuer belastet waren, mussten ebenfalls im Eigenkapital abgebildet werden. Das nicht mit Körperschaftsteuer belastete Kapital wurde im „EK 0“ erfasst (§ 30 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 KStG 1977/1999). Dieses unterteilte sich (§ 30 Abs. 2 Nr. 1 bis 4 KStG 1977/1999) in die nach Doppelbesteuerungsabkommen steuerfreien ausländischen Gewinne und Verluste (EK 01), Altrücklagen aus den Jahren vor 1977 (EK 03), offene und verdeckte Einlagen der Gesellschafter (EK 04) sowie sonstige Vermögensmehrungen, die der Körperschaftsteuer nicht unterlagen (EK 02). Zu letzteren gehörten unter anderem der Zugang aus steuerfreien inländischen Einkünften wie Investitionszulagen und der Abgang durch Verluste, die gegebenenfalls auch zu einem Negativbestand an EK 02 führen konnten. Das EK 02 und das EK 03 wurden bei einer Ausschüttung mit dem Ausschüttungssteuersatz von 30 % nachbelastet, sie enthielten also ein Steuererhöhungspotenzial. 8 Im Falle einer Ausschüttung galten gemäß § 28 Abs. 3 Satz 1 KStG 1999 die Teilbeträge des verwendeten Eigenkapitals als in der in § 30 KStG 1999 enthaltenen Reihenfolge verwendet. Dies entsprach einer Reihenfolge mit abnehmender Tarifbelastung (d.h. EK 45 vor EK 40 vor EK 30 vor EK 0, § 30 Abs. 1, § 54 Abs. 11 Satz 5 KStG 1999). Innerhalb des EK 0 begann die Verwendungsreihenfolge mit dem EK 01, gefolgt von EK 02, EK 03 und schließlich EK 04 (§ 30 Abs. 2 KStG 1999). 9 c) Um die im Körperschaftsteueranrechnungsverfahren erforderliche Gliederung des Eigenkapitals angesichts der häufigen Änderungen der Höhe des gespaltenen Steuersatzes nicht zu unübersichtlich werden zu lassen, sah der Gesetzgeber nach einem Übergangszeitraum von regelmäßig fünf Jahren (ab der Steuersatzänderung) jeweils die Umgliederung noch vorhandener Eigenkapitalbeträge mit einer Vorbelastung nach dem alten Steuertarif in solche mit der Belastung nach dem neuen Satz vor. So wäre unter anderem das EK 45 gemäß § 54 Abs. 11 KStG (i.d.F. des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 – StEntlG 1999/ 2000/2002 – vom 24. März 1999, BGBl I S. 402) mit Ablauf des Jahres 2003 in das mit 40 % vorbelastete EK 40 umzugliedern gewesen. 10 2. Mit dem Steuersenkungsgesetz – StSenkG – vom 23. Oktober 2000 (BGBl I S. 1433) vollzog der Gesetzgeber einen Wechsel im System der Ertragsbesteuerung der Körperschaften vom Anrechnungs- zum Halbeinkünfteverfahren. Nach dem Halbeinkünfteverfahren wird auf der Ebene der Gesellschaft für Gewinne nur noch eine einheitliche und endgültige Körperschaftsteuer in Höhe von 25 % (seit 2008 in Höhe von 15 %) erhoben (§ 23 Abs. 1 KStG). Es entfiel damit die Differenzierung zwischen Tarif- und Ausschüttungsbelastung. Auf der Ebene des Anteilseigners – soweit er eine natürliche Person ist – wird der ausgeschüttete Kapitalertrag nur zur Hälfte (seit 2009 zu 60 %) versteuert (§ 3 Nr. 40 EStG). Ist der Anteilseigner eine Körperschaft, wird der Ertrag aus der Kapitalbeteiligung zur Vermeidung einer Mehrfachbelastung grundsätzlich von der Körperschaftsteuer freigestellt (§ 8b KStG). Eines der wesentlichen Anliegen des Gesetzgebers beim Wechsel vom Anrechnungs- zum Halbeinkünfteverfahren war die Vereinfachung der Besteuerung von Körperschaften (vgl. BTDrucks 14/2683, S. 93 ff., 121). 11 3. Den Übergang vom Anrechnungs- zum Halbeinkünfteverfahren gestaltete der Gesetzgeber durch die mit dem Steuersenkungsgesetz neu in das Körperschaftsteuergesetz eingefügten Sondervorschriften der §§ 36 bis 40 KStG. Insbesondere wollte er damit sicherstellen, „dass die bei Fortgeltung des Anrechnungsverfahrens bei einer Ausschüttung künftig entstandenen Körperschaftsteuerminderungen im Ergebnis erhalten bleiben“ (BTDrucks 14/2683, S. 121). 12 a) § 36 KStG (i.d.F. des StSenkG) enthielt Regelungen zur Feststellung der Endbestände der Teilbeträge des verwendbaren Eigenkapitals. 13 aa) Die unterschiedlich mit Körperschaftsteuer belasteten vorhandenen Teilbeträge an verwendbarem Eigenkapital wurden in mehreren Schritten zusammengefasst und umgegliedert. So wurde erreicht, dass in den Gesellschaften allenfalls noch ein Teilbetrag von mit 40 % Körperschaftsteuer vorbelastetem Eigenkapital (EK 40) vorhanden war. Das darin enthaltene Körperschaftsteuerminderungspotenzial wurde in ein Körperschaftsteuerguthaben umgewandelt, das während einer Übergangszeit von – ursprünglich – 15 Jahren abgebaut werden konnte. Das Steuersenkungsgesetz sah unter anderem die folgenden Umgliederungsschritte vor: 14 In § 36 Abs. 3 KStG (i.d.F. des StSenkG) war geregelt, dass ein positiver Bestand der belasteten Eigenkapitalanteile des EK 45 in Teilbeträge von EK 40 und EK 02 umzugliedern war. Dies geschah in der Weise, dass das EK 40 um 27/22 des Bestands des EK 45 erhöht wurde, während sich das EK 02 um 5/22 dieses Bestands verringerte. Die ursprünglich für den 31. Dezember 2003 vorgesehene Umgliederung wurde damit vorgezogen. 15 Nach § 36 Abs. 4 Alternative 1 KStG (i.d.F. des StSenkG) waren anschließend die unbelasteten Teilbeträge des EK 01 bis EK 03 untereinander zu verrechnen. Verblieb nach deren Verrechnung eine negative Summe, so war dieser Negativbetrag nach § 36 Abs. 4 Alternative 2 KStG (i.d.F. des StSenkG) mit den belasteten Teilbeträgen des verwendbaren Eigenkapitals zu verrechnen. Dabei erfolgte die Verrechnung in der Reihenfolge der belasteten Teilbeträge, in der deren Belastung zunahm. 16 bb) Die nach § 36 Abs. 1 bis 6 KStG (i.d.F. des StSenkG) ermittelten Endbestände des verwendbaren Eigenkapitals wurden gesondert festgestellt (§ 36 Abs. 7 KStG i.d.F. des StSenkG). Diese Feststellung bildete die Grundlage für die Ermittlung des Körperschaftsteuerguthabens (§ 37 Abs. 1 KStG in der jeweiligen Fassung seit dem StSenkG) einerseits und der Nachbelastung mit Körperschaftsteuer (§ 38 KStG in der jeweiligen Fassung seit dem StSenkG) andererseits. 17 b) Gemäß § 37 Abs. 1 KStG (i.d.F. des StSenkG) wurde das Körperschaftsteuerguthaben in Höhe von 1/6 aus dem nach Maßgabe des § 36 KStG errechneten EK 40 ermittelt. Das festgestellte Körperschaftsteuerguthaben minderte sich zunächst im 15-jährigen Übergangszeitraum jeweils um 1/6 der in den folgenden Jahren auf der Grundlage von Gewinnverwendungsbeschlüssen getätigten Gewinnausschüttungen (§ 37 Abs. 2 KStG i.d.F. des StSenkG) und wurde an die Gesellschaft – im Wege der Verrechnung mit der festgesetzten Körperschaftsteuer oder durch Erstattung – ausgekehrt. 18 c) Wurde gemäß § 36 Abs. 7 KStG (i.d.F. des StSenkG) ein positiver EK 02-Endbetrag festgestellt, so war dieser gemäß § 38 Abs. 1 Satz 1 KStG (i.d.F. des StSenkG) zum Schluss der folgenden Wirtschaftsjahre fortzuschreiben und gesondert festzustellen. Der EK 02-Bestand verringerte sich in den Folgejahren gemäß § 38 Abs. 1 Satz 4 KStG (i.d.F. des StSenkG), soweit er als für Gewinnausschüttungen verwendet galt. Von einer solchen Verwendung war gemäß § 38 Abs. 1 Satz 5 KStG (i.d.F. des StSenkG) auszugehen, soweit die Gewinnausschüttungen den auf den Schluss des vorangegangenen Wirtschaftsjahrs ermittelten Unterschiedsbetrag zwischen dem um das gezeichnete Kapital (Nennkapital) geminderten steuerbilanziellen Eigenkapital einerseits und der Summe des Bestands des steuerlichen Einlagekontos zuzüglich des auf den Schluss des vorangegangenen Wirtschaftsjahrs ermittelten EK 02-Endbestands andererseits überstiegen. 19 d) Gemäß § 39 KStG (i.d.F. des StSenkG) wurde ein sich nach § 36 Abs. 7 KStG (i.d.F. des StSenkG) ergebender positiver Endbetrag des errechneten EK 04 als Anfangsbestand des steuerlichen Einlagekontos im Sinne des § 27 KStG (i.d.F. des StSenkG) erfasst. Die Einlagenrückgewähr ist auch nach dem neuen Recht weiter nachrangig ausgestaltet: Gemäß § 27 Abs. 1 Satz 3 KStG (i.d.F. des StSenkG) mindern Leistungen das steuerliche Einlagekonto unabhängig von ihrer handelsrechtlichen Einordnung nur, soweit sie den auf den Schluss des vorangegangenen Wirtschaftsjahrs ermittelten ausschüttbaren Gewinn übersteigen. Als ausschüttbarer Gewinn gilt das um das gezeichnete Kapital geminderte in der Steuerbilanz ausgewiesene Eigenkapital abzüglich des Bestands des steuerlichen Einlagekontos (vgl. § 27 Abs. 1 Satz 4 KStG i.d.F. des Unternehmenssteuerfortentwicklungsgesetzes – UntStFG – vom 20. Dezember 2001 <BGBl I S. 3858>). 20 e) Im Übrigen wurden die Teilgrößen des vEK verrechnet und als sogenanntes „neutrales Vermögen“ weitergeführt. Dieses umfasste im Einzelnen die Bestände des EK 30, des zusammengefassten EK 01/03, etwaige Negativbestände des EK 45, des EK 40, des EK 02 und des EK 04, das positive EK 40, dessen Körperschaftsteuerminderungspotenzial im Körperschaftsteuerguthaben ausgewiesen wurde, sowie die ab dem Wirtschaftsjahr 2001 nach neuem Recht entstandenen Vermögensmehrungen und -minderungen (vgl. Dötsch, in: Dötsch/Pung/Möhlenbrock, Die Körperschaftsteuer, § 38 KStG Rn. 17 <Feb. 2008>). 21 4. In der Folgezeit wurden die §§ 36 bis 40 KStG (i.d.F. des StSenkG) mehrfach geändert. 22 a) Durch das Unternehmenssteuerfortentwicklungsgesetz wurden die Absätze 4 bis 6 des § 36 KStG neu gefasst. Die Änderungen waren gemäß § 34 Abs. 2a KStG (i.d.F. des UntStFG) ab dem Veranlagungszeitraum anzuwenden, für den erstmals das Halbeinkünfteverfahren galt. Nach der Gesetzesbegründung dienten sie lediglich der Klarstellung, dass auch dann, wenn die Summe der unbelasteten oder belasteten Teilbeträge negativ war oder null betrug, zunächst eine Verrechnung innerhalb dieser Teilbeträge stattfinden sollte (vgl. BTDrucks 14/6882, S. 39). 23 b) Mit dem Steuervergünstigungsabbaugesetz – StVergAbG – vom 16. Mai 2003 (BGBl I S. 660) wurde ein nahezu dreijähriges Moratorium bei der Auszahlung des Körperschaftsteuerguthabens eingeführt (§ 37 Abs. 2a KStG i.d.F. des StVergAbG), womit eine Verlängerung des Übergangszeitraums von 15 auf 18 Jahre bis 2019 verbunden war. 24 c) Im Rahmen des Gesetzes über steuerliche Begleitmaßnahmen zur Einführung der Europäischen Gesellschaft und zur Änderung weiterer steuerrechtlicher Vorschriften – SEStEG – vom 7. Dezember 2006 (BGBl I S. 2782) wurde die Realisierung des Körperschaftsteuerguthabens von der früheren ausschüttungsabhängigen Körperschaftsteuerminderung auf eine ausschüttungsunabhängige ratierliche Auszahlung des restlichen Guthabens umgestellt. Das verbleibende Körperschaftsteuerguthaben war gemäß § 37 Abs. 4 Satz 1 KStG (i.d.F. des SEStEG) letztmals auf den 31. Dezember 2006 zu ermitteln. Gemäß § 37 Abs. 5 Satz 1 KStG (i.d.F. des SEStEG) hatte die Körperschaft in dem Zeitraum von 2008 bis 2017 einen Anspruch auf Auszahlung des so ermittelten Körperschaftsteuerguthabens in zehn gleichen Jahresbeträgen. Dieser Auszahlungsanspruch entstand mit Ablauf des 31. Dezember 2006 (§ 37 Abs. 5 Satz 2 KStG i.d.F. des SEStEG), ohne dass es hierfür einer Gewinnausschüttung durch die Körperschaft oder eines Gewinnverwendungsbeschlusses bedurft hätte. 25 d) Mit dem Jahressteuergesetz 2008 – JStG 2008 – vom 20. Dezember 2007 (BGBl I S. 3150) glich der Gesetzgeber das System der Körperschaftsteuererhöhung nach § 38 KStG dem durch das Gesetz über steuerliche Begleitmaßnahmen zur Einführung der Europäischen Gesellschaft und zur Änderung weiterer steuerrechtlicher Vorschriften geänderten System der ausschüttungsunabhängigen Auszahlung des Körperschaftsteuerguthabens an. Seitdem wurde das EK 02 ausschüttungsunabhängig besteuert. Gemäß § 38 Abs. 5 Satz 1 KStG (i.d.F. des JStG 2008) betrug der Körperschaftsteuererhöhungsbetrag grundsätzlich 3 % des letztmals auf den 31. Dezember 2006 (§ 38 Abs. 4 Satz 1 KStG i.d.F. des JStG 2008) festgestellten Endbetrags an EK 02. Dieser war innerhalb des Zeitraums von 2008 bis 2017 in zehn gleichen Jahresbeträgen zu entrichten (§ 38 Abs. 6 Satz 1 KStG i.d.F. des JStG 2008). 26 5. Mit Beschluss vom 17. November 2009 (BVerfGE 125, 1 –  Körperschaftsteuerminderungspotenzial I) erklärte der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts § 36 Abs. 3 und Abs. 4 KStG (i.d.F. des StSenkG) für mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar, soweit diese Regelung zu einem Verlust des Körperschaftsteuerminderungspotenzials führte, das in dem mit 45 % Körperschaftsteuer belasteten Teilbetrag des verwendbaren Eigenkapitals enthalten war. Zur Begründung führte der Erste Senat aus: 27 Infolge der Umgliederung des vEK durch § 36 KStG (i.d.F. des StSenkG) sei es in bestimmten Konstellationen entgegen der Intention des Gesetzgebers zu Einbußen an Körperschaftsteuerminderungspotenzial gekommen. Das habe insbesondere Körperschaften betroffen, die über hohe Bestände an EK 45 und keine oder negative Bestände an EK 02 verfügt hätten. Die Umgliederung von EK 45 in EK 40 unter gleichzeitiger Verringerung des EK 02 habe dazu geführt, dass der EK 02-Bestand negativ geworden sei oder sich dessen negativer Bestand erhöht habe. Statt der vom Gesetzgeber mit der Umgliederungstechnik beabsichtigten Reduzierung des Körperschaftsteuererhöhungspotenzials beim EK 02 sei der gegenteilige Effekt eingetreten. Denn die mit § 36 Abs. 4 KStG (i.d.F. des StSenkG) angeordnete Verrechnung der negativen Summe der EK 0-Bestände mit dem EK 40 habe zu einer Verringerung des Körperschaftsteuerminderungspotenzials geführt (vgl. BVerfGE 125, 1 <18 f.>). 28 Weder das Ziel der Erhaltung des Körperschaftsteuerminderungspotenzials noch das angestrebte Vereinfachungsziel begründeten die in § 36 Abs. 3 und 4 KStG (i.d.F. des StSenkG) gewählte Umgliederungstechnik. Sie lieferten keinen tragfähigen Sachgrund für die durch „Umgliederungsverluste“ verursachte ungleiche Steuerbelastung. Dem Gesetzgeber hätten andere Gestaltungsmöglichkeiten zur Verfügung gestanden, die sämtliche Übergangsziele hätten einhalten können, ohne umgliederungsbedingte Verluste von Körperschaftsteuerminderungspotenzial zu verursachen. Der dem Gesetzgeber gerade bei der Umgestaltung komplexer Regelungssysteme – wie hier beim Wechsel der Körperschaftsteuer vom Anrechnungs- zum Halbeinkünfteverfahren – zustehende weite Gestaltungsspielraum befreie ihn nicht von der Bindung an den Gleichheitssatz. Eine erhebliche Ungleichbehandlung, die jeglichen sachlichen Grundes entbehre, weil alle vom Gesetzgeber angestrebten Regelungsziele auch unter Vermeidung der ungleichen Belastung und ohne Inkaufnahme anderer Nachteile erreicht werden könnten, brauche von den Betroffenen nicht hingenommen zu werden (vgl. BVerfGE 125, 1 <22 f.>). 29 6. Der Gesetzgeber änderte daraufhin mit dem hier streitgegenständlichen Jahressteuergesetz 2010 die §§ 36 und 37 KStG durch Einfügung von § 34 Abs. 13f, 13g KStG. 30 a) Die Neuregelung in § 34 KStG hat folgenden Wortlaut: (13f) § 36 ist in allen Fällen, in denen die Endbestände im Sinne des § 36 Absatz 7 noch nicht bestandskräftig festgestellt sind, in der folgenden Fassung anzuwenden: „§ 36 Endbestände (1) Auf den Schluss des letzten Wirtschaftsjahrs, das in dem Veranlagungszeitraum endet, für den das Körperschaftsteuergesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 22. April 1999 (BGBl. I S. 817), das zuletzt durch Artikel 4 des Gesetzes vom 14. Juli 2000 (BGBl. I S. 1034) geändert worden ist, letztmals anzuwenden ist, werden die Endbestände der Teilbeträge des verwendbaren Eigenkapitals ausgehend von den gemäß § 47 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 des Körperschaftsteuergesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 22. April 1999 (BGBl. I S. 817), das zuletzt durch Artikel 4 des Gesetzes vom 14. Juli 2000 (BGBl. I S. 1034) geändert worden ist, festgestellten Teilbeträgen gemäß den nachfolgenden Absätzen ermittelt. (2) Die Teilbeträge sind um die Gewinnausschüttungen, die auf einem den gesellschaftsrechtlichen Vorschriften entsprechenden Gewinnverteilungsbeschluss für ein abgelaufenes Wirtschaftsjahr beruhen, und die in dem in Absatz 1 genannten Wirtschaftsjahr folgenden Wirtschaftsjahr erfolgen, sowie um andere Ausschüttungen und sonstige Leistungen, die in dem in Absatz 1 genannten Wirtschaftsjahr erfolgen, zu verringern. Die Regelungen des Vierten Teils des Körperschaftsteuergesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 22. April 1999 (BGBl. I S. 817), das zuletzt durch Artikel 4 des Gesetzes vom 14. Juli 2000 (BGBl. I S. 1034) geändert worden ist, sind anzuwenden. Der Teilbetrag im Sinne des § 54 Absatz 11 Satz 1 des Körperschaftsteuergesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 22. April 1999 (BGBl. I S. 817), das zuletzt durch Artikel 4 des Gesetzes vom 14. Juli 2000 (BGBl. I S. 1034) geändert worden ist (Teilbetrag, der einer Körperschaftsteuer in Höhe von 45 Prozent unterlegen hat), erhöht sich um die Einkommensteile, die nach § 34 Absatz 12 Satz 2 bis 5 einer Körperschaftsteuer von 45 Prozent unterlegen haben, und der Teilbetrag, der nach dem 31. Dezember 1998 einer Körperschaftsteuer in Höhe von 40 Prozent ungemildert unterlegen hat, erhöht sich um die Beträge, die nach § 34 Absatz 12 Satz 6 bis 8 einer Körperschaftsteuer von 40 Prozent unterlegen haben, jeweils nach Abzug der Körperschaftsteuer, der sie unterlegen haben. (3) (weggefallen) (4) Ist die Summe der unbelasteten Teilbeträge im Sinne des § 30 Absatz 2 Nummer 1 bis 3 in der Fassung des Artikels 4 des Gesetzes vom 14. Juli 2000 (BGBl. I S. 1034) nach Anwendung des Absatzes 2 negativ, sind diese Teilbeträge zunächst untereinander und danach mit den mit Körperschaftsteuer belasteten Teilbeträgen in der Reihenfolge zu verrechnen, in der ihre Belastung zunimmt. (5) Ist die Summe der unbelasteten Teilbeträge im Sinne des § 30 Absatz 2 Nummer 1 bis 3 in der Fassung des Artikels 4 des Gesetzes vom 14. Juli 2000 (BGBl. I S. 1034) nach Anwendung des Absatzes 2 nicht negativ, sind zunächst die Teilbeträge im Sinne des § 30 Absatz 2 Nummer 1 und 3 in der Fassung des Artikels 4 des Gesetzes vom 14. Juli 2000 (BGBl. I S. 1034) zusammenzufassen. Ein sich aus der Zusammenfassung ergebender Negativbetrag ist vorrangig mit einem positiven Teilbetrag im Sinne des § 30 Absatz 2 Nummer 2 in der Fassung des Artikels 4 des Gesetzes vom 14. Juli 2000 (BGBl. I S. 1034) zu verrechnen. Ein negativer Teilbetrag im Sinne des § 30 Absatz 2 Nummer 2 in der Fassung des Artikels 4 des Gesetzes vom 14. Juli 2000 (BGBl. I S. 1034) ist vorrangig mit dem positiven zusammengefassten Teilbetrag im Sinne des Satzes 1 zu verrechnen. (6) Ist einer der belasteten Teilbeträge negativ, sind diese Teilbeträge zunächst untereinander in der Reihenfolge zu verrechnen, in der ihre Belastung zunimmt. Ein sich danach ergebender Negativbetrag mindert vorrangig den nach Anwendung des Absatzes 5 verbleibenden positiven Teilbetrag im Sinne des § 30 Absatz 2 Nummer 2 in der Fassung des Artikels 4 des Gesetzes vom 14. Juli 2000 (BGBl. I S. 1034); ein darüber hinausgehender Negativbetrag mindert den positiven zusammengefassten Teilbetrag nach Absatz 5 Satz 1. (6a) Ein sich nach Anwendung der Absätze 1 bis 6 ergebender positiver Teilbetrag, der einer Körperschaftsteuer von 45 Prozent unterlegen hat, mindert in Höhe von 5/22 seines Bestands einen nach Anwendung der Absätze 1 bis 6 verbleibenden positiven Bestand des Teilbetrags im Sinne des § 30 Absatz 2 Nummer 2 in der Fassung des Artikels 4 des Gesetzes vom 14. Juli 2000 (BGBl. I S. 1034) bis zu dessen Verbrauch. Ein sich nach Anwendung der Absätze 1 bis 6 ergebender positiver Teilbetrag, der einer Körperschaftsteuer von 45 Prozent unterlegen hat, erhöht in Höhe von 27/5 des Minderungsbetrags nach Satz 1 den nach Anwendung der Absätze 1 bis 6 verbleibenden Bestand des Teilbetrags, der nach dem 31. Dezember 1998 einer Körperschaftsteuer von 40 Prozent ungemildert unterlegen hat. Der nach Satz 1 abgezogene Betrag erhöht und der nach Satz 2 hinzugerechnete Betrag vermindert den nach Anwendung der Absätze 1 bis 6 verbleibenden Bestand des Teilbetrags, der einer Körperschaftsteuer von 45 Prozent unterlegen hat. (7) Die Endbestände sind getrennt auszuweisen und werden gesondert festgestellt; dabei sind die verbleibenden unbelasteten Teilbeträge im Sinne des § 30 Absatz 2 Nummer 1 und 3 des Körperschaftsteuergesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 22. April 1999 (BGBl. I S. 817), das zuletzt durch Artikel 4 des Gesetzes vom 14. Juli 2000 (BGBl. I S. 1034) geändert worden ist, in einer Summe auszuweisen.“ (13g) § 37 Absatz 1 ist in den Fällen des Absatzes 13f in der folgenden Fassung anzuwenden: „(1) Auf den Schluss des Wirtschaftsjahrs, das dem in § 36 Absatz 1 genannten Wirtschaftsjahr folgt, wird ein Körperschaftsteuerguthaben ermittelt. Das Körperschaftsteuerguthaben beträgt 15/55 des Endbestands des mit einer Körperschaftsteuer von 45 Prozent belasteten Teilbetrags zuzüglich 1/6 des Endbestands des mit einer Körperschaftsteuer von 40 Prozent belasteten Teilbetrags.“ 31 b) Danach ist der frühere erste Schritt (die Umgliederung von EK 45 in EK 40 durch Absatz 3 der Vorschrift) entfallen. Es findet nunmehr zunächst eine Verrechnung der Eigenkapitalteilbeträge im Sinne des § 30 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 KStG 1999 (EK 01, EK 02 und EK 03) statt. Ist diese Summe negativ, so ist diese gemäß § 36 Abs. 4 KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. des JStG 2010) mit den mit Körperschaftsteuer belasteten Teilbeträgen in der Reihenfolge zu verrechnen, in der ihre Belastung zunimmt. Für den Fall, dass die Summe der Teilbeträge des EK 01, EK 02 und EK 03 positiv ist, darin aber negative Bestandteile enthalten sind, sieht § 36 Abs. 5 KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. des JStG 2010) eine bestimmte Verrechnung untereinander vor. 32 Erst daran schließt sich im nunmehr zweiten Schritt gemäß § 36 Abs. 6a KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. des JStG 2010) die Umgliederung des EK 45 in EK 40 unter gleichzeitiger Verringerung des EK 02 an: Sofern nach der oben genannten Verrechnung des EK 01, EK 02 und EK 03 ein positiver Teilbetrag des EK 02 verblieben ist, wird dieser zunächst um 5/22 eines positiven Bestands an EK 45, jedoch maximal bis auf Null vermindert und das EK 45 entsprechend erhöht. In Höhe von 27/5 des Betrags, um den das EK 02 gemindert worden ist, wird sodann das EK 40 erhöht und das EK 45 vermindert. Die Umgliederung findet also anders als nach § 36 Abs. 3 KStG in der Fassung des Steuersenkungsgesetzes nur statt, wenn und soweit ein positiver EK 02-Bestand vorhanden ist. Dadurch wird vermieden, dass das EK 02 infolge der Umgliederung negativ wird und durch Verrechnung mit belasteten Eigenkapitalanteilen zu einem Verlust an Körperschaftsteuerminderungspotenzial führt. 33 Die jeweils verbleibenden Endbestände an EK 02, zusammengefasstem EK 01 und EK 03 sowie an EK 40 und an EK 45 werden sodann gemäß § 36 Abs. 7 KStG getrennt ausgewiesen und gesondert festgestellt. Gemäß § 37 Abs. 1 KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13g KStG i.d.F. des JStG 2010) ist das Körperschaftsteuerguthaben anhand 15/55 des Endbestands des mit einer Körperschaftsteuer von 45 % belasteten Teilbetrags (EK 45) zuzüglich 1/6 des Endbestands des mit einer Körperschaftsteuer von 40 % belasteten Teilbetrags (EK 40) zu ermitteln. 34 c) Zur Begründung der Neuregelung hat der Finanzausschuss, auf dessen Empfehlung sie zurückgeht (vgl. BTDrucks 17/3449, S. 38 ff.), ausgeführt (BTDrucks 17/3549, S. 26): Das BVerfG beanstandet, dass die Umgliederung des zum Zeitpunkt des Systemwechsels (i. d. R. 31. Dezember 2000) mit 45 Prozent belasteten Eigenkapitals (EK 45) in mit 40 Prozent belastetes Eigenkapital (EK 40) und unbelastetes Eigenkapital (EK 02) für diejenigen Unternehmen zu einem Wegfall von KSt-Minderungspotenzial führen kann, die nur über einen geringen oder keinen Bestand an EK 02 verfügen. Das BVerfG hat den Gesetzgeber daher verpflichtet, bis zum 1. Januar 2011 für alle noch nicht bestandskräftig abgeschlossenen Verfahren eine Neuregelung zu treffen, die den Erhalt des Körperschaftsteuerguthabens gleichheitsgerecht sicherstellt. Die Feststellungen des BVerfG wirken auf den 1. Januar 2001 zurück. Zu Absatz 13f – neu – Nach § 34 Absatz 13f – neu – KStG ist die geänderte Umgliederungsrechnung auf alle noch nicht bestandskräftigen Feststellungen anzuwenden. Durch die Streichung des § 36 Absatz 3 KStG wird auf die beanstandete Umgliederung generell verzichtet. In dem neuen § 36 Absatz 6a wird stattdessen eine einfache Regelung gefunden, die die Forderung des BVerfG vollständig umsetzt und gleichzeitig komplizierte Folgeänderungen (insbesondere Veränderungen des EK 02) vermeidet. Zu Absatz 13g – neu – Durch die geänderte Umgliederung kann es zu einem Endbestand an EK 45 kommen. Durch die Änderung in § 37 Absatz 1 KStG wird dieser Endbestand in die Ermittlung des Körperschaftsteuerguthabens einbezogen. II. 35 1. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens ist ein Kreditinstitut in der Rechtsform einer eingetragenen Genossenschaft. Das Finanzamt stellte die Teilbeträge des vEK im Sinne der §§ 29, 30 KStG 1999 letztmalig nach § 47 Abs. 1 KStG 1999 wie folgt fest: EK 45 = 17.352.950 DM EK 40 = 4.542.871 DM EK 30 = 4.802.717 DM EK 01 = 34.695 DM EK 02 = 893.827 DM EK 03 = 9.852.210 DM EK 04 = 51.071 DM. 36 Die Endbeträge im Sinne des § 36 Abs. 7 KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. des JStG 2010) stellte das Finanzamt mit Bescheid vom 29. März 2011 unter Berücksichtigung von Gewinnausschüttungen für ein früheres Geschäftsjahr in Höhe von 588.078 DM und eines Zugangs beim EK 45 gemäß § 36 Abs. 2 Satz 3 KStG in Höhe von 207.877 DM wie folgt fest: EK 45 = 13.039.911 DM EK 40 = 9.369.536 DM EK 30 = 4.802.717 DM EK 01/03 = 9.886.905 DM EK 02 = 0 DM EK 04 = 51.071 DM. 37 Dem lag folgende Berechnung zugrunde: 38   Vorspalte EK 45 EK 40 EK 30 EK 01/03 EK 02 EK 03 EK 04 Teilbeträge des vEK i.S.d. § 47 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KStG zum 31.12.2000   17.352.950 4.542.871 4.802.717 34.695 893.827 9.852.210 51.071 Gewinnausschüttungen für ein früheres Wj.   ./. 588.078             Zwischensumme   16.764.872 4.542.871 4.802.717 34.695 893.827 9.852.210 51.071 Erhöhung des EK 45 aufgrund von Einkommensteilen i.S.d. § 36 Abs. 2 Satz 3 KStG Einkommensteil mit 45 v.H. KSt 377.958               KSt 45 v.H. ./. 170.081               Zugang zum EK 45 207.877 207.877             Zwischensumme   16.972.749 4.542.871 4.802.717 34.695 893.827 9.852.210 51.071 Zwischensumme nach Zusammenfassung von EK 01 und EK 03   16.972.749 4.542.871 4.802.717 9.886.905 893.827   51.071 Umgliederung EK 02 um 5/22 des EK 45 (§ 36 Abs. 6a KStG)   893.827       ./. 893.827     Umgliederung EK 45 in EK 40 um 27/05 der EK 02-Minderung   ./. 4.826.665 4.826.665           Gesondert festzustellende Endbestände (§ 36 Abs. 7 KStG)   13.039.911 9.369.536 4.802.717 9.886.905 0   51.071 39 Nachrichtlich teilte das Finanzamt das ermittelte Körperschaftsteuerguthaben mit 5.117.930 DM mit. 40 2. Nach erfolglosem Einspruch, mit dem die Klägerin begehrte, das Körperschaftsteuerguthaben um weitere 137.102 Euro (268.147 DM) zu erhöhen, verfolgt die Klägerin ihr Änderungsbegehren im Klagewege weiter. Sie beantragt, die gesonderte Feststellung der Endbestände gemäß § 36 Abs. 7 KStG vom 29. März 2011 in Gestalt der Einspruchsentscheidung dahingehend zu ändern, dass das EK 45 in Höhe von 16.972.749 DM, das EK 40 in Höhe von 4.542.864 DM und das EK 02 mit 893.827 DM festgestellt werden und die übrigen Teilbeträge des verwendbaren Eigenkapitals unverändert bleiben. 41 Die Klägerin ist der Auffassung, auch die durch § 34 Abs. 13f KStG (i.d.F. des JStG 2010) erfolgte Neuregelung des § 36 KStG führe zu einem nicht gerechtfertigten teilweisen Untergang des Körperschaftsteuerminderungspotenzials durch die Verrechnung von positivem EK 45 und positivem EK 02 sowie eine weitergehende „Herabstufung“ von EK 45 in EK 40. Vor dem neu durch § 36 Abs. 6a KStG eingefügten Umgliederungsschritt seien im EK 45 Körperschaftsteuerminderungspotenzial in Höhe von 4.628.932 DM (= 15/55 von 16.972.749 DM) und im EK 40 in Höhe von 757.145 DM (= 10/60 von 4.542.871 DM), insgesamt somit 5.386.077 DM vorhanden gewesen. Das EK 02 habe eine potentielle Nachsteuer von 268.148 DM (30/100 von 893.827 DM) beinhaltet. Durch die Umgliederung nach § 36 Abs. 6a KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. des JStG 2010) vermindere sich das Körperschaftsteuerminderungspotenzial auf 5.117.930 DM (= 15/55 des EK 45 von 13.039.911 DM zuzüglich 10/60 des EK 40 von 9.369.536 DM), das heißt um 268.147 DM; die potentiell enthaltene Nachsteuerbelastung in Höhe von 268.148 DM entfalle korrespondierend. 42 Durch den Wegfall des Körperschaftsteuerminderungspotenzials infolge der Anwendung des § 36 Abs. 6a KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. des JStG 2010) werde Art. 3 Abs. 1 GG verletzt. Für den Verlust des Körperschaftsteuerminderungspotenzials fehle es an einem zwingenden sachlichen Grund. Das nahe liegende und grundsätzlich verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende Interesse des Gesetzgebers, einen schnellen Übergang zu gewährleisten, könne nicht den Verlust des Körperschaftsteuerminderungspotenzials rechtfertigen. Die legitimen gesetzgeberischen Ziele seien auch durch eine schonendere Regelung erreichbar. Ein Verzicht auf die Umgliederung sei eine denkbare Alternative gewesen, um den Verlust des Körperschaftsteuerminderungspotenzials zu vermeiden. So könne das Körperschaftsteuerguthaben auch unmittelbar aus den zum Stichtag vorhandenen Teilbeträgen ermittelt werden. Ebenso sei es denkbar, auf § 36 Abs. 6a KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. des JStG 2010) schlicht zu verzichten. Es sei nicht erkennbar, welche komplizierten Folgeänderungen der Gesetzgeber beim EK 02 durch die Regelung habe vermeiden wollen. III. 43 Mit Beschluss vom 16. September 2014 hat das Finanzgericht Münster das Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob der durch § 34 Abs. 13f KStG (i.d.F. des JStG 2010) eingefügte § 36 Abs. 6a KStG mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar ist. 44 1. Der vorlegende Senat ist der Überzeugung, dass dies der Fall ist. 45 a) Der in § 34 Abs. 13f KStG (i.d.F. des JStG 2010) enthaltene § 36 Abs. 6a KStG durchbreche das aus Art. 3 Abs. 1 GG abzuleitende Gebot einer folgerichtigen Ausrichtung der Abgabenbelastung an der finanziellen Leistungsfähigkeit. Sie unterwerfe gleich ertragsstarke Unternehmen einer ungleichmäßigen steuerlichen Belastung. 46 Zwar entspreche die Saldierung des im EK 45 enthaltenen Steuerminderungspotenzials mit dem im EK 02 enthaltenen 30 %-igen Steuererhöhungspotenzial der gedanklichen Annahme einer Vollausschüttung, die der Gesetzgeber als Leitlinie für die Ausgestaltung der Übergangsregelungen habe zugrunde legen dürfen. Einer derartigen Saldierung habe auch nicht der Umstand entgegengestanden, dass sich die Körperschaftsteuererhöhung nach § 38 KStG (i.d.F. des StSenkG) zunächst durch eine entsprechende Ausschüttungspolitik habe vermeiden lassen und der Gesetzgeber später zwar eine zwangsweise – wenngleich mit 3 % statt 30 % deutlich niedrigere – Versteuerung des zum 31. Dezember 2006 noch vorhandenen EK 02 vorgesehen habe (§ 38 Abs. 4 ff. KStG i.d.F. des JStG 2008). Denn zu einer möglichst weitgehenden Verrechnung des EK 02 sei er im Interesse eines einfachen Gesetzesvollzugs (v.a. durch Vermeidung der sonst erforderlichen Fortschreibung) berechtigt gewesen. 47 Entscheidende Bedeutung messe der erkennende Senat jedoch dem Umstand bei, dass bei einem Körperschaftsteuerminderungspotenzial, welches allein durch EK 40 vermittelt werde, keine Saldierung mit dem Körperschaftsteuererhöhungspotenzial von vorhandenem EK 02 erfolge. Vielmehr gehe dieses im EK 40 enthaltene Körperschaftsteuerminderungspotenzial – zunächst ausschüttungsabhängig und nach dem Gesetz über steuerliche Begleitmaßnahmen zur Einführung der Europäischen Gesellschaft und zur Änderung weiterer steuerrechtlicher Vorschriften von 2008 bis 2017 ausschüttungsunabhängig – ungeschmälert in das Körperschaftsteuerguthaben ein. Körperschaften, die allein oder vorrangig über EK 40 verfügten, habe es somit freigestanden, die 30 %-ige Nachbelastung des EK 02 durch eine entsprechende Ausschüttungspolitik zu vermeiden. Auch nach Einführung der ausschüttungsunabhängigen Körperschaftsteuererhöhung durch § 38 Abs. 4 ff. KStG (i.d.F. des JStG 2008) sei dieser Vorteil nicht beseitigt worden, weil danach zwar ein zum 31. Dezember 2006 noch vorhandener Bestand an EK 02 mit einer Steuerbelastung von 3 % belegt worden, dies jedoch steuerlich deutlich günstiger sei als die sofortige Saldierung des im EK 45 enthaltenen Körperschaftsteuerminderungspotenzials mit dem ursprünglich im EK 02 enthaltenen 30 %-igen Körperschaftsteuererhöhungspotenzial. 48 Unterschiede zwischen dem EK 45 und dem EK 40, aufgrund derer es an ihrer wesentlichen Vergleichbarkeit fehlen würde, seien nicht erkennbar. Ausgehend von dem Gedanken einer fiktiven Vollausschüttung liege es vielmehr nahe, sowohl das EK 45 als auch das EK 40 mit EK 02 zu verrechnen. Denn beide würden im gedachten Fall einer Vollausschüttung die Körperschaftsteuererhöhung aufgrund des EK 02 kompensieren können. Entschließe sich der Gesetzgeber aber zugunsten der Steuerpflichtigen – abweichend von den Folgen einer gedanklichen Vollausschüttung –, das Körperschaftsteuererhöhungspotenzial des EK 02 nicht sofort mit dem Körperschaftsteuerminderungspotenzial der belasteten Teilbeträge des vEK zu verrechnen, erscheine es nur konsequent, Steuerpflichtige mit EK 45 und solche mit EK 40 gleich zu behandeln. 49 b) Auch unter Berücksichtigung des bei der Umgestaltung komplexer Regelungssysteme grundsätzlich bestehenden weiten Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers lasse sich die dargestellte Ungleichbehandlung von EK 45 und EK 40 nicht rechtfertigen. § 36 Abs. 6a KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. des JStG 2010) sei eine rein technische Regelung. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die aus ihr resultierenden belastenden Effekte sich vermeiden ließen und der Regelung kein eigenständiges materielles Regelungsziel zukomme, könne es keine Rechtfertigung geben. 50 aa) Es sei zwar offenkundig, dass der Gesetzgeber nicht aus verfassungsrechtlichen Gründen gehindert gewesen sei, vom Anrechnungsverfahren zum Halbeinkünfteverfahren zu wechseln und verfahrensüberleitende Bestimmungen zu erlassen. Mit dieser pauschalen Erwägung könne die konkrete Ungleichbehandlung durch § 36 KStG in der Fassung des § 34 Abs. 13f KStG (i.d.F. des JStG 2010) jedoch nicht gerechtfertigt werden, weil es dieser – zur Ungleichbehandlung führenden – Regelung zwecks Übergangs auf das Halbeinkünfteverfahren nicht bedurft hätte. Wie das Bundesverfassungsgericht in BVerfGE 125, 1 (dort unter B.I.4.a) und B.II.) durch die Darstellung zweier Alternativkonzepte dargelegt habe, seien (mindestens) zwei Überleitungsmöglichkeiten denkbar, die zu keiner vergleichbaren Ungleichbehandlung führen würden. 51 bb) Die Regelung des in § 34 Abs. 13f KStG (i.d.F. des JStG 2010) enthaltenen § 36 Abs. 6a KStG könne nicht mit der Erwägung gerechtfertigt werden, der Gesetzgeber habe zulässigerweise das Ziel verfolgen dürfen, die Körperschaftsteuererhöhung auf 30 % bei Ausschüttung des EK 02 für einen Übergangszeitraum von 15 Jahren zu erhalten (unter Hinweis auf BTDrucks 14/2683, S. 121). Denn eine derartige Zielsetzung vermöge keine Ungleichbehandlung des EK 45 und des EK 40 zu erklären. Im Übrigen vermöge die Neuregelung diesen Zweck ersichtlich nicht zu gewährleisten, da in den Fällen eines fehlenden EK 45 die Körperschaftsteuererhöhung durch die Ausschüttungspolitik habe vermieden werden können. 52 cc) Es sei nicht erkennbar, dass der Gesetzgeber aufgrund besonderer gesetzgeberischer Gestaltungserwägungen von den vom Bundesverfassungsgericht vorgeschlagenen Alternativlösungen abgewichen sei und allein deswegen das EK 02 nur bei einem positiven Bestand von EK 45 umgliedere. Insbesondere sei nicht ersichtlich, welche Fallgruppen der Gesetzgeber mit den in der Gesetzesbegründung angesprochenen, sonst drohenden „komplizierten Folgeänderungen“ gemeint habe. Die bloße Fortführung eines EK 02 sei mit keinen besonderen Schwierigkeiten verbunden. Zwar bedürfe es in den Fällen, in denen aufgrund der früheren Umgliederung kein positives EK 02 verblieben sei und in denen es ohne Anwendung des § 36 Abs. 6a KStG nunmehr im Rahmen der Feststellung nach § 36 Abs. 7 KStG zu einem positiven EK 02 gekommen sei, einer Überprüfung, ob in den Jahren bis 2006 eine Ausschüttung aus diesem EK 02 erfolgt sei, die zu einer Körperschaftsteuererhöhung führen würde. Die für diese Prüfung erforderlichen Daten ergäben sich aber bereits aus den Akten der Finanzämter; für weitere Sachverhaltsermittlungen dürfte in der Regel keine Notwendigkeit bestehen. 53 Die neue Verrechnungssystematik könne auch nicht mit dem (der Altregelung des § 36 Abs. 3 KStG i.d.F. des StSenkG zugrunde liegenden) Zweck der Überführung des im EK 45 enthaltenen Körperschaftsteuerminderungspotenzials in das des EK 40 gerechtfertigt werden. Denn wie sich aus den Gesetzesmaterialien für das Jahressteuergesetz 2010 ergebe, habe der Gesetzgeber einen „Perspektivwechsel“ vollzogen. Es sei ihm nunmehr vorrangig um die Vernichtung des positiven EK 02 gegangen. Der Tatbestand des § 36 Abs. 6a KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. des JStG 2010) sei auch erkennbar unzureichend, um das EK 45 in allen oder auch nur in der ganz überwiegenden Anzahl der Fälle zu beseitigen. Eine vollständige Umgliederung des EK 45 sei allein in den Fällen denkbar, in denen der positive Bestand des EK 02 im Verhältnis zum EK 45 ausreichend hoch sei, um den Minderungsbetrag von 5/22 weitgehend ausnutzen und dementsprechend einen möglichst großen Erhöhungsbetrag des EK 40 ermitteln zu können. Gerade dann werde indes der gesetzgeberische Wille verfehlt, zukünftige Folgeänderungen bei dem EK 02 zu vermeiden, da auch nach der Umgliederung ein Restbestand an EK 02 verbleibe. 54 dd) Weiter könne auch die gesetzgeberische Typisierungs- und Pauschalierungsbefugnis nicht zur Rechtfertigung herangezogen werden. Praktikabilitätszwecke seien nicht ersichtlich. Eine (teilweise) Verrechnung auch des EK 40 mit dem EK 02 hätte die Rechtsanwendung nicht erkennbar erschwert. Ebenso wenig lasse sich der Regelung des § 36 Abs. 6a KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. JStG 2010) entnehmen, dass sich der Gesetzgeber realitätsgerecht an einem typischen Fall orientiert habe. Er habe insbesondere nicht davon ausgehen dürfen, dass sämtliche Steuerpflichtigen typischerweise über einen ausreichend hohen Bestand an EK 45 verfügten, so dass eine Umgliederung des EK 02 unter Zuhilfenahme des EK 40 entbehrlich sei. 55 ee) Schließlich lasse sich die ungleiche Ausgestaltung der Übergangsregelung auch nicht durch rein fiskalische Erwägungen rechtfertigen, weil ungleiche Belastungen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 116, 164) nicht schon allein mit dem Finanzbedarf des Staates oder einer knappen Haushaltslage gerechtfertigt werden könnten. 56 c) Der vorlegende Senat übersehe nicht, dass Rechtsprechung (vgl. BFHE 234, 385; Urteile des FG München vom 13. November 2012 - 6 K 676/12 -, juris, und des FG Baden-Württemberg vom 4. Juni 2014 - 6 K 1380/12 -, juris) und Schrifttum (vgl. Bott, in: Ernst & Young, KStG, § 36 Rn. 198; Dötsch, in: Dötsch/Pung/Möhlenbrock, § 36 KStG Rn. 48a; Gosch, BFH/PR 2012, S. 54 <55>) den durch § 34 Abs. 13f KStG (i.d.F. des JStG 2010) in das Gesetz eingefügten § 36 KStG überwiegend für verfassungskonform hielten. Diese Stellungnahmen führten aber für die Vorlage nicht weiter, weil sie sich der Neuregelung allein von ihrem Anlass her – dem Beschluss in BVerfGE 125, 1 – näherten und – insoweit zu Recht – feststellten, dass die dort gerügte Ungleichbehandlung der Vorgängerregelung durch die Einführung der für alle nicht bestandskräftig gewordenen Fälle anzuwendenden Neufassung des § 36 KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. des JStG 2010) nicht mehr bestehe. Der für die Vorlage maßgebliche Fall einer originären Ungleichbehandlung durch die Neureglung werde regelmäßig nicht untersucht. 57 Demgegenüber sei die Verrechnung originär negativer Teilbeträge des EK 02 mit belasteten Teilbeträgen gemäß § 36 Abs. 4 KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. des JStG 2010) in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung grundsätzlich als zulässig anzusehen. Die Verrechnung des originär negativen EK 02 erfolge danach aber nicht nur mit dem EK 45, sondern ebenso (sogar vorrangig) mit dem EK 40. Gerade diese erforderliche Gleichbehandlung des EK 40 und des EK 45 lasse § 36 Abs. 6a KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. des JStG 2010) vermissen. 58 d) Eine verfassungskonforme Auslegung des § 36 Abs. 6a KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. des JStG 2010) sei angesichts des eindeutigen Wortlauts und Sinns der Vorschrift, die technisch formulierte Rechenschritte vorsehe, nicht möglich. 59 Auch scheide die Verfassungswidrigkeit des § 36 Abs. 6a KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. des JStG 2010) nicht wegen der Möglichkeit einer Billigkeitsregelung nach § 163 AO aus. Denn Härten, die eine Norm üblicherweise mit sich bringe, könnten keine Billigkeitsmaßnahme rechtfertigen. Da die verfassungsrechtlichen Bedenken im Streitfall auf einer grundlegenden gesetzgeberischen Entscheidung der Ungleichbehandlung von EK 40 und EK 45 beruhten, sei eine Billigkeitsmaßnahme danach nicht möglich. 60 2. Die Frage der Verfassungskonformität des in § 34 Abs. 13f KStG (i.d.F. des JStG 2010) enthaltenen § 36 Abs. 6a KStG sei im konkreten Fall entscheidungserheblich. Das beklagte Finanzamt habe die einfachgesetzlichen Vorgaben zutreffend auf den Streitfall angewandt. Danach müsse die Klage abgewiesen werden. Sollte der in § 34 Abs. 13f KStG (i.d.F. des JStG 2010) enthaltene § 36 Abs. 6a KStG hingegen verfassungswidrig sein, müsste der Klage im Falle der Nichtigkeit der Regelung stattgegeben oder andernfalls (im Falle der Unvereinbarkeit) das Verfahren bis zu einer Neuregelung gemäß § 74 FGO ausgesetzt werden. Auch Letzteres wäre eine andere Entscheidung als im Falle der Verfassungskonformität der streitentscheidenden Norm. IV. 61 Der Vorlagebeschluss ist dem Deutschen Bundestag, dem Bundesrat, dem Bundeskanzleramt, dem Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, dem Bundesministerium der Finanzen und sämtlichen Landesregierungen sowie den Beteiligten des Ausgangsverfahrens mit der Gelegenheit zur Stellungnahme zugestellt worden. Ferner hatten die Bundessteuerberaterkammer, der Deutsche Steuerberaterverband e.V., die Bundesrechtsanwaltskammer, der Deutsche Anwaltverein, das Institut der Wirtschaftsprüfer in Deutschland e.V., der Bundesverband der Deutschen Industrie e.V., der Bund der Steuerzahler Deutschland e.V. sowie der Präsident des Bundesfinanzhofs Gelegenheit zur Stellungnahme. Geäußert haben sich das Bundesministerium der Finanzen (im Namen der Bundesregierung), die Bundessteuerberaterkammer, der Bund der Steuerzahler Deutschland e.V., der Bundesfinanzhof sowie die Klägerin des Ausgangsverfahrens. 62 1. a) Das Bundesministerium der Finanzen weist darauf hin, dass § 36 KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. des JStG 2010) nach Auffassung des Bundesfinanzhofs (BFHE 234, 385) den Vorgaben in BVerfGE 125, 1 in ausreichendem Maße Rechnung getragen habe und die Vorschrift auch von den Finanzgerichten (FG Baden-Württemberg, Urteil vom 4. Juni 2014 - 6 K 1380/12 -, juris; FG München, Urteil vom 13. November 2012 - 6 K 676/12 -, juris) für verfassungskonform gehalten werde. Selbst nach der streitgegenständlichen Vorlage sei die Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift in der Finanzgerichtsbarkeit (BFHE 249, 460; FG Köln, Urteil vom 3. Dezember 2014 - 13 K 2004/11 -, juris; FG Düsseldorf, Urteil vom 30. September 2014 - 6 K 3102/12 F -, juris) bejaht worden. 63 b) Aus der Sicht der Bundesregierung bestünden Zweifel daran, ob die Vorlage zulässig sei. Die Begründung der Vorlage setze sich (auch im Nachgang) nicht hinreichend mit den genannten Entscheidungen anderer Finanzgerichte auseinander. Ebenso fehle eine Auseinandersetzung mit dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei Übergangsnormen. 64 Der Vortrag der Klägerin behandele steuerrechtliche Details; der Vorlagebeschluss gehe nicht darauf ein, ob solche Details wirklich eine Verletzung spezifischen Verfassungsrechts darstellen könnten. Außerdem gehe es der Klägerin im Kern darum, durch eine steueroptimierte Ausschüttungspolitik möglichst viele Steuern zu sparen. Es sei fraglich, ob das Grundgesetz einen umfassenden verfassungsrechtlichen Schutz für jedes einzelne steueroptimierende Vorhaben einer Körperschaft vorsehe. Der vorlegende Senat verabsolutiere das Erfordernis einer unbedingten Gleichbehandlung von EK 40 und EK 45 in allen Einzelfällen, ohne dieses ausreichend zu begründen. 65 c) Jedenfalls seien die Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts in dem Beschluss in BVerfGE 125, 1 durch § 36 Abs. 6a KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. des JStG 2010) erfüllt; die Norm verstoße auch nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG. 66 aa) Eine grundrechtlich relevante Ungleichbehandlung liege nicht vor. Aus der Sicht der Bundesregierung seien EK 45 und EK 40 getrennt zu betrachten. Der Gesetzgeber habe bei dem Systemwechsel das Ziel verfolgt, die EK-Konten auf den absolut erforderlichen Umfang zu reduzieren und daher nur das EK 40, anhand dessen das Körperschaftsteuerguthaben ermittelt werde (§ 37 Abs. 1 KStG), das EK 02, dessen Ausschüttung zu einer Erhöhung der Körperschaftsteuer führe (§ 38 KStG), und ein steuerliches Einlagekonto (ehemals EK 04, § 27 KStG) zu erhalten. Bei dem EK 45 habe es sich lediglich um einen „Restanten“ gehandelt, der durch die Umgliederung habe eliminiert werden sollen. Die Verrechnung mit dem EK 02 habe aus Vereinfachungsgründen der weitgehenden Eliminierung des EK 02 gedient. Eine Verrechnung des EK 40 mit dem EK 02 hätte diesem Konzept des Gesetzgebers widersprochen. Es sei danach nicht erkennbar, warum EK 45 und EK 40 von Verfassungs wegen in allen Einzelheiten vollkommen gleichbehandelt werden müssten. Zudem erwachse aus einer Steuervergünstigung für eine Gruppe nach Art. 3 Abs. 1 GG kein Anspruch einer anderen Gruppe auf eine wirtschaftlich vergleichbare Entlastung. 67 Selbst wenn von einer Vergleichbarkeit von EK 45 und EK 40 auszugehen wäre, läge keine verfassungsrechtlich relevante Ungleichbehandlung vor. Der Klägerin gehe es letztlich darum, dass ihre ursprünglichen Pläne zur Steuergestaltung nicht mehr aufgingen. Dies sei jedoch eine Folge ihrer individuellen Situation. 68 bb) Zudem sei nach der Auffassung der Bundesregierung eine etwaige Ungleichbehandlung gerechtfertigt. 69 (1) Prüfungsmaßstab sei allein das Willkürverbot. Gründe für eine Verhältnismäßigkeitsprüfung lägen nicht vor. Die betroffenen Körperschaften, auch solche, deren Körperschaftsteuerminderungspotenzial vorwiegend aus EK 45 vermittelt werde, würden in ihrer Geschäftsausübung nicht wesentlich behindert. Die zusätzliche Steuerbelastung durch die Saldierung mit EK 02 sei typischerweise nicht hoch und hätte von den betroffenen Körperschaften außerdem durch eine entsprechende Ausschüttungspolitik vermieden werden können. 70 (2) Die angegriffene Übergangsnorm sei nicht willkürlich. 71 (a) Der übergeordnete Gedanke bei der durch BVerfGE 125, 1 angestoßenen Überarbeitung des Übergangsrechts sei gewesen, das ursprüngliche System, für das sich der Gesetzgeber im Jahr 2000 entschieden habe, unter Berücksichtigung der verwaltungsseitigen Umsetzung beizubehalten. Eine „komplette Neuregelung“ der Ermittlung des Körperschaftsteuerguthabens sei innerhalb der vom Bundesverfassungsgericht gesetzten Frist „bis zum 1. Januar 2011“ praktisch nicht möglich gewesen. Zwei gewichtige Argumente hätten gegen eine Änderung aller Veranlagungen gesprochen: Zum einen habe die Änderung der Veranlagungen auf bestehende Verfahrensregeln gestützt werden sollen, weil neue Regelungen gegebenenfalls fehleranfällig gewesen wären. Zum anderen hätten in der Zeit seit der Feststellung der Endbestände erfolgte Umstrukturierungen klar nachvollzogen werden sollen. In Anbetracht der Tatsache, dass eine Übergangsregelung innerhalb des vorgegebenen Zeitraums auch umsetzbar sein müsse, seien schon diese beiden Argumente ein tragfähiger Grund zur Rechtfertigung der angegriffenen Regelung. 72 (b) Darüber hinaus lägen weitere sachliche Gründe für die Differenzierung zwischen EK 40 und EK 45 vor: 73 Erstens stelle die Möglichkeit, dass eine Körperschaft mit einem vorrangigen EK 45 im Einzelfall eine Ausschüttung nicht rechtzeitig, beispielsweise aufgrund von fehlendem Eigenkapital, habe vornehmen können, keine Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG dar. Die konkreten Auswirkungen einer Übergangsregelung hingen stets von den individuellen Rahmendaten (wie beispielsweise der Kapitalausstattung) der betroffenen Unternehmen ab. Der Gesetzgeber sei nicht verpflichtet, Unternehmen ohne ein für Ausschüttungen ausreichendes Eigenkapital und Unternehmen mit ausreichender Eigenkapitalausstattung gleich zu behandeln. Wie bereits der Bundesfinanzhof entschieden habe, biete der Umfang der Kapitalausstattung vielmehr einen ausreichenden Grund dafür, dass für Unternehmen mit einem und solche ohne ein für Ausschüttungen ausreichendes Eigenkapital jeweils unterschiedliche steuerrechtliche Folgen einträten. 74 Zweitens habe der Gesetzgeber eine möglichst verwaltungsschonende Umsetzung angestrebt, die komplizierte Folgeänderungen habe vermeiden wollen. Wäre er einem der beiden Vorschläge des Bundesverfassungsgerichts gefolgt, hätte sich in vielen Fällen ein höheres verbleibendes positives EK 02 ergeben. Dies hätte zusätzliche Änderungen der Feststellungen und Fortschreibungen nach § 38 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 KStG sowie der Körperschaftsteuerbescheide zur Folge gehabt. Ziel sei es jedoch gewesen, die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts möglichst verwaltungsschonend, das heißt weitestgehend im bisherigen System, umzusetzen. Dabei wolle der Gesetzgeber nicht unterstellen, dass seine Lösung eine „bessere“ Lösung sei. Es gehe lediglich darum, dass hinter § 36 Abs. 6a KStG eine sachliche und willkürfreie Idee stehe, die gleichzeitig den Anforderungen aus BVerfGE 125, 1 genüge. 75 Drittens führe die Verrechnung von Körperschaftsteuererhöhungspotenzial im EK 02 mit dem Körperschaftsteuerminderungspotenzial im EK 45 bei Erhaltung des EK 40 als Zielgröße für das Körperschaftsteuerguthaben aufgrund des Wegfalls des EK 02 zu der vom Gesetzgeber beabsichtigten Vereinfachung. Bei der Umsetzung dieses Ziels habe er einen weiten Ermessensspielraum. Er dürfe sich grundsätzlich am Regelfall orientieren und sei nicht gehalten, allen Besonderheiten jeweils durch Sonderregelungen Rechnung zu tragen. 76 Viertens habe die Auffassung des vorlegenden Senats eine unsachgerechte Erschwerung von steuerlichen Reformen zur Folge. Wenn der Gesetzgeber bei einem grundlegenden Systemwechsel ein Besteuerungsverfahren durch ein anderes ablöse, benötige er eine gewisse Planungssicherheit für den komplexen Übergangszeitraum. Dies beziehe sich auch auf steuerliche Detailregelungen wie den angegriffenen § 36 Abs. 6a KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. des JStG 2010). Einen solchen Planungsspielraum habe das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber immer zugebilligt. Ohne eine derartige Planungssicherheit bestehe die Gefahr, dass er wegen des drohenden unkalkulierbaren finanziellen Risikos vor wünschenswerten Steuerreformen in Bezug auf Wirtschaftsunternehmen zurückschrecke, da ein solches damit einhergehendes Risiko nicht vertretbar wäre. 77 Darüber hinaus entfiele im Ergebnis der grundsätzlich weite Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Umgestaltung komplexer Regelungssysteme, wenn man sich der Meinung des vorlegenden Senats anschlösse. Dieser betrachte die angegriffene Übergangsnorm als „rein technische Regelung“. Übergangsnormen seien aber immer technisch. Sie sollten ein System in ein anderes überleiten und hätten im Grundsatz kein genuin eigenes Ziel. Sehe man mit dem vorlegenden Senat nur noch eine einzige spezielle Detailregelung eines Übergangs als verfassungsgemäß und alle anderen als verfassungswidrig an, gebe es weder einen weiten noch einen engen, sondern gar keinen Spielraum für den Gesetzgeber mehr. Bedenke man, wie komplex Übergänge im Steuerrecht seien und welche vielfältigen und sich auch widersprechenden Belange für die Gestaltung des Übergangszeitraums zu berücksichtigen seien, werde deutlich, dass die Auffassung des vorlegenden Senats nicht sachgerecht sei. Auch der Bundesfinanzhof habe die Gefahr gesehen, dass im Falle einer weitergehenden Änderung des § 36 KStG weitere Differenzierungen notwendig sein könnten, die die durch die Reform angestrebte Vereinfachung insgesamt infrage stellten. 78 d) Auch unter Vertrauensschutzgesichtspunkten sei § 36 Abs. 6a KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. des JStG 2010) nicht zu beanstanden. Die Zwangsverrechnung von Körperschaftsteuererhöhungspotenzial mit Körperschaftsteuerminderungspotenzial verletze kein schutzwürdiges Vertrauen. Schon zuvor sei das EK 02 um 5/22 des EK 45 gemindert worden, damals sei zudem keine Beschränkung auf den positiven Bestand des EK 02 erfolgt. Vor und nach der Umgliederung komme es zu demselben Minderungs-/Erhöhungsbetrag. Bei dieser Gesamtschau sei der Steuerpflichtige nicht belastet. Bei einer fiktiven Vollausschüttung des vEK könne und dürfe das EK 02 nicht unberücksichtigt bleiben. Ein positiver Endbestand des EK 02 stelle aufgrund des darin weiterhin enthaltenen latenten Körperschaftsteuererhöhungspotenzials keine schutzwürdige, vom Gesetzgeber zu erhaltende Rechtsposition des Steuerpflichtigen dar. 79 e) Auf die Frage des Senats hin, welche Fallgruppen von den – ausweislich der Gesetzesbegründung zu vermeidenden – „komplizierten Folgeänderungen“ erfasst gewesen wären, hat das Bundesministerium der Finanzen mitgeteilt, aus den vorliegenden Unterlagen seien keine expliziten, weitergehenden Aussagen ersichtlich. Komplizierte Folgeänderungen seien wohl im Sinne umfangreicher Folgeänderungen zu verstehen, nicht allein im Sinne technisch nicht möglicher Anpassungen. Angesichts der Vielzahl der Fallgestaltungen im Bereich der Unternehmensbesteuerung könne jedenfalls davon ausgegangen werden, dass bei einer positiven Entscheidung in dem hier vorliegenden Fall neue Nachteile für andere Unternehmen entstünden. Eine gesetzliche Regelung in derart gestaltungsintensiven Bereichen des Steuerrechts könne nie jeden Einzelfall optimal regeln. 80 2. Die Bundessteuerberaterkammer teilt die Auffassung des vorlegenden Gerichts, dass § 36 Abs. 6a KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. des JStG 2010) verfassungswidrig sei. Es liege eine Ungleichbehandlung von EK 45 und EK 40 vor, weil bei letzterem keine Saldierung mit EK 02 erfolge. Dafür sei kein sachlicher Grund ersichtlich. Beide Eigenkapitalbestandteile unterschieden sich lediglich hinsichtlich der Höhe und des Zeitpunkts ihrer steuerlichen Vorbelastung. Die von der Finanzverwaltung angeführte Entlastung des Steuerpflichtigen durch die umgliederungsbedingte Minderung des EK 02 erkläre nicht, warum Steuerpflichtige mit EK 45 und solche mit EK 40 ungleich behandelt würden. Ob eine im Vergleich zur Vorgängerregelung günstigere Situation vorliege, sei nicht maßgeblich. An einem sachlichen Grund fehle es im Anschluss an den Beschluss in BVerfGE 125, 1 schon deshalb, weil eine schonendere Ausgestaltung der Übergangsregelung möglich gewesen sei, die die ungleiche Belastung vermeide. 81 3. Auch der Bund der Steuerzahler Deutschland e.V. schließt sich der Auffassung des Finanzgerichts Münster an, dass die Umgliederungsvorschrift des § 36 Abs. 6a KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. des JStG 2010) und die Zwangsverrechnung ausschließlich des EK 45 gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG verstießen. Körperschaften, bei denen lediglich ein EK 40 vorliege, würden bevorzugt behandelt. Dafür gebe es keinen sachlichen Grund. Denn zwei gleich ertragsstarke Unternehmen würden steuerlich unterschiedlich behandelt, allein weil sie ihre Gewinne zu unterschiedlichen Zeitpunkten und damit zu anderen Körperschaftsteuertarifen erzielt hätten. 82 4. Der Präsident des Bundesfinanzhofs hat eine Mitteilung des I. Senats des Bundesfinanzhofs übersandt, wonach dieser das bei ihm anhängige Verfahren I R 59/14, in dem es ebenfalls um die Regelung des § 36 Abs. 6a KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. des JStG 2010) gehe, gemäß § 74 FGO bis zur Entscheidung durch das Bundesverfassungsgericht über die streitgegenständliche Normenkontrollvorlage ausgesetzt habe. 83 5. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens hat auf ihre Schriftsätze im Finanzgerichtsverfahren sowie die verfassungsrechtliche Beurteilung des Finanzgerichts verwiesen. Zusammenfassend sei festzustellen, dass es der einschränkenden Neuregelung des § 36 Abs. 6a KStG an einer verfassungsrechtlich ausreichenden Rechtfertigung fehle. Zudem bleibe fraglich, warum durch das Jahressteuergesetz 2008 eine ausschüttungsunabhängige Besteuerung des EK 02 in Höhe von 3 % eingeführt worden sei, während anschließend mit dem Jahressteuergesetz 2010 durch die Verrechnung von EK 45 mit EK 02 eine automatische Steuerbelastung von 30 % geregelt worden sei. 84 6. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben dem Senat vorgelegen. B. 85 Die Vorlage ist zulässig. 86 Der Vorlagebeschluss wird den sich aus Art. 100 Abs. 1 GG und § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG ergebenden Anforderungen gerecht. Das vorlegende Finanzgericht hat den Regelungsinhalt sowie die Entscheidungserheblichkeit von § 36 Abs. 6a KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. des JStG 2010) dargelegt und seine Auffassung von der Verfassungswidrigkeit der Norm in Auseinandersetzung mit der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung nachvollziehbar begründet. 87 Der Zulässigkeit der Vorlage steht, anders als das Bundesministerium der Finanzen meint, eine unzureichende Auseinandersetzung mit den Entscheidungen anderer Finanzgerichte nicht entgegen. Die Urteile des Bundesfinanzhofs in BFHE 234, 385, und BFHE 249, 460 (aufgehoben durch Beschluss des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 24. November 2022 - 2 BvR 1424/15 -) sowie des Finanzgerichts Baden-Württemberg vom 4. Juni 2014 (- 6 K 1380/12 -, juris) und des Finanzgerichts Köln vom 3. Dezember 2014 (- 13 K 2004/11 -, nicht rechtskräftig, Revisionsverfahren I R 7/15 vor dem Bundesfinanzhof nach § 74 FGO ausgesetzt) betrafen vorrangig § 36 Abs. 4 KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. des JStG 2010) und nicht den hier streitgegenständlichen Absatz 6a. Das vom Bundesministerium ferner angeführte Urteil des Finanzgerichts Düsseldorf vom 30. September 2014 (- 6 K 3102/12 F -, juris, nicht rechtskräftig, Revisionsverfahren I R 59/14 vor dem Bundesfinanzhof nach § 74 FGO ausgesetzt) sieht zwar § 36 Abs. 6a KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. des JStG 2010) als verfassungsgemäß an, befasst sich aber mit der von dem vorlegenden Finanzgericht beanstandeten Ungleichbehandlung von EK 45 und EK 40 nicht. Deren verfassungsrechtliche Relevanz wird von dem vorlegenden Finanzgericht nachvollziehbar dargelegt, wobei es auch einen weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Umgestaltung komplexer Regelungsbereiche ausdrücklich in seine Betrachtung einbezieht. C. 88 § 36 Abs. 6a KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. des JStG 2010) verstößt gegen Art. 14 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG. I. 89 Der Eigentumsgarantie (Art. 14 Abs. 1 GG) kommt im Gesamtgefüge der Grundrechte die Aufgabe zu, dem Träger des Grundrechts einen Freiheitsraum im vermögensrechtlichen Bereich zu sichern und ihm damit eine eigenverantwortliche Gestaltung seines Lebens zu ermöglichen (stRspr; vgl. BVerfGE 24, 367 <389>; 104, 1 <8 f.> m.w.N.). Der Schutz betrifft grundsätzlich alle vermögenswerten Rechte, die dem Berechtigten von der Rechtsordnung in der Weise zugeordnet sind, dass dieser die damit verbundenen Befugnisse nach eigenverantwortlicher Entscheidung zu seinem privaten Nutzen ausüben darf (vgl. BVerfGE 112, 93 <107> m.w.N.). Art. 14 Abs. 1 GG gewährleistet das Recht, die geschützten vermögenswerten Rechte innezuhaben, zu nutzen, zu verwalten und über sie zu verfügen (vgl. BVerfGE 97, 350 <370>; 105, 17 <30>; 115, 97 <110 f.>). 90 1. Bei der Beantwortung der Frage, welche vermögenswerten Güter als Eigentum im Sinne des Art. 14 GG anzusehen sind, muss auf den Zweck und die Funktion der Eigentumsgarantie unter Berücksichtigung ihrer Bedeutung im Gesamtgefüge der Verfassung zurückgegriffen werden (BVerfGE 36, 281 <290>). Sie soll dem Grundrechtsträger einen Freiraum im vermögensrechtlichen Bereich erhalten und dem Einzelnen damit die Entfaltung und eigenverantwortliche Lebensgestaltung ermöglichen (BVerfGE 24, 367 <389>; 31, 229 <239>; 36, 281 <290>; 51, 193 <217 f.>). Zu diesem Zweck soll der Bestand der geschützten Rechtspositionen gegenüber Maßnahmen der öffentlichen Gewalt bewahrt werden (vgl. BVerfGE 72, 175 <195>; 83, 201 <208>). 91 a) Der Schutz des Eigentums nach Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG umfasst nicht nur das zivilrechtliche Sacheigentum (vgl. BVerfGE 97, 350 <370>; 101, 54 <75>; 105, 17 <30>; 110, 141 <173>; 143, 246 <327 Rn. 228>), sondern auch andere dingliche und sonstige gegenüber jedermann wirkende Rechte sowie schuldrechtliche Forderungen (vgl. BVerfGE 45, 142 <179>; 83, 201 <208>; 115, 97 <111>). Er ist nicht auf bestimmte vermögenswerte Rechte beschränkt (vgl. BVerfGE 83, 201 <208 f.>). Eine allgemeine Wertgarantie vermögenswerter Rechtspositionen kann aus Art. 14 Abs. 1 GG dagegen nicht abgeleitet werden (BVerfGE 105, 17 <30>; 105, 252 <277>). 92 Art. 14 Abs. 1 GG schützt nur Rechtspositionen, die einem Rechtssubjekt bereits zustehen (vgl. BVerfGE 20, 31 <34>; 28, 119 <141 f.>; 30, 292 <334 f.>; 78, 205 <211>; 95, 173 <187 f.>). Bloße Interessen, Chancen und Verdienstmöglichkeiten werden von Art. 14 GG nicht erfasst (vgl. BVerfGE 28, 119 <142>; 39, 210 <237>; 51, 193 <221 f.>; 65, 196 <209>; 74, 129 <148>; 105, 252 <277>). 93 Ob Anwartschaftsrechte, deren Erstarken zum Vollrecht von dem ungewissen Eintritt weiterer Voraussetzungen abhängig ist, dem eigentumsrechtlichen Schutz unterfallen, hat das Bundesverfassungsgericht deshalb bisher nicht abschließend, sondern von Fall zu Fall entschieden (vgl. BVerfGE 83, 201 <211>; zum Schutz von Anwartschaften in der gesetzlichen Rentenversicherung vgl. BVerfGE 53, 257 <289 ff.>; 58, 81 <109>; 117, 272 <292>; 149, 86 <112 f. Rn. 72>; zum Anwartschaftsrecht in der Arbeitslosenversicherung vgl. BVerfGE 72, 9 <21 f.>; zur Anwartschaft auf eine Betriebsrente vgl. BVerfGE 131, 66 <80>). Auch soweit ein Anwartschaftsrecht dem Grunde nach eigentumsrechtlichen Schutz genießt, ist dieser jedenfalls der Höhe nach begrenzt auf daraus resultierende, bereits konkret bezifferbare Ansprüche (vgl. BVerfGE 131, 66 <80>; 136, 152 <167 Rn. 34, 170 Rn. 43>). 94 b) Das verfassungsrechtlich geschützte Eigentum ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Wesentlichen durch Privatnützigkeit und grundsätzliche Verfügungsfähigkeit über das Eigentumsobjekt gekennzeichnet (vgl. BVerfGE 24, 367 <389 f.>; 26, 215 <222>; 31, 229 <240>; 50, 290 <339>; 52, 1 <30>; 100, 226 <241>; 102, 1 <15>; 143, 246 <323 Rn. 216>; 149, 86 <112 Rn. 70>). 95 Privatnützigkeit meint die Zuordnung des Eigentumsobjekts zu einem Rechtsträger, dem es als Grundlage privater Initiative von Nutzen sein soll (vgl. BVerfGE 100, 226 <241>; 102, 1 <15>; 143, 246 <323 f. Rn. 216>; 149, 86 <112 Rn. 70>). Ein Recht ist schon dann privatnützig, wenn es zum eigenen Vorteil ausgeübt werden kann und damit dem Berechtigten „von Nutzen“ ist (vgl. BVerfGE 53, 257 <290>). Dabei spielt es keine Rolle, ob sich diese Ausübung – wie etwa bei der Realisierung von Forderungen – in einem einmaligen Vorgang erschöpft (vgl. BVerfGE 83, 201 <210>). 96 Grundsätzliche Verfügungsfähigkeit bedeutet nicht, dass dem Rechtsinhaber eine uneingeschränkte Verfügungsbefugnis zustehen muss. Voraussetzung des Schutzes durch Art. 14 GG ist nicht, dass das betroffene Recht beliebig übertragbar ist. Es genügt, dass es jedenfalls zusammen mit anderen Rechten übertragen werden kann (vgl. BVerfGE 83, 201 <210 f.>; weitergehend BVerfGE 89, 1 <7>; kritisch zu einem Verzicht auf das Merkmal der Verfügungsbefugnis Depenheuer/Froese, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 14 Rn. 67 f., 159). 97 c) Vermögenswerte öffentlich-rechtliche Rechtspositionen hat das Bundesverfassungsgericht in den Schutz der Eigentumsgarantie einbezogen, wenn sie eine Rechtsstellung begründen, die der des Eigentums entspricht und die so stark ist, dass ihre ersatzlose Entziehung dem rechtsstaatlichen Gehalt des Grundgesetzes widersprechen würde (vgl. BVerfGE 16, 94 <111 ff.>; 18, 392 <397>; 24, 220 <225 f.>; 40, 65 <83>; 143, 246 <328 f. Rn. 231>). 98 Hierfür ist neben der Privatnützigkeit der Rechtsposition und einer zumindest eingeschränkten Verfügungsbefugnis des Inhabers insbesondere von Bedeutung, inwieweit eine derartige Rechtsstellung sich als Äquivalent eigener Leistung erweist (vgl. BVerfGE 14, 288 <293 f.>; 18, 392 <397>; 72, 175 <193>; 97, 67 <83>; 143, 246 <329 Rn. 231>; für sozialversicherungsrechtliche Ansprüche und Anwartschaften vgl. BVerfGE 53, 257 <291 f.>; 69, 272 <300>; 72, 9 <19 f.>; 100, 1 <33>; 128, 90 <101>; 149, 86 <113 Rn. 72>). Diese ist bei öffentlich-rechtlich begründeten Rechtspositionen als besonderer Schutzgrund anerkannt (vgl. BVerfGE 69, 272 <300 f.>; 100, 1 <32 f.>; 149, 86 <113 Rn. 72>). Je höher der einem öffentlich-rechtlichen Anspruch zugrundeliegende Anteil eigener Leistung ist, desto stärker tritt der verfassungsrechtlich wesentliche personale Bezug und mit ihr ein tragender Grund des Eigentumsschutzes hervor (vgl. BVerfGE 53, 257 <292>; 76, 220 <237>; 100, 1 <37 f.>). Er beginnt in dem Zeitpunkt und in dem Umfang, in dem das Gesetz erstmals eine schutzfähige Rechtsposition begründet (vgl. BVerfGE 29, 22 <33 f.>; 53, 164 <176>; 116, 96 <121>). 99 2. Gemäß Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG darf der Gesetzgeber Eigentumsrechten einen neuen Inhalt geben (vgl. BVerfGE 31, 275 <293>; 42, 263 <294>). Die Eigentumsgarantie gebietet nicht, einmal ausgestaltete Rechtspositionen für alle Zukunft in ihrem Inhalt unangetastet zu lassen (vgl. BVerfGE 31, 275 <284 ff., 289 f.>; 36, 281 <293>; 42, 263 <LS 4 und S. 294>; 58, 300 <351>; 83, 201 <212>; 143, 246 <342 Rn. 269>). Der Gesetzgeber kann insbesondere, wenn sich eine Reform des geltenden Rechts als notwendig erweist, vor der Entscheidung stehen, bisher eingeräumte rechtliche Befugnisse zu beseitigen oder zu beschränken (vgl. BVerfGE 45, 297 <331 f.>; 78, 58 <75>). Im Rahmen von Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG ist er bei der Neuordnung eines Rechtsgebiets zur Umgestaltung individueller Rechtspositionen im Wege einer angemessenen und zumutbaren Überleitungsregelung befugt (vgl. BVerfGE 58, 300 <351>). 100 Er unterliegt dabei jedoch besonderen verfassungsrechtlichen Schranken (vgl. BVerfGE 83, 201 <212>; 102, 1 <16>). Der Eingriff in die nach früherem Recht entstandenen Rechte muss mit Blick auf die in Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG enthaltene subjektive Rechtsstellungsgarantie durch Gründe des öffentlichen Interesses unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gerechtfertigt sein (vgl. BVerfGE 31, 275 <290>; 58, 81 <121>; 58, 300 <351>; 70, 191 <201 f.>; 72, 9 <22 f.>; 128, 138 <148 f.>; 143, 246 <342 Rn. 269>). Die Gründe des öffentlichen Interesses, die für einen solchen Eingriff sprechen, müssen so schwerwiegend sein, dass sie Vorrang haben vor dem Vertrauen des Bürgers auf den Fortbestand seines Rechts, das durch den Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG innewohnenden Bestandsschutz gesichert wird (vgl. BVerfGE 42, 263 <294 f.>; 58, 300 <351>). Auch das zulässige Ausmaß des Eingriffs hängt vom Gewicht des dahinterstehenden öffentlichen Interesses ab (vgl. BVerfGE 83, 201 <212>; 143, 246 <342 Rn. 269>). Gegebenenfalls bedarf es Ausnahme-, Härtefall- oder Entschädigungsregelungen. 101 Darüber hinaus ist der Gesetzgeber an den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG auch bei der inhaltlichen Festlegung von Eigentümerbefugnissen und -pflichten gebunden (vgl. BVerfGE 21, 73 <84>; 34, 139 <146>; 37, 132 <143>; 49, 382 <395>; 87, 114 <139>; 102, 1 <16 f.>; 126, 331 <360>; 143, 246 <342 Rn. 268>; 149, 86 <123 Rn. 101>). Eine Differenzierung innerhalb der Ausgestaltung von Eigentümerbefugnissen darf nicht sachwidrig (vgl. BVerfGE 21, 73 <84>; 37, 132 <143>), sondern muss von einem (hinreichenden) Sachgrund getragen sein (vgl. BVerfGE 87, 114 <144>; 143, 246 <373 Rn. 348; 374 Rn. 353>) und damit jedenfalls dem Willkürverbot genügen (vgl. BVerfGE 34, 139 <152 f.>; 49, 382 <395 f.>; 126, 331 <366 f.>; möglicherweise weitergehend BVerfGE 143, 246 <390 f. Rn. 389>). 102 Für unternehmerisches Eigentum gilt nichts Anderes. Gestaltet der Gesetzgeber Inhalt und Schranken unternehmerischen Eigentums durch Änderung der Rechtslage, muss er die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, des Vertrauensschutzes und den Gleichheitssatz achten (vgl. BVerfGE 143, 246 <343 Rn. 270>). 103 3. Bei der Umgestaltung komplexer Regelungssysteme steht dem Gesetzgeber für die Überleitung bestehender Rechtslagen, Berechtigungen und Rechtsverhältnisse ein weiter Gestaltungsspielraum zur Verfügung. Zwischen der sofortigen, übergangslosen Inkraftsetzung des neuen Rechts und dem ungeschmälerten Fortbestand begründeter subjektiver Rechtspositionen sind vielfache Abstufungen denkbar. Der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht unterliegt nur, ob der Gesetzgeber bei der Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht und der Dringlichkeit der ihn rechtfertigenden Gründe unter Berücksichtigung aller Umstände die Grenze der Zumutbarkeit überschritten hat (vgl. BVerfGE 43, 242 <288 f.>; 67, 1 <15 f.>; 125, 1 <18>). II. 104 Nach diesen Maßstäben ist § 36 Abs. 6a KStG in der Fassung von § 34 Abs. 13f KStG in der Fassung des Jahressteuergesetzes 2010 mit Art. 14 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar. Das unter dem Anrechnungsverfahren angesammelte Körperschaftsteuerminderungspotenzial unterfällt in dem Umfang, in dem es im Zeitpunkt des Systemwechsels vom Anrechnungs- zum Halbeinkünfteverfahren realisierbar war, dem Schutzbereich von Art. 14 Abs. 1 GG (1.). In dieses Schutzgut greift § 36 Abs. 6a KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. des JStG 2010) nachteilig ein (2.). Dieser Eingriff ist nicht gerechtfertigt (3.). 105 1. Das im Zeitpunkt des Systemwechsels – das heißt in dem in § 36 Abs. 1 KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. des JStG 2010) für die Feststellung der Endbestände des verwendbaren Eigenkapitals bestimmten Zeitpunkt unter Berücksichtigung der letztmaligen Anwendung des Anrechnungsverfahrens gemäß § 36 Abs. 2 KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. des JStG 2010) – vorhandene und realisierbare Körperschaftsteuerminderungspotenzial ist vom Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG umfasst (BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 24. November 2022 - 2 BvR 1424/15 -, Rn. 123 ff.; vgl. ferner Hey, in: Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, Vor § 36 KStG R 25 <April 2001>; Raber, DB 1999, S. 2596 <2599>; Brühler Empfehlungen zur Reform der Unternehmensbesteuerung, BMF-Schriftenreihe Heft 66, Juli 1999, S. 62 f.). Es erfüllt die Kriterien der Privatnützigkeit (a) und Verfügbarkeit (b), beruht auf einer eigenen Leistung der Körperschaft (c) und ist in dem Umfang, in dem es im Zeitpunkt des Systemwechsels realisierbar war, keine bloße Chance oder zukünftige Verdienstmöglichkeit, sondern eine vermögenswerte Rechtsposition, die der Körperschaft bereits zustand und konkret bezifferbar war (d). 106 a) Das Körperschaftsteuerminderungspotenzial war der Körperschaft unter dem Anrechnungsverfahren in einer Weise zugeordnet, dass sie die damit verbundenen Realisationsmöglichkeiten zu ihrem privaten Nutzen (aa) nach ihrer eigenen Entscheidung (bb) ausüben durfte. 107 aa) Das Körperschaftsteuerminderungspotenzial konnte zwar nicht in dem Sinne genutzt werden, dass daraus laufend Früchte oder sonstige Vorteile gezogen werden. Die Körperschaft konnte jedoch die damit verbundenen Realisationsmöglichkeiten zu ihrem eigenen Vorteil ausüben, und es war ihr insofern „von Nutzen“. Denn im Realisationsfall stellte die Körperschaftsteuerminderung (rechtlich) einen eigenen steuerlichen Vorteil der Körperschaft dar, da sie deren Körperschaftsteuer herabsetzte. 108 Dies galt ungeachtet dessen, dass die Körperschaftsteuer wirtschaftlich wie eine Vorauszahlung auf die Steuerschuld des Anteilseigners wirkte (vgl. BFHE 134, 167 <171>; 135, 303 <305 f.>; 163, 162 <168>; 181, 490 <492>; 202, 265 <273>). Denn rechtlich reduzierte die Körperschaftsteuerminderung die eigene Steuerschuld der Körperschaft (vgl. BFHE 135, 303 <305>). 109 Der Privatnützigkeit des Körperschaftsteuerminderungspotenzials steht auch nicht entgegen, dass die Körperschaftsteuerminderung gemäß § 28 Abs. 6 KStG 1999 als für die Gewinnausschüttung verwendet und somit als an den Anteilseigner abgeflossen galt. Denn dabei handelte es sich lediglich um eine Regelung, die bestimmte, aus welchen (buchungstechnischen) Quellen sich der an den Anteilseigner auszukehrende Betrag speiste. Die Zuordnung an die Körperschaft erfolgte über den an diese gerichteten Feststellungsbescheid gemäß § 47 Abs. 1 KStG 1999, in dem über die gesonderte Feststellung und Fortschreibung der verschiedenen Teilbeträge des vEK mittelbar auch das daraus abzuleitende Körperschaftsteuerminderungspotenzial fest- und fortgeschrieben und der Körperschaft selbst zugeordnet wurde. 110 bb) Die Nutzung des Körperschaftsteuerminderungspotenzials konnte aufgrund einer eigenen Entscheidung der Körperschaft beziehungsweise der für sie handelnden Personen erfolgen. 111 Sie setzte die Erfüllung eines Realisationstatbestands voraus, der zur Herstellung der sogenannten Ausschüttungsbelastung führte. Hauptrealisationstatbestand war die (Gewinn-)Ausschüttung an die Anteilseigner (§ 27 Abs. 1 KStG 1999). Die Regelung galt entsprechend für sonstige Leistungen der Körperschaft, die bei den Empfängern Einnahmen im Sinne des § 20 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 EStG waren (§ 41 Abs. 1 KStG 1999). Einen Ersatzrealisationstatbestand enthielt ferner § 42 KStG 1999, der die Körperschaftsteuerminderung und -erhöhung bei Vermögensübertragung auf eine steuerbefreite Übernehmerin regelte. 112 Für eine Gewinnausschüttung bedarf es eines Beschlusses der Gesellschafterversammlung (§ 46 Nr. 1 GmbHG) beziehungsweise der Hauptversammlung (§ 119 Abs. 1 Nr. 2 AktG). Damit entschieden zwar nicht die allgemeinen Vertretungsorgane der Körperschaft (vgl. § 78 AktG, § 35 GmbHG) über die Ausschüttung und zugleich über die Nutzung des Körperschaftsteuerminderungspotenzials. Es entschieden aber die Anteilseigner als die wirtschaftlichen Eigentümer des Gesellschaftsvermögens in ihrer gesellschaftsrechtlichen Verbundenheit für die Körperschaft. Das Körperschaftsteuerminderungspotenzial war nicht dem Zugriff einzelner Anteilseigner ausgesetzt; diese konnten es für sich persönlich nur im Wege der Anteilsübertragung realisieren (vgl. BFHE 181, 490 <492>). Selbst die Einlagenrückgewähr war eine Ausschüttung im Sinne des § 27 Abs. 1 KStG 1999, für die die Verwendungsreihenfolge des § 28 Abs. 3 KStG 1999 und damit die vorrangige Realisation des Körperschaftsteuerminderungspotenzials zugunsten der Körperschaft galt (vgl. Streck, KStG, 5. Aufl. 1997, § 27 Rn. 6). 113 b) Der Körperschaft stand in Bezug auf das Körperschaftsteuerminderungspotenzial auch zumindest eine eingeschränkte Verfügungsbefugnis zu. Das Körperschaftsteuerminderungspotenzial war zwar nicht isoliert verkehrsfähig und konnte nicht separat veräußert oder von den Gläubigern der Körperschaft gepfändet werden. Es konnte aber zusammen mit dem Vermögen der Körperschaft als Ganzem – konkret, mit dem Eigenkapital, in dem es gespeichert war – transferiert werden, wie die Regelungen zum Übergang der verwendbaren Eigenkapitalteile bei Verschmelzungen (§ 38 KStG 1999) und zu Auf- beziehungsweise Abspaltungen (§ 38a KStG 1999) verdeutlichen. 114 c) Das Körperschaftsteuerminderungspotenzial stellt sich ferner als Äquivalent einer eigenen Leistung der Körperschaft dar. Es leitet sich aus der von der Körperschaft entrichteten Körperschaftsteuer in Höhe der Tarifbelastung ab. Über die für die Körperschaftsteuer maßgebliche Bemessungsgrundlage, das zu versteuernde Einkommen, war es an die (in der Vergangenheit dokumentierte) wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Körperschaft selbst geknüpft. 115 d) Schließlich handelt es sich bei dem Körperschaftsteuerminderungspotenzial, soweit es im Zeitpunkt des Systemwechsels realisierbar war, nicht lediglich um eine bloße Chance oder zukünftige Verdienstmöglichkeit, sondern um eine vermögenswerte Rechtsposition, die der Körperschaft bereits zustand und bezifferbar war. Zeitpunkt des Systemwechsels ist konkret der in § 36 Abs. 1 KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. des JStG 2010) genannte Zeitpunkt für die Feststellung der Endbestände des verwendbaren Eigenkapitals (bei Wirtschaftsjahr = Kalenderjahr: 31. Dezember 2000, bei vom Kalenderjahr abweichendem Wirtschaftsjahr: Schluss des ersten im VZ 2001 endenden Wirtschaftsjahres, das vor dem 1. Januar 2001 begonnen hat; vgl. § 34 Abs. 1 und 1a KStG i.d.F. des StSenkG). 116 Da die Realisation des Körperschaftsteuerminderungspotenzials eine Ausschüttung oder einen anderen Realisationstatbestand voraussetzte, hatte dieses noch nicht die Qualität eines Anspruchs auf Erstattung zu viel gezahlter Steuern, der in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als Eigentum im Sinne von Art. 14 Abs. 1 GG anerkannt ist (vgl. BVerfGE 70, 278 <285>). Auch konnte die Höhe des Körperschaftsteuerminderungspotenzials im Laufe der Zeit variieren und aufgrund von Verlusten gegebenenfalls sogar auf Null absinken. Da seine Realisation eine Ausschüttung oder sonstige Leistung voraussetzte, hing die konkrete Höhe des durch die Vornahme einer Ausschüttung aufschiebend bedingten Körperschaftsteuerguthabens in einem bestimmten Zeitpunkt von der jeweiligen Liquiditätsausstattung der Körperschaft und der Zusammensetzung des verwendbaren Eigenkapitals sowie einer daraus etwa resultierenden handelsrechtlichen Ausschüttungssperre ab. Das laut Gliederungsrechnung verwendbare Eigenkapital konnte nur in Höhe des um das Nennkapital geminderten (handels-)bilanziellen Eigenkapitals für Ausschüttungen verwendet werden (vgl. § 30 Abs. 1 GmbHG, § 57 Abs. 1 und 3 AktG). Die zur Zeit des Anrechnungsverfahrens entstandene „Anwartschaft“ – das im belasteten vEK enthaltene Körperschaftsteuerminderungspotenzial – ist deshalb nur nach Maßgabe des ausschüttungsfähigen Kapitals zum „Vollrecht“ auf Körperschaftsteuerminderung erstarkt (vgl. BFHE 253, 126 <131 Rn. 22>). 117 Ungeachtet dessen war aber für jeden Zeitpunkt konkret bezifferbar, in welcher Höhe maximal, das heißt bei einer Vollausschüttung, das Körperschaftsteuerminderungspotenzial aktuell realisierbar und für die Körperschaft in Form eines Körperschaftsteuerguthabens nutzbar war. Entsprechend ließ sich auch im Zeitpunkt des Systemwechsels zwischen Anrechnungs- und Halbeinkünfteverfahren beziehungsweise auf den in § 36 Abs. 1 KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. des JStG 2010) bestimmten Zeitpunkt für die Feststellung der Endbestände des verwendbaren Eigenkapitals konkret berechnen, in welcher Höhe den betroffenen Körperschaften aufgrund des ihnen zugeordneten Körperschaftsteuerminderungspotenzials im Falle seiner Realisierung ein Körperschaftsteuerguthaben zustand (vgl. die Beispielsrechnung der Brühler Empfehlungen zur Reform der Unternehmensbesteuerung, BMF-Schriftenreihe Heft 66, Juli 1999, S. 69 f., sowie § 37 Abs. 1 KStG i.d.F. von § 34 Abs. 13g KStG i.d.F. des JStG 2010). In dieser Höhe war es nicht lediglich eine Chance oder zukünftige Verdienstmöglichkeit, sondern ein von der Körperschaft bereits gegenwärtig nutzbarer Vermögensgegenstand. 118 Der Gesetzgeber hat deshalb – ohne dass dies im Gesetzgebungsverfahren ausdrücklich thematisiert worden wäre – zu Recht der Gestaltung der Übergangsregelungen im Anschluss an die Empfehlungen der Kommission zur Reform der Unternehmensbesteuerung (vgl. Brühler Empfehlungen zur Reform der Unternehmensbesteuerung, BMF-Schriftenreihe Heft 66, Juli 1999, S. 67, 71) den Gedanken einer Vollausschüttung im Zeitpunkt des Systemwechsels zugrunde gelegt (vgl. BVerfGE 125, 1 <12, 31>). 119 2. In das in diesem Zeitpunkt bestehende, im EK 45 gespeicherte Körperschaftsteuerminderungspotenzial greift § 36 Abs. 6a KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. des JStG 2010) je nach Eigenkapitalstruktur ein. Die Vorschrift führt gegenüber dem im Zeitpunkt des Systemwechsels vorhandenen realisierbaren Minderungspotenzial (a) zu einer Reduzierung des in der Feststellung der Endbestände nach § 36 Abs. 7 KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. des JStG 2010) berücksichtigten Körperschaftsteuerminderungspotenzials (b), ohne dass dieser Eingriff durch die gleichzeitige Verringerung von Körperschaftsteuererhöhungspotenzial vollständig kompensiert wird (c). 120 a) Um die realisierbaren Potenziale zu ermitteln, muss festgestellt werden, welche Bestandteile des vEK tatsächlich hätten ausgeschüttet werden können. Bei einer Vollausschüttung reduzierten in Anbetracht der gesellschaftsrechtlichen Ausschüttungsbeschränkungen (§§ 30, 31 GmbHG, § 57 AktG) negative Teilbeträge des verwendbaren Einkommens die maximal zulässige Höhe der Gewinnausschüttungen. Unter der Geltung des Anrechnungsverfahrens entsprach der handelsrechtlich maximal ausschüttbare Betrag in etwa dem Saldo aus sämtlichen Teilbeträgen des verwendbaren Eigenkapitals, vorbehaltlich etwaiger Abweichungen aufgrund des Umstands, dass es sich bei dem Ausschüttungsvolumen um eine handelsbilanzielle und bei dem Saldo der vEK-Bestände um eine steuerbilanzielle Größe handelt. 121 Danach kommt es darauf an, ob negatives vEK zu einer Ausschüttungssperre führte und gegebenenfalls welche Bestandteile des vEK nach der Verwendungsreihenfolge des § 28 Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit § 30 KStG 1999 davon betroffen waren. Bei der Ermittlung des zur Ausschüttung verwendeten Eigenkapitals wurden negative Teilbeträge grundsätzlich übersprungen (vgl. Danelsing, in: Blümich, EStG/KStG/GewStG/Nebengesetze, § 28 KStG Rn. 44 <Okt. 2005>). Eine handelsrechtliche Ausschüttungssperre wirkte sich deshalb wie eine Verrechnung negativer Teilbeträge mit den positiven Teilbeträgen in der umgekehrten Verwendungsreihenfolge des § 28 Abs. 3 KStG 1999 in Verbindung mit § 30, § 54 Abs. 11 Satz 5 KStG 1999 aus (EK 04 - EK 03 - EK 02 - EK 01 - EK 30 - EK 40 - EK 45). Das bedeutet, dass positives EK 45 nur dann nicht oder nicht vollständig ausgeschüttet und damit auch das darin gespeicherte Körperschaftsteuerminderungspotenzial bei einer Vollausschüttung nur dann nicht oder nicht vollständig realisiert werden konnte, wenn die Summe aller übrigen Teilbeträge des verwendbaren Eigenkapitals negativ war. 122 b) In allen anderen Fällen hat § 36 Abs. 6a KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. des JStG 2010) eine Verringerung des unter dem Übergangsrecht noch realisierbaren Körperschaftsteuerminderungspotenzials zur Folge. Die Umgliederung von EK 45 in EK 40 gemäß § 36 Abs. 6a Satz 2 KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. des JStG 2010) führt zwar zu einem höheren Bestand an EK 40, dieses enthält aber mit 1/6 nur ein geringeres Minderungspotenzial als das EK 45, bei dem das Minderungspotenzial 15/55 des Teilbetrags beträgt (vgl. § 27 Abs. 1 KStG 1999). Dadurch tritt insgesamt eine Reduzierung des Minderungspotenzials ein. 123 Das zeigt beispielhaft die Umgliederung in dem der Normenkontrollvorlage zugrundeliegenden Ausgangsverfahren. Während vor der Umgliederung im EK 45 ein Minderungspotenzial von 4.628.932 DM (15/55 von 16.972.749 DM) und im EK 40 ein Minderungspotenzial von 757.145 DM (1/6 von 4.542.871 DM), zusammen 5.386.077 DM, gespeichert war, sind dies nach der Umgliederung gemäß § 36 Abs. 6a KStG in der Fassung des Jahressteuergesetzes 2010 nur noch 3.556.339 DM (15/55 von 13.039.911 DM) plus 1.561.589 DM (1/6 von 9.369.536 DM), zusammen 5.117.928 DM. 124 c) Der Verlust an Körperschaftsteuerminderungspotenzial wird allerdings rechnerisch kompensiert durch die gleichzeitige entsprechende Reduktion von EK 02 und damit des darin enthaltenen Körperschaftsteuererhöhungspotenzials. Nach § 36 Abs. 6a Satz 1 KStG in der Fassung des Jahressteuergesetzes 2010 verringert sich der Bestand des EK 02 um 5/22 des Bestands an EK 45 bis zum Verbrauch des EK 02. Da die Verrechnung auf den positiven EK 02-Bestand beschränkt ist, entspricht die umgliederungsbedingte Reduktion des unter dem Anrechnungsverfahren gebildeten Körperschaftsteuerminderungspotenzials stets der umgliederungsbedingten Reduktion des Körperschaftsteuererhöhungspotenzials. Insoweit ist die Umgliederungsregelung den schon unter dem Anrechnungsverfahren bei Steuersatzänderungen angewandten Umgliederungsregelungen nachgebildet. 125 Im Ausgangsfall betrug das EK 02 ursprünglich 893.827 DM und enthielt damit ein Erhöhungspotenzial in Höhe von 268.148 DM (3/10). Der Betrag entspricht der Differenz zwischen dem ursprünglichen Körperschaftsteuerminderungspotenzial von 5.386.077 DM und dem nach Umgliederung verbliebenen Minderungspotenzial von 5.117.930 DM. Das EK 02 wird durch die Umgliederung vollständig verbraucht und damit auch ein darin gespeichertes Körperschaftsteuererhöhungspotenzial beseitigt. 126 Jedoch bleibt infolge der Regelung von § 36 Abs. 6a KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. des JStG 2010) nur der Saldo aus Körperschaftsteuerminderungs- und -erhöhungspotenzial identisch, nicht das Körperschaftsteuerminderungspotenzial als solches. Die Regelung zieht deshalb ungeachtet des rechnerischen Ausgleichs unter zwei Aspekten eine gegenüber dem Anrechnungsverfahren nachteilige Veränderung nach sich: 127 aa) Zum einen bewirkt die Verrechnung mit EK 45 eine zwangsweise Nachbelastung des EK 02 mit 30 %, während die Nachbelastung unter der Geltung des Anrechnungsverfahrens (und auch noch nach der ursprünglichen Übergangsregelung des Steuersenkungsgesetzes) nur bei einer tatsächlichen Ausschüttung erfolgt ist. Die betroffenen Körperschaften konnten also durch eine entsprechende Steuerung des Ausschüttungsverhaltens das Körperschaftsteuerminderungspotenzial realisieren, ohne dass zugleich eine Körperschaftsteuererhöhung anfiel. Ab dem Inkrafttreten des Jahressteuergesetzes 2008 erfolgte zwar in der Übergangszeit allgemein eine zwangsweise Nachbelastung des noch vorhandenen EK 02, diese betrug jedoch nur 3 %. 128 bb) Zum anderen wäre auch bei einer unterstellten Vollausschüttung im Zeitpunkt des Systemwechsels EK 02 nur in dem Umfang nachbelastet worden, in dem der Bestand in diesem Zeitpunkt als zur Ausschüttung verwendet gegolten hätte. Das hängt nach dem oben (Rn. 120 f.) Ausgeführten davon ab, ob negative Teilbeträge des vEK zu einer Ausschüttungssperre geführt hätten und gegebenenfalls welche Bestandteile des vEK nach der Verwendungsreihenfolge des § 28 Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit § 30 KStG 1999 davon betroffen gewesen wären. Da EK 02 gegenüber den belasteten Teilbeträgen des vEK nachrangig war, ist nicht ausgeschlossen, dass bei einer Vollausschüttung zwar Körperschaftsteuerminderungspotenzial realisiert worden wäre, dagegen nicht oder jedenfalls nicht in vollem Umfang Körperschaftsteuererhöhungspotenzial. 129 Dies bleibt bei der Verrechnungsregelung des § 36 Abs. 6a KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. des JStG 2010), die allein an den verbliebenen Bestand an EK 02 anknüpft, unberücksichtigt. Eine Konzentration auf den Teil des EK 02, der bei einer Vollausschüttung im Zeitpunkt des Systemwechsels verwendet worden wäre, wird auch nicht durch die nach § 36 Abs. 4 bis 6 KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. des JStG 2010) vorausgehenden Schritte zur Ermittlung der Endbestände der Teilbeträge des verwendbaren Eigenkapitals gewährleistet. Denn die danach erfolgende Verrechnung der verschiedenen Teilbeträge des unbelasteten und des belasteten vEK ist ebenfalls von der Verwendungsreihenfolge des § 28 Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit § 30 KStG 1999 gelöst. 130 3. Der in der beschriebenen belastenden Wirkung von § 36 Abs. 6a KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. des JStG 2010) liegende Eingriff in das durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützte Körperschaftsteuerminderungspotenzial ist nicht durch Gründe des öffentlichen Interesses unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gerechtfertigt. Der Gesetzgeber verfolgt mit der Regelung zwar legitime Ziele (a), zu deren Erreichung sie auch zumindest teilweise geeignet ist (b). Soweit sie zur Zielerreichung geeignet ist, ist sie jedoch jedenfalls nicht erforderlich (c). Zudem wird sie insgesamt den Anforderungen des Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) an die (Um-)Gestaltung von Eigentümerbefugnissen nicht gerecht (d). 131 a) aa) Mit der Neuregelung durch das Jahressteuergesetz 2010, die infolge des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 17. November 2009 (BVerfGE 125, 1) erforderlich geworden war, verfolgte der Gesetzgeber nach den Angaben des Bundesministeriums der Finanzen im vorliegenden Verfahren das Ziel, diese Entscheidung umzusetzen, zugleich aber soweit möglich an dem bisherigen System des Übergangsrechts festzuhalten, um eine Neuregelung innerhalb der vom Bundesverfassungsgericht gesetzten Frist zu gewährleisten und die verwaltungsseitige Umsetzung zu vereinfachen. Insbesondere sollten die notwendigen Änderungen von Veranlagungen „im System bleiben“ und sich auf bestehende Verfahrensregelungen stützen können sowie die seit der Feststellung der Endbestände erfolgten Umstrukturierungen klar nachvollzogen werden. Dabei handelt es sich für sich genommen um legitime Ziele. 132 bb) Durch den Wechsel vom Anrechnungs- zum Halbeinkünfteverfahren war die Eigenkapitalgliederung, die für Ausschüttungen unter dem Anrechnungsverfahren die jeweilige Vorbelastung des zur Ausschüttung kommenden Eigenkapitals auswies, überflüssig geworden. Im System des Übergangsrechts war es daher ein legitimes (Zwischen-)Ziel des Gesetzgebers, diese Eigenkapitalgliederung abzubauen. Das gilt umso mehr, als er mit der ursprünglichen Gestaltung des Übergangsrechts durch das Steuersenkungsgesetz anstrebte, dass „die bei Fortgeltung des Anrechnungsverfahrens bei einer Ausschüttung künftig entstandenen Körperschaftsteuerminderungen im Ergebnis erhalten bleiben“ und eine Körperschaftsteuererhöhung auf 30 % – wie unter Geltung des Anrechnungsverfahrens – lediglich dann erfolgen sollte, wenn für Ausschüttungen auf das bisherige EK 02 zugegriffen wurde (vgl. BTDrucks 14/2683, S. 121). Zugleich sollte der Übergang vom alten zum neuen Körperschaftsbesteuerungssystem von Anfang an möglichst einfach abgewickelt werden. Dieser Gedanke ist zwar im Gesetzgebungsverfahren zum Steuersenkungsgesetz nicht ausdrücklich formuliert worden. Er lässt sich aber aus dem Grundanliegen des Gesetzgebers ableiten, das Körperschaftsteuerrecht insgesamt zu vereinfachen (vgl. BVerfGE 125, 1 <20 f.>). 133 Teil der Vereinfachung war das Bestreben des Gesetzgebers, die EK-Konten vom Beginn des Übergangs an auf den dafür absolut erforderlichen Umfang zu reduzieren, nämlich auf einen mit 40 % belasteten Eigenkapitalanteil, anhand dessen das Körperschaftsteuerguthaben ermittelt wird (§ 37 Abs. 1 KStG), einen unbelasteten Eigenkapitalanteil (früheres EK 02), dessen Ausschüttung zu einer Erhöhung der Körperschaftsteuer um 3/7 der Gewinnausschüttung führt (§ 38 KStG i.d.F. des StSenkG), und ein steuerliches Einlagekonto (§ 27 KStG, vormals EK 04). Dementsprechend diente auch die Umgliederung von EK 45 in EK 40 der Vereinfachung (vgl. Kurzprotokoll der 60. Sitzung des Finanzausschusses am 14. April 2000, Protokoll Nr. 14/60, S. 13 f.). Zudem sollte nach den Angaben des Bundesministeriums der Finanzen im vorliegenden Verfahren die Verrechnung von EK 45 mit positivem EK 02 nicht nur das EK 45, sondern auch das EK 02 weitgehend eliminieren. Dieses Vereinfachungsziel des Gesetzgebers war ebenfalls legitim. 134 cc) Grundsätzlich legitim war schließlich die nicht ausdrücklich als gesetzgeberisches Ziel formulierte, der Sache nach aber verwirklichte Zwangsrealisation eines im positiven EK 02 ruhenden Körperschaftsteuererhöhungspotenzials durch Verrechnung mit im EK 45 enthaltenem Körperschaftsteuerminderungspotenzial derselben steuerpflichtigen Körperschaft (vgl. FG Düsseldorf, Urteil vom 30. September 2014 - 6 K 3102/12 F -, juris, Rn. 27). Soweit das eine wie das andere realisierbar war, entspricht sie dem Gedanken einer fiktiven Vollausschüttung im Zeitpunkt des Systemwechsels (vgl. Brühler Empfehlungen zur Reform der Unternehmensbesteuerung, BMF-Schriftenreihe Heft 66, Juli 1999, S. 67 ff.), der insgesamt dem Übergangsrecht der §§ 36 ff. KStG zugrunde lag. Dieser Ansatz ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, weil die Steuerpflichtigen auch unter dem Anrechnungsverfahren – jedenfalls dem Grunde nach – spätestens für den Zeitpunkt der Liquidation mit einer Nachbelastung des EK 02 rechnen mussten. 135 Deshalb erscheint es grundsätzlich berechtigt, wenn der Gesetzgeber bestrebt war, durch Verrechnung von Minderungs- und Erhöhungspotenzial einerseits in liquiditätsschonender Weise die Finanzierbarkeit des von ihm angestrebten Erhalts des Körperschaftsteuerminderungspotenzials zu sichern und andererseits zu verhindern, dass während der Übergangsphase seitens der Steuerpflichtigen „Rosinenpickerei“ durch Realisierung des Körperschaftsteuerminderungspotenzials unter Vermeidung einer Belastung mit realisierbarem Körperschaftsteuererhöhungspotenzial betrieben wird. Dem steht weder entgegen, dass der Gesetzgeber damit sein bei Erlass des Steuersenkungsgesetzes erklärtes Ziel, EK 02 (isoliert) nur im Falle der Ausschüttung nachzubelasten, modifiziert, noch, dass er die durch das Jahressteuergesetz 2008 eingeführte generelle Zwangsnachbelastung des EK 02, die unabhängig von einem entsprechenden Körperschaftsteuerguthaben eintritt, auf 3 % begrenzt hat. 136 Von einer legitimen Zielsetzung getragen war die mit der Verrechnung bewirkte Zwangsrealisation des Körperschaftsteuererhöhungspotenzials allerdings nur, soweit nicht nur das Körperschaftsteuerminderungspotenzial, sondern auch das Körperschaftsteuererhöhungspotenzial im Zeitpunkt des Systemwechsels realisierbar war. Für eine Verrechnung mit Körperschaftsteuererhöhungspotenzial, das auch bei einer Vollausschüttung nicht zu einer Körperschaftsteuererhöhung geführt hätte, ist ein zur Rechtfertigung tauglicher Grund nicht ersichtlich. 137 b) Zur Erreichung der genannten legitimen Ziele war § 36 Abs. 6a KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. des JStG 2010) nur teilweise geeignet. Mit der Regelung wurden zwar die angestrebte Reduktion der Teilbeträge des belasteten verwendbaren Eigenkapitals auf EK 40 und eine weitgehende Eliminierung des EK 02 erreicht, wenn in hinreichendem Umfang positives EK 02 zur Verrechnung mit EK 45 zur Verfügung stand. In allen Fällen, in denen der EK 02-Bestand nach Anwendung von § 36 Abs. 4 bis 6 KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. des JStG 2010) geringer als 5/22 des EK 45-Bestands war, blieb aber auch danach ein mit 45 % vorbelastetes Eigenkapitalkonto bestehen (vgl. § 37 Abs. 1 KStG i.d.F. von § 34 Abs. 13g KStG i.d.F. des JStG 2010). Der Vereinfachungseffekt wurde dadurch insgesamt nicht unerheblich beeinträchtigt. 138 Auch zum (vollständigen) Erhalt des Körperschaftsteuerminderungspotenzials war die Regelung nicht uneingeschränkt geeignet. Erhalten wurde allenfalls der Saldo aus Körperschaftsteuerminderung und -erhöhung (missverständlich insofern BVerfGE 125, 1 <19>). Denn der nach Verrechnung von EK 45 und EK 02 verbleibende erhöhte Bestand an EK 40 wies ein geringeres Minderungspotenzial auf als der Ausgangsbestand an EK 45. Die gleichzeitige Minderung des EK 02 stellte jedenfalls insoweit keinen legitimen und für die Steuerpflichtigen zumutbaren Ausgleich dar, als das darin ruhende Körperschaftsteuererhöhungspotenzial im Zeitpunkt des Systemwechsels nicht realisierbar gewesen wäre, weil EK 02 bei einer Vollausschüttung infolge einer handelsrechtlichen Ausschüttungssperre nach Maßgabe von § 28 Abs. 3 KStG 1999 nicht zur Verwendung gekommen wäre. 139 c) Zur Vereinfachung des Übergangs und zum Erhalt des Körperschaftsteuerminderungspotenzials war der Verrechnungsschritt des § 36 Abs. 6a KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. des JStG 2010), selbst wenn man ihn als dafür zumindest teilweise geeignet betrachtet, jedenfalls nicht erforderlich. 140 Wie schon der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts in seinem Beschluss vom 17. November 2009 (BVerfGE 125, 1 <24>) ausgeführt hat, hätte der Gesetzgeber eine ebenso einfache Abwicklung unter vollständigem Erhalt des (realisierbaren) Körperschaftsteuerminderungspotenzials dadurch erreichen können, dass er das Körperschaftsteuerguthaben nach § 37 KStG unmittelbar aus den zum Stichtag vorhandenen Teilbeträgen belasteten Eigenkapitals, dem EK 45 und dem EK 40, gebildet hätte, ohne zuvor die Umgliederung von EK 45 vorzunehmen. Auf diese Weise könnte das für den Abbau des Körperschaftsteuerminderungspotenzials in der Übergangszeit vorgesehene Körperschaftsteuerguthaben mit 10/60 aus dem Bestand des vorhandenen EK 40 und mit 15/55 aus dem Bestand des EK 45 ermittelt, mithin ein Körperschaftsteuerminderungspotenzial aus zwei Teilbeträgen belasteten Eigenkapitals berücksichtigt werden, deren Endbestand lediglich zum Stichtag je gesondert hätte festgestellt werden müssen. 141 Auch bei dieser Lösung wäre eine anschließende Saldierung von Körperschaftsteuerguthaben und -erhöhung für die einzelnen Steuerpflichtigen ohne weiteres durchzuführen gewesen (vgl. Brühler Empfehlungen zur Reform der Unternehmensbesteuerung, BMF-Schriftenreihe Heft 66, Juli 1999, S. 69 f.), so dass auch das möglicherweise hinter der Verrechnung stehende Ziel hätte verwirklicht werden können, eine tatsächliche Realisierung von Körperschaftsteuerminderungspotenzial nur in der das realisierbare Körperschaftsteuererhöhungspotenzial übersteigenden Höhe zuzulassen. 142 Diese Alternative hätte voraussichtlich weitergehende Änderungen der bereits getroffenen Feststellungen, Fortschreibungen und Veranlagungen nötig gemacht als § 36 Abs. 6a KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. des JStG 2010), der § 36 Abs. 3 KStG in der Fassung des Steuersenkungsgesetzes nachgebildet ist, soweit diese Regelung mit der der Entscheidung BVerfGE 125, 1 zugrundeliegenden Verfassungsbeschwerde nicht angegriffen war. Dass der Änderungsbedarf nach dem Vortrag des Bundesministeriums der Finanzen minimiert werden und die Umsetzung der Entscheidung möglichst verwaltungsschonend erfolgen sollte, genügt jedoch nicht, um die Verrechnung von EK 45 und EK 02 bei Erlass des Jahressteuergesetzes 2010 – anders als zu Beginn der Übergangsphase – als erforderlich anzusehen. Von der Neuregelung betroffen waren nur die im Jahr 2010 noch nicht bestandskräftigen Feststellungen der Endbestände im Sinne von § 36 Abs. 7 KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. des JStG 2010). Deren Zahl hat das Bundesministerium der Finanzen nicht mitgeteilt. Im Übrigen entlastet das nachvollziehbare Bestreben nach einer möglichst einfachen Korrektur eines verfassungswidrigen Gesetzes den Gesetzgeber nicht von der Verpflichtung, bei einem (auch) mit der Neuregelung verbundenen Eingriff in das nach früherem Recht entstandene realisierbare Körperschaftsteuerminderungspotenzial den Anforderungen von Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG uneingeschränkt zu genügen. 143 d) Davon unabhängig ist § 36 Abs. 6a KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. des JStG 2010) mit der Bindung des Gesetzgebers an den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG bei der Festlegung und Beschränkung von Eigentümerbefugnissen nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG nicht vereinbar. Eingriffe in die subjektive Rechtsstellungsgarantie müssen bei wesentlich gleichen Sachverhalten gleich verteilt werden; Differenzierungen bedürfen eines hinreichenden sachlichen Grundes (vgl. BVerfGE 143, 246 <373 Rn. 348> und oben Rn. 101). Daran fehlt es hier. Das EK 45 unterscheidet sich nicht wesentlich vom EK 40 (aa). Gleichwohl wird es im Hinblick auf die Verrechnung mit positivem EK 02 durch § 36 Abs. 6a KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. des JStG 2010) ungleich behandelt (bb), ohne dass ein einleuchtender Grund für diese Differenzierung besteht (cc). 144 aa) Körperschaften mit sich allein oder vorrangig aus dem EK 45 speisendem belasteten vEK und Körperschaften mit sich allein oder vorrangig aus dem EK 40 speisendem belasteten vEK sind vor dem Hintergrund des Übergangsrechts vom Anrechnungsverfahren zum Halb- und später Teileinkünfteverfahren als „wesentlich gleich“ anzusehen. Sowohl das EK 45 als auch das EK 40 sind Teilbeträge des belasteten vEK, in denen somit Körperschaftsteuerminderungspotenzial enthalten ist, welches nach dem gesetzgeberischen Willen grundsätzlich erhalten werden sollte. Sie unterscheiden sich lediglich – abhängig von ihrem jeweiligen Entstehungszeitpunkt – hinsichtlich der Höhe des in ihnen enthaltenen Körperschaftsteuerminderungspotenzials. Dem wird durch die unterschiedlichen Faktoren, mit denen die jeweils verbleibenden Bestandteile in die Berechnung des Körperschaftsteuerguthabens gemäß § 37 Abs. 1 KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13g KStG i.d.F. des JStG 2010) eingehen, Rechnung getragen. 145 bb) Durch die Umgliederungsregelung des § 36 Abs. 6a KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. des JStG 2010) werden Unternehmen mit umzugliederndem EK 45 schlechtergestellt als Unternehmen mit (von der Umgliederung nicht erfasstem) EK 40. Die Umgliederung führt zu einem partiellen Untergang des im EK 45 gespeicherten Körperschaftsteuerminderungspotenzials, das zwar durch die Reduktion des EK 02 rechnerisch kompensiert wird, aber mit einer entsprechenden „Zwangsrealisation“ des im EK 02 ruhenden Körperschaftsteuererhöhungspotenzials verbunden ist. Demgegenüber bleibt das in dem EK 40 gespeicherte Körperschaftsteuerminderungspotenzial von der Umgliederung gänzlich unbeeinflusst, da das EK 40 selbst keinen Eingang in die Umgliederungsrechnung findet. 146 Körperschaften mit sich vorrangig oder allein aus dem EK 40 speisendem belasteten Eigenkapital sind deshalb steuerlich bessergestellt als Körperschaften mit überwiegendem oder alleinigem EK 45. Sie konnten zu Beginn der Übergangsphase nach dem Steuersenkungsgesetz ihr aus dem EK 40 herrührendes Körperschaftsteuerminderungspotenzial mangels umgliederungsbedingter „Verrechnung“ mit dem EK 02 vollständig bewahren und realisieren sowie gleichzeitig durch entsprechendes Ausschüttungsverhalten eine Körperschaftsteuererhöhung dennoch gänzlich vermeiden. Nach der Einführung der pauschalen ausschüttungsunabhängigen Nachbelastung des EK 02 durch das Jahressteuergesetz 2008 sind sie weiterhin bessergestellt, weil sie mangels umgliederungsbedingter „Verrechnung“ mit dem EK 02 in höherem Maße von der Ermäßigung der Nachbelastung auf 3 % profitieren (vgl. Werning, in: Brandis/Heuermann, Ertragsteuerrecht, § 36 KStG Rn. 25b <Aug. 2019>). 147 cc) Für diese Ungleichbehandlung fehlt ein einleuchtender Grund. Wie oben (Rn. 138) bereits dargestellt, war sie nicht geeignet, den vom Gesetzgeber angestrebten Erhalt des Körperschaftsteuerminderungspotenzials in allen Fällen zu erreichen. Zur Vereinfachung des Übergangs vom Anrechnungs- zum Halbeinkünfteverfahren war sie jedenfalls nicht erforderlich, weil mindestens eine Alternative zur Verfügung gestanden hätte, die ohne nennenswerten Mehraufwand EK 45 und EK 40 im Hinblick auf das darin jeweils gespeicherte Körperschaftsteuerminderungspotenzial gleich behandelt hätte (s. oben Rn. 140 ff.). 148 Schließlich ist auch nicht erkennbar, dass der Spielraum des Gesetzgebers bei der Gestaltung von Übergangsrecht die Ungleichbehandlung von EK 45 und EK 40 bei der Saldierung mit EK 02 legitimieren könnte. Hiergegen spricht, dass alle Ziele des Übergangs vom Anrechnungs- zum Halbeinkünfteverfahren ohne diese Ungleichbehandlung erreicht werden können. D. I. 149 1. Der Verstoß einer Norm gegen das Grundgesetz, die – wie hier – wegen ihres eindeutigen Wortlauts und des klar erkennbaren entgegenstehenden Willens des Gesetzgebers einer verfassungskonformen Auslegung nicht zugänglich ist (vgl. BVerfGE 18, 97 <111>; 54, 277 <299>; 71, 81 <105>; 98, 17 <45>; 130, 372 <398>), führt in der Regel zur Nichtigerklärung (§ 82 Abs. 1 i.V.m. § 78 Satz 1, § 95 Abs. 3 BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht kann aber auch die Unvereinbarkeit der Norm mit dem Grundgesetz feststellen (vgl. § 31 Abs. 2, § 79 Abs. 1 BVerfGG), wenn der Gesetzgeber verschiedene Möglichkeiten hat, den Verfassungsverstoß zu beseitigen. Das ist regelmäßig bei der Verletzung des Gleichheitssatzes der Fall (vgl. BVerfGE 99, 280 <298>; 105, 73 <133>; 117, 1 <69>; 122, 210 <244 f.>; 126, 268 <284 f.>; 133, 377 <422 Rn. 104>; 145, 106 <166 Rn. 152>; stRspr), kann aber auch bei einem Verstoß gegen Art. 14 Abs. 1 GG gelten (vgl. BVerfGE 100, 226 <247>). 150 2. Gemessen hieran kommt vorliegend nur eine Unvereinbarkeitserklärung in Betracht. Der Gesetzgeber ist nicht auf die oben (Rn. 140 ff.) skizzierte Lösung zur Behebung des Verstoßes von § 36 Abs. 6a KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. des JStG 2010) gegen Art. 14 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG beschränkt. Es ist ihm unbenommen, andere Wege für eine verfassungskonforme Lösung zu beschreiten, die das Körperschaftsteuerminderungspotenzial in dem durch Art. 14 GG gebotenen Umfang gleichheitsgerecht erhält, indem er etwa für die noch offenen Fälle (vgl. § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) auf eine Saldierung von Körperschaftsteuerguthaben und -erhöhung gänzlich verzichtet oder indem er die Verrechnung von belastetem vEK mit EK 02 auf den bei einer Vollausschüttung realisierbaren Teil des EK 02-Bestands beschränkt und das EK 40 in die Verrechnung einbezieht. 151 3. Die Gründe, die zur Verfassungswidrigkeit von § 36 Abs. 6a KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. des JStG 2010) führen, treffen auf die inhaltsgleiche Regelung des § 36 Abs. 6a KStG in der Fassung von § 34 Abs. 11 KStG in der Fassung des Gesetzes zur Anpassung des nationalen Steuerrechts an den Beitritt Kroatiens zur EU und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften vom 25. Juli 2014 (BGBl I S. 1266) ebenso zu. Gemäß § 78 Satz 2 BVerfGG (i.V.m. § 82 Abs. 1 BVerfGG) ist diese Regelung daher im Interesse der Rechtsklarheit ebenfalls für mit dem Grundgesetz unvereinbar zu erklären. II. 152 Der Gesetzgeber ist verpflichtet, den festgestellten Verfassungsverstoß bis zum 31. Dezember 2023 rückwirkend zu beseitigen. Diese Verpflichtung erfasst alle noch nicht bestandskräftigen Entscheidungen, die auf den für verfassungswidrig erklärten Vorschriften beruhen (vgl. BVerfGE 87, 153 <178>; 99, 280 <298>; 107, 27 <58>; 133, 377 <423 Rn. 108>; 145, 106 <169 Rn. 163>). Dass im Interesse verlässlicher Finanz- und Haushaltsplanung eine Ausnahme vom Grundsatz der Rückwirkung geboten sein könnte (vgl. BVerfGE 93, 121 <148>; 105, 73 <134>; 117, 1 <70>; 125, 175 <258>; 133, 377 <423 Rn. 109>; 145, 106 <169 Rn. 164>), ist nicht ersichtlich. 153 Bis zu einer Neuregelung dürfen Gerichte und Verwaltungsbehörden die Normen im Umfang der festgestellten Unvereinbarkeit nicht mehr anwenden, laufende Verfahren sind auszusetzen (BVerfGE 73, 40 <101>; 105, 73 <134>; 122, 210 <246>; 145, 106 <169 Rn. 163>). E. 154 Die Entscheidung ist mit 6:1 Stimmen ergangen. König Huber Hermanns Müller Kessal-Wulf Langenfeld Wallrabenstein
bundesverfassungsgericht
91-2019
20. Dezember 2019
Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen Ungleichbehandlung eingetragener Lebenspartnerschaften bei der Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst Pressemitteilung Nr. 91/2019 vom 20. Dezember 2019 Beschluss vom 11. Dezember 20191 BvR 3087/14 Die 3. Kammer des Ersten Senats hat mit heute veröffentlichtem Beschluss der Verfassungsbeschwerde eines ehemaligen Beschäftigten des öffentlichen Dienstes stattgegeben, der in eingetragener Lebenspartnerschaft lebt, für den aber eine Zusatzrente der Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder (VBL) wie für ledige Versicherte berechnet worden war. Zwar waren die Fachgerichte zutreffend davon ausgegangen, dass verpartnerte Versicherte bei der Berechnung der Zusatzrente so zu behandeln sind wie Verheiratete. Doch durfte dies nicht von einem Antrag abhängig gemacht werden, da verpartnerte Versicherte damals nicht erkennen konnten, dass sie diesen Antrag hätten stellen müssen. Weder bezog sich die Antragsregel auf sie noch hielt die damals herrschende Auffassung in Rechtsprechung und Fachliteratur eine Gleichstellung für geboten. Die formal gleiche Anforderung, einen Antrag auf eine günstigere Berechnung der Zusatzrente zu stellen, führt in diesem Fall zu einer ungerechtfertigten Ungleichbehandlung. Sie ist rückwirkend zu beseitigen. Sachverhalt: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes erhalten nach Renteneintritt regelmäßig eine Zusatzversorgung über die VBL. Diese wurde bei Eheleuten nach deren günstigeren Steuerklasse berechnet, wenn sie nach § 56 Abs. 1 Satz 4 der Satzung der VBL in der damals geltenden Fassung (VBLS a. F.) einen entsprechenden Antrag stellten. Der Beschwerdeführer bezieht seit 1998 eine solche Zusatzrente, der die für Unverheiratete geltende Steuerklasse I/0 zugrunde gelegt worden war. Er begründete im Jahr 2001 eine eingetragene Lebenspartnerschaft, worüber er die VBL im Oktober 2006 unterrichtete, und beantragte 2011 eine Neuberechnung seiner Rente ab dem Zeitpunkt der Verpartnerung wie für Eheleute. Die VBL leistete daraufhin eine Nachzahlung nur für den Zeitraum ab der Mitteilung über die Verpartnerung, da für die Zeit zuvor ein Antrag fehle. Die Klage auf eine höhere Zusatzrente für die Zeit davor blieb in allen Instanzen ohne Erfolg.  Wesentliche Erwägungen der Kammer: Die angegriffenen Urteile verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG, soweit sie für die Zeit vor November 2006 einen Anspruch auf Neuberechnung der Rente unter Verweis auf den fehlenden Antrag verneinen. 1. Art. 3 Abs. 1 GG gebietet die allgemeine Gleichbehandlung. Dabei verschärfen sich die Anforderungen an die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung umso mehr, je weniger die Merkmale, an die sie anknüpft, für die Betroffenen verfügbar sind und je mehr sich diese Merkmale den in dem besonderen Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 Abs. 3 GG ausdrücklich benannten Merkmalen annähern. Das ist bei der Ungleichbehandlung von Menschen in einer Ehe und in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft der Fall, denn sie knüpft an das personenbezogene Merkmal der sexuellen Orientierung an. Daher gilt für die Prüfung, ob eine Ungleichbehandlung zwischen verheirateten und verpartnerten Personen zu rechtfertigen ist, ein strenger Maßstab. 2. Wenden die Gerichte die Regelung des § 56 Abs. 1 Satz 4 VBLS a. F., wonach nur auf Antrag für die Zusatzrente die für Ehepaare geltende günstigere Steuerklasse zugrunde gelegt wird, uneingeschränkt auf verpartnerte Versicherte an, benachteiligt das den Beschwerdeführer in nicht gerechtfertigter Weise. Die Gerichte haben hier verkannt, dass die formal gleiche Anwendung einer Bestimmung auf Lebenssachverhalte, die in diskriminierender Weise ungleich geregelt waren, eine Diskriminierung fortschreiben kann. a) Die formale Gleichbehandlung hinsichtlich des erforderlichen Antrags auf Neuberechnung der Zusatzrente bewirkt hier eine verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung. Zwar scheint es formal gleich, sowohl verheiratete als auch verpartnerte Anspruchsberechtigte an einen Antrag zu binden. Tatsächlich war die Situation der Betroffenen jedoch in dem hier streitigen Zeitraum in einer Weise unterschiedlich, dass die formale Gleichbehandlung tatsächlich eine Ungleichbehandlung in der Sache bewirkt. Im Unterschied zu Eheleuten konnten verpartnerte Versicherte nach damals geltendem Recht nicht erkennen, dass sie ebenso wie Eheleute einen Antrag hätten stellen müssen. Die Regelung zum Antragserfordernis galt für sie schon nach dem Wortlaut nicht, denn eine Rentenberechnung auf Grundlage der günstigeren Steuerklasse war nur für Verheiratete vorgesehen. Zudem waren Rechtsprechung und Fachliteratur damals mehrheitlich der Auffassung, eine Gleichstellung zugunsten des Beschwerdeführers mit der Ehe sei nicht geboten. Geändert hat sich dies erst mit dem Beschluss des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 7. Juli 2009 (BVerfGE 124, 199). Erst dann war für verpartnerte Versicherte erkennbar, dass eine Regelung, die sich auf Eheleute bezog, auch auf sie Anwendung finden würde, und auch sie einen Antrag stellen müssen, um die daran gebundenen positiven Wirkungen zu erreichen. b) Der VBL ist hier nicht vorzuwerfen, sie habe sich treuwidrig verhalten oder es pflichtwidrig unterlassen, verpartnerte Versicherte über die Möglichkeit einer Antragstellung umfassend informiert zu haben. Sie durfte ebenso wie der Beschwerdeführer damals davon ausgehen, dass verpartnerte Versicherte keine Zusatzrenten erhalten würden. Das bedeutet jedoch nicht, dass ein aus der damaligen Ungleichbehandlung zwischen Ehe und Lebenspartnerschaft entstandener Nachteil für die Betroffenen fortgeschrieben werden dürfte. Wird ein Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot festgestellt, folgt daraus vielmehr grundsätzlich die Verpflichtung, die Rechtslage rückwirkend verfassungsgemäß zu gestalten. Eine auf den Zeitpunkt der Einführung des Instituts der eingetragenen Lebenspartnerschaft zurückwirkende Gleichbehandlung verpartnerter und verheirateter Personen lässt sich nur erreichen, indem auf einen entsprechenden kurz danach gestellten Antrag hin die Rente auch rückwirkend angepasst wird. Daher kann der Beschwerdeführer hier verlangen, dass seine Versorgungsrente unter Zugrundelegung der Lohnsteuerklasse III/0 rückwirkend auf den Zeitpunkt der Begründung seiner eingetragenen Lebenspartnerschaft neu berechnet wird.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT - 1 BvR 3087/14 - IM NAMEN DES VOLKES In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Herrn S…, - Bevollmächtigter: … - gegen a) das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 10. September 2014 - IV ZR 298/13 -, b) das Urteil des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 6. August 2013 - 12 U 29/13 -, c) das Urteil des Landgerichts Karlsruhe vom 25. Januar 2013 - 6 O 47/12 - hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Vizepräsidenten Harbarth und die Richterinnen Baer, Ott am 11. Dezember 2019 einstimmig beschlossen: Das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 10. September 2014 - IV ZR 298/13 -, das Urteil des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 6. August 2013 - 12 U 29/13 - und das Urteil des Landgerichts Karlsruhe vom 25. Januar 2013 - 6 O 47/12 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes, soweit sie einen Anspruch auf Zahlung der Rentendifferenz vor Mitteilung seiner Verpartnerung und Freistellung von den mit der vorgerichtlichen Durchsetzung dieses Anspruchs verbundenen Rechtsanwaltskosten vorenthalten haben. Das Urteil des Bundesgerichtshofs wird insoweit aufgehoben. Die Sache wird in diesem Umfang an den Bundesgerichtshof zurückverwiesen. Die Bundesrepublik Deutschland und das Land Baden-Württemberg haben dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen je zur Hälfte zu erstatten. G r ü n d e : I. 1 Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Gleichbehandlung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft im Bereich der betrieblichen Altersversorgung für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes nach der Satzung der Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder (VBL). 2 1. Der Beschwerdeführer bezieht seit 1998 eine Zusatzrente. Bei deren Berechnung wurde gemäß § 41 Abs. 2a bis 2c der Satzung der Beklagten vom 22. Dezember 1966 in der Fassung vom 20. Dezember 2001 (VBLS a.F.) die Lohnsteuer nach der Steuerklasse I/0 zugrunde gelegt. Der Beschwerdeführer begründete am 23. November 2001 eine eingetragene Lebenspartnerschaft, worüber er die VBL erstmals mit Schreiben vom 8. Oktober 2006 unterrichtete. Im Jahre 2011 beantragte er eine Neuberechnung seiner Rente rückwirkend ab dem Zeitpunkt seiner Verpartnerung. Die VBL leistete eine Nachzahlung für den Zeitraum ab dem auf die Mitteilung über die Verpartnerung folgenden Monat, lehnte dies aber für den Zeitraum vor der Mitteilung ab. 3 2. Die Klage des Beschwerdeführers auf eine höhere Zusatzrente für den Zeitraum vor der Mitteilung seiner Verpartnerung blieb in allen Instanzen ohne Erfolg. Der Bundesgerichtshof führte aus, die eingetragene Lebenspartnerschaft des Beschwerdeführers müsse wie eine Ehe behandelt und für die Berechnung der Zusatzrente daher die für Ehepaare günstigere Steuerklasse III/0 zugrunde gelegt werden. Dies gelte jedoch erst ab der Mitteilung der Verpartnerung gegenüber der VBL, denn § 56 Abs. 1 Satz 4 VBLS a.F. setze einen diesbezüglichen Antrag voraus, der in der Mitteilung aus dem Jahr 2006 liege. Diese Anforderung verstoße nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG, denn § 56 Abs. 1 Satz 4 VBLS a.F. gelte für verheiratete und verpartnerte Personen gleichermaßen. Die VBL sei nicht verpflichtet gewesen, den Beschwerdeführer vor der Mitteilung im Jahr 2006 darauf hinzuweisen, dass er die Neuberechnung beantragen müsse. 4 3. Der Beschwerdeführer rügt insbesondere eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes aus Art. 3 Abs. 1 GG durch das Antragserfordernis des § 56 Abs. 1 Satz 4 VBLS a.F. 5 4. Die Akten der Ausgangsverfahren lagen vor. Das Bundesverfassungsgericht hat unter anderem dem Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz sowie den Beteiligten der Ausgangsverfahren Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Die VBL als Beklagte des Ausgangsverfahrens meint, eine verfassungskonforme Auslegung des § 56 Abs. 1 Satz 4 VBLS a.F., wonach auf das Antragserfordernis verzichtet werden müsse und sich die rückwirkende Neuberechnung der Betriebsrente auf die Zeit bis zur Begründung der eingetragenen Lebenspartnerschaft erstrecke, sei nicht geboten. Die Gleichstellung mit der Ehe gebiete es vielmehr, auf den Antrag abzustellen. Es sei verständigen Versicherten schon seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 17. Juli 2002 im Normenkontrollverfahren über das „Gesetz zur Beendigung der Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Gemeinschaften: Lebenspartnerschaften“ (BVerfGE 105, 313) ersichtlich gewesen, dass sich die eingetragene Lebenspartnerschaft hin zu einem mit der Ehe vergleichbaren Rechtsinstitut entwickle. Die VBL selbst habe erst mit dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 7. Juli 2009 (BVerfGE 124, 199) Kenntnis erlangt, dass die unterschiedliche Behandlung der eingetragenen Lebenspartnerschaft mit der Ehe eine ungerechtfertigte Diskriminierung darstelle und sodann ihre Versicherten davon unterrichtet. II. 6 Die Kammer nimmt die zulässige Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung des als verletzt gerügten Rechts des Beschwerdeführers auf Gleichbehandlung gemäß Art. 3 Abs. 1 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Diese Entscheidung kann von der Kammer getroffen werden, weil die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden sind. Die Verfassungsbeschwerde ist danach zulässig und offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). 7 1. Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden. Der Fall betrifft die Anwendung des allgemeinen Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 129, 49 <68 f.>; 130, 240 <252 ff.>) aufgrund der Ungleichbehandlung wegen der sexuellen Orientierung (vgl. BVerfGE 124, 199 <218 ff.>; 133, 377 <407 ff. Rn. 73 ff.>). 8 2. Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet. Die angegriffenen Urteile verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG, soweit sie im Zeitraum vor November 2006 einen Anspruch auf Neuberechnung der Rente unter Verweis auf den fehlenden Antrag verneinen. 9 a) Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln sowie wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Verboten ist daher auch ein gleichheitswidriger Begünstigungsausschluss, bei dem eine Begünstigung einem Personenkreis gewährt, einem anderen Personenkreis aber vorenthalten wird (vgl. BVerfGE 133, 377 <407 Rn. 73>; stRspr). Dabei gilt ein stufenloser, am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab, dessen Inhalt und Grenzen sich nicht abstrakt, sondern nur nach den jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereichen bestimmen lassen (vgl. BVerfGE 129, 49 <69>; stRspr). Je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen reicht er vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse (vgl. BVerfGE 133, 377 <407 Rn. 74>; stRspr). Die Anforderungen verschärfen sich umso mehr, je weniger die Merkmale für Einzelne verfügbar sind oder je mehr sie sich den in Art. 3 Abs. 3 GG ausdrücklich benannten Merkmalen annähern (vgl. BVerfGE 129, 49 <69>). Eine strengere Bindung des Gesetzgebers kann sich auch aus den jeweils betroffenen Freiheitsrechten ergeben (vgl. BVerfGE 130, 240 <254>; stRspr). 10 b) Für die Prüfung, ob ein hinreichend gewichtiger Differenzierungsgrund vorliegt, der eine Ungleichbehandlung von Verheirateten und eingetragenen Lebenspartnern zu rechtfertigen vermag, gilt danach ein strenger Maßstab, da die Ungleichbehandlung von Menschen in einer Ehe und in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft an das personenbezogene Merkmal der sexuellen Orientierung anknüpft (vgl. BVerfGE 124, 199 <219 ff.>). Der Beschwerdeführer erhält hier für einen bestimmten Zeitraum keine Rentennachzahlung, weil er keinen Antrag gestellt hat, was wiederum darauf beruht, dass er nicht verheiratet war, sondern in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft lebte. Zudem betrifft die Ungleichbehandlung Freiheitsrechte, soweit Rentenforderungen vom Schutz des Eigentums im Sinne von Art. 14 GG umfasst sind (vgl. BVerfGE 83, 201 <209>; 112, 93 <107>; 115, 97 <110 f.>). 11 c) Die uneingeschränkte Anwendung des § 56 Abs. 1 Satz 4 VBLS a.F. auf verpartnerte Versicherte jedenfalls im Zeitraum vor dem 7. Juli 2009 hat den Beschwerdeführer in nicht gerechtfertigter Weise benachteiligt. Die angegriffenen Urteile haben insoweit die Anforderungen aus Art. 3 Abs. 1 GG an die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts verkannt. 12 aa) Die Gerichte gehen im Ausgangspunkt zutreffend davon aus, dass verpartnerte Versicherte in Bezug auf die bei der Berechnung der Zusatzrente heranzuziehende Steuerklasse in gleicher Weise zu begünstigen sind wie verheiratete Versicherte. Weder der in Art. 6 Abs. 1 GG verankerte besondere Schutz der Ehe (vgl. BVerfGE 131, 239 <259 ff.>; 133, 377 <413 ff. Rn. 90 ff.>) noch die im Steuerrecht bestehende Typisierungsbefugnis (vgl. BVerfGE 133, 377 <420 ff. Rn. 101 ff.>) rechtfertigt eine Differenzierung zwischen den Instituten der Ehe und der eingetragenen Lebenspartnerschaft. Wird die Lebenspartnerschaft wie die Ehe behandelt, gilt damit auch für verpartnerte Versicherte grundsätzlich das Antragserfordernis aus § 56 Abs. 1 Satz 4 VBLS a.F. 13 bb) Die Gerichte haben jedoch verkannt, dass eine formal gleiche Anwendung einer Bestimmung auf Lebenssachverhalte, die in diskriminierender Weise ungleich geregelt waren, diese Diskriminierung fortschreiben kann. Die Anwendung des § 56 Abs. 1 Satz 4 VBLS a.F. auf verpartnerte Versicherte im Zeitraum vor dem 7. Juli 2009 ist insofern verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen; sie verstößt gegen Art. 3 Abs. 1 GG. 14 (1) Die Anwendung des Antragserfordernisses nach § 56 Abs. 1 Satz 4 VBLS a.F. auf verheiratete und verpartnerte Versicherte im Zeitraum vor Juli 2009 bewirkt eine Ungleichbehandlung. Zwar scheint es formal gleich, sowohl verheiratete als auch verpartnerte Anspruchsberechtigte an das Antragserfordernis zu binden. Tatsächlich war die Situation der Betroffenen jedoch in dem hier streitigen Zeitraum in einer Weise unterschiedlich, dass die formale Gleichbehandlung tatsächlich eine Ungleichbehandlung in der Sache bewirkt. Im Unterschied zu Eheleuten konnten verpartnerte Versicherte im fraglichen Zeitraum nach damals geltendem Recht nicht erkennen, dass sie ebenso wie Eheleute einen Antrag hätten stellen müssen, um von der für Eheleute positiven Regelung zu profitieren. Tatsächlich galt die Regelung zum Antragserfordernis für sie nicht nur nach dem Wortlaut nicht, weil – soweit hier von Interesse – eine Rentenberechnung auf Grundlage der günstigeren Steuerklasse III/0 nur für verheiratete Versorgungsrentenberechtigte vorgesehen war. Zudem waren die Rechtsprechung und auch die Fachliteratur damals mehrheitlich der Auffassung, eine Gleichstellung zugunsten des Beschwerdeführers mit der Ehe sei nicht geboten. Der Bundesgerichtshof selbst hatte im Jahr 2007 entschieden, die Ungleichbehandlung zwischen Ehe und Lebenspartnerschaft in den Regeln der VBL verstoße nicht gegen höherrangiges Recht (BGH, Urteil vom 14. Februar 2007 - IV ZR 267/04 -, juris). Für verpartnerte Versicherte bestand daher keine hinreichende Veranlassung, zur Rechtswahrung einen Antrag nach § 56 Abs. 1 Satz 4 VBLS zu stellen oder der VBL ihre Verpartnerung anzuzeigen. 15 Geändert hat sich dies erst mit dem Beschluss des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 7. Juli 2009 (BVerfGE 124, 199). Erst ab diesem Zeitpunkt war für verpartnerte Versicherte erkennbar, dass sie ebenso wie Eheleute einen Antrag stellen müssen, um von den daraus folgenden positiven Berechnungsfolgen zu profitieren. Damit war ihnen ab diesem Zeitpunkt auch abzuverlangen, gegebenenfalls wie verheiratete Versicherte einen Antrag auf Neuberechnung zu stellen. Demgegenüber konnten verheiratete Versicherte aufgrund der Satzungsregelungen in § 41 Abs. 2c VBLS a.F. und § 56 Abs. 1 Satz 4 VBLS a.F. auch vor 2009 ohne Schwierigkeit erkennen, dass sie einen Anspruch auf Neuberechnung der Rente nach einer günstigeren Lohnsteuerklasse haben und zur Durchsetzung desselben einen Antrag stellen müssen. 16 (2) Die danach vorliegende Ungleichbehandlung ist verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt. Es ist insbesondere nicht ersichtlich, dass ohne Erstreckung des Antragserfordernisses nach § 56 Abs. 1 Satz 4 VBLS a.F. auf verpartnerte Versicherte auch im Zeitraum vor dem 7. Juli 2009 eine mehr als nur geringfügige finanzielle Zusatzbelastung der VBL zu befürchten wäre. 17 (3) Aus der Feststellung des Verstoßes gegen das Gleichbehandlungsgebot folgt grundsätzlich die Verpflichtung, die Rechtslage rückwirkend verfassungsgemäß umzugestalten (vgl. BVerfGE 130, 263 <312 f.>; 131, 239 <265>; stRspr; zur VBL-Satzung vgl. BVerfGK 18, 401 <413>). 18 (a) Von diesem Grundsatz kann nur ausnahmsweise abgewichen werden. Das betrifft im Interesse verlässlicher Finanz- und Haushaltsplanung haushaltswirtschaftlich bedeutsame Normen (vgl. BVerfGE 93, 121 <148>; 105, 73 <134>; 117, 1 <70>; 125, 175 <258>) sowie den Fall, in dem die Verfassungsrechtslage nicht hinreichend geklärt war und dem Gesetzgeber deshalb eine angemessene Frist zur Schaffung einer Neuregelung zu gewähren ist (vgl. BVerfGE 125, 175 <258>). Zudem kann einer rückwirkenden Heilung von Verfassungsverstößen im Bereich der Beamtenbesoldung entgegenstehen, dass im Beamtenverhältnis eine Pflicht zu gegenseitiger Rücksichtnahme zwischen Beamten und Dienstherrn besteht und die Alimentation der Sache nach einen gegenwärtigen Bedarf aus gegenwärtig zur Verfügung stehenden Haushaltsmitteln befriedigen soll und damit auf diejenigen beschränkt werden kann, die ihren Alimentationsanspruch zeitnah gerichtlich geltend gemacht haben (vgl. BVerfGE 81, 363 <384 f.>). Der hier zu entscheidende Fall liegt so nicht. 19 (b) Eine auf den Zeitpunkt der Einführung des Instituts der eingetragenen Lebenspartnerschaft (vgl. BVerfGE 126, 400 <431>; 132, 179 <193 Rn. 45>; 133, 377 <423 Rn. 107>) zurückwirkende Gleichbehandlung verpartnerter und verheirateter Personen im Zeitraum vor dem 7. Juli 2009 lässt sich nur erreichen, indem auf einen entsprechenden Antrag hin, der entweder – wie hier – bereits vor dem 7. Juli 2009 oder zeitnah danach gestellt wurde, eine Rentenanpassung auch rückwirkend erfolgt. Der Beschwerdeführer kann deshalb eine Neuberechnung seiner Versorgungsrente unter Zugrundelegung der Lohnsteuerklasse III/0 rückwirkend auf den Zeitpunkt der Begründung seiner eingetragenen Lebenspartnerschaft verlangen. 20 Verstoßen Allgemeine Versicherungsbedingungen – wie hier in Form der Satzung der VBL – gegen Art. 3 Abs. 1 GG, so bewirkt dies nach der verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Rechtsprechung der Zivilgerichte die (teilweise) Unwirksamkeit der betroffenen Klausel. Hierdurch entstehende Regelungslücken können im Wege ergänzender Vertragsauslegung geschlossen werden (vgl. BVerfGE 124, 199 <233 f.>; BVerfGK 18, 401 <412 f.>; BGHZ 174, 127 <175 ff.>). Dies führt hier zur Nichtanwendung des Erfordernisses eines vorherigen Antrags nach § 56 Abs. 1 Satz 4 VBLS a.F. auf verpartnerte Versicherte vor dem 7. Juli 2009. Der Gleichheitsverstoß lässt sich nachträglich nur auf diese Weise beheben. Dies entspricht auch dem hypothetischen Willen sowohl der VBL als auch der Tarifvertragsparteien, die eingetragenen Lebenspartnern die Möglichkeit einer rückwirkenden Rentenanpassung ermöglicht hätten, wären sie sich des hier festgestellten Gleichheitsverstoßes bewusst gewesen. 21 Der Beschwerdeführer hat deshalb einen Anspruch auf Neuberechnung seiner Versorgungsrente rückwirkend auf den Zeitpunkt der Begründung seiner eingetragenen Lebenspartnerschaft im Jahr 2001. Er hat mit Schreiben vom 8. Oktober 2006 und somit bereits deutlich vor dem 7. Juli 2009 der VBL mitgeteilt, dass er eine eingetragene Lebenspartnerschaft begründet hatte. Sowohl die VBL als auch die von dem Beschwerdeführer angerufenen Fachgerichte haben diese Mitteilung in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise als Antrag im Sinne von § 56 Abs. 1 Satz 4 VBLS a.F. verstanden. 22 Der VBL ist, wie der Bundesgerichtshof zutreffend ausführt, hier nicht vorzuwerfen, sie habe sich treuwidrig verhalten oder es pflichtwidrig unterlassen, verpartnerte Versicherte, anders als potentiell betroffene Frauen nach der Entscheidung über die Berücksichtigung von Zeiten des gesetzlichen Mutterschutzes (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 28. April 2011 - 1 BvR 1409/10 -), über die Möglichkeit einer Antragstellung umfassend informiert zu haben. Die VBL durfte ebenso wie der Beschwerdeführer damals auch aufgrund des Standes der Rechtsprechung (vgl. BGH, Urteil vom 14. Februar 2007 - IV ZR 267/04 -, juris, Rn. 14; BVerfG, Beschluss der Ersten Kammer des Zweiten Senats vom 6. Mai 2008 - 2 BvR 1830/06 -, Rn. 13) davon ausgehen, dass verpartnerte Versicherte keine Zusatzrenten erhalten würden. Daraus folgt jedoch nicht, dass der aus der damaligen Ungleichbehandlung zwischen Ehe und Lebenspartnerschaft entstandene Nachteil für die Betroffenen fortgeschrieben werden dürfte. 23 Die zeitlich uneingeschränkte Nichtanwendung des § 56 Abs. 1 Satz 4 VBLS a.F. auf verpartnerte Versicherte hat schließlich auch keine ungerechtfertigte Begünstigung der verpartnerten Versicherten zur Folge. Findet die Bestimmung auf sie keine Anwendung, erhalten sie zwar anders als verheiratete Versicherte auch rückwirkend für einen Zeitraum vor Antragstellung eine Rentennachzahlung. Verheiratete Versicherte konnten jedoch zur gleichen Zeit ohne weiteres erkennen, dass ein solcher Anspruch auf Rentenneuberechnung bestand, und ihnen war ohne weiteres zumutbar, zur Rechtswahrung einen solchen Antrag zu stellen. 24 3. Daneben bedürfen die weiteren von dem Beschwerdeführer erhobenen Rügen keiner Entscheidung. III. 25 1. Es ist festzustellen, dass die angegriffenen Entscheidungen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG verletzen (§ 93c Abs. 2, § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Nach § 93c Abs. 2 BVerfGG in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG ist das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 10. September 2014 aufzuheben und die Sache an den Bundesgerichtshof zurückzuverweisen. 26 2. Die Anordnung der Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG. 27 Diese Entscheidung ist unanfechtbar. Harbarth Baer Ott
bundesverfassungsgericht
67-2023
12. Juli 2023
Wahlprüfungsbeschwerde: Beitritt des Deutschen Bundestages unzulässig, Ablehnungsgesuch gegen Richter Müller gegenstandslos Pressemitteilung Nr. 67/2023 vom 12. Juli 2023 Beschluss vom 05. Juli 20232 BvC 4/23 Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts den Beitritt des Deutschen Bundestages zum Wahlprüfungsbeschwerdeverfahren der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag betreffend das Wahlgeschehen im Land Berlin anlässlich der Wahl zum 20. Deutschen Bundestag am 26. September 2021 für unzulässig und den damit verbundenen Befangenheitsantrag gegen Richter Müller für gegenstandslos erklärt. Mit ihrer Wahlprüfungsbeschwerde wendet sich die CDU/CSU-Fraktion gegen den Beschluss des Deutschen Bundestages vom 10. November 2022, mit dem die Bundestagswahl am 26. September 2021 in 431 Wahlbezirken des Landes Berlin für ungültig erklärt wurde und die behandelten Wahleinsprüche im Übrigen zurückgewiesen oder verworfen wurden. Die mündliche Verhandlung findet am 18. und 19. Juli 2023 statt (vgl. Pressemitteilung Nr. 60/2023 vom 22. Juni 2023). In diesem Verfahren hatte der Deutsche Bundestag erklärt, dem Verfahren beizutreten, und den Richter des Bundesverfassungsgerichts Müller wegen Befangenheit abzulehnen. Der Beitritt des Deutschen Bundestages ist unzulässig. Es fehlt an einer gesetzlichen Regelung des Beitritts im Wahlprüfungsbeschwerdeverfahren gemäß § 48 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG). Eine analoge Anwendung sonstiger Beitrittsregelungen des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes kommt wegen des Fehlens sowohl einer unbeabsichtigten Regelungslücke als auch vergleichbarer Tatbestände nicht in Betracht. Es ist auch aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht angezeigt, einen Beitritt im Wahlprüfungsbeschwerdeverfahren zuzulassen, da es an einem dahingehenden offenkundigen Bedürfnis fehlt. Gegenstand der Wahlprüfungsbeschwerde ist die objektive Überprüfung der Entscheidung des Bundestages. Daher entsteht keine kontradiktorische Verfahrenssituation, in der dem Urheber der angegriffenen Entscheidung die Möglichkeit einzuräumen wäre, diese als Verfahrensbeteiligter zu verteidigen. Mangels zulässigen Beitritts und weil eine Entscheidung über die Besorgnis der Befangenheit eines Richters von Amts wegen nicht zulässig ist, war eine solche Entscheidung mit Blick auf Richter Müller nicht veranlasst. Als Urheber des angegriffenen Beschlusses vom 10. November 2022 ist und bleibt der Deutsche Bundestag jedoch an dem Verfahren beteiligt.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT - 2 BvC 4/23 - Bundestagswahl Berlin - Beitrittserklärung IM NAMEN DES VOLKES In dem Verfahren über die Wahlprüfungsbeschwerde der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, vertreten durch den Justiziar Ansgar Heveling, MdB, Platz der Republik 1, 11011 Berlin, - Bevollmächtigter: (…) - gegen den Beschluss des Deutschen Bundestages vom 10. November 2022, mit dem die dritte Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsausschusses zu Einsprüchen anlässlich der Wahl zum 20. Deutschen Bundestag am 26. September 2021 - Drucksache 20/4000 - angenommen wurde hier:  Erklärung des Beitritts des Deutschen Bundestages und Antrag auf Ablehnung des Richters Müller wegen Befangenheit hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat - unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter Vizepräsidentin König, Müller, Kessal-Wulf, Langenfeld, Wallrabenstein, Fetzer, Offenloch am 5. Juli 2023 beschlossen: Der Beitritt des Deutschen Bundestages ist unzulässig. Der Antrag auf Ablehnung des Richters Müller ist gegenstandslos. Gründe: A. I. 1 1. Am 26. September 2021 fand die Wahl zum 20. Deutschen Bundestag statt. Im Land Berlin wurden zugleich die Wahlen zum 19. Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksverordnetenversammlungen abgehalten sowie über den Volksentscheid der Initiative „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ abgestimmt. Beim Deutschen Bundestag gingen in der Folge 2.199 Wahleinsprüche gegen die Bundestagswahl ein. Über diese hat der Deutsche Bundestag in den Sitzungen vom 7. April 2022, 7. Juli 2022, 10. November 2022, 30. März 2023 und vom 22. Juni 2023 entschieden (vgl. BT-Plenarprotokoll 20/28 vom 7. April 2022, S. 2427 <D>; BT-Plenarprotokoll 20/47 vom 7. Juli 2022, S. 4907 <C>; BT-Plenarprotokoll 20/66 vom 10. November 2022, S. 7656 <A>, Ergebnis: S. 7672 <B>; BT-Plenarprotokoll 20/94 vom 30. März 2023, S. 11274 <D>; BT-Plenarprotokoll 20/112 vom 22. Juni 2023, S. 13712 <A>). 2 2. In einem Interview im Rahmen des „F.A.Z. Einspruch Podcast“ vom 5. Oktober 2022 äußerte sich Richter Müller unter anderem zu Fragen im Zusammenhang mit dem Berliner Wahlgeschehen. II. 3 1.713 der beim Deutschen Bundestag eingelegten Wahleinsprüche betrafen ausschließlich oder teilweise das Berliner Wahlgeschehen. Auf der Grundlage der dritten Beschlussempfehlung und des Berichts des Wahlprüfungsausschusses vom 7. November 2022 (vgl. BTDrucks 20/4000) hat der Bundestag über diese Wahleinsprüche mit Beschluss vom 10. November 2022 entschieden (vgl. BT-Plenarprotokoll 20/66 vom 10. November 2022, S. 7656 <A>, Ergebnis: S. 7672 <B>). Dabei wurde die Bundestagswahl in 431 Berliner Wahlbezirken für ungültig erklärt; sie soll in diesen Wahlbezirken wiederholt werden. Der Bundestag hat festgestellt, dass 327 Wahlbezirke mandatsrelevant fehlerbehaftet seien, die über die jeweiligen Briefwahlbezirke mit weiteren 104 nicht fehlerbehafteten Wahlbezirken verbunden seien. Die Beschwerdeführerin begründete in der Beschlussempfehlung ihr abweichendes Stimmverhalten und stimmte im Plenum gegen den Beschluss. Gegen den Beschluss des Deutschen Bundestages hat sie Wahlprüfungsbeschwerde erhoben. III. 4 Mit Urteil vom 16. November 2022 erklärte der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin die Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksverordnetenversammlungen für ungültig (vgl. Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin, Urteil vom 16. November 2022 - VerfGH 154/21 -). Als Tag der Wiederholungswahl wurde in der Folge der 12. Februar 2023 bestimmt. 5 Den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen die Wiederholungswahl lehnte das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 25. Januar 2023 ab (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 25. Januar 2023 - 2 BvR 2189/22 -). IV. 6 1. Die Beschwerdeführerin hat die Aufhebung des Beschlusses des Deutschen Bundestages und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Gültigkeit der Wahl sowie über die Folgen ihrer Ungültigkeit beantragt. Die Wahlprüfungsbeschwerde zielt darauf ab, die Wahl jedenfalls in den Wahlkreisen 76 und 77 vollständig sowie in den Wahlkreisen 75, 79, 80 und 83 als Einstimmenwahl (nur Zweitstimme) wiederholen zu lassen. 7 2. Mit Schreiben der Vorsitzenden des Zweiten Senats vom 14. Februar 2023 ist dem Deutschen Bundestag, dem Bundesrat, der Bundesregierung, dem Bundesministerium des Innern und für Heimat, dem Bundesministerium der Justiz, der Bundeswahlleiterin, dem Landeswahlleiter des Landes Berlin und den im 20. Deutschen Bundestag vertretenen Parteien Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden. 8 3. Von dieser Gelegenheit hat der Deutsche Bundestag mit Schriftsatz vom 29. März 2023 Gebrauch gemacht. Darin wird neben inhaltlichen Ausführungen der Beitritt des Deutschen Bundestages zu dem Verfahren erklärt und der Richter Müller wegen der Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. 9 a) Grundlage der Erklärung des Beitritts sei eine Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses (vgl. BTDrucks 20/6013), dem Verfahren beizutreten, die der Deutsche Bundestag mit Beschluss vom 16. März 2023 angenommen habe (vgl. BT-Plenarprotokoll 20/91, S. 10899). Danach sei der Beitritt zulässig, ohne dass er in den gesetzlichen Regelungen zur Wahlprüfung ausdrücklich vorgesehen sei, zumal er die verfahrensrechtliche Stellung der anderen Beteiligten nicht verschlechtere. 10 aa) Der Beitritt sei im Gesetz über das Bundesverfassungsgericht schon für kontradiktorische Verfahren nicht einheitlich geregelt; er sei diesen Verfahren auch nicht vorbehalten, wie die bei Verfassungsbeschwerden geltende Regelung zeige. Das Bundesverfassungsgericht habe vor diesem Hintergrund im Rahmen eines Zwischenländerstreits entschieden, den Beitritt bei einem „offenkundigen Bedürfnis“ zuzulassen (unter Bezugnahme auf BVerfGE 42, 103 <118>). Zudem sei auf eine Entscheidung aus dem Jahr 1968 zu verweisen, als § 94 Abs. 5 BVerfGG den Beitritt im Verfassungsbeschwerdeverfahren noch nicht geregelt habe (BVerfGE 24, 33 <44 f.>). Demgegenüber habe das Bundesverfassungsgericht den Beitritt im Falle von Normenkontrollverfahren verweigert, wenn das Fehlen eines eigenen Antragsrechts durch einen Beitritt unterlaufen werden sollte (unter Bezugnahme auf BVerfGE 68, 346 <348 ff.>; 156, 1 <4 ff. Rn. 11 ff.> – Parteienfinanzierung - Beitritt zur abstrakten Normenkontrolle <AfD-Abgeordnete>). Insgesamt werde der Beitritt sehr unterschiedlich gehandhabt. Erkennen ließen sich weder Konturen eines einheitlichen Verständnisses dieses Rechtsinstituts noch verallgemeinerungsfähige Kriterien für die Frage, ob ein Beitritt möglich sein solle oder nicht. 11 bb) Das Wahlprüfungsverfahren nach § 48 BVerfGG sei nur fragmentarisch geregelt. Dies gelte etwa mit Blick auf den Rechtsfolgenausspruch und das Verhältnis zur Verfassungsbeschwerde. Es wäre befremdlich, vom Schweigen des § 48 BVerfGG darauf zu schließen, dass sich zu dem Verfahren außer dem Beschwerdeführer selbst niemand äußern könne. Vielmehr sei insoweit ein „besonderer richterrechtlicher Ergänzungsbedarf“ festzustellen. 12 cc) Der Deutsche Bundestag wolle im Wahlprüfungsbeschwerdeverfahren lediglich seine eigene Entscheidung gegen einen Angriff verteidigen und nicht etwas angreifen, wofür er nicht zuständig sei. Ihm sei die Aufgabe der Wahlprüfung nach Art. 41 Abs. 1 Satz 1 GG verfassungsunmittelbar zugewiesen. Das Bundesverfassungsgericht dürfe seine Befugnisse im Rahmen der Wahlprüfung daher nur unter Beteiligung des Bundestages ausüben. Da § 48 BVerfGG kein Äußerungsrecht vorsehe, ginge eine strenge Bindung an den Wortlaut zulasten der verfassungsrechtlich vorgesehenen Aufgabenverteilung zwischen Bundestag und Bundesverfassungsgericht. Es stünde dann im freien Ermessen des Gerichts, ob und wozu sich der Bundestag im Wahlprüfungsbeschwerdeverfahren äußern könne. 13 dd) Jedenfalls in der vorliegenden Konstellation, in der eine Fraktion als Parlamentsminderheit gegen die Mehrheit vorgehe, sei der Beitritt des Bundestages gerechtfertigt. Die Ablehnung der Mehrheitsentscheidung im Bundestag setze sich im verfassungsgerichtlichen Verfahren fort. Die notwendige prozessuale Waffengleichheit innerhalb des Bundestages könne hier nur dadurch erreicht werden, dass ein Verfahrensbeitritt des von der Mehrheit beherrschten Bundestages zugelassen werde. Die Situation sei vergleichbar mit derjenigen des Organstreitverfahrens und der Möglichkeit für die Parlamentsmehrheit, ihren Standpunkt in diesem Verfahren zu vertreten. 14 b) Der Deutsche Bundestag sei folglich auch zur Ablehnung des Richters Müller wegen Besorgnis der Befangenheit berechtigt. Mit dem Beitritt sei der Bundestag Verfahrensbeteiligter, könne Sachanträge stellen und Prozesshandlungen vornehmen. Dies schließe die Möglichkeit der Ablehnung des Richters Müller ein. Dessen Interviewäußerungen zum Berliner Wahlgeschehen stellten einen Befangenheitsgrund dar. Sollte der Senat den Beitritt nicht für zulässig erachten, rege der Deutsche Bundestag an, das Ablehnungsgesuch dennoch nach § 19 Abs. 1 BVerfGG zu bescheiden. B. 15 Der Beitritt des Deutschen Bundestages ist unzulässig. Es fehlt an einer gesetzlichen Regelung des Beitritts im Zusammenhang mit der Wahlprüfung nach § 48 BVerfGG (I.). Eine analoge Anwendung der Beitrittsregelungen des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BVerfGG) kommt nicht in Betracht (II.). Es ist auch aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht angezeigt, einen Beitritt im Wahlprüfungsbeschwerdeverfahren zuzulassen (III.), zumal dies zu einer zweckwidrigen Verzögerung des Verfahrens der Wahlprüfungsbeschwerde führen könnte (IV.). I. 16 Die gesetzliche Regelung des Wahlprüfungsbeschwerdeverfahrens gemäß Art. 41 Abs. 2 GG, § 48 BVerfGG sieht die Möglichkeit des Beitritts nicht vor. 17 1. Das Bundesverfassungsgerichtsgesetz regelt den Beitritt nur für einzelne, sowohl kontradiktorische als auch nicht kontradiktorische Verfahren (vgl. § 65 Abs. 1, § 69, § 82 Abs. 2, § 83 Abs. 2 Satz 2, § 88, § 94 Abs. 5 Satz 1 BVerfGG). Bei den kontradiktorischen Verfahren muss sich der Beitretende für die Seite des Antragstellers oder des Antragsgegners entscheiden, eine eigene dritte Position kann er nicht begründen (vgl. BVerfGE 12, 308 <310>; Walter, in: Walter/Grünewald, BeckOK BVerfGG, § 65 Rn. 4 <Juni 2023>). Bei einem Verfahren mit objektivem Beanstandungscharakter hingegen kann auf der Grundlage einer gesetzlichen Regelung dem Verfahren als solchem beigetreten werden. Die gesetzlichen Möglichkeiten des Beitritts sind dabei nicht Ausdruck eines allgemeinen Prinzips des Prozessrechts, welches es dem Gesetzgeber abverlangen würde, für gerichtliche Streitigkeiten generell eine Regelung zu treffen, wie eine Person oder Einrichtung, die nicht Partei oder Beteiligte eines gerichtlichen Verfahrens ist, zu einem oder einer Beteiligten werden kann (vgl. Bethge, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 65 Rn. 3a <Jan. 2022>). Die Möglichkeit des Beitritts zum Verfahren besteht daher grundsätzlich nur dann, wenn die einschlägige Verfahrensordnung dies ausdrücklich vorsieht. 18 2. Für das Wahlprüfungsverfahren ist die Möglichkeit des Beitritts gesetzlich nicht geregelt (vgl. Walter, in: Walter/Grünewald, BeckOK BVerfGG, § 48 Rn. 32 <Juni 2023>). Sie widerspräche dem Charakter des zweistufigen Verfahrens. Die Wahlprüfung ist dem Fall vergleichbar, dass die Entscheidung einer Eingangsinstanz durch ein Berufungs- oder Revisionsgericht überprüft wird. Dabei wird typischerweise die erste Instanz gerade nicht als eigenständiger Beteiligter in das zweitinstanzliche Verfahren einbezogen. Bei der Wahlprüfungsbeschwerde tritt zudem die Rolle des Beschwerdeführers gegenüber der objektiven Rechtsklärung in den Hintergrund (vgl. zum objektiven Charakter BVerfGE 34, 81 <96 f.>; Walter, in: Walter/Grünewald, BeckOK BVerfGG, § 48 Rn. 32 <Juni 2023>; Brade, NVwZ 2019, S. 1814 <1815>). 19 Daher kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Verzicht auf die Schaffung der Möglichkeit des Beitritts im Verfahren der Wahlprüfungsbeschwerde gemäß § 48 BVerfGG auf einer unbeabsichtigten Regelungslücke oder einem bloßen Redaktionsversehen des Gesetzgebers beruht. Dagegen spricht auch die Entstehungsgeschichte der Vorschrift. § 48 Abs. 1 Halbsatz 1 BVerfGG regelte in seiner bis zum 18. Juli 2012 geltenden Fassung eine eigene Form des „Beitritts“, indem er verlangte, dass der Beschwerde eines Wahlberechtigten, dessen Einspruch vom Bundestag verworfen wurde, mindestens einhundert Wahlberechtigte beitreten mussten (vgl. zur Begründung BTDrucks 17/9391, S. 10). Diese Regelung ist ersatzlos gestrichen worden. II. 20 Die Voraussetzungen einer analogen Anwendung der Beitrittsregelungen des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes liegen nicht vor. 21 1. Das Bundesverfassungsgerichtsgesetz eröffnet in § 65 Abs. 1, § 69, § 82 Abs. 2, § 83 Abs. 2, § 88, § 94 Abs. 5 Satz 1 BVerfGG nur selbst Antragsberechtigten und Verfassungsorganen die Möglichkeit, den jeweiligen Verfahren beizutreten (vgl. BVerfGE 156, 1 <5 Rn. 14>). Soweit das Beitrittsrecht dabei Verfassungsorganen eingeräumt wird, handelt es sich regelmäßig um solche, die gemäß § 77 BVerfGG mit einem gesetzlichen Äußerungsrecht ausgestattet sind. Ist ein solches nicht vorgesehen, steht einer analogen Anwendung der Beitrittsregelungen des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes bereits das Fehlen vergleichbarer Tatbestände entgegen (vgl. BVerfGE 156, 1 <5 Rn. 14>). 22 2. Eine eigene Antragsbefugnis oder ein gesetzliches Äußerungsrecht des Deutschen Bundestages kennt das Verfahren der Wahlprüfungsbeschwerde nicht. Daher ist vorliegend keine Ausgangslage gegeben, die den im Bundesverfassungsgerichtsgesetz geregelten Fällen des Beitritts vergleichbar wäre. Hinzu kommt, dass es sich bei der Wahlprüfungsbeschwerde um ein auf die Feststellung von Wahlfehlern gerichtetes objektives Verfahren handelt, in dem, soweit es einmal in Gang gesetzt ist, Anträge und Anregungen der Antragsteller nicht mehr erforderlich sind (vgl. BVerfGE 68, 346 <349 ff.>; 156, 1 <6 Rn. 16>). Demgemäß ist für eine analoge Anwendung der Beitrittsregelungen des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes in diesem Verfahren wegen des Fehlens sowohl einer unbeabsichtigten Regelungslücke als auch vergleichbarer Tatbestände kein Raum. III. 23 Die Eröffnung der Möglichkeit eines Beitritts im Wahlprüfungsbeschwerdeverfahren ist – entgegen der Auffassung des Deutschen Bundestages – auch nicht aus verfassungsrechtlichen Gründen geboten. 24 1. Das Bundesverfassungsgericht hat bei Auslegung und Anwendung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes die gegebene gesetzliche Verfahrensregelung ernst zu nehmen und bei etwaiger Ausfüllung von Gesetzeslücken Zurückhaltung walten zu lassen (vgl. Sauer, in: Walter/Grünewald, BeckOK BVerfGG, § 17 Rn. 7 <Juni 2023>). Demgemäß kommt die Zulassung eines Beitritts allenfalls bei Vorliegen eines aus verfassungsrechtlichen Gründen „offenkundigen Bedürfnisses“ in Betracht (vgl. BVerfGE 42, 103 <118>). 25 2. Daran fehlt es im Verfahren der Wahlprüfungsbeschwerde. 26 Dass ein Beitritt in diesem Verfahren nicht vorgesehen ist, entspricht dem objektivrechtlichen Charakter des Verfahrens, das zwar zweistufig ausgestaltet ist und als Maßstab nicht nur das Grundgesetz, sondern die Wahlrechtsordnung insgesamt heranzieht, zugleich aber der möglichst zeitnahen Feststellung der ordnungsgemäßen Zusammensetzung des Parlaments dient (vgl. BVerfGE 85, 148 <158>). 27 a) Gemäß Art. 41 Abs. 1 GG ist die Wahlprüfung zunächst Sache des Bundestages. Dessen Wahlprüfungsausschuss ist durch § 3 Abs. 1 Wahlprüfungsgesetz (WahlPrüfG) ermächtigt, die Entscheidung des Bundestages vorzubereiten. Seine Zusammensetzung und der Vorsitz sind gesetzlich vorgegeben (§ 3 Abs. 2 und 3 WahlPrüfG). Der Ausschuss hat eigene Ermittlungsmöglichkeiten und kann das Verfahren selbst gestalten. Auch wenn die Tätigkeit des Wahlprüfungsausschusses den Beschluss des Bundestages lediglich vorbereitet und sie nicht der Rechtsprechung zuzuordnen ist, so hat der Ausschuss doch eine gerichtsähnliche Funktion. Ihm obliegt es, den Sachverhalt aufzuklären, Wahlfehler festzustellen und sein Beratungsergebnis dem Bundestag zur Beschlussfassung vorzulegen. 28 b) Gegenstand der Wahlprüfungsbeschwerde ist die objektive Überprüfung der Entscheidung des Bundestages. Dabei kommt es nicht darauf an, ob eine Parlamentsminderheit oder − häufiger − wahlberechtigte Personen unter den Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Halbsatz 1 BVerfGG Wahlprüfungsbeschwerde erheben. Dadurch entsteht keine kontradiktorische Verfahrenssituation, in der dem Urheber der Ausgangsentscheidung die Möglichkeit einzuräumen wäre, diese als Beteiligter zu verteidigen. Die Parlamentsminderheit greift mit ihrem Antrag die Entscheidung der Parlamentsmehrheit nicht an, weil sie sich in ihren Rechten verletzt sieht. Sie wird nur als eine – privilegiert beschwerdeberechtigte – Entität tätig, die durch ihren Antrag das objektive Verfahren der Wahlprüfung durch das Bundesverfassungsgericht in Gang setzt. Aus der bloßen Betroffenheit einer Entscheidung des Deutschen Bundestages lässt sich nicht die Notwendigkeit für die Parlamentsmehrheit herleiten, im Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht mit eigenen Rechten ausgestatteter Verfahrensbeteiligter zu sein. Die vom Verfahrensbevollmächtigten insoweit angeführte „prozessuale Waffengleichheit“ setzt voraus, dass zwei Parteien sich miteinander in einem Rechtsstreit befinden und die Verfahrensordnung Vorsorge gegen ein Ungleichgewicht in dieser Auseinandersetzung treffen muss. Diese Konstellation ist vorliegend von vornherein nicht gegeben. 29 c) Deshalb fehlt es an einem aus verfassungsrechtlichen Vorgaben ableitbaren „offenkundigen Bedürfnis“ zur Zulassung des Beitritts im Verfahren der Wahlprüfungsbeschwerde. Das schließt jedoch nicht aus, dass in diesem Verfahren dem Deutschen Bundestag Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben wird. Vielmehr ist dies – nicht zuletzt zur Wahrung des Amtsermittlungsgrundsatzes – regelmäßig angezeigt. Demgemäß ist auch im vorliegenden Verfahren dem Deutschen Bundestag Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt worden. IV. 30 Schließlich spricht auch das Gebot der Verfahrensbeschleunigung in Wahlprüfungsverfahren gegen eine über das Gesetz hinausgehende Beitrittsmöglichkeit. 31 Mit der Zahl der förmlich am Wahlprüfungsbeschwerdeverfahren Beteiligten nehmen Komplexität und Dauer dieses Verfahrens zu. Dies steht jedoch im Widerstreit zu dem Zweck der Wahlprüfung, zügig über die ordnungsgemäße Zusammensetzung des Parlaments und die Wiederholung der Bundestagswahl zu entscheiden. Die Wahlprüfung ist ein Verfahren, welches zwar bei den Antragsberechtigen seinen Ausgang nimmt, im Übrigen aber vorrangig einem objektiven Interesse dient. Nur wenn die Wahl nicht für ungültig erklärt wird, wird gegebenenfalls die Verletzung subjektiver Rechte gesondert festgestellt (§ 48 Abs. 3 BVerfGG). Die Zulassung des Beitritts wäre dem Zweck des Verfahrens abträglich, möglichst zeitnah über die ordnungsgemäße Zusammensetzung des Parlaments zu entscheiden. C. 32 Der Deutsche Bundestag ist mangels zulässigen Beitritts oder anderweitiger Regelung, die ihn in den Stand eines Beteiligten versetzen würde, nicht berechtigt, einen Antrag nach § 19 BVerfGG zu stellen. Deshalb und weil eine Entscheidung über die Besorgnis der Befangenheit eines Richters von Amts wegen nicht zulässig ist, war eine solche Entscheidung mit Blick auf den Richter Müller nicht veranlasst (vgl. BVerfGE 46, 34 <37 ff.>; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 25. Januar 2023 - 2 BvR 2189/22 -, Rn. 101 – Wiederholungswahl Berlin - eA). D. 33 Diese Entscheidung ist im Ergebnis einstimmig ergangen. König Müller Kessal-Wulf Langenfeld Wallrabenstein Fetzer Offenloch
bundesverfassungsgericht
71-2020
11. August 2020
Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen die Versagung eines staats- und amtshaftungsrechtlichen Anspruchs in einem Altanschließerfall in Brandenburg Pressemitteilung Nr. 71/2020 vom 11. August 2020 Beschluss vom 01. Juli 20201 BvR 2838/19 Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts eine Verfassungsbeschwerde in einem Altanschließerfall in Brandenburg nicht zur Entscheidung angenommen. Die Verfassungsbeschwerde richtete sich gegen die Versagung eines staats- und amtshaftungsrechtlichen Anspruchs, der auf die Rückzahlung eines in der Vergangenheit gezahlten Beitrages für die Herstellung und Anschaffung einer öffentlichen Wasserversorgungsanlage gerichtet war. Das Brandenburgische Oberlandesgericht erachtete die Beitragsforderung als rechtmäßig. Zu diesem Ergebnis kam das Gericht, nachdem der Bundesgerichtshof im Revisionsverfahren das Landesrecht abweichend von der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Brandenburg ausgelegt hatte und sich nicht durch einen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2015 an der eigenständigen und abweichenden Auslegung gehindert sah. Das Oberlandesgericht schloss sich dieser Sichtweise an. Die Kammer entschied, dass in einem zivilgerichtlichen Rechtsstreit eine Verpflichtung der Gerichte, sich der hierzu ergangenen Rechtsprechung der Verwaltungsgerichtsbarkeit anzuschließen, weder einfach- noch verfassungsrechtlich besteht. Auch haben die Zivilgerichte in den angegriffenen Entscheidungen die Bindungswirkung einer Entscheidung der 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2015, welche gleichfalls die hier entscheidungserheblichen landesrechtlichen Vorschriften zum Gegenstand hatte, nicht in verfassungswidriger Weise missachtet. Sachverhalt: Die Beschwerdeführer sind Eigentümer eines in Brandenburg gelegenen Grundstücks, das vor dem 1. Januar 2000 an das kommunale Trinkwassernetz angeschlossen wurde. Unter Bezugnahme auf seine Beitragssatzung in Verbindung mit dem zu diesem Zeitpunkt gültigen § 8 Abs. Abs. 7 Satz 2 Kommunalabgabengesetz Brandenburg (KAG Bbg n. F.) setzte der Zweckverband im Jahr 2011 einen Anschlussbeitrag fest. Der dagegen eingelegte Widerspruch blieb erfolglos. Von einer Klageerhebung sahen die Beschwerdeführer ab und bezahlten die festgesetzte Summe. Die Beschwerdeführer erachteten ein Klageverfahren als nicht erfolgversprechend, nachdem die zwischenzeitlich in anderen Verfahren erfolgte Rechtsprechung davon ausgegangen war, dass § 8 Abs. 7 KAG Bbg n. F. verfassungsgemäß sei und insbesondere nicht gegen das Rückwirkungsverbot verstoße. Das Bundesverfassungsgericht kam jedoch in einem Kammerbeschluss aus dem Jahre 2015 zur Anwendung von § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg n. F. in Fällen, in denen Beiträge nach § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bgb a. F. nicht mehr erhoben werden könnten, zum entgegengesetzten Ergebnis. Demnach verstieß eine rückwirkende Änderung der Rechtslage durch den Gesetzgeber gegen das Rückwirkungsverbot und war verfassungswidrig. Daraufhin beantragten die Beschwerdeführer, ebenso wie eine Vielzahl weiterer Betroffener, erfolglos das Wiederaufgreifen des Verfahrens und die Rückzahlung des Betrages. Mit der anschließend erhobenen Klage vor den Zivilgerichten verlangten sie Ersatz des entrichteten Anschlussbeitrags auf der Grundlage eines staats- und amtshaftungsrechtlichen Anspruchs. Das Brandenburgische Oberlandesgericht wies die Klage im ersten Berufungsverfahren ab. Der Bundesgerichtshof hob dieses Urteil auf und verwies den Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurück, das die Klage daraufhin erneut abwies. Nach § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg n. F. entsteht eine Beitragspflicht frühestens mit dem Inkrafttreten der rechtswirksamen Satzung. In § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg a. F. fehlte das Wort "rechtswirksamen". Das Oberverwaltungsgericht Brandenburg legte diese Fassung des Gesetzes dahin aus, dass für das Entstehen der Beitragspflicht der Zeitpunkt des Erlasses der ersten Satzung mit formellem Geltungsanspruch maßgeblich war, unabhängig von ihrer materiellen Wirksamkeit. War diese Satzung materiell unwirksam, musste nach Auffassung des Oberverwaltungsgerichts eine spätere (wirksame) Satzung auf den Zeitpunkt des Erlasses der ersten unwirksamen Satzung zurückwirken. Dies hatte zur Folge, dass die Beitragspflicht wegen rückwirkender Festsetzungsverjährung gleich wieder erlosch. Dadurch war es in vielen Fällen von vornherein nicht möglich, Beiträge zu erheben. Dem wollte der Gesetzgeber durch die Neufassung des § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg mit Wirkung zum 1. Februar 2004 entgegenwirken, die seither eine rechtswirksame Satzung als Voraussetzung für das Entstehen der Beitragspflicht ausdrücklich vorsieht. Mit Beschluss vom 12. November 2015 - 1 BvR 2961/14 u. a. - entschied die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts jedoch, dass die Anwendung der Neufassung des § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg auf Fallgestaltungen, in denen unter Zugrundelegung der oberverwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung zur früheren Fassung der Norm Verjährung bereits eingetreten war, zu einer verfassungsrechtlich unzulässigen Rückwirkung führe. Der Bundesgerichtshof entschied demgegenüber, dass der an die Beschwerdeführer gerichtete Beitragsbescheid nicht deswegen rechtswidrig sei, weil die Beitragsforderung infolge von Verjährung nicht mehr hätte geltend gemacht werden dürfen. Entgegen der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Brandenburg setze auch schon die alte Fassung von § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg für das Entstehen der Beitragspflicht und damit für den Beginn der Festsetzungsverjährung das Inkrafttreten einer rechtswirksamen Satzung voraus. Der die Beschwerdeführer belastende Beitragsbescheid halte sich auch innerhalb der durch § 19 Abs. 1 Satz 1 KAG Bbg vorgegebenen zeitlichen Obergrenze für den Vorteilsausgleich. Danach dürften Anschlussbeiträge ungeachtet der Satzungslage nach Vollendung des 15. Kalenderjahres, das auf den Eintritt der tatsächlichen Vorteilslage folgt, nicht mehr erhoben werden, wobei der Lauf der Frist bis zum 3. Oktober 2000 gehemmt sei und Beiträge damit erst ab dem 3. Oktober 2015 nicht mehr festgesetzt werden dürften. Die Beschwerdeführer machen im Verfassungsbeschwerdeverfahren insbesondere geltend, das Brandenburgische Oberlandesgericht und der Bundesgerichtshof setzten sich in verfassungsrechtlich unzulässiger Weise über die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 12. November 2015 - 1 BvR 2961/14 u. a. -) und des Oberverwaltungsgerichts Brandenburg hinweg. Die angegriffenen Entscheidungen verstießen daher gegen Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG sowie gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Wesentliche Erwägungen der Kammer: Die Verfassungsbeschwerde ist teilweise unzulässig, im Übrigen unbegründet. I. Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, soweit sich die Beschwerdeführer gegen das Urteil des Bundesgerichtshofs wenden. Es mangelt an der erforderlichen Beschwerdebefugnis. Die Beschwerdeführer werden durch diese Entscheidung nicht unmittelbar in ihren im Verfassungsbeschwerdeverfahren rügefähigen Rechten betroffen. In deren Rechtsstellung wird angesichts des Erfolgs ihrer Revision und der damit verbundenen Rückverweisung erst durch das erneut klageabweisende Urteil des Oberlandesgerichts eingegriffen. II. Soweit die Beschwerdeführer das Urteil des Oberlandesgerichts angreifen, ist die Verfassungsbeschwerde unbegründet. 1. Die Beschwerdeführer werden nicht in ihrem Grundrecht auf Rechtssicherheit und Vertrauensschutz nach Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzt. a) Das Oberlandesgericht hat die sich aus § 31 Abs. 1 BVerfGG ergebende Bindungswirkung des Kammerbeschlusses vom 12. November 2015 - 1 BvR 2961/14 u. a. - nicht in verfassungswidriger Weise missachtet. Zwar ging das Bundesverfassungsgericht in seinem Kammerbeschluss vom 12. November 2015 - 1 BvR 2961/14 u. a. - von einer konstitutiven Änderung der Rechtslage durch § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg n. F. aus. Zu diesem Ergebnis ist das Gericht jedoch nur vor dem Hintergrund gelangt, dass § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg a. F. von den Verwaltungsgerichten vertretbar in einem Sinn ausgelegt wurde, der mit der Neuregelung ausgeschlossen werden sollte. Insofern war es dem Oberlandesgericht (und auch dem Bundesgerichtshof) nicht verwehrt, eine andere methodisch vertretbare Auslegung von § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg a. F. vorzunehmen. Das Oberlandesgericht hat sich in der Sache den Ausführungen des Bundesgerichtshofs angeschlossen und eine eigenständige, von den Verwaltungsgerichten abweichende Auslegung des § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg a. F. vorgenommen. Verfassungsrechtlich ist diese Auslegung nicht zu beanstanden. Das Oberlandesgericht war auch nicht verpflichtet, sich der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Brandenburg anzuschließen. Zudem hätten es die Beschwerdeführer unterlassen, den Rechtsschutz der Verwaltungsgerichte anzurufen. b) Die zugleich angegriffene Regelung in § 19 Abs. 1 Satz 3 KAG Bbg verstößt nicht gegen das Gebot der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes. Das Rechtsstaatsprinzip schützt in seiner Ausprägung als Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit davor, dass lange zurückliegende und abgeschlossene Vorgänge unbegrenzt zur Anknüpfung neuer Lasten herangezogen werden können. Der Gesetzgeber ist bei der Erhebung von Beiträgen verpflichtet, Verjährungsregelungen zu treffen oder jedenfalls im Ergebnis sicherzustellen, dass Beiträge nicht unbegrenzt nach Erlangung des Vorteils festgesetzt werden können. Dabei steht ihm ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Sowohl die in § 19 Abs. 1 Satz 3 KAG Bbg geregelte Hemmung der Frist infolge der Deutschen Einheit als auch die aus § 19 Abs. 1 Satz 1 und 3 KAG Bbg resultierende Maximalfrist von 25 Jahren halten sich in Anbetracht der Sondersituation der neuen Länder und angesichts des in die Zukunft fortwirkenden Vorteils eines Anschlusses an Trinkwasserversorgungs- und Abwasserbeseitigungsanlagen noch im Rahmen gesetzgeberischer Einschätzung. 2. Die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts verstößt auch nicht gegen das sich aus Art. 3 Abs. 1 GG ergebende Willkürverbot. Die Auslegung von § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg a. F. durch die Zivilgerichte erscheint zwar nicht zwingend. Die Grenze zur Willkür ist jedoch nicht überschritten. Auch der Umstand, dass das Oberlandesgericht der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Brandenburg nicht gefolgt ist, begründet nicht den Vorwurf eines Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT - 1 BvR 2838/19 - In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde 1.der Frau S…, 2.des Herrn S…, - Bevollmächtigte: … - 1.unmittelbar gegen a) das Urteil des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 19. November 2019 - 2 U 21/17 -, b) das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 27. Juni 2019 - III ZR 93/18 -, 2.mittelbar gegen § 19 Absatz 1 Satz 3 des Kommunalabgabengesetzes für das Land Brandenburg in der Fassung der Bekanntmachung vom 31. März 2004 (GVBl I S. 174), zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 19. Juni 2019 (GVBl I Nr. 36) hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Richter Masing, Paulus, Christ gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 1. Juli 2020 einstimmig beschlossen: Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. G r ü n d e: 1 Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Versagung eines staats- und amtshaftungsrechtlichen Anspruchs. Die Beschwerdeführer begehren im Ergebnis die Rückzahlung eines in der Vergangenheit gezahlten Beitrages für die Herstellung und Anschaffung der öffentlichen Wasserversorgungsanlage in einem Altanschließerfall. Sie machen insbesondere geltend, das Brandenburgische Oberlandesgericht und der Bundesgerichtshof setzten sich in verfassungsrechtlich unzulässiger Weise über die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 12. November 2015 - 1 BvR 2961/14 u.a. -) und des Oberverwaltungsgerichts Brandenburg (vgl. nur das Urteil vom 8. Juni 2000 - 2 D 29/98.NE -) hinweg. Der Bundesgerichtshof vertrete in der Frage der „Altanschließer“ eine andere Auffassung als das Bundesverfassungsgericht, was ihm − ebenso wie anderen Zivilgerichten − nach § 31 BVerfGG verwehrt sei. Die angegriffenen Entscheidungen verstießen daher gegen Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG sowie gegen Art. 3 Abs. 1 GG. 2 Die Verfassungsbeschwerde bleibt ohne Erfolg. Sie ist teilweise unzulässig (1.), im Übrigen unbegründet (2.). 3 1. Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, soweit sich die Beschwerdeführer gegen das Urteil des Bundesgerichtshofs wenden. Es mangelt an der erforderlichen Beschwerdebefugnis. 4 a) aa) Die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde setzt nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG die Behauptung des Beschwerdeführers voraus, durch einen Akt der öffentlichen Gewalt in seinen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt zu sein (Beschwerdebefugnis). Richtet sich eine Verfassungsbeschwerde gegen gerichtliche Entscheidungen, kann sich die Beschwer in aller Regel nur aus dem Tenor der Entscheidung ergeben (sog. Erfordernis der Tenorbeschwer); er allein bestimmt verbindlich, welche Rechtsfolgen aufgrund des festgestellten Sachverhalts eintreten (vgl. BVerfGE 28, 151 <160>; 140, 42 <54 Rn. 48>; stRspr). Erforderlich ist eine Beschwer im Rechtssinne; eine faktische Beschwer allein genügt nicht (vgl. BVerfGE 8, 222 <224 f.>; 15, 283 <286>). Rechtsausführungen sowie nachteilige oder als nachteilig empfundene Ausführungen in den Gründen einer Entscheidung allein begründen keine Beschwer. Dieser im Verfahrensrecht allgemein anerkannte Rechtsgrundsatz gilt auch für die Verfassungsbeschwerde, da sie in erster Linie dem Rechtsschutz des Einzelnen gegenüber der Staatsgewalt dient. Deshalb kann eine Verfassungsbeschwerde nicht darauf gestützt werden, dass ein Gericht lediglich in den Gründen seiner Entscheidung eine Rechtsauffassung vertreten hat, die der Beschwerdeführer für grundrechtswidrig erachtet (vgl. BVerfGE 8, 222 <224 f.>; 140, 42 <54 f. Rn. 48>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 20. November 2018 - 1 BvR 1502/16 -, Rn. 8 f.). 5 bb) Nur in eng begrenzten Ausnahmefällen hat das Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerden gegen die allein in den Gründen einer gerichtlichen Entscheidung liegende Belastung für möglich gehalten (vgl. BVerfGE 140, 42 <55 f. Rn. 50 ff.>; dazu auch EGMR, Cleve v. Deutschland, Urteil vom 15. Januar 2015 - 48144/09 -, NJW 2016, S. 3225 <3226 Rn. 34 ff.>). Liegt − wie hier − keiner dieser Ausnahmefälle vor, dann kommt eine Beschwerdebefugnis nur unter Anwendung der allgemeinen Grundsätze bei eigener, gegenwärtiger und unmittelbarer Betroffenheit in Betracht. Diese ist bei einer Verfassungsbeschwerde gegen gerichtliche Entscheidungen zwar grundsätzlich gegeben, so dass sie in der Regel keiner näheren Prüfung bedarf. Eine nähere Prüfung dieser Voraussetzungen ist demgegenüber geboten, wenn sich die Beschwer − wie vorliegend − aus anderen Umständen als dem für den Beschwerdeführer eigentlich günstigen Tenor ergeben soll (vgl. BVerfGE 140, 42 <56 Rn. 54> und zuletzt BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 20. November 2018 - 1 BvR 1502/16 -, Rn. 7, 10 ff.). 6 Unmittelbarkeit setzt voraus, dass die Einwirkung auf die Rechtsstellung des Betroffenen nicht erst vermittels eines weiteren Akts bewirkt werden darf oder vom Ergehen eines solchen Akts abhängig ist. Soweit das Bundesverfassungsgericht dazu Grundsätze anhand von Verfassungsbeschwerden gegen Rechtsnormen entwickelt hat, gelten diese auch für Verfassungsbeschwerden gegen gerichtliche Entscheidungen (vgl. BVerfGE 53, 30 <48>; 140, 42 <58 Rn. 60>). Bei Rechtssatzverfassungsbeschwerden muss eine Vorschrift − ohne dass es eines weiteren Vollzugsaktes bedarf − in den Rechtskreis des Beschwerdeführers dergestalt einwirken, dass etwa konkrete Rechtspositionen unmittelbar kraft Gesetzes zu einem dort festgelegten Zeitpunkt erlöschen oder eine zeitlich oder inhaltlich genau bestimmte Verpflichtung begründet wird, die bereits spürbare Rechtsfolgen mit sich bringt (vgl. BVerfGE 53, 366 <389>; 140, 42 <58 Rn. 61>). 7 b) Hier mangelt es bereits an einer hinreichenden Darlegung der Unmittelbarkeit in der Verfassungsbeschwerdeschrift (§§ 92, 23 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 BVerfGG). In die Rechtsstellung der Beschwerdeführer wird angesichts des Erfolgs ihrer Revision und der damit verbundenen Rückverweisung an das Oberlandesgericht erst durch das Ergehen des erneut klageabweisenden Urteils des Oberlandesgerichts eingegriffen. Eine unmittelbare Betroffenheit durch das Urteil des Bundesgerichtshofs besteht daher nicht. 8 Eine andere Auffassung ist auch nicht vor dem Hintergrund der sich aus § 563 Abs. 2 ZPO ergebenden Bindungswirkung der Entscheidung des Bundesgerichtshofs für das Berufungsgericht gerechtfertigt. Mit ihr gingen zwar durchaus mittelbare Folgen für das weitere zivilgerichtliche Verfahren der Beschwerdeführer einher. Dass durch das den Beschwerdeführern im Tenor günstige Urteil des Bundesgerichtshofs bereits konkrete Rechtspositionen erlöschen oder eine zeitlich oder inhaltlich genau bestimmte Verpflichtung begründet würden, die bereits spürbare Rechtsfolgen mit sich brächten (vgl. BVerfGE 140, 42 <58 Rn. 61>), kann hier allerdings nicht angenommen werden. Denn die Entscheidung des Oberlandesgerichts hing nicht ausschließlich von der (möglicherweise bindenden) Auslegung von § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg a.F. durch den Bundesgerichtshof ab, sondern − wie sich an den Gründen der Aufhebung des ersten Berufungsurteils zeigt − auch von weiteren rechtlichen Voraussetzungen. 9 2. Auch im Hinblick auf das angegriffene Urteil des Oberlandesgerichts bleibt die Verfassungsbeschwerde ohne Erfolg. Sie ist unbegründet. Es liegt kein Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG vor. Insbesondere erweist sich der mittelbar angegriffene § 19 Abs. 1 Satz 3 KAG Bbg als verfassungsgemäß (a). Darüber hinaus ist das Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG) nicht verletzt (b). 10 a) Die Beschwerdeführer werden nicht in ihrem Grundrecht auf Rechtssicherheit und Vertrauensschutz (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG) verletzt. Weder hat das Oberlandesgericht die sich aus § 31 Abs. 1 BVerfGG ergebende Bindungswirkung verkannt, noch war es an der Auslegung von Landesrecht gehindert, noch musste es der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Brandenburg zu § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg a.F. folgen (aa). Die bestehenden Auslegungsdivergenzen zwischen den Gerichtsbarkeiten verstoßen auch nicht gegen Vertrauensschutzgesichtspunkte (bb). Ebenso wenig verstößt die mittelbar angegriffene Regelung des § 19 Abs. 1 Satz 3 KAG Bbg gegen das Gebot der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes (cc). 11 aa) Das Oberlandesgericht hat die sich aus § 31 Abs. 1 BVerfGG ergebende Bindungswirkung des Kammerbeschlusses vom 12. November 2015 (- 1 BvR 2961/14 u.a. -) nicht in verfassungswidriger Weise missachtet. Ein Verstoß gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes liegt nicht vor. 12 (1) (a) Rechtssicherheit und Vertrauensschutz gewährleisten im Zusammenwirken mit den Grundrechten die Verlässlichkeit der Rechtsordnung als wesentliche Voraussetzung für die Selbstbestimmung über den eigenen Lebensentwurf und seinen Vollzug (vgl. BVerfGE 60, 253 <267 f.>; 63, 343 <357>; 132, 302 <317 Rn. 41>; 133, 143 <158 Rn. 41>). Die Bürgerinnen und Bürger sollen die ihnen gegenüber möglichen staatlichen Eingriffe voraussehen und sich dementsprechend einrichten können. Dabei knüpft der Grundsatz des Vertrauensschutzes an berechtigtes Vertrauen in bestimmte Regelungen an. Er besagt, dass sie sich auf die Fortwirkung bestimmter Regelungen in gewissem Umfang verlassen dürfen (vgl. BVerfGE 13, 261 <271>; 63, 215 <223>; 133, 143 <158 Rn. 41>). 13 (b) Besonderer Bedeutung kommt dabei der Bindungswirkung des § 31 Abs. 1 BVerfGG zu, die im Interesse des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit die Verbindlichkeit der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vorsieht − darunter fallen auch stattgebende Kammerbeschlüsse nach § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 15. Dezember 2004 - 1 BvR 2495/04 -, Rn. 11; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 5. Dezember 2005 - 2 BvR 1964/05 -, Rn. 73; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 27. Januar 2006 - 1 BvQ 4/06 -, Rn. 29). § 31 BVerfGG bindet alle Gerichte im Geltungsbereich des Gesetzes generell an die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Soweit das Bundesverfassungsgericht eine Gesetzesbestimmung für nichtig oder für gültig erklärt, hat seine Entscheidung nach § 31 Abs. 2 BVerfGG Gesetzeskraft. Aber auch in anderen Fällen entfalten die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG eine über den Einzelfall hinausgehende Bindungswirkung insofern, als die sich aus dem Tenor und den tragenden Gründen der Entscheidung ergebenden Grundsätze für die Auslegung der Verfassung von den Gerichten in allen künftigen Fällen beachtet werden müssen (vgl. BVerfGE 19, 377 <391 f.>; 40, 88 <93>). 14 Durch § 31 BVerfGG sind alle Gerichte auch daran gehindert, eine verfassungswidrige Normauslegung weiterhin einer Entscheidung zugrunde zu legen. Tun sie es dennoch, so verstoßen sie gegen Art. 20 Abs. 3 GG und verletzen die Betroffenen in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 5. Dezember 2005 - 2 BvR 1964/05 -, Rn. 73; vgl. auch BVerfGE 40, 88 <94>; 42, 258 <260>; 115, 97 <108>; hierzu auch BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 5. Mai 1987 - 2 BvR 104/87 -, Rn. 41 [Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 GG im Verwaltungsprozess]). 15 (c) Das Bundesverfassungsgericht entscheidet im Falle rückwirkenden Rechts allein über die Verfassungsmäßigkeit der Rückwirkung, nicht über die verbindliche Auslegung des einfachen Rechts, das der Gesetzgeber rückwirkend ändern wollte (vgl. BVerfGE 135, 1 <18 f. Rn. 52 ff.>). Hält das Bundesverfassungsgericht die auf der fachgerichtlichen Auslegung des einfachen Rechts basierende Rückwirkung für verfassungswidrig, ist es weiterhin der Fachgerichtsbarkeit aufgegeben, den Inhalt der alten Rechtslage durch Auslegung zu klären. Die weitere, insbesondere höchstrichterliche Auslegung durch die Fachgerichte kann ergeben, dass die Norm gerade so zu verstehen ist, wie es der Gesetzgeber nachträglich feststellen wollte. Dies bleibt jedoch eine Frage der Auslegung geltenden Rechts, die nicht dem Gesetzgeber, sondern der Gerichtsbarkeit und dabei in erster Linie der Fachgerichtsbarkeit obliegt (vgl. BVerfGE 135, 1 <18 f. Rn. 54>). 16 (2) Danach verstößt die Entscheidung des Oberlandesgerichts nicht gegen die sich aus § 31 Abs. 1 BVerfGG ergebende Bindungswirkung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. 17 (a) Den Beschwerdeführern ist zwar dahingehend zuzustimmen, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Kammerbeschluss vom 12. November 2015 (- 1 BvR 2961/14 u.a. -) − im Gegensatz zum Bundesgerichtshof und dem Oberlandesgericht − von einer konstitutiven Änderung der Rechtslage durch § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg n.F. ausging (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 12. November 2015 - 1 BvR 2961/14 u.a. -, Rn. 47). Zu diesem Ergebnis ist das Gericht jedoch nur vor dem Hintergrund gelangt, dass § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg a.F. von den Gerichten − konkret dem Oberverwaltungs-gericht Brandenburg − in einem Sinn ausgelegt wurde, der mit der Neuregelung ausgeschlossen werden sollte (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 12. November 2015 - 1 BvR 2961/14 u.a. -, Rn. 49 f.). 18 Insofern war es dem Oberlandesgericht (und auch dem Bundesgerichtshof) nicht verwehrt, eine andere methodisch vertretbare Auslegung von § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg a.F. vorzunehmen. Da sich das Oberlandesgericht wie der Bundesgerichtshof auf die Auslegung des einfachen Rechts beschränkt hat, kommt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts diesbezüglich keine Bindungswirkung zu. Es hatte selbst keine verfassungskonforme Auslegung des § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg a.F. vorgenommen, sondern an der plausiblen fachgerichtlichen Auslegung des Landesrechts durch die dafür zuständigen Landesverwaltungsgerichte angeknüpft. 19 (b) Das Oberlandesgericht hat sich in der Sache den Ausführungen des Bundesgerichtshofs angeschlossen und eine eigenständige, von den Verwaltungsgerichten abweichende Auslegung des § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg a.F. vorgenommen. Verfassungsrechtlich ist diese Auslegung nicht zu beanstanden, auch wenn es sich vorliegend um die Auslegung von Landesrecht handelte, das bereits Gegenstand der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Brandenburg gewesen ist, zu der die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts im Widerspruch steht. 20 Das Oberlandesgericht war nicht verpflichtet, sich der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Brandenburg anzuschließen, ohne dass es auf die Frage ankommt, inwieweit diese Möglichkeit vor dem Hintergrund der Bindungswirkung nach § 563 Abs. 2 ZPO überhaupt bestand. Die erfolgte Abweichung von der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Brandenburg mag zwar die Rechtseinheit und damit die Rechtssicherheit beeinträchtigen. Eine Verpflichtung des Oberlandesgerichts, der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Brandenburg zur Auslegung von Landesrecht zu folgen, besteht jedoch grundsätzlich weder einfach- noch verfassungsrechtlich (vgl. auch BVerfGE 75, 329 <346>). Die Rechtspflege ist aufgrund der Unabhängigkeit der Richter (Art. 97 GG) konstitutionell uneinheitlich. Vor diesem Hintergrund konnten die Beschwerdeführer nicht erwarten, dass sich das Oberlandesgericht die Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Brandenburg zu § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg a.F. automatisch zu eigen macht (zum verfassungsrechtlichen Anspruch auf ein faires Verfahren vgl. auch BVerfGE 78, 123 <126>). 21 Eine rechtswegübergreifende Bindung an die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Brandenburg kann zwar nach § 121 VwGO in Betracht kommen. Die Rechtskraftwirkung nach § 121 VwGO bindet allerdings in persönlicher Hinsicht nur die Beteiligten des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens oder ihre Rechtsnachfolger und ist sachlich auf den Streitgegenstand beschränkt. Hier sind weder die Beschwerdeführer mit den Beteiligten in den Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht Brandenburg identisch noch liegt derselbe Streitgegenstand vor. Vielmehr haben es die Beschwerdeführer unterlassen, um verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz nachzusuchen. 22 bb) Dies führt zwar zu einer Auslegungsdivergenz zwischen den Gerichtsbarkeiten und damit einer der Rechtssicherheit durchaus abträglichen Konstellation. Ein subjektiv-rechtlich geschütztes Vertrauen auf Auslegungsübereinstimmung über einen Gerichtszweig hinweg, der im Falle des Staatshaftungsrechts zu einer ständigen Korrespondenz der Gerichte auf der Primär- und Sekundärebene des Rechtsschutzes führt, kann Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip aber nicht entnommen werden. Das folgt nicht zuletzt aus Art. 95 Abs. 3 Satz 1 GG, der einen Gemeinsamen Senat eigens zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung nur zwischen den obersten Gerichtshöfen vorsieht. Dass vorliegend auf diesem Wege keine Einheitlichkeit der Rechtsprechung hergestellt werden kann, beruht allein darauf, dass dem Bundesverwaltungsgericht als Revisionsgericht eine Prüfung des Kommunalabgabengesetzes des Landes Brandenburg als Landesrecht gemäß § 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO entzogen ist. 23 cc) Auch soweit die Beschwerdeführer mittelbar § 19 Abs. 1 Satz 3 KAG Bbg angreifen, erweist sich die Verfassungsbeschwerde als unbegründet. § 19 Abs. 1 Satz 3 KAG Bbg ist verfassungsgemäß und verstößt insbesondere nicht gegen das Gebot der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes. 24 (1) Das Rechtsstaatsprinzip schützt in seiner Ausprägung als Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit davor, dass lange zurückliegende, in tatsächlicher Hinsicht abgeschlossene Vorgänge unbegrenzt zur Anknüpfung neuer Lasten herangezogen werden können. Als Elemente des Rechtsstaatsprinzips sind Rechtssicherheit und Vertrauensschutz eng miteinander verbunden, da sie gleichermaßen die Verlässlichkeit der Rechtsordnung gewährleisten (BVerfGE 133, 143 <158 Rn. 41>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 21. Juli 2016 - 1 BvR 3092/15 -, Rn. 6). 25 Auch für die Erhebung von Beiträgen, die einen einmaligen Ausgleich für die Erlangung eines Vorteils durch Anschluss an eine Einrichtung schaffen sollen, ist der Gesetzgeber verpflichtet, Verjährungsregelungen zu treffen oder jedenfalls im Ergebnis sicherzustellen, dass Beiträge nicht unbegrenzt nach Erlangung des Vorteils festgesetzt werden können. Die Legitimation von Beiträgen liegt − unabhängig von der gesetzlichen Ausgestaltung ihres Wirksamwerdens − in der Abgeltung eines Vorteils, der den Betreffenden zu einem bestimmten Zeitpunkt zugekommen ist. Je weiter dieser Zeitpunkt bei der Beitragserhebung zurückliegt, desto mehr verflüchtigt sich die Legitimation zur Erhebung solcher Beiträge. Zwar können dabei die Vorteile auch in der Zukunft weiter fortwirken und tragen nicht zuletzt deshalb eine Beitragserhebung auch noch relativ lange Zeit nach Anschluss an die entsprechende Einrichtung. Jedoch verliert der Zeitpunkt des Anschlusses, zu dem der Vorteil, um dessen einmalige Abgeltung es geht, dem Beitragspflichtigen zugewendet wurde, deshalb nicht völlig an Bedeutung. Der Bürger würde sonst hinsichtlich eines immer weiter in die Vergangenheit rückenden Vorgangs dauerhaft im Unklaren gelassen, ob er noch mit Belastungen rechnen muss. Dies ist ihm im Lauf der Zeit immer weniger zumutbar. Der Grundsatz der Rechtssicherheit gebietet vielmehr, dass ein Vorteilsempfänger in zumutbarer Zeit Klarheit darüber gewinnen kann, ob und in welchem Umfang er die erlangten Vorteile durch Beiträge ausgleichen muss (BVerfGE 133, 143 <159 f. Rn. 45>). 26 Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, die berechtigten Interessen der Allgemeinheit am Vorteilsausgleich und der Einzelnen an Rechtssicherheit durch entsprechende Gestaltung von Verjährungsbestimmungen zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen. Dabei steht ihm ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Der Grundsatz der Rechtssicherheit verbietet es dem Gesetzgeber jedoch, die berechtigten Interessen des Bürgers völlig unberücksichtigt zu lassen und ganz von einer Regelung abzusehen, die der Erhebung der Abgabe eine bestimmte zeitliche Grenze setzt (BVerfGE 133, 143 <160 Rn. 46>). 27 Es bleibt dem Gesetzgeber überlassen, wie er eine zeitliche Obergrenze für die Inanspruchnahme der Beitragsschuldner gewährleistet, die den Grundsätzen der Rechtssicherheit genügt. So könnte er etwa eine Verjährungshöchstfrist vorsehen, wonach der Beitragsanspruch nach Ablauf einer auf den Eintritt der Vorteilslage bezogenen, für den Beitragsschuldner konkret bestimmbaren Frist verjährt. Er könnte auch das Entstehen der Beitragspflicht an die Verwirklichung der Vorteilslage anknüpfen oder den Satzungsgeber verpflichten, die zur Heilung des Rechtsmangels erlassene wirksame Satzung rückwirkend auf den Zeitpunkt des vorgesehenen Inkrafttretens der ursprünglichen nichtigen Satzung in Kraft zu setzen, sofern der Lauf der Festsetzungsverjährung damit beginnt. Er kann dies mit einer Verlängerung der Festsetzungsfrist, Regelungen der Verjährungshemmung oder der Ermächtigung zur Erhebung von Vorauszahlungen auch in Fällen unwirksamer Satzungen verbinden (BVerfGE 133, 143 <161 f. Rn. 50>). 28 (2) Die mittelbar angegriffene Regelung des § 19 Abs. 1 Satz 3 KAG Bbg steht mit diesen Maßstäben im Einklang, sowohl was die Hemmung der Frist infolge der Deutschen Einheit (a), als auch die hieraus resultierende Maximalfrist von 25 Jahren anbelangt (b). 29 (a) Die gesetzgeberische Intention für § 19 Abs. 1 Satz 3 KAG Bbg lag in der einmaligen Hemmung des Fristablaufs aufgrund der Sondersituation nach der Wiederherstellung der Deutschen Einheit. Dem Land und den Kommunen sollte eine zehnjährige Schonfrist zum Aufbau ihrer Verwaltungen und zur Sammlung von Erfahrungen eingeräumt werden. Dies berücksichtige die umfassenden Transformationsaufgaben und die dabei auftretenden Schwierigkeiten beim Aufbau einer funktionierenden kommunalen Selbstverwaltung, bei der Gründung von Zweckverbänden und bei der Lösung des Altanschließerproblems sowie des Erlasses wirksamen Satzungsrechts in einem neuen Land wie dem Land Brandenburg (vgl. LTDrucks 5/7642, S. 10 f.). 30 Die besonderen Unwägbarkeiten im Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung hat das Bundesverfassungsgericht bereits in unterschiedlichen Kontexten gewürdigt und dabei den gesetzgeberischen Einschätzungsspielraum anerkannt (vgl. BVerfGE 95, 1 <23 f.>; 95, 267 <313>; 148, 69 <119 Rn. 122>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 26. Juli 1993 - 1 BvR 504/93 -, Rn. 9 f.; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 24. September 1997 - 1 BvR 647/91 -, Rn. 43). Die Argumentation der Beschwerdeführer, in Wahrheit sei von einer Beitragserhebung gegenüber „altangeschlossenen Grundstücken“ zunächst nicht aufgrund struktureller oder organisatorischer Defizite, sondern allein aus politischen Gründen abgesehen worden, vermag diese gesetzgeberisch legitimen Erwägungen nicht in Zweifel zu ziehen. Sie betrifft die Beweggründe von Kommunalverwaltungen, lässt aber keine Rückschlüsse auf einen nur vorgeschobenen Willen des Gesetzgebers zu. Dieser hielt sich mit seinen Erwägungen in dem ohnehin weiten Gestaltungsspielraum, der ihm im Bereich der Beitragserhebung zum Ausgleich von Vorteilen zukommt (vgl. BVerfGE 133, 143 <160 Rn. 46>). 31 (b) Auch die Tatsache, dass die Beitragserhebung aufgrund des Zusammenspiels von Satz 1 und 3 des § 19 Abs. 1 KAG Bbg bis zu 25 Jahre nach dem Entstehen der Vorteilslage beziehungsweise bis zum Ablauf des 31. Dezembers 2015 möglich war, stellt keinen Verstoß gegen das Gebot der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes dar. 32 (aa) Die verfassungsgerichtlichen Ausführungen, wonach ein Zustand kritisch zu sehen sei, in dem die Verjährung „unter Umständen erst Jahrzehnte nach dem Eintritt einer beitragspflichtigen Vorteilslage beginnen“ kann (BVerfGE 133, 143 <161 Rn. 47>), sind im Kontext der konkreten Entscheidung zu lesen. Dort hatte sich der bayerische Gesetzgeber für ein Modell entschieden, bei dem sich der Verjährungsbeginn ohne zeitliche Obergrenze nach hinten verschieben ließ. Mit der Formulierung wurde auf die potentiell unbegrenzte Dauer der Ungewissheit für Betroffene hingewiesen; eine absolute Obergrenze wurde damit nicht ausgesprochen. Im Gegenteil weist die Entscheidung gerade auf die gesetzgeberische Option einer Verjährungshemmung hin (vgl. BVerfGE 133, 143 <161 f. Rn. 50>). 33 Ob die in jedem Fall notwendige zeitliche Obergrenze adäquat bemessen ist, stellt eine primär dem Gesetzgeber überantwortete Frage dar, wobei dieser einen weiten Einschätzungsspielraum hinsichtlich des Ausgleichs zwischen allgemeinen Interessen und dem Interesse der in Anspruch zu nehmenden Bürgerinnen und Bürger hat. Je weiter aber der anspruchsbegründende Zeitpunkt bei der Beitragserhebung zurückliegt, desto mehr verflüchtigt sich die Legitimation zur Erhebung solcher Beiträge (BVerfGE 133, 143 <159 f. Rn. 45>). 34 (bb) Die Möglichkeit einer Beitragserhebung über insgesamt 25 Jahre hält sich in Anbetracht der Sondersituation der neuen Länder und angesichts des in die Zukunft fortwirkenden Vorteils eines Anschlusses an Trinkwasserversorgungs- und Abwasserbeseitigungsanlagen noch im Rahmen gesetzgeberischer Einschätzung. Eine verfassungsrechtlich nicht mehr hinnehmbare Entscheidung einseitig zu Lasten der Beitragsschuldner (vgl. BVerfGE 133, 143 <157 f. Rn. 40>) liegt § 19 Abs. 1 KAG Bbg damit nicht zugrunde, zumal aus § 18 Satz 1 KAG Bbg folgt, dass diese Vorschrift nur für Nachwendeinvestitionen Anwendung findet. § 19 Abs. 1 KAG Bbg stellt auch keine unzulässige Rückwirkungsentscheidung des brandenburgischen Gesetzgebers dar. 35 b) Die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts verstößt auch nicht gegen das sich aus Art. 3 Abs. 1 GG ergebende Willkürverbot. 36 aa) Die Auslegung des Gesetzes und seine Anwendung auf den konkreten Fall sind zwar Sache der dafür zuständigen Gerichte und daher der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich entzogen; ein verfassungsrechtliches Eingreifen gegenüber den Entscheidungen der Fachgerichte kommt allerdings unter dem Gesichtspunkt der Verletzung des Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) in seiner Bedeutung als Willkürverbot in Betracht (vgl. BVerfGE 74, 102 <127>; stRspr). Ein solcher Verstoß gegen das Willkürverbot liegt bei gerichtlichen Entscheidungen nicht schon dann vor, wenn die Rechtsanwendung Fehler enthält, sondern erst dann, wenn die Entscheidung bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruht (vgl. BVerfGE 4, 1 <7>; 87, 273 <278 f.>; stRspr). 37 bb) Die Auslegung von § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg a.F. durch die Zivilgerichte erscheint zwar nicht zwingend. Die Grenze zur Willkür im Sinne vorgenannter Maßstäbe ist jedoch nicht überschritten. 38 Auch der Umstand, dass das Oberlandesgericht der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Brandenburg nicht gefolgt ist, begründet nicht den Vorwurf eines Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Beruht die abweichende Entscheidung verschiedener Behörden oder Gerichte zu denselben Rechtsvorschriften auf einer verschiedenartigen Rechtsauslegung, so liegt darin grundsätzlich noch keine Verletzung des Grundrechts der Gleichheit vor dem Gesetz. Willkür im Sinne der genannten Maßstäbe ist hier nicht erkennbar. 39 Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen. 40 Diese Entscheidung ist unanfechtbar. Masing Paulus Christ
bundesverfassungsgericht
98-2021
24. November 2021
Zeitlich unbegrenzte Erhebung von Erschließungsbeiträgen nach Eintritt der Vorteilslage mit dem Grundgesetz unvereinbar Pressemitteilung Nr. 98/2021 vom 24. November 2021 Beschluss vom 03. November 20211 BvL 1/19 Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass § 3 Abs. 1 Nr. 4 des Kommunalabgabengesetzes Rheinland-Pfalz (KAG RP) mit Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Rechtssicherheit (Art. 20 Abs. 3 GG) insoweit unvereinbar ist, als danach Erschließungsbeiträge nach dem Eintritt der Vorteilslage zeitlich unbegrenzt erhoben werden können. Die Beitragspflichten verjähren in Rheinland-Pfalz zwar vier Jahre nach Entstehung des Abgabeanspruchs. Der Beginn der Festsetzungsfrist knüpft damit allerdings nicht an den Eintritt der Vorteilslage an, weil die Entstehung des Abgabeanspruchs von zusätzlichen Voraussetzungen abhängt. So bedarf es unter anderem einer öffentlichen Widmung der Erschließungsanlage, die erst nach tatsächlicher Fertigstellung der Anlage erfolgen kann. Die tatsächliche Vorteilslage und die Beitragserhebung können somit zeitlich weit auseinanderfallen. Dies verstößt gegen das Rechtsstaatsprinzip in seiner Ausprägung als der Rechtssicherheit dienendes Gebot der Belastungsklarheit und ‑vorhersehbarkeit. Der Landesgesetzgeber ist verpflichtet, bis zum 31. Juli 2022 eine verfassungsgemäße Regelung zu treffen. Sachverhalt: Der Kläger des Ausgangsverfahrens, der Eigentümer mehrerer Grundstücke in Rheinland-Pfalz ist, wendet sich gegen die Erhebung von Erschließungsbeiträgen für die Herstellung einer Straße. In den Jahren 1985/1986 wurde die an die Grundstücke des Klägers angrenzende Straße vierspurig mit einer Länge von knapp 200 Metern gebaut. 1991 zog die Stadt den Kläger zu Vorausleistungen auf den Erschließungsbeitrag heran. Die zunächst vorgesehene vierspurige Fortführung der Straße wurde 1999 endgültig aufgegeben. Die Straße wurde stattdessen in den Jahren 2003/2004 zweispurig weitergebaut und in ihrer vollen Länge 2007 als Gemeindestraße gewidmet. Die Stadt setzte daraufhin für die hier maßgeblichen Flurstücke Erschließungsbeiträge fest. Dabei brachte sie die vom Kläger gezahlten Vorausleistungen in Abzug. Nachdem das Verwaltungsgericht zunächst zwei Bescheide aufhob, setzte die Stadt die beanstandeten Beitragsbescheide 2011 neu fest und erhob für ein einzelnes Flurstück einen Nacherhebungsbeitrag. Die dagegen gerichtete Klage blieb vor Verwaltungs- und Oberverwaltungsgericht überwiegend erfolglos. Die Beitragspflicht sei erst mit Widmung der Straße im Jahr 2007 entstanden. Die vierjährige Festsetzungsfrist sei somit erst am 31. Dezember 2011 abgelaufen, also nach Erlass der angefochtenen Bescheide. Sie sei auch nicht nach Treu und Glauben ausgeschlossen. Auf die Revision des Klägers setzte das Bundesverwaltungsgericht das Verfahren aus und legte dem Bundesverfassungsgericht die Frage zur Entscheidung vor, ob § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG RP in Verbindung mit § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, § 170 Abs. 1 AO mit Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit in seiner Ausprägung als Gebot der Belastungsklarheit und ‑vorhersehbarkeit (Art. 20 Abs. 3 GG) vereinbar sei, soweit er die Erhebung von Erschließungsbeiträgen zeitlich unbegrenzt nach dem Eintritt der Vorteilslage erlaubt. Es ist der Überzeugung, dass die Regelungen keine hinreichende Berücksichtigung des Interesses des Beitragsschuldners an einer zeitlich nicht unbegrenzten Inanspruchnahme gewährleisteten. Im konkreten Verfahren sei die Vorteilslage im Ausgangsverfahren nicht erst mit der Widmung der Straße im Jahre 2007, sondern spätestens mit der endgültigen Aufgabe ihrer durchgehend vierspurigen Herstellung im Jahre 1999 eingetreten. Sei die Beitragserhebung danach mehr als zehn Jahre nach Eintritt der Vorteilslage erfolgt, so sei angesichts der in anderen Bundesländern geltenden Höchstfristen nicht von vornherein auszuschließen, dass eine vom rheinland-pfälzischen Gesetzgeber noch zu erlassende Regelung die Heranziehung des Klägers zu Erschließungsbeiträgen hindere und somit seine Beitragspflicht dem Grunde nach entfallen lasse. Wesentliche Erwägungen des Senats: § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG RP ist insoweit mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen ausArt. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Rechtssicherheit (Art. 20 Abs. 3 GG) unvereinbar, soweit danach die Möglichkeit besteht, dass nach dem Eintritt der tatsächlichen Vorteilslage unbefristet Beiträge erhoben werden. 1. Das im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) verankerte Gebot der Belastungsklarheit und ‑vorhersehbarkeit schützt davor, dass lange zurückliegende, in tatsächlicher Hinsicht abgeschlossene Vorgänge unbegrenzt zur Anknüpfung neuer Lasten herangezogen werden können. Es erstreckt sich auf alle Abgaben zum Vorteilsausgleich und gilt in allen Fällen, in denen die abzugeltende tatsächliche Vorteilslage in der Sache eintritt, die daran anknüpfenden Beitragsansprüche aber wegen des Fehlens einer sonstigen Voraussetzung nicht entstehen und deshalb auch nicht verjähren können. 2. Das Gebot der Belastungsklarheit und ‑vorhersehbarkeit verlangt, dass Betroffene nicht dauerhaft im Unklaren gelassen werden, ob sie noch mit Belastungen rechnen müssen. Der Zeitpunkt, in dem der abzugeltende Vorteil entsteht, muss daher für die Betroffenen unter Zugrundelegung eines objektiven Empfängerhorizonts auch erkennbar sein. Der Begriff der Vorteilslage muss somit an rein tatsächliche, für den möglichen Beitragsschuldner erkennbare Gegebenheiten anknüpfen und rechtliche Entstehungsvoraussetzungen für die Beitragsschuld außen vor lassen. 3. Nach der fachgerichtlichen Rechtsprechung kommt es im Erschließungsbeitragsrecht für die abzugeltende Vorteilslage allein auf die tatsächliche bautechnische Durchführung der jeweiligen Erschließungsmaßnahme an. Eine derartige Vorteilslage ist anzunehmen, wenn eine beitragsfähige Erschließungsanlage den an sie zu stellenden technischen Anforderungen entspricht und dies für den Beitragspflichtigen erkennbar ist. Diese fachgerichtliche Rechtsprechung konkretisiert die Anforderungen an die Entstehung der erschließungsrechtlichen Vorteilslage aus der Perspektive des Gebots der Belastungsklarheit und ‑vorhersehbarkeit in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise. 4. Danach verstößt es gegen Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG, dass das rheinland-pfälzische Landesrecht in § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG RP die zeitlich unbegrenzte Festsetzung von Erschließungsbeiträgen ermöglicht. a) § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG RP gestattet in Fällen, in denen die mit Erschließungsbeiträgen abzugeltende tatsächliche Vorteilslage eingetreten ist, aber noch nicht alle Voraussetzungen für das Entstehen der sachlichen Beitragspflicht gegeben sind, die Festsetzung von Erschließungsbeiträgen ohne zeitliche Begrenzung. Denn der Beginn der Festsetzungsfrist hängt von der Entstehung der sachlichen Beitragspflicht ab, obwohl die tatsächliche Vorteilslage schon im Falle einer zulässigen tatsächlichen Nutzbarkeit der Erschließungsanlage und damit bereits vor dem Vorliegen sämtlicher Beitragsentstehungsvoraussetzungen eintreten kann. Die Regelung verschiebt auf diese Weise den Verjährungsbeginn ohne zeitliche Obergrenze nach hinten. Dies wird den Anforderungen des Gebots der Belastungsklarheit und ‑vorhersehbarkeit nicht gerecht. b) Auch aus sonstigen Regelungen ergeben sich keine zeitlichen Grenzen der Erhebung von Erschließungsbeiträgen, die allein an den Zeitpunkt der Erlangung des tatsächlichen Vorteils anknüpfen. Eine absolute Ausschlussfrist für die Erhebung von Erschließungsbeiträgen ergibt sich insbesondere auch nicht aus § 53 Abs. 2 Satz 1 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) oder dessen analoger Anwendung. Auch ist der Grundsatz von Treu und Glauben von vornherein nicht geeignet, um dem Beitragspflichtigen Klarheit über Beginn und Dauer der Festsetzungsverjährung bei Erschließungsbeiträgen zu verschaffen. 5. Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, die berechtigten Interessen der Allgemeinheit am Vorteilsausgleich und der Einzelnen an Rechtssicherheit durch entsprechende Gestaltung von Verjährungsbestimmungen zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen. Ob dabei die in jedem Fall notwendige zeitliche Obergrenze adäquat bemessen ist, stellt eine primär dem Gesetzgeber überantwortete Frage dar. Jedenfalls genügte eine dreißigjährige Ausschlussfrist losgelöst von den Besonderheiten der Wiedervereinigung den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht.
Leitsätze zum Beschluss des Ersten Senats vom 3. November 2021 1 BvL 1/19 (Festsetzungsverjährung bei Erschließungsbeiträgen) Das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG) erstreckt sich auf alle Abgaben zum Vorteilsausgleich. Daher muss auch die Möglichkeit zur Erhebung von Erschließungsbeiträgen nach Eintritt der tatsächlichen Vorteilslage zeitlich begrenzt werden (Fortführung von BVerfGE 133, 143). Das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit verlangt zudem, dass der Zeitpunkt des Eintritts der tatsächlichen Vorteilslage für die Beitragspflichtigen erkennbar ist. BUNDESVERFASSUNGSGERICHT - 1 BvL 1/19 - IM NAMEN DES VOLKES In dem Verfahren zur verfassungsrechtlichen Prüfung, ob § 3 Absatz 1 Nummer 4 des Kommunalabgabengesetzes Rheinland-Pfalz - KAG RP - vom 20. Juni 1995 (Gesetz- und Verordnungsblatt Seite 175) in der Fassung des Gesetzes vom 15. Februar 2011 (Gesetz- und Verordnungsblatt Seite 25) in Verbindung mit § 169 Absatz 2 Satz 1 Nummer 2, § 170 Absatz 1 der Abgabenordnung - AO - in der Fassung vom 1. Oktober 2002 (Bundesgesetzblatt I Seite 3866, berichtigt I 2003 Seite 61), geändert durch das Gesetz vom 25. Juli 2014 (Bundesgesetzblatt I Seite 1266), mit Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit in seiner Ausprägung als Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit (Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes) vereinbar ist, soweit er die Erhebung von Erschließungsbeiträgen zeitlich unbegrenzt nach dem Eintritt der Vorteilslage erlaubt - Aussetzungs- und Vorlagebeschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 6. September 2018 (BVerwG 9 C 5.17) - hat das Bundesverfassungsgericht – Erster Senat – unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter Präsident Harbarth, Paulus, Baer, Britz, Ott, Christ, Radtke, Härtel am 3. November 2021 beschlossen: § 3 Absatz 1 Nummer 4 des Kommunalabgabengesetzes Rheinland-Pfalz - KAG RP - vom 20. Juni 1995 (Gesetz- und Verordnungsblatt Seite 175) ist mit Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Rechtssicherheit (Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes) insoweit unvereinbar, als danach Erschließungsbeiträge nach dem Eintritt der Vorteilslage zeitlich unbegrenzt erhoben werden können. Der Landesgesetzgeber ist verpflichtet, bis zum 31. Juli 2022 eine verfassungsgemäße Regelung zu treffen. G r ü n d e : A. 1 Das Normenkontrollverfahren betrifft das Fehlen einer zeitlichen Grenze für die Erhebung von Erschließungsbeiträgen im Land Rheinland-Pfalz nach dem Eintritt der sogenannten tatsächlichen Vorteilslage. Nach Ansicht des vorlegenden Bundesverwaltungsgerichts verstößt dies gegen das Rechtsstaatsprinzip in seiner Ausprägung als Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG), da die Entstehung der sachlichen Erschließungsbeitragspflicht nach dem Baugesetzbuch (BauGB) neben der endgültigen Herstellung der Erschließungsanlage unter anderem deren wirksame Widmung verlangt. I. 2 Das Recht der Erschließungsbeiträge war ursprünglich in den §§ 127 ff. BauGB bundesrechtlich geregelt. Nach dem Übergang der Gesetzgebungskompetenz für dieses Rechtsgebiet auf die Länder in Art. 74 Abs. 1 Nr. 18 GG im Jahre 1994 haben einzelne Länder von der ihnen damit eröffneten Regelungskompetenz Gebrauch gemacht. 3 Das Land Rheinland-Pfalz hat die bundesrechtlichen Regelungen zu Erschließungsbeiträgen bislang nicht durch Landesrecht ersetzt. Die Erhebung von Beiträgen für die Erschließung von Grundstücken richtet sich hier nach den bundesrechtlichen Vorschriften der §§ 127 ff. BauGB (1.), die hinsichtlich der Frage der Verjährung der Beitragsforderung durch landesgesetzliche Regelungen ergänzt werden (2.). 4 1. Nach § 127 Abs. 1 BauGB erheben die Gemeinden zur Deckung ihres anderweitig nicht gedeckten Aufwands für Erschließungsanlagen (§ 127 Abs. 2 BauGB) Erschließungsbeiträge. Der Erschließungsaufwand umfasst insbesondere die Kosten für den Erwerb und die Freilegung der Flächen sowie für ihre erstmalige Herstellung einschließlich der Einrichtungen für ihre Entwässerung und Beleuchtung (§ 128 Abs. 1 Nr. 1 und 2 BauGB). 5 Die Erschließungsbeitragspflicht entsteht für im Sinne des § 133 Abs. 1 BauGB erschlossene Grundstücke. Anders als § 131 Abs. 1 Satz 1 BauGB meint § 133 Abs. 1 BauGB das Erschlossensein in der Heranziehungsphase (vgl. BVerwGE 126, 378 <386 Rn. 27>). Zwar ist grundsätzlich von einer Deckungsgleichheit des Erschlossenseins im Sinne beider Vorschriften auszugehen. Allerdings kann sich in bestimmten Konstellationen aus § 133 Abs. 1 BauGB ein Hindernis ergeben, das vorübergehend eine Beitragserhebung für ein nach § 131 Abs. 1 BauGB erschlossenes Grundstück ausschließt. Dies ist dann der Fall, wenn das fragliche Grundstück nach Maßgabe der bauplanungs- und bauordnungsrechtlichen Bestimmungen zwar abstrakt bebaubar ist, eine Benutzung der Erschließungsanlage jedoch noch durch ausräumbare rechtliche oder tatsächliche Hindernisse ausgeschlossen ist. Solange diese nicht ausgeräumt sind, fehlt es am Erschlossensein im Sinne von § 133 Abs. 1 BauGB mit der Folge, dass das betreffende Grundstück noch nicht der Beitragspflicht unterliegt (vgl. BVerwGE 126, 378 <386 f. Rn. 27>; siehe dazu auch BVerwG, Beschluss vom 18. September 2019 - 9 B 51.18 -, Rn. 4). 6 Das Entstehen der Erschließungsbeitragspflicht richtet sich sachlich nach § 133 Abs. 2 BauGB. Erforderlich ist im Falle des § 133 Abs. 2 Satz 1 Variante 1 BauGB die endgültige Herstellung der konkret abzurechnenden, als selbständig zu bewertenden Erschließungsanlage. Die für die endgültige Herstellung maßgeblichen Merkmale richten sich im Wesentlichen nach der Erschließungsbeitragssatzung der Gemeinde. Die Satzung muss nach § 132 Nr. 4 BauGB auch die Merkmale der endgültigen Herstellung einer Erschließungsanlage regeln. Dem können sogenannte (Teil-)Einrichtungs- und (Aus-)Bauprogramme zugrundeliegen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist eine Anbaustraße im Sinne von § 127 Abs. 2 Nr. 1 BauGB endgültig erst dann hergestellt, wenn sie erstmals die nach dem satzungsmäßigen Teileinrichtungsprogramm und dem dieses ergänzenden Bauprogramm erforderlichen Teileinrichtungen aufweist und diese dem jeweils für sie aufgestellten technischen Ausbauprogramm entsprechen. Zweck der Anknüpfung an das gemeindliche Satzungsrecht ist es, dass die Bürgerinnen und Bürger sich durch einen Vergleich des satzungsmäßig festgelegten Ausbauprogramms mit dem tatsächlichen Zustand, in dem sich die gebaute Anlage befindet, ein Bild darüber verschaffen können, ob die Anlage endgültig hergestellt ist (vgl. BVerwGE 158, 163 <172 f. Rn. 29>; BVerwG, Urteil vom 15. Mai 2013 - 9 C 3.12 -, Rn. 16). Soweit die jeweilige gemeindliche Satzung den Erwerb der für die Erschließungsanlage benötigten Grundstücke als Merkmal der endgültigen Herstellung im Sinne des § 132 Nr. 4 BauGB vorsieht, entsteht die Beitragspflicht zudem erst mit dem Eigentumsübergang auf die Gemeinde (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Mai 1977 - IV C 82.74 -, Rn. 19). 7 Neben dem unmittelbar aus § 133 Abs. 2 Satz 1 Variante 1 BauGB folgenden Erfordernis der endgültigen Herstellung der Erschließungsanlage ergeben sich aus dem Gesetz nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts weitere Anforderungen an das Entstehen der sachlichen Beitragspflicht. Da der Erschließungsbeitrag der Deckung des anderweitig nicht gedeckten Aufwandes dient, kann die Beitragsforderung – sofern nicht Einheitssätze nach § 130 Abs. 1 Satz 1 Variante 2, Satz 2 BauGB festgesetzt werden – erst entstehen, wenn die erstattungsfähigen gemeindlichen Aufwendungen feststehen, regelmäßig also erst mit dem Eingang der letzten nach Abschluss der Bauarbeiten erteilten Unternehmerrechnung (vgl. BVerwGE 49, 131 <134 f.>; BVerwG, Urteil vom 22. April 1994 - 8 C 18.92 -, Rn. 18). 8 Zudem ist für das Entstehen der sachlichen Beitragspflicht eine rechtswirksame Erschließungsbeitragssatzung (vgl. BVerwG, Urteil vom 21. September 1973 - IV C 39.72 -, Rn. 10) sowie das Bestehen eines wirksamen Bebauungsplans erforderlich (vgl. BVerwGE 97, 62 <64 f.>; BVerwG, Urteil vom 30. Mai 1997 - 8 C 6.95 -, Rn. 12). 9 Da Erschließungsbeiträge nach § 127 Abs. 2 Nr. 1 BauGB nur für öffentliche, zum Anbau bestimmte Straßen erhoben werden können, ist Voraussetzung für die Entstehung der Erschließungsbeitragspflicht zudem, dass die Anbaustraße nach Maßgabe der einschlägigen landesrechtlichen Vorgaben als öffentliche Straße gewidmet ist. Erst mit der Widmung steht die Erschließungsanlage für die Benutzung durch die Allgemeinheit gesichert zur Verfügung (vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Mai 1985 - 8 C 17.84 u.a. -, Rn. 23). 10 Persönlich beitragspflichtig ist nach § 134 Abs. 1 Satz 1 BauGB in der Regel der Eigentümer des Grundstücks im Zeitpunkt der Bekanntgabe des Beitragsbescheids. 11 2. Regelungen zu den zeitlichen Grenzen der Erhebung von Erschließungsbeiträgen enthält das Baugesetzbuch nicht. Das Bundesverwaltungsgericht geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass sich die Verjährung nach Landesrecht richtet (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 22. April 1994 - 8 C 18.92 -, Rn. 18 m.w.N.). 12 Die Länder haben sich überwiegend für Fristlängen von 10 bis 20 Jahren entschieden (für Bayern: Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b Doppelbuchstabe bb Spiegelstrich 1 Kommunalabgabengesetz; für Baden-Württemberg: § 20 Abs. 5 Satz 1 Kommunalabgabengesetz; dazu BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 7. April 2021 - 1 BvR 176/15 -, Rn. 33; für Brandenburg: § 19 Abs. 1 Satz 1 und 3 Kommunalabgabengesetz; dazu BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 1. Juli 2020 - 1 BvR 2838/19 -; für Hessen: § 3 Abs. 2 Gesetz über kommunale Abgaben; für Mecklenburg-Vorpommern: § 12 Abs. 2 Nr. 1 Kommunalabgabengesetz; dazu BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 29. Juni 2020 - 1 BvR 1866/15 u.a. -; für Niedersachsen: § 11 Abs. 3 Nr. 1 Kommunalabgabengesetz; für Sachsen: § 3a Abs. 3 Komumunalabgabengesetz; für Sachsen-Anhalt: § 13b Satz 1, § 18 Abs. 2 Kommunalabgabengesetz; dazu BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 16. September 2020 - 1 BvR 1185/17 -; für Thüringen: § 15 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b Doppelbuchstabe bb Spiegelstrich 2, Doppelbuchstabe cc Kommunalabgabengesetz; dazu BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 29. Oktober 2020 - 1 BvL 7/17 -). In anderen Ländern besteht hingegen keine ausdrückliche Regelung (für Verfassungswidrigkeit dieses Zustands OVG Münster, Urteil vom 8. Juni 2021 - 15 A 299/20 -, Rn. 67 ff.; vgl. auch VG Bremen, Urteil vom 18. September 2020 - 2 K 278/18 -, Rn. 76 f.; zur Rechtslage in Schleswig-Holstein vgl. VG Schleswig, Urteil vom 9. März 2017 - 9 A 122/14 -, Rn. 33 ff.). 13 Das Kommunalabgabengesetz Rheinland-Pfalz (KAG RP) sieht zwar keine ausdrücklichen Sonderregelungen für die Erhebung von Erschließungsbeiträgen vor. Es gilt nach Maßgabe von § 1 Abs. 2 Satz 1 KAG RP allerdings auch für Abgaben, die von den kommunalen Gebietskörperschaften aufgrund anderer Gesetze erhoben werden, soweit diese keine besonderen Bestimmungen enthalten. Damit gelten in Ermangelung entsprechender bundesrechtlicher Regelungen die Vorgaben des Kommunalabgabengesetzes Rheinland-Pfalz über die zeitlichen Grenzen der Abgabenerhebung auch für Erschließungsbeiträge. 14 Im Wesentlichen verweist das Kommunalabgabengesetz Rheinland-Pfalz auf die Vorschriften der Abgabenordnung (AO): § 3 KAG RP Anwendung von Bundes- und Landesrecht (1) Auf kommunale Abgaben sind die folgenden Bestimmungen der Abgabenordnung entsprechend anzuwenden, soweit nicht dieses Gesetz oder andere Gesetze besondere Regelungen enthalten: 1. (…) 2. die §§ 33 bis 77 (Steuerschuldrecht), 3. (…) 4. die §§ 134 bis 171 und 179 bis 217 (Durchführung der Besteuerung), 5. - 8. (…) (2) - (5) (…) 15 Damit finden insbesondere die Bestimmungen über die Festsetzungsverjährung in §§ 169 ff. AO auch auf die Erhebung von Erschließungsbeiträgen Anwendung: § 169 AO Festsetzungsfrist (1) 1 Eine Steuerfestsetzung sowie ihre Aufhebung oder Änderung sind nicht mehr zulässig, wenn die Festsetzungsfrist abgelaufen ist. 2 Dies gilt auch für die Berichtigung wegen offenbarer Unrichtigkeit nach § 129. 3 Die Frist ist gewahrt, wenn vor Ablauf der Festsetzungsfrist 1. der Steuerbescheid oder im Fall des § 122a die elektronische Benachrichtigung den Bereich der für die Steuerfestsetzung zuständigen Finanzbehörde verlassen hat oder 2. bei öffentlicher Zustellung nach § 10 des Verwaltungszustellungsgesetzes die Benachrichtigung bekannt gemacht oder veröffentlicht wird. (2) 1 Die Festsetzungsfrist beträgt: 1. ein Jahr für Verbrauchsteuern und Verbrauchsteuervergütungen, 2. vier Jahre für Steuern und Steuervergütungen, die keine Steuern oder Steuervergütungen im Sinne der Nummer 1 oder Einfuhr- und Ausfuhrabgaben nach Artikel 5 Nummer 20 und 21 des Zollkodex der Union sind. 2 Die Festsetzungsfrist beträgt zehn Jahre, soweit eine Steuer hinterzogen, und fünf Jahre, soweit sie leichtfertig verkürzt worden ist. (…) § 170 AO Beginn der Festsetzungsfrist (1) Die Festsetzungsfrist beginnt mit Ablauf des Kalenderjahrs, in dem die Steuer entstanden ist oder eine bedingt entstandene Steuer unbedingt geworden ist. (2) - (7) (…) 16 Da kommunale Abgaben keine Ähnlichkeiten zu Verbrauchsteuern oder Verbrauchsteuervergütungen aufweisen, beträgt die Festsetzungsfrist für Erschließungsbeiträge danach grundsätzlich vier Jahre (§ 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG RP in Verbindung mit § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO). Nach Ablauf der Festsetzungsfrist ist eine Beitragsfestsetzung nicht mehr zulässig. Der Eintritt der Festsetzungsverjährung führt nach § 3 Abs. 1 Nr. 2 KAG RP in Verbindung mit § 47 AO zum Erlöschen der Ansprüche aus dem Beitragsschuldverhältnis. 17 Den Zeitpunkt des Beginns der Festsetzungsfrist regelt das Kommunalabgabengesetz Rheinland-Pfalz nicht ausdrücklich. Durch die in § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG RP angeordnete entsprechende Anwendung von § 170 Abs. 1 AO beginnt die Festsetzungsfrist mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die sachliche Erschließungsbeitragspflicht entstanden ist. Dementsprechend beginnt die Festsetzungsfrist erst mit Ablauf des Jahres, in dem alle − insbesondere auch rechtlichen − Voraussetzungen für das Entstehen der sachlichen Erschließungsbeitragspflicht erfüllt sind. Allein die technische Fertigstellung der Erschließungsanlage oder ihre Gebrauchsfertigkeit oder Benutzbarkeit reicht damit nicht, um den Beginn der Festsetzungsfrist auszulösen. II. 18 Der Kläger des Ausgangsverfahrens wendet sich gegen die Erhebung von Erschließungsbeiträgen für die Herstellung des rund 200 Meter langen östlichen Endes der „(…)-Straße“ in der Stadt (…). 19 1. Der Kläger ist Eigentümer mehrerer Grundstücke in der Gemarkung (…). Ein Grundstück grenzt an eine Straße, die seit 2007 samt der erst später fertiggestellten Verlängerung „(…)-Straße“ heißt. Von den übrigen Grundstücken des Klägers grenzen nur zwei unmittelbar an diese Straße; die anderen liegen dahinter. Alle im Eigentum des Klägers befindlichen Grundstücke liegen im Geltungsbereich eines seit dem Jahre 2000 geltenden Bebauungsplans. In den Jahren 1985/1986 wurde die an die Grundstücke des Klägers grenzende Straße vierspurig mit einer Länge von knapp 200 Metern gebaut, wobei die Stadt im Jahre 1986 das Eigentum an den Straßenparzellen erwarb. Ursprünglich plante die Stadt, die Straße vierspurig weiterzuführen. 20 Mit Bescheiden vom 25. Oktober 1991 zog die Stadt den Kläger zu Vorausleistungen auf den Erschließungsbeitrag heran. Der Kläger zahlte die für eines seiner Grundstücke festgesetzten Vorauszahlungen; im Übrigen wurden die Vorausleistungen mit Schreiben der Stadt vom 12. Dezember 1991 ausgesetzt. Nachdem der Bebauungsplan für den Ausbau für nichtig erklärt worden war, beschloss die Stadt im Jahre 1999 einen weiteren Bebauungsplan, der eine nur noch zweispurige und kürzere Fortführung der Straße vorsah. In diesem Umfang wurde die Straße in den Jahren 2003/2004 weitergebaut. Mit Beschluss vom 5. Juli 2007 wurde sie in ihrer vollen Länge als Gemeindestraße gewidmet. Die öffentliche Bekanntmachung erfolgte am 31. Juli 2007. Eine Anfechtungsklage des Klägers gegen die Widmung wurde vom Verwaltungsgericht mit – nach Zurücknahme des Berufungszulassungsantrags – rechtskräftigem Urteil abgewiesen. 21 Mit Bescheiden vom 4. September 2007 setzte die Stadt für die hier maßgeblichen Flurstücke (01), (02), (03), (04) und (05) Erschließungsbeiträge fest. Dabei brachte sie die vom Kläger gezahlten Vorausleistungen aus dem Jahre 1991 in Abzug. Das Verwaltungsgericht hob zwei Bescheide auf, da darin Flurstücke zu Unrecht als wirtschaftliche Einheit veranlagt worden seien. Lediglich der das Flurstück (05) betreffende Bescheid sei rechtmäßig. Den Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung lehnte das Oberverwaltungsgericht ab. Mit Bescheiden vom 24. August 2011 setzte die Stadt die vom Verwaltungsgericht beanstandeten Beitragsbescheide für die Flurstücke (01), (02), (03), (04) neu fest und erhob für das Flurstück (05) einen Nacherhebungsbeitrag. Die Widersprüche des Klägers dagegen wies sie zurück. Das Verwaltungsgericht wies die Klage gegen die Neufestsetzung überwiegend ab. Die Beitragspflicht sei erst mit der Widmung der Straße am 31. Juli 2007 entstanden. Sie sei weder verjährt noch nach Treu und Glauben ausgeschlossen. 22 2. Nachdem das Oberverwaltungsgericht auf Antrag des Klägers die Berufung zugelassen hatte, wies es seine Berufung durch Urteil zurück. Die Erschließungsbeitragsbescheide und der Widerspruchsbescheid seien in dem noch anhängigen Umfang rechtmäßig und verletzten den Kläger nicht in seinen Rechten. 23 Der vierspurig ausgebaute Teil der Straße stelle eine selbständige beitragsfähige Erschließungsanlage im Sinne von § 133 Abs. 2 Satz 1 BauGB dar. Wegen seines vierspurigen Ausbaus und seiner abweichenden Fahrbahnoberfläche unterscheide dieser Teil der Straße sich von seiner zweispurigen Fortsetzung so erheblich, dass von einer einheitlichen Verkehrsanlage nicht die Rede sein könne. 24 Der Beitragsanspruch der Stadt sei weder durch Eintritt der Festsetzungsverjährung noch durch Verwirkung erloschen. Da die Widmung als letzte Voraussetzung der Entstehung des Beitragsanspruchs im Jahre 2007 wirksam geworden sei, sei die sich aus § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG RP in Verbindung mit § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, § 170 Abs. 1 AO ergebende vierjährige Festsetzungsfrist erst am 31. Dezember 2011 abgelaufen, und damit nach Erlass der angefochtenen Bescheide. 25 Die Beitragserhebung stelle trotz des langen Zeitraums, der seit der technischen Fertigstellung der abgerechneten Verkehrsanlage im Jahre 1986 vergangen sei, keine unzulässige Rechtsausübung dar. Sie verstoße insbesondere nicht gegen das verfassungsrechtliche Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit. Zwar sei eine Höchstgrenze zu bestimmen. Dafür könne aber auf die 30-jährige Verjährungsfrist des § 53 Abs. 2 Satz 1 VwVfG im Wege der Analogie oder vermittelt über den Grundsatz von Treu und Glauben zurückgegriffen werden. 26 Die Erhebung von Erschließungsbeiträgen durch die Bescheide vom 24. August 2011 stelle nach diesen Maßstäben keine unzulässige Rechtsausübung dar. Seit dem Entstehen der tatsächlichen Vorteilslage mit der im Jahre 1999 erfolgten Aufgabe des Plans, die Straße vierspurig weiterzuführen, seien nicht mehr als 30 Jahre vergangen. Auch wenn man annehme, das Teilstück sei schon im Jahre 1986 als eigenständige Erschließungsanlage fertiggestellt worden, seien bei Erlass der streitigen Erschließungsbeitragsbescheide erst 25 Jahre verstrichen. Anhaltspunkte dafür, dass die Beitragserhebung schon vor Ablauf einer Frist von 30 Jahren seit dem Entstehen der Vorteilslage wegen besonderer Umstände des Einzelfalls treuwidrig wäre, lägen nicht vor. 27 3. Auf die Revision des Klägers setzte das Bundesverwaltungsgericht das Verfahren aus und legte dem Bundesverfassungsgericht die Frage zur Entscheidung vor, ob § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG RP in Verbindung mit § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, § 170 Abs. 1 AO mit Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit in seiner Ausprägung als Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit (Art. 20 Abs. 3 GG) vereinbar sei, soweit er die Erhebung von Erschließungsbeiträgen zeitlich unbegrenzt nach dem Eintritt der Vorteilslage erlaubt (vgl. BVerwG, Vorlagebeschluss vom 6. September 2018 - 9 C 5.17 -, BVerwGE 163, 58 ff.). 28 Das Bundesverwaltungsgericht ist der Überzeugung, es verstoße gegen Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit in seiner Ausprägung als Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit (Art. 20 Abs. 3 GG), dass § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG RP in Verbindung mit § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, § 170 Abs. 1 AO die unbefristete Erhebung von Erschließungsbeiträgen nach Eintritt der Vorteilslage ermögliche. Das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit schütze davor, dass lange zurückliegende, in tatsächlicher Hinsicht abgeschlossene Vorgänge unbegrenzt zur Anknüpfung neuer Lasten herangezogen werden könnten. Es verpflichte dazu sicherzustellen, dass Beiträge, die einen einmaligen Ausgleich für die Erlangung eines Vorteils durch Anschluss an eine Einrichtung schaffen sollten, unabhängig von einem Vertrauen des Vorteilsempfängers und ungeachtet der Fortwirkung des Vorteils zeitlich nicht unbegrenzt festgesetzt werden könnten. 29 Diese Grundsätze gälten für alle Fallkonstellationen, in denen eine abzugeltende Vorteilslage eintrete, und folglich auch für das Erschließungsbeitragsrecht. Die in der obergerichtlichen Rechtsprechung vertretene Ansicht überzeuge nicht, derzufolge einer Übertragung auf das Erschließungsbeitragsrecht entgegenstehe, dass hier eine endgültige tatsächliche Vorteilslage nicht schon mit Vornahme des Anschlusses oder bei Bestehen der Anschlussmöglichkeit eintrete, weshalb vor dem Entstehen der sachlichen Beitragspflicht kein schützenswertes Vertrauen des Bürgers begründet werde, nicht mehr zu Beiträgen herangezogen zu werden. Sie verkenne, dass das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit Rechtssicherheit auch dann gewährleiste, wenn keine Regelungen bestünden, die Anlass zu spezifischem Vertrauen gäben, oder wenn Umstände einem solchen Vertrauen sogar entgegenstünden; geschützt sei das Interesse der Bürgerinnen und Bürger, irgendwann nicht mehr mit einer Inanspruchnahme rechnen zu müssen und entsprechend disponieren zu können. Die verfassungsrechtliche Grenze der Beitragserhebung setze keinen Vertrauenstatbestand voraus, sondern knüpfe allein an den seit der Entstehung der Vorteilslage verstrichenen Zeitraum an. Zudem könnten sich Unterschiede der abgabenrechtlichen Tatbestände zwar auf den Zeitpunkt auswirken, in dem eine beitragsrelevante Vorteilslage entstehe und die Frist zur Beitragserhebung zu laufen beginne. Maßgeblich sei indes auch insoweit stets der tatsächliche Abschluss der Vorteilserlangung; rechtliche Gesichtspunkte könnten dessen Bestimmung ergänzen, ihn jedoch nicht ersetzen. Insofern gehe die Annahme fehl, im Erschließungsbeitragsrecht falle die tatsächliche Vorteilserlangung erst mit dem Entstehen der sachlichen Beitragspflicht zusammen. 30 Soweit in der fachgerichtlichen Rechtsprechung einer Verallgemeinerung der aus dem Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit folgenden Grundsätze Besonderheiten des dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 5. März 2013 (BVerfGE 133, 143 ff.) zugrundeliegenden Landesrechts entgegengehalten würden, bezögen sich diese Einwände auf Umstände, denen das Bundesverfassungsgericht bei seiner Auslegung von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG entweder von vornherein keine oder eine gegenüber dem Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit nachrangige Bedeutung beigemessen habe. Zudem erfassten die Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts nicht nur die Fälle, in denen sich die Entstehung der Beitragspflicht aufgrund der Nichtigkeit des ihr zugrundeliegenden Satzungsrechts verzögere. Sie gälten vielmehr für alle Fallgestaltungen, in denen die abzugeltende Vorteilslage in der Sache eintrete, die daran anknüpfenden Beitragsansprüche aber wegen des Fehlens einer sonstigen Voraussetzung nicht entstünden und deshalb auch nicht verjähren könnten. Denn auch in solchen Fällen werde der Beitragsschuldner hinsichtlich eines immer weiter in die Vergangenheit rückenden tatsächlichen Vorgangs dauerhaft im Unklaren gelassen, ob er noch mit Belastungen rechnen müsse. Es sei Aufgabe des Gesetzgebers – und damit nicht der Gerichte –, in Wahrnehmung seines weiten Gestaltungsspielraums einen Ausgleich zwischen den berechtigten Interessen der Allgemeinheit am Vorteilsausgleich durch die Beitragserhebung und der Einzelnen an Rechtssicherheit durch eine zeitlich nicht unbegrenzte Inanspruchnahme zu schaffen. Ihm obliege es, eine gesetzliche Regelung der zeitlichen Obergrenze vorzunehmen. 31 Diesen Anforderungen genügten die Regelungen in § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG RP in Verbindung mit § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, § 170 Abs. 1 AO nicht. Die Regelungen gewährleisteten keine hinreichende Berücksichtigung des Interesses des Beitragsschuldners an einer zeitlich nicht unbegrenzten Inanspruchnahme. Zwar setzten sie der Heranziehung zu Erschließungsbeiträgen zeitliche Grenzen, indem die Festsetzungsfrist vier Jahre nach Ablauf des Kalenderjahres ende, in dem die Abgabe entstanden sei. Allerdings sei nach der Gesetzeslage eine unbefristete Beitragserhebung nach dem Eintritt der Vorteilslage nicht ausgeschlossen, sodass das Interesse des Bürgers, Klarheit hinsichtlich seiner Heranziehung zu Beiträgen zu erlangen, unberücksichtigt bleibe. Es fehle an einer gesetzlichen Regelung, die der Abgabenerhebung eine bestimmte zeitliche Grenze setze. Die Beitragspflicht nach § 133 Abs. 2 BauGB entstehe nicht notwendig bereits mit der tatsächlichen Fertigstellung der Straße entsprechend dem zugrundeliegenden Bauprogramm und den Satzungsbestimmungen, sondern erfordere zudem eine wirksame Widmung. Gehe die Herstellung der Widmung voraus, beginne ungeachtet der Dauer des dazwischenliegenden Zeitraums ohne sie keine Festsetzungsfrist zu laufen. Die Gemeinde habe es dann in der Hand, mit der Widmung auch die Heranziehung der Eigentümer erschlossener Grundstücke zeitlich unbegrenzt hinauszuzögern. 32 Eine dem Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit Rechnung tragende gesetzliche Regelung lasse sich auch nicht dem übrigen Landesrecht entnehmen. Eine absolute, also (allein) an den Zeitpunkt der Erlangung des Vorteils anknüpfende abgabenrechtliche Ausschlussfrist bestehe in Rheinland-Pfalz nicht. § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG RP in Verbindung mit § 170 Abs. 1 AO könne auch nicht verfassungskonform dahingehend ausgelegt werden, dass der Beginn der Festsetzungsfrist nicht an die Entstehung der Beitragspflicht, sondern an den Eintritt der Vorteilslage, also die technische Herstellung der Straße anknüpfe. Eine solche Auslegung überschreite die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung. Sie widerspreche dem eindeutigen Wortlaut der Vorschriften als auch § 133 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit § 127 Abs. 2 Nr. 1 BauGB. Zugleich missachte sie den Willen des Gesetzgebers, die Festsetzungsfrist erst ab dem Zeitpunkt in Gang zu setzen, in dem der Beitragsanspruch entstanden und durchsetzbar sei, um den Kommunen einen hinreichenden Zeitraum zur Erhebung von Beiträgen zu gewähren, zu der sie nach § 127 Abs. 1 BauGB verpflichtet seien. Darüber hinaus erfordere das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit, schutzwürdigen Interessen nicht nur der Beitragsschuldner, sondern auch der Allgemeinheit an der Beitragserhebung Rechnung zu tragen. Eine Beschränkung des Zeitraums der Beitragserhebung auf vier Jahre selbst dann, wenn zu dessen Beginn – und möglicherweise zu dessen Ende – noch keine sachliche Beitragspflicht entstanden sei, schütze einseitig die Belange der Beitragsschuldner. Sie bleibe zudem deutlich hinter den Fristen von zehn bis 25 Jahren derjenigen Landesgesetze zurück, die zur Wahrung des Gebots der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit eine zeitliche Obergrenze für die Abgabenerhebung festlegten. 33 Eine zeitliche Begrenzung der Erhebung von Erschließungsbeiträgen auf 30 Jahre nach Eintritt der Vorteilslage ergebe sich auch nicht aus der analogen Anwendung von § 1 Abs. 1 VwVfG RP in Verbindung mit § 53 Abs. 2 Satz 1 VwVfG. § 53 Abs. 2 Satz 1 VwVfG bezwecke – wie auch das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit – einen Ausgleich zwischen den Grundsätzen von Rechtssicherheit und Rechtsfrieden einerseits und dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit andererseits. Die vergleichbare Zielsetzung rechtfertige indes noch keine Analogie. Denn die zugrundeliegenden Sachverhalte unterschieden sich in einem Maße, das ohne eine ausdrückliche Anordnung des Gesetzgebers eine Erstreckung des in § 53 Abs. 2 Satz 1 VwVfG gefundenen Interessenausgleichs auf die Heranziehung zu Erschließungsbeiträgen ausschließe. § 53 Abs. 2 Satz 1 VwVfG betreffe – vergleichbar mit § 197 Abs. 1 Nr. 3 BGB für rechtskräftig festgestellte Ansprüche – den Sonderfall eines titulierten und damit endgültig bestimmten Anspruchs. Hiermit sei die Erhebung von Beiträgen, die dem Grunde wie auch der Höhe nach vor ihrer bestandskräftigen Feststellung ungewiss sei, nicht ansatzweise vergleichbar. Vielmehr komme dem Interesse des Abgabenschuldners, jedenfalls durch Zeitablauf Klarheit über seine Inanspruchnahme zu erlangen, deutlich größeres Gewicht zu als demjenigen des Betroffenen in den Fällen des § 53 Abs. 2 Satz 1 VwVfG, in denen Grund und Höhe der Belastung bereits aufgrund der Unanfechtbarkeit des Verwaltungsakts feststünden. Dementsprechend finde § 53 Abs. 2 Satz 1 VwVfG nach § 1 Abs. 3 Nr. 1 VwVfG RP in Verfahren nach der Abgabenordnung keine Anwendung; vielmehr gälten dort die besonderen, deutlich kürzeren abgabenrechtlichen Festsetzungs- und Verjährungsfristen. Diese ausdrückliche gesetzgeberische Wertung, die durch die Beschränkung der Anwendbarkeit des Verwaltungsverfahrensgesetzes auf §§ 54 bis 62 VwVfG in § 3 Abs. 4 KAG RP unterstrichen werde, dürfe nicht im Wege einer Analogie umgangen werden. 34 Die Regelung des § 53 Abs. 2 Satz 1 VwVfG könne auch nicht mit der Begründung analog angewendet werden, sie sei Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes, demzufolge öffentlich-rechtliche Ansprüche regelmäßig erst nach 30 Jahren verjährten. Zwar habe die bisherige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts angenommen, dass die Verjährungsfrist des § 195 BGB a.F. in Ermangelung einschlägiger spezieller Verjährungsregelungen eine zutreffende Konkretisierung der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens in Abwägung gegen den Grundsatz der gesetzmäßigen Verwaltung darstellen könne. Gleichwohl gebe es keinen allgemeinen Rechtsgrundsatz einer 30-jährigen Verjährung öffentlich-rechtlicher Ansprüche. Vielmehr sei nach dem Gesamtzusammenhang der für den jeweiligen Anspruch geltenden Rechtsvorschriften und der Interessenlage zu beurteilen, welche Verjährungsregelungen als die „sachnächsten“ entsprechend heranzuziehen seien. Auch aus § 197 Abs. 1 BGB folge kein allgemeiner Rechtsgedanke, der es erlaube, in nicht ausdrücklich geregelten Bereichen die frühere 30-jährige Regelverjährung zu perpetuieren. 35 Zudem sei der schematische Rückgriff auf eine 30-jährige Ausschlussfrist nicht mit der Aufgabe des Gesetzgebers zu vereinbaren, in Wahrnehmung seines weiten Gestaltungsspielraums einen Ausgleich der widerstreitenden Interessen der Allgemeinheit an der Beitragserhebung und der Beitragspflichtigen an einer zeitlich nicht unbegrenzten Inanspruchnahme zu schaffen. Die Unterschiedlichkeit der in acht Bundesländern in Reaktion auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 5. März 2013 (BVerfGE 133, 143 ff.) erlassenen und zudem deutlich kürzeren Ausschlussfristen (10, 12, 15 oder 20 Jahre sowie wiedervereinigungsbedingt oder wegen Mitverschuldens des Beitragspflichtigen 25 Jahre) zeige ebenfalls, dass die pauschale Umdeutung der längstmöglichen Verjährungsfrist in eine frühestmögliche Ausschlussfrist dem Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit und dem daraus folgenden Gestaltungsauftrag des Gesetzgebers wie auch der Weite seines Gestaltungsauftrags nicht genüge. Übereinstimmend hätten die Landesgesetzgeber dabei eine 30-jährige Frist zwar als Ausgangspunkt ihrer Abwägung genommen, als deren Ergebnis jedoch ausdrücklich abgelehnt. Allenfalls könne § 53 Abs. 2 Satz 1 VwVfG der Grundsatz entnommen werden, dass, wenn selbst bestandskräftig festgestellte Ansprüche nach 30 Jahren nicht mehr durchgesetzt werden könnten, spätestens nach Verstreichen dieser Frist auch vor Erlass einer dem Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit genügenden gesetzlichen Regelung die Heranziehung zu Erschließungsbeiträgen ausgeschlossen sei. 36 Der Grundsatz von Treu und Glauben gewährleiste zunächst schon deshalb keine hinreichend bestimmte zeitliche Obergrenze für die Inanspruchnahme der Beitragsschuldner, weil danach eine Beitragserhebung nur ausnahmsweise und einzelfallbezogen unzulässig sei. Der Einwand einer treuwidrigen Rechtsausübung knüpfe nicht allein an den Ablauf einer bestimmten Frist an und verschaffe dem Bürger daher keine Klarheit über den Zeitpunkt, ab dem seine Heranziehung ausgeschlossen sei. 37 Der Senat sei durch die Ausführungen des 4. Senats (des Bundesverwaltungsgerichts) in dessen Urteil vom 20. März 2014 (BVerwGE 149, 211 ff.) nicht gehindert, ohne vorherige Entscheidung des Großen Senats dem Bundesverfassungsgericht die Frage der Verfassungsgemäßheit des § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG RP in Verbindung mit § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, § 170 Abs. 1 AO vorzulegen. Eine Verpflichtung zur Anrufung des Großen Senats scheide bereits deshalb aus, weil die Ansicht des 4. Senats für dessen Entscheidung nicht tragend gewesen sei. 38 Die Frage der Verfassungsmäßigkeit des gesetzgeberischen Verzichts auf eine allgemeine Ausschlussfrist für die Heranziehung zu Erschließungsbeiträgen sei auch für die Entscheidung des Verfahrens erheblich. Das Bundesverwaltungsgericht müsse den Rechtsstreit bei Gültigkeit von § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG RP in Verbindung mit § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, § 170 Abs. 1 AO anders entscheiden als im Falle der Verfassungswidrigkeit dieser Regelung. 39 Die im Verfahren aufgeworfenen einfachrechtlichen Fragen stünden der Entscheidungserheblichkeit der Vorlage nicht entgegen. Denn ihre Beantwortung könne sich allenfalls auf die Höhe der Beitragsschuld auswirken, sie jedoch nicht bereits dem Grunde nach entfallen lassen. Soweit der Kläger geltend mache, bei dem abgerechneten Teilstück der „(…)-Straße“ handele es sich nicht um eine selbständige Erschließungsanlage, sei die Revision unbegründet. Die Frage, ob die Stadt die Anlage habe vierspurig bauen dürfen, sei lediglich für die Beurteilung der Erforderlichkeit des Erschließungsaufwands maßgeblich; die Einwände richteten sich nicht gegen die Errichtung der Straße als solche, sondern nur gegen den Umfang ihrer Herstellung. Ihre Berechtigung lasse nicht die Beitragspflicht als solche entfallen, sondern verringere sie lediglich um die Mehrkosten des vierspurigen Baus. 40 Es sei auch nicht von vornherein auszuschließen, dass der Gesetzgeber im Falle der Verfassungswidrigkeit von § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG RP in Verbindung mit § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, § 170 Abs. 1 AO eine Ausschlussfrist schaffe, die eine Heranziehung des Klägers zu Erschließungsbeiträgen hindere. Aus Sicht des Gebots der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit müsse der Vorteilsempfänger selbst feststellen können, bis zu welchem Zeitpunkt er mit seiner Heranziehung rechnen müsse. Dies setze die Erkennbarkeit des Zeitpunkts voraus, in dem der beitragsrechtliche Vorteil entstehe und die Frist für eine mögliche Inanspruchnahme zu laufen beginne. Maßgeblich komme es im Erschließungsbeitragsrecht deshalb auf die tatsächliche – bautechnische – Durchführung der jeweiligen Erschließungsmaßnahme an. Beurteilungsmaßstab hierfür sei die konkrete Planung der Gemeinde für die jeweilige Anlage. Entscheidend sei, ob diese dem gemeindlichen Bauprogramm für die flächenmäßigen und sonstigen Teileinrichtungen sowie dem technischen Ausbauprogramm vollständig entspreche. Soweit für die Entstehung der Beitragspflicht nach § 133 Abs. 2 BauGB darüber hinaus die Widmung der Straße oder die Wirksamkeit der Beitragssatzung erforderlich sei, wirke sich dies nicht auf den Eintritt der Vorteilslage aus. Anderenfalls könnte der Beitrag zeitlich unbegrenzt nach Entstehung des tatsächlichen Vorteils erhoben werden; das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit laufe dann leer. 41 Vor diesem Hintergrund sei die Vorteilslage im Ausgangsverfahren nicht erst mit der Widmung der Straße im Jahre 2007, sondern spätestens mit der endgültigen Aufgabe ihrer durchgehend vierspurigen Herstellung im Jahre 1999 eingetreten. Abzustellen sei insofern auf den Erlass der angefochtenen Erschließungsbeitragsbescheide. Dem Kläger könne auch nicht entgegengehalten werden, er habe weder durch den Erlass der Beitragsbescheide im Jahre 2007 noch aufgrund der Erhebung von Vorauszahlungen darauf vertrauen können, dass er nicht mehr zu Erschließungsbeiträgen herangezogen werde. Denn das Rechtsstaatsprinzip gewährleiste Rechtssicherheit sogar dann, wenn Umstände einem dahingehenden Vertrauen des Betroffenen entgegenstünden. 42 Sei die Beitragserhebung danach mehr als zehn Jahre nach Eintritt der Vorteilslage erfolgt, so sei angesichts der in anderen Bundesländern geltenden Höchstfristen nicht von vornherein auszuschließen, dass eine vom rheinland-pfälzischen Gesetzgeber noch zu erlassende Regelung die Heranziehung des Klägers hindere und somit seine Beitragspflicht dem Grunde nach entfallen lasse. III. 43 Zu dem Verfahren Stellung genommen haben die Beklagte des Ausgangsverfahrens, der Deutsche Städte- und Gemeindebund sowie der Zentralverband der Deutschen Haus-, Wohnungs- und Grundeigentümer e.V. 44 1. Die im Ausgangsverfahren beklagte Stadt trägt vor, dass es im Erschließungsbeitragsrecht schwierig bis unmöglich sei, den Zeitpunkt des Eintritts der Vorteilslage für den Bürger genau zu bestimmen. Dass die Vorteilslage eintreten könne, ohne dass die Gemeinde eine Erschließungsbeitragssatzung erlassen habe, liege auf der Hand. Das Vorliegen einer gültigen Erschließungsbeitragssatzung sei zwar notwendige Voraussetzung für das Entstehen der sachlichen Beitragspflicht; der Eintritt der Vorteilslage für den jeweiligen Abgabenpflichtigen werde hiervon jedoch nicht berührt. Anders liege es jedoch hinsichtlich der notwendigen Widmung der Verkehrsanlage. Nach § 127 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 BauGB könnten Erschließungsbeiträge nur für die öffentlichen zum Anbau bestimmten Straßen, Wege und Plätze erhoben werden. Die Vorteilslage im Erschließungsbeitragsrecht könne folglich nur dann entstehen, wenn es sich um eine öffentliche Erschließungsanlage handele. Die Öffentlichkeit der Verkehrsflächen werde durch deren Widmung herbeigeführt. Erschließungsanlagen seien – auch nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts – nur dann beitragsfähig, wenn rechtlich gesichert sei, dass sie für die Benutzung durch die Allgemeinheit ohne besondere Zulassung zur Verfügung stünden. Erst durch die Widmung einer Straße erfahre das beitragspflichtige Grundstück die hinreichend gesicherte Anbindung und damit den dauerhaft gesicherten Erschließungsvorteil. 45 Auch aus einer weiteren Perspektive könne die Vorteilslage jedenfalls erst mit der Widmung der Erschließungsanlage eintreten. Der beitragsrelevante Vorteil im Erschließungsbeitragsrecht bestehe in der Erschließung eines Grundstücks. Die Erschließung sei Voraussetzung für die nach dem Bebauungsrecht (§§ 30 ff. BauGB) zulässige Ausnutzbarkeit der Grundstücke. Erschließung in diesem Sinne sei nicht gleichbedeutend mit Zugänglichkeit, sondern bestehe darüber hinaus darin, einem Grundstück die Erreichbarkeit der Erschließungsanlage in einer auf die bauliche oder gewerbliche Nutzbarkeit des Grundstücks gerichteten Funktion zu vermitteln. Der Erschließungsvorteil liege darin, dass das Grundstück gerade mit Blick auf die abzurechnende Erschließungsanlage bebaubar werde, also eine Baugenehmigung nicht mehr unter Hinweis auf die fehlende verkehrsrechtliche Erschließung abgelehnt werden dürfe. Der erschließungsbeitragsrechtliche Vorteil und damit die in diesem Zusammenhang zu betrachtende Vorteilslage, die in der Vermittlung der baulichen Nutzbarkeit des Grundstücks zu sehen sei, trete also nur und erst dann ein, wenn das Grundstück an einer öffentlichen Verkehrsanlage gelegen sei. Eine nicht gewidmete Verkehrsanlage vermittele dem Grundstück nicht die Bebaubarkeit und damit auch nicht den beitragsrelevanten Vorteil. 46 Hinzu komme, dass die endgültige „technische“ Herstellung einer Erschließungsanlage für den hiervon betroffenen Bürger nicht ohne weiteres „erkennbar“ sei, das Vorliegen einer Widmung dagegen schon. Besondere Probleme ergäben sich zudem beim Bauen an Wirtschaftswegen oder an unfertigen oder provisorischen Straßen. 47 2. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund vertritt die Auffassung, für den Zeitpunkt des Entstehens der Vorteilslage sei auf den Zeitpunkt abzustellen, in dem alle Voraussetzungen für das Entstehen der sachlichen Beitragspflicht gegeben seien. Der Umstand, dass dazu auch rechtliche Voraussetzungen gehörten, schließe diesen Anknüpfungspunkt nicht aus. Zum Eintritt der beitragsrechtlichen Vorteilslage zähle auch, dass der Vorteil für das betreffende Grundstück dauerhaft gesichert sein müsse. Das sei in den Fällen, in denen noch nicht alle, insbesondere auch die rechtlichen Voraussetzungen für das Entstehen der sachlichen Beitragspflicht vorlägen, zu verneinen. Insbesondere sei – wie im Ausgangsverfahren – ohne die Widmung der Erschließungsanlage nicht gewährleistet, dass dem Grundstückseigentümer durch die Erschließungsanlage dauerhaft ein Vorteil im Sinne eines Erschlossenseins zuteilwerde. Ohne erfolgte Widmung liege keine öffentliche Straße vor und könne die Nutzung/Befahrung rechtlich jederzeit unterbunden werden. Folgerichtig dürfe bis zum Zeitpunkt der dauerhaften Sicherung und mithin des endgültigen Entstehens der sachlichen Beitragspflicht auch keine Beitragserhebung erfolgen. 48 Bei einer Loslösung des Vorteilsbegriffs vom Eintritt der sachlichen Beitragspflicht stelle sich eine Vielzahl praktischer Probleme. Insbesondere sei nicht bestimmbar, welcher Ausbauzustand für die Auslösung der zeitlichen Begrenzung der Möglichkeit der Beitragserhebung maßgeblich sein solle. Die Bestimmung der Frist für die Erhebung von Erschließungsbeiträgen sei dann mit erheblichen rechtlichen Unwägbarkeiten verbunden, da bereits tatsächlich nicht eindeutig feststellbar sei, wann der Ausbau einer Erschließungsanlage bereits einen „vorteilhaften“ Zustand erreicht habe. 49 3. Nach Auffassung des Zentralverbands der Deutschen Haus-, Wohnungs- und Grundeigentümer e.V. sind Eintritt der Vorteilslage und Entstehung der Beitragspflicht getrennt voneinander zu betrachten. Für die mit dem Eintritt der Vorteilslage beginnende zeitliche Betrachtung könne es nicht auf weitere, vom Gesetzgeber für den Eintritt der Beitragspflicht vorgesehene Voraussetzungen wie etwa die Widmung oder die Wirksamkeit der Beitragssatzung ankommen. B. 50 Die Vorlage ist zulässig. I. 51 Die Vorlage ist statthaft. Zwar folgt aus Art. 100 Abs. 1 GG, dass Gegenstand eines konkreten Normenkontrollverfahrens ein Gesetz und nicht nur ein schlichtes gesetzgeberisches Unterlassen sein kann (vgl. BVerfGE 142, 313 <331 Rn. 54>). Eine Vorlage ist aber jedenfalls dann zulässig, wenn der Gesetzgeber auf einem Rechtsgebiet bereits tätig geworden ist und ein Gericht die geschaffenen Vorschriften aus verfassungsrechtlichen Gründen für unzureichend hält (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 16. Januar 2013 - 1 BvR 2004/10 -, Rn. 21). In diesem Sinne sind Vorlagen etwa auch dann zulässig, wenn die Vorlage einer bestimmten Norm damit begründet wird, dass die Nichteinbeziehung bestimmter Sachverhalte oder Personengruppen gegen Gleichheitsrechte verstoße, oder wenn das vorlegende Gericht die unterlassene Einbeziehung weiterer Tatbestände in eine begünstigende Regelung als Verletzung staatlicher Schutzpflichten betrachtet (vgl. BVerfGE 142, 313 <332 Rn. 55> m.w.N.). 52 Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts folgt die Verfassungswidrigkeit der zur Prüfung gestellten Regelungen daraus, dass der Landesgesetzgeber unter Verstoß gegen das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit davon abgesehen habe, der Heranziehung zu Erschließungsbeiträgen eine absolute zeitliche Grenze zu setzen. Die Festsetzungsfristen nach § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG RP in Verbindung mit § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, § 170 Abs. 1 AO sollen einer unbefristeten Abgabenerhebung entgegenwirken, ermöglichen aber auch eine zeitlich unbegrenzte Beitragserhebung nach Eintritt der Vorteilslage. II. 53 Das Vorlagegericht hat sowohl seine Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit des § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG RP als auch dessen Entscheidungserheblichkeit hinreichend dargelegt (Art. 100 Abs. 1 GG, § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG). 54 1. Nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 Variante 2 GG hat ein Gericht das Verfahren auszusetzen und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen, wenn es ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig hält. Gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG muss das vorlegende Gericht darlegen, inwiefern seine Entscheidung von der Gültigkeit der Rechtsvorschrift abhängt und mit welcher übergeordneten Rechtsnorm die Vorschrift unvereinbar ist. Die Begründung, die das Bundesverfassungsgericht entlasten soll, muss daher mit hinreichender Deutlichkeit erkennen lassen, dass und weshalb das vorlegende Gericht im Falle der Gültigkeit der für verfassungswidrig gehaltenen Rechtsvorschrift zu einem anderen Ergebnis käme als im Falle ihrer Ungültigkeit (vgl. BVerfGE 153, 310 <333 Rn. 55> m.w.N.; 153, 358 <375 f. Rn. 37>). Das vorlegende Gericht muss dabei den Sachverhalt darstellen, sich mit der einfachrechtlichen Rechtslage auseinandersetzen, seine insoweit einschlägige Rechtsprechung darlegen und die in der Literatur und Rechtsprechung entwickelten Rechtsauffassungen berücksichtigen, die für die Auslegung der vorgelegten Rechtsvorschrift von Bedeutung sind (vgl. BVerfGE 136, 127 <142 Rn. 45; 145 ff. Rn. 53 ff.>; 138, 1 <13 f. Rn. 37>). § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG verpflichtet das vorlegende Gericht jedoch nicht, auf jede denkbare Rechtsauffassung einzugehen. Für die Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage ist grundsätzlich die Rechtsauffassung des vorlegenden Gerichts maßgebend, sofern diese nicht offensichtlich unhaltbar ist (vgl. BVerfGE 138, 1 <15 Rn. 41> m.w.N.). 55 Was die verfassungsrechtliche Beurteilung der zur Prüfung gestellten Norm angeht, muss das vorlegende Gericht von ihrer Verfassungswidrigkeit überzeugt sein und die für seine Überzeugung maßgeblichen Erwägungen nachvollziehbar darlegen (vgl. BVerfGE 138, 1 <13 f. Rn. 37> m.w.N.). Der Vorlagebeschluss muss hierzu den verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab angeben und sich mit der Rechtslage auseinandersetzen, insbesondere auch mit der maßgeblichen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 138, 1 <15 f. Rn. 42> m.w.N.). 56 2. a) Das vorlegende Bundesverwaltungsgericht legt die Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten Rechtsfrage hinreichend dar. Dafür genügt, dass eine verfassungsrechtliche Beanstandung der zur Prüfung gestellten Norm dem Kläger die Chance offenhält, eine für ihn günstigere Regelung zu erreichen (vgl. zu Art. 3 Abs. 1 GG BVerfGE 74, 182 <195>; 142, 313 <332 Rn. 55> m.w.N.). 57 Der Gesetzgeber hat hier mehrere Möglichkeiten, einen verfassungswidrigen Zustand zu beseitigen. So kann er wie andere Länder eine mit Eintritt der Vorteilslage beginnende Ausschlussfrist schaffen, die einer rechtmäßigen Heranziehung des Klägers zu Erschließungsbeiträgen entgegenstehen könnte. Die Länder haben sich überwiegend für Fristlängen von 10 bis 20 Jahren entschieden (oben Rn. 12). 58 Nach den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts entstand die Vorteilslage mit Aufgabe der vierspurigen Fortführung der Straße im Jahre 1999. Das Gericht hat auch dargelegt, weshalb der bis zur Beitragserhebung verstrichene Zeitraum von zwölf Jahren die Möglichkeit eröffnet, nach einer landesgesetzlichen Neuregelung beim Kläger keine Erschließungsbeiträge mehr zu erheben. Im Falle der Verfassungswidrigkeit der vorgelegten Regelung besteht daher jedenfalls die Möglichkeit, dass der Klage auf der Grundlage veränderten Landesrechts stattzugeben sein wird. 59 b) Das Bundesverwaltungsgericht legt seine Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit des § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG RP, soweit er die unbefristete Erhebung von Erschließungsbeiträgen nach dem Eintritt der Vorteilslage ermöglicht, und die dafür maßgeblichen Erwägungen nachvollziehbar dar. Das Gericht setzt sich erschöpfend mit der einfach- und verfassungsrechtlichen Rechtslage sowie der Rechtsprechung dazu auseinander. Es hat insbesondere begründet, warum das vom Bundesverfassungsgericht für das Anschlussbeitragsrecht entwickelte Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit auf alle Fälle übertragbar ist, in denen die abzugeltende Vorteilslage in der Sache eintritt, die daran anknüpfenden Beitragsansprüche aber wegen Fehlens einer sonstigen Voraussetzung nicht entstehen und deshalb auch nicht verjähren können. Zudem setzt es sich erschöpfend mit der in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung vertretenen Auffassung auseinander, die vom Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 5. März 2013 (BVerfGE 133, 143 ff.) aufgestellten Grundsätze könnten nicht auf das Erschließungsbeitragsrecht übertragen werden (vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 21. Juni 2017 - 2 S 1946/16 -, Rn. 52 m.w.N.) und beruhten auf Besonderheiten des der Entscheidung zugrundeliegenden Landesrechts (vgl. OVG Greifswald, Urteil vom 1. April 2014 - 1 L 142/13 -, Rn. 67 ff.). Unter Verweis auf die parallele Interessenlage und unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 21. Juli 2016 - 1 BvR 3092/15 -, Rn. 6 ff.; nun auch BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats vom 29. Juni 2020 - 1 BvR 1866/15 u.a. -, Rn. 4 ff., vom 1. Juli 2020 - 1 BvR 2838/19 -, Rn. 24 ff., vom 16. September 2020 - 1 BvR 1185/17 -, Rn. 2, und vom 29. Oktober 2020 - 1 BvL 7/17 -, Rn. 10 ff.) und der Fachgerichte (vgl. BayVGH, Urteil vom 14. November 2013 - 6 B 12.704 -, Rn. 21) legt das Bundesverwaltungsgericht auch nachvollziehbar dar, dass das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit nicht nur Fälle erfasst, in denen sich die Entstehung der Beitragspflicht aufgrund der Nichtigkeit des ihr zugrundeliegenden Satzungsrechts verzögert. Auch begründet das Bundesverwaltungsgericht seine Auffassung, weshalb es zwingend eine Regelung der zeitlichen Begrenzung abgabenrechtlicher Belastungen durch den Gesetzgeber bedarf. C. 60 § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG RP ist insoweit mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht vereinbar, als danach Erschließungsbeiträge nach dem Eintritt der Vorteilslage zeitlich unbegrenzt erhoben werden können. Die Möglichkeit einer zeitlich unbegrenzten Erhebung von Erschließungsbeiträgen nach dem Eintritt des abzugeltenden Vorteils im rheinland-pfälzischen Landesrecht verstößt gegen Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Rechtssicherheit als wesentlichem Bestandteil des in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Rechtsstaatsprinzips in seiner Ausprägung als Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit. Der Gesetzgeber hat den Ausgleich zwischen der Erwartung der Beitragspflichtigen, dass die Festsetzungsverjährung eintritt, und dem berechtigten öffentlichen Interesse an einem finanziellen Beitrag für die Erlangung individueller Vorteile aus der Erschließung verfehlt, indem er in verfassungsrechtlich nicht mehr hinnehmbarer Weise einseitig zu Lasten der Beitragspflichtigen entschieden hat (vgl. BVerfGE 133, 143 <157 f. Rn. 40> m.w.N.). I. 61 1. Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Gebot der Rechtssicherheit als wesentlichem Bestandteil des in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Rechtsstaatsprinzips schützt das Vertrauen in die Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der unter der Geltung des Grundgesetzes geschaffenen Rechtsordnung und der auf ihrer Grundlage erworbenen Rechte (vgl. BVerfGE 132, 302 <317 Rn. 41>; 133, 143 <158 Rn. 41>). Rechtssicherheit und Vertrauensschutz gewährleisten im Zusammenwirken mit den Grundrechten die Verlässlichkeit der Rechtsordnung als wesentliche Voraussetzung für die Selbstbestimmung über den eigenen Lebensentwurf und seinen Vollzug. Die Bürgerinnen und Bürger sollen die ihnen gegenüber möglichen staatlichen Eingriffe voraussehen und sich dementsprechend einrichten können. Dabei knüpft der Grundsatz des Vertrauensschutzes an ihr berechtigtes Vertrauen in bestimmte Regelungen an. Er besagt, dass sie sich auf die Fortwirkung bestimmter Regelungen in gewissem Umfang verlassen dürfen. Das Rechtsstaatsprinzip gewährleistet darüber hinaus aber unter bestimmten Umständen Rechtssicherheit auch dann, wenn keine Regelungen bestehen, die Anlass zu spezifischem Vertrauen geben, oder wenn Umstände einem solchen Vertrauen sogar entgegenstehen. Es schützt in seiner Ausprägung als Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit davor, dass lange zurückliegende, in tatsächlicher Hinsicht abgeschlossene Vorgänge unbegrenzt zur Anknüpfung neuer Lasten herangezogen werden können. Als Elemente des Rechtsstaatsprinzips sind Rechtssicherheit und Vertrauensschutz eng miteinander verbunden, da sie gleichermaßen die Verlässlichkeit der Rechtsordnung gewährleisten (BVerfGE 133, 143 <158 Rn. 41> m.w.N.). 62 Für die Erhebung von Beiträgen, die einen einmaligen Ausgleich für die Erlangung eines Vorteils durch Anschluss an eine Einrichtung schaffen sollen, ist der Gesetzgeber daher verpflichtet, Verjährungsregelungen zu treffen oder jedenfalls im Ergebnis sicherzustellen, dass Beiträge nicht unbegrenzt nach Erlangung des Vorteils festgesetzt werden können. Die Legitimation von Beiträgen liegt – unabhängig von der gesetzlichen Ausgestaltung ihres Wirksamwerdens – in der Abgeltung eines Vorteils, der den Betreffenden zu einem bestimmten Zeitpunkt zugekommen ist (vgl. BVerfGE 133, 143 <159 f. Rn. 45>; 137, 1 <17 Rn. 38 ff.>; 149, 222 <249 f. Rn. 54 ff.>). Je weiter dieser Zeitpunkt bei der Beitragserhebung zurückliegt, desto mehr verflüchtigt sich die Legitimation zur Erhebung solcher Beiträge. Zwar können dabei die Vorteile auch in der Zukunft weiter fortwirken und tragen nicht zuletzt deshalb eine Beitragserhebung auch noch relativ lange Zeit nach Anschluss an die entsprechende Einrichtung. Jedoch verliert der Zeitpunkt des Anschlusses, zu dem der Vorteil, um dessen einmalige Abgeltung es geht, dem Beitragspflichtigen zugewendet wurde, deshalb nicht völlig an Bedeutung. Beitragspflichtige würden sonst hinsichtlich eines immer weiter in die Vergangenheit rückenden Vorgangs dauerhaft im Unklaren gelassen, ob sie noch mit Belastungen rechnen müssen. Dies ist ihnen im Lauf der Zeit immer weniger zumutbar. Der Grundsatz der Rechtssicherheit gebietet vielmehr, dass Vorteilsempfänger in zumutbarer Zeit Klarheit darüber gewinnen können, ob und in welchem Umfang sie die erlangten Vorteile durch Beiträge ausgleichen müssen (vgl. BVerfGE 133, 143 <159 f. Rn. 45>). 63 Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, die berechtigten Interessen der Allgemeinheit am Vorteilsausgleich und der Einzelnen an Rechtssicherheit durch entsprechende Gestaltung von Verjährungsbestimmungen zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen. Dabei steht ihm ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Der Grundsatz der Rechtssicherheit verbietet es dem Gesetzgeber jedoch, die berechtigten Interessen der Beitragspflichtigen völlig unberücksichtigt zu lassen und ganz von einer Regelung abzusehen, die der Erhebung der Abgabe eine bestimmte zeitliche Grenze setzt (vgl. BVerfGE 133, 143 <160 Rn. 46>). 64 2. Rechtssicherheit und Vertrauensschutz erstrecken sich auf alle Abgaben zum Vorteilsausgleich und damit auch auf Erschließungsbeiträge (a). Zudem erfasst das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit nicht nur Konstellationen, in denen sich der Eintritt der (Festsetzungs-)Verjährung durch die gesetzliche Ausgestaltung des Beginns oder des Endes der Verjährungsfrist auf unbestimmte Zeit verzögert, sondern es bezieht alle Fälle ein, in denen eine tatsächliche Vorteilslage eintritt, die daran anknüpfenden Abgaben aber wegen Fehlens einer sonstigen Voraussetzung nicht verjähren können (b). Dies gilt auch im Erschließungsbeitragsrecht, in dem die Vorteilslage zum Zeitpunkt der zulässigen tatsächlichen Nutzbarkeit der Anlage eintritt, für die Beiträge erhoben werden (c). 65 a) Das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit gilt für alle Abgaben zum Vorteilsausgleich und damit insbesondere für das gesamte Beitragsrecht. Da es aus der Rechtssicherheit als wesentlichem Bestandteil des in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Rechtsstaatsprinzips abgeleitet ist, ist seine Geltung nicht auf die Erhebung von Beiträgen für die Herstellung leitungsgebundener Einrichtungen beschränkt. 66 Das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit findet damit auch im Erschließungsbeitragsrecht Anwendung (so auch BVerwG, Beschluss vom 12. Dezember 2019 - 9 B 53/18 -, Rn. 5; VGH Mannheim, Beschluss vom 9. März 2021 - 2 S 3955/20 -, Rn. 24 m.w.N.). Auch bei Erschließungsbeiträgen nach §§ 127 ff. BauGB handelt es sich um Abgaben zum Vorteilsausgleich; ihre Legitimation liegt – unabhängig von der gesetzlichen Ausgestaltung der Entstehung der Beitragspflicht – in der Abgeltung eines Vorteils, der den Beitragspflichtigen zu einem bestimmten Zeitpunkt erwachsen ist. 67 b) Mit seiner Forderung nach einer zeitlichen Begrenzung der Heranziehung des Bürgers zu Abgaben zum Vorteilsausgleich knüpft das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit an den Eintritt der tatsächlichen Vorteilslage an. Seine Anwendbarkeit ist damit insbesondere nicht auf Fälle beschränkt, in denen sich der Beginn (oder das Ende) der Festsetzungsfrist verzögert. Vielmehr fordert das Gebot eine zeitliche Begrenzung der Beitragserhebung in allen Fällen, in denen die abzugeltende tatsächliche Vorteilslage in der Sache eintritt, die daran anknüpfenden Beitragsansprüche aber wegen des Fehlens einer sonstigen Voraussetzung nicht entstehen und deshalb auch nicht verjähren können (so auch BVerwGE 149, 211 <215 Rn. 17>; BayVGH, Urteil vom 14. November 2013 - 6 B 12.704 -, Rn. 21; OVG Magdeburg, Urteil vom 2. Oktober 2018 - 4 L 97/17 -, Rn. 43). 68 Die nähere Bestimmung, wann die Vorteilslage eintritt, richtet sich nach der jeweils mit der Abgabe abzugeltenden Leistung. Dabei knüpft das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit an einen in tatsächlicher Hinsicht abgeschlossenen Vorgang an (vgl. BVerfGE 133, 143 <158 Rn. 41>). Daher ist der Eintritt der Vorteilslage von der Entstehung der Beitragspflicht unabhängig (vgl. BVerfGE 133, 143 <158 Rn. 41>) zu beurteilen. Maßgeblich ist damit, wann und unter welchen Umständen der die individuelle Vorteilslage begründende Vorgang in tatsächlicher Hinsicht als abgeschlossen zu betrachten ist, weil sich der durch den Beitrag abzugeltende Vorteil für die jeweiligen Beitragspflichtigen verwirklicht hat (vgl. OVG Münster, Urteil vom 24. November 2017 - 15 A 1812/16 -, Rn. 45). 69 Das verfassungsrechtliche Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit verlangt, dass Betroffene nicht dauerhaft im Unklaren gelassen werden dürfen, ob sie noch mit Belastungen rechnen müssen (vgl. BVerfGE 133, 143 <159 f. Rn. 45>). Daher muss der Zeitpunkt, in dem der abzugeltende Vorteil entsteht, für die Betroffenen unter Zugrundelegung eines objektiven Empfängerhorizonts erkennbar sein (vgl. OVG Münster, Urteil vom 24. November 2017 - 15 A 1812/16 -, Rn. 47; Beschluss vom 24. Oktober 2019 - 15 B 1090/19 -, Rn. 25; VGH Mannheim, Urteil vom 29. Oktober 2019 - 2 S 465/18 -, Rn. 129). Der Begriff der Vorteilslage muss deshalb an rein tatsächliche, für den möglichen Beitragsschuldner erkennbare Gegebenheiten anknüpfen und rechtliche Entstehungsvoraussetzungen für die Beitragsschuld außen vor lassen. In Ansehung dieser Vorgaben obliegt die nähere Bestimmung des maßgeblichen Zeitpunkts des Eintritts der tatsächlichen Vorteilslage im Einzelfall vorrangig den Fachgerichten. Ihnen steht im Rahmen der grundgesetzlichen Bindungen ein Spielraum zu, der in verfassungsrechtlicher Hinsicht nur eingeschränkt überprüfbar ist. 70 c) aa) Der mit dem Erschließungsbeitrag abzugeltende Vorteil ist im Bundesrecht nicht ausdrücklich definiert. Nach der fachgerichtlichen Rechtsprechung kommt es für die abzugeltende Vorteilslage (allein) auf die tatsächliche bautechnische Durchführung der jeweiligen Erschließungsmaßnahme an. Eine derartige Vorteilslage ist für das Erschließungsbeitragsrecht anzunehmen, wenn eine beitragsfähige Erschließungsanlage den an sie zu stellenden technischen Anforderungen entspricht und dies für den Beitragspflichtigen erkennbar ist. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn die Erschließungsanlage die nach dem satzungsmäßigen Teileinrichtungsprogramm, also den in der Satzung geregelten Merkmalen der endgültigen Herstellung (vgl. § 132 Nr. 4 BauGB), und dem Bauprogramm erforderlichen Teileinrichtungen aufweist; diese wiederum müssen dem jeweils für sie vorgegebenen technischen Ausbauprogramm entsprechen. Demgegenüber kommt es nicht darauf an, ob weitere rechtliche Voraussetzungen für das Entstehen der sachlichen Beitragspflicht vorliegen (vgl. BayVGH, Urteil vom 29. Oktober 2019 - 2 S 465/18 -, Rn. 129; OVG Lüneburg, Urteil vom 30. September 2020 - 9 LC 110/18 -, Rn. 91; OVG Münster, Beschluss vom 24. Oktober 2019 - 15 B 1090/19 -, Rn. 27). Davon geht auch das vorlegende Bundesverwaltungsgericht aus. 71 bb) Diese fachgerichtliche Rechtsprechung konkretisiert die Anforderungen an die Entstehung der erschließungsrechtlichen Vorteilslage aus der Perspektive des Gebots der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise. 72 (1) Damit ist hinreichend gewährleistet, dass die Entstehung der tatsächlichen Vorteilslage für die Betroffenen erkennbar ist. Denn es kommt hierfür weder auf die wirksame Widmung der Erschließungsanlage noch auf die Wirksamkeit der Beitragssatzung, die planungsrechtliche Rechtmäßigkeit ihrer Herstellung, den Eingang der letzten Unternehmerrechnung, die Mängelfreiheit der technischen Ausführung oder den vollständigen Grunderwerb an (vgl. BayVGH, Beschluss vom 4. Mai 2017 - 6 ZB 17.546 -, Rn. 10 m.w.N.; vgl. auch VGH Mannheim, Urteil vom 29. Oktober 2019 - 2 S 465/18 -, Rn. 129; OVG Münster, Beschluss vom 24. Oktober 2019 - 15 B 1090/19 -, Rn. 27). 73 Gegen die Unbeachtlichkeit der Widmung der Erschließungsanlage für das Entstehen der Vorteilslage kann nicht vorgebracht werden, dass ein „beitragsrelevanter“ Vorteil erst mit einer auch rechtlichen Sicherung der Nutzbarkeit der Anlage durch die Widmung vorliege. Diese rechtliche Sicherung betrifft lediglich die Befugnis des Hoheitsträgers zur Geltendmachung der Beiträge gegenüber den Beitragspflichtigen und damit eine Beitragsentstehungsvoraussetzung; sie wirkt aber nicht schon auf die Bestimmung des Zeitpunkts des erstmaligen Eintritts der tatsächlichen Vorteilslage zurück. Hieran knüpft das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit aber nicht an. Auch kann der Zeitpunkt der Zulässigkeit der tatsächlichen Nutzbarkeit der Erschließungsanlage unabhängig von deren Widmung nach der Verkehrsfreigabe bestimmt werden. Zwar mag der genaue Zeitpunkt der für den Eintritt der tatsächlichen Vorteilslage notwendigen Verkehrsfreigabe nicht immer ohne Weiteres ermittelt werden können (so OVG Lüneburg, Urteil vom 30. September 2020 - 9 LC 110/18 -, Rn. 92). Gleichwohl stellt die Verkehrsfreigabe als solche einen für den Betroffenen eindeutig erkennbaren Umstand dar. 74 (2) Der hinreichenden Erkennbarkeit der Vorteilslage für die Betroffenen steht auch nicht entgegen, dass die Vorteilslage nach der fachgerichtlichen Rechtsprechung erst entsteht, wenn die Erschließungsanlage die nach dem satzungsmäßigen Teileinrichtungsprogramm und dem Bauprogramm erforderlichen Teileinrichtungen aufweist und diese dem jeweils für sie vorgegebenen technischen Ausbauprogramm vollständig entsprechen. Denn die − für die Beitragspflichtigen in der Regel nicht erkennbare − Wirksamkeit der Erschließungsbeitragssatzung ist nach der Rechtsprechung keine Voraussetzung für den Eintritt der tatsächlichen Vorteilslage (vgl. BVerwG, Vorlagebeschluss vom 6. September 2018 - 9 C 5.17 -, Rn. 55). Zudem mag die Feststellung der tatsächlichen bautechnischen Voraussetzungen des Vorteils zwar im Einzelfall anspruchsvoll sein. Jedoch ist die Übereinstimmung der Erschließungsanlage mit dem gemeindlichen Bauprogramm und dem technischen Ausbauprogramm gerade deshalb maßgeblich, weil dies ein für den Bürger erkennbarer äußerer Umstand ist (vgl. BVerwGE 158, 163 <172 f. Rn. 29>; BVerwG, Urteil vom 15. Mai 2013 - 9 C 3.12 -, Rn. 16). 75 Der Anknüpfung an die tatsächliche bautechnische Durchführung der Erschließungsmaßnahme kann aus verfassungsrechtlicher Sicht auch nicht entgegengehalten werden, der Abschluss der endgültigen technischen Herstellung der Erschließungsanlage könne sich letztlich unbegrenzt verzögern. Zwar ist für die endgültige Herstellung der Erschließungsanlage auch nach der Vorlage des Bundesverwaltungsgerichts auf die Fertigstellung der Anlage in ihrer gesamten Länge abzustellen. Deshalb genügt das individuelle Erschlossensein eines Grundstücks durch eine auf seiner Höhe technisch fertiggestellte Erschließungsanlage für den Eintritt der Vorteilslage nicht. Wird jedoch eine Erschließungsanlage über längere Zeit nicht weitergebaut oder bleibt der Ausbauzustand der Erschließungsanlage hinter den Vorgaben des technischen Ausbauprogramms zurück, kann eine durchgehende Herstellung auch endgültig aufgegeben sein, indem eine teilweise hergestellte Anlage in eine selbständige Erschließungsanlage hineinwächst (vgl. dazu BVerwGE 158, 163 <166 f. Rn. 14> m.w.N.; BayVGH, Beschluss vom 4. Mai 2017 - 6 ZB 17.546 -, Rn. 11 m.w.N.). In diesen Fällen ist die Vorteilslage eingetreten, die Heranziehung zu Erschließungsbeiträgen also zeitlich begrenzt. 76 (3) Schließlich begegnet es keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, dass das Bundesverwaltungsgericht in anderen Konstellationen die dauerhafte rechtliche Sicherung des Vorteils als zulässigen Anknüpfungspunkt für die Bestimmung des Zeitpunkts des Eintritts der Vorteilslage angesehen hat (vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. März 2017 - 9 B 19.16 -, Rn. 26 m.w.N.). Diese Rechtsprechung bezieht sich auf die Neuorganisation einer kommunalen Abwasserentsorgung in den neuen Ländern im Zuge der Wiedervereinigung. Sie ist daher nicht ohne Weiteres der Verallgemeinerung zugänglich. Ohnehin findet sie nur insoweit Anwendung, als es um neu entstandene Aufwendungen geht, die nach der Wiedervereinigung getätigt wurden (vgl. BVerwG, Urteil vom 15. April 2015 - 9 C 19.14 -, Rn. 16; vgl. auch BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 29. Juni 2020 - 1 BvR 1866/15 u.a. -, Rn. 10). II. 77 Danach verstößt es gegen das Rechtsstaatsprinzip in seiner Ausprägung als der Rechtssicherheit dienendes Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG), dass das rheinland-pfälzische Landesrecht in § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG RP die zeitlich unbegrenzte Festsetzung von Erschließungsbeiträgen nach Eintritt der zulässigen tatsächlichen Nutzbarkeit der Erschließungsanlage ermöglicht. Die Regelung des § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG RP knüpft mit ihrem allgemeinen Verweis auf § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, § 170 Abs. 1 AO nicht an den Eintritt der Vorteilslage an, sondern macht den Beginn der Festsetzungsfrist von zusätzlichen Voraussetzungen abhängig. In der Folge besteht trotz der Regelung zur Festsetzungsverjährung die Möglichkeit, dass nach dem Eintritt der tatsächlichen Vorteilslage unbefristet Beiträge erhoben werden (1). Auch aus sonstigen Regelungen ergeben sich keine hinreichenden zeitlichen Grenzen der Beitragserhebung (2). Damit lässt der Gesetzgeber die berechtigte Erwartung der Bürgerinnen und Bürger darauf, geraume Zeit nach Entstehen der Vorteilslage nicht mehr mit der Festsetzung des Beitrags rechnen zu müssen, gänzlich unberücksichtigt und löst den Interessenkonflikt einseitig zu Lasten der Beitragspflichtigen (vgl. BVerfGE 133, 143 <157 f. Rn. 40; 160 f. Rn. 47>). Die vom Gesetzgeber zu regelnde Frist muss jedenfalls unter 30 Jahren liegen (3). 78 1. § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG RP ermöglicht in Fällen, in denen die mit Erschließungsbeiträgen abzugeltende tatsächliche Vorteilslage eingetreten ist, aber noch nicht alle Voraussetzungen für das Entstehen der sachlichen Beitragspflicht gegeben sind, die Festsetzung von Erschließungsbeiträgen ohne zeitliche Begrenzung. Denn § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG RP knüpft mit seinem Verweis auf § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, § 170 Abs. 1 AO, § 133 Abs. 2 Satz 1, § 127 Abs. 2 Nr. 1 BauGB den Beginn der Festsetzungsfrist an das Entstehen der sachlichen Beitragspflicht, obwohl die im Erschließungsbeitragsrecht maßgebliche tatsächliche Vorteilslage schon im Falle einer zulässigen tatsächlichen Nutzbarkeit der Erschließungsanlage und damit bereits vor dem Vorliegen sämtlicher Beitragsentstehungsvoraussetzungen eintreten kann. 79 Zwar schließt der Landesgesetzgeber damit die Verjährung von Beitragsansprüchen nicht völlig aus. Die Regelung verschiebt aber den Verjährungsbeginn ohne zeitliche Obergrenze nach hinten. Dies wird den Anforderungen des Gebots der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit nicht gerecht. Die Regelung zur Festsetzungsverjährung in § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG RP ist daher insoweit verfassungswidrig. 80 2. Auch aus sonstigen Regelungen ergeben sich keine hinreichenden zeitlichen Grenzen der Erhebung von Erschließungsbeiträgen. Eine über die Regelungsvorgaben von § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG RP hinausgehende zeitliche Begrenzung der Erhebung von Erschließungsbeiträgen besteht in Rheinland-Pfalz nicht (a); sie folgt auch nicht aus einer analogen Anwendung anderer Vorschriften (b) oder dem Grundsatz von Treu und Glauben (c). Auch eine verfassungskonforme Auslegung bestehender Regelungen zur Festsetzungsverjährung kommt nicht in Betracht (d). 81 a) Nach den überzeugenden Darlegungen des vorlegenden Gerichts besteht in Rheinland-Pfalz für die Erhebung von Erschließungsbeiträgen keine gesetzlich vorgesehene, allein an den Zeitpunkt der Erlangung des Vorteils anknüpfende zeitliche Ausschlussfrist. Eine solche ergibt sich weder aus den Vorschriften des Kommunalabgabengesetzes Rheinland-Pfalz noch aus denen des Baugesetzbuches. Eine absolute Ausschlussfrist für die Erhebung von Erschließungsbeiträgen ergibt sich auch nicht aus § 1 Abs. 1 VwVfG RP in Verbindung mit § 53 Abs. 2 Satz 1 VwVfG. 82 Nach § 53 Abs. 2 Satz 1 VwVfG beträgt die Verjährungsfrist für einen Anspruch eines öffentlich-rechtlichen Rechtsträgers, der durch unanfechtbaren Verwaltungsakt festgesetzt wurde, 30 Jahre. Die Regelung findet nach Maßgabe von § 1 Abs. 1 VwVfG RP grundsätzlich auch in Rheinland-Pfalz Anwendung. Ein Rückgriff auf § 53 Abs. 2 Satz 1 VwVfG kommt hier allerdings bereits deshalb nicht in Betracht, weil diese Vorschrift gemäß § 1 Abs. 3 Nr. 1 VwVfG RP nicht für Verfahren nach der Abgabenordnung gilt. Diese Ausschlussregelung erfasst ausdrücklich auch die Erhebung von Kommunalabgaben, da der Landesgesetzgeber die Anwendbarkeit der Abgabenordnung in § 3 Abs. 1 bis 3 KAG RP angeordnet und den Rückgriff auf das Verwaltungsverfahrensgesetz in § 3 Abs. 4 KAG RP nur bei öffentlich-rechtlichen Verträgen zugelassen hat (vgl. OVG Koblenz, Urteil vom 16. Februar 2017 - 6 A 10137/14 -, Rn. 49; siehe auch BVerwG, Urteil vom 15. April 2015 - 9 C 19.14 -, Rn. 13; VGH Mannheim, Urteil vom 21. Juni 2017 - 2 S 1946/16 -, Rn. 55 m.w.N.). 83 Daneben scheidet eine unmittelbare Anwendung der Regelung des § 1 Abs. 1 VwVfG RP in Verbindung mit § 53 Abs. 2 Satz 1 VwVfG auch in der Sache aus. Denn die Regelung betrifft unanfechtbare Verwaltungsakte, die zur Feststellung oder Durchsetzung eines Anspruchs eines öffentlich-rechtlichen Rechtsträgers erlassen wurden (vgl. § 53 Abs. 1 Satz 1 VwVfG), und setzt damit die unanfechtbare Festsetzung des betreffenden Anspruchs voraus. Eine unanfechtbare Festsetzung von Beitragsansprüchen hat in den hier relevanten Fällen aber regelmäßig noch nicht stattgefunden. 84 b) Eine Höchstfrist für die Erhebung von Erschließungsbeiträgen nach Eintritt der tatsächlichen Vorteilslage lässt sich nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch nicht aus einer analogen Anwendung von § 1 Abs. 1 VwVfG RP in Verbindung mit § 53 Abs. 2 Satz 1 VwVfG (vgl. BVerwG, Urteil vom 15. April 2015 - 9 C 19.14 -, Rn. 13) herleiten (BVerwG, Vorlagebeschluss vom 6. September 2018 - 9 C 5.17 -, Rn. 34 f.). 85 Der Grundsatz der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit schließt eine Bestimmung der zeitlichen Obergrenze für die Heranziehung zu Beiträgen durch die analoge Heranziehung einer nach Normzweck und Interessenlage geeigneten Verjährungsvorschrift auf die genannte Entscheidung des Gesetzgebers zwar nicht grundsätzlich aus (so BVerwG, Urteil vom 27. November 2019 - 9 C 5.18 -, Rn. 16). Allerdings muss die zeitliche Begrenzung der Abgabenerhebung in einem rechtsstaatlich vertretbaren Maße erkennbar sein. Daran fehlt es hier. Denn der Rückgriff auf die genannten Verjährungsregelungen wäre zu unbestimmt, um dem Interesse der Bürgerinnen und Bürger, Klarheit darüber zu erhalten, bis wann sie nach Entstehung der Vorteilslage noch mit einer Heranziehung zu einem Beitrag rechnen müssen, Rechnung zu tragen. 86 c) Der Grundsatz von Treu und Glauben (zum einfachen Recht BVerwG, Beschluss vom 10. September 2019 - 9 B 40.18 -, Rn. 7 m.w.N.; vgl. aber noch BVerwGE 149, 211 <221 ff. Rn. 28 ff.>; BVerwG, Urteil vom 15. März 2017 - 10 C 1.16 -, Rn. 29) ist als auf die Beurteilung von Einzelfällen bezogenes Rechtsinstitut von vornherein nicht geeignet, um dem Beitragspflichtigen Klarheit über Beginn und Dauer der Festsetzungsverjährung bei Erschließungsbeiträgen zu verschaffen. Seine Anwendung kann damit nicht die Anforderungen des rechtsstaatlichen Gebots der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit und die Verfassungsmäßigkeit von § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG RP sicherstellen. 87 d) Auch eine verfassungskonforme Auslegung der Regelungen zur Festsetzungsverjährung in § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG RP kommt nicht in Betracht (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 21. Juli 2016 - 1 BvR 3092/15 -, Rn. 9 ff.). 88 Eine solche Auslegung von § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG RP überschritte schon den Wortlaut der Regelung, da diese durch ihren Verweis auf die Abgabenordnung an eine bereits entstandene Abgabenpflicht anknüpft. Zudem hätte eine solche Auslegung zur Folge, dass beginnend mit dem Ende des Jahres, in dem der Vorteil den Beitragspflichtigen erstmals in relevanter Weise zugewendet worden ist, eine Festsetzungsfrist von vier Jahren zur Anwendung käme. Eine solch kurze Frist unterliefe das gesetzgeberische Anliegen, die Festsetzungsfrist erst ab dem Zeitpunkt in Gang zu setzen, in dem der Beitragsanspruch entstanden und damit durchsetzbar ist, um den Kommunen einen hinreichenden Zeitraum zur Erhebung von Beiträgen zu eröffnen. Sie berücksichtigte zudem nicht das für die Abwägung maßgebliche Interesse der Allgemeinheit an der Beitragserhebung und privilegierte einseitig die Beitragspflichtigen. 89 Dementsprechend kommt auch eine verfassungskonforme Auslegung der bundesgesetzlichen Regelungen zum Zeitpunkt des Entstehens der sachlichen Beitragspflicht im Erschließungsbeitragsrecht nicht in Betracht. Soweit in der fachgerichtlichen Rechtsprechung und Literatur eine verfassungskonforme Auslegung vergleichbarer Regelungen dahingehend erwogen wurde, die Festsetzungsfrist durch eine modifizierende Auslegung der Vorgaben für das Entstehen der sachlichen Beitragspflicht an den Eintritt der Vorteilslage rückzukoppeln (vgl. im Zusammenhang mit sanierungsrechtlichen Ausgleichsbeträgen OVG Münster, Urteil vom 30. April 2013 - 14 A 208/11 -, Rn. 50 ff.), hat das Bundesverwaltungsgericht diese Versuche als Überschreitung der Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung verworfen (vgl. BVerwGE 149, 211 <216 ff. Rn. 20 ff.>). 90 Auch die Wertungen des Gesetzgebers, die den sonstigen Verjährungsvorschriften der Abgabenordnung wie der Festsetzungsfrist von 10 Jahren bei Steuerhinterziehung gemäß § 169 Abs. 2 Satz 2 und 3 AO zugrunde liegen, sind auf Konstellationen der vorliegenden Art nicht im Wege der verfassungskonformen Auslegung übertragbar. Sie regeln für Sachverhalte, bei denen eine Forderung entstanden ist, ab welcher zeitlichen Grenze Berechtigte den entstandenen Anspruch nicht mehr durchsetzen beziehungsweise die entstandene Abgabenschuld nicht mehr festsetzen können. Davon unterscheidet sich der vorliegende Fall, in dem zu klären ist, welche zeitlichen Grenzen gelten, wenn die Beitragsschuld etwa mangels Widmung der Erschließungsanlage noch nicht entstanden ist (vgl. VG Karlsruhe, Urteil vom 11. September 2014 - 2 K 2326/13 -, Rn. 33). 91 3. Ob die in jedem Fall notwendige zeitliche Obergrenze adäquat bemessen ist, stellt eine primär dem Gesetzgeber überantwortete Frage dar, denn er hat einen weiten Einschätzungsspielraum hinsichtlich des Ausgleichs zwischen allgemeinen Interessen und dem Interesse der in Anspruch zu nehmenden Bürgerinnen und Bürger (vgl. BVerfGE 133, 143 <160 Rn. 46>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 1. Juli 2020 - 1 BvR 2838/19 -, Rn. 33). Je weiter aber der anspruchsbegründende Zeitpunkt bei der Beitragserhebung zurückliegt, desto mehr verflüchtigt sich die Legitimation zur Erhebung solcher Beiträge (vgl. BVerfGE 133, 143 <159 f. Rn. 45>). Jedenfalls genügt eine 30-jährige Ausschlussfrist losgelöst von den Besonderheiten der Wiedervereinigung den Anforderungen des Gebots der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit bei vorteilsausgleichenden Abgaben nicht, da anders als im Falle des § 53 Abs. 2 Satz 1 VwVfG kein titulierter Anspruch vorliegt, sodass die Beitragspflichtigen nicht sicher wissen, ob, in welcher Höhe und wann sie zu einem Beitrag herangezogen werden (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 1. Juli 2020 - 1 BvR 2838/19 -, Rn. 32; vgl. auch BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats vom 29. Juni 2020 - 1 BvR 1866/15 u.a. -, Rn. 8 ff., und vom 16. September 2020 - 1 BvR 1185/17 -, Rn. 2: 25 Jahre noch zulässig). D. 92 Der Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG führt lediglich zur Feststellung, dass § 3 Abs.1 Nr. 4 KAG RP verfassungswidrig ist, soweit er keine Regelung der Höchstfrist vorsieht, bis zu der Erschließungsbeiträge nach Eintritt einer Vorteilslage erhoben werden können. Eine Nichtigerklärung kommt nicht in Betracht, da der Gesetzgeber verschiedene Möglichkeiten hat, den Verfassungsverstoß zu beseitigen (vgl. Rn. 57, 63). Folge der Erklärung der Verfassungswidrigkeit ist eine Anwendungssperre. Gerichte und Verwaltungsbehörden dürfen die Norm im Umfang der festgestellten Unvereinbarkeit nicht mehr anwenden, laufende Verfahren sind auszusetzen (BVerfGE 122, 210 <246>; 133, 143 <162 Rn. 51>). Der Gesetzgeber ist verpflichtet, bis zum 31. Juli 2022 eine auf den gesamten von der Unvereinbarkeitserklärung betroffenen Zeitraum rückwirkende verfassungsgemäße Rechtslage herzustellen. Diese Regelung muss alle noch nicht bestandskräftigen Entscheidungen, die auf der für verfassungswidrig erklärten Regelung beruhen, erfassen (vgl. dazu BVerfGE 133, 377 <423 Rn. 108>). Harbarth Paulus Baer Britz Ott Christ Radtke Härtel
bundesverfassungsgericht
71-2022
10. August 2022
Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen beaufsichtigte Drogenscreenings mittels Urinkontrollen in Justizvollzugsanstalt Pressemitteilung Nr. 71/2022 vom 10. August 2022 Beschluss vom 22. Juli 20222 BvR 1630/21 Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts einer Verfassungsbeschwerde stattgegeben, die sich gegen fachgerichtliche Entscheidungen richtet, mit denen der inhaftierte Beschwerdeführer bei mehreren zur Feststellung eines Suchtmittelkonsums durchgeführten Urinkontrollen zur Entblößung seines Genitals verpflichtet wurde. Die Urinkontrollen fanden jeweils unter der Aufsicht eines gleichgeschlechtlichen Justizvollzugsbediensteten statt. Die angegriffene Entscheidung des Landgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinem aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) folgenden allgemeinen Persönlichkeitsrecht; die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinen Rechten aus Art. 19 Abs. 4 GG. Sie werden aufgehoben und die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen. Sachverhalt: Der Beschwerdeführer verbüßte eine mehrjährige Freiheitsstrafe in einer Justizvollzugsanstalt. Um Suchtmittelmissbrauch zu unterbinden, wurden von der Abteilungsleitung regelmäßig allgemeine Drogenscreenings mittels Urinkontrollen angeordnet und durch gleichgeschlechtliche Bedienstete des allgemeinen Vollzugsdiensts durchgeführt. Um Manipulationen oder Täuschungshandlungen, wie die Verwendung von Fremdurin, möglichst auszuschließen, erfolgten die Urinabgaben unter Aufsicht. Auch beim Beschwerdeführer wurden in der Zeit vom 24. November bis zum 28. Dezember 2020 vier beaufsichtigte Urinkontrollen durchgeführt, bei denen der anwesende Justizvollzugsbedienstete während der Abgabe der Urinprobe jeweils einen freien Blick auf das entkleidete Genital des Beschwerdeführers hatte. Anfang Januar 2021 beantragte der Beschwerdeführer eine gerichtliche Entscheidung. Er begehrte, dass zukünftig Feststellungen zum Suchtmittelkonsum durch eine Blutentnahme aus der Fingerbeere erfolgen sollten. Zudem beantragte er die Feststellung, dass die durchgeführten Urinabgaben unter Sichtkontrolle rechtswidrig gewesen seien. Die vier Urinproben innerhalb von gut vier Wochen hätten sein Schamgefühl erheblich verletzt und massiv in seine Intimsphäre eingegriffen. Die Justizvollzugsanstalt entgegnete, dass der erste Antrag auf gerichtliche Entscheidung unzulässig sei, weil zuvor kein entsprechender Antrag bei ihr gestellt worden sei. Der zweite Antrag sei unbegründet. Rechtsgrundlage der Urinkontrollen sei § 65 Abs. 1 des Strafvollzugsgesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen (StVollzG NRW). Diese dienten der Feststellung des Suchtmittelmissbrauchs. Um Manipulationen oder Täuschungshandlungen, namentlich die Verwendung von Fremdurin, möglichst auszuschließen, sei eine Urinabgabe unter Aufsicht erforderlich. Mit angegriffenem Beschluss vom 11. März 2021 verwarf das Landgericht den ersten Antrag als unzulässig und den zweiten Antrag als unbegründet. Die Urinkontrollen seien rechtmäßig erfolgt. Die Maßnahme berühre nicht nur die gesundheitlichen Belange eines Gefangenen und seine Resozialisierung, sondern auch die Sicherheit des Strafvollzugs. Weiterhin ergebe sich aus § 65 StVollzG NRW keine Pflicht, eine andere Form der Kontrolle anzubieten. Andere Maßnahmen, die Manipulationen ausschließen würden, wären mit körperlichen Untersuchungen verbunden, welche einen wesentlich gravierenderen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht darstellten. Die gegen den Beschluss des Landgerichts erhobene Rechtsbeschwerde des Beschwerdeführers verwarf das Oberlandesgericht mit ebenfalls angegriffenem Beschluss vom 6. August 2021 als unzulässig. In Bezug auf den Verpflichtungsantrag (Antrag zu 1.) sei die Rechtsbeschwerde unzulässig, weil kein zulässiger Antrag auf gerichtliche Entscheidung vorgelegen habe. Im Hinblick auf den Feststellungsantrag (Antrag zu 2.) sei es nicht geboten, die Nachprüfung des angefochtenen Beschlusses zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu ermöglichen. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer insbesondere eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4 und Art. 20 Abs. 3 GG. Wesentliche Erwägungen der Kammer: Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet. 1. Der angegriffene Beschluss des Landgerichts vom 11. März 2021 verletzt den Beschwerdeführer in seinem aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG folgenden allgemeinen Persönlichkeitsrecht. a) Auslegung und Anwendung des einfachen Gesetzesrechts sind grundsätzlich Aufgabe der Fachgerichte, unterliegen aber der verfassungsgerichtlichen Prüfung daraufhin, ob sie die Grenze zur Willkür überschreiten oder die Bedeutung eines Grundrechts grundsätzlich verkennen. Grundrechte dürfen nur durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes und nur unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit eingeschränkt werden; dies gilt auch für Grundrechte von Gefangenen. Staatliche Maßnahmen, die mit einer Entkleidung verbunden sind, stellen einen schwerwiegenden Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht dar. Eingriffe, die den Intimbereich und das Schamgefühl des Inhaftierten berühren, lassen sich im Haftvollzug zwar nicht immer vermeiden. Sie sind aber von besonderem Gewicht. Der Gefangene hat insoweit Anspruch auf besondere Rücksichtnahme. b) Diesen Maßstäben wird der angegriffene Beschluss des Landgerichts nicht gerecht. Die durch das Landgericht vorgenommene Auslegung der Tatbestandsmerkmale der Rechtsgrundlage (§ 65 StVollzG NRW) sowie die gerichtliche Überprüfung der durch die Justizvollzugsanstalt vorgenommenen Abwägung auf Ermessensfehler beruhen auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Beschwerdeführers. aa) Es ist bereits fraglich, ob die von der Justizvollzugsanstalt auf § 65 StVollzG NRW gestützte Urinkontrolle aufgrund des damit einhergehenden schwerwiegenden Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht auch ohne konkreten Verdacht des Drogenmissbrauchs des betroffenen Gefangenen angeordnet werden kann. bb) Diese Frage kann vorliegend offen bleiben. Denn das Landgericht hat bei der vorgenommenen Auslegung der Tatbestandsmerkmale bereits nicht berücksichtigt, dass § 65 StVollzG NRW speziell Maßnahmen „zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt“ ermöglicht. Für Maßnahmen zum Gesundheitsschutz des Gefangenen sehen hingegen sowohl das Strafvollzugsgesetz (des Bundes) als auch das Strafvollzugsgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen eine eigenständige Rechtsgrundlage vor (vgl. § 56 StVollzG, § 43 StVollzG NRW). So hätte sich das Landgericht insbesondere bei der umstrittenen Frage, ob beaufsichtigte Urinkontrollen auch anlasslos angeordnet werden können, damit auseinandersetzen müssen, ob diese unter Berücksichtigung des damit verbundenen schwerwiegenden Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht „zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder Ordnung“ (so die von der Justizvollzugsanstalt herangezogene spezielle Rechtsgrundlage für Suchtmittelkontrollen nach § 65 StVollzG NRW) gerechtfertigt sein können. Die vom Landgericht insoweit nicht differenzierende Abwägung lässt eine Unterscheidung der genannten Rechtsgrundlagen nicht erkennen. Unter Berücksichtigung des schwerwiegenden Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht, der die Intimsphäre berührt, kann die dieses Grundrecht einschränkende Rechtsgrundlage aber nicht dahinstehen. cc) Darüber hinaus hat das Landgericht nicht beachtet, dass § 65 Abs. 1 Satz 2 StVollzG NRW im September 2017 dahingehend geändert wurde, dass die Maßnahme mit einem geringfügigen Eingriff, namentlich einer Punktion der Fingerbeere zur Abnahme einer geringen Menge von Kapillarblut, verbunden sein darf, wenn der Gefangene einwilligt. Mit Blick auf die dadurch ausdrücklich ermöglichte alternative Testmöglichkeit kommt es nicht mehr darauf an, ob als milderes Mittel auch eine vorherige Durchsuchung des Gefangenen mit dessen Einverständnis in Betracht kommt. Das Landgericht hat nicht geprüft, ob die Justizvollzugsanstalt als milderes Mittel statt einer beobachteten Urinkontrolle die Kontrolle durch Punktion der Fingerbeere zur Abnahme einer geringen Menge von Kapillarblut hätte anbieten müssen. Die vom Landgericht nicht näher erläuterte Annahme, dass andere Maßnahmen, die eine Manipulation ausschließen, körperliche Untersuchungen voraussetzen würden, welche einen wesentlich gravierenderen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht darstellten, ist unter Berücksichtigung des ausdrücklich erklärten Einverständnisses des Beschwerdeführers mit einer Punktion der Fingerbeere nicht nachvollziehbar. So wiegt der die Intimsphäre berührende Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht bei beaufsichtigten, mit Entkleidung verbundenen Urinkontrollen in der Regel deutlich schwerer als der mit einer (einverständlichen) Punktion der Fingerbeere verbundene Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Gefangenen. dd) Da die Justizvollzugsanstalt bei Anordnung grundrechtseinschränkender Maßnahmen von Amts wegen zu prüfen hat, ob diese die Verhältnismäßigkeit wahren, also kein milderes Mittel zur Wahrung der Sicherheitsinteressen in Betracht kommt, steht dem auch nicht entgegen, dass der Beschwerdeführer vor Anordnung der ersten Urinkontrolle keinen ausdrücklichen Antrag gestellt hat, die Kontrolle mittels Punktion der Fingerbeere durchzuführen. ee) Schließlich hat es das Landgericht versäumt, innerhalb der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen, dass auch die angeordnete Frequenz der Kontrollen nicht angemessen gewesen sein könnte. So erfordert ein gerechter Ausgleich zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht, insbesondere der Wahrung der Intimsphäre des Gefangenen, und dem Sicherheitsinteresse der Vollzugsanstalt auch die Prüfung, in welcher Frequenz einzelne beobachtete Urinkontrollen zur Suchtmittelprävention angeordnet werden dürfen. 2. Die Verfassungsbeschwerde ist auch hinsichtlich des angegriffenen Beschlusses des Oberlandesgerichts vom 6. August 2021 offensichtlich begründet. Dieser Beschluss verletzt den Beschwerdeführer in seinen Rechten aus Art. 19 Abs. 4 GG. § 119 Abs. 3 StVollzG erlaubt, von einer Begründung der Rechtsbeschwerdeentscheidung abzusehen, wenn das Oberlandesgericht die Beschwerde für unzulässig oder offensichtlich unbegründet erachtet, was der Senat hinsichtlich des Feststellungsbegehrens des Beschwerdeführers vorliegend getan hat. Dies ist verfassungsrechtlich grundsätzlich nicht zu beanstanden. Daraus folgt jedoch nicht, dass sich der Beschluss selbst verfassungsrechtlicher Prüfung entzöge oder die Maßstäbe der Prüfung zu lockern wären. Vielmehr ist in einem solchen Fall die Entscheidung bereits dann aufzuheben, wenn an ihrer Vereinbarkeit mit Grundrechten des Beschwerdeführers erhebliche Zweifel bestehen. Dies ist angesichts der inhaltlichen Abweichung der Entscheidungsgründe des Landgerichts von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hier der Fall.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT - 2 BvR 1630/21 - IM NAMEN DES VOLKES In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Herrn (…), gegen a)  den Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 6. August 2021 - III-1 Vollz(Ws) 238+241+334-336/21 -, b)  den Beschluss des Landgerichts Bochum vom 11. März 2021 - V StVK 3/21 - hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Vizepräsidentin König und die Richter Müller, Maidowski am 22. Juli 2022 einstimmig beschlossen: Der Beschluss des Landgerichts Bochum vom 11. März 2021 - V StVK 3/21 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz, der Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 6. August 2021 - III-1 Vollz(Ws) 238+241+334-336/21 - in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 Grundgesetz; die Entscheidungen werden aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Landgericht Bochum zurückverwiesen. Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten. G r ü n d e : 1 Der inhaftierte Beschwerdeführer wendet sich gegen die Verpflichtung zur Entblößung seines Genitals bei mehreren beaufsichtigten Urinkontrollen zur Feststellung eines Suchtmittelkonsums. I. 2 1. Der Beschwerdeführer verbüßte seit Juni 2014 eine Freiheitsstrafe wegen schwerer räuberischer Erpressung. Zurzeit befindet er sich im Vollzug der Sicherungsverwahrung in der Justizvollzugsanstalt Werl. Seit dem 29. Juli 2020 war er in der Justizvollzugsanstalt Bochum inhaftiert. Um Suchtmittelmissbrauch zu unterbinden, wurden regelmäßig allgemeine Drogenscreenings mittels Urinkontrollen von der Abteilungsleitung angeordnet und ausschließlich durch gleichgeschlechtliche Bedienstete des allgemeinen Vollzugsdiensts durchgeführt. Um Manipulationen oder Täuschungshandlungen, wie die Verwendung von Fremdurin, möglichst auszuschließen, erfolgten die Urinabgaben unter Aufsicht. 3 2. Am 24. November 2020 wurde der Beschwerdeführer von dem Vollzugsbediensteten P. zu einem Drogentest aufgefordert. Für diese Kontrolle musste er vor dem Urinal sein Genital für Herrn P. als Aufsichtsperson frei sichtbar entkleiden und einen Becher mit Urin füllen. Am 25. November 2020 wandte sich der Beschwerdeführer mit einem Antrag an die Justizvollzugsanstalt und machte deutlich, dass er Urinkontrollen „mit (freier) Sicht auf das Genital“ als entwürdigende Maßnahme empfinde, zumal es sich bei dem kontrollierenden Beamten um seinen Betreuer gehandelt habe. 4 3. Am 30. November 2020 kam es erneut zu einem Drogenscreening in Form einer Urinkontrolle mit für den Vollzugsbediensteten J. sichtbar entkleidetem Genital. Herr J. teilte dem Beschwerdeführer vor der Kontrolle mit, dass sein Begehren vom 25. November 2020 von der Justizvollzugsanstalt ablehnend beschieden worden sei, einem Betreuerwechsel nicht zugestimmt werde und eine neue Drogenkontrolle in der vorherigen Form angeordnet worden sei. 5 4. Am 11. Dezember 2020 wurde wiederum ein Drogentest in Form einer Urinkontrolle mit entkleidetem Genital unter Aufsicht des Vollzugsbediensteten W. durchgeführt. Dieser beobachtete den Vorgang des Urinierens nicht vollständig, sondern wandte sich nach der Entkleidung des Beschwerdeführers nach einem „gezielten Blick auf (das) Genital“ zum Ausschluss etwaiger Manipulationsmöglichkeiten ab. 6 5. Eine weitere Drogenkontrolle fand am 28. Dezember 2020 unter Aufsicht des Vollzugsbediensteten F. in Form einer Urinkontrolle mit durchgehender Beobachtung des Genitals des Beschwerdeführers – wie am 24. und 30. November 2020 – statt. 7 6. Am 7. Dezember 2020 bemängelte der Beschwerdeführer die Urinkontrollen gegenüber Mitarbeitern der Justizvollzugsanstalt erneut als entwürdigend und beschämend. 8 7. Am 5. Januar 2021 beantragte er eine gerichtliche Entscheidung. Er begehrte, dass zukünftig Feststellungen zum Suchtmittelkonsum durch eine Blutentnahme aus der Fingerbeere erfolgen sollten. Zudem beantragte er die Feststellung, dass die Urinabgaben unter Sichtkontrolle am 24. und 30. November 2020 sowie am 11. und 28. Dezember 2020 rechtswidrig gewesen seien. Nach der ersten Urinprobe habe er am 25. November 2020 die Justizvollzugsanstalt ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass es sich bei den durchgeführten Urinkontrollen mit freier Sicht auf das Genital um entwürdigende Maßnahmen handele. Ihm sei aber keine Alternative zur Abgabe der Urinprobe angeboten worden. Eine Verweigerung der Abgabe hätte ein sofortiges Disziplinarverfahren nach sich gezogen und sei deshalb keine Alternative gewesen. Die vier Urinproben innerhalb von vier Wochen hätten sein Schamgefühl erheblich verletzt und massiv in seine Intimsphäre eingegriffen. Insbesondere der Umstand, dass die Überwachung teilweise durch Mitglieder des festen Teams seiner Abteilung erfolgt sei, berühre ihn verstärkt in seinem Schamgefühl. Die hohe Anzahl der Urinkontrollen sei auch als solche erniedrigend und entwürdigend, da der Justizvollzugsanstalt bewusst gewesen sei, dass er sich gegen diese aufgrund drohender Disziplinarverfahren nur sehr schwer hätte wehren können. Durch die schwerwiegenden Grundrechtseingriffe bestehe ein Feststellungs- und Rehabilitationsinteresse sowie auch Wiederholungsgefahr. Zudem diene das Verfahren der Vorbereitung von Schadensersatz- und Amtshaftungsprozessen. Bei schwerwiegenden Eingriffen in das allgemeine Persönlichkeitsrecht müsse die Justizvollzugsanstalt in einem besonderen Maße die Verhältnismäßigkeit beachten. 9 8. Mit Schreiben vom 11. Februar 2021 entgegnete die Justizvollzugsanstalt, dass der erste Antrag auf gerichtliche Entscheidung unzulässig sei, weil zuvor kein entsprechender Antrag bei ihr gestellt worden sei. Der zweite Antrag sei unbegründet. Rechtsgrundlage der Urinkontrollen sei § 65 Abs. 1 StVollzG NRW. Diese dienten der Feststellung des Suchtmittelmissbrauchs. Sie würden von gleichgeschlechtlichen Mitarbeitern der Abteilung durchgeführt. Um Manipulationen oder Täuschungshandlungen, namentlich die Verwendung von Fremdurin, möglichst auszuschließen, sei eine Urinabgabe unter Aufsicht erforderlich. Zwar seien auch andere Maßnahmen, wie etwa die körperliche Untersuchung der Gefangenen, möglich, um Manipulationen auszuschließen. In diesem Fall seien aber auch die Körperöffnungen zu überprüfen, um Täuschungshandlungen vorzubeugen. Somit würde eine solche Maßnahme einen körperlichen und damit einen wesentlich gravierenderen Eingriff in das grundgesetzlich geschützte Persönlichkeitsrecht eines Gefangenen darstellen. Die derzeit angewandte Maßnahme sei daher das mildeste Mittel. Da das Untersuchungsergebnis einer Urinkontrolle nur eine punktuelle Aussage über das Drogenverhalten des Getesteten treffen könne, erfordere eine sachgerechte Beurteilung des Drogenverhaltens unerwartete Drogenscreenings über einen längeren Zeitraum hinweg. Die Zahl von vier Drogenscreenings innerhalb von zwölf Monaten sei vor diesem Hintergrund erforderlich und nicht unangemessen. 10 Die Durchführung von nicht manipulierbaren Urintests diene auch bei nicht drogenabhängigen Gefangenen deren Resozialisierung und dem Gesundheitsschutz. Die Maßnahme verletze weder die Menschenwürde, noch greife sie in die Persönlichkeitssphäre des Beschwerdeführers ein, sondern diene vielmehr seinem Gesundheitsschutz (unter Bezugnahme auf OLG Hamm, Beschluss vom 3. April 2007 - 1 Vollz (Ws) 113/07 -, juris). Die Mitwirkungspflicht eines Gefangenen bestehe auch dann, wenn bei ihm kein konkreter Verdacht auf einen Missbrauch von Betäubungsmitteln vorliege (unter Bezugnahme auf OLG Hamm, Beschluss vom 4. April 2003 - 1 Vollz (Ws) 48/03 -, beck-online). Die Abgabe einer Urinprobe sei dem Beschwerdeführer auch zumutbar. Einen rechtlichen Anspruch auf eine bestimmte Art und Weise der Feststellung von Suchtmitteln gebe es nicht. 11 9. Der Beschwerdeführer erwiderte mit Schreiben vom 24. Februar 2021, dass kein Ermessen ausgeübt und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht beachtet worden sei. Die Justizvollzugsanstalt habe nicht erkannt, dass Eingriffe in die Intimsphäre und das Schamgefühl konkret begründet werden müssten und nur zulässig seien, wenn diese unerlässlich seien. Für die von der Justizvollzugsanstalt durchgeführten Urinkontrollen dürften keine weniger hohen Anforderungen gelten als bei mit Entkleidung verbundenen körperlichen Durchsuchungen. Die Justizvollzugsanstalt habe aber nicht einzelfallbezogen entschieden und es lägen keine konkreten Tatsachen vor, die auf einen möglichen Drogenkonsum durch ihn hinwiesen. Es sei nicht zulässig, ihn anlasslos entwürdigenden Drogenscreenings zu unterziehen. Die Blutentnahme an der Fingerbeere stelle das mildere Mittel dar. 12 10. Mit angegriffenem Beschluss vom 11. März 2021 verwarf das Landgericht den ersten Antrag als unzulässig und den zweiten Antrag als unbegründet. Hinsichtlich des Antrags zu 1. verstreiche die in § 113 StVollzG normierte Dreimonats-Frist erst mit Ablauf des 6. April 2021. Der Beschwerdeführer habe vor dem 6. Januar 2021 auch keinen Antrag bei der Justizvollzugsanstalt auf Suchtmittelkontrolle durch Entnahme einer geringen Menge von Kapillarblut an der Fingerbeere gestellt. 13 Hinsichtlich des Antrags zu 2. seien die Urinkontrollen rechtmäßig erfolgt. Es gehöre zu den Aufgaben einer Justizvollzugsanstalt, den Drogenmissbrauch einzuschränken. Hierfür seien Urinkontrollen unerlässlich. Deren Anordnung sei zulässig, wenn damit auch Belange der Gesundheitsfürsorge verfolgt würden. Davon sei in der Regel auszugehen, denn die sich aus einer negativen Urinprobe ergebende Drogenfreiheit eines Gefangenen sei ein wesentliches Kriterium bei der Beurteilung seines Gesundheitszustands und – im Zusammenhang damit – auch für die Fortschreibung des Vollzugsplans von Bedeutung. Gleichwohl berühre diese Maßnahme nicht nur die gesundheitlichen Belange eines Gefangenen und seine Resozialisierung, sondern auch die Sicherheit des Strafvollzugs, die bei einem Gefangenen gefährdet sei, der sich sogar unter den verschärften Bedingungen des geschlossenen Vollzugs Zugang zu Drogen verschafft habe. Dass die Abgabe einer Urinprobe noch weiteren Vollzugszielen diene, sei unerheblich, denn diese stünden nicht im Widerspruch zueinander, sondern würden sich gegenseitig bedingen (unter Bezugnahme auf OLG Hamm, Beschluss vom 4. April 2003 - 1 Vollz (Ws) 48/03 -, beck-online; KG, Beschluss vom 26. Januar 2006 - 5 Ws 16/06 Vollz -, juris; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 30. März 1994 - 1 Ws 44/94 (Vollz) -, juris; OLG Rostock, Beschluss vom 2. Mai 2004 - VAs 1/04 -, juris). An der zu seinem Gesundheitsschutz angeordneten Maßnahme habe der Gefangene nach § 56 Abs. 2 StVollzG mitzuwirken (unter Bezugnahme auf OLG Hamm, Beschluss vom 4. April 2003 - 1 Vollz (Ws) 48/03 -, beck-online). Diese Mitwirkungspflicht bestehe auch dann, wenn bei ihm bislang kein konkreter Verdacht auf einen Missbrauch von Betäubungsmitteln vorliege, denn auch bei Gefangenen, die bislang im Zusammenhang mit dem Missbrauch von Betäubungsmitteln nicht auffällig geworden seien, bestehe die nicht fernliegende Gefahr, dass sie während des Vollzugs einer Haftstrafe erstmals mit Betäubungsmitteln in Berührung gekommen sein könnten (unter Bezugnahme auf OLG Hamm, Beschluss vom 4. April 2003 - 1 Vollz (Ws) 48/03 -, beck-online). 14 Die Abgabe einer Urinprobe unter Entblößung des Genitals sei für den Beschwerdeführer auch zumutbar gewesen. Insbesondere habe es für diesen Vorgang nicht der Beaufsichtigung durch einen Arzt bedurft, da es sich um einen natürlichen Vorgang handele, der eine spezielle medizinische Sachkenntnis nicht voraussetze (unter Bezugnahme auf OLG Hamm, Beschluss vom 4. April 2003 - 1 Vollz (Ws) 48/03 -, beck-online). Wegen des Fehlens einer – unter medizinischen Gesichtspunkten zu beurteilenden – Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens und jeglichen Gesundheitsrisikos sei auch an der Verhältnismäßigkeit nicht zu zweifeln (unter Bezugnahme auf OLG Oldenburg, Beschluss vom 14. Juni 2005 - 1 Ws 304/05 -, juris). Es sei weiterhin nicht zu beanstanden, dass die Vollzugsbehörde die Abgabe der Urinprobe in einer Weise verlange, die eine Manipulation durch den Beschwerdeführer möglichst ausschließe. Deshalb bestünden keine Bedenken dagegen, dass der Betroffene die Urinprobe unbekleidet und im Beisein eines Vollzugsbeamten abgeben soll, der den Vorgang beobachtet (unter Bezugnahme auf OLG Hamm, Beschluss vom 4. April 2003 - 1 Vollz (Ws) 48/03 -, beck-online). Dies verletze nicht die Menschenwürde. Zwar könne der Vorgang als solcher das Schamgefühl berühren und mit Unannehmlichkeiten verbunden sein. Durch die eingeforderte Abgabe von Urin werde der Beschwerdeführer aber nicht zu einem bloßen „Schauobjekt“ erniedrigt. Die Maßnahme diene weder der Herabwürdigung noch sonstigen rechtlich zu missbilligenden Zwecken, sondern unmittelbar der Resozialisierung, an der die Allgemeinheit ein überragendes Interesse habe (unter Bezugnahme auf BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Februar 2006 - 2 BvR 204/06 -). 15 Die Überwachung der Urinabgabe durch Mitglieder des festen Teams der Abteilung führe nicht zu einer Änderung der rechtlichen Einschätzung. Den Interessen des Beschwerdeführers werde insbesondere dadurch Rechnung getragen, dass es sich um jeweils gleichgeschlechtliche Mitarbeiter handele. Weiterhin ergebe sich aus § 65 StVollzG NRW keine Pflicht, eine andere Form der Kontrolle anzubieten. Andere Maßnahmen, die Manipulationen ausschließen würden, würden körperliche Untersuchungen voraussetzen, welche einen wesentlich gravierenderen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht darstellten (unter Bezugnahme auf OLG Hamm, Beschluss vom 4. April 2003 - 1 Vollz (Ws) 48/03 -, beck-online). Ermessensfehler seien nicht ersichtlich. 16 11. Am 28. April 2021 erhob der Beschwerdeführer hiergegen Rechtsbeschwerde. Die erzwungene Urinkontrolle beruhe nicht auf einem konkreten, auf Tatsachen beruhenden Verdacht. Zudem sei der Sachverhalt nicht aufgeklärt worden. Treffe die Justizvollzugsanstalt Maßnahmen zur Abwehr einer Gefahr für die Sicherheit und Ordnung in der Anstalt, müssten sich diese regelmäßig gegen den Störer richten. Reine Vermutungen könnten keine gravierenden Eingriffe in den Intimbereich von Nichtstörern rechtfertigen. Der Beschluss verstoße gegen Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 sowie Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip. Er wiederhole lediglich die von der Justizvollzugsanstalt vorgetragenen allgemeinen Darstellungen. 17 12. Nach Anhörung des Ministeriums der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen, das die Rechtsbeschwerde mangels Vorliegens eines Zulassungsgrundes für unzulässig hielt, verwarf das Oberlandesgericht mit angegriffenem Beschluss vom 6. August 2021, dem Beschwerdeführer zugestellt am 16. August 2021, die Rechtsbeschwerde als unzulässig. In Bezug auf den Verpflichtungsantrag sei die Rechtsbeschwerde unzulässig, weil – wie in dem angefochtenen Beschluss des Landgerichts ausgeführt – kein zulässiger Antrag auf gerichtliche Entscheidung vorgelegen habe. Sofern das Landgericht die weiteren Anträge als einheitliches Feststellungsbegehren ausgelegt und dieses als unbegründet zurückgewiesen habe, sei die Rechtsbeschwerde unzulässig, weil es nicht geboten sei, die Nachprüfung des angefochtenen Beschlusses zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu ermöglichen. II. 18 1. Mit der am 8. September 2021 fristgemäß erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4 und Art. 20 Abs. 3 GG sowie Art. 3 EMRK. 19 Die schwerwiegenden Eingriffe in seine Persönlichkeitsrechte, insbesondere seine Intimsphäre und sein Schamgefühl, hätten keine Berücksichtigung gefunden. Aus der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt werde nicht deutlich, wie diese die unbestimmten Rechtsbegriffe ausgelegt habe. Ein konkreter Anlass, der die angeordnete Maßnahme zur Feststellung von Suchtmittelkonsum mit den damit verbundenen Eingriffen in seine Persönlichkeitsrechte habe unerlässlich erscheinen lassen, sei nicht begründet worden. Jedenfalls habe die Justizvollzugsanstalt ihr Ermessen nicht ausgeübt. Unter Berücksichtigung seiner Persönlichkeitsrechte könne § 65 StVollzG NRW keine Rechtsgrundlage für anlasslose Urinabgaben unter Aufsicht mit Blick auf das Genital entnommen werden. Es sei auch nicht zulässig, nachträglich die Drogentests mit dem Ziel des Gesundheitsschutzes und der Resozialisierung zu rechtfertigen. Der bloße Umstand, dass Verwaltungsabläufe sich einfacher gestalten würden, sei zur Rechtfertigung von Maßnahmen, die den Intimbereich und das Schamgefühl des Gefangenen berührten, nicht ausreichend. 20 Schon der Gesetzgeber habe bei Erlass des § 65 StVollzG NRW festgestellt, dass die Urinprobe sehr stark in die Intimsphäre eingreife (unter Bezugnahme auf die Gesetzesbegründung LTDrucks NRW 16/13470, S. 325). Da bei ihm bisher keine Auffälligkeiten im Zusammenhang mit Drogenkonsum festgestellt worden seien, habe es auch keine Hinweise auf Manipulationen gegeben. Aufgrund des starken Eingriffs in seine Intimsphäre hätte mit seinem Einverständnis die Abnahme einer Blutprobe über die Fingerbeere als milderes Mittel angeordnet werden müssen. Insofern sei eine Urinabgabe unter Aufsicht nicht erforderlich gewesen. Die Drogenkontrolle sei auch nicht in Anwesenheit von medizinischem Personal erfolgt. Die Auslegung, dass teilweise bereits schon kein zulässiger Antrag auf gerichtliche Entscheidung vorgelegen habe, stelle eine Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG dar. Es sei nicht berücksichtigt worden, dass er bereits am 25. November 2020 gegenüber der Justizvollzugsanstalt vorgetragen habe, dass der Drogentest in der durchgeführten Form eine entwürdigende Maßnahme darstelle. Es liege bei schweren Grundrechtseingriffen immer ein Feststellungsinteresse vor. 21 2. Das Ministerium der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen hat von einer Stellungnahme abgesehen. 22 3. Die Akte des fachgerichtlichen Verfahrens hat dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen. III. 23 1. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, da dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (vgl. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die insoweit für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden. 24 2. Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet (vgl. § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). 25 a) Der angegriffene Beschluss des Landgerichts Bochum vom 11. März 2021 verletzt den Beschwerdeführer in seinem aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG folgenden allgemeinen Persönlichkeitsrecht. 26 aa) Auslegung und Anwendung des einfachen Gesetzesrechts sind grundsätzlich Aufgabe der Fachgerichte, unterliegen aber der verfassungsgerichtlichen Prüfung daraufhin, ob sie die Grenze zur Willkür überschreiten oder die Bedeutung eines Grundrechts grundsätzlich verkennen (vgl. BVerfGE 18, 85 <93>; 30, 173 <196 f.>; 57, 250 <272>; 74, 102 <127>; stRspr). Der fachgerichtliche Spielraum ist insbesondere dann überschritten, wenn das Gericht bei der Gesetzesauslegung und -anwendung in offensichtlich nicht zu rechtfertigender Weise den vom Gesetzgeber gewollten und im Gesetzestext ausgedrückten Sinn des Gesetzes verfehlt (vgl. BVerfGE 86, 59 <64>) oder das zu berücksichtigende Grundrecht völlig unbeachtet gelassen hat (vgl. BVerfGE 59, 231 <268 f.>; 77, 240 <255 f.>). 27 bb) Grundrechte dürfen nur durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes und nur unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit eingeschränkt werden; dies gilt auch für Grundrechte von Gefangenen (vgl. BVerfGE 33, 1 <11>; 89, 315 <322 f.>). Staatliche Maßnahmen, die mit einer Entkleidung verbunden sind, stellen einen schwerwiegenden Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht dar (vgl. BVerfGK 2, 102 <105>; 17, 9 <14>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 23. September 2020 - 2 BvR 1810/19 -, Rn. 21). Eingriffe, die den Intimbereich und das Schamgefühl des Inhaftierten berühren, lassen sich im Haftvollzug nicht immer vermeiden. Sie sind aber von besonderem Gewicht. Der Gefangene hat insoweit Anspruch auf besondere Rücksichtnahme (vgl. BVerfGK 17, 9 <16>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 5. November 2016 - 2 BvR 6/16 -, Rn. 29; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 27. März 2019 - 2 BvR 2294/18 -, Rn. 17; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 23. September 2020 - 2 BvR 1810/19 -, Rn. 21). Der bloße Umstand, dass Verwaltungsabläufe sich ohne eingriffsvermeidende Rücksichtnahmen einfacher gestalten, ist hier noch weniger als in anderen, weniger sensiblen Bereichen geeignet, den Verzicht auf solche Rücksichtnahmen zu rechtfertigen (vgl. BVerfGK 17, 9 <16>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Februar 2009 - 2 BvR 455/08 -, Rn. 33; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 10. Juli 2013 - 2 BvR 2815/11 -, Rn. 17). 28 cc) Diesen Maßstäben wird der angegriffene Beschluss des Landgerichts Bochum vom 11. März 2021 nicht gerecht. Die durch das Landgericht vorgenommene Auslegung der Tatbestandsmerkmale der von der Justizvollzugsanstalt für die angeordnete Urinkontrolle gewählten Rechtsgrundlage sowie die gerichtliche Überprüfung der durch die Justizvollzugsanstalt vorgenommenen Abwägung auf Ermessensfehler beruht auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG folgenden Persönlichkeitsrechts des Beschwerdeführers. 29 (1) (a) Es ist bereits fraglich, ob die von der Justizvollzugsanstalt auf § 65 StVollzG NRW gestützte Urinkontrolle aufgrund des damit einhergehenden schwerwiegenden Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht auch ohne konkreten Verdacht des Drogenmissbrauchs des betroffenen Gefangenen angeordnet werden kann. 30 (aa) Das Bundesverfassungsgericht hat bereits entschieden, dass es verfassungsrechtlich unbedenklich ist, wenn eine Urinkontrolle bei Vorliegen konkreter Anhaltspunkte für einen Betäubungsmittelkonsum, wozu etwa auch eine einschlägige Vorbelastung des Gefangenen zählt, zum Nachweis eines eventuell vorausgegangenen Drogenkonsums angeordnet wird (vgl. für die Anordnung einer Urinkontrolle eines Untersuchungsgefangenen BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 6. November 2007 - 2 BvR 1136/07 -, Rn. 27; für die Anordnung einer Urinkontrolle eines Strafgefangenen BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 6. August 2009 - 2 BvR 2280/07 -, Rn. 3). 31 Hingegen betrifft der vom Landgericht im angegriffenen Beschluss vom 11. März 2021 in Bezug genommene Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 17. Februar 2006 eine freiwillige Urinprobe, zu der sich der Gefangene im Rahmen der Vollzugsplanvereinbarung zur Vorbereitung von Vollzugslockerungen bereit erklärt hatte (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Februar 2006 - 2 BvR 204/06 -, Rn. 8). Vor den Fachgerichten stand in diesem Fall in Streit, ob die Abgabe der Urinprobe nur auf Anordnung und in Anwesenheit eines Arztes zulässig gewesen sei. Unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Abgabe von Urinproben im Rahmen der Bewährungsüberwachung (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 21. April 1993 - 2 BvR 930/92 -, juris, und vom 9. Juni 1993 - 2 BvR 368/92 -, juris) führte das Bundesverfassungsgericht in dieser – nicht unmittelbar einschlägigen – Entscheidung aus, dass die Menschenwürde nicht verletzt sei. Der Betroffene werde durch die Abgabe von Urin nicht zu einem bloßen Schauobjekt erniedrigt. Die Maßnahme diene weder der Herabwürdigung noch sonstigen rechtlich zu missbilligenden Zwecken, sondern unmittelbar der Resozialisierung, an der die Allgemeinheit ein überragendes Interesse habe (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Februar 2006 - 2 BvR 204/06 -, Rn. 10). 32 (bb) In Nordrhein-Westfalen hat der Landesgesetzgeber mit § 65 StVollzG NRW vom 13. Januar 2015 (GV NRW 2015, S. 76) eine eigenständige Rechtsgrundlage für Maßnahmen zur Suchtmittelkontrolle geschaffen. Danach können zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder Ordnung der Justizvollzugsanstalt allgemein oder im Einzelfall Maßnahmen angeordnet werden, die geeignet sind, den Missbrauch von Suchtmitteln festzustellen. Mit Änderungsgesetz vom 1. September 2017 (GV NRW 2017, S. 511) wurde § 65 Abs. 1 Satz 2 StVollzG NRW dahingehend geändert, dass die Maßnahme mit einem geringfügigen Eingriff, namentlich einer Punktion der Fingerbeere zur Abnahme einer geringen Menge von Kapillarblut, verbunden sein darf, wenn die Gefangenen einwilligen. 33 (cc) In Literatur und fachgerichtlicher Rechtsprechung ist umstritten, ob im Strafvollzug zur Bekämpfung des Betäubungsmittelkonsums in Justizvollzugsanstalten Drogentests mittels Urinkontrollen auch anlasslos, das heißt ohne Vorbelastung oder einen sonst begründbaren Verdacht eines Drogenkonsums des Gefangenen, angeordnet werden können. 34 Nach einer Ansicht wird bei speziellen Rechtsgrundlagen in den Strafvollzugsgesetzen der Länder, die nach dem Wortlaut eine allgemeine Anordnung von Suchtmittelkontrollen zum Zwecke der Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung der Anstalt zulassen, eine anlasslose Anordnung von Urinkontrollen in der Justizvollzugsanstalt für zulässig erachtet, weil der Drogenkonsum in Haftanstalten besondere Gefahren für deren Sicherheit und Ordnung mit sich bringe, denen anders nicht wirksam begegnet werden könne (vgl. KG, Beschluss vom 5. Oktober 2017 - 2 Ws 92/17 Vollz -, juris, Rn. 19; OLG München, Beschluss vom 27. September 2011 - 4 Ws 5/11 (R) -, juris, Rn. 26; OLG Hamm, Beschluss vom 16. Juni 2015 - 1 Vollz (Ws) 250/15 -, juris, Rn. 2). Teilweise wird einschränkend gefordert, dass die Maßnahme entfallen müsse, wenn im konkreten Einzelfall die Annahme von Suchtmittelmissbrauch fernliegend erscheine (vgl. Harrendorf/ Ullenburch, in: Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, Strafvollzugsgesetze, 7. Aufl. 2019, 11. Kap., D., Rn. 15). Nach anderer Ansicht kann aufgrund der Eingriffsintensität eine nach den speziellen Rechtsgrundlagen mögliche „allgemeine“ Anordnung von Suchtmittelkontrollen mittels Urinproben nur erfolgen, wenn die angeordneten Kontrollen an hinreichend konkrete Aussagen dazu anknüpften, welcher Adressatenkreis aus welchem Anlass und unter welchen Voraussetzungen zu kontrollieren sei. Anordnungen, die voraussetzungslos alle Gefangenen einer jederzeitigen Kontrolle durch Abgabe von beobachteten Urinkontrollen unterziehen, seien hingegen nicht verhältnismäßig (vgl. Goerdeler, in: Feest/Lesting/ Lindemann, Strafvollzugsgesetze, 7. Aufl. 2017, Teil II, § 76 LandesR Rn. 11). 35 Unabhängig davon wird eine Urinkontrolle zum Schutz der Gesundheit überwiegend nur dann für zulässig erachtet, wenn aufgrund konkreter objektiver Tatsachen Anlass zu der Befürchtung bestehe, dass der Gefangene Suchtmittel konsumiert hat beziehungsweise eine Suchtmittelgefährdung des betroffenen Gefangenen bekannt ist und der Nachweis des Konsums und die hiermit verbundene Aufdeckung innervollzuglichen Drogenkonsums durch die Untersuchung der Urinprobe möglich erscheint. Der Konsum von Suchtmitteln durch einzelne Gefangene berge die Gefahr, dass weitere Gefangene freiwillig oder unfreiwillig, gegebenenfalls auch erstmals, mit Drogen in Kontakt kämen. Eine anlasslose Anordnung einer Urinprobe zum Schutz der Gesundheit sei aber im Lichte des aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG folgenden allgemeinen Persönlichkeitsrechts unzulässig, weil die allgemeine Gefahr, dass Gefangene im Rahmen des Strafvollzugs mit Drogen in Kontakt kommen könnten, keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte für einen Drogenkonsum des betroffenen Gefangenen liefern und nicht mit hinreichender Sicherheit erwartet werden könne, dass durch die Untersuchung der Probe Erkenntnisse im Hinblick auf einen etwaigen Drogenkonsum gewonnen werden könnten (vgl. LG Göttingen, Beschluss vom 29. Juni 2016 - 53 StVK 13/16 -, juris, Rn. 14 f.; OLG Jena, Beschluss vom 10. Mai 2007 - 1 Ws 68/07 -, juris, Rn. 33; OLG Dresden, Beschluss vom 12. Mai 2004 - 2 Ws 660/03 -, juris, Rn. 11; OLG Rostock, Beschluss vom 2. Mai 2004 - VAs 1/04 -, juris, Rn. 18; OLG Koblenz, Beschluss vom 16. August 1989 - 2 Vollz (Ws) 28/89 -, NStZ 1989, S. 550; LG Augsburg, Beschluss vom 6. November 1997 - 2 NöStVK 666/97 -, ZfStrVo 1998, S. 113; Calliess/Müller-Dietz, StVollzG, 11. Aufl. 2008, § 56 Rn. 5; Harrendorf/Ullenburch, in: Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, Strafvollzugsgesetze, 7. Aufl. 2019, 11. Kap., D., Rn. 12). 36 Nach der Gegenauffassung kann aufgrund des großen Anteils Drogenabhängiger an der Gefangenenpopulation ein Drogenscreening zum Schutz der Gesundheit der Gefangenen auch in Form von Zufallsstichproben angeordnet werden (vgl. Arloth, in: Arloth/Krä, Strafvollzugsgesetze, 5. Aufl. 2021, § 56 StVollzG Rn. 9; OLG Frankfurt/Main, Beschluss vom 10. März 2009 - 3 Ws 1111/08 (StVollz) -, NStZ-RR 2009, S. 295; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 30. März 1994 - 1 Ws 44/94 (Vollz) -, juris, Rn. 4; OLG Hamm, Beschluss vom 3. April 2007 - 1 Vollz (Ws) 113/07 -, juris, Rn. 8). 37 (b) Die Frage, ob im Strafvollzug grundsätzlich auch anlasslos Urinkontrollen angeordnet werden können, kann vorliegend offen bleiben. Denn das Landgericht hat bei der vorgenommenen Auslegung der Tatbestandsmerkmale bereits nicht berücksichtigt, dass § 65 StVollzG NRW speziell Maßnahmen „zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt“ ermöglicht. Für Maßnahmen zum Gesundheitsschutz des Gefangenen sehen sowohl das Strafvollzugsgesetz (des Bundes) als auch das Strafvollzugsgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen eine eigenständige Rechtsgrundlage vor (vgl. § 56 StVollzG, § 43 StVollzG NRW). Auch die vom Landgericht in Bezug genommene fachgerichtliche Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Hamm bezieht sich noch auf die rechtliche Lage vor dem Inkrafttreten der speziellen Rechtsgrundlage für Suchtmittelkontrollen in § 65 StVollzG NRW. So hätte sich das Landgericht insbesondere bei der umstrittenen Frage, ob beaufsichtigte Urinkontrollen auch anlasslos angeordnet werden können, damit auseinandersetzen müssen, ob diese unter Berücksichtigung des damit verbundenen schwerwiegenden Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht „zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder Ordnung“ (so die von der Justizvollzugsanstalt herangezogene spezielle Rechtsgrundlage für Suchtmittelkontrollen nach § 65 StVollzG NRW) gerechtfertigt sein kann. Die vom Landgericht insoweit nicht differenzierende Abwägung lässt eine Unterscheidung der genannten Rechtsgrundlagen nicht erkennen. Unter Berücksichtigung des schwerwiegenden Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht, der die Intimsphäre berührt, kann die dieses Grundrecht einschränkende Rechtsgrundlage aber nicht dahinstehen. 38 (2) Darüber hinaus hat das Landgericht nicht beachtet, dass mit Änderungsgesetz vom 1. September 2017 (GV NRW, S. 511) § 65 Abs. 1 Satz 2 StVollzG NRW dahingehend geändert wurde, dass die Maßnahme mit einem geringfügigen Eingriff, namentlich einer Punktion der Fingerbeere zur Abnahme einer geringen Menge von Kapillarblut, verbunden sein darf, wenn die Gefangenen einwilligen. Der Landesgesetzgeber hat die Gesetzesänderung damit begründet, dass die fachgerichtliche Rechtsprechung zwar gebilligt habe, dass die Vollzugsbehörde die Abgabe einer Urinprobe in einer Weise verlangen könne, die eine Manipulation der Probe nach Möglichkeit ausschließt, und dass dies in Einzelfällen etwa durch die Abgabe von Urinproben im Beisein von Bediensteten erfolgen könne (LTDrucks NRW 16/13470, S. 325). Allerdings wiege der damit verbundene Eingriff in das Persönlichkeitsrecht in der Regel schwerer als die bloße Punktion der Fingerbeere zur Abnahme eines Tropfen Blutes. Auch im Übrigen erscheine die Methode einer Punktion der Fingerbeere gegenüber anderen Methoden überlegen, weil sie effektiv Manipulationen verhindere und, anders als etwa Haaranalysen, konkrete Aussagen über die Art und das Maß eines Suchtmittelmissbrauchs zulasse (LTDrucks NRW 16/13470, S. 325). Vor diesem Hintergrund sollten sich die Gefangenen deshalb entscheiden können, ob sie beobachtet eine Urinkontrolle abgeben oder sich mit dem neuen Testverfahren einverstanden erklären wollten (LTDrucks NRW 16/13470, S. 325). 39 Mit Blick auf die durch diese Gesetzesänderung ausdrücklich ermöglichte alternative Testmöglichkeit kommt es nicht mehr darauf an, ob als milderes Mittel auch eine vorherige Durchsuchung des Gefangenen mit dessen Einverständnis in Betracht kommt. In diesem Zusammenhang ist allerdings darauf hinzuweisen, dass die nicht weiter ausgeführten Aussagen der Justizvollzugsanstalt und des Landgerichts, eine vorherige Durchsuchung sei jedenfalls mit einem erheblichen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht verbunden und komme deshalb nicht in Frage, in dieser Pauschalität nicht zu überzeugen vermögen. So ist es individuell verschieden, wie belastend beziehungsweise wie schamhaft die Abgabe von Urin unter Beobachtung durch eine dritte Person empfunden wird. Es kann also gerade der besonderen Rücksichtnahme auf das Schamgefühl des Gefangenen entsprechen, wenn diesem die Wahl gelassen wird, ob er mit einer vorherigen Durchsuchung einverstanden ist (mit der Folge, dass die Urinabgabe ohne Blick der Aufsichtsperson auf das entkleidete Glied erfolgen könnte) oder ob die Urinabgabe unter Aufsicht erfolgen soll (vgl. in diese Richtung LG Hamburg, Beschluss vom 8. Dezember 1995 - 613 Vollz 87/95 -, juris). 40 Jedenfalls hat das Landgericht nicht geprüft, ob die Justizvollzugsanstalt – der Gesetzesänderung in § 65 Abs. 1 Satz 2 StVollzG NRW entsprechend – als milderes Mittel statt einer beobachteten Urinkontrolle die Kontrolle durch Punktion der Fingerbeere zur Abnahme einer geringen Menge von Kapillarblut hätte anbieten müssen. Die vom Landgericht nicht näher erläuterte Annahme, dass andere Maßnahmen, die eine Manipulation ausschließen, körperliche Untersuchungen voraussetzen würden, welche einen wesentlich gravierenderen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht darstellten, ist unter Berücksichtigung des ausdrücklich erklärten Einverständnisses des Beschwerdeführers mit einer Punktion der Fingerbeere nicht nachvollziehbar. So wiegt der die Intimsphäre berührende Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht bei beaufsichtigten, mit Entkleidung verbundenen Urinkontrollen in der Regel deutlich schwerer als der mit einer (einverständlichen) Punktion der Fingerbeere verbundene Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Gefangenen. Da die Justizvollzugsanstalt bei Anordnung grundrechtseinschränkender Maßnahmen von Amts wegen zu prüfen hat, ob diese die Verhältnismäßigkeit wahren, also kein milderes Mittel zur Wahrung der Sicherheitsinteressen in Betracht kommt, steht dem auch nicht entgegen, dass der Beschwerdeführer vor Anordnung der ersten Urinkontrolle keinen ausdrücklichen Antrag gestellt hat, die Kontrolle mittels Punktion der Fingerbeere durchzuführen. Entsprechend hat auch der Landesgesetzgeber ausgeführt, dass die Gefangenen selbst entscheiden können sollen, ob sie sich mit der Punktion der Fingerbeere einverstanden erklären oder beobachtet eine Urinkontrolle abgeben wollen (vgl. LTDrucks NRW 16/13740, S. 325; eine Einschränkung des Auswahlermessens der Justizvollzugsanstalt ebenfalls bejahend, so dass bei Vorliegen einer Einwilligung für eine Punktion der Fingerbeere die Anordnung einer beobachteten Urinkontrolle nur in Ausnahmefällen ermessensfehlerfrei sein könne, Arloth, in: Arloth/Krä, Strafvollzugsgesetze, 5. Aufl. 2021, § 65 StVollzG NRW Rn. 1; Schmitt, in: BeckOK StVollzG NRW, § 65 Rn. 9 <1. Dezember 2021>). 41 (3) Schließlich hat es das Landgericht versäumt, innerhalb der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen, dass auch die angeordnete Frequenz der Kontrollen nicht angemessen gewesen sein könnte. So erfordert ein gerechter Ausgleich zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht, insbesondere der Wahrung der Intimsphäre des Gefangenen, und dem Sicherheitsinteresse der Vollzugsanstalt auch die Prüfung, in welcher Frequenz einzelne beobachtete Urinkontrollen zur Suchtmittelprävention angeordnet werden dürfen. Die Vorgehensweise der Justizvollzugsanstalt unterliegt aufgrund der Eingriffsintensität von vier beaufsichtigten Kontrollen innerhalb von fünf Wochen ohne konkrete Anhaltspunkte für einen Drogenkonsum erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken. Überdies ist das Landgericht nicht darauf eingegangen, dass die Justizvollzugsanstalt keine überzeugende Begründung für die hohe Anzahl von anlasslosen Kontrollen innerhalb dieser kurzen Zeitspanne gegeben hat. 42 b) Die Verfassungsbeschwerde ist auch hinsichtlich des angegriffenen Beschlusses des Oberlandesgerichts Hamm vom 6. August 2021 offensichtlich begründet. Dieser Beschluss verletzt den Beschwerdeführer in seinen Rechten aus Art. 19 Abs. 4 GG. 43 aa) Zwar fordert Art. 19 Abs. 4 GG keinen Instanzenzug. Eröffnet das Prozessrecht aber eine weitere Instanz, so gewährleistet Art. 19 Abs. 4 GG den Betroffenen auch insoweit eine wirksame gerichtliche Kontrolle (vgl. BVerfGE 40, 272 <274 f.>; 54, 94 <96 f.>; 122, 248 <271>; stRspr). Die Rechtsmittelgerichte dürfen ein von der jeweiligen Rechtsordnung eröffnetes Rechtsmittel nicht durch die Art und Weise, in der sie die gesetzlichen Voraussetzungen für den Zugang zu einer Sachentscheidung auslegen und anwenden, ineffektiv machen und für den Rechtssuchenden „leer laufen“ lassen; der Zugang zu den in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanzen darf nicht in einer durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigenden Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 96, 27 <39>; 117, 244 <268>; 122, 248 <271>; stRspr). 44 bb) Diesen Anforderungen hält der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts nicht stand. 45 § 119 Abs. 3 StVollzG erlaubt, von einer Begründung der Rechtsbeschwerde-entscheidung abzusehen, wenn das Oberlandesgericht die Beschwerde für unzulässig oder offensichtlich unbegründet erachtet, was der Senat hinsichtlich des Feststellungsbegehrens des Beschwerdeführers vorliegend getan hat. Dies ist verfassungsrechtlich grundsätzlich nicht zu beanstanden (vgl. BVerfGE 50, 287 <289 f.>; 71, 122 <135>; 81, 97 <106>). Daraus folgt jedoch nicht, dass sich der Beschluss selbst verfassungsrechtlicher Prüfung entzöge oder die Maßstäbe der Prüfung zu lockern wären. Vielmehr ist in einem solchen Fall die Entscheidung bereits dann aufzuheben, wenn an ihrer Vereinbarkeit mit Grundrechten des Beschwerdeführers erhebliche Zweifel bestehen (vgl. BVerfGK 19, 306 <317 f.> m.w.N.; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 26. Januar 2021 - 2 BvR 676/20 -, juris, Rn. 43). Dies ist angesichts der aufgezeigten inhaltlichen Abweichung der Entscheidungsgründe des Landgerichts von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hier der Fall. IV. 46 Der Beschluss des Landgerichts Bochum vom 11. März 2021 - V StVK 3/21 - und der Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 6. August 2021 - III-1 Vollz(Ws) 238+241+334-336/21 - werden aufgehoben; die Sache wird an das Landgericht Bochum zurückverwiesen (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2, § 90 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). 47 Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG. König Müller Maidowski
bundesverfassungsgericht
92-2020
22. Oktober 2020
Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen Äußerungen im Rahmen kommunaler Öffentlichkeits- und Erinnerungsarbeit Pressemitteilung Nr. 92/2020 vom 22. Oktober 2020 Beschluss vom 08. September 20201 BvR 987/20 Die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat mit heute veröffentlichtem Beschluss eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, die Äußerungen des Münchner Oberbürgermeisters betraf. Dieser hatte auf eine schriftliche Eingabe einer Privatperson hin das Ausstellungskonzept des Dokumentationszentrums über die Geschichte Münchens in der Zeit des Nationalsozialismus (NS-Dokumentationszentrum) in Schutz genommen und die fehlende Einbeziehung der wissenschaftlichen Werke des Beschwerdeführers gerechtfertigt. Die Kammer kommt zu dem Ergebnis, dass die Äußerungen des kommunalen Wahlbeamten die verfassungsrechtlichen Grenzen nicht überschritten haben. Die insoweit geltenden Maßstäbe sind von den besonderen Neutralitätsanforderungen zu unterscheiden, die für amtliche Äußerungen von Regierungsmitgliedern im parteipolitischen Wettbewerb gelten. Sachverhalt: Im Jahr 2016 veröffentlichte der Beschwerdeführer gemeinsam mit einem weiteren Autor ein Buch, das die Darstellung der Haltung der Münchner Bevölkerung durch das NS-Dokumentationszentrum als einseitig kritisierte. In dem Buch werden diverse Zeitzeugenaussagen aufgeführt, aus denen sich aus Sicht der Autoren ergibt, dass die Münchner Bevölkerung mit den Verfolgten sympathisiert habe und den Nationalsozialismus nur als „unabänderliche Schickung“ ertragen habe. Nach der Veröffentlichung des Buches wandte sich ein Bürger schriftlich an den Münchner Oberbürgermeister und kritisierte die Konzeption des NS-Dokumentationszentrums unter Hinweis auf die Veröffentlichung des Beschwerdeführers als wissenschaftlich unausgewogen. Dieser antwortete, dass die Ausstellung von einem wissenschaftlichen Beirat kuratiert werde, dass die wissenschaftlichen Auffassungen des Beschwerdeführers von Experten einhellig abgelehnt würden, dass dieser in den Augen eines besonders renommierten Experten durch „willkürliches Zusammenklauben von Zitaten“ das Geschäft derer betreibe, die die deutsche Bevölkerung von einer Verantwortung für den Holocaust reinwaschen wollten und dass die Diskussion am NS-Dokumentationszentrum auf wissenschaftlichem Niveau stattfinde. Nachdem er vom Inhalt dieses Schreibens erfahren hatte, nahm der Beschwerdeführer die Stadt München erfolglos gerichtlich auf Entschuldigung beziehungsweise Widerruf in Anspruch. Wesentliche Erwägungen der Kammer: Die Verfassungsbeschwerde ist bereits unzureichend substantiiert. Aus den vom Beschwerdeführer vorgelegten Unterlagen wird nicht erkennbar, wie scharf und detailliert die in dem anlassgebenden Schreiben geäußerte Kritik am Ausstellungskonzept ausfiel und welche Anregungen zu Änderungen gemacht wurden. Damit fehlt ein wesentlicher Bezugspunkt der verfahrensgegenständlichen Äußerung, deren Verhältnismäßigkeit und Sachlichkeit nur im Zusammenhang mit dem dazu Anlass bietenden Schreiben beurteilt werden können. Denn es spielt für die Verhältnismäßigkeit staatlicher Äußerungen eine erhebliche Rolle, in welchen Kontext sie fallen und auf genau welche Infragestellungen sie reagieren. So wäre beispielsweise für eine Äußerung in einem sozialen Medium, das auf starke Vereinfachung und Verkürzung zielt, eine pointiertere und gröbere Zuspitzung zulässig als in einem die Ausstellung begleitenden wissenschaftlich kuratierten Katalog. Das sind Fragen, die ohne Kenntnis des konkreten Inhalts des anlassgebenden Schreibens nicht beurteilt werden können. Die Verfassungsbeschwerde zeigt auch davon abgesehen grundrechtliche Fehler der Fachgerichte nicht auf. Der Sachverhalt liegt erheblich anders als im Verfahren 1 BvR 2585/06, in dem sich der Beschwerdeführer erfolgreich gegen einen ihn herabsetzenden Rundbrief der Bundeszentrale für politische Bildung an alle Abonnentinnen und Abonnenten gewandt hatte. Vorliegend wird nur in entschiedener Form gegenüber einem einzelnen Bürger begründet, warum man den wissenschaftlichen Beiträgen des Beschwerdeführers im Rahmen des NS-Dokumentationszentrums kein Forum zur Verfügung stellen wollte und weshalb man seine Thesen und Arbeiten für fragwürdig hält. Dies muss einer Gemeinde im Rahmen ihrer Selbstverwaltung, die eine zeitgeschichtliche Aufarbeitung und öffentliches Erinnern einschließt, möglich sein. Die Gemeinden sind als Keimzellen der Demokratie politische Verbände, die sich durch ihre gewählten Vertreterinnen und Vertreter zu ihrer Geschichte und den daraus folgenden Lehren und Verantwortlichkeiten verhalten können müssen. Zu berücksichtigen ist schließlich, dass die besonderen Neutralitätsanforderungen, die für amtliche Äußerungen von Regierungsmitgliedern im Wettbewerb der Parteien gelten, hier nicht in Rede stehen. Denn der das Ausstellungskonzept nach außen vertretende Oberbürgermeister handelte nicht im parteipolitischen Wettbewerb, sondern nahm als kommunaler Wahlbeamter eine gesellschaftliche Repräsentations- und Integrationsfunktion wahr.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT - 1 BvR 987/20 - In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Herrn Prof. Dr. L…, - Bevollmächtigte: … - gegen a)  das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 29. Januar 2020 - 4 B 19.1354 -, b)  das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 26. April 2018 - M 10 K 17.238 - hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Richter Paulus, Christ und die Richterin Härtel gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 8. September 2020 einstimmig beschlossen: Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. G r ü n d e : I. 1 Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die verwaltungsgerichtliche Zurückweisung eines Widerrufsbegehrens wegen einer amtlichen Äußerung eines Oberbürgermeisters. 2 1. Der Beschwerdeführer ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft. Die Beklagte des Ausgangsverfahrens, die Landeshauptstadt München, betreibt ein Dokumentationszentrum über die Geschichte und Rolle Münchens und seiner Bevölkerung zur Zeit des Nationalsozialismus (im Weiteren: Dokumentationszentrum). Im Jahr 2016 veröffentlichte der Beschwerdeführer gemeinsam mit einem weiteren Autor ein Buch, das die Darstellung der Haltung der Münchner Bevölkerung durch das Dokumentationszentrum als einseitig und zu pauschal verurteilend kritisierte. In dem Buch werden diverse Zeitzeugenaussagen aufgeführt, aus denen sich aus Sicht der Autoren ergibt, dass die Münchner Bevölkerung mit den Verfolgten sympathisiert und den Nationalsozialismus nur als „unabänderliche Schickung“ ertragen habe. 3 Nach der Veröffentlichung des Buches wandte sich ein Bürger schriftlich an den Oberbürgermeister als den für das Dokumentationszentrum verantwortlichen Vertreter der Stadt und kritisierte die Konzeption des Zentrums unter Hinweis auf die Veröffentlichung des Beschwerdeführers als wissenschaftlich unausgewogen. Dieser antwortete wie folgt: „[Anrede], vielen Dank für Ihr Schreiben […]. Der Inhalt der Dauerausstellung des NS-Dokumentationszentrums wurde von mehreren international renommierten Zeithistorikern erarbeitet und von einem großen wissenschaftlichen Beirat begleitet. Die von Herrn […] vorgetragenen Thesen werden von allen am Projekt beteiligten Fachleuten als falsch abgelehnt. Der beste Kenner der Materie, Prof. Dr. […], ehemaliger Direktor des Zentrums für Antisemitismusforschung in Berlin, schreibt zur Arbeit von Herrn […], dessen Zitate seien ‚willkürlich zusammengeklaubt‘… ‚Hier werden Zitatsplitter missbraucht, um Vorurteile zu generieren.‘ Nach Prof. […] betreibt Herr […] die Geschäfte jener, ‚die das deutsche Volk von jedem Wissen und jeder Verantwortung für den Holocaust reinwaschen wollen‘… ‚Anteilnahme und Unterstützung für die verfolgten Menschen ist die absolute Ausnahme.‘ Diskussion findet am NS-Dokumentationszentrum sehr wohl statt, jedoch auf wissenschaftlich fundiertem Niveau. Mit freundlichen Grüßen Dieter Reiter“ 4 Nachdem er von dem Inhalt des Schreibens erfahren hatte, begehrte der Beschwerdeführer vom Oberbürgermeister eine Entschuldigung und verfolgte gerichtlich einen Widerrufsanspruch gegen die Landeshauptstadt München. 5 2. Das Verwaltungsgericht wies die Klage ab. Zwar beeinträchtige das Schreiben das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Beschwerdeführers, da es ihn in seiner beruflichen und sozialen Rolle als Wissenschaftler angreife. Diese Beeinträchtigung sei jedoch durch die amtliche Aufgabenwahrnehmung und Öffentlichkeitsarbeit im Rahmen des Dokumentationszentrums gerechtfertigt. Hier handele es sich um eine Reaktion auf ein konkretes Schreiben einer einzelnen Person, die das Ausstellungskonzept kritisiert habe, welches man daher ihr gegenüber auch habe rechtfertigen dürfen. 6 3. Die Berufung wies der Verwaltungsgerichthof zurück. Die Äußerung wahre die Anforderungen an staatliches, insbesondere kommunales, Informationshandeln. Zur im Rahmen der Selbstverwaltung zulässigen Einrichtung eines Dokumentationszentrums gehöre auch die Erstellung eines Ausstellungskonzepts und seine Kommunikation und Verteidigung im Wege der Öffentlichkeitsarbeit. Dies schließe auch wertende Stellungnahmen zu konkurrierenden wissenschaftlichen Auffassungen ein. Das Schreiben wahre die dabei zu stellenden Anforderungen der Ausgewogenheit, Distanz und Sachlichkeit. Angesichts des auf eine einzelne Privatperson begrenzten Adressatenkreises ziele es nicht darauf, den Beschwerdeführer öffentlich bloßzustellen oder zu disqualifizieren. Sein letzter Satz lasse sich nur im Kontext des an den Oberbürgermeister gerichteten Schreibens und der dortigen Forderung nach einer Einbeziehung der Publikation des Beschwerdeführers in das Ausstellungskonzept verstehen. Er bringe zum Ausdruck, dass hier eine politische Intervention in die Konzeption durch den wissenschaftlichen Beirat seitens des Oberbürgermeisters nicht stattfinden werde, sondern die Auseinandersetzung den wissenschaftlich arbeitenden Gremien überlassen bleiben solle. 7 4. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts, seiner Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit und des rechtlichen Gehörs. II. 8 Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen (§ 93a Abs. 2 BVerfGG), weil sie unzulässig und jedenfalls unbegründet ist. 9 1. Der Beschwerdeführer legt nicht dar, dass er dem Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (§ 90 Abs. 2 BVerfGG) gerecht geworden ist, indem er den statthaften Rechtsbehelf der Nichtzulassungsbeschwerde nach § 133 VwGO ergriffen hat. Er trägt auch nicht konkret und nachvollziehbar vor, dass dieser Rechtsbehelf von vornherein offensichtlich aussichtslos gewesen wäre. Vielmehr beruft er sich an anderer Stelle der Verfassungsbeschwerde gerade darauf, dass die Verwaltungsgerichte von einer Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts abgewichen seien und dass sein Fall auch über den Einzelfall hinaus grundsätzliche Bedeutung habe. Ein Ausschöpfen des fachgerichtlichen Rechtswegs wäre daher sogar nach dem eigenen Vortrag erfolgsversprechend und daher keineswegs unzumutbar gewesen. Die vom Beschwerdeführer geltend gemachte Unzumutbarkeit eines weiteren fachgerichtlichen Vorgehens, die er mit seinem hohen Alter begründet, ist nicht dazu geeignet, ein Abgehen vom Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde zu rechtfertigen. 10 2. Die Verfassungsbeschwerde genügt zudem offensichtlich nicht den Anforderungen der § 23 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1, § 92 BVerfGG. 11 Ihre Begründung lässt eine Verletzung von Rechten im Sinne des § 90 Abs. 1 BVerfGG inhaltlich nachvollziehbar nicht erkennen. Der Großteil der anwaltlich verfassten Verfassungsbeschwerde erschöpft sich in einer kaum strukturierten kritischen Würdigung des erstinstanzlichen verwaltungsgerichtlichen Urteils. Hierbei gehen Ausführungen zu den wissenschaftlichen Arbeiten des Beschwerdeführers und anderer Wissenschaftler, Rechtsausführungen und Schilderungen des erstinstanzlichen Urteils ineinander. Auf lediglich eineinhalb Seiten geht der Beschwerdeführer auf das angegriffene Urteil des Verwaltungsgerichtshofs ein. Die eigentlichen Rechtsausführungen zur Begründetheit der Verfassungsbeschwerde erschöpfen sich im Wesentlichen in einer Charakterisierung des Schreibens als „Schmähung“ und Herabwürdigung des Beschwerdeführers und seiner wissenschaftlichen Arbeit. Zwar rekurrieren diese Ausführungen beiläufig auf die ebenfalls den Beschwerdeführer betreffende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Verfahren 1 BvR 2585/06, in dem er sich erfolgreich gegen einen ihn unnötig und unverhältnismäßig herabsetzenden Rundbrief der Bundeszentrale für politische Bildung gewandt hatte. Anforderungen und Maßstäbe dieser Entscheidung (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 17. August 2010 - 1 BvR 2585/06 -, Rn. 23 f.) und der dort in Bezug genommenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts werden jedoch weder herausgearbeitet, noch wird der vorliegende Fall darunter in fassbarer Weise subsumiert. 12 Insbesondere ist aus den vom Beschwerdeführer vorgelegten Unterlagen nicht erkennbar, wie scharf und detailliert die in dem anlassgebenden Schreiben geäußerte Kritik am Ausstellungskonzept der Landeshauptstadt München ausfiel und welche Anregungen zu Änderungen dort gemacht wurden. Damit fehlt ein wesentlicher Bezugspunkt der hier verfahrensgegenständlichen Äußerung, deren Verhältnismäßigkeit und Sachlichkeit nur im Zusammenhang mit dem dazu Anlass bietenden Schreiben beurteilt werden kann. Auch sonst spielt es für die Verhältnismäßigkeit staatlicher Äußerungen eine erhebliche Rolle, in welchen Kontext die Äußerungen fallen und auf genau welche Infragestellungen sie reagieren. So wäre beispielsweise bei einer Äußerung in einem sozialen Medium, das auf starke Vereinfachung und Verkürzung zielt, eine pointiertere und gröbere Zuspitzung zulässig als in einem die Ausstellung begleitenden wissenschaftlich kuratierten Katalog. All dies sind Fragen, die ohne Kenntnis des konkreten Inhalts des anlassgebenden Schreibens nicht beurteilt werden können. 13 3. Die Verfassungsbeschwerde lässt auch jenseits dieser Zulässigkeitsmängel keine grundrechtlichen Fehler der Fachgerichte erkennen. Insbesondere liegt der Sachverhalt ganz erheblich anders als im Verfahren 1 BvR 2585/06. Vorliegend geht es nicht – wie damals – um einen öffentlichen Rundbrief an alle Abonnentinnen und Abonnenten der Bundeszentrale für politische Bildung, in dem der Beschwerdeführer öffentlich herabgesetzt wurde. Auch ist hier nicht von einer „Makulierung“ eines seiner Werke und einer damit verbundenen Tilgung aus dem öffentlichen Gedächtnis die Rede. Stattdessen wird lediglich in klarer und entschiedener Form gegenüber einem einzelnen Bürger begründet, warum man den wissenschaftlichen Beiträgen des Beschwerdeführers im Rahmen des Dokumentationszentrums kein Forum zur Verfügung stellen wollte und weshalb man seine Thesen und Arbeiten für fragwürdig hält. Dies muss – wie insbesondere der Verwaltungsgerichtshof eingehend und nachvollziehbar begründet – einer Kommune im Rahmen ihrer Selbstverwaltung, die auch eine zeitgeschichtliche Aufarbeitung und öffentliches Erinnern einschließt, möglich sein. Eine Kommune ist als Keimzelle der Demokratie (vgl. BVerfGE 11, 266 <275 f.>; 79, 127 <149>) ein politischer Verband, der sich durch seine gewählten Vertreter zu seiner Geschichte und den daraus folgenden Lehren und Verantwortlichkeiten verhalten können muss. Erst recht gilt dies, wenn das anlassgebende Schreiben die wissenschaftliche Qualität und Ausgewogenheit des städtischen Ausstellungskonzepts infrage stellt und angreift (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 17. August 2010 - 1 BvR 2585/06 -, Rn. 24). 14 Zu berücksichtigen ist auch, dass anders als in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu Äußerungsbefugnissen von Regierungsmitgliedern (vgl. BVerfGE 148, 11; BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 9. Juni 2020 - 2 BvE 1/19 -) vorliegend eine Beeinträchtigung der Chancengleichheit der Parteien nicht in Rede steht. Die Problemlage, inwieweit in Regierung und Ämtern befindliche Parteipolitikerinnen und -politiker in amtlicher Funktion mit staatlichen Mitteln zulasten bestimmter politischer Parteien Stellung beziehen dürfen, wirft wesentlich andere Fragen auf als der vorliegende Fall. Die insoweit zu stellenden besonderen Neutralitätsanforderungen sind ausweislich ihrer Herleitung (vgl. BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 9. Juni 2020 - 2 BvE 1/19 -, Rn. 43-65) zunächst auf den Wettbewerb der Parteien beschränkt (vgl. auch BVerfGE 136, 323 <334 f. Rn. 30>). Der das Ausstellungskonzept der Landeshauptstadt nach außen vertretende Oberbürgermeister hat hier nicht im Kontext des politischen Wettbewerbs gehandelt, sondern im Rahmen seiner Informations- und Öffentlichkeitsarbeit als oberster Repräsentant der kommunalen Selbstverwaltung der Landeshauptstadt (vgl. auch BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 9. Juni 2020 - 2 BvE 1/19 -, Rn. 51 f. m.w.N.). 15 Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen. 16 Diese Entscheidung ist unanfechtbar. Paulus Christ Härtel
bundesverfassungsgericht
88-2019
11. Dezember 2019
Erfolgreiche Verfassungsbeschwerden gegen Auslieferungen russischer Staatsangehöriger tschetschenischer Herkunft Pressemitteilung Nr. 88/2019 vom 11. Dezember 2019 Beschluss vom 30. Oktober 2019 - 2 BvR 828/19 - Beschluss vom 22. November 2019 - 2 BvR 517/19 - Die Gefahr, dass von einem Auslieferungsverfahren betroffene Personen in Tschetschenien politischer Verfolgung oder den Mindeststandards nicht genügenden Strafverfahren ausgesetzt sein werden, kann im Falle der örtlichen Zuständigkeit von Gerichten in Tschetschenien nicht dadurch beseitigt werden, dass die an die Russische Föderation gerichtete Auslieferungsbewilligung einseitig mit dem Vorbehalt versehen wird, das künftige Strafverfahren müsse außerhalb des nordkaukasischen Föderalbezirks durchgeführt werden. Die Russische Föderation hatte zuvor gegenüber der Bundesrepublik Deutschland erklärt, eine Verlagerung des örtlichen Gerichtsstandes aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht sicherstellen und deshalb auch keine dahingehende rechtlich verbindliche Zusicherung abgeben zu können. Vor diesem Hintergrund hat die 2. Kammer des Zweiten Senats zwei Verfassungsbeschwerden gegen entsprechende Beschlüsse des Brandenburgischen Oberlandesgerichtes stattgegeben und die Verfahren zur erneuten Entscheidung dorthin zurückverwiesen. Zur Begründung hat sie dabei auch angeführt, dass die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte dagegen spricht, in einer einseitigen Bedingung unter den gegebenen Umständen eine hinreichende Sicherung zu sehen. Sachverhalt: Beide Verfassungsbeschwerden betreffen die Auslieferung russischer Staatsangehöriger tschetschenischer Herkunft zur Strafverfolgung nach Russland. Die Beschwerdeführer wurden jeweils durch die Russische Föderation über Interpol ausgeschrieben. Den Ausschreibungen lagen Haftbefehle eines Bezirksgerichts in der russischen Teilrepublik Tschetschenien zugrunde, in denen den Beschwerdeführern ein Raubdelikt beziehungsweise ein Drogendelikt zur Last gelegt werden. Auf seinen Asylantrag hin wurde dem Beschwerdeführer im Verfahren 2 BvR 828/19in Polen der Flüchtlingsstatus versagt, subsidiärer Schutzstatus aber zuerkannt. Das Asylverfahren gegen den Beschwerdeführer im Verfahren 2 BvR 517/19 wurde eingestellt, nachdem dieser Polen verlassen hatte. Die in Deutschland gestellten Asylanträge wurden abgelehnt. Die Auslieferungshaftbefehle wurden jeweils außer Vollzug gesetzt. Das Oberlandesgericht erklärte die Auslieferung des jeweiligen Beschwerdeführers für zulässig, allerdings dürften das Ermittlungsverfahren, die Untersuchungshaft und eine mögliche Strafhaft nicht im nordkaukasischen Föderalbezirk durchgeführt werden. Mitglieder des deutschen Konsulardienstes müssten den Beschwerdeführer jederzeit besuchen und am Strafverfahren teilnehmen dürfen. Die Zulässigkeitserklärung stehe unter der weiteren Voraussetzung, dass seitens des Bundesamts für Justiz die Bewilligungserklärung „davon abhängig gemacht“ werde, dass das künftige Gerichtsverfahren außerhalb des nordkaukasischen Föderalbezirks durchgeführt werde. Wesentliche Erwägungen der Kammer: I. 1. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unterliegen die deutschen Gerichte bei der Beurteilung der Zulässigkeit einer Auslieferung der verfassungsrechtlichen Pflicht, zu prüfen, ob die erbetene Auslieferung die gemäß Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 1 und Art. 20 GG unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze beziehungsweise das unabdingbare Maß an Grundrechtsschutz verletzt. Sie sind verpflichtet, zu prüfen, ob die Auslieferung und die ihr zugrundeliegenden Akte den nach Art. 25 GG in der Bundesrepublik Deutschland verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard wahren. Gemäß Art. 25 GG sind bei der Auslegung und Anwendung von Vorschriften des innerstaatlichen Rechts durch Verwaltungsbehörden und Gerichte die allgemeinen Regeln des Völkerrechts zu beachten. Hieraus folgt insbesondere, dass die Behörden und Gerichte grundsätzlich daran gehindert sind, innerstaatliches Recht in einer Weise auszulegen und anzuwenden, welche die allgemeinen Regeln des Völkerrechts verletzt. Sie sind auch verpflichtet, alles zu unterlassen, was einer unter Verstoß gegen allgemeine Regeln des Völkerrechts vorgenommenen Handlung nichtdeutscher Hoheitsträger im Geltungsbereich des Grundgesetzes Wirksamkeit verschafft, und gehindert, an einer gegen die allgemeinen Regeln des Völkerrechts verstoßenden Handlung nichtdeutscher Hoheitsträger bestimmend mitzuwirken. Im Rahmen des gerichtlichen Zulässigkeitsverfahrens im Vorgriff auf eine Auslieferung sind die zuständigen Gerichte verpflichtet, den entscheidungserheblichen Sachverhalt aufzuklären und etwaige Auslieferungshindernisse in hinreichender Weise, also in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vollständig, zu prüfen. Dies gilt auch für die Frage, ob der Auszuliefernde Gefahr läuft, im Zielstaat Opfer politischer Verfolgung zu werden. Soweit Anhaltspunkte für eine politische Verfolgung im Zielstaat bestehen, sind die zuständigen Stellen in Auslieferungssachen verpflichtet, im Rahmen von § 6 Abs. 2 IRG oder einer entsprechenden auslieferungsvertraglichen Regelung eigenständig zu prüfen, ob dem Betroffenen im Fall seiner Auslieferung politische Verfolgung droht. Es genügt den den Oberlandesgerichten obliegenden Aufklärungs- und Prüfungspflichten wegen der eingeschränkten Rechtsschutzmöglichkeiten gegen die Bewilligungsentscheidung nicht, im gerichtlichen Auslieferungsverfahren auf die Möglichkeit der Bundesregierung zu verweisen, im Bewilligungsverfahren Zusicherungen des ersuchenden Staates einzuholen. Zweck der gerichtlichen Zulässigkeitsprüfung im förmlichen Auslieferungsverfahren ist der präventive Rechtsschutz der betroffenen Person. Das gerichtliche Zulässigkeitsverfahren im Allgemeinen und die Prüfung der Gefahr politischer Verfolgung im Zielstaat im Besonderen dienen der Abwehr staatlicher Eingriffe in grundrechtlich geschützte Interessen des Auszuliefernden. Wird eine Auslieferung vollzogen, obwohl die Gefahr besteht, dass der Betroffene im Zielstaat politisch verfolgt wird, so verstößt sie jedenfalls gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG. Auslegung und Anwendung des § 6 Abs. 2 IRG oder entsprechender auslieferungsvertraglicher Regelungen durch die Oberlandesgerichte haben dem Rechnung zu tragen und eine wirksame gerichtliche Kontrolle sicherzustellen. Auch wenn im konkreten Fall aus Art. 16a Abs. 1 GG kein Asylanspruch folgt, muss der Grundgedanke dieser Norm, Schutz vor politischer Verfolgung im Zielstaat zu bieten, Berücksichtigung finden. Soweit ernstliche Gründe für die Annahme einer politischen Verfolgung im Zielstaat sprechen, hat das Gericht die beantragte Auslieferung demnach grundsätzlich für unzulässig zu erklären. Ob die Voraussetzungen dieses Auslieferungshindernisses vorliegen, muss es eigenständig und unabhängig von etwaigen Entscheidungen im Asylverfahren prüfen. Dies folgt verfassungsrechtlich aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG, den in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG geschützten materiellen Rechtspositionen, die insoweit dem Grundgedanken des Art. 16a Abs. 1 GG entsprechen, sowie einfachrechtlich aus § 6 Abs. 2 IRG beziehungsweise den entsprechenden auslieferungsvertraglichen Vorschriften. Nicht nur bei Überstellungen zwischen Mitgliedstaaten der Europäischen Union, sondern auch im allgemeinen völkerrechtlichen Auslieferungsverkehr gilt der Grundsatz, dass dem ersuchenden Staat im Hinblick auf die Einhaltung der Grundsätze der Rechtshilfe in Strafsachen sowie des Völkerrechts Vertrauen entgegenzubringen ist. Auch im allgemeinen Auslieferungsverkehr hat der ersuchende Staat ein erhebliches Interesse an der Aufrechterhaltung und Funktionsfähigkeit der gegenseitigen Rechtshilfe. Von der Begehung von Rechtsverletzungen, die die zukünftige Funktionsfähigkeit des Auslieferungsverkehrs zwangsläufig beeinträchtigen würden, wird ein ersuchender Staat schon deshalb regelmäßig Abstand nehmen. Dieser Grundsatz kann so lange Geltung beanspruchen, wie er nicht durch entgegenstehende Tatsachen, etwa das Vorliegen ernstlicher Gründe für die Annahme einer politischen Verfolgung im Zielstaat, erschüttert wird. Dies ist der Fall, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass im Fall einer Auslieferung die unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze beziehungsweise das unabdingbare Maß an Grundrechtsschutz oder der verbindliche völkerrechtliche Mindeststandard gemäß Art. 25 GG nicht eingehalten werden. Dafür müssen stichhaltige Gründe gegeben sein, nach denen gerade im konkreten Fall eine beachtliche Wahrscheinlichkeit besteht, dass in dem ersuchenden Staat die völkerrechtlichen Mindeststandards nicht beachtet werden. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind vom ersuchenden Staat im Auslieferungsverkehr gegebene völkerrechtlich verbindliche Zusicherungen geeignet, etwaige Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit der Auslieferung auszuräumen, sofern nicht im Einzelfall zu erwarten ist, dass die Zusicherung nicht eingehalten wird. Eine Zusicherung entbindet das über die Zulässigkeit einer Auslieferung befindende Gericht allerdings nicht von der Pflicht, eine eigene Gefahrenprognose anzustellen, etwa bezogen auf Anhaltspunkte für die Gefahr politischer Verfolgung im Zielstaat. Dabei muss das Gericht den Vortrag des Beschwerdeführers nachvollziehbar und willkürfrei würdigen. 2. Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG enthält ein Grundrecht auf effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt. Er verleiht dem Einzelnen, der im Auslieferungsverfahren im Vorgriff einer belastenden hoheitlichen Maßnahme geltend macht, diese würde in unzulässiger Weise in seine Rechte eingreifen, einen substantiellen Anspruch auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle. Die fachgerichtliche Überprüfung grundrechtseingreifender Maßnahmen kann die Beachtung des geltenden Rechts und den effektiven Schutz der berührten Interessen nur gewährleisten, wenn sie auf zureichender Aufklärung des jeweiligen Sachverhalts beruht. Um dem Gebot effektiven Rechtsschutzes zu genügen, darf ein Gericht auf die Ausschöpfung aller Erkenntnismöglichkeiten daher nur verzichten, wenn Beweismittel unzulässig, schlechterdings untauglich, unerreichbar oder für die Entscheidung unerheblich sind. Dagegen darf es von einer Beweisaufnahme nicht schon dann absehen, wenn die Aufklärung besonders arbeits- oder zeitaufwendig erscheint. II. Nach diesen Maßstäben können die Entscheidungen des Oberlandesgerichts über die Zulässigkeit der Auslieferung keinen Bestand haben. 1. Die zulässige Verfassungsbeschwerde im Verfahren 2 BvR 828/19 ist begründet, soweit der Beschwerdeführer geltend macht, dass die angegriffenen Entscheidungen gegen seine Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG verstoßen. a) Das Oberlandesgericht selbst geht davon aus, dass der Beschwerdeführer Gefahr läuft, im nordkaukasischen Föderalbezirk der politischen Verfolgung ausgesetzt zu sein. Diese Gefahr stellt einfachrechtlich beziehungsweise nach den entsprechenden auslieferungsvertraglichen Vorschriften ein Auslieferungshindernis dar. Einer Auslieferung stehen zudem die in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG geschützten materiellen Rechtspositionen und der Rechtsgedanke des Art. 16a Abs. 1 GG entgegen, Schutz vor politischer Verfolgung im Zielstaat zu bieten. b) Der durch das Oberlandesgericht unterstellten Gefahr politischer Verfolgung wird auch nicht dadurch begegnet, dass in der Bewilligungsnote eine einseitige Annahme formuliert wird, nach der die Auslieferung in dem Verständnis erfolge, dass das Strafverfahren außerhalb des nordkaukasischen Föderalbezirks durchgeführt werde. Dabei kann offenbleiben, ob ein einseitiger Vorbehalt in der Verbalnote, mit der dem Zielstaat die Bewilligung der Auslieferung mitgeteilt und der durch Entgegennahme der betroffenen Person durch seine Behörden konkludent angenommen wird, rechtlich gleich einer Zusicherung zu behandeln ist. Denn eine solche Gleichbehandlung setzt voraus, dass ein einseitiger Vorbehalt ohne Zweifel in den jeweils geschlossenen völkerrechtlichen Auslieferungsvertrag einbezogen wird und demnach rechtlich in gleicher Weise Verbindlichkeit erlangt wie eine von dem ersuchenden Staat abgegebene rechtsverbindliche Zusicherung. Durch einseitige Formulierungen in der Bewilligungsnote, wie sie das Oberlandesgericht im Zulässigkeitsverfahren angeordnet hat, ist jedenfalls nicht hinreichend sichergestellt, dass der Beschwerdeführer nicht einem Strafverfahren im nordkaukasischen Föderalbezirk unterzogen wird. Mit einer solchen Annahme formuliert die Bundesrepublik Deutschland ihr Vertrauen in ein konkretes Verhalten des Zielstaats, obwohl die Russische Föderation bereits förmlich und mit Bezug zum vorliegenden Einzelfall bekundet hatte, sie könne das von der deutschen Seite gewünschte Ergebnis einer Verlagerung des örtlichen Gerichtsstandes aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht sicherstellen und deshalb auch keine rechtlich verbindliche Zusicherung abgeben. Vor diesem von der russischen Seite detailliert geschilderten Hintergrund ist nicht ersichtlich, weshalb das Oberlandesgericht davon ausgeht, dass im Falle des Beschwerdeführers die in der deutschen Verbalnote einseitig aufgestellte Erwartung mit „an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ von der russischen Seite erfüllt werden wird. Zudem wird diese Erwartung durch die Handhabung derartiger Fälle durch die Behörden der Russischen Föderation in der Vergangenheit in Zweifel gezogen. c) Auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) spricht dagegen, die vom Oberlandesgericht im vorliegenden Fall für erforderlich erachtete einseitig formulierte Erwartung einer rechtlich verbindlichen Zusicherung gleichzustellen. Der EGMR geht davon aus, dass der ersuchte Staat anhand der Umstände des Einzelfalles überprüfen muss, ob eine abgegebene Zusicherung auch tatsächlich belastbar ist und wieviel Gewicht ihr bei der Gesamtbetrachtung zukommt. Der Gerichtshof beurteilt die Belastbarkeit einer Zusicherung unter anderem danach, ob diese konkret oder allgemein und vage formuliert ist, ob eine staatliche Stelle die Zusicherung abgegeben hat, die den Zielstaat rechtlich binden kann, ob erwartet werden kann, dass Regionalregierungen sich an Zusicherungen, die durch Organe der Zentralregierung abgegeben werden, gebunden sehen, ob Zusicherungen in der Vergangenheit beachtet wurden und ob das zugesicherte Verhalten nach dem nationalen Recht des Zielstaats legal oder illegal ist. Diese Grundsätze sind auch bei der verfassungsrechtlichen Bewertung von Zusicherungen heranzuziehen. Hier hat sich keine russische Behörde ausdrücklich dazu bekannt, das von der deutschen Seite gewünschte Ergebnis eines Strafverfahrens außerhalb des nordkaukasischen Föderalbezirks verbindlich zu gewährleisten. Vielmehr hat die russische Seite bekundet, dieses Ergebnis angesichts der alleinigen Entscheidungskompetenz des – unabhängigen – örtlich zuständigen Tatgerichts nicht sicherstellen zu können. In der Vergangenheit sind derartige Erwartungen nach den Angaben des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz zudem in einigen Fällen, die relativ gesehen einen nicht zu vernachlässigenden Anteil ausmachen, nicht erfüllt worden. 2. Die Verfassungsbeschwerde im Verfahren 2 BvR 517/19 ist begründet, soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Grundrechts aus Art. 19 Abs. 4 GG rügt. Die Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung kann nach den aufgeführten Maßstäben keinen Bestand haben. Das Oberlandesgericht hat die Umstände, die den Beschwerdeführer bei einem möglichen Strafverfahren im nordkaukasischen Föderalbezirk erwarten würden, nicht aufgeklärt. Es hat sich von der Aufklärung und der rechtlichen Prüfung, ob im Rahmen eines solchen Strafverfahrens die unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze beziehungsweise das unabdingbare Maß an Grundrechtsschutz und der völkerrechtliche Mindeststandard eingehalten würden, als entbunden angesehen, weil es davon ausgegangen ist, dass der Beschwerdeführer nicht dorthin überstellt werde. Dabei führt es selbst aus, dass angesichts der Situation in Tschetschenien einer Auslieferung dorthin vorgebeugt werden muss. Es ist bereits zweifelhaft, ob das Gericht für die Widerlegung eines von ihm für möglich erachteten Auslieferungshindernisses, welches durch die Situation in der Zielregion entsteht, auf weitergehende, im späteren Bewilligungsverfahren einzuholende Sicherungsmechanismen verweisen durfte. Denn die betroffene Person hat im Bewilligungsverfahren nur noch eingeschränkte Rechtsschutz- und Einflussmöglichkeiten. Jedenfalls aber hätte das Oberlandesgericht, bevor es sich auf im Bewilligungsverfahren aufzustellende einseitige Bedingungen hätte berufen und die weitere Aufklärung des Sachverhalts im Hinblick darauf unterlassen können, prüfen müssen, inwiefern mit einer solchen Bedingung im Bewilligungsverfahren sichergestellt werden kann, dass eine Auslieferung des Beschwerdeführers nach Tschetschenien mit hinreichender Sicherheit auszuschließen ist. Ist dies nicht der Fall, hätte es der weiteren Aufklärung des Sachverhalts im Zulässigkeitsverfahren unter Einbeziehung der Situation im nordkaukasischen Föderalbezirk bedurft. Hätte das Oberlandesgericht im Zulässigkeitsverfahren unter Einbindung des Bundesamts für Justiz und des Auswärtigen Amtes geprüft, ob eine einseitige Bedingung in der Bewilligungsnote über eine Verlagerung des örtlichen Gerichtsstandes hinreichend sicherstellt, dass der Beschwerdeführer nicht einem Strafverfahren in Tschetschenien ausgesetzt wird, hätte es sich mit den bestehenden Problemen dieser Vorgehensweise befassen müssen. Denn die Russische Föderation hat gegenüber der Bundesrepublik Deutschland in derartigen Fällen geltend gemacht, dass es der verfassungsrechtlichen Gewährleistung des gesetzlichen Richters widerspreche, den örtlichen Gerichtsstand in diesem Verfahrensstadium zu verlagern. Über die Verlegung des Gerichtsstandes könne nur das örtlich zuständige Gericht, hier das Strafgericht in Grosny, entscheiden. Vor diesem Hintergrund ist nicht ersichtlich, worauf das Oberlandesgericht sein Vertrauen gründet, dass die Russische Föderation aufgrund einer einseitig aufgestellten Bedingung in der Bewilligungsentscheidung den örtlichen Gerichtsstand verlagern werde, obwohl sie bereits förmlich bekundet hat, sie könne das von der deutschen Seite gewünschte Ergebnis aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht sicherstellen. Daher kann auch hier offenbleiben, ob ein einseitiger Vorbehalt in der Verbalnote, mit der dem Zielstaat die Bewilligung der Auslieferung mitgeteilt und der durch Entgegennahme der betroffenen Person durch die Behörden des Zielstaats konkludent angenommen wird, rechtlich gleich einer Zusicherung zu behandeln ist. Die vorliegend vom Oberlandesgericht für erforderlich erachtete und im späteren Bewilligungsverfahren aufgestellte Bedingung der Verlagerung des örtlichen Gerichtsstandes aus dem nordkaukasischen Föderalbezirk erweist sich vor dem Hintergrund der russischen Rechtslage jedenfalls als nicht hinreichend belastbar. Auch die Rechtsprechung des EGMR spricht, wie oben ausgeführt, dagegen, in einer einseitigen Bedingung unter den gegebenen Umständen eine hinreichende Sicherung zu sehen.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT - 2 BvR 828/19 - IM NAMEN DES VOLKES In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Herrn E…, - Bevollmächtigte: Rechtsanwältin Johanna Künne, Karl-Marx-Straße 168, 12043 Berlin - gegen a) den Beschluss des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 29. Juli 2019 - (1) 53 AuslA 66/17 (34/17) -, b) den Beschluss des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 10. April 2019 - (1) 53 AuslA 66/17 (34/17) - und  Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwältin Johanna Künne, Berlin hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Richter Huber und die Richterinnen Kessal-Wulf, König am 30. Oktober 2019 einstimmig beschlossen: Der Beschluss des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 10. April 2019 - (1) 53 AuslA 66/17 (34/17) - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 und 2 des Grundgesetzes, soweit er die Auslieferung des Beschwerdeführers für zulässig erklärt. Er wird in diesem Umfang aufgehoben. Der Beschluss des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 29. Juli 2019 - (1) 53 AuslA 66/17 (34/17) - wird damit gegenstandslos. Die Sache wird an das Brandenburgische Oberlandesgericht zurückverwiesen. Das Land Brandenburg hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren und für das Verfahren über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erstatten. Damit erledigt sich der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung seiner Bevollmächtigten. G r ü n d e : 1 Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Auslieferung eines russischen Staatsangehörigen tschetschenischer Herkunft zur Strafverfolgung nach Russland. I. 2 1. Der Beschwerdeführer wurde durch die Russische Föderation am 25. September 2017 per Diffusionsnote über Interpol ausgeschrieben. Der Ausschreibung lag ein Haftbefehl eines Bezirksgerichts in Grosny, der Hauptstadt der russischen Teilrepublik Tschetschenien, vom 24. August 2017 zugrunde. Dem Beschwerdeführer wird darin zur Last gelegt, am 15. März 2001 mit einem Mittäter in Grosny eine Frau unter vorgehaltener Handfeuerwaffe in ihrer Wohnung überfallen, ihr mehrfach auf den Kopf geschlagen, sie gewürgt und Schmuck im Gesamtwert von 21.250 Rubel entwendet zu haben. Auf der anschließenden Flucht habe der Beschwerdeführer auf zur Hilfe gekommene Nachbarn geschossen. Sein Mittäter sei festgenommen worden. Dem Beschwerdeführer sei die Flucht gelungen. 3 Der Beschwerdeführer hat Russland eigenen Angaben zufolge Anfang 2005 verlassen und ist über Weißrussland nach Polen gereist. Auf seinen Asylantrag hin wurde ihm in Polen mit Bescheid vom 28. März 2006 der Flüchtlingsstatus versagt, subsidiärer Schutzstatus aber zuerkannt. Im Februar 2014 reiste er weiter in die Bundesrepublik Deutschland. Ein am 20. Februar 2014 in Deutschland gestellter Asylantrag wurde mit Bescheid vom 11. April 2014 abgelehnt, weil der Beschwerdeführer über einen sicheren Drittstaat eingereist sei. Mit diesem Bescheid, gegen den, soweit ersichtlich, noch eine Klage anhängig ist, wurde die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Polen angeordnet. 4 Nachdem der Beschwerdeführer am 23. November 2017 auf Grundlage des Auslieferungsersuchens in S… aufgegriffen worden war, erließ das Brandenburgische Oberlandesgericht am 29. November 2017 gegen ihn einen vorläufigen Auslieferungshaftbefehl. Gegen Auflagen wurde dieser mit Beschluss vom 22. Dezember 2017 außer Vollzug gesetzt, weil der Beschwerdeführer einen festen Wohnsitz in Deutschland habe, an dem auch seine vier minderjährigen Kinder wohnten. Die Außervollzugsetzung wurde nach der Übersendung der förmlichen Auslieferungsunterlagen durch die Russische Föderation beibehalten. 5 Gegen die Zulässigkeit seiner Auslieferung erhob der Beschwerdeführer im fachgerichtlichen Verfahren mehrere Einwände. So behauptete er, die Tat sei in Russland jedenfalls verjährt. Zudem sei das zugrundeliegende Strafverfahren in Tschetschenien rechtsstaatswidrig und ein Instrument politischer Verfolgung, weil er an Konflikthandlungen im Tschetschenienkrieg beteiligt gewesen sei. Schließlich genügten die ihn erwartenden Haftbedingungen in Russland nicht dem Mindeststandard. Im fachgerichtlichen Verfahren sicherte die Russische Föderation zu, dass das Auslieferungsersuchen nicht dem Zweck der politischen Verfolgung des Beschwerdeführers diene, ihm im Falle seiner Auslieferung alle Verteidigungsmöglichkeiten einschließlich anwaltlichen Beistands gewährt würden und er keiner grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung unterworfen werde. Auf Nachfrage sicherte die Russische Föderation überdies zu, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Verurteilung in einer Haftanstalt untergebracht werde, die den Anforderungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und den Europäischen Strafvollzugsgrundsätzen entspreche und außerhalb des nordkaukasischen Föderalbezirks liege. Das Ermittlungsverfahren werde bereits nicht mehr durch die Verwaltung des Innenministeriums in Grosny, sondern von der Hauptverwaltung des Innenministeriums der Russischen Föderation für das Rostower Gebiet geführt. Nach einer etwaigen Strafvollstreckung dürfe der Beschwerdeführer das Hoheitsgebiet der Russischen Föderation verlassen. Bedienstete der deutschen Botschaft dürften ihn jederzeit besuchen, der Gerichtsverhandlung beiwohnen, und auf Anfrage werde der Botschaft eine Kopie der endgültigen Entscheidung des Strafgerichts übermittelt. 6 2. Das Oberlandesgericht erklärte die Auslieferung des Beschwerdeführers am 17. September 2018 für zulässig, verband dies aber mit der Maßgabe, dass im Bewilligungsverfahren eine weitere Zusicherung einzuholen sei, mit der sichergestellt werde, dass das Strafverfahren nicht im nordkaukasischen Föderalbezirk durchgeführt werde. 7 3. Mit Verbalnote vom 12. Oktober 2018, deren Inhalt dem Beschwerdeführer zunächst nicht mitgeteilt wurde, übermittelte das Auswärtige Amt der Russischen Föderation die Bewilligung der Auslieferung „unter Bezugnahme“ auf die im Verfahren erhaltenen Zusicherungen, ohne dass zuvor die in der Zulässigkeitsentscheidung für erforderlich erachtete weitere Zusicherung zum Gerichtsstand eingeholt worden war. 8 Mit weiterer Verbalnote vom 17. Oktober 2018 teilte das Auswärtige Amt „klarstellend“ mit, dass die Auslieferung auch vor dem Hintergrund eines Schreibens der Generalstaatsanwaltschaft Russlands vom 6. Februar 2018 erfolge. „Im Übrigen“ gehe die Bundesregierung davon aus, dass das Gerichtsverfahren außerhalb des nordkaukasischen Föderalbezirks durchgeführt werde und deutsche Konsularbeamte den Beschwerdeführer jederzeit besuchen dürften. 9 4. Unter dem 27. November 2018 wies das Bundesamt für Justiz die brandenburgische Generalstaatsanwaltschaft darauf hin, dass das Verlangen, Russland möge einen abweichenden örtlichen Gerichtsstand zusichern, der nicht im nordkaukasischen Föderalbezirk liege, von der russischen Seite voraussichtlich nicht befolgt werde, weil es gegen die Gewährleistung des gesetzlichen Richters in der russischen Verfassung verstoße. Derartige Zusicherungen würden daher durch Russland mittlerweile abgelehnt. Allerdings werde, einer telefonischen Auskunft der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation zufolge, bei der hier zugesicherten örtlichen Verlegung des Ermittlungsverfahrens „selbstverständlich“ auch der Gerichtsstand verlegt. Derartige Verlegungszusagen hätten sich als belastbar erwiesen. 10 5. Mit Beschluss vom 3. Januar 2019 setzte das Oberlandesgericht die Auslieferungshaft in Vollzug, sofern die Durchführung der Auslieferung innerhalb von 21 Tagen erfolge. Die russische Generalstaatsanwaltschaft habe unter anderem zugesichert, dass das Ermittlungsverfahren und eine Inhaftierung des Beschwerdeführers außerhalb des nordkaukasischen Föderationskreises vorgenommen würden. Die Bewilligungsentscheidung führe zudem aus, dass „die Bundesregierung davon ausgehe“, dass auch das Gerichtsverfahren außerhalb dieser Verwaltungseinheit durchgeführt werde und die deutschen Konsularbeamten den Verfolgten zwecks Überprüfung der Einhaltung der Bedingungen besuchen dürften. Das Bundesamt für Justiz habe hierzu informatorisch ausgeführt, dass sich diese Verwaltungspraxis etabliert habe, weil eine förmliche Zusicherung der Verlegung des Gerichtsstandes durch die russischen Behörden aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht abgegeben werden könne; denn dem Betroffenen werde bei einer Verlegung des örtlichen Gerichtsstandes entgegen Art. 47 Abs. 1 der Verfassung Russlands der gesetzliche Richter entzogen. In den Bewilligungsnoten werde nunmehr zum Ausdruck gebracht, dass die Auslieferung dadurch bedingt sei, dass der örtliche Gerichtsstand verlegt werde. In der Vergangenheit sei dies von der russischen Seite „durchweg berücksichtigt“ worden. Das Oberlandesgericht hielt diese Praxis ohne weitere Begründung für „ausreichend“. 11 6. Auf Antrag des Beschwerdeführers untersagte die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts die Durchführung der Auslieferung mit Beschluss vom 27. Februar 2019 bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Wochen. Die einstweilige Anordnung erfolgte angesichts der Eilbedürftigkeit gemäß § 32 Abs. 5 BVerfGG ohne Begründung. 12 7. Auf den Antrag des Beschwerdeführers hob das Oberlandesgericht Brandenburg daraufhin mit Beschluss vom 7. März 2019 den Beschluss vom 17. September 2018 über die Zulässigkeit der Auslieferung auf. Zur Begründung führte es aus, dass dem Beschwerdeführer insoweit zuzustimmen sei, als der Umstand, dass im Bewilligungsverfahren abweichend von den Vorgaben des Oberlandesgerichts keine Zusicherung eingeholt worden sei, ein Umstand gemäß § 33 Abs. 1 IRG sei, weil er geeignet sei, eine andere Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung zu treffen. Aufgaben der Judikative im Zulässigkeitsverfahren könnten nicht der Exekutive im Bewilligungsverfahren überantwortet werden. An der im Beschluss vom 3. Januar 2019 geäußerten Rechtsauffassung werde insoweit nicht festgehalten. Eine erneute Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung werde bis zum 12. April 2019 ausgesetzt, um der Generalstaatsanwaltschaft Brandenburg Zeit zu geben, ergänzende Zusicherungen einzuholen. 13 Unter Bezugnahme auf den Beschluss vom 7. März 2019 hat der Beschwerdeführer die zuvor erhobene Verfassungsbeschwerde (2 BvR 351/19) mit Schriftsatz vom 25. März 2019 für erledigt erklärt. 14 8. Unter dem 26. März 2019 teilte die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation zu den Hintergründen im vorliegenden Verfahren mit, dass das „Strafverfahren“ aus der Zuständigkeit der Ermittlungsverwaltung für die Stadt Grosny „genommen“ und zur Veranlassung weiterer Untersuchungen an die Hauptermittlungsverwaltung für das Rostower Gebiet übergeben worden sei. Auch die Strafverbüßung werde außerhalb des nordkaukasischen Föderalbezirks erfolgen. Hinsichtlich der Änderung des Gerichtsstandes sei ein „bestimmtes Verfahren“ vorgesehen. Als örtlicher Gerichtsstand gelte der Ort der Tatbegehung. Der dadurch bestimmte gesetzliche Richter könne aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht entzogen werden. Das Gesetz gewähre aber die Möglichkeit, „in Bezug auf die ganze Zusammensetzung des Gerichts“ einen Ablehnungsantrag zu stellen. Ein solcher Antrag werde „auf dem vom Gesetz vorgeschriebenen Wege geprüft“. Auch der staatliche Ankläger sei berechtigt, einen Antrag auf Änderung der örtlichen Zuständigkeit zu stellen. Die Entscheidung hierüber stehe ausschließlich dem Tatgericht zu. Da sich das Verfahren gegen den Beschwerdeführer noch im Ermittlungsverfahren befinde, könne die örtliche Zuständigkeit derzeit nicht geändert werden. Deutsche Beamte könnten das Strafverfahren aber verfolgen und den Beschwerdeführer im Strafvollzug besuchen. 15 9. Mit angegriffenem Beschluss vom 10. April 2019 hielt das Oberlandesgericht den – weiterhin außer Vollzug gesetzten – Auslieferungshaftbefehl aufrecht und erklärte die Auslieferung des Beschwerdeführers erneut für zulässig. Letzteres erfolge unter mehreren Voraussetzungen. So dürften das Ermittlungsverfahren, die Untersuchungshaft und eine mögliche Strafhaft nicht im nordkaukasischen Föderalbezirk durchgeführt werden. Mitglieder des deutschen Konsulardienstes müssten den Beschwerdeführer jederzeit besuchen und am Strafverfahren teilnehmen dürfen. Die Zulässigerklärung stehe unter der weiteren Voraussetzung, dass seitens des Bundesamts für Justiz die Bewilligungserklärung „davon abhängig gemacht“ werde, dass das künftige Gerichtsverfahren außerhalb des nordkaukasischen Föderalbezirks durchgeführt werde. 16 Auf das Asylrecht nach Art. 16a GG könne der Beschwerdeführer sich nicht berufen, weil er über Polen eingereist sei. Nach Prüfung der Unterlagen aus dem asylrechtlichen Verfahren sei festzustellen, dass er widersprüchliche Angaben gemacht habe. Sein Klagevorbringen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren spreche gegen die von ihm behauptete staatliche Verfolgung. Einer „etwaigen Gefahr der politischen Verfolgung oder unmenschlichen Behandlung während des Strafverfahrens oder etwaigen Strafvollzugsverfahrens“ werde durch die erteilten Zusicherungen wirksam begegnet. Russland habe zugesichert, dass das dem Auslieferungsersuchen zugrundeliegende Verfahren nicht der politischen Verfolgung des Beschwerdeführers diene. Es gelte der Grundsatz, dass Staaten sich an abgegebene Zusicherungen hielten. Nach Mitteilung des Auswärtigen Amtes sei „kein einziger Fall“ bekannt, in dem Zusicherungen durch russische Behörden nicht eingehalten worden seien, vielmehr sei von „durchweg positiven Erfahrungen mit der Russischen Föderation“ auszugehen. 17 Der Auslieferung stehe auch nicht entgegen, dass Russland aus Rechtsgründen keine Zusicherung über die Durchführung eines Strafverfahrens außerhalb des nordkaukasischen Föderalbezirks habe abgeben können. Die Garantie des gesetzlichen Richters sei auch im Grundgesetz verankert, die Abgabe einer solchen Zusicherung könne demnach nicht von Russland verlangt werden. Einem insoweit „in Betracht zu ziehenden Auslieferungshindernis“ könne aber entgegengewirkt werden, wenn nach der belastbaren Praxis des ersuchenden Staats mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten sei, dass die in der Verbalnote aufgestellte Voraussetzung, wonach die Bundesrepublik Deutschland von einem Strafverfahren außerhalb des Nordkaukasus ausgehe, tatsächlich beachtet werde und die Verbalnote jedenfalls „de facto Bindungswirkung“ entfalte. Da bereits die Verbalnote vom 17. Oktober 2018 unter dieser Bedingung gestanden habe, solche Bedingungen in der Vergangenheit durch die russische Seite auch befolgt worden seien und den Botschaftsangehörigen ein Beobachterstatus für das Gerichtsverfahren zugesichert worden sei, seien hinreichende Sicherungen gegeben. Demnach werde die Bewilligung unter die Bedingung eines außerhalb des Nordkaukasus durchzuführenden Strafverfahrens zu stellen sein. Deren Einhaltung sei zu erwarten, weil ein Verstoß das gegenseitige Vertrauen enttäuschen und die weitere Zusammenarbeit nachhaltig stören würde. 18 Die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation habe zudem mitgeteilt, dass eine Verlegung des Gerichtsstandes verfahrensrechtlich möglich sei und das Tatgericht hierüber entscheide. Dass der Gerichtsstand verlegt werde, begegne keinen Zweifeln, weil das Ermittlungsverfahren bereits verlegt worden sei und nach Auskunft des Bundesamts für Justiz die Verlegung des örtlichen Gerichtsstandes nach sich ziehe. Dabei dürfe nicht außer Acht bleiben, dass im vorliegenden Fall eine Auslieferungspflicht aus dem Europäischen Auslieferungsabkommen folge und Russland Konventionsstaat des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte und deshalb an völkerrechtliche Standards gebunden sei. Auch sonstige Auslieferungshindernisse, etwa wegen der Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung im Zielstaat, lägen angesichts der abgegebenen Zusicherungen nicht vor. Die Tat sei auch nicht verjährt, weil nach russischem Recht die Verjährung durch die Flucht des Beschwerdeführers gehemmt sei. 19 10. Mit Schriftsatz vom 8. Mai 2019 beantragte der Beschwerdeführer eine erneute Zulässigkeitsentscheidung und die Nachholung rechtlichen Gehörs. Mit Bezug auf die in der Verfassungsbeschwerde gerügte Problematik führte er zur Begründung aus, das Oberlandesgericht habe nicht berücksichtigt, dass eine Änderung des Gerichtsstandes erst erfolgen könne, nachdem das Strafverfahren am örtlich zuständigen Gericht, also in Tschetschenien, eröffnet worden sei. Deshalb könne Russland auch keine Zusicherung hinsichtlich der Änderung des Gerichtsstandes abgeben. Würde die russische Generalstaatsanwaltschaft zusichern, wie das Tatgericht über etwaige Verlegungs- und Befangenheitsanträge entscheide, wäre dies ein offenkundiger Gewaltenteilungsverstoß. Dieser Situation könne nicht dadurch begegnet werden, dass die abgelehnte Zusicherung durch eine inhaltsgleiche Bedingung in der Bewilligung ersetzt werde. Auch die behaupteten durchweg positiven Erfahrungen mit Russland lägen nicht vor, weil Auslieferungsersuchen Russlands durch deutsche Gerichte häufig ganz abgelehnt würden. Davon, dass Russland sich völkerrechtskonform verhalte, könne nach dessen aktuellem Verhältnis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und dem Anti-Folterkomitee nicht ausgegangen werden. Überdies sei eine persönliche Anhörung des Beschwerdeführers zu der Gefahr politischer Verfolgung erforderlich. 20 11. Mit Schreiben vom 15. Juli 2019 konkretisierte das Bundesamt für Justiz auf Anfrage des Oberlandesgerichts seine Stellungnahme dahingehend, dass eine Konsultation zwischen der Russischen Föderation und der Bundesrepublik Deutschland im November 2017 ergeben habe, dass Russland aus verfassungsrechtlichen Erwägungen im Stadium des vorgerichtlichen Ermittlungsverfahrens keine Zusicherungen zum Gerichtsort abgeben könne, sondern nur die Zuständigkeit der Ermittlungsbehörde geändert werden könne. In der Praxis folge der Gerichtsstand üblicherweise der Zuständigkeit im Ermittlungsverfahren. Auf diplomatischer Ebene sei eine Verständigung erzielt worden, wonach in Bewilligungsnoten durch die deutsche Seite nur noch die Annahme geäußert werde, dass das Strafverfahren außerhalb des nordkaukasischen Föderalbezirks durchgeführt werde. In 13 von 34 Fällen sei bereits auf diese „Annahmelösung“ zurückgegriffen worden. Die Einhaltung werde im Rahmen eines Monitorings überprüft. Dies werde auch im Falle der Auslieferung des Beschwerdeführers erfolgen. In der Vergangenheit seien „zur Absicherung der Verlässlichkeit“ Gespräche zwischen Auswärtigem Amt und der Botschaft der Russischen Föderation in Berlin und zwischen der Deutschen Botschaft in Moskau und der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation geführt worden. Zu den 13 Fällen lägen 8 verfahrensabschließende Entscheidungen vor. In drei Fällen sei die in der Bewilligungsnote geäußerte Erwartung der Bundesregierung, dass das Gerichtsverfahren außerhalb des nordkaukasischen Föderalbezirks stattfinden werde, von der russischen Seite „nicht erfüllt“ worden. Dies habe das Bundesamt für Justiz erst vor Kurzem erfahren. Einer der drei hiervon betroffenen Auslieferungshäftlinge habe allerdings den Wunsch geäußert, nach Tschetschenien verlegt zu werden, ein anderer habe kein Rechtsmittel gegen die Verlegung nach Tschetschenien eingelegt. Im Mai 2019 seien die drei Betroffenen durch Vertreter der Deutschen Botschaft in Moskau besucht worden. Dabei sei festgestellt worden, dass die „Einschätzung russischer Menschenrechts-organisationen, dass die äußeren Haftbedingungen in den offiziellen tschetschenischen Haftanstalten überdurchschnittlich gut“ seien, zutreffe und die Zusicherung der Konformität der Haftbedingungen mit der EMRK eingehalten werde. Ein Anwalt, der Menschenrechtsanwalt und Verwandter eines Auslieferungshäftlings sei, habe sich zudem positiv über das Strafverfahren in Tschetschenien geäußert. Die russische Seite habe in diesen Fällen mitgeteilt, dass sie ihre Zusicherung einer Strafvollstreckung außerhalb des nordkaukasischen Föderalbezirks einhalten werde. Nach Auswertung der Gespräche der Deutschen Botschaft mit verschiedenen Nichtregierungsorganisationen, Anwälten und dem Komitee zur Verhinderung von Folter erwarte Angeklagte in Tschetschenien im Bereich der Allgemeinkriminalität ein faires Verfahren. 21 12. Mit angegriffenem Beschluss vom 29. Juli 2019 wies das Oberlandesgericht die Anhörungsrüge des Beschwerdeführers und dessen Antrag auf erneute Zulässigkeitsentscheidung zurück. 22 Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs decke das Antragsvorbringen nicht auf. Der Senat habe sich eingehend mit dem Vortrag des Beschwerdeführers auseinandergesetzt und die Berichte über die Situation in Tschetschenien zur Kenntnis genommen. Insbesondere verwies er darauf, dass die Auslieferungsbewilligung mit einer Bedingung zu versehen sei, die sicherstelle, dass auch das künftige Gerichtsverfahren außerhalb des nordkaukasischen Föderalbezirks stattfinde. Auf eine solche einseitige Bedingung könne dann zurückgegriffen werden, wenn, wie im vorliegenden Fall, nach der „belastbaren Praxis“ mit „an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ zu erwarten sei, dass die in der Verbalnote aufgestellte Erwartung beachtet werde und sie damit „de facto Bindungswirkung“ entfalte. In acht Fällen habe die russische Seite die Erwartungen erfüllt. Dies belege die hinreichende Belastbarkeit. Soweit in drei Fällen die Erwartung nicht erfüllt worden sei, habe selbst die Prozessbevollmächtigte des Beschwerdeführers in ihrer Anhörungsrüge bestätigt, dass die Auslieferung nach Tschetschenien sogar günstig sein könne, etwa, wenn man dem örtlichen Regime nahestehe. 23 Der Beschwerdeführer habe zur Frage der politischen Verfolgung auch nicht persönlich angehört werden müssen. Der Senat halte die Gefahr politischer Verfolgung in Tschetschenien im Falle des Beschwerdeführers für möglich und unterstelle diese bei seiner Entscheidung. Ihr werde aber durch die eingeholten Zusicherungen und die Annahme in der Bewilligung hinreichend begegnet. Anhaltspunkte dafür, dass die russischen Justizbehörden diese nicht einhalten würden, seien nach der Stellungnahme des Bundesamts für Justiz vom 15. Juli 2019 mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen. II. 24 1. Mit seiner Verfassungsbeschwerde vom 8. Mai 2019 rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 16a Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG, Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG (faires Verfahren), Art. 103 Abs. 1 GG und Art. 1 Abs. 1 GG durch die Zulässigerklärung der Auslieferung im Beschluss des Oberlandesgerichts vom 10. April 2019. 25 Zur Begründung führt er aus, das Oberlandesgericht habe wesentliches Vorbringen nicht berücksichtigt. Zudem sei der Beschwerdeführer nicht persönlich zu seiner politischen Verfolgung angehört beziehungsweise seinem Vortrag sei pauschal nicht geglaubt worden. 26 Weiterhin stützt sich der Beschwerdeführer auf den bereits im fachgerichtlichen Verfahren vorgebrachten Einwand, die Bewilligung der Auslieferung ohne die förmliche Zusicherung, dass das Gerichtsverfahren nicht im nordkaukasischen Föderalbezirk stattfinde, verletze ihn in seinen Grundrechten. Eine Zusicherung könne nicht durch eine einseitige Bedingung ersetzt werden. In einem aufgrund einer fehlenden Zusicherung nunmehr möglichen strafgerichtlichen Verfahren vor einem tschetschenischen Gericht drohe ihm eine unrechtmäßige, rechtsstaatswidrige Verurteilung. In Tschetschenien werde auf Grundlage von Gewohnheits- und Schariarecht entschieden. Teilweise unterlägen gerichtliche Entscheidungen schlicht politischer Willkür. Die dortige Freispruchrate sei nach einem vom High Court of Justice in England eingeholten Sachverständigengutachten bei Einzelrichterentscheidungen gleich Null („absolutely no chance of acquittal“). Eine einseitige Bedingung in der Auslieferungsbewilligung stelle nicht hinreichend sicher, dass das Strafverfahren nicht vor dem derzeit örtlich zuständigen Bezirksgericht Leninsky in Grosny durchgeführt werde. Das Oberlandesgericht habe die Zusicherung des abweichenden Gerichtsstandes selbst zunächst für erforderlich gehalten. Die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation habe die Abgabe einer solchen Zusicherung unter Hinweis auf das in der russischen Verfassung verbriefte Recht auf den gesetzlichen Richter aber abgelehnt. Zudem habe sie darauf hingewiesen, dass eine Verlegung des örtlichen Gerichtsstandes erst nach der noch nicht vorgenommenen Eröffnung des Strafverfahrens erfolgen könne, und zwar entweder auf Antrag der Anklagebehörde oder infolge eines erfolgreichen Ablehnungsantrags des Beschwerdeführers „in Bezug auf die ganze Zusammensetzung des Gerichts“. Über einen Verlegungsantrag der Anklagebehörde werde von dem mit der Sache befassten Gericht entschieden, und ein etwaiger Ablehnungsantrag des Beschwerdeführers werde auf dem „vom Gesetz vorgeschriebenen Weg geprüft“. Dementsprechend sei das Ergebnis, eine Verlegung des Gerichtsstandes, anders als das Oberlandesgericht meine, gerade nicht garantiert. 27 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seien Zusicherungen zwar geeignet, Zweifel über die Zulässigkeit einer Auslieferung auszuräumen. Dies gelte aber nicht für Bedingungen, die die Bundesrepublik Deutschland lediglich einseitig in die Bewilligungsnote aufnehme. Zum einen hätten solche Bedingungen nicht dieselbe Verbindlichkeit und Tragfähigkeit. Zum anderen könne eine Bedingung vorliegend ohnehin keine Bindungswirkung für die zur Entscheidung über einen Verlegungsantrag berufene Instanz entfalten. Denn hierbei handele es sich um das Strafgericht in Grosny. Das Strafverfahren müsse zunächst in Grosny eröffnet werden, damit das örtlich zuständige Strafgericht über einen Verlegungsantrag entscheiden könne. 28 Überdies sei eine Zusicherung vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht durch eine Bedingung ersetzbar. Denn der Gerichtshof habe in dem Fall Othman mit Urteil vom 17. Januar 2012 festgelegt, unter welchen Voraussetzungen diplomatische Zusicherungen im Auslieferungsverkehr ausreichend seien. Dazu bedürfe es einer rechtlichen Bindung der lokalen Behörden. Nur wenn eine lokale Behörde eine Zusicherung abgebe, könne geprüft werden, ob deren Einhaltung erwartet werden könne. Bei einer Bedingung übernehme keine russische Stelle die Verantwortung dafür, dass das gewollte Ergebnis erreicht, hier der Gerichtsort verlegt werde. Auch die vom Auswärtigen Amt behaupteten durchweg positiven Erfahrungen mit Russland lägen nicht vor, weil bereits Auslieferungsersuchen – unter anderem wegen der Gefahr politischer Verfolgung durch Russland – abgelehnt worden seien. 29 2. Mit Beschluss vom 14. Mai 2019 hat die 2. Kammer des Zweiten Senats die Übergabe des Beschwerdeführers an die Behörden der Russischen Föderation auf Grundlage einer Folgenabwägung bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, erneut einstweilen untersagt. 30 3. Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hat unter dem 26. Juli 2019 auf im Wege der Amtshilfe gestellte Fragen geantwortet. Die Antworten decken sich mit der Stellungnahme des Bundesamts für Justiz im fachgerichtlichen Verfahren vom 15. Juli 2019. Ergänzend führte das Ministerium aus, die Einhaltung von „Zusicherungen und Annahmen“ werde regelmäßig im Rahmen des Monitorings durch deutsche Auslandsvertretungen überprüft. Dabei erfolgten Monitoring-Besuche „in jedem Auslieferungsfall“ sowohl möglichst zeitnah nach der Auslieferung als auch während einer etwaigen Haftstrafe. Dies werde auch im Falle des Beschwerdeführers geschehen. Zudem würden die verfahrensabschließenden Entscheidungen daraufhin geprüft, ob den im Auslieferungsverfahren „angebrachten Bedingungen“ Rechnung getragen worden sei. In Einzelfällen habe die deutsche Seite der Erwartung Ausdruck verliehen, dass das Gerichtsverfahren außerhalb des nordkaukasischen Föderalbezirks stattfinde. Im Falle des Beschwerdeführers habe die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation „telefonisch zugesichert“, darauf hinzuwirken. Rechtsstaatswidrige Handlungen im Rahmen von Strafverfahren in Tschetschenien seien in der Regel auf Fälle mit politischem Hintergrund beschränkt, etwa in Verfahren gegen Verteidiger von Menschenrechten oder Oppositionelle. Auch bei Verfahren wegen Extremismus, Terrorismus oder Islamismus könnten sie nicht ausgeschlossen werden. Gleiches gelte für Tschetschenen, die nach Auffassung der tschetschenischen Mehrheitsgesellschaft gegen den „traditionellen Sittenkodex“ verstießen, etwa bei „Angehörigen der LGBT-Gemeinde“, oder bei Frauen, die gegen den traditionellen „Ehrenkodex“ verstoßen hätten. Repressalien könnten zudem nicht ausgeschlossen werden bei Tschetschenen, die sich in einer „persönlichen Fehde“ mit dem Oberhaupt der Teilrepublik Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, oder seinem Clan befänden. 31 4. Der Beschwerdeführer replizierte unter dem 5. September 2019 auf die Stellungnahme des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz. Im Wesentlichen trug er vor, es sei weiterhin unklar, wie angesichts der geschilderten Umstände im Ergebnis hinreichend sichergestellt werde könne, dass er nicht nach Tschetschenien ausgeliefert werde. Details zum durch das Auswärtige Amt vorgenommenen Monitoring, etwa zur Regelmäßigkeit von Besuchen und zur Frage, ob diese unangekündigt stattfänden, seien weiterhin nicht bekannt. Soweit deutsche Botschaftsangehörige davon überzeugt gewesen seien, dass die „äußeren Haftbedingungen“ in tschetschenischen Gefängnissen überdurchschnittlich gut seien, stehe dies im krassen Widerspruch zu den Erkenntnissen des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT). Wenn das Ministerium ausführe, dass rechtsstaatswidrige Handlungen in Tschetschenien auf Verfahren mit politischem Hintergrund beschränkt seien, sei dies irreführend. Denn Strafverfahren gegen politische Gegner beträfen üblicherweise konstruierte Vorwürfe aus dem Bereich der Allgemeinkriminalität, seien also nicht als politische Verfahren zu erkennen. So sei es auch im vorliegenden Fall, denn der Beschwerdeführer habe sich im zweiten Tschetschenienkrieg geweigert, sich Kadyrow anzuschließen. Nachdem in den Jahren von 2001 bis 2004 zahlreiche seiner männlichen Verwandten getötet worden seien, sei er geflohen. 32 Durch die Stellungnahme des Ministeriums werde zudem deutlich, dass in drei von 13 Fällen, die mit dem vorliegenden vergleichbar seien, das von der Bundesrepublik Deutschland gewollte Ergebnis eines Strafverfahrens außerhalb von Tschetschenien nicht erreicht worden sei. Dies zeige, dass es keine funktionierende Verwaltungspraxis gebe, die das erforderliche Ergebnis belastbar sicherstelle. Das werde dem Schutz von betroffenen Personen wie dem Beschwerdeführer vor rechtsstaatswidrigen Verfahren, der Gefahr politischer Verfolgung sowie Misshandlung und Folter nicht gerecht. 33 Unter Bezugnahme auf die Stellungnahme vom 5. September 2019 erweiterte der Beschwerdeführer seine Verfassungsbeschwerde um den Beschluss des Oberlandesgerichts vom 29. Juli 2019. Zur Begründung führte er unter anderem aus, dass, wenn der einzige Schutz gegen eine von dem Oberlandesgericht selbst unterstellte Gefahr der politischen Verfolgung durch den Zielstaat abgegebene Zusicherungen seien, diese besonders verlässlich sein müssten. Die Verlässlichkeit sei aber nicht gegeben, wie die vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz beigebrachten Fallzahlen belegten. 34 5. Das Land Brandenburg hat mit Schreiben vom 29. Juli 2019 und vom 10. Oktober 2019 von einer Stellungnahme abgesehen. 35 6. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen. III. 36 Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an. Dies ist zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG angezeigt (vgl. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden. Demnach ist die zulässige Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet (vgl. § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). 37 1. Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet, soweit der Beschwerdeführer geltend macht, dass die angegriffenen Entscheidungen gegen seine Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG verstoßen. 38 a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unterliegen die deutschen Gerichte bei der Beurteilung der Zulässigkeit einer Auslieferung der verfassungsrechtlichen Pflicht, zu prüfen, ob die erbetene Auslieferung die gemäß Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 1 und Art. 20 GG unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze beziehungsweise das unabdingbare Maß an Grundrechtsschutz verletzt (vgl. BVerfGE 59, 280 <282 f.>; 63, 332 <337>; 108, 129 <136>; 140, 317 <355>). Sie sind zudem – insbesondere im Auslieferungsverkehr mit Staaten, die nicht Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind – verpflichtet, zu prüfen, ob die Auslieferung und die ihr zugrundeliegenden Akte den nach Art. 25 GG in der Bundesrepublik Deutschland verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard wahren (vgl. BVerfGE 59, 280 <282 f.>; 63, 332 <337 f.>; 75, 1 <19>; 108, 129 <136>; 113, 154 <162>). Gemäß Art. 25 GG sind bei der Auslegung und Anwendung von Vorschriften des innerstaatlichen Rechts durch Verwaltungsbehörden und Gerichte die allgemeinen Regeln des Völkerrechts zu beachten. Hieraus folgt insbesondere, dass die Behörden und Gerichte grundsätzlich daran gehindert sind, innerstaatliches Recht in einer Weise auszulegen und anzuwenden, welche die allgemeinen Regeln des Völkerrechts verletzt. Sie sind auch verpflichtet, alles zu unterlassen, was einer unter Verstoß gegen allgemeine Regeln des Völkerrechts vorgenommenen Handlung nichtdeutscher Hoheitsträger im Geltungsbereich des Grundgesetzes Wirksamkeit verschafft, und gehindert, an einer gegen die allgemeinen Regeln des Völkerrechts verstoßenden Handlung nichtdeutscher Hoheitsträger bestimmend mitzuwirken (vgl. BVerfGE 75, 1 <18 f.>). 39 Im Rahmen des gerichtlichen Zulässigkeitsverfahrens im Vorgriff auf eine Auslieferung sind die zuständigen Gerichte verpflichtet, den entscheidungserheblichen Sachverhalt aufzuklären und etwaige Auslieferungshindernisse in hinreichender Weise, also in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vollständig, zu prüfen. Dies gilt auch für die Frage, ob der Auszuliefernde Gefahr läuft, im Zielstaat Opfer politischer Verfolgung zu werden (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 13. November 2017 - 2 BvR 1381/17 -, Rn. 26; vgl. zum Begriff der politischen Verfolgung BVerfGE 80, 315 <333>; 94, 49 <103>). Soweit Anhaltspunkte für eine politische Verfolgung im Zielstaat bestehen, sind die zuständigen Stellen in Auslieferungssachen verpflichtet, im Rahmen von § 6 Abs. 2 IRG oder einer entsprechenden auslieferungsvertraglichen Regelung (z.B. Art. 3 Nr. 2 EuAlÜbK) eigenständig zu prüfen, ob dem Betroffenen im Fall seiner Auslieferung politische Verfolgung droht (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 29. Mai 1996 - 2 BvR 66/96 -, Rn. 17, vom 9. April 2015 - 2 BvR 221/15 -, Rn. 12, vom 9. März 2016 - 2 BvR 348/16 -, Rn. 12; und Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 13. November 2017 - 2 BvR 1381/17 -, Rn. 27). Es genügt den den Oberlandesgerichten obliegenden Aufklärungs- und Prüfungspflichten wegen der eingeschränkten Rechtsschutzmöglichkeiten gegen die Bewilligungsentscheidung nicht, im gerichtlichen Auslieferungsverfahren auf die Möglichkeit der Bundesregierung zu verweisen, im (späteren) Bewilligungsverfahren Zusicherungen des ersuchenden Staates einzuholen (vgl. BVerfGK 3, 159 <164 f.>; 13, 557 <560>). 40 Zweck der gerichtlichen Zulässigkeitsprüfung im förmlichen Auslieferungsverfahren ist der präventive Rechtsschutz der betroffenen Person (vgl. BVerfGE 113, 273 <312>). Das gerichtliche Zulässigkeitsverfahren im Allgemeinen und die Prüfung der Gefahr politischer Verfolgung im Zielstaat im Besonderen dienen der Abwehr staatlicher Eingriffe in grundrechtlich geschützte Interessen des Auszuliefernden. Wird eine Auslieferung vollzogen, obwohl die Gefahr besteht, dass der Betroffene im Zielstaat politisch verfolgt wird, so verstößt sie jedenfalls gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG. Auslegung und Anwendung des § 6 Abs. 2 IRG oder entsprechender auslieferungsvertraglicher Regelungen (z.B. Art. 3 Nr. 2 EuAlÜbK) durch die Oberlandesgerichte haben dem Rechnung zu tragen und eine wirksame gerichtliche Kontrolle sicherzustellen. Auch wenn im konkreten Fall aus Art. 16a Abs. 1 GG kein Asylanspruch folgt, muss der Grundgedanke dieser Norm, Schutz vor politischer Verfolgung im Zielstaat zu bieten, Berücksichtigung finden (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 13. November 2017 - 2 BvR 1381/17 -, Rn. 28). 41 Soweit ernstliche Gründe für die Annahme einer politischen Verfolgung im Zielstaat sprechen, hat das Gericht die beantragte Auslieferung demnach grundsätzlich für unzulässig zu erklären. Ob die Voraussetzungen dieses Auslieferungshindernisses vorliegen, muss es eigenständig und unabhängig von etwaigen Entscheidungen im Asylverfahren prüfen. Dies folgt verfassungsrechtlich aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG, den in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG geschützten materiellen Rechtspositionen, die insoweit dem Grundgedanken des Art. 16a Abs. 1 GG entsprechen, sowie einfachrechtlich aus § 6 Abs. 2 IRG beziehungsweise den entsprechenden auslieferungsvertraglichen Vorschriften (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 13. November 2017 - 2 BvR 1381/17 -, Rn. 29). 42 b) aa) Nicht nur bei Überstellungen zwischen Mitgliedstaaten der Europäischen Union, sondern auch im allgemeinen völkerrechtlichen Auslieferungsverkehr gilt der Grundsatz, dass dem ersuchenden Staat im Hinblick auf die Einhaltung der Grundsätze der Rechtshilfe in Strafsachen sowie des Völkerrechts Vertrauen entgegenzubringen ist (vgl. BVerfGE 109, 13 <35 f.>; 109, 38 <61>; 140, 317 <349 Rn. 68>). Auch im allgemeinen Auslieferungsverkehr hat der ersuchende Staat ein erhebliches Interesse an der Aufrechterhaltung und Funktionsfähigkeit der gegenseitigen Rechtshilfe. Von der Begehung von Rechtsverletzungen, die die zukünftige Funktionsfähigkeit des Auslieferungsverkehrs zwangsläufig beeinträchtigen würden, wird ein ersuchender Staat schon deshalb regelmäßig Abstand nehmen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Mai 2017 - 2 BvR 893/17 -, Rn. 28). 43 Dieser Grundsatz kann so lange Geltung beanspruchen, wie er nicht durch entgegenstehende Tatsachen, etwa das Vorliegen ernstlicher Gründe für die Annahme einer politischen Verfolgung im Zielstaat, erschüttert wird (vgl. BVerfGE 109, 13 <35 f.>; 109, 38 <61>). Dies ist der Fall, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass im Fall einer Auslieferung die unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze beziehungsweise das unabdingbare Maß an Grundrechtsschutz oder der verbindliche völkerrechtliche Mindeststandard gemäß Art. 25 GG nicht eingehalten werden. Dafür müssen stichhaltige Gründe gegeben sein, nach denen gerade im konkreten Fall eine beachtliche Wahrscheinlichkeit besteht, dass in dem ersuchenden Staat die völkerrechtlichen Mindeststandards nicht beachtet werden (vgl. BVerfGE 140, 317 <350>; vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Mai 2017 - 2 BvR 893/17 -, Rn. 29). 44 bb) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind vom ersuchenden Staat im Auslieferungsverkehr gegebene völkerrechtlich verbindliche Zusicherungen geeignet, etwaige Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit der Auslieferung auszuräumen, sofern nicht im Einzelfall zu erwarten ist, dass die Zusicherung nicht eingehalten wird (vgl. BVerfGE 63, 215 <224>; 109, 38 <62>; BVerfGK 2, 165 <172 f.>; 3, 159 <165>; 6, 13 <19>; 6, 334 <343>; 13, 128 <136>; 13, 557 <561>; 14, 372 <377 f.>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Mai 2017 - 2 BvR 893/17 -, Rn. 30). Eine Zusicherung entbindet das über die Zulässigkeit einer Auslieferung befindende Gericht allerdings nicht von der Pflicht, eine eigene Gefahrenprognose anzustellen, etwa bezogen auf Anhaltspunkte für die Gefahr politischer Verfolgung im Zielstaat. Dabei muss das Gericht den Vortrag des Beschwerdeführers nachvollziehbar und willkürfrei würdigen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 9. März 2016 - 2 BvR 348/16 -, Rn. 13; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 13. November 2017 - 2 BvR 1381/17 -, Rn. 35). 45 c) Nach diesen Maßstäben kann die Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung keinen Bestand haben. 46 aa) Das Oberlandesgericht selbst geht davon aus, dass der Beschwerdeführer Gefahr läuft, im nordkaukasischen Föderalbezirk der politischen Verfolgung ausgesetzt zu sein. Im Beschluss vom 29. Juli 2019 führte es aus, der Senat halte die Gefahr politischer Verfolgung im Falle des Beschwerdeführers in Tschetschenien für möglich und habe diese im Verfahren unterstellt. Insoweit berücksichtigt es den Umstand, dass dem Beschwerdeführer in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union, hier Polen, subsidiärer Schutz gewährt worden ist und wohl auch gegenwärtig noch gewährt wird. Das Oberlandesgericht geht zutreffender Weise davon aus, dass dieser Umstand ein gewichtiges Indiz dafür darstellt, dass dem Beschwerdeführer im Zielstaat eine Behandlung drohen könnte, die seine Auslieferung unzulässig macht (vgl. BVerfGE 52, 391 <405 f.>, BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 2. Februar 2016 - 2 BvR 2486/15 -, Rn. 21; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 21. März 2018 - 2 BvR 108/18 -, Rn. 18). Die demnach in der angegriffenen Zulässigkeitsentscheidung zugrunde gelegte Gefahr politischer Verfolgung im Zielstaat stellt einfachrechtlich beziehungsweise nach den entsprechenden auslieferungsvertraglichen Vorschriften ein Auslieferungshindernis dar. Einer Auslieferung stehen zudem die in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG geschützten materiellen Rechtspositionen und der Rechtsgedanke des Art. 16a Abs. 1 GG entgegen, Schutz vor politischer Verfolgung im Zielstaat zu bieten. 47 bb) Der durch das Oberlandesgericht unterstellten Gefahr politischer Verfolgung wird auch nicht dadurch hinreichend begegnet, dass in der Bewilligungsnote eine einseitige Annahme formuliert wird, nach der die Auslieferung in dem Verständnis erfolge, dass das Strafverfahren außerhalb des nordkaukasischen Föderalbezirks durchgeführt werde. 48 Dabei bedarf es keiner Entscheidung, ob das Oberlandesgericht für die Widerlegung eines von ihm angenommenen Auslieferungshindernisses überhaupt auf weitergehende, im Bewilligungsverfahren einzuholende Sicherungsmechanismen verweisen durfte, obwohl der Beschwerdeführer in diesem Verfahren nur noch eingeschränkte Rechtsschutzmöglichkeiten hat. Es kann zudem offenbleiben, ob ein einseitiger Vorbehalt in der Verbalnote, mit der dem Zielstaat die Bewilligung der Auslieferung mitgeteilt und der durch Entgegennahme der betroffenen Person durch seine Behörden konkludent angenommen wird, rechtlich gleich einer Zusicherung zu behandeln ist (vgl. BVerfGK 13, 557 <560 f.>). Denn eine solche Gleichbehandlung setzt jedenfalls voraus, dass ein einseitiger Vorbehalt ohne Zweifel in den jeweils geschlossenen völkerrechtlichen Auslieferungsvertrag einbezogen wird und demnach rechtlich in gleicher Weise Verbindlichkeit erlangt wie eine von dem ersuchenden Staat abgegebene rechtsverbindliche Zusicherung (vgl. BVerfGK 13, 557 <561>). 49 Dies war im bereits durchgeführten Bewilligungsverfahren zweifelhaft. Zum einen wurde die Auslieferung mit der Verbalnote vom 12. Oktober 2018, die nur auf die im Verfahren abgegebenen Zusicherungen Russlands verwies und darüber hinaus unbedingt formuliert war, bewilligt. Erst nach der Bewilligung und damit nach dem Umstand, der üblicherweise als Moment des völkerrechtlichen Vertragsschlusses beschrieben wird (vgl. BVerfGE 50, 244 <248 f.>; BVerfGK 13, 557 <561>), teilte das Auswärtige Amt mit Verbalnote vom 17. Oktober 2018 „klarstellend“ mit, dass man „im Übrigen“ davon ausgehe, dass das Gerichtsverfahren außerhalb der Verwaltungseinheit „Nordkaukasischer Föderalbezirk“ durchgeführt werde und deutsche Konsularbeamte den Betroffenen jederzeit besuchen dürften. Zum anderen ist zweifelhaft, ob die gewählte Formulierung hinreichend verdeutlicht, dass die Bundesrepublik Deutschland hiermit die Auslieferung unter eine Bedingung stellte, deren Erfüllung sie als rechtlich verbindliche Verpflichtung des Zielstaates ansah. 50 Auch in einem nach der Zulässigkeitsentscheidung vom 10. April 2019 erneut durchzuführenden Bewilligungsverfahren wird durch eine derartige einseitige Formulierung in der Bewilligungsnote, wie sie das Oberlandesgericht im Zulässigkeitsverfahren angeordnet hat, jedenfalls nicht hinreichend sichergestellt, dass der Beschwerdeführer nicht einem Strafverfahren im nordkaukasischen Föderalbezirk unterzogen wird. Mit einer solchen Annahme formuliert die Bundesrepublik Deutschland ihr Vertrauen in ein konkretes Verhalten des Zielstaats, obwohl die Russische Föderation bereits förmlich und mit Bezug zum vorliegenden Einzelfall bekundet hatte, sie könne das von der deutschen Seite gewünschte Ergebnis einer Verlagerung des örtlichen Gerichtsstandes aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht sicherstellen und deshalb auch keine rechtlich verbindliche Zusicherung abgeben. Denn die Entscheidung hierüber könne nur vom örtlich zuständigen Gericht im Wege einer Entscheidung über einen „in Bezug auf die ganze Zusammensetzung des Gerichts“ gestellten Ablehnungsantrag des Betroffenen beziehungsweise über einen Verlegungsantrag der Anklagebehörde getroffen werden. Vor diesem von der russischen Seite detailliert geschilderten Hintergrund ist nicht ersichtlich, weshalb das Oberlandesgericht davon ausgeht, dass im Falle des Beschwerdeführers die in der deutschen Verbalnote einseitig aufgestellte Erwartung mit „an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ von der russischen Seite erfüllt werden wird. 51 Zudem wird diese Erwartung durch die Handhabung derartiger Fälle durch die Behörden der Russischen Föderation in der Vergangenheit in Zweifel gezogen. Denn allem Anschein nach – wie im weiteren fachgerichtlichen Verfahren durch das Bundesamt für Justiz und im Verfassungsbeschwerdeverfahren durch das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz offengelegt wurde – hat sich die russische Seite zumindest in drei von 13 Fällen nicht an die einseitige Bedingung gebunden gesehen, sondern nach der Auslieferung das Strafverfahren gegen die Betroffenen entgegen der von deutscher Seite formulierten Erwartung, wenn auch in einem Fall auf den Wunsch eines Betroffenen, vor Gerichten im nordkaukasischen Föderalbezirk durchgeführt. Dieser Umstand ist – abhängig von den bisher unklaren Hintergründen der drei Fälle – zumindest geeignet, das Vertrauen in die Einhaltung einseitig formulierter Vorbehalte zu erschüttern. 52 cc) Auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) spricht dagegen, die vom Oberlandesgericht im vorliegenden Fall für erforderlich erachtete einseitig formulierte Erwartung einer rechtlich verbindlichen Zusicherung gleichzustellen. Der EGMR geht davon aus, dass der ersuchte Staat anhand der Umstände des Einzelfalles überprüfen muss, ob eine abgegebene Zusicherung auch tatsächlich belastbar ist und wieviel Gewicht ihr bei der Gesamtbetrachtung zukommt (vgl. EGMR, Othman v. United Kingdom, Urteil vom 17. Januar 2012, Nr. 8139/09, § 187 f.). Der Gerichtshof beurteilt die Belastbarkeit einer Zusicherung unter anderem danach, ob diese konkret oder allgemein und vage formuliert ist, ob eine staatliche Stelle die Zusicherung abgegeben hat, die den Zielstaat rechtlich binden kann, ob erwartet werden kann, dass Regionalregierungen sich an Zusicherungen, die durch Organe der Zentralregierung abgegeben werden, gebunden sehen, ob Zusicherungen in der Vergangenheit beachtet wurden und ob das zugesicherte Verhalten nach dem nationalen Recht des Zielstaats legal oder illegal ist (vgl. EGMR, Othman v. United Kingdom, Urteil vom 17. Januar 2012, Nr. 8139/09, § 189). Diese Grundsätze sind auch bei der verfassungsrechtlichen Bewertung von Zusicherungen heranzuziehen (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 24. Juli 2017 - 2 BvR 1487/17 -, Rn. 48 f.; und vom 18. Dezember 2017 - 2 BvR 2259/17 -, Rn. 19; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 16. Juli 2019 - 2 BvR 1258/19 -, Rn. 8). 53 Im vorliegenden Fall hat sich keine russische Behörde ausdrücklich dazu bekannt, das von der deutschen Seite gewünschte Ergebnis eines Strafverfahrens außerhalb des nordkaukasischen Föderalbezirks verbindlich zu gewährleisten. Vielmehr hat die russische Seite bekundet, dieses Ergebnis angesichts der alleinigen Entscheidungskompetenz des – unabhängigen – örtlich zuständigen Tatgerichts nicht sicherstellen zu können. In der Vergangenheit sind derartige Erwartungen nach den Angaben des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz in einigen Fällen, die relativ gesehen einen nicht zu vernachlässigenden Anteil ausmachen, nicht erfüllt worden. Eine Verlagerung des örtlichen Gerichtsstandes ohne Entscheidung des Tatgerichts oder eine exekutive Einflussnahme auf eine solche Entscheidung verstieße zudem gegen Gewährleistungen der Verfassung der Russischen Föderation. Nach den angeführten Kriterien bestehen demnach gewichtige Bedenken gegen die Belastbarkeit einer einseitig formulierten Annahme in der Bewilligungsnote in Fällen einer Gefahr politischer Verfolgung, selbst wenn die für Zusicherungen geschaffenen Kriterien auf einseitige Bedingungen übertragbar wären. 54 2. Da die Verfassungsbeschwerde bereits wegen der gerügten Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG Erfolg hat, bedarf es keiner Entscheidung, ob die angegriffene Entscheidung auch andere Grundrechte oder grundrechtsgleiche Rechte des Beschwerdeführers verletzt. IV. 55 Die angegriffene Entscheidung ist gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben; die Sache ist zur erneuten Entscheidung an das Brandenburgische Oberlandesgerichts zurückzuverweisen. Das Oberlandesgericht wird dabei auch zu prüfen haben, ob – angesichts der Tatsache, dass im vorliegenden Fall bislang nicht hinreichend sichergestellt ist, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Auslieferung keinem Strafverfahren in Tschetschenien unterzogen werden wird – im Falle eines solchen Verfahrens im nordkaukasischen Föderalbezirk die unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze beziehungsweise das unabdingbare Maß an Grundrechtsschutz und der völkerrechtliche Mindeststandard eingehalten werden. Schließlich wird sich dem Gericht die Frage stellen, ob die bislang unterstellte Gefahr der politischen Verfolgung im Zielstaat der Auslieferung des Beschwerdeführers entgegensteht. Denn das Oberlandesgericht ist des Erfordernisses, die Voraussetzungen des Auslieferungshindernisses der politischen Verfolgung unter Aufklärung des Sachverhalts eigenständig und unter Einbeziehung der gewichtigen Indizwirkung eines etwaigen in Polen gewährten subsidiären Schutzstatus zu prüfen, nicht dadurch enthoben, dass die Russische Föderation zugesichert hat, der Beschwerdeführer werde nicht politisch verfolgt. 56 Die Entscheidung über die Auslagenerstattung ergibt sich aus § 34a Abs. 2 BVerfGG. 57 Der Antrag des Beschwerdeführers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung seiner Bevollmächtigten für das Verfassungsbeschwerdeverfahren erledigt sich dadurch, dass das Land Brandenburg zur Kostenerstattung verpflichtet wird (vgl. BVerfGE 105, 239 <252>). Huber Kessal-Wulf König
bundesverfassungsgericht
58-2019
24. September 2019
Eilantrag auf Verhinderung des Inkrafttretens von Gesetzen erfolglos Pressemitteilung Nr. 58/2019 vom 24. September 2019 Beschluss vom 17. September 20192 BvQ 59/19 Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat der Zweite Senat einen Antrag der AfD-Bundestagsfraktion auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt. Der Antrag war darauf gerichtet, dem Bundespräsidenten bis auf Weiteres zu untersagen, drei durch den Bundestag beschlossene Gesetze gegenzuzeichnen, auszufertigen und im Bundesgesetzblatt zu verkünden. Bei der Abstimmung über die entsprechenden Anträge gegen 1.27 Uhr morgens hatte die Antragstellerin die fehlende Beschlussfähigkeit des Bundestages gerügt. Die Vizepräsidentin des Bundestages hatte diese Rüge für den Sitzungsvorstand zurückgewiesen. Die Antragstellerin ist der Auffassung, dass die Beschlussunfähigkeit objektiv festgestanden habe und daher nicht durch eine einmütige Bejahung seitens des Sitzungsvorstands habe überwunden werden können. Die durch den Senat vorzunehmende Folgenabwägung führt indes zu dem Ergebnis, dass eine einstweilige Anordnung nicht zu erlassen war. Zur Begründung hat der Senat insbesondere angeführt, dass der Antragstellerin kein schwerer Nachteil drohte, falls die einstweilige Anordnung nicht erginge, ein späteres Organstreitverfahren der Antragstellerin hingegen Erfolg hätte. Dass verfassungsgerichtlicher Rechtsschutz grundsätzlich nachgelagerter Rechtsschutz ist, trägt der ausdrücklichen Kompetenzverteilung des Grundgesetzes Rechnung, wonach das Bundesverfassungsgericht die Kompetenz des Bundespräsidenten zur Prüfung eines Gesetzes zu respektieren hat. Sachverhalt: Die Feststellung der Beschlussfähigkeit des Deutschen Bundestages ist in den Vorschriften der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages geregelt. Danach ist der Bundestag beschlussfähig, wenn mehr als die Hälfte seiner Mitglieder im Sitzungssaal anwesend ist. Wird vor Beginn einer Abstimmung die Beschlussfähigkeit von einer Fraktion oder von anwesenden fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages bezweifelt und auch vom Sitzungsvorstand nicht einmütig bejaht, so sind die Stimmen zu zählen. Die 107. Sitzung des 19. Deutschen Bundestages dauerte vom 27. Juni bis in die frühen Morgenstunden des 28. Juni 2019. Als Tagesordnungspunkte 22a und 22b rief die Vizepräsidentin des Bundestages zwei Gesetzentwürfe zur Beratung auf. Bevor die Abgeordneten mit den Abstimmungen über die Gesetzentwürfe begannen, bezweifelte am 28. Juni 2019 gegen 1.27 Uhr ein Abgeordneter der AfD-Fraktion die Beschlussfähigkeit der Versammlung, woraufhin die Vizepräsidentin für den Sitzungsvorstand erwiderte, dass nach dessen Meinung die Beschlussfähigkeit gegeben sei. Schließlich wurden zunächst die beiden Gesetzentwürfe sowie später noch ein dritter Entwurf zur Abstimmung gestellt. Alle erhielten die Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Noch im Laufe des 28. Juni 2019 befasste sich der Ältestenrat auf Antrag der Antragstellerin mit der Entscheidung des Sitzungsvorstands, keine Zählung durchzuführen. Der Präsident des Deutschen Bundestages erklärte daraufhin in einer Pressemitteilung, das Präsidium des Bundestages sei einhellig der Auffassung, dass der Sitzungsvorstand die Vorschriften der Geschäftsordnung über die Feststellung der Beschlussfähigkeit korrekt angewendet habe. Wesentliche Erwägungen des Senats: 1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall – auch schon vor Anhängigkeit eines Verfahrens zur Hauptsache – einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung im Organstreitverfahren bedeutet einen erheblichen Eingriff des Bundesverfassungsgerichts in Autonomie und originäre Zuständigkeit anderer Verfassungsorgane. Bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG ist daher grundsätzlich ein strenger Maßstab anzulegen. Der Erlass kann allein der vorläufigen Sicherung des strittigen organschaftlichen Rechts der Antragsteller dienen, damit es nicht im Zeitraum bis zur Entscheidung der Hauptsache durch Schaffung vollendeter Tatsachen überspielt wird. Bei der Entscheidung über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die in der Hauptsache begehrte Feststellung oder der in der Hauptsache gestellte Antrag erwiese sich als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen abwägen, die eintreten würden, wenn einerseits eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Antrag in der Hauptsache aber Erfolg hätte, und andererseits die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, dem Antrag in der Hauptsache aber der Erfolg zu versagen wäre. Die nach diesen Maßstäben im Rahmen der Entscheidung nach § 32 Abs. 1 BVerfGG vorzunehmende Folgenabwägung des Bundesverfassungsgerichts führt zu dem Ergebnis, dass eine einstweilige Anordnung nicht zu erlassen ist. 2. Zunächst kann dahinstehen, dass sich aus der bisherigen Begründung des Antrags schon nicht in einer den Anforderungen des § 23 Abs. 1 BVerfGG genügenden Weise ergibt, welche organschaftliche Rechtsposition die Antragstellerin in einem etwaigen Organstreitverfahren gegen welchen Antragsgegner geltend zu machen gedenkt. 3. Erginge die einstweilige Anordnung nicht und hätte ein Organstreitverfahren später Erfolg, drohte der Antragstellerin kein schwerer Nachteil. Soweit die Antragstellerin für diesen Fall den Eintritt einer Art „verfassungsrechtlichen Notstands“ befürchtet, überzeugt dies nicht. Was sie damit in der Sache rügt, ist das Auseinanderfallen der möglichen Rechtsfolgen von Organstreitverfahren einerseits und Normenkontrollverfahren andererseits. Nach § 67 BVerfGG stellt das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung über einen Organstreit nur fest, ob die beanstandete Maßnahme gegen eine Bestimmung des Grundgesetzes verstößt; Rechtsfolge der abstrakten Normenkontrolle kann hingegen nach § 78 BVerfGG die Nichtigkeitserklärung eines Gesetzes durch das Bundesverfassungsgericht sein. Eine Rechtsschutzlücke für mögliche Antragsteller des Organstreits folgt hieraus jedoch nicht, sondern dies ist Ausdruck der verfassungsrechtlichen Grundentscheidung in Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 und 2 GG, dem objektiven Normenbeanstandungsverfahren mit dem Organstreit ein kontradiktorisches Streitverfahren ausschließlich zur Klärung eines bestimmten Verfassungsrechtsverhältnisses zur Seite zu stellen. Für eine sich von diesem gesetzlich gezogenen Rahmen lösende Ausdehnung der Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts ist kein Raum. Unabhängig davon wäre es kein schwerer Nachteil für die Antragstellerin, dass im Falle eines späteren Erfolgs des Organstreits in der Hauptsache zunächst formell verfassungswidrige Gesetze in Kraft blieben. Denn das Grundgesetz kennt grundsätzlich keine präventive Normenkontrolle, die einen solchen Zustand verhindern würde. Dass verfassungsgerichtlicher Rechtsschutz grundsätzlich nachgelagerter, kassatorischer Rechtsschutz ist, ist nicht nur aus grundlegenden Erwägungen demokratischer Gewaltenteilung gerechtfertigt, sondern trägt vor allem der ausdrücklichen Kompetenzverteilung des Grundgesetzes Rechnung, wonach das Bundesverfassungsgericht die dem Bundespräsidenten vor der Ausfertigung obliegende Kompetenz zur Prüfung eines Gesetzes zu respektieren hat. 4. Das Argument der Antragstellerin, nur durch den Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung könnten die fraglichen Gesetze in einem ordnungsgemäßen Verfahren durch einen beschlussfähigen Bundestag abermals verabschiedet werden, vermag ebenfalls nicht zu überzeugen. Der Bundestag kann zu jedem Zeitpunkt erneut über die seitens der Antragstellerin bemängelten Gesetze abstimmen, und zwar unabhängig sowohl von einem Erlass der einstweiligen Anordnung als auch von einer Feststellung der Verletzung organschaftlicher Rechte der Antragstellerin in einem späteren Organstreitverfahren.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT - 2 BvQ 59/19 - IM NAMEN DES VOLKES In dem Verfahren über den Antrag, im Wege der einstweiligen Anordnung dem Bundespräsidenten vorbehaltlich einer endgültigen Klärung der verfassungsrechtlichen Rechtslage durch das Bundesverfassungsgericht zu untersagen, 1. das Zweite Gesetz zur Anpassung des Datenschutzrechts an die Verordnung (EU) 2016/679 und zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/680 (Zweites Datenschutz-Anpassungs- und Umsetzungsgesetz EU - 2. DSAnpUG-EU), 2. das Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/680 im Strafverfahren sowie zur Anpassung datenschutzrechtlicher Bestimmungen an die Verordnung (EU) 2016/679 sowie 3. das Gesetz zur Änderung des Gesetzes über Energiedienstleistungen und andere Energieeffizienzmaßnahmen gegenzuzeichnen, auszufertigen und im Bundesgesetzblatt zu verkünden, Antragstellerin:  AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag, vertreten durch die Fraktionsvorsitzenden Dr. Alexander Gauland und Dr. Alice Weidel, Platz der Republik 1, 11011 Berlin, - Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Privatdozent Dr. habil. Ulrich Vosgerau, Berlin - Antragsgegner:  Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, Herr Frank-Walter Steinmeier, Spreeweg 1, 10557 Berlin, hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat - unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter Präsident Voßkuhle, Huber, Hermanns, Müller, Kessal-Wulf, König, Maidowski, Langenfeld am 17. September 2019 beschlossen: Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt. G r ü n d e : A. 1 Die Antragstellerin begehrt mit ihrem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, dem Antragsgegner die Ausfertigung mehrerer Gesetze zu untersagen. Sie sieht sich in ihren organschaftlichen Mitwirkungs- und Beteiligungsrechten dadurch verletzt, dass der Bundestag trotz ihrer Rüge fehlender Beschlussfähigkeit diese Gesetze beschlossen hat. I. 2 1. Die Feststellung der Beschlussfähigkeit des Deutschen Bundestages ist in den Vorschriften der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Juli 1980 (BGBl I S. 1237), zuletzt geändert laut Bekanntmachung vom 1. März 2019 (BGBl I S. 197), geregelt: § 45 Geschäftsordnung (1) Der Bundestag ist beschlussfähig, wenn mehr als die Hälfte seiner Mitglieder im Sitzungssaal anwesend ist. (2) 1 Wird vor Beginn einer Abstimmung die Beschlussfähigkeit von einer Fraktion oder von anwesenden fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages bezweifelt und auch vom Sitzungsvorstand nicht einmütig bejaht oder wird die Beschlussfähigkeit vom Sitzungsvorstand im Einvernehmen mit den Fraktionen bezweifelt, so ist in Verbindung mit der Abstimmung die Beschlussfähigkeit durch Zählung der Stimmen nach § 51, im Laufe einer Kernzeit-Debatte im Verfahren nach § 52 festzustellen. 2 Der Präsident kann die Abstimmung auf kurze Zeit aussetzen. (3) 1 Nach Feststellung der Beschlussunfähigkeit hebt der Präsident die Sitzung sofort auf. 2 § 20 Abs. 5 findet Anwendung. 3 Ein Verlangen auf namentliche Abstimmung bleibt dabei in Kraft. 4 Stimmenthaltungen und ungültige Stimmen zählen bei der Feststellung der Beschlussfähigkeit mit. (4) 1 Unabhängig von dem Verfahren nach den Absätzen 1 bis 3 kann der Präsident bei Kernzeit-Debatten im Einvernehmen mit den Fraktionen die Sitzung unterbrechen, wenn der Sitzungsvorstand bezweifelt, dass 25 vom Hundert der Mitglieder des Bundestages anwesend sind. 2 Die Feststellung der Anwesenheit erfolgt im Verfahren nach § 52. § 51 Geschäftsordnung (1) 1 Ist der Sitzungsvorstand über das Ergebnis der Abstimmung nicht einig, so wird die Gegenprobe gemacht. 2 Bleibt er auch nach ihr uneinig, so werden die Stimmen gezählt. 3 Auf Anordnung des Sitzungsvorstandes erfolgt die Zählung gemäß Absatz 2. (2) 1 Nachdem die Mitglieder des Bundestages auf Aufforderung des Präsidenten den Sitzungssaal verlassen haben, werden die Türen bis auf drei Abstimmungstüren geschlossen. 2 An jeder dieser Türen stellen sich zwei Schriftführer auf. 3 Auf ein Zeichen des Präsidenten betreten die Mitglieder des Bundestages durch die mit „Ja“, „Nein“ oder „Enthaltung“ bezeichnete Tür wieder den Sitzungssaal und werden von den Schriftführern laut gezählt. 4 Zur Beendigung der Zählung gibt der Präsident ein Zeichen. 5 Mitglieder des Bundestages, die später eintreten, werden nicht mitgezählt. 6 Der Präsident und die diensttuenden Schriftführer geben ihre Stimme öffentlich ab. 7 Der Präsident verkündet das Ergebnis. 3 2. Die 107. Sitzung des 19. Deutschen Bundestages dauerte vom 27. Juni bis in die frühen Morgenstunden des 28. Juni 2019. Als Tagesordnungspunkte 22a und 22b rief die Vizepräsidentin des Bundestages zwei Gesetzentwürfe (Antragsgegenstände zu 1 und 2) zur Beratung auf. Bevor die Abgeordneten mit den Abstimmungen über die Gesetzentwürfe begannen, meldete sich am 28. Juni 2019 gegen 1:27 Uhr der Abgeordnete Jürgen Braun (AfD) zur Geschäftsordnung mit den Worten: „Frau Präsidentin, die AfD-Fraktion bezweifelt die Beschlussfähigkeit der Versammlung.“ (BT-Plenarprotokoll 19/107, S. 13294 [D], zum Nachfolgenden vgl. ebenda, S. 13294 ff.) 4 Gemäß § 45 Abs. 2 der Geschäftsordnung bitte er um Überprüfung. Die Vizepräsidentin erwiderte für den Sitzungsvorstand: „Also, wir haben hier oben miteinander diskutiert. Wir sind der Meinung, dass die Beschlussfähigkeit gegeben ist.“ (BT-Plenarprotokoll 19/107, S. 13295 [A]) 5 Nach weiteren Protesten und Zurufen seitens einiger Abgeordneter der Antragstellerin und anderer Fraktionen wurden zunächst die beiden Gesetzentwürfe zur Abstimmung gestellt, später dann unter Zusatzpunkt 19 auch der Antragsgegenstand zu 3 (vgl. BT-Plenarprotokoll 19/107, S. 13300 f.). Sämtliche Gesetzentwürfe erhielten die Mehrheit der abgegebenen Stimmen, die Mitglieder der Antragstellerin hatten jeweils dagegen gestimmt. 6 3. Noch im Laufe des 28. Juni 2019 befasste sich der Ältestenrat auf Antrag der Antragstellerin mit der Entscheidung des Sitzungsvorstands in der 107. Sitzung des Bundestages, keinen sogenannten „Hammelsprung“ durchzuführen. Der Präsident des Deutschen Bundestages erklärte in einer Pressemitteilung vom selben Tag, das Präsidium des Bundestages sei einhellig der Auffassung, dass der Sitzungsvorstand die Vorschriften der Geschäftsordnung über die Feststellung der Beschlussfähigkeit korrekt angewendet habe. II. 7 Mit ihrem am 7. Juli 2019 beim Bundesverfassungsgericht eingegangenen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung begehrt die Antragstellerin, dem Antragsgegner bis zu einer endgültigen Klärung der Rechtslage in einem noch anzustrengenden Organstreitverfahren zu untersagen, die im Antrag näher benannten drei Gesetze gegenzuzeichnen, auszufertigen und im Bundesgesetzblatt zu verkünden. Zur Begründung führt die Antragstellerin im Wesentlichen aus: 8 1. Die Vorgänge in der Nacht vom 27. Juni auf den 28. Juni 2019 verletzten nicht nur die Geschäftsordnung des Bundestages, sondern vor allem auch den Grundsatz der parlamentarischen Demokratie und speziell die Mitwirkungsrechte des gesamten Bundestages bei der Gesetzgebung. 9 Zum Zeitpunkt der anstehenden Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 22 gegen 1:27 Uhr morgens hätten sich nicht mehr als 90 Abgeordnete im Plenum des Bundestages befunden, was sich etwa aus den Fernsehaufnahmen ohne Weiteres ersehen lasse. Die Antragstellerin habe sodann die fehlende Beschlussfähigkeit gerügt. Die Vizepräsidentin habe diese Rüge ohne ersichtliche Diskussion im Sitzungsvorstand zurückgewiesen und sich damit, wie auch der Bundestagspräsident in der Sitzung des Ältestenrats, erkennbar auf den Rechtsstandpunkt gestellt, dass § 45 Abs. 2 Satz 1 der Geschäftsordnung nicht nur dazu ermächtige, die Beschlussfähigkeit festzustellen, sondern vielmehr „kontrafaktisch auszurufen“. Eine objektiv feststehende und ordnungsgemäß, das heißt nicht bloß missbräuchlich gerügte Beschlussunfähigkeit des Plenums könne nicht durch eine einmütige Bejahung seitens des Sitzungsvorstands überwunden werden. 10 2. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG sei zulässig. 11 Zunächst sei ein Organstreit in der Hauptsache grundsätzlich zulässig, denn eine Verletzung verfassungsmäßiger Rechte des Bundestages infolge des offensichtlich willkürlichen Vorgehens der Sitzungsleitung sei keineswegs ausgeschlossen. Gegen die Zulässigkeit des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung könne ferner nicht eingewendet werden, dass im noch anzustrengenden Organstreitverfahren nicht der Bundespräsident, sondern vor allem der Bundestag selbst als Antragsgegner in Betracht komme. Auch werde es in der späteren Hauptsache nur um die Feststellung der Verletzung organschaftlicher Rechte gehen und nicht wie hier um eine vorläufige Unterlassung. Jedoch könnten die verfassungsmäßigen Rechte des Bundestages anders nicht effektiv geschützt werden. Allein aufgrund des üblichen Zeitablaufs nach Verabschiedung von Gesetzen sei hier Eile geboten. 12 3. Der Antrag sei auch begründet. Selbst unter Anlegung strenger Maßstäbe sprächen im Rahmen einer Folgenabwägung die besseren Gründe für den Erlass der einstweiligen Anordnung. 13 Für den Fall, dass dem Eilantrag stattgegeben werde, der Hauptsacheantrag indes ohne Erfolg bliebe, entstehe kein nennenswerter Schaden. Die betroffenen Gesetze träten lediglich einige Monate später in Kraft, was durch die Gewissheit ihrer formellen Verfassungskonformität kompensiert werde. Hingegen sei das rasche Inkrafttreten der Gesetze vergleichsweise ohne Wert, denn sie seien mit dem Vorwurf der Verfassungswidrigkeit bemakelt. Für Rechtsfrieden könnten sie so nicht sorgen. 14 Sollte hingegen der Eilantrag abgelehnt werden, der Organstreit in der Hauptsache aber erfolgreich sein, entstehe eine Art „verfassungsrechtlicher Notstand“. Denn das Bundesverfassungsgericht könne im Organstreitverfahren nur die Verletzung von Organrechten feststellen, nicht aber den dergestalt verfassungswidrig zustandegekommenen Rechtsakt für nichtig erklären. Es wären dann formell verfassungswidrige, aber weiterhin fortgeltende Gesetze in der Welt. Nur durch den Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung könnten die Gesetze in einem ordnungsgemäßen Verfahren durch einen beschlussfähigen Bundestag abermals verabschiedet werden. Daher dürften sie jetzt jedenfalls noch nicht ausgefertigt werden. B. 15 Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat keinen Erfolg. I. 16 Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall – auch schon vor Anhängigkeit eines Verfahrens zur Hauptsache – einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung im Organstreitverfahren bedeutet einen erheblichen Eingriff des Bundesverfassungsgerichts in Autonomie und originäre Zuständigkeit anderer Verfassungsorgane. Bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG ist daher grundsätzlich ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 55, 1 <3>; 104, 23 <27>; 108, 34 <41>; 118, 111 <122>; 132, 195 <232 Rn. 86>; 140, 211 <219 Rn. 13>; 140, 225 <226 f. Rn. 7>). Der Erlass kann allein der vorläufigen Sicherung des strittigen organschaftlichen Rechts der Antragsteller dienen, damit es nicht im Zeitraum bis zur Entscheidung der Hauptsache durch Schaffung vollendeter Tatsachen überspielt wird (vgl. BVerfGE 89, 38 <44>; 108, 34 <41>; 118, 111 <122>). Bei der Entscheidung über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die in der Hauptsache begehrte Feststellung oder der in der Hauptsache gestellte Antrag erwiese sich als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 89, 38 <43 f.>; 103, 41 <42>; 118, 111 <122>; 140, 225 <226 Rn. 7>; stRspr). Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen abwägen, die eintreten würden, wenn einerseits eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Antrag in der Hauptsache aber Erfolg hätte, und andererseits die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, dem Antrag in der Hauptsache aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 105, 365 <371>; 129, 284 <298>; 132, 195 <232 f. Rn. 87>; 140, 225 <226 f. Rn. 7>; stRspr). II. 17 Die nach diesen Maßstäben im Rahmen der Entscheidung nach § 32 Abs. 1 BVerfGG vorzunehmende Folgenabwägung des Bundesverfassungsgerichts führt zu dem Ergebnis, dass die gegen den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechenden Gründe überwiegen. 18 1. Dabei kann zunächst dahinstehen, dass sich aus der bisherigen Begründung des Antrags schon nicht in einer den Anforderungen des § 23 Abs. 1 BVerfGG genügenden Weise ergibt, welche organschaftliche Rechtsposition die Antragstellerin in einem etwaigen Organstreitverfahren gegen welchen Antragsgegner geltend zu machen gedenkt (vgl. BVerfGE 24, 252 <258>; 123, 267 <339>). Die Antragsbegründung beruft sich hierbei pauschal auf organschaftliche Rechte des Bundestages gerade gegenüber dem Bundestag selbst, freilich ohne diese näher zu spezifizieren. 19 2. Erginge die einstweilige Anordnung nicht und hätte ein Organstreitverfahren später Erfolg, drohte der Antragstellerin kein schwerer Nachteil. 20 Soweit die Antragstellerin für diesen Fall den Eintritt einer Art „verfassungsrechtlichen Notstands“ befürchtet, überzeugt dies nicht. Was sie damit in der Sache rügt, ist das Auseinanderfallen der möglichen Rechtsfolgen von Organstreitverfahren einerseits und Normenkontrollverfahren andererseits. Nach § 67 BVerfGG stellt das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung über einen Organstreit nur fest, ob die beanstandete Maßnahme gegen eine Bestimmung des Grundgesetzes verstößt; Rechtsfolge der abstrakten Normenkontrolle kann hingegen nach § 78 BVerfGG die Nichtigkeitserklärung eines Gesetzes durch das Bundesverfassungsgericht sein. Eine Rechtsschutzlücke für mögliche Antragsteller des Organstreits folgt hieraus jedoch nicht, sondern dies ist Ausdruck der verfassungsrechtlichen Grundentscheidung in Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 und 2 GG, dem objektiven Normenbeanstandungsverfahren mit dem Organstreit ein kontradiktorisches Streitverfahren ausschließlich zur Klärung eines bestimmten Verfassungsrechtsverhältnisses zur Seite zu stellen. Für eine sich von diesem gesetzlich gezogenen Rahmen lösende Ausdehnung der Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts ist kein Raum (vgl. schon BVerfGE 1, 396 <409>; 2, 341 <346>; 22, 293 <298>; 63, 73 <76>). 21 Unabhängig davon wäre es kein schwerer Nachteil für die Antragstellerin, dass im Falle eines späteren Erfolgs des Organstreits in der Hauptsache zunächst formell verfassungswidrige Gesetze in Kraft blieben. Denn das Grundgesetz kennt grundsätzlich keine präventive Normenkontrolle, die einen solchen Zustand verhindern würde (vgl. BVerfGE 1, 396 <413>). Dass verfassungsgerichtlicher Rechtsschutz grundsätzlich nachgelagerter, kassatorischer Rechtsschutz ist (vgl. nur BVerfGE 131, 47 <52 f.>), ist nicht nur aus grundlegenden Erwägungen demokratischer Gewaltenteilung gerechtfertigt, sondern trägt vor allem der ausdrücklichen Kompetenzverteilung des Grundgesetzes Rechnung, wonach das Bundesverfassungsgericht die dem Bundespräsidenten vor der Ausfertigung (Art. 82 Abs. 1 Satz 1 GG) obliegende Kompetenz zur Prüfung eines Gesetzes zu respektieren hat (vgl. BVerfGE 131, 47 <53>). Soweit für Zustimmungsgesetze zu völkerrechtlichen Verträgen hiervon eine Ausnahme gilt, um eine sonst nur schwer revidierbare völkerrechtliche Bindung zu verhindern (vgl. BVerfGE 1, 396 <413>; 2, 143 <169>; 35, 193 <195>; 36, 1 <15>), ist eine solche Situation hier nicht gegeben. 22 3. Das Argument der Antragstellerin, nur durch den Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung könnten die fraglichen Gesetze in einem ordnungsgemäßen Verfahren durch einen beschlussfähigen Bundestag abermals verabschiedet werden, vermag ebenfalls nicht zu überzeugen. Der Bundestag kann zu jedem Zeitpunkt erneut über die seitens der Antragstellerin bemängelten Gesetze abstimmen, und zwar unabhängig sowohl von einem Erlass der einstweiligen Anordnung als auch von einer Feststellung der Verletzung organschaftlicher Rechte der Antragstellerin in einem späteren Organstreitverfahren. Voßkuhle Huber Hermanns Müller Kessal-Wulf König Maidowski Langenfeld
bundesverfassungsgericht
030-2021
27. April 2021
Anträge auf Aussetzung der Regelungen zu Unterstützungsunterschriften oder Absenkung der Quoren bei der Bundestagswahl unzulässig Überprüfungspflicht des Gesetzgebers Pressemitteilung Nr. 030/2021 vom 27. April 2021 Beschluss vom 13. April 20212 BvE 1/21, 2 BvE 3/21 Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat - Anträge der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands und der Bayernpartei e. V. gegen den Deutschen Bundestag auf Feststellung, dass dieser die Rechte der Antragstellerinnen verletzt oder unmittelbar gefährdet hat, indem er es unterließ, die Vorschriften des Bundeswahlgesetzes zur Vorlage von Unterstützungsunterschriften wegen der durch die COVID-19-Pandemie geänderten tatsächlichen Umstände auszusetzen oder durch Absenkung der Quoren anzupassen, mangels ausreichender Begründung verworfen. Die Antragstellerinnen haben jeweils die Möglichkeit einer Verletzung ihres Rechts auf Chancengleichheit durch das Unterlassen einer Aussetzung der Anwendbarkeit von §§ 20 Abs. 2 Satz 2, 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG oder einer Absenkung der Zahl der nach diesen Vorschriften für die Zulassung eines Kreiswahlvorschlags oder einer Landesliste beizubringenden Unterstützungsunterschriften bei der Bundestagswahl 2021 durch den Antragsgegner nicht hinreichend substantiiert dargelegt. In seiner Begründung hat der Senat darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber unter den tatsächlichen Bedingungen der Covid-19-Pandemie zur Überprüfung der geltenden Unterschriftenquoren verpflichtet ist. Sachverhalt: Die Antragstellerinnen sind politische Parteien, die derzeit weder in einem Landtag noch im Deutschen Bundestag vertreten sind. Sie wenden sich im Wege des Organstreitverfahrens dagegen, dass der Deutsche Bundestag es bislang unterlassen habe, wegen der geänderten Rahmenbedingungen politischer Kommunikation infolge der COVID-19-Pandemie die gesetzlichen Regelungen der Unterstützungsunterschriften im Hinblick auf die Bundestagswahl 2021 auszusetzen oder zu ändern. Parteien, die nicht im Bundestag oder in einem Landtag seit deren letzter Wahl ununterbrochen mit mindestens fünf Abgeordneten vertreten waren, können gemäß § 18 Abs. 2 BWahlG nur dann an der Bundestagswahl teilnehmen, wenn der Bundeswahlausschuss ihre Parteieigenschaft festgestellt hat. Fällt eine Partei in den Anwendungsbereich dieser Norm, benötigt sie zudem Unterstützungsunterschriften für Kreiswahlvorschläge sowie für die Aufstellung von Landeslisten. Kreiswahlvorschläge politischer Parteien benötigen die Unterstützung von 200 Wahlberechtigten des Wahlkreises, die den Kreiswahlvorschlag persönlich und handschriftlich unterzeichnen müssen (§ 20 Abs. 2 Satz 2 BWahlG). Landeslisten politischer Parteien sind von 1 vom Tausend der Wahlberechtigten des Landes bei der letzten Bundestagswahl, höchstens jedoch von 2.000 Wahlberechtigten, persönlich und handschriftlich zu unterzeichnen (§ 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG). Wesentliche Erwägungen des Senats: Die Anträge sind unzulässig. Die Antragstellerinnen sind nicht antragsbefugt, da sie die Möglichkeit einer Verletzung ihres Rechts auf Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG nicht in einer den Begründungsanforderungen von § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG genügenden Weise dargelegt haben. 1. Nach § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG sind Anträge, die ein Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht einleiten, zu begründen; die erforderlichen Beweismittel sind anzugeben. Wird im Organstreitverfahren eine Verletzung organschaftlicher Rechte durch gesetzgeberisches Unterlassen gerügt, hat der Antragsteller die dafür geltenden besonderen Voraussetzungen substantiiert darzulegen. Dabei ist davon auszugehen, dass grundsätzlich die Befugnis, nicht aber die Verpflichtung besteht, Gesetze zu erlassen beziehungsweise zu ändern. Dies schließt indes nicht aus, dass ausnahmsweise Gesetzgebungspflichten bestehen, die sich aus einzelnen Vorschriften des Grundgesetzes sowie aus Vorgaben des Unionsrechts ergeben können. Soweit dem Grunde nach eine Handlungspflicht des Gesetzgebers besteht, ist ihm bei der Wahrnehmung dieser Pflicht in der Regel ein weiter Gestaltungsspielraum eröffnet. Wird der Erlass einer konkreten Regelung eingefordert, ist daher substantiiert zu begründen, warum der dem Gesetzgeber grundsätzlich zukommende Gestaltungsspielraum auf den Erlass der eingeforderten Regelung verengt ist. 2. Nach diesen Maßstäben haben die Antragstellerinnen die Möglichkeit einer Verletzung ihres Rechts auf Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG nicht hinreichend substantiiert begründet. a) Sie legen zwar hinreichend dar, dass das Erfordernis von Unterstützungsunterschriften gemäß § 20 Abs. 2 Satz 2, § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG einen Eingriff in ihr Recht auf Chancengleichheit beinhaltet. b) Auch weisen sie zutreffend darauf hin, dass das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung wahlrechtliche Unterschriftenquoren für sachlich gerechtfertigt erachtet hat, wenn und soweit sie dazu dienen, den Wahlakt auf ernsthafte Wahlvorschläge zu beschränken und so der Gefahr der Stimmenzersplitterung vorzubeugen. Die Beschränkung des Wahlaktes auf ernsthafte Wahlvorschläge dient der Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes und soll die Wahlberechtigten davor bewahren, ihre Stimmen für aussichtslose Wahlvorschläge abzugeben. Dies rechtfertigt es, anzuordnen, dass parlamentarisch nicht vertretene Parteien den Nachweis der Ernsthaftigkeit der Wahlteilnahme durch die Vorlage einer bestimmten Zahl an Unterstützungsunterschriften zu führen haben. c) Die Antragstellerinnen haben hinreichend erläutert, dass die pandemiebedingten, auf nicht absehbare Zeit fortbestehenden Kontaktverbote und -beschränkungen eine Veränderung der tatsächlichen Rahmenbedingungen für das Sammeln der erforderlichen Unterstützungsunterschriften darstellen. Es ist offenkundig, dass die Beibringung der Unterstützungsunterschriften unter erheblich erschwerten Bedingungen stattfinden muss, da die herkömmliche Art des Sammelns von Unterschriften im öffentlichen Raum (direkte Ansprache, Infostände, Versammlungen) nur deutlich weniger effizient durchgeführt werden kann. d) Soweit die Antragstellerinnen aus der Veränderung der tatsächlichen Rahmenbedingungen für die Beibringung von Unterstützungsunterschriften eine Verpflichtung ableiten, die Anwendbarkeit von § 20 Abs. 2 Satz 2, § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG nicht nur zu überprüfen, sondern auszusetzen oder zumindest die Höhe der Unterschriftenquoren für die kommende Bundestagswahl abzusenken, genügen ihre Darlegungen den Begründungsanforderungen gemäß § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG jedoch nicht. aa) Zwar stellen die pandemiebedingten Kontaktbeschränkungen und die damit verbundenen Rückwirkungen auf die politische Kommunikation im öffentlichen Raum eine wesentliche Veränderung der tatsächlichen Ausgangslage dar, die der Gesetzgeber beim Erlass der Regelungen zur Beibringung von Unterstützungsunterschriften zugrunde gelegt hat. Der Gesetzgeber ist daher gehalten zu prüfen, ob eine unveränderte Beibehaltung der Unterschriftenquoren zum Nachweis der Ernsthaftigkeit der Wahlteilnahme einer nicht in den Parlamenten vertretenen Partei weiterhin erforderlich ist oder ob deren Wahlteilnahme hierdurch übermäßig erschwert wird. bb) Daraus folgt indes nicht ohne Weiteres, dass der Antragsgegner auch verpflichtet ist, bei der Bundestagswahl 2021 die Anwendbarkeit von § 20 Abs. 2 Satz 2, § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG vollständig auszusetzen. Dass es verfassungsrechtlich geboten ist, bei der bevorstehenden Bundestagswahl auf das Erfordernis der Beibringung von Unterschriften vollständig zu verzichten, wird von den Antragstellerinnen nicht nachvollziehbar dargelegt und ist auch in sonstiger Weise nicht ersichtlich. cc) Ebenso genügen die Ausführungen der Antragstellerinnen nicht, um zumindest die Verengung des Gestaltungsspielraums des Antragsgegners auf eine Verpflichtung zur Absenkung der Zahl der für eine Teilnahme an der Bundestagswahl erforderlichen Unterstützungsunterschriften zu begründen. Die Antragstellerinnen legen nicht ausreichend dar, dass der Antragsgegner aufgrund der pandemiebedingten Veränderungen der Rahmenbedingungen politischer Kommunikation zu einer solchen Anpassung der Regelungen zur Wahlteilnahme nicht im Parlament vertretener Parteien verpflichtet ist. (1) Mit den in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelten Maßstäben für die verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit von Unterschriftenquoren für parlamentarisch nicht vertretene Parteien setzen sich die Antragstellerinnen nicht substantiiert auseinander. (2) Es fehlt an einer substantiierten Darlegung, dass der Antragsgegner davon ausgehend aufgrund der pandemiebedingten Veränderungen der Rahmenbedingungen politischer Kommunikation überhaupt zur Anpassung der Regelungen zur Wahlteilnahme von nicht in den Parlamenten vertretenen Parteien verpflichtet ist. (a) Angesichts der bisherigen Rechtsprechung des Gerichts, wonach die Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes und das sich daraus ergebende Erfordernis des Nachweises der Ernsthaftigkeit der Wahlteilnahme unter normalen Umständen Unterschriftenquoren bis zu 0,25 % der Wahlberechtigten zu rechtfertigen vermögen, bleibt die gesetzliche Regelung in § 20 Abs. 2 Satz 2, § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG deutlich hinter dieser Obergrenze zurück. Gemäß § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG bedürfen Landeslisten lediglich der Unterstützung von 1 vom Tausend, höchstens von 2.000 der Wahlberechtigten des jeweiligen Landes bei der letzten Bundestagswahl. Auch § 20 Abs. 2 Satz 2 BWahlG ist mit dem Erfordernis der Unterstützung durch mindestens 200 Wahlberechtigte des Wahlkreises an dieser Größenordnung orientiert, da sich die durchschnittliche Zahl der Wahlberechtigten pro Bundestagswahlkreis auf 206.000 beläuft und gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 3 BWahlG die Bevölkerungszahl eines Wahlkreises nicht um mehr als 15 vom Hundert von der durchschnittlichen Bevölkerungszahl der Wahlkreise abweichen soll. Damit hat der Gesetzgeber den Gestaltungsspielraum, der ihm von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts für die Festsetzung der Höhe der Unterschriftenquoren unter normalen Umständen eingeräumt wird, bei weitem nicht ausgeschöpft. Folglich kann nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass bei einer Erschwerung der Beibringung der erforderlichen Unterstützungsunterschriften die Beibehaltung der gesetzlichen Quoren die Grenze des verfassungsrechtlich Zulässigen überschreitet. Vielmehr wäre es erforderlich gewesen, nachvollziehbar zu begründen, dass aufgrund der pandemiebedingten Veränderungen der Rahmenbedingungen für das Sammeln von Unterstützungsunterschriften die Wahlteilnahme der nicht im Parlament vertretenen Parteien hierdurch praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert wird und dass daher der Antragsgegner von Verfassungs wegen zur Absenkung der gesetzlichen Unterschriftenquoren verpflichtet ist. (b) Das kann dem Vortrag der Antragstellerinnen nicht in ausreichendem Maße entnommen werden. Sie beschränken sich insoweit im Wesentlichen auf die bloße Behauptung, aufgrund der angeordneten Kontaktverbote und -beschränkungen sei die Beibringung der erforderlichen Unterschriften „massiv erschwert, wenn nicht gar im Einzelfall unmöglich“. Dies ist nicht ohne Weiteres plausibel. So trägt eine der beiden Antragstellerinnen vor, sie verfüge in Bayern über 5.000 Mitglieder. Warum es ihr angesichts dessen nicht möglich sein soll, die gesetzlichen Unterschriftenquoren zu erfüllen, erschließt sich nicht. In diesem Zusammenhang fehlt es auch an einer Auseinandersetzung mit dem für die Beibringung von Unterstützungsunterschriften zur Verfügung stehenden Zeitraum von mehr als einem Jahr und an einer Darlegung, ob bei deutlicher Absenkung des Quorums der Nachweis der Ernsthaftigkeit der Wahlteilnahme noch als geführt angesehen werden kann. (3) Selbst bei Annahme einer dem Grunde nach bestehenden Pflicht zur Anpassung der gesetzlichen Regelungen an die pandemiebedingten Einschränkungen der politischen Kommunikation im öffentlichen Raum hätte es einer gesonderten Begründung für die Verengung des Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers auf eine Pflicht zur Absenkung der Unterschriftenquoren gemäß § 20 Abs. 2 Satz 2, § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG bedurft. Auch daran fehlt es.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT - 2 BvE 1/21 - - 2 BvE 3/21 - IM NAMEN DES VOLKES In den Verfahren über die Anträge festzustellen, I. dass der Antragsgegner die der Antragstellerin zustehenden, in Art. 21 Abs. 1 des Grundgesetzes verbürgten Rechte auf Chancengleichheit der politischen Parteien verletzt oder unmittelbar gefährdet hat, indem er es unterließ, die Vorschriften des § 20 Abs. 2 Satz 2 und des § 27 Abs. 1 Satz 2 des Bundeswahlgesetzes unter pflichtgemäßer Berücksichtigung der in der genannten Verfassungsnorm niedergelegten Rechte auf Chancengleichheit der politischen Parteien an die durch die COVID-19-Pandemie geänderten tatsächlichen Umstände anzupassen Antragstellerin:  Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD), - Bevollmächtigte: … - Antragsgegner:  Deutscher Bundestag, vertreten durch den Präsidenten Dr. Wolfgang Schäuble, Platz der Republik 1, 11011 Berlin, und  Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung - 2 BvE 1/21 -, II. 1. dass der Antragsgegner die Beschwerdeführerin durch Nichteinfügung einer Ausnahmeregelung in § 20 Abs. 2 Satz 2 und § 27 Abs. 1 Satz 2 des Bundeswahlgesetzes während des Vorliegens einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite in ihren Rechten, insbesondere aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Art. 38 Abs. 2, zweiter Halbsatz und Art. 21 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG verletzt hat, 2.  dass die Anwendbarkeit von § 20 Abs. 2 Satz 2 und § 27 Abs. 1 Satz 2 des Bundeswahlgesetzes bis zum 31.12.2021 ausgesetzt wird, 3.  dass die Bundesrepublik der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen zu erstatten hat Antragstellerin:  Bayernpartei e. V., - Bevollmächtigter: … - Antragsgegner:  Deutscher Bundestag, vertreten durch den Präsidenten Dr. Wolfgang Schäuble, Platz der Republik 1, 11011 Berlin, und  Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung - 2 BvE 3/21 - hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat - unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter Vizepräsidentin König, Huber, Hermanns, Müller, Kessal-Wulf, Maidowski, Langenfeld, Wallrabenstein am 13. April 2021 gemäß § 24 BVerfGG einstimmig beschlossen: Die Verfahren werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden. Die Anträge werden verworfen. Mit der Verwerfung der Anträge in der Hauptsache werden die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenstandslos. Der Antrag der Antragstellerin zu II. auf Erstattung ihrer notwendigen Auslagen wird abgelehnt. G r ü n d e : A. 1 Die Antragstellerinnen sind politische Parteien, die derzeit weder in einem Landtag noch im Deutschen Bundestag vertreten sind. Sie wenden sich im Wege des Organstreitverfahrens dagegen, dass der Deutsche Bundestag es bislang unter Verletzung ihres Rechts auf Chancengleichheit unterlassen habe, wegen der geänderten Rahmenbedingungen politischer Kommunikation infolge der COVID-19-Pandemie die gesetzlichen Regelungen der Unterstützungsunterschriften in § 20 Abs. 2 Satz 2 und § 27 Abs. 1 Satz 2 Bundeswahlgesetz (BWahlG) im Hinblick auf die Bundestagswahl 2021 auszusetzen oder zu ändern. I. 2 1. Am 11. März 2020 stufte die World Health Organization (WHO) COVID-19 als globale Pandemie ein. Die Bundesrepublik Deutschland reagierte ab Mitte März 2020 mit einer Vielzahl von Maßnahmen. Hierzu gehörten insbesondere der Erlass von Rechtsverordnungen auf der Grundlage von § 32 Infektionsschutzgesetz (IfSG) und die Anordnung einzelner Maßnahmen gemäß § 28 Abs. 1, § 28a IfSG, die unter anderem Abstandsgebote von mindestens 1,50 Metern sowie Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen, aber auch die Schließung von öffentlichen Einrichtungen, Betrieben und Gaststätten sowie die Untersagung religiöser Zusammenkünfte und Versammlungen und Besuchs- und Zugangsbeschränkungen für Krankenhäuser und Seniorenzentren zum Gegenstand hatten. Ende April 2020 wurde zudem erstmals die Verpflichtung eingeführt, in bestimmten Situationen (z.B. in Geschäften oder im Öffentlichen Personennahverkehr) eine Mund-Nase-Bedeckung zu tragen. Aufgrund des am 28. Oktober 2020 von Bund und Ländern wegen der gestiegenen Infektionszahlen beschlossenen erneuten „Teil-Lockdowns“ und darauf folgender weiterer Maßnahmen bestehen derartige Einschränkungen und Verpflichtungen derzeit in allen Ländern unter jeweils näher normierten Voraussetzungen. 3 2. Parteien, die nicht im Bundestag oder in einem Landtag seit deren letzter Wahl ununterbrochen mit mindestens fünf Abgeordneten vertreten waren, können gemäß § 18 Abs. 2 BWahlG nur dann an der Bundestagswahl teilnehmen, wenn der Bundeswahlausschuss ihre Parteieigenschaft festgestellt hat. Fällt eine Partei in den Anwendungsbereich dieser Norm, benötigt sie nach § 20 Abs. 2 Satz 2 BWahlG zudem Unterstützungsunterschriften für Kreiswahlvorschläge sowie nach § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG für die Aufstellung von Landeslisten. Parteien, die seit der letzten Wahl im Bundestag oder in einem Landtag ununterbrochen mit fünf Abgeordneten vertreten waren, müssen hingegen keine Unterstützungsunterschriften beibringen. Nach § 20 Abs. 2 Satz 2 BWahlG benötigen Kreiswahlvorschläge politischer Parteien im Sinne des § 18 Abs. 2 BWahlG die Unterstützung von 200 Wahlberechtigten des Wahlkreises, die den Kreiswahlvorschlag persönlich und handschriftlich unterzeichnen müssen. Landeslisten politischer Parteien im Sinne des § 18 Abs. 2 BWahlG sind gemäß § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG von 1 vom Tausend der Wahlberechtigten des Landes bei der letzten Bundestagswahl, höchstens jedoch von 2.000 Wahlberechtigten, persönlich und handschriftlich zu unterzeichnen. Gemäß § 19 BWahlG sind Kreiswahlvorschläge dem Kreiswahlleiter, Landeslisten dem Landeswahlleiter spätestens am neunundsechzigsten Tage vor der Wahl bis 18 Uhr schriftlich einzureichen. 4 3. Daneben sieht das Bundeswahlgesetz vor, dass die Aufstellung der Bewerber zur Teilnahme an der Bundestagswahl in einer Mitglieder- oder Vertreterversammlung erfolgt (§ 21 Abs. 1 Satz 1, § 27 Abs. 5 BWahlG). Nach § 21 Abs. 3 Satz 4 BWahlG dürfen die Wahlen für die Aufstellung der Wahlkreisbewerber grundsätzlich frühestens 32 Monate, die Wahlen zu den Vertreterversammlungen frühestens 29 Monate nach Beginn der (laufenden) Wahlperiode des Deutschen Bundestages stattfinden. Nach § 34 Abs. 4 Nr. 5 Bundeswahlordnung (BWO) dürfen Kreiswahlvorschläge von Parteien erst nach Aufstellung des Bewerbers durch eine Mitglieder- oder Vertreterversammlung unterzeichnet werden. Vorher geleistete Unterschriften sind ungültig. Diese Regelung gilt gemäß § 39 Abs. 3 Satz 5 BWO für Landeslisten entsprechend. 5 4. Der 19. Deutsche Bundestag trat am 24. Oktober 2017 zu seiner ersten Sitzung zusammen. Die Einteilung des Wahlgebietes in Wahlkreise für die Wahl zum 20. Deutschen Bundestag erfolgte durch Artikel 1 des 24. Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 25. Juni 2020; das Gesetz trat am 30. Juni 2020 in Kraft (BGBl I S. 1409). Jedenfalls ab diesem Zeitpunkt war nach vorheriger Durchführung der Aufstellungsversammlung die Einholung von Unterstützungsunterschriften möglich. 6 5. Da der Bundespräsident mit der Anordnung über die Bundestagswahl 2021 vom 8. Dezember 2020 (BGBl I S. 2769) den Termin für die Wahl des 20. Deutschen Bundestages auf den 26. September 2021 festgelegt hat, endet die Frist zur Vorlage der Kreiswahlvorschläge und Landeslisten gemäß § 19 BWahlG am 19. Juli 2021 um 18 Uhr. 7 6. Die Anpassung landeswahlrechtlicher Vorschriften zur Beibringung von Unterstützungsunterschriften wegen geänderter Rahmenbedingungen aufgrund der COVID-19-Pandemie war Gegenstand von Entscheidungen der Verfassungsgerichtshöfe der Länder Nordrhein-Westfalen (VerfGH NRW, Beschluss vom 7. Juli 2020 - 88/20 -, juris), Baden-Württemberg (VerfGH BW, Urteil vom 9. November 2020 - 1 GR 101/20 -, juris) und Berlin (VerfGH Berlin, Beschlüsse vom 17. März 2021 - VerfGH 4/21; VerfGH 20/21, 20 A/21 -). Der Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen vertrat dabei die Auffassung, dass der Landesgesetzgeber mit einer Absenkung der Unterschriftenquoren auf 60 % der bisherigen Höhe und einer um elf Tage verlängerten Frist zur Einreichung von Wahlvorschlägen für die Kommunalwahl am 13. September 2020 den pandemiebedingten Erschwernissen für die Beibringung von Unterstützungsunterschriften hinreichend Rechnung getragen habe (vgl. VerfGH NRW, Beschluss vom 7. Juli 2020 - 88/20 -, juris, Rn. 71 ff.). Der Verfassungsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg erachtete eine Anpassung der Regelungen zu den Unterschriftenquoren bei der Landtagswahl am 14. März 2021 für verfassungsrechtlich geboten und erklärte, dass bei einer Reduzierung der Zahl der beizubringenden Unterschriften um 50 % kein Anlass zu erneuter verfassungsrechtlicher Beanstandung bestünde (vgl. VerfGH BW, Urteil vom 9. November 2020 - 1 GR 101/20 -, juris, Rn. 72). Der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin beurteilte demgegenüber eine gesetzgeberisch bereits erfolgte Absenkung der Unterschriftenquoren für die Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksverordnetenversammlungen am 26. September 2021 auf 50 % der ursprünglichen Höhe als unzureichend und regte eine Absenkung auf maximal 20 bis 30 % dieser Höhe an (vgl. VerfGH Berlin, Beschlüsse vom 17. März 2021 - VerfGH 4/21 -, S. 12; - VerfGH 20/21, 20 A/21 -, S. 11). 8 7. In den Ländern Baden-Württemberg, Berlin, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt und Thüringen wurde die Zahl der für eine Wahlteilnahme beizubringenden Unterstützungsunterschriften für die in den Jahren 2020 und 2021 stattfindenden Kommunal- und Landtagswahlen in unterschiedlicher Höhe (auf 25 bis 60 % des Ausgangswertes) abgesenkt. II. 9 1. a) Mit am 7. Januar 2021 beim Bundesverfassungsgericht eingegangenem Schriftsatz hat die Antragstellerin zu I. ein Organstreitverfahren wegen des Unterlassens einer Anpassung von § 20 Abs. 2 Satz 2 und § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG an die durch die COVID-19-Pandemie geänderten tatsächlichen Umstände eingeleitet und einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt, der auf eine Verpflichtung des Antragsgegners zur Neuregelung der Anzahl der vorzulegenden Unterstützungsunterschriften gerichtet ist. 10 b) Zur Begründung trägt die Antragstellerin zu I. vor: 11 aa) Durch die unveränderte Geltung von § 20 Abs. 2 Satz 2 und § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG unter den besonderen Bedingungen der COVID-19-Pandemie sei sie in ihrem Recht auf gleichberechtigte Teilhabe an der politischen Willensbildung aus Art. 21 Abs. 1 GG unverhältnismäßig beeinträchtigt. Die angesichts steigender Infektionszahlen ab Mitte Oktober 2020 angeordneten Maßnahmen wirkten auf die Möglichkeit zur Beibringung von Unterstützungsunterschriften zurück. Wegen der auf unvorhersehbare Zeit fortbestehenden Kontaktbeschränkungen werde es kaum möglich sein, die erforderliche Zahl an Unterschriften fristgerecht zu sammeln. Zwar sei die weitere Entwicklung derzeit nicht absehbar. Es sei jedoch wahrscheinlich, dass die notwendigen Infektionsschutzmaßnahmen noch bis weit in den Sommer hinein und über den Tag des Ablaufs der Frist zur Einreichung der Landeslisten und Kreiswahlvorschläge hinaus fortgeführt werden müssten. Dies berge für die Antragstellerin zu I. die Gefahr, wegen einer unzureichenden Zahl an Unterstützungsunterschriften nicht zur Teilnahme an der Bundestagswahl zugelassen zu werden. Der Antragsgegner sei vor diesem Hintergrund verpflichtet, einen verfassungsgemäßen Zustand bei der Zulassung der sogenannten „kleinen Parteien“ zur Bundestagswahl dadurch wiederherzustellen, dass er für die kommende Bundestagswahl von der Anwendung der Vorschriften zur Beibringung von Unterstützungsunterschriften absehe. Zumindest sei es geboten, die Zahl der vorzulegenden Unterschriften erheblich zu reduzieren oder andere geeignete gesetzgeberische Maßnahmen zu ergreifen. 12 bb) Das Bundesverfassungsgericht halte zwar wahlrechtliche Unterschriftenquoren für sachlich gerechtfertigt. Selbst nach dieser – kritisch zu bewertenden und korrekturbedürftigen – Rechtsprechung dürfe die Zahl der Unterschriften allerdings nur so hoch festgesetzt werden, wie es für die Erreichung ihres Zwecks erforderlich sei. Sie dürfe der Wählerentscheidung möglichst nicht vorgreifen und nicht so hoch sein, dass einem neuen Bewerber die Teilnahme an der Wahl praktisch unmöglich gemacht werde. Die Veränderungen durch die COVID-19-Pandemie machten es daher erforderlich, die Vorschriften zu den Unterstützungsunterschriften bei der kommenden Bundestagswahl auszusetzen oder jedenfalls die Zahl der vorzulegenden Unterschriften anzupassen. 13 cc) Im Übrigen gibt die Antragstellerin zu I. zur Begründung ihres Antrags auszugsweise die Rechtsprechung der Verfassungsgerichtshöfe für die Länder Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen wieder und weist auf die Beschlüsse des Verfassungsgerichtshofs des Landes Berlin vom 17. März 2021 hin. Nach den vorrangig zitierten Passagen aus der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs für das Land Baden-Württemberg vom 9. November 2020 sei nicht zu bezweifeln, dass die herkömmliche Art des Sammelns von Unterstützungsunterschriften im Wege der direkten Ansprache von Personen auf Straßen und Plätzen sowie an der Haus- oder Wohnungstür seit Ausbruch der Pandemie erheblich weniger Erfolg verspreche. Auch sei es plausibel, dass Parteien Schwierigkeiten hätten, ausreichend Parteimitglieder für das Werben um Unterstützungsunterschriften zu gewinnen. Die durch die COVID-19-Verordnungen angestrebte Reduzierung von persönlichem Kontakt und spontaner Gesprächsmöglichkeit treffe gerade auch die politische Kommunikation. In historisch einmaliger Weise sei der Urtypus der politischen Auseinandersetzung – das Gespräch im öffentlichen Raum – durch den Staat selbst erschwert worden. Die dadurch verursachte Verschärfung der Ungleichbehandlung der Parteien werde auch nicht durch neue Möglichkeiten der Ansprache und des Sammelns von Unterschriften unter Verwendung digitaler Formate kompensiert. Es sei daher Aufgabe des Gesetzgebers, eine Lösung zu finden, wie er der verschärften Ungleichbehandlung der Parteien begegne (vgl. VerfGH BW, Urteil vom 9. November 2020 - 1 GR 101/20 -, juris, Rn. 58 ff., 71). 14 Im Anschluss daran führt die Antragstellerin zu I. aus, die in Bezug genommenen Ausführungen des Verfassungsgerichtshofs für das Land Baden-Württemberg beträfen zwar landesrechtliche Wahlrechtsnormen. Sie seien aber auf die anstehende Bundestagswahl übertragbar. 15 dd) Der Erlass einer einstweiligen Anordnung sei zur Vermeidung einer irreversiblen Verletzung der Rechte der Antragstellerin zu I. aus Art. 21 Abs. 1 GG geboten. Bei Anwendung von § 20 Abs. 2 Satz 2 und § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG in der geltenden Fassung bestehe die konkrete Gefahr, dass sie nicht oder nicht mit allen aufgestellten Kandidaten zur Teilnahme an der Wahl zum 20. Deutschen Bundestag zugelassen werde. Dies könne nicht durch die nachträgliche Feststellung eines verfassungswidrigen gesetzgeberischen Unterlassens ausgeglichen werden. 16 2. a) Die Antragstellerin zu II. hat mit am 3. Februar 2021 eingegangenem Schriftsatz ein Organstreitverfahren eingeleitet und ebenfalls einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt. Sie sieht sich als nicht im Bundestag oder in einem Landtag vertretene Partei mit circa 5.000 Mitgliedern durch die Nichteinfügung einer Ausnahmeregelung in § 20 Abs. 2 Satz 2 und § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG in ihrem passiven Wahlrecht verletzt, das als Ausfluss ihrer Parteieigenschaft verfassungsrechtlich geschützt sei, und begehrt eine Aussetzung der Anwendbarkeit dieser Normen bis zum 31. Dezember 2021. 17 b) Zur Begründung führt die Antragstellerin zu II. aus: 18 aa) Das passive Wahlrecht habe besondere Bedeutung im Zusammenhang mit der verfassungsmäßigen Aufgabe der Parteien aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG, an der politischen Willensbildung des Volkes teilzunehmen. Insoweit ergebe sich die Notwendigkeit einer Gleichbehandlung der Parteien aus dem Prinzip der Gleichheit der Wahl. Daher sei der Ermessensspielraum des Gesetzgebers bei der Festsetzung von Unterschriftenquoren begrenzt. Der Entscheidung des Wählers solle nicht vorgegriffen werden. Es dürfe nicht um die Vorauswahl etablierter oder „wünschenswerter“ Kandidaten gehen. 19 bb) Diesen Anforderungen genüge das Bundeswahlgesetz unter den aktuellen Bedingungen der COVID-19-Pandemie nicht. Die Höhe der Unterschriftenquoren sei auf normale Umstände zugeschnitten. Gerade unter den besonderen Bedingungen und Herausforderungen einer Pandemie belege schon die Beibringung einer geringeren Zahl an Unterstützungsunterschriften die Ernsthaftigkeit der Wahlteilnahme einer Partei. Dies gelte auch für die Antragstellerin zu II., die über circa 5.000 Mitglieder verfüge und eine parteitypische organisatorische Festigkeit aufweise. 20 Da bislang den Parteien nicht abverlangt werde, einen festen Unterstützerkreis aufzubauen, sei die für die Unterschriftenbeibringung zur Verfügung stehende Zeit darauf zugeschnitten, auch durch „Straßenwahlkampf“ Unterstützer gewinnen zu können. Entsprechende klassische Werbemaßnahmen wie Versammlungen oder Infostände seien in allen Ländern aber erheblich eingeschränkt. Abstandsgebot und Maskenpflicht erschwerten eine ernsthafte Kommunikation erheblich, insbesondere gegenüber unbekannten Personen. Versammlungen seien nur eingeschränkt durchführbar; auch bestünden Ausgangssperren. Zahlreiche Gemeinden genehmigten aktuell keine Informationsstände. Abgesehen davon seien die Innenstädte deutlich weniger frequentiert. Alternative Möglichkeiten der Sammlung von Unterstützungsunterschriften könnten diese Erschwernisse nicht ausgleichen. Ein individuelles Sammeln von Unterschriften bei persönlichen Bekannten, Sympathisanten oder Mitgliedern sei aktuell nicht zulässig oder im Sinne des Infektionsschutzes nicht ratsam. Die postalische Übersendung erfordere einen hohen Organisationsaufwand und verursache größere Kosten mit erheblichen Streuverlusten; dies könne kleineren Parteien nicht zugemutet werden. Eine internetgestützte oder vollständig elektronisch ablaufende Leistung der Unterstützungsunterschriften sei nicht vorgesehen. 21 Mit dem Sonderfall einer Neuwahl sei die Unterschriftensammlung in der Pandemie nicht vergleichbar. Bei einer im Falle von Neuwahlen verkürzten Frist zur Beibringung der Unterschriften sei es Parteien unverändert möglich, Unterstützer direkt anzusprechen. Auch könne in diesem Fall die zeitliche Straffung zu einer erhöhten Motivation der Mitglieder führen. 22 c) Außerdem erklärt die Antragstellerin zu II., ihre Anträge könnten unter Beachtung des dargestellten Rechtsschutzziels auch dahin ausgelegt werden, dass eine Rechtsverletzung lediglich festgestellt werde, soweit während des Vorliegens einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite mehr als 25 Unterstützungsunterschriften pro Wahlkreis beziehungsweise 250 Unterstützungsunterschriften pro Landesliste gefordert würden. B. 23 Die Anträge sind unzulässig. Die Antragstellerinnen sind nicht antragsbefugt, da sie die Möglichkeit einer Verletzung ihres Rechts auf Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG nicht in einer den Begründungsanforderungen von § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG genügenden Weise dargelegt haben (I.). Weitere Zulässigkeitsbedenken (II.) können insoweit dahinstehen. I. 24 Die Antragstellerinnen haben jeweils die Möglichkeit einer Verletzung ihres geltend gemachten Rechts auf Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG durch das Unterlassen einer Aussetzung der Anwendbarkeit von § 20 Abs. 2 Satz 1, § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG oder einer Absenkung der Zahl der nach diesen Vorschriften für die Zulassung eines Kreiswahlvorschlags oder einer Landesliste beizubringenden Unterstützungsunterschriften bei der Bundestagswahl 2021 durch den Antragsgegner nicht hinreichend substantiiert dargelegt. 25 1. a) Nach § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG sind Anträge, die ein Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht einleiten, zu begründen; die erforderlichen Beweismittel sind anzugeben. § 23 Abs. 1 BVerfGG gilt als allgemeine Verfahrensvorschrift für alle Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht, also auch für das Organstreitverfahren (vgl. BVerfGE 24, 252 <258>; 134, 141 <195 Rn. 161>; 136, 121 <124 f. Rn. 5>; vgl. implizit auch BVerfGE 151, 191 <199 Rn. 23>). Die Verletzung des geltend gemachten verfassungsmäßigen Rechts muss sich aus dem Sachvortrag des Antragstellers als mögliche Rechtsfolge ergeben (vgl. BVerfGE 57, 1 <5>; 60, 374 <381>; 82, 322 <336>; 134, 141 <195 Rn. 161>). Erforderlich, aber auch ausreichend ist es, dass die von dem Antragsteller behauptete Verletzung oder unmittelbare Gefährdung seiner verfassungsmäßigen Rechte unter Beachtung der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Maßstäbe nach dem vorgetragenen Sachverhalt möglich erscheint (vgl. BVerfGE 134, 141 <195 Rn. 161>; 138, 256 <259 Rn. 6>; 140, 1 <21 f. Rn. 58>; 150, 194 <201 Rn. 20>; 151, 191 <199 Rn. 22>; stRspr). 26 b) Wird im Organstreitverfahren eine Verletzung organschaftlicher Rechte durch gesetzgeberisches Unterlassen gerügt, hat der Antragsteller die dafür geltenden besonderen Voraussetzungen substantiiert darzulegen. 27 aa) Dabei ist davon auszugehen, dass der Bund, soweit ihm die Gesetzgebung über eine bestimmte Materie gemäß Art. 70 ff. GG zugewiesen ist, grundsätzlich die Befugnis, nicht aber die Verpflichtung hat, Gesetze zu erlassen beziehungsweise zu ändern. Dies schließt indes nicht aus, dass ausnahmsweise Gesetzgebungspflichten bestehen, die sich aus einzelnen Vorschriften des Grundgesetzes (außerhalb der Art. 70 bis 82 GG) sowie aus Vorgaben des Unionsrechts ergeben können (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 15. Dezember 2020 - 2 BvC 46/19 -, Rn. 41; siehe auch Heintzen, in: v. Mangoldt/Klein/Stark, GG, Bd. 2, 7. Aufl. 2018, Art. 71 Rn. 33; Sannwald, in: Schmidt-Bleibtreu/ Hofmann/Henneke, GG, 14. Aufl. 2018, Vorbemerkung vor Art. 70 Rn. 15 ff.; Uhle, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 71 Rn. 33 <März 2007>). Insoweit erscheint es zwar nicht ausgeschlossen, dass gesetzgeberische Handlungspflichten aus dem Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien folgen (vgl. BVerfGE 73, 40 <94>). Allerdings ist eine solche Handlungspflicht im jeweiligen Einzelfall gemäß § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG substantiiert darzulegen (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 15. Dezember 2020 - 2 BvC 46/19 -, Rn. 41). 28 bb) Soweit dem Grunde nach eine Handlungspflicht des Gesetzgebers besteht, ist ihm bei der Wahrnehmung dieser Pflicht in der Regel ein weiter Gestaltungsspielraum eröffnet (vgl. BVerfGE 3, 19 <24, 29>; 77, 170 <214 f.>; 79, 174 <202>; 88, 203 <262>; 106, 166 <177>; 121, 317 <356>; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 15. Dezember 2020 - 2 BvC 46/19 -, Rn. 42). Es ist regelmäßig eine komplexe Frage, wie eine positive staatliche Schutz- oder Handlungspflicht durch gesetzgeberische Maßnahmen zu verwirklichen ist. Da je nach Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse, der konkreten Zielsetzungen und ihrer Priorisierung verschiedene Lösungen möglich sind, kann die nach dem Grundsatz der Gewaltenteilung und dem demokratischen Prinzip in die Verantwortung des vom Volk unmittelbar legitimierten Gesetzgebers gelegte Entscheidung vom Bundesverfassungsgericht in der Regel nur begrenzt nachgeprüft werden (vgl. BVerfGE 56, 54 <81>). Unbenommen bleibt dem Gesetzgeber insbesondere, Interessen zu berücksichtigen, die gegenläufig zu dem von ihm verfolgten Gemeinwohlziel sind, und so eine Lösung durch Zuordnung und Abwägung kollidierender Rechtsgüter zu entwickeln (vgl. BVerfGE 121, 317 <356 f.> unter Bezugnahme auf BVerfGE 110, 141 <159>; 111, 10 <38 f., 43>). Nur in seltenen Ausnahmefällen lässt sich der Verfassung eine konkrete Handlungspflicht entnehmen, die zu einem bestimmten Tätigwerden zwingt. 29 cc) Verengt sich die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit nur ausnahmsweise darauf, dass allein durch eine bestimmte Maßnahme einer gesetzgeberischen Normsetzungspflicht Rechnung getragen werden kann, wirkt dies auf die Begründungsanforderungen gemäß § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG zurück (vgl. zur Verfassungsbeschwerde BVerfGE 77, 170 <215>; zur Wahlprüfungsbeschwerde BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 15. Dezember 2020 - 2 BvC 46/19 -, Rn. 44; s.a. Hömig, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 92 Rn. 13 m.w.N. <Mai 2011>). Wird eine Rechtsverletzung in Form eines gesetzgeberischen Unterlassens geltend gemacht, genügen die Antragstellerinnen ihrer Begründungspflicht gemäß § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG nur, wenn dargelegt wird, dass der Gesetzgeber einer Normsetzungspflicht im behaupteten Sinne unterliegt und er dieser Pflicht nicht nachgekommen ist. Soweit der Erlass einer konkreten Regelung eingefordert wird, ist substantiiert zu begründen, warum der dem Gesetzgeber grundsätzlich zukommende Gestaltungsspielraum auf den Erlass der eingeforderten Regelung verengt ist (BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 15. Dezember 2020 - 2 BvC 46/19 -, Rn. 44). 30 c) Bei einem Antrag im Organstreitverfahren, mit dem ein gesetzgeberisches Unterlassen im Wahlrecht gerügt wird, bedarf es außerdem einer Auseinandersetzung mit dem Umstand, dass Art. 38 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 GG lediglich die Grundzüge für das Wahlsystem vorgibt (vgl. hierzu BVerfGE 6, 104 <111>; 95, 335 <349>; 121, 266 <296>; 124, 1 <19>; 131, 316 <335>) und daher eine Verpflichtung des Gesetzgebers zur Vornahme einer bestimmten Wahlrechtsänderung regelmäßig nicht in Betracht kommt. 31 aa) Die konkrete Ausgestaltung des Wahlrechts hat der Verfassungsgeber bewusst offengelassen und in Art. 38 Abs. 3 GG dem Bundesgesetzgeber übertragen (vgl. BVerfGE 131, 316 <334 f.>). Es ist grundsätzlich seine Sache, verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter und die Wahlrechtsgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG – auch im Verhältnis zueinander – zum Ausgleich zu bringen (vgl. BVerfGE 95, 408 <420>; 121, 266 <303>; 131, 316 <338>; 132, 39 <48 Rn. 26>) und dabei teilweise gegenläufigen Zielen Rechnung zu tragen (vgl. BVerfGE 131, 316 <335>). 32 bb) Der Gesetzgeber hat eine die Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit berührende Norm des Wahlrechts zu überprüfen und gegebenenfalls zu ändern, wenn deren verfassungsrechtliche Rechtfertigung durch neuere Entwicklungen infrage gestellt wird (vgl. BVerfGE 146, 327 <353 Rn. 65>). Bei dem ihm gemäß Art. 38 Abs. 3 GG obliegenden Ausgleich der Wahlrechtsgrundsätze und der sonstigen Verfassungsgüter hat er sich an der politischen Wirklichkeit zu orientieren (vgl. BVerfGE 120, 82 <107>; 129, 300 <321>; 135, 259 <287 Rn. 53>; 146, 327 <352 Rn. 63 f.>). Der Ausgestaltung des Wahlrechts sind die bestehenden tatsächlichen Verhältnisse und die Prognose ihrer künftigen Entwicklung zugrunde zu legen. Folglich ist der Gesetzgeber verpflichtet, bei neu auftretenden Entwicklungen, die unvorhergesehene Gefahren für die Integrität der Wahl als zentralem demokratischen Legitimationsvorgang mit sich bringen können, die von ihm geschaffenen Regelungen zu überprüfen (vgl. BVerfGE 59, 119 <127>). In diesem Sinn hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass für Sperrklauseln im Verhältniswahlrecht die Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der politischen Parteien nicht ein für alle Mal abstrakt beurteilt werden kann. Eine Wahlrechtsbestimmung kann mit Blick auf eine Repräsentativkörperschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt gerechtfertigt sein, mit Blick auf eine andere oder zu einem anderen Zeitpunkt jedoch nicht (vgl. BVerfGE 82, 322 <338 f.>; 120, 82 <108>; 129, 300 <322>; 135, 259 <288 Rn. 54>; 146, 327 <353 Rn. 65>). Ändern sich die vom Gesetzgeber vorausgesetzten tatsächlichen oder normativen Grundlagen oder erweisen sich die beim Erlass der Norm hinsichtlich ihrer Auswirkungen angestellten Prognosen als irrig, hat er im Rahmen des ihm verfassungsrechtlich zukommenden Spielraums darüber zu befinden, ob er am bestehenden Wahlrecht festhält oder eine Anpassung desselben vornimmt (vgl. BVerfGE 73, 40 <94>; 82, 322 <338 f.>; 107, 286 <294 f.>; 120, 82 <108>; 129, 300 <321 f.>; 135, 259 <287 Rn. 54>; 146, 327 <353 Rn. 65>). 33 cc) Demgemäß setzt eine den Anforderungen des § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG genügende Begründung der Möglichkeit, dass eigene organschaftliche Rechte durch das Unterlassen bestimmter Änderungen wahlrechtlicher Regelungen verletzt werden, voraus, dass die Antragsteller die Verpflichtung des Wahlgesetzgebers zu einem entsprechenden Tätigwerden trotz seines gemäß Art. 38 Abs. 3 GG weiten Gestaltungsspielraums substantiiert darlegen. Wird das Unterlassen einer konkret bezeichneten Wahlrechtsänderung geltend gemacht, ist aufzuzeigen, dass der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers von Verfassungs wegen auf die begehrte Gesetzesänderung verengt ist. 34 2. Nach diesen Maßstäben haben die Antragstellerinnen die Möglichkeit einer Verletzung ihres Rechts auf Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG nicht hinreichend substantiiert begründet. 35 Sie führen zwar hinreichend aus, dass das Erfordernis von Unterstützungsunterschriften gemäß § 20 Abs. 2 Satz 2, § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG einen Eingriff in ihr Recht auf Chancengleichheit beinhaltet (a). Auch weisen sie zutreffend darauf hin, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung dieses Erfordernis als grundsätzlich verfassungsrechtlich unbedenklich angesehen hat (b). Sie legen ferner ausreichend dar, dass die pandemiebedingten Kontaktbeschränkungen und -verbote zu einer Intensivierung des Eingriffs in das Recht auf Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG zum Nachteil der nicht im Bundestag oder in einem Landtag vertretenen Parteien geführt haben (c). Soweit sie daraus aber eine verfassungsrechtliche Verpflichtung des Antragsgegners zur Aussetzung oder Absenkung der Unterschriftenquoren gemäß § 20 Abs. 2 Satz 2, § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG bei der Bundestagswahl 2021 ableiten, genügen ihre Ausführungen den Anforderungen an die Begründung einer dahingehenden Verengung des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums nicht (d). 36 a) Das Recht der politischen Parteien auf Chancengleichheit steht in engem Zusammenhang mit den Grundsätzen der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl, die ihre Prägung durch das Demokratieprinzip erfahren (vgl. BVerfGE 41, 399 <413 f.>; 71, 81 <94>; 120, 82 <105>; 140, 1 <23 Rn. 63>; 146, 327 <350 Rn. 60>). Deshalb muss es – ebenso wie die durch die Grundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl verbürgte gleiche Behandlung der Wählerinnen und Wähler – in einem strikten und formalen Sinn verstanden werden. Wenn die öffentliche Gewalt in den Parteienwettbewerb in einer Weise eingreift, die die Chancen der politischen Parteien verändern kann, sind ihrem Ermessen daher besonders enge Grenzen gezogen (vgl. BVerfGE 146, 327 <350 Rn. 60> m.w.N.). Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG garantiert den politischen Parteien nicht nur die Freiheit ihrer Gründung und die Möglichkeit der Mitwirkung an der politischen Willensbildung, sondern auch, dass diese Mitwirkung auf der Basis gleicher Rechte und gleicher Chancen erfolgt (vgl. BVerfGE 135, 259 <285 Rn. 48>; 146, 327 <350 Rn. 60>). Dieses Recht gilt im gesamten Wahlverfahren, also nicht nur für den Wahlvorgang selbst, sondern auch für die Wahlvorbereitung (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 15. Dezember 2020 - 2 BvC 46/19 -, Rn. 103). 37 Demgemäß stellt sich das Erfordernis von Unterstützungsunterschriften für parlamentarisch nicht vertretene Parteien als Eingriff in das Recht auf Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG dar. Das Unterschriftenquorum hat die Nichtberücksichtigung der Wahlvorschläge derjenigen Parteien zur Folge, die nicht die erforderliche Unterschriftenzahl aufbringen. In dieser Einschränkung der Möglichkeit zur Teilnahme an der Wahl liegt eine Benachteiligung betroffener Parteien und damit auch der Antragstellerinnen gegenüber den in den Parlamenten vertretenen Parteien (vgl. BVerfGE 60, 162 <167 f.>; 111, 289 <301>; VerfGH NRW, Beschluss vom 7. Juli 2020 - 88/20 -, juris, Rn. 70). 38 b) aa) Der Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG unterliegt aber keinem absoluten Differenzierungsverbot. Zwar folgt aus dem formalen Charakter der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien, dass dem Gesetzgeber nur ein eng bemessener Spielraum für Differenzierungen verbleibt (vgl. BVerfGE 146, 327 <350 f. Rn. 61> m.w.N.). Differenzierungen im Wahlrecht können aber durch Gründe gerechtfertigt sein, die durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sind, das der Wahlrechtsgleichheit die Waage halten kann (vgl. BVerfGE 95, 408 <418>; 129, 300 <320>; 130, 212 <227 f.>; 146, 327 <350 f. Rn. 61> m.w.N.). Hierzu zählt die Verwirklichung der mit der Parlamentswahl verfolgten Ziele, zu denen insbesondere die Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes und die Gewährleistung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung gehören (vgl. BVerfGE 95, 408 <418>; 120, 82 <111>; 129, 300 <320 f.>; 135, 259 <286 Rn. 52>). Der Gesetzgeber kann daher im Rahmen des ihm eingeräumten Gestaltungsspielraums Regelungen treffen, die der Verfolgung dieser Ziele dienen und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung tragen. Ein Verstoß gegen den Grundsatz der Chancengleichheit liegt hingegen vor, wenn der Gesetzgeber ein Ziel verfolgt hat, das er bei der Ausgestaltung des Wahlrechts nicht verfolgen darf, oder wenn die getroffene Regelung nicht geeignet und erforderlich ist, um die zulässigerweise verfolgten Ziele zu erreichen (vgl. BVerfGE 120, 82 <107>; 129, 300 <321>; 135, 259 <287 Rn. 53>; 146, 327 <352 f. Rn. 64>). 39 bb) Davon ausgehend hat das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung wahlrechtliche Unterschriftenquoren für sachlich gerechtfertigt erachtet, wenn und soweit sie dazu dienen, den Wahlakt auf ernsthafte Wahlvorschläge zu beschränken und so der Gefahr der Stimmenzersplitterung vorzubeugen (vgl. BVerfGE 1, 208 <247 ff.>; 3, 19 ff.; 4, 375 <383 f.>; 5, 77 <81 f.>; 6, 84 <98 f.>; 12, 135 <137>; 24, 300 <341>; 41, 399 <421>; 60, 162 <168 f., 172>; 71, 81 <96 f.>; 82, 353 <364>; 111, 289 <302>). 40 (1) Die Beschränkung des Wahlakts auf ernsthafte Wahlvorschläge ist auf den Schutz von Verfassungsgütern gerichtet, die der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien die Waage halten können. Sie zielt darauf ab, das Stimmgewicht der einzelnen Wählerstimmen zu sichern und die Wahlberechtigten davor zu bewahren, ihre Stimmen an aussichtslose Wahlvorschläge zu vergeben (vgl. BVerfGE 60, 162 <172>; 111, 289 <302>). Sie dient damit der Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes (vgl. BVerfGE 95, 408 <418>) und beugt zugleich der Gefahr der Stimmenzersplitterung vor. Vergleichbar einer Sperrklausel (vgl. BVerfGE 3, 383 <393 f.>) verfolgt die Beschränkung des Kreises der Wahlvorschläge damit auch den Zweck, die Bildung handlungsfähiger und repräsentativer Verfassungsorgane zu ermöglichen (vgl. BVerfGE 6, 84 <98 f.>), und ist folglich auf die Sicherung der Funktionsfähigkeit des Parlaments gerichtet (vgl. BVerfGE 3, 19 <27>; 6, 84 <98>; 60, 162 <171 f.>; 71, 81 <97>; Lege, Unterschriftenquoren zwischen Parteienstaat und Selbstverwaltung, 1996, S. 30). Schließlich betrifft das Unterschriftenquorum auch die ordnungsgemäße Durchführung der Wahl (vgl. BVerfGE 4, 375 <381 f.>; 5, 77 <82>; 12, 10 <27>; Lege, Unterschriftenquoren zwischen Parteienstaat und Selbstverwaltung, 1996, S. 26; Hahlen, in: Schreiber, BWahlG, 10. Aufl. 2017, § 20 Rn. 8). Durch den Ausschluss aussichtsloser Kandidaturen soll vermieden werden, dass die Stimmzettel unübersichtlich oder unhandlich werden und die Auswertung dadurch übermäßig erschwert wird (vgl. BayVerfGH, Entscheidung vom 18. Juli 1995 - Vf. 2-VII-95 -, juris, Rn. 46). 41 (2) Vor diesem Hintergrund umfasst der dem Gesetzgeber im Rahmen des Art. 38 Abs. 3 GG eingeräumte Gestaltungsspielraum die Möglichkeit, anzuordnen, dass nicht im Parlament vertretene Parteien den Nachweis der Ernsthaftigkeit ihrer Wahlteilnahme durch die Beibringung einer bestimmten Zahl an Unterstützungsunterschriften zu führen haben (vgl. BVerfGE 3, 19 <27>). Da der Nachweis der Ernsthaftigkeit der Wahlteilnahme bei Parteien, die in einem Parlament vertreten sind, aufgrund ihrer parlamentarischen Tätigkeit regelmäßig als erbracht angesehen werden kann (vgl. BVerfGE 12, 10 <27 f.>), ist die mit dem Unterschriftenquorum verbundene nachteilige Behandlung von Parteien, die nicht in einem Parlament vertreten sind, verfassungsrechtlich grundsätzlich unbedenklich (vgl. BVerfGE 12, 135 <137>). Dabei kann von der Geeignetheit des Unterschriftenquorums zur Erbringung des Nachweises der Ernsthaftigkeit der Wahlteilnahme ausgegangen werden, wenn sich aus der Zahl der Unterschriften der Schluss ableiten lässt, dass hinter einem Wahlvorschlag eine politisch ausreichend verfestigte Gruppierung steht (vgl. BVerfGE 4, 375 <384>; 12, 10 <27>). Der Gesetzgeber darf das Recht, Wahlvorschläge zu unterbreiten, von einer ernst- und (in gewissem Umfang) dauerhaften Organisationstätigkeit abhängig machen (vgl. BVerfGE 71, 81 <99>). 42 (3) Der mit der Festsetzung von Unterschriftenquoren verbundene Eingriff in die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien darf allerdings die Grenzen des zum Schutz der bezeichneten Verfassungsgüter Erforderlichen nicht übersteigen und vor allem nicht dazu führen, dass die Parteien den ihnen durch Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG zugewiesenen Auftrag zur Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Volkes nicht mehr erfüllen können. Dies hat zur Folge, dass die Zahl der beizubringenden Unterschriften nur so hoch festgesetzt werden darf, wie es für die Erreichung ihres Zwecks erforderlich ist (vgl. BVerfGE 71, 81 <96 f.>). Sie darf der Wählerentscheidung möglichst wenig vorgreifen und nicht so hoch sein, dass Bewerberinnen und Bewerbern die Teilnahme an der Wahl praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert wird (vgl. BVerfGE 6, 84 <98>; 41, 399 <421>; 111, 289 <303>). Im Sinne der Wahlfreiheit ist zu gewährleisten, dass die Gründung einer wahlvorschlagsberechtigten Organisation und deren Wahlteilnahme auch von einer kleinen Anzahl von Wahlberechtigten relativ einfach ins Werk gesetzt werden kann (vgl. BVerfGE 71, 81 <100 f.>). 43 (4) Dies in Rechnung stellend hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung betont, dass gegen das Erfordernis der Beibringung von Unterstützungsunterschriften angesichts des Gewichts der geschützten Gemeinwohlbelange selbst in Sonderkonstellationen grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedenken nicht bestehen. 44 So hat es mit Beschluss des Zweiten Senats vom 17. Oktober 1990 (BVerfGE 82, 353) die Zulässigkeit von Unterschriftenquoren für parlamentarisch nicht vertretene Parteien unter den besonderen Bedingungen der ersten gesamtdeutschen Wahlen bestätigt. Die Erstreckung der für die Bundestagswahl geltenden Quoren auf das Gebiet der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik in der besonderen Situation der ersten gesamtdeutschen Wahlen verletzte die verfassungsmäßigen Rechte der damaligen Antragstellerinnen nicht schon deswegen, weil es ihnen aufgrund der kurzfristig vollzogenen Ausdehnung des Wahlgebietes nicht möglich gewesen wäre, in dessen neuen Teil die erforderliche Organisation für die Sammlung einer ausreichenden Zahl an Unterstützungsunterschriften aufzubauen. Der Ausschluss von der Wahlbewerbung aufgrund entsprechender organisatorischer Schwierigkeiten entspreche gerade dem Sinn der Unterschriftenquoren (vgl. BVerfGE 82, 353 <364>). 45 (5) Hinsichtlich der zulässigen Höhe von Unterschriftenquoren hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil des Ersten Senats vom 1. August 1953 (BVerfGE 3, 19) bei einem Unterschriftenquorum von mindestens 500 Wahlberechtigten für einen Kreiswahlvorschlag die Grenzen des gesetzgeberischen Ermessens als überschritten erachtet und einen Verstoß gegen Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG angenommen (vgl. BVerfGE 3, 19 <29>). Demgegenüber hat es das Erfordernis, dass eine Landesliste der Unterstützung durch 1 vom Tausend der Wahlberechtigten und höchstens 2.500 Unterschriften bedarf, nicht beanstandet (vgl. BVerfGE 3, 19 <30>). In einem nachfolgenden Urteil des Zweiten Senats vom 6. Februar 1956 stellte das Gericht mit Blick auf landeswahlrechtliche Regelungen in Baden-Württemberg fest, dass in Wahlkreisen mit durchschnittlich 67.000 Wahlberechtigten von den nicht im Landtag vertretenen Parteien höchstens 150 Unterstützungsunterschriften je Wahlkreisvorschlag gefordert werden dürfen (vgl. BVerfGE 4, 375, Leitsatz 3). Dies entspreche einer verfassungsrechtlich unbedenklichen Quote von 0,25 % der Wahlberechtigten (vgl. BVerfGE 4, 375 <386>). 46 Daran anschließend beurteilte das Gericht im Beschluss des Zweiten Senats vom 25. Januar 1961 (BVerfGE 12, 132) das im saarländischen Landtagswahlgesetz vorgesehene Unterschriftenquorum, das sich in den einzelnen Wahlkreisen zwischen einem Anteil von 0,18 % bis 0,26 % der Wahlberechtigten bewegte, als zulässig. Die Regelung überschreite nicht das dem Gesetzgeber eingeräumte Ermessen zur Fixierung der Höhe der Zahl der Unterschriften, derer es bedürfe, um die Ernsthaftigkeit eines Wahlvorschlags zu ermessen (vgl. BVerfGE 12, 132 <134>). 47 c) Vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung, die auch die Realbedingungen einer Wahl berücksichtigt, haben die Antragstellerinnen hinreichend erläutert, dass die pandemiebedingten, auf nicht absehbare Zeit fortbestehenden Kontaktverbote und -beschränkungen eine Veränderung der tatsächlichen Rahmenbedingungen für das Sammeln der gemäß § 20 Abs. 2 Satz 2, § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG erforderlichen Unterstützungsunterschriften darstellen, die zu einer Verschärfung des Eingriffs in ihr Recht auf Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG geführt haben. 48 aa) Die Antragstellerin zu I. beschränkt sich insoweit – abgesehen von dem Hinweis auf die Beschlüsse der Videoschaltkonferenz der Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der Länder vom 5. Januar 2021 – im Wesentlichen darauf, Ausführungen aus dem Urteil des Verfassungsgerichtshofs für das Land Baden-Württemberg vom 9. November 2020 - 1 GR 101/20 - wörtlich wiederzugeben und zu behaupten, die zitierten Feststellungen seien auf die bevorstehende Bundestagswahl übertragbar. Sie unterzieht sich nicht der Mühe, die Pandemie-Verordnungen der einzelnen Länder und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Sammlung von Unterstützungsunterschriften darzulegen und einander gegenüberzustellen. Dass diese Regelungen auch bundesweit zu erheblichen Einschränkungen der Möglichkeit der Kontaktaufnahme und einer grundlegenden Veränderung der politischen Kommunikation im öffentlichen Raum geführt haben, liegt jedoch auf der Hand. Entsprechend den Feststellungen des Verfassungsgerichtshofs für das Land Baden-Württemberg ist offenkundig, dass die Beibringung der Unterstützungsunterschriften unter erheblich erschwerten Bedingungen stattfinden muss, da die herkömmliche Art des Sammelns von Unterschriften im öffentlichen Raum (direkte Ansprache, Infostände, Versammlungen) nur deutlich weniger effizient durchgeführt werden kann (vgl. VerfGH BW, Urteil vom 9. November 2020 - 1 GR 101/20 -, juris, Rn. 59 ff.). Die in der Vergangenheit vorrangig eingesetzten Möglichkeiten des persönlichen Kontakts und der spontanen Gesprächsaufnahme auf der Straße, auf öffentlichen Plätzen oder bei Veranstaltungen mit dem Ziel, Personen zur Abgabe von Unterstützungserklärungen zu gewinnen, sind der Antragstellerin zu I. in erheblich geringerem Maße eröffnet als unter normalen Umständen. Auch ist es nicht fernliegend, dass aus Angst vor einer Infektion eine geringere Zahl an Parteimitgliedern für das Sammeln von Unterschriften im öffentlichen Raum zur Verfügung steht (vgl. VerfGH BW, Urteil vom 9. November 2020 - 1 GR 101/20 -, juris, Rn. 62). Deshalb reicht der Sachvortrag der Antragstellerin zu I. zur Begründung ihrer Behauptung aus, die fristgemäße Sammlung der für eine Teilnahme an der Bundestagswahl 2021 erforderlichen Unterstützungsunterschriften sei aufgrund der pandemiebedingten Kontaktbeschränkungen deutlich erschwert. 49 bb) Gleiches gilt im Ergebnis auch für die Antragstellerin zu II. Auch sie legt hinreichend dar, dass klassische Maßnahmen zur Einwerbung von Unterstützungsunterschriften nur eingeschränkt möglich seien, zahlreiche Kommunen keine Infostände genehmigten und insbesondere Abstandsgebote und Maskenpflicht eine ernsthafte sachpolitische Kommunikation und das individuelle Einsammeln von Unterschriften erschwerten. 50 d) Soweit die Antragstellerinnen aus der Veränderung der tatsächlichen Rahmenbedingungen für die Beibringung von Unterstützungsunterschriften eine Verpflichtung ableiten, die Anwendbarkeit von § 20 Abs. 2 Satz 2, § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG nicht nur zu überprüfen (aa), sondern bis zum 31. Dezember 2021 auszusetzen (bb) oder zumindest die Höhe der Unterschriftenquoren für die kommende Bundestagswahl abzusenken (cc), und geltend machen, dass der Antragsgegner sie durch die Unterlassung dieser konkreten Maßnahmen in ihrem Recht auf Chancengleichheit gemäß Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG verletzt habe, genügen ihre Darlegungen den Begründungsanforderungen gemäß § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG jedoch nicht. 51 aa) Zwar stellen die pandemiebedingten Kontaktbeschränkungen und die damit verbundene weitgehende Veränderung der politischen Kommunikation im öffentlichen Raum eine wesentliche Veränderung der tatsächlichen Ausgangslage dar, die der Gesetzgeber beim Erlass der Regelungen zur Beibringung von Unterstützungsunterschriften in § 20 Abs. 2 Satz 2, § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG zugrunde gelegt hat. Der Gesetzgeber ist daher gehalten zu prüfen (vgl. BVerfGE 146, 327 <353 Rn. 65> m.w.N.), ob eine unveränderte Beibehaltung der Unterschriftenquoren zum Nachweis der Ernsthaftigkeit der Wahlteilnahme einer nicht in den Parlamenten vertretenen Partei weiterhin erforderlich ist oder ob deren Wahlteilnahme hierdurch übermäßig erschwert wird (vgl. BVerfGE 6, 84 <98>; 41, 399 <421>; 111, 289 <303>). 52 bb) Daraus folgt indes nicht ohne Weiteres, dass der Antragsgegner auch verpflichtet ist, bei der Bundestagswahl 2021 die Anwendbarkeit von § 20 Abs. 2 Satz 2, § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG auszusetzen. Eine dahingehende Verengung des dem Antragsgegner gemäß Art. 38 Abs. 3 GG eingeräumten Gestaltungsspielraums lässt sich dem Vortrag der Antragstellerinnen nicht hinreichend entnehmen. 53 (1) Soweit sich die Antragstellerin zu I. bereits dem Grunde nach gegen das Erfordernis von Unterstützungsunterschriften als Voraussetzung der Wahlteilnahme von nicht im Parlament vertretenen Parteien wendet, setzt sie sich – ungeachtet des Bedenkens, dass sie mit diesem Vorbringen wegen fehlender Beachtung der Antragsfrist gemäß § 64 Abs. 3 BVerfGG ausgeschlossen sein dürfte – nicht hinreichend mit der vorstehend dargestellten (B. I. 2. b) bb) Rn. 39 ff.) ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Unterschriftenquoren auseinander. Es ist nicht ersichtlich, dass die vom Bundesverfassungsgericht ausgeführten Gesichtspunkte der Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes, der Vermeidung der Stimmabgabe zugunsten aussichtsloser Wahlvorschläge und des daher gebotenen Nachweises der Ernsthaftigkeit der Wahlteilnahme unter den Bedingungen der Pandemie ihre grundsätzliche Berechtigung verloren haben könnten. Es hätte daher von der Antragstellerin zu I. dargelegt werden müssen, aus welchen Gründen die genannten Gemeinwohlbelange entweder von vornherein nicht geeignet sind, das Erfordernis von Unterstützungsunterschriften als Voraussetzung der Wahlteilnahme von nicht in den Parlamenten vertretenen Parteien verfassungsrechtlich zu rechtfertigen, oder warum unter Pandemie-Bedingungen diese Rechtfertigung bereits dem Grunde nach dauerhaft entfallen ist. 54 (2) Nichts Anderes ergibt sich, soweit die Antragstellerinnen geltend machen, dass der Antragsgegner verpflichtet sei, die Anwendbarkeit von § 20 Abs. 2 Satz 2, § 27 Abs. 1 Satz 2 GG jedenfalls bei der kommenden Bundestagswahl beziehungsweise bis zum 31. Dezember 2021 auszusetzen. Zwar schildern sie die besonderen Schwierigkeiten, die sich beim Sammeln der erforderlichen Unterstützungsunterschriften aufgrund der pandemiebedingten Kontakteinschränkungen ergeben. Dass es vor diesem Hintergrund verfassungsrechtlich geboten ist, bei der bevorstehenden Bundestagswahl auf das Erfordernis der Beibringung von Unterschriften vollständig zu verzichten, ergibt sich damit aber noch nicht und wird von den Antragstellerinnen auch nicht nachvollziehbar dargelegt. Auch insoweit hätte es einer Begründung bedurft, warum die vom Bundesverfassungsgericht zur Rechtfertigung der Unterschriftenquoren angeführten Gründe unter den Bedingungen der Pandemie bei der Bundestagswahl am 26. September 2021 gänzlich zurückzutreten haben. 55 cc) Schließlich genügen die Ausführungen der Antragstellerinnen nicht, um zumindest die Möglichkeit einer Verengung des Gestaltungsspielraums des Antragsgegners auf eine Verpflichtung zur Absenkung der Zahl der gemäß § 20 Abs. 2 Satz 2, § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG für eine Teilnahme an der Bundestagswahl erforderlichen Unterstützungsunterschriften zu begründen. Die Antragstellerinnen legen weder ausreichend dar, dass der Antragsgegner aufgrund der pandemiebedingten Veränderungen der Rahmenbedingungen politischer Kommunikation in der Öffentlichkeit dem Grunde nach zu einer Anpassung der Regelungen zur Wahlteilnahme nicht im Parlament vertretener Parteien verpflichtet ist (1.), noch setzen sie sich für diesen Fall mit der Verdichtung des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums auf eine Absenkung der Unterschriftenquoren hinreichend auseinander (2.). Der Hinweis auf die Beschlüsse des Verfassungsgerichtshofs des Landes Berlin vom 17. März 2021 - VerfGH 4/21; VerfGH 20/21, 20A/21 - gleicht diese Substantiierungsmängel nicht aus (3.). 56 (1) Den Ausführungen der Antragstellerinnen kann nicht in einer den Begründungsanforderungen gemäß § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG genügenden Weise entnommen werden, dass aufgrund der pandemiebedingten Erschwerung des Sammelns von Unterstützungsunterschriften eine verfassungsrechtliche Pflicht des Antragsgegners besteht, die Regelungen in § 20 Abs. 2 Satz 2, § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG zu ändern. Es fehlt insoweit an einer ausreichenden Aufarbeitung der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zur Zulässigkeit und den Grenzen wahlrechtlicher Unterschriftenquoren (a) sowie an einer das Antragsbegehren begründenden Übertragung dieser Maßgaben auf den vorliegenden Fall (b). 57 (a) Mit den in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelten Maßstäben für die verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit von Unterschriftenquoren für parlamentarisch nicht vertretene Parteien setzen sich die Antragstellerinnen nicht substantiiert auseinander. Die Antragstellerin zu I. beschränkt sich ohne nähere Begründung auf den Hinweis, dass die verfassungsgerichtliche Bewertung der Zulässigkeit von Unterschriftenquoren kritisch gesehen werde. Die Antragstellerin zu II. trägt lediglich vor, dass eine vorgezogene Neuwahl mit der jetzigen Situation nicht vergleichbar sei, da es sich um einen Fall handele, der ausdrücklich im Grundgesetz vorgesehen sei. Eine substantiierte Infragestellung der in der bisherigen verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung entwickelten Maßstäbe zur Zulässigkeit von Unterschriftenquoren ergibt sich aus diesen Ausführungen nicht. 58 (b) Es fehlt bereits an einer substantiierten Darlegung, dass der Antragsgegner aufgrund der pandemiebedingten Veränderung der Rahmenbedingungen politischer Kommunikation in der Öffentlichkeit überhaupt zur Anpassung der Regelungen zur Wahlteilnahme von nicht in den Parlamenten vertretenen Parteien verpflichtet ist. 59 (aa) Angesichts der bisherigen Rechtsprechung des Gerichts, wonach die Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes und das daraus sich ergebende Erfordernis des Nachweises der Ernsthaftigkeit der Wahlteilnahme unter normalen Umständen Unterschriftenquoren bis zu 0,25 % der Wahlberechtigten zu rechtfertigen vermögen, bleibt die gesetzliche Regelung in § 20 Abs. 2 Satz 2, § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG deutlich hinter dieser Obergrenze zurück. Gemäß § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG bedürfen Landeslisten lediglich der Unterstützung von 1 vom Tausend, höchstens von 2.000 der Wahlberechtigten des jeweiligen Landes bei der letzten Bundestagswahl. Auch § 20 Abs. 2 Satz 2 BWahlG ist mit dem Erfordernis der Unterstützung durch mindestens 200 Wahlberechtigte des Wahlkreises an dieser Größenordnung orientiert, da sich die durchschnittliche Zahl der Wahlberechtigten pro Bundestagswahlkreis auf 206.000 beläuft (vgl. Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste, Wahlkreise im internationalen Vergleich - WD 1 - 3000 - 019/19 - vom 9. September 2019, S. 7) und gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 3 BWahlG die Bevölkerungszahl eines Wahlkreises nicht um mehr als 15 vom Hundert von der durchschnittlichen Bevölkerungszahl der Wahlkreise abweichen soll. Damit hätte der Gesetzgeber den Gestaltungsspielraum, der ihm von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts für die Festsetzung der Höhe der Unterschriftenquoren unter normalen Umständen eingeräumt wird, bei weitem nicht ausgeschöpft. Folglich kann nicht davon ausgegangen werden, dass bei einer Erschwerung der Beibringung der erforderlichen Unterstützungsunterschriften die Beibehaltung der gesetzlichen Quoren die Grenze des verfassungsrechtlich Zulässigen ohne Weiteres überschreitet. Vielmehr wäre es erforderlich gewesen, nachvollziehbar zu begründen, dass aufgrund der pandemiebedingten Veränderungen der Rahmenbedingungen für das Sammeln von Unterstützungsunterschriften die Wahlteilnahme der nicht im Parlament vertretenen Parteien praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert wird und dass daher der Antragsgegner von Verfassungs wegen zur Änderung der bestehenden gesetzlichen Regelungen verpflichtet ist. 60 (bb) Das kann dem Vortrag der Antragstellerinnen nicht in ausreichendem Maße entnommen werden. Sie beschränken sich insoweit im Wesentlichen auf die Behauptung, aufgrund der angeordneten Kontaktverbote und -beschränkungen sei die Beibringung der erforderlichen Unterschriften „massiv erschwert, wenn nicht gar im Einzelfall unmöglich“. 61 (cc) Dies ist trotz der erkennbar höheren Schwierigkeiten für das Einsammeln von Unterstützungsunterschriften im öffentlichen Raum nicht ohne Weiteres plausibel. So trägt etwa die Antragstellerin zu II. vor, sie verfüge in Bayern über ca. 5.000 Mitglieder. Warum sie angesichts dessen nicht in der Lage sein sollte, die gesetzlichen Unterschriftenquoren zu erfüllen, erschließt sich nicht. Daher hätten die Antragstellerinnen nachvollziehbar erläutern müssen, warum es ihnen trotz der Orientierung an lediglich einem Tausendstel der Wahlberechtigten in § 20 Abs. 2 Satz 2, § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG aufgrund der pandemiebedingten Kontaktbeschränkungen nahezu unmöglich sein soll, die erforderliche Zahl an Unterstützungsunterschriften beizubringen. Zugleich wäre darzulegen gewesen, ob bei einer deutlichen Absenkung dieses Quorums das Ziel, durch die Vorlage der Unterschriften den Nachweis der Ernsthaftigkeit der Wahlteilnahme zu führen, noch als erreichbar angesehen werden könnte. Auch dazu verhalten die Antragstellerinnen sich nicht. 62 (dd) In diesem Zusammenhang fehlt es ferner an einer Auseinandersetzung mit dem zur Beibringung der Unterstützungsunterschriften zur Verfügung stehenden Zeitraum. Da die Durchführung der Aufstellungsversammlungen und die Sammlung der Unterstützungsunterschriften für die Bundestagswahl 2021 spätestens mit Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes (BGBl I 2020 S. 1409; s.o. A. I. 4. Rn. 5) ab dem 30. Juni 2020 möglich waren und Wahlvorschläge gemäß § 19 BWahlG spätestens am 69. Tag vor der Bundestagswahl einzureichen sind, ergibt sich für die Beibringung der erforderlichen Unterschriften ein Zeitraum von mehr als einem Jahr. Da aber die Anforderungen an die Erfüllung des Unterschriftenerfordernisses nicht unabhängig von dem Zeitraum beurteilt werden können, der zur Beibringung der Unterstützungsunterschriften zur Verfügung steht, hätten die Antragstellerinnen sich dazu verhalten müssen, inwieweit sich die Beibehaltung der Unterstützungsquoren trotz des verfügbaren Zeitrahmens aufgrund der pandemiebedingten Veränderung der Rahmenbedingungen politischer Kommunikation als eine unzumutbare Erschwerung ihrer Wahlteilnahme darstellt. 63 (ee) Etwas Anderes ergibt sich auch nicht aus den Verweisen der Antragstellerin zu I. auf die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs für das Land Baden-Württemberg vom 9. November 2020 und auf die Anpassung kommunal- und landtagswahlrechtlicher Quorenbestimmungen in einzelnen Ländern für in den Jahren 2020 und 2021 stattfindende Wahlen. Insoweit fehlt es bereits an einer Darlegung der Vergleichbarkeit der in Bezug genommenen Regelungen mit § 20 Abs. 2 Satz 2, § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG. So lag der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs für das Land Baden-Württemberg zugrunde, dass gemäß § 24 Abs. 2 Satz 2 LWG jeder Wahlvorschlag der Unterstützungsunterschrift von mindestens 150 Wahlberechtigten bedurfte. Bei einer durchschnittlichen Größe der Landtagswahlkreise von 109.764 Personen entsprach dies einem durchschnittlichen Anteil von 0,137 % der Wahlberechtigten (vgl. VerfGH BW, Urteil vom 9. November 2020 - 1 GR 101/20 -, juris, Rn. 5). Im kleinsten Wahlkreis betrug der Anteil sogar 0,17 % der Wahlberechtigten und lag damit deutlich höher als bei der Bundestagswahl gemäß § 20 Abs. 2 Satz 2, § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG. Hinzu kommt, dass nach Auffassung des Verfassungsgerichtshofs für das Land Baden-Württemberg der Zeitraum, der für die Sammlung der Unterstützungsunterschriften zur Verfügung stand, verkürzt war, da erst ab Mitte Mai 2020 mit der Durchführung von Aufstellungsversammlungen für die Landtagswahl am 14. März 2021 gerechnet werden konnte (vgl. VerfGH BW, Urteil vom 9. November 2020 - 1 GR 101/20 -, juris, Rn. 67). Schließlich setzt sich die Antragstellerin zu I. nicht damit auseinander, dass es auf Ebene des Bundeswahlrechts im Gegensatz zum Landeswahlrecht in Baden-Württemberg ein Zwei-Stimmen-System gibt, welches Auswirkungen auf den Grad der Beeinträchtigung durch ein Quorum hat (vgl. diesbezüglich zum Zwei-Stimmen-Landtagswahlrecht in Rheinland-Pfalz und Thüringen VerfGH BW, Urteil vom 9. November 2020 - 1 GR 101/20 -, juris, Rn. 69). Diese Unterschiede lässt die Antragstellerin zu I. außer Betracht, wenn sie behauptet, die Ausführungen des Verfassungsgerichtshofs für das Land Baden-Württemberg seien auf die Bundestagswahl übertragbar. Auch soweit sie auf die Anpassung von Unterschriftenquoren in einzelnen Ländern verweist, fehlt es an einer Darlegung der Höhe der jeweils geltenden Quoren und einer Berücksichtigung der Zeit, die für die Sammlung der erforderlichen Unterschriften in diesen Ländern zur Verfügung stand beziehungsweise steht. Die Verweise der Antragstellerin zu I. genügen daher nicht, um substantiiert zu begründen, dass die Beibehaltung der Unterschriftenquoren gemäß § 20 Abs. 2 Satz 2, § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG unter den gegenwärtigen Pandemie-Bedingungen zu einer übermäßigen Belastung der betroffenen Wahlbewerber führt. 64 (ff) Vor diesem Hintergrund kann dahinstehen, ob die nicht näher erläuterten Hinweise der Antragstellerinnen auf eine unzureichende Kompensation klassischer Möglichkeiten des Einwerbens von Unterstützungsunterschriften durch neue digitale Formate sowie auf einen erhöhten Organisations- und Kostenaufwand bei einem Rückgriff auf alternative Möglichkeiten der Ansprache potentieller Unterstützer zutreffen. Diese Hinweise vermögen jedenfalls für sich genommen die Behauptung einer unzumutbaren Erschwerung der Wahlteilnahme für die Antragstellerinnen bei einer unveränderten Fortgeltung der bestehenden Unterschriftenquoren und einer sich daraus ergebenden Handlungspflicht des Antragsgegners nicht zu tragen. 65 (2) Selbst wenn davon auszugehen wäre, dass aufgrund der pandemiebedingten Einschränkungen der politischen Kommunikation im öffentlichen Raum dem Grunde nach eine Pflicht des Gesetzgebers bestünde, die gesetzlichen Vorgaben für die Zulassung nicht in den Parlamenten vertretener Parteien zur Bundestagswahl anzupassen, wäre eine Verengung des insoweit bestehenden Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers gerade auf eine Pflicht zur Absenkung der Unterschriftenquoren gemäß § 20 Abs. 2 Satz 2, § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG gesondert zu begründen. Auch insoweit genügen die Ausführungen der Antragstellerinnen den gesetzlichen Begründungsanforderungen jedoch nicht. 66 (a) Eine Auseinandersetzung mit Inhalt und Reichweite des dem Wahlgesetzgeber durch Art. 38 Abs. 3 GG zugewiesenen Regelungsauftrags findet seitens der Antragstellerinnen nicht statt. Sie behaupten schlicht, dass der Gesetzgeber unter den Bedingungen der Pandemie zur Anpassung von § 20 Abs. 2 Satz 2, § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG durch eine Absenkung der Zahl der beizubringenden Unterstützungsunterschriften verpflichtet sei. Dass der Gestaltungsauftrag des Gesetzgebers gemäß Art. 38 Abs. 3 GG trotz der pandemiebedingten Änderungen der tatsächlichen Ausgangslage fortbesteht und er sich auch auf die Frage erstreckt, ob und wie auf die pandemiebedingten Kontaktbeschränkungen und die daraus resultierenden Veränderungen der Möglichkeiten zum Sammeln von Unterstützungsunterschriften zu reagieren ist, wird nicht erörtert. 67 (b) Hierzu hätte für die Antragstellerin zu I. bereits deshalb Veranlassung bestanden, weil sie in ihrer Antragsschrift auch diejenigen Passagen des Urteils des Verfassungsgerichtshofs für das Land Baden-Württemberg vom 9. November 2020 zitiert, in denen darauf hingewiesen wird, dass es Aufgabe des Gesetzgebers sei, eine Lösung zu finden, wie der eingetretenen Verschärfung der Ungleichbehandlung zum Nachteil politischer Parteien ohne parlamentarische Präsenz durch die Notwendigkeit der Beibringung von Unterstützungsunterschriften begegnet werden könne, und dass dabei eine Herabsetzung der Zahl der notwendigen Unterschriften nur eine denkbare Lösung darstelle (vgl. VerfGH BW, Urteil vom 9. November 2020 - 1 GR 101/20 -, juris, Rn. 71 f.). Gleichwohl geht die Antragstellerin zu I. ohne nähere Begründung davon aus, dass der von ihr unterstellten Pflicht zur Anpassung der Regelungen für die Wahlteilnahme parlamentarisch nicht vertretener Parteien durch eine Herabsetzung der Unterschriftenquoren Rechnung zu tragen sei. Sie verweist insoweit lediglich auf Änderungen einzelner Landeswahlgesetze. Sonstige Maßnahmen zur Erfüllung der behaupteten gesetzgeberischen Handlungspflicht, wie etwa ein Verzicht auf das Erfordernis der Eigenhändigkeit der Unterschrift oder die Schaffung der Möglichkeit zur Abgabe digitaler Erklärungen, werden nicht erörtert. Ungeachtet seiner neutralen Formulierung zielt ihr Antrag ausweislich seiner Begründung auf eine Absenkung der Zahl der gemäß § 20 Abs. 2 Satz 2, § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG beizubringenden Unterstützungsunterschriften, ohne dass dargelegt wird, dass der Antragsgegner allein dadurch der behaupteten Pflicht zur Anpassung der Wahlvorschlagsregelungen an die pandemiebedingten Veränderungen der Rahmenbedingungen politischer Kommunikation Rechnung tragen könnte. 68 (c) Auch aus den Ausführungen der Antragstellerin zu II. erschließt sich nicht, warum selbst für den Fall einer verfassungsrechtlichen Pflicht zur Anpassung von § 20 Abs. 2 Satz 2, § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG dieser – abgesehen von der befristeten Außervollzugsetzung der Regelungen – nur durch eine Absenkung der Unterschriftenquoren Rechnung getragen werden könnte. Eine dahingehende Verengung des Handlungsspielraums des Antragsgegners wird zwar geltend gemacht, aber nicht begründet. Eine Befassung mit denkbaren Handlungsalternativen für den Antragsgegner unterbleibt. 69 (3) Der nachträgliche Hinweis der Antragstellerin zu I. auf die Beschlüsse des Verfassungsgerichtshofs des Landes Berlin vom 17. März 2021 - VerfGH 4/21; VerfGH 20/21, 20 A/21 - vermag die dargestellten Begründungsdefizite nicht auszugleichen. Diese Beschlüsse beziehen sich nicht auf die Regelungen zur Beibringung von Unterstützungsunterschriften für die Bundestagswahl, sondern für die ebenfalls am 26. September 2021 stattfindenden Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksverordnetenversammlungen in Berlin. Einer schlichten Übertragung der in den Beschlüssen zum Berliner Landeswahlrecht getroffenen Feststellungen auf § 20 Abs. 2 Satz 2, § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG steht bereits entgegen, dass mit der Sammlung der Unterstützungsunterschriften für die Berliner Wahlen erst ab dem 27. September 2020 begonnen werden konnte (vgl. VerfGH Berlin, Beschlüsse vom 17. März 2021 - VerfGH 4/21 -, S. 10; - VerfGH 20/21, 20 A/21 -, S. 9), während dies mit Blick auf die Bundestagswahl bereits ab dem 30. Juni 2020 der Fall war (siehe oben A. I. 4. Rn. 5). Hinzu kommt, dass sich die Beschlüsse des Verfassungsgerichtshofs des Landes Berlin nicht dazu verhalten, dass der Gesetzgeber mit der Orientierung an 0,1 % der Wahlberechtigten den ihm unter normalen Umständen zur Verfügung stehenden Gestaltungsspielraum zur Bestimmung der Höhe der Unterschriftenquoren nicht ausgeschöpft haben dürfte, so dass aus der pandemiebedingten Erschwerung der Sammlung von Unterstützungsunterschriften nicht ohne Weiteres auf die Unzumutbarkeit des Festhaltens an diesen Quoren für nicht in den Parlamenten vertretene Parteien geschlossen werden kann. Auch fehlt in den Beschlüssen des Verfassungsgerichtshofs des Landes Berlin eine nähere Begründung, warum bei einer Reduzierung der Unterschriftenquoren auf maximal 20 bis 30 % der vor der Pandemie geltenden Anzahl an beizubringenden Unterstützungsunterschriften (vgl. VerfGH Berlin, Beschlüsse vom 17. März 2021, - VerfGH 4/21 -, S. 12; - VerfGH 20/21, 20 A/21 -, S. 10 f.) der Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes und der Beschränkung der Wahlteilnahme auf ernsthafte Wahlvorschläge noch hinreichend Rechnung getragen werden kann. Schließlich wird nicht erörtert, inwiefern der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers selbst für den Fall, dass eine Verpflichtung zur Anpassung der Regelungen für die Wahlteilnahme der nicht in den Parlamenten vertretenen Parteien dem Grunde nach bestehen sollte, gerade auf eine Absenkung der Unterschriftenquoren – noch dazu im behaupteten Umfang –verengt sein könnte. II. 70 Angesichts der fehlenden Antragsbefugnis der Antragstellerinnen können weitere Bedenken gegen die Zulässigkeit der Anträge dahinstehen. Fraglich erscheint insbesondere, ob die Antragstellerinnen angesichts des kontradiktorischen Charakters des Organstreits (vgl. BVerfGE 104, 151 <193 f.>; 118, 244 <257>; 126, 55 <67 f.>; 140, 1 <21 f. Rn. 58>; 143, 1 <8 Rn. 29>; 147, 31 <37 Rn. 17 f.>; 151, 191 <198 f. Rn. 20>; 152, 35 <45 f. Rn. 27>) vor dessen Einleitung der Obliegenheit Rechnung zu tragen hatten, den Antragsgegner mit ihrem Begehren zu konfrontieren, um ihm Gelegenheit zu geben, die behauptete Verletzung der geltend gemachten Rechte zu überprüfen und gegebenenfalls darauf zu reagieren (vgl. BVerfGE 147, 31 <37 f. Rn. 19>; 152, 35 <47 Rn. 31>). Insbesondere in Fällen der Geltendmachung eines gesetzgeberischen Unterlassens als Verletzung von organschaftlichen Rechten wird nicht ohne Weiteres unterstellt werden können, dass sich der Antragsgegner der behaupteten Handlungspflichten überhaupt bewusst ist und es an seiner Bereitschaft fehlt, diesen Rechnung zu tragen. Ob deshalb den Antragstellerinnen das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis fehlt, weil sie den Antragsgegner nicht zuvor mit der behaupteten Verletzung des Rechts auf Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG befasst haben, bedarf jedoch nach dem Vorstehenden keiner Entscheidung. C. 71 Die Auslagenentscheidung beruht auf § 34a Abs. 3 BVerfGG. Über die Auslagenerstattung, auch im Verfahren nach § 32 BVerfGG, ist gemäß § 34a Abs. 3 BVerfGG nach Billigkeitsgesichtspunkten zu entscheiden (vgl. BVerfGE 82, 310 <315>; 89, 91 <97>). Hier sprechen keine Billigkeitsgründe für die Erstattung von Auslagen. König Huber Hermanns Müller Kessal-Wulf Maidowski Langenfeld Wallrabenstein
bundesverfassungsgericht
20-2021
5. März 2021
Strafrechtliche Vermögensabschöpfung bei bereits vor Inkrafttreten des Reformgesetzes verjährten Erwerbstaten mit dem Grundgesetz vereinbar Pressemitteilung Nr. 20/2021 vom 5. März 2021 Beschluss vom 10. Februar 20212 BvL 8/19 Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass Art. 316h Satz 1 EGStGB in der Fassung des Gesetzes zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung vom 13. April 2017 mit dem Grundgesetz vereinbar ist, auch soweit er die Neuregelungen in Fällen für anwendbar erklärt, in denen bereits vor dem Inkrafttreten des Reformgesetzes Verfolgungsverjährung eingetreten war. Der Bundesgerichtshof hatte dem Bundesverfassungsgericht die insoweit maßgebliche Frage der Vereinbarkeit dieser Übergangsvorschrift mit dem Grundgesetz bei einem solchen Sachverhalt vorgelegt. Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat zur Begründung ausgeführt, dass Art. 316h Satz 1 EGStGB bei derartigen Sachverhalten zwar eine Rückbewirkung von Rechtsfolgen („echte“ Rückwirkung) darstellt, diese aber ausnahmsweise wegen überragender Belange des Gemeinwohls zulässig und mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Sachverhalt: Nach der Rechtslage vor Inkrafttreten des Reformgesetzes war die Abschöpfung von Taterträgen (als „Verfall“ bezeichnet) bei Verfolgungsverjährung der zugrundeliegenden Straftat - mit Ausnahme des erweiterten Verfalls gemäß § 73 StGB a. F. - ausgeschlossen. Mit Inkrafttreten des Gesetzes zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung wurde in § 76a Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit § 78 Abs. 1 Satz 2 StGB ausdrücklich die Zulässigkeit der selbständigen Einziehung von Taterträgen auch für den Fall festgeschrieben, dass hinsichtlich der zugrundeliegenden Tat Verfolgungsverjährung eingetreten ist. Die selbständige Einziehung von Taterträgen ist nunmehr von der Verjährung der Erwerbstat entkoppelt und gemäß § 76b Abs. 1 Satz 1 StGB einer eigenständigen Verjährung unterworfen. Art. 316h Satz 1 EGStGB sieht vor, dass die selbständige Einziehung von Taterträgen auch dann angeordnet werden kann, wenn nach dem Inkrafttreten der Neuregelung zum 1. Juli 2017 über Taten entschieden wird, die vor diesem Zeitpunkt begangen wurden, und erfasst auch Fälle, bei denen die Erwerbstat bereits vor dem 1. Juli 2017 verjährt war. Das der Vorlage zugrundeliegende fachgerichtliche Verfahren betrifft die selbständige Anordnung der Einziehung des Wertes von Taterträgen gegenüber zwei Unternehmen. Im Oktober 2017 hatte das Landgericht zwei Angeklagte von Vorwürfen des Verstoßes gegen das Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz wegen absoluter Verjährung freigesprochen. Gegen die beiden von den Angeklagten geleiteten nebenbeteiligten Unternehmen hatte es die Einziehung des Wertes von Taterträgen nach Art. 316h Satz 1 EGStGB in Verbindung mit § 73 Abs. 1, § 73b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 73c Satz 1, § 76a Abs. 2 Satz 1 StGB in Höhe von rund 10 Millionen und rund 72.000 Euro angeordnet. Das Landgericht führte zur Begründung aus, dass die Strafverfolgungsverjährung der Anordnung der selbständigen Einziehung nach der geänderten Rechtslage nicht entgegenstehe. Der Bundesgerichtshof hat das Revisionsverfahren, soweit es die Einziehung des Wertes von Tat- erträgen betrifft, ausgesetzt, weil nach alter Rechtslage die Abschöpfung von Taterträgen aufgrund der eingetretenen Verfolgungsverjährung der zugrundeliegenden Taten nicht mehr möglich gewesen wäre. Nach seiner Überzeugung verstößt Art. 316h Satz 1 EGStGB insoweit gegen das allgemeine rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot. Wesentliche Erwägungen des Senats: Art. 316h Satz 1 EGStGB ist mit dem Grundgesetz vereinbar, auch soweit er die Neuregelungen des Rechts der Vermögensabschöpfung in Fällen für anwendbar erklärt, in denen hinsichtlich der rechtswidrigen Taten bereits vor dem Inkrafttreten des Reformgesetzes Verfolgungsverjährung eingetreten war. 1. Die Einziehung von Taterträgen oder deren Wert ist keine Strafe im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG. a) Der Anwendungsbereich von Art. 103 Abs. 2 GG ist auf staatliche Maßnahmen beschränkt, die eine missbilligende hoheitliche Reaktion auf ein rechtswidriges, schuldhaftes Verhalten darstellen und wegen dieses Verhaltens ein Übel verhängen, das dem Schuldausgleich dient. Andere staatliche Eingriffsmaßnahmen werden von Art. 103 Abs. 2 GG nicht erfasst. Die Garantie des Art. 103 Abs. 2 GG soll verhindern, dass der Staat ein Verhalten erst nachträglich hoheitlich missbilligt, es mit einer Sanktion belegt und dem Betroffenen den Vorwurf rechtswidrigen und schuldhaften Verhaltens macht. b) Die Vermögensabschöpfung, wie sie durch das Reformgesetz geregelt wurde, ist keine dem Schuldgrundsatz unterliegende Nebenstrafe, sondern eine Maßnahme (§ 11 Abs. 1 Nr. 8 StGB) eigener Art mit kondiktionsähnlichem Charakter. Bereits der Verfall nach früherer Rechtslage hatte keinen Straf- oder strafähnlichen Charakter. Der damalige Gesetzgeber wollte die Abschöpfung deliktisch erzielter Vermögensvorteile als gesonderte Rechtsfolge neben die Strafe setzen. Ziel des Verfalls war nicht die Zufügung eines Übels, sondern die Beseitigung eines Vorteils, dessen Verbleib den Täter zu weiteren Taten hätte verlocken können. Mit der jüngsten Reform wollte der Gesetzgeber den quasi-kondiktionellen Charakter der Vermögensabschöpfung nicht in Frage stellen. Seine Neuregelungen haben die Vermögensabschöpfung nicht derart verändert, dass nunmehr von einem Strafcharakter der vermögensabschöpfenden Maßnahmen auszugehen wäre. c) Die Qualifizierung der Vermögensabschöpfung als Maßnahme eigener Art und nicht als Strafe steht im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention. Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist die Vermögensabschöpfung nach dem Reformgesetz nicht als Strafe im Sinne des Art. 7 Abs. 1 EMRK anzusehen. 2. Art. 316h Satz 1 EGStGB ist mit den im Rechtsstaatsprinzip und in den Grundrechten verankerten Prinzipien der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes vereinbar. a) Die selbständige Einziehung von Taterträgen aus verjährten Erwerbstaten stellt eine Rückbewirkung von Rechtsfolgen („echte“ Rückwirkung) dar, soweit das neue Vermögensabschöpfungsrecht auf Sachverhalte anwendbar ist, in denen bei Inkrafttreten des Reformgesetzes bereits Verfolgungsverjährung eingetreten war. Grundsätzlich ist eine „echte“ Rückwirkung verfassungsrechtlich unzulässig. Eine Ausnahme ist anerkanntermaßen aber dann gegeben, wenn überragende Belange des Gemeinwohls, die dem Prinzip der Rechtssicherheit vorgehen, eine rückwirkende Beseitigung erfordern. In diesen Fällen muss der Vertrauensschutz zurücktreten. b) Die hier zu beurteilende „echte“ Rückwirkung ist durch solche überragenden Belange des Gemeinwohls gerechtfertigt. Der Gesetzgeber verfolgt mit der Anordnung in Art. 316h Satz 1 EGStGB das legitime Ziel, auch für verjährte Taten vermögensordnend zugunsten des Geschädigten einer Straftat einzugreifen und dem Täter den Ertrag seiner Taten – auch im Falle fehlender Strafverfolgung – nicht dauerhaft zu belassen. Dieses Ziel ist überragend wichtig. Durch die Vermögensabschöpfung soll sowohl dem Straftäter als auch der Rechtsgemeinschaft vor Augen geführt werden, dass eine strafrechtswidrige Vermögensmehrung von der Rechtsordnung nicht anerkannt wird und deshalb keinen Bestand haben kann. Die Entziehung solcher strafrechtswidrig erlangter Werte soll die Gerechtigkeit und Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung erweisen und so die Rechtstreue der Bevölkerung stärken. Demgegenüber steht die Vertrauensschutzposition der von der Einziehung von Taterträgen Betroffenen zurück. Die Bewertung eines bestimmten Verhaltens als Straftat ist die schärfste dem Gesetzgeber zur Verfügung stehende Form der Missbilligung menschlichen Verhaltens. Jede Strafnorm enthält somit ein mit staatlicher Autorität versehenes, sozial-ethisches Unwerturteil über die von ihr pönalisierte Handlungsweise. Daraus folgend wird dem Täter auch in vermögensrechtlicher Hinsicht der Schutz der staatlichen Rechtsordnung weitgehend vorenthalten. So ist gemäß § 134 BGB ein gegen ein gesetzliches Verbot verstoßendes Rechtsgeschäft grundsätzlich nichtig und kann über das Bereicherungsrecht (§§ 812 ff. BGB) rückabgewickelt werden. § 823 Abs. 2 BGB statuiert zudem bei Verstößen gegen individualschützende Strafgesetze einen umfassenden Schadensersatzanspruch des Geschädigten. Überdies lässt das Zivilrecht einen Eigentumserwerb zumindest im Bereich der Eigentumsdelikte kaum zu, da insbesondere der gutgläubige Erwerb durch Dritte gemäß § 935 BGB grundsätzlich ausgeschlossen ist. Soweit durch Täuschung oder Drohung auf den Geschädigten eingewirkt wurde, bestehen zudem weitgehende Anfechtungsmöglichkeiten (§ 123 BGB). Diese grundsätzliche gesetzgeberische Bewertung ändert sich durch den Eintritt der Verfolgungsverjährung hinsichtlich der Straftat nicht. Da der deliktische Erwerbsvorgang durch den Eintritt der Verfolgungsverjährung seitens der staatlich verfassten Gemeinschaft nicht nachträglich gebilligt wird, bleibt auch das auf diese Weise erworbene Vermögen weiterhin mit dem Makel deliktischer Herkunft behaftet. Die fortwährende Bemakelung von Vermögenswerten infolge strafrechtswidrigen Erwerbs stellt eine Ausprägung des allgemeinen Prinzips dar, dass das Vertrauen in den Fortbestand unredlich erworbener Rechte grundsätzlich nicht schutzwürdig ist. Nicht schutzwürdig ist in derartigen Fällen nicht nur der bereicherte Straftäter selbst, sondern auch der Drittbereicherte, soweit dieser nicht gutgläubig eigene Dispositionen im Vertrauen auf die Beständigkeit seines Vermögenserwerbs getroffen hat. Das Vertrauen von Personen, die deliktisch erlangte Vermögenswerte in kollusivem Zusammenwirken mit dem Straftäter, als dessen Rechtsnachfolger, als von ihm Vertretene oder sonst ohne eigene schutzwürdige Vertrauensbetätigung erworben haben, ist nicht stärker zu schützen als das des Straftäters selbst. § 73b Abs. 1 StGB stellt dabei sicher, dass von der Vermögensabschöpfung keine in diesem Sinne schützenswerten Dritten erfasst werden.
Leitsätze zum Beschluss des Zweiten Senats vom 10. Februar 2021 2 BvL 8/19 Die Vermögensabschöpfung nach dem Reformgesetz vom 13. April 2017 ist keine dem Schuldgrundsatz unterliegende Nebenstrafe, sondern eine Maßnahme eigener Art mit kondiktionsähnlichem Charakter (Fortführung von BVerfGE 110, 1 <13 ff.>). Die in Art. 316h Satz 1 EGStGB angeordnete Rückbewirkung von Rechtsfolgen („echte“ Rückwirkung) ist nicht an Art. 103 Abs. 2 GG, sondern an dem allgemeinen Rückwirkungsverbot zu messen. Sie ist hier ausnahmsweise zulässig. BUNDESVERFASSUNGSGERICHT - 2 BvL 8/19 - IM NAMEN DES VOLKES In dem Verfahren zur verfassungsrechtlichen Prüfung, ob Artikel 316h Satz 1 EGStGB mit den im Rechtsstaatsprinzip (Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes) und in den Grundrechten verankerten Prinzipien der Rechts-sicherheit und des Vertrauensschutzes unvereinbar ist, soweit er § 76a Absatz 2 Satz 1 StGB in Verbindung mit § 78 Absatz 1 Satz 2 StGB sowie § 76b Absatz 1 StGB jeweils in der Fassung des Gesetzes zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung vom 13. April 2017 (Bundesgesetzblatt I Seite 872) in Fällen für anwendbar erklärt, in denen hinsichtlich der rechtswidrigen Taten, aus denen der von der selbständigen Einziehung Betroffene etwas erlangt hat, bereits vor dem Inkrafttreten der Neuregelung am 1. Juli 2017 Verfolgungsverjährung (§ 78 Absatz 1 Satz 1 StGB) eingetreten war hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat - unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter Vizepräsidentin König, Huber, Hermanns, Müller, Kessal-Wulf, Maidowski, Langenfeld, Wallrabenstein am 10. Februar 2021 beschlossen: Artikel 316h Satz 1 des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch ist mit dem Grundgesetz vereinbar, soweit er § 76a Absatz 2 Satz 1 des Strafgesetzbuches in Verbindung mit § 78 Absatz 1 Satz 2 des Strafgesetzbuches sowie § 76b Absatz 1 des Strafgesetzbuches jeweils in der Fassung des Gesetzes zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung vom 13. April 2017 (Bundesgesetzblatt I Seite 872) in Fällen für anwendbar erklärt, in denen hinsichtlich der rechtswidrigen Taten, aus denen der von der selbständigen Einziehung Betroffene etwas erlangt hat, bereits vor dem Inkrafttreten der Neuregelung am 1. Juli 2017 Verfolgungsverjährung (§ 78 Absatz 1 Satz 1 des Strafgesetzbuches) eingetreten war. G r ü n d e : A. 1 Die Vorlage des Bundesgerichtshofs hat die Frage zum Gegenstand, ob Art. 316h Satz 1 EGStGB mit den im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) und in den Grundrechten verankerten Prinzipien der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes unvereinbar ist, soweit er § 76a Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit § 78 Abs. 1 Satz 2 sowie § 76b Abs. 1 StGB jeweils in der Fassung des Gesetzes zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung vom 13. April 2017 (BGBl I S. 872) in Fällen für anwendbar erklärt, in denen hinsichtlich der rechtswidrigen Taten, aus denen der von der selbständigen Einziehung Betroffene etwas erlangt hat, bereits vor dem Inkrafttreten der Neuregelung am 1. Juli 2017 Verfolgungsverjährung (§ 78 Abs. 1 Satz 1 StGB) eingetreten war. I. 2 1. Die vom Bundesgerichtshof zur Prüfung gestellte Bestimmung des Art. 316h Satz 1 EGStGB hat folgenden Wortlaut: Art. 316h Übergangsvorschrift zum Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung 1 Wird über die Anordnung der Einziehung des Tatertrages oder des Wertes des Tatertrages wegen einer Tat, die vor dem 1. Juli 2017 begangen worden ist, nach diesem Zeitpunkt entschieden, sind abweichend von § 2 Absatz 5 des Strafgesetzbuches die §§ 73 bis 73c, 75 Absatz 1 und 3 sowie die §§ 73d, 73e, 76, 76a, 76b und 78 Absatz 1 Satz 2 des Strafgesetzbuches in der Fassung des Gesetzes zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung vom 13. April 2017 (BGBl. I S. 872) anzuwenden. 2 Die Vorschriften des Gesetzes zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung vom 13. April 2017 (BGBl. I S. 872) sind nicht in Verfahren anzuwenden, in denen bis zum 1. Juli 2017 bereits eine Entscheidung über die Anordnung des Verfalls oder des Verfalls von Wertersatz ergangen ist. 3 Die in Art. 316h Satz 1 EGStGB in Bezug genommenen Vorschriften der §§ 76a, 76b und 78 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung vom 13. April 2017 (BGBl I S. 872) enthalten folgende Regelungen: § 76a Selbständige Einziehung (1) 1 Kann wegen der Straftat keine bestimmte Person verfolgt oder verurteilt werden, so ordnet das Gericht die Einziehung oder die Unbrauchbarmachung selbständig an, wenn die Voraussetzungen, unter denen die Maßnahme vorgeschrieben ist, im Übrigen vorliegen. 2 Ist sie zugelassen, so kann das Gericht die Einziehung unter den Voraussetzungen des Satzes 1 selbständig anordnen. 3 Die Einziehung wird nicht angeordnet, wenn Antrag, Ermächtigung oder Strafverlangen fehlen oder bereits rechtskräftig über sie entschieden worden ist. (2) 1 Unter den Voraussetzungen der §§ 73, 73b und 73c ist die selbständige Anordnung der Einziehung des Tatertrages und die selbständige Einziehung des Wertes des Tatertrages auch dann zulässig, wenn die Verfolgung der Straftat verjährt ist. (…) (4) 1 Ein aus einer rechtswidrigen Tat herrührender Gegenstand, der in einem Verfahren wegen des Verdachts einer in Satz 3 genannten Straftat sichergestellt worden ist, soll auch dann selbständig eingezogen werden, wenn der von der Sicherstellung Betroffene nicht wegen der Straftat verfolgt oder verurteilt werden kann. (…) § 76b Verjährung der Einziehung von Taterträgen und des Wertes von Taterträgen (1) 1 Die erweiterte und die selbständige Einziehung des Tatertrages oder des Wertes des Tatertrages nach den §§ 73a und 76a verjähren in 30 Jahren. 2 Die Verjährung beginnt mit der Beendigung der rechtswidrigen Tat, durch oder für die der Täter oder Teilnehmer oder der andere im Sinne des § 73b etwas erlangt hat. (…) § 78 Verjährungsfrist (1) 1 Die Verjährung schließt die Ahndung der Tat und die Anordnung von Maßnahmen (§ 11 Abs. 1 Nr. 8) aus. 2 § 76a Absatz 2 bleibt unberührt. (…) 4 2. Die selbständige Einziehung von Taterträgen ist dadurch gekennzeichnet, dass sie ohne Schuldspruch wegen der Tat(en) ergeht, durch die die einzuziehenden Erträge erlangt worden sind (Erwerbstat). 5 Sie ist in Fällen, in denen ein Schuldspruch ausbleibt, weil die zugrundeliegende Tat bereits verjährt ist, erstmals seit Inkrafttreten des Gesetzes zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung vom 13. April 2017 (BGBl I S. 872) grundsätzlich vorgesehen. Aufgrund der zu überprüfenden Norm des Art. 316h Satz 1 EGStGB ist sie auch hinsichtlich solcher Erwerbstaten möglich, bezüglich derer bereits bei Inkrafttreten der Neuregelung Verfolgungsverjährung eingetreten war. 6 a) Nach der Rechtslage vor Inkrafttreten des Reformgesetzes war die Abschöpfung von Taterträgen (als „Verfall“ bezeichnet) bei Verfolgungsverjährung der zugrundeliegenden Straftat regelmäßig ausgeschlossen. § 76a Abs. 1 StGB a.F. erlaubte eine selbständige Verfallsanordnung nur in den Fällen, in denen die rechtswidrige Tat aus tatsächlichen Gründen nicht mehr verfolgt werden konnte. Bestand das rechtliche Verfolgungshindernis der Verjährung, schied eine selbständige Verfallsanordnung aus. Mangels abweichender Sonderregelung galt § 78 Abs. 1 Satz 1 StGB, wonach die Verjährung der Tat grundsätzlich auch die Anordnung von Maßnahmen ausschließt. Zu diesen zählte gemäß § 11 Abs. 1 Nr. 8 StGB a.F. auch der Verfall. In Ausnahmefällen erlaubte § 76a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StGB a.F. lediglich die Sicherungseinziehung gefährlicher Tatprodukte, Tatmittel und bestimmter Schriften strafbaren Inhalts, nicht aber die Abschöpfung von Taterträgen. 7 Möglich war nach dem Willen des Gesetzgebers lediglich ein erweiterter Verfall gemäß § 73d StGB a.F. (vgl. zur Kritik an dieser Regelung Eser, in: Schönke/Schröder, StGB, 29. Aufl. 2014, § 73d Rn. 7; Heger, in: Lackner/Kühl, StGB, 28. Aufl. 2014, § 73d Rn. 11; Wallschläger, Die strafrechtlichen Verfallsvorschriften. Eine rechtssystematische, verfassungsrechtliche und kriminalpolitische Analyse, 2002, S. 173; den erweiterten Verfall trotz Verjährung billigend hingegen Rönnau, Die Vermögensabschöpfung in der Praxis, 2. Aufl. 2015, Rn. 15; Altenhain, in: Matt/Renzikowski, StGB, 1. Aufl. 2013, § 73d Rn. 4; vgl. zur Möglichkeit des erweiterten Verfalls bei nicht mehr verfolgbaren Herkunftstaten auch BVerfGE 110, 1 <25>). Danach konnten Erträge aus nicht im Einzelnen feststellbaren Erwerbstaten auch dann eingezogen werden, wenn hinsichtlich dieser Taten bereits Verjährung eingetreten war, während der Verfall im selbständigen Verfahren bei verjährten Herkunftstaten nicht möglich war (vgl. den Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität, BTDrucks 12/989, S. 24, unter Verweis auf BTDrucks 11/6623, S. 7). Eine Erweiterung des „einfachen“ Verfalls auf Erträge aus verjährten Taten war zwar bereits bei Schaffung des erweiterten Verfalls beabsichtigt gewesen (vgl. BTDrucks 12/989, S. 24, unter Verweis auf BTDrucks 11/6623, S. 7), wurde aber erst durch das Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung vom 13. April 2017 (BGBl I S. 872) eingeführt. 8 Der tatsächliche Anwendungsbereich der Sonderregelung zum erweiterten Verfall war indes gering (vgl. Rönnau, Die Vermögensabschöpfung in der Praxis, 2. Aufl. 2015, Rn. 401), denn dieser war gegenüber dem „einfachen“ Verfall subsidiär. Hinzu kam, dass der erweiterte Verfall gemäß § 73d StGB a.F. lediglich bei rechtswidrigen Anlasstaten zur Anwendung kam, bei denen die jeweilige Strafnorm auf § 73d StGB a.F. verwies. Zunächst waren dies banden- oder gewerbsmäßige Begehungsweisen von Geldfälschungs-, Eigentums-, Geldwäsche- und Betäubungsmitteldelikten sowie solche des Menschenhandels und des unerlaubten Glücksspiels (vgl. BGBl I 1992 S. 1302 <1303 ff.>); im Fortgang der Gesetzesreform wurde der Anwendungsbereich auf die banden- und gewerbsmäßige Begehung weiterer Straftaten ausgeweitet (vgl. BTDrucks 18/9525, S. 6 f.). 9 b) Diese Rechtslage erfuhr durch das Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung vom 13. April 2017 (BGBl I S. 872) eine grundlegende Änderung. 10 aa) Das Reformvorhaben hatte zum Ziel, das Recht der Vermögensabschöpfung zu vereinfachen und aus Sicht des Gesetzgebers nicht vertretbare gesetzliche Lücken zu schließen, um in weiterem Umfang strafrechtswidrig erlangte Vermögenswerte abschöpfen zu können (vgl. BTDrucks 18/9525, S. 1 f.; BTDrucks 18/11640, S. 1). Unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Charakter der Vermögensabschöpfung nach bisher geltendem Recht (BVerfGE 110, 1) sollten weiterhin strafrechtswidrige Vermögenslagen nicht geduldet werden, um keine Kriminalitätsanreize zu setzen und das Vertrauen der Bevölkerung in die Gerechtigkeit und die Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung nicht zu gefährden (vgl. BTDrucks 18/9525, S. 45). 11 (1) Nach alter Rechtslage unterlagen Vermögenswerte, soweit Verletzten Ansprüche aus einer Straftat erwachsen waren, nicht dem Verfall (§ 73 Abs. 1 Satz 2 StGB a.F.), sondern konnten nur vorläufig gesichert werden (§ 111i Abs. 3 StPO a.F.). Die Geschädigten waren sodann darauf verwiesen, ihre Ansprüche eigen-initiativ im Wege der Individualvollstreckung aus der gesicherten Vermögens-masse zu befriedigen. Blieb dies aus, konnte, um einen Rückfall der deliktisch erlangten Vermögenswerte an den Täter zu verhindern, in einem gesonderten Verfahren der sogenannte Auffangrechtserwerb des Staates angeordnet werden (§ 111i Abs. 5 und Abs. 6 StPO a.F.). Dieses komplizierte zweistufige System von Rückgewinnungshilfe und Auffangrechtserwerb des Staates wurde zugunsten eines in das Strafvollstreckungsverfahren verlagerten Entschädigungsverfahrens aufgegeben. Nach der nun geltenden Rechtslage hat eine Einziehung von Tat-erträgen auch dann zu erfolgen, wenn Ansprüche Verletzter bestehen. Die Einziehung ist gemäß § 73e Abs. 1 StGB nur ausgeschlossen, soweit der Anspruch, der dem Verletzten aus der Tat auf Rückgewähr des Erlangten oder auf Ersatz des Wertes des Erlangten erwachsen ist, erloschen ist. Anders als zuvor (§ 73c Abs. 1 StGB a.F.) ist nach neuem Recht für die Einziehung von Taterträgen keine Härtefallprüfung mehr erforderlich; auch eine Entreicherung des Betroffenen hindert die Einziehungsentscheidung nur gegenüber gutgläubigen Dritten (§ 73e Abs. 2 StGB). Erst im Vollstreckungsverfahren ordnet das Gericht gemäß § 459g Abs. 5 Satz 1 in Verbindung mit § 459g Abs. 2 StPO an, dass die Vollstreckung unterbleibt, soweit der Wert des Erlangten nicht mehr im Vermögen des Betroffenen vorhanden ist oder sie sonst unverhältnismäßig wäre. 12 (2) Daneben verfolgt die Reform das Ziel, schon bisher in der Rechtsprechung anerkannte Fallkonstellationen der Vermögensabschöpfung bei Dritten im Sinne der Rechtssicherheit zu kodifizieren und den Anwendungsbereich durch Erstreckung der Einziehungsmöglichkeit auf die durch eine Straftat bereicherten Erben, Pflichtteilsempfänger und Vermächtnisnehmer zu erweitern (§ 73b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StGB; vgl. BTDrucks 18/9525, S. 56 f.). Ausdrücklich für zulässig erklärt ist nun die Vermögensabschöpfung in „Verschiebungsfällen“, in denen die erlangten Vermögenswerte rechtsgrundlos oder unentgeltlich an einen Dritten übertragen wurden (§ 73b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe a StGB) oder der Dritte bei Empfang des Vermögensvorteils bösgläubig war (§ 73b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe b StGB). Die „Vertretungsfälle“, in denen der Tatbeteiligte für einen Dritten, insbesondere für eine juristische Person, handelte, waren schon nach alter Rechtslage (§ 73 Abs. 3 StGB a.F.) dem Verfall zugänglich, sollten nunmehr aber an anderer Stelle im Gesetz geregelt werden (vgl. BTDrucks 18/9525, S. 66). 13 (3) Wegen bestehender Unklarheiten, auf welche Weise das grundsätzlich abzuschöpfende Erlangte zu berechnen ist (vgl. BTDrucks 18/9525, S. 46 f.), stellte der Gesetzgeber zudem die Art der Berechnung klar und orientierte sich dabei maßgeblich an den Wertungen des Bereicherungsrechts (vgl. BTDrucks 18/9525, S. 55 f.; BTDrucks 18/11640, S. 78 f.). Das durch die Straftat Erlangte ist in einem ersten Schritt unter Kausalitätsgesichtspunkten gemäß § 73 Abs. 1 StGB zu bestimmen. Erst in einem zweiten Schritt ist gemäß § 73d Abs. 1 StGB zu entscheiden, in welcher Höhe Aufwendungen des Täters oder eines bereicherten Dritten vom Wert des Erlangten abzuziehen sind (vgl. BTDrucks 18/9525, S. 56; BTDrucks 18/11640, S. 78). Gemäß § 73d Abs. 1 Satz 2 StGB unterfallen grundsätzlich alle Aufwendungen für die Tat, angelehnt an die bereicherungsrechtliche Norm des § 817 Satz 2 BGB, einem Abzugsverbot (vgl. BTDrucks 18/9525, S. 55 f.; BTDrucks 18/11640, S. 79), während die Aufwendungen des gutgläubigen Dritten in voller Höhe abzuziehen sind. Nach dem Willen des Gesetzgebers sollen zudem im Rahmen von Fahrlässigkeitstaten getätigte Aufwendungen stets abzugsfähig sein (vgl. BTDrucks 18/11640, S. 79). Überdies sind Aufwendungen zur Erfüllung einer rechtswirksamen Verbindlichkeit gegenüber dem Verletzten abzuziehen (§ 73d Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 StGB). 14 (4) Mit der Reform der Vermögensabschöpfung hat der Gesetzgeber auch die Vorgaben der Richtlinie 2014/42/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Sicherstellung und Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen aus Straftaten in der Europäischen Union (ABl EU Nr. 127/39; im Folgenden: Richtlinie 2014/42/EU), deren Ziel insbesondere die Bekämpfung der Organisierten Kriminalität ist (vgl. Erwägungsgründe 1 bis 3 sowie 19 der Richtlinie 2014/42/EU), umgesetzt (vgl. BTDrucks 18/9525, S. 57 f., 63-65, 112). Danach müssen die Mitgliedstaaten insbesondere hinsichtlich des in Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2014/42/EU aufgeführten umfangreichen Straftatenkatalogs die erforderlichen Maßnahmen treffen, um sicherzustellen, dass Vermögensgegenstände, die einer Person gehören, welche wegen einer Straftat verurteilt ist, die direkt oder indirekt zu einem wirtschaftlichen Vorteil führen kann, ganz oder teilweise eingezogen werden können, wenn ein Gericht aufgrund der Umstände des Falls zu der Überzeugung gelangt, dass die betreffenden Vermögensgegenstände aus Straftaten stammen. Dabei sind die konkreten Tatsachen und verfügbaren Beweismittel wie die Tatsache, dass der Wert der Vermögensgegenstände in einem Missverhältnis zum rechtmäßigen Einkommen der verurteilten Person steht, zu berücksichtigen (Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2014/42/EU). Zu diesem Zweck wurde der bisher auf bestimmte Anlasstaten beschränkte „erweiterte Verfall“ als „erweiterte Einziehung von Taterträgen bei Tätern und Teilnehmern“ (§ 73a StGB) auf sämtliche Straftaten ausgeweitet (vgl. BTDrucks 18/9525, S. 57 f., 65). 15 (5) Schließlich sollte mit der Regelung des § 76a Abs. 4 StGB nach dem Vorbild der „non-conviction-based confiscation“ im anglo-amerikanischen Rechtskreis sowie entsprechender Vorschriften im italienischen Recht eine selbständige Einziehung in Strafverfahren wegen bestimmter Delikte aus dem Bereich des Terrorismus und der Organisierten Kriminalität auch ohne Feststellung einer bestimmten Straftat ermöglicht werden, soweit sich der Richter die Überzeugung verschaffen kann, dass in diesem Strafverfahren sichergestellte Vermögenswerte aus Straftaten herrühren (vgl. BTDrucks 18/9525, S. 73). 16 bb) Mit Inkrafttreten des Gesetzes zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung wurde – als Ausnahme zum allgemeinen Grundsatz des § 78 Abs. 1 Satz 1 StGB – in § 76a Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit § 78 Abs. 1 Satz 2 StGB ausdrücklich die Zulässigkeit der selbständigen Einziehung von Taterträgen auch für den Fall festgeschrieben, dass hinsichtlich der zugrundeliegenden Tat Verfolgungsverjährung eingetreten ist. Die selbständige Einziehung von Taterträgen ist nunmehr von der Verjährung der Erwerbstat entkoppelt. Sie ist gemäß § 76b Abs. 1 Satz 1 StGB einer eigenständigen Verjährung von grundsätzlich 30 Jahren ab Beendigung der rechtswidrigen Tat unterstellt, unabhängig von der für die Erwerbstat geltenden Frist bis zum Eintritt der Verfolgungsverjährung. Lediglich für Straftaten, deren Verfolgung nicht verjährt, tritt auch hinsichtlich der Einziehung von Taterträgen gemäß § 76a Abs. 2 StGB keine Verjährung ein. 17 cc) Art. 316h Satz 1 EGStGB ordnet an, dass die Regelungen der § 76a Abs. 2 Satz 1, § 76b Abs. 1 und § 78 Abs. 1 Satz 2 StGB auch gelten, wenn nach dem Inkrafttreten der Neuregelung (1. Juli 2017) über die Anordnung der Einziehung des Tatertrages wegen einer Tat entschieden wird, die vor diesem Zeitpunkt begangen worden ist. Etwas anderes gilt gemäß Art. 316h Satz 2 EGStGB nur dann, wenn bis zum 1. Juli 2017 bereits eine Entscheidung über die Anordnung des Verfalls oder des Verfalls von Wertersatz ergangen ist. 18 Mit diesen Regelungen ordnet Art. 316h Satz 1 EGStGB eine Ausnahme von den einfachgesetzlichen Vorschriften zur intertemporalen Anwendung des Strafgesetzbuchs (§ 2 Abs. 5 i.V.m. Abs. 2 StGB) an, nach denen das bei Beendigung der Tat geltende Gesetz anzuwenden ist, bei einer Änderung des Gesetzes nach Beendigung der Tat jedoch das mildeste Gesetz Anwendung findet (§ 2 Abs. 5 i.V.m. Abs. 3 StGB). 19 Da sich der Anwendungsbefehl des Art. 316h Satz 1 EGStGB nicht auf die Regelung des § 76a Abs. 2 Satz 1 StGB beschränkt, sondern darüber hinaus § 76b Abs. 1 und § 78 Abs. 1 Satz 2 StGB erfasst, die die Einziehung von Taterträgen von der Verfolgungsverjährung der Erwerbstat entkoppeln und einer eigenständigen, grundsätzlich dreißigjährigen Verjährungsfrist unterstellen, erfasst die Rückwirkung auch die von der Vorlagefrage benannten Sachverhalte, in denen bei Inkrafttreten der Neuregelung die Verjährung der Erwerbstat bereits eingetreten war, die Tatbeendigung zum Zeitpunkt der Entscheidung aber noch nicht 30 Jahre zurückliegt (vgl. so ausdrücklich BTDrucks 18/11640, S. 84; vgl. auch Eser/Schuster, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 76a Rn. 7; Saliger, ZStW 2017, S. 995 <1026 f.>). 20 dd) Weder der ursprüngliche Referentenentwurf noch der Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung (BTDrucks 18/9525) hatten eine Art. 316h EGStGB entsprechende Übergangsregelung vorgesehen. Die Verjährung der zugrundeliegenden Straftaten sollte nach dem Regierungsentwurf einer Einziehung zum Schutz des durch die Verjährung eingetretenen Rechtsfriedens weiterhin entgegenstehen, da andernfalls Straftaten aufgeklärt werden müssten, für die es keines Strafverfahrens mehr bedürfe, weil sie angesichts des Zeitablaufs typischerweise nicht mehr friedensstörend nachwirkten (vgl. BTDrucks 18/9525, S. 57, 72). 21 Erst im Rahmen der Anhörung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz des Deutschen Bundestages am 23. November 2016 wurde die Frage des Übergangsrechts sowie der Entkoppelung der Einziehung von Taterträgen von der Verfolgungsverjährung eingehend thematisiert (vgl. Wortprotokoll der 120. Sitzung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz, Protokoll-Nr. 18/120, S. 16 f., 18, 31, 61-63, 69). 22 In seiner Beschlussempfehlung vom 22. März 2017 schlug der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz des Deutschen Bundestages daraufhin die letztlich in Kraft getretene Fassung der § 76a Abs. 2 Satz 1, § 76b und § 78 StGB sowie des Art. 316h EGStGB vor (vgl. BTDrucks 18/11640, S. 16, 18 f., 21 f.). Als Übergangsvorschrift wurde bestimmt, dass das neue Vermögensabschöpfungsrecht, insbesondere auch § 76a Abs. 2 Satz 1 und § 76b StGB-E, ab seinem Inkrafttreten gelten solle, soweit nicht zuvor gerichtlich über den Verfall entschieden worden sei. 23 Die Entkoppelung der Vermögensabschöpfung von der Verfolgungsverjährung wurde mit der Erwägung begründet, dies stärke den verfassungsrechtlich legitimierten Zweck der Vermögensabschöpfung, strafrechtswidrige Störungen der Rechtsordnung zu beseitigen und dadurch der materiellen Gerechtigkeit Geltung zu verschaffen. Die Neuregelung erleichtere es der Praxis erheblich, strafrechtswidrig erlangtes Vermögen aus nicht konkret nachweisbaren Taten abzuschöpfen (vgl. BTDrucks 18/11640, S. 82). Die in § 76b StGB vorgesehene dreißigjährige Verjährungsfrist orientiere sich an der höchsten Verjährungsfrist, die für die Strafverfolgung bei verjährbaren Taten und die Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche vorgesehen sei, und übernehme zudem den Rechtsgedanken des § 852 BGB, der ebenfalls eine maximale Verjährung von 30 Jahren vorsehe (vgl. BTDrucks 18/11640, S. 83). Die in Abweichung von § 2 Abs. 5 StGB formulierte Übergangsregelung entlaste die Strafrechtspraxis von der Prüfung, welches Recht im Einzelfall als das mildere anzuwenden sei. Zudem vermeide die Übergangsvorschrift ein jahrelanges Nebeneinander von altem und neuem Recht. Sie kollidiere nicht mit dem verfassungsrechtlich verankerten Rückwirkungsverbot. Art. 103 Abs. 2 GG finde keine Anwendung, weil die Vermögensabschöpfung keinen Strafcharakter besitze. Auch das in Art. 20 GG verankerte allgemeine Rückwirkungsverbot stehe der Regelung nicht entgegen, da ein etwaiges Vertrauen in den Fortbestand einer strafrechtswidrig geschaffenen Vermögenslage nicht schutzwürdig sei (vgl. BTDrucks 18/11640, S. 84). 24 Das Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung wurde in der durch den Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz vorgeschlagenen Fassung durch den Bundestag am 23. März 2017 angenommen (vgl. Plenarprotokoll 18/225, S. 22622 <D>); es trat am 1. Juli 2017 in Kraft. II. 25 Das der Vorlage zugrundeliegende Verfahren betrifft die selbständige Anordnung der Einziehung des Wertes von Taterträgen gegenüber zwei Unternehmen. 26 1. Mit Urteil vom 17. Oktober 2017 sprach das Landgericht Oldenburg den Leiter eines fleischverarbeitenden Unternehmens und den Geschäftsführer eines Personaldienstleistungsunternehmens vom Vorwurf der Beschäftigung von Ausländern ohne Genehmigung in größerem Umfang aus grobem Eigennutz in sechs Fällen (§ 11 Abs. 1 Nr. 1, 2 Buchstabe a, Abs. 2 Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz – im Folgenden: SchwarzArbG –, § 14 Abs. 1, § 53 StGB) beziehungsweise der Beihilfe hierzu (§ 11 Abs. 1 Nr. 1, 2 Buchstabe a, Abs. 2 SchwarzArbG, § 27 Abs. 1, § 53 StGB) wegen absoluter Verjährung (§ 78c Abs. 3 Satz 2 StGB) frei. Gegen die beiden von den Angeklagten geführten Unternehmen als Nebenbeteiligte ordnete es indes nach Art. 316h Satz 1 EGStGB in Verbindung mit § 73 Abs. 1, § 73b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 73c Satz 1, § 76a Abs. 2 Satz 1 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung vom 13. April 2017 (BGBl I S. 872) die Einziehung von 10.598.676,48 Euro (gegen das fleischverarbeitende Unternehmen, fortan: Nebenbeteiligte zu 1) und von 72.091,47 Euro (gegen das Personaldienstleistungsunternehmen, fortan: Nebenbeteiligte zu 2) an. 27 a) Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen beschäftigte die Nebenbeteiligte zu 1) im Zeitraum vom 25. Februar 2008 bis zum 31. Juli 2010 in der Fleischproduktion 933 bulgarische Arbeiter, ohne im Besitz der im Tatzeitraum nach § 284 Abs. 1 SGB III in der Fassung vom 7. Dezember 2006 (BGBl I S. 2814) erforderlichen Genehmigungen der Bundesagentur für Arbeit gewesen zu sein. 28 Die Arbeiter waren formal über bulgarische Subunternehmen im Rahmen von Werkverträgen eingesetzt. Diese Werkverträge waren teilweise unmittelbar zwischen der Nebenbeteiligten zu 1) und den bulgarischen Subunternehmern, teilweise unter Einbindung der Nebenbeteiligten zu 2) geschlossen worden, die sich gegenüber der Nebenbeteiligten zu 1) in einem Rahmenwerkvertrag verpflichtet hatte, Arbeiten in der Fleischproduktion nach konkret vorgegebenen Werkbeschreibungen durchzuführen. In den Werkverträgen war geregelt, dass der jeweilige Auftraggeber kein Weisungsrecht gegenüber den Arbeitnehmern des Subunternehmens habe, die Arbeitnehmer nicht in die Betriebsorganisation des Auftraggebers eingegliedert sein und die Werklöhne nach festen Vergütungssätzen auf der Grundlage von Kilogramm-Mengen gezahlt werden sollten. Tatsächlich wurden die Werkverträge in diesem Sinn nicht vollzogen. Die Leistungen der bulgarischen Vertragspartner beschränkten sich vielmehr darauf, in Bulgarien über Anwerbebüros Arbeitswillige zu akquirieren und sie der Nebenbeteiligten zu 1) zur Verfügung zu stellen, die die bulgarischen Arbeiter an zwei Betriebsstätten wie eigene Arbeitnehmer und Leiharbeitnehmer einsetzte. Die Arbeiter waren vollständig in den Betrieb integriert und unterlagen dem Weisungsrecht der Nebenbeteiligten zu 1) in sachlicher und zeitlicher Hinsicht. Entgegen der Vertragslage erfolgte keine Vergütung von Verrechnungspreisen nach Kilogramm-Mengen, sondern eine Entlohnung nach geleisteten Arbeitsstunden. 29 Insgesamt leisteten die 933 von der Nebenbeteiligten zu 1) ohne Genehmigung beschäftigten bulgarischen Arbeiter im Tatzeitraum 833.223,04 Arbeitsstunden. Soweit die Nebenbeteiligte zu 2) zwischengeschaltet war, rechnete sie den Einsatz der „vermittelten“ Arbeiter gegenüber der Nebenbeteiligten zu 1) mit einem Zuschlag von insgesamt 72.091,47 Euro auf die Eingangsrechnungen der bulgarischen Subunternehmen ab. 30 b) Das Landgericht begründete den Freispruch der Angeklagten sowie die gleichwohl gegen die Nebenbeteiligten getroffenen Einziehungsentscheidungen damit, dass das Handeln der Angeklagten zwar den Straftatbestand der Beschäftigung von Ausländern ohne Genehmigung in größerem Umfang nach § 11 Abs. 1 Nr. 1 SchwarzArbG, § 14 Abs. 1, § 53 StGB beziehungsweise der Beihilfe hierzu gemäß § 11 Abs. 1 Nr. 1 SchwarzArbG, § 27 Abs. 1, § 53 StGB erfülle. Die Strafverfolgung sei jedoch spätestens mit Ablauf des 31. Juli 2016 gemäß § 78 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 78c Abs. 3 Satz 2 StGB absolut verjährt. Der noch verfolgbare Qualifikationstatbestand des § 11 Abs. 2 SchwarzArbG sei nicht erfüllt, weil nicht habe festgestellt werden können, dass die Angeklagten aus grobem Eigennutz gehandelt hätten. 31 Die Strafverfolgungsverjährung stehe der Anordnung der selbständigen Einziehung von Erträgen nach dem durch das Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung vom 13. April 2017 (BGBl I S. 872) zum 1. Juli 2017 geänderten Recht nicht entgegen. Nach Art. 316h Satz 1 EGStGB seien § 76a Abs. 2 Satz 1, § 78 Abs. 1 Satz 2 StGB sowie § 76b Abs. 1 Satz 1 StGB in der Fassung des Reformgesetzes auch auf Taten anwendbar, die vor ihrem Inkrafttreten begangen worden seien. 32 Die Einziehungsbeträge entsprächen dem Wert dessen, was die Nebenbeteiligten durch die Straftaten ihrer Geschäftsführer erlangt hätten (§ 73b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 73 Abs. 1, § 73c Satz 1 StGB). Hinsichtlich der Nebenbeteiligten zu 1) berechne sich der Wert der insgesamt 833.223,04 Arbeitsstunden bei Ansatz eines Verrechnungssatzes von zwölf Euro für (legale) Leiharbeitnehmer auf insgesamt 10.598.676,48 Euro (§ 73d Abs. 2 StGB); abzugsfähige Aufwendungen lägen nicht vor (§ 73d Abs. 1 StGB). 33 Gegen die Einziehungsentscheidungen legten die Nebenbeteiligten – jeweils gestützt auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts – Revision ein. 34 2. Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 7. März 2019 beschlossen, das Revisionsverfahren auszusetzen, soweit es die Revisionen der Nebenbeteiligten betrifft, und dem Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG die Frage zur Entscheidung vorzulegen, ob Art. 316h Satz 1 EGStGB mit den im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) und in den Grundrechten verankerten Prinzipien der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes unvereinbar ist, soweit er § 76a Abs. 2 Satz 1 StGB in Verbindung mit § 78 Abs. 1 Satz 2 StGB sowie § 76b Abs. 1 StGB jeweils in der Fassung des Gesetzes zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung vom 13. April 2017 (BGBl I S. 872) in Fällen für anwendbar erklärt, in denen hinsichtlich der rechtswidrigen Taten, aus denen der von der selbständigen Einziehung Betroffene etwas erlangt hat, bereits vor dem Inkrafttreten der Neuregelung am 1. Juli 2017 Verfolgungsverjährung (§ 78 Abs. 1 Satz 1 StGB) eingetreten war. 35 a) Die zur verfassungsrechtlichen Prüfung gestellte Frage sei für die Entscheidung über die zulässigen Revisionen der Nebenbeteiligten erheblich, weil die angegriffenen Einziehungsentscheidungen – gemessen am Maßstab der nach Art. 316h Satz 1 EGStGB anwendbaren Regelungen der § 76a Abs. 2 Satz 1, § 76b Abs. 1 und § 78 Abs. 1 Satz 2 StGB in der Fassung des Reformgesetzes – revisionsrechtlicher Prüfung standhielten, wohingegen nach alter Rechtslage die Abschöpfung der von den Nebenbeteiligten erlangten Erträge aufgrund der eingetretenen Verfolgungsverjährung der zugrundeliegenden Taten nicht mehr möglich gewesen wäre. 36 aa) Das Landgericht sei auf der Grundlage rechtsfehlerfrei getroffener Feststellungen zutreffend davon ausgegangen, dass sich die angeklagten Geschäftsführer der Nebenbeteiligten wegen der Beschäftigung von Ausländern ohne Genehmigung in größerem Umfang nach § 11 Abs. 1 Nr. 1 SchwarzArbG, § 14 Abs. 1, § 53 StGB beziehungsweise der Beihilfe hierzu gemäß § 11 Abs. 1 Nr. 1 SchwarzArbG, § 27 Abs. 1, § 53 StGB strafbar gemacht hätten. Insbesondere belegten die Feststellungen, dass zwischen der Nebenbeteiligten zu 1) und den bulgarischen Arbeitern Beschäftigungsverhältnisse im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 1 SchwarzArbG bestanden hätten und nicht etwa eine Leiharbeit nach dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz vorgelegen habe. Die bulgarischen Subunternehmer hätten sich auf die Anwerbung der Arbeitskräfte in Bulgarien und die Organisation des Transports nach Deutschland sowie der Unterbringung in der Nähe der Betriebsstätten der Nebenbeteiligten zu 1) beschränkt, sodass sie nicht als Verleiher, sondern als bloße Arbeitsvermittler tätig gewesen seien. 37 Die Verfolgung dieser Taten sei jedoch absolut verjährt. 38 bb) Die Anordnung der selbständigen Einziehung des Werts der Taterträge sei unter Zugrundelegung der Einziehungsvorschriften in der Fassung des Gesetzes zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung vom 13. April 2017 (BGBl I S. 872) rechtsfehlerfrei. Die Vorschrift des Art. 316h Satz 1 EGStGB bedinge § 2 Abs. 5 StGB ab und bestimme, dass die durch das Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung mit Wirkung zum 1. Juli 2017 eingeführten neuen Regelungen über die Einziehung (des Werts) von Taterträgen grundsätzlich auch für rechtswidrige Taten gälten, die bereits zuvor begangen worden seien. Die in Art. 316h Satz 2 EGStGB normierte Ausnahme von diesem Grundsatz greife im zu entscheidenden Fall nicht. 39 (1) Dem Grunde nach ergebe sich die Zulässigkeit der selbständigen Einziehung danach aus § 76a Abs. 2 Satz 1 und § 78 Abs. 1 Satz 2 StGB. Diese regelten, dass unter den Voraussetzungen der §§ 73, 73b, 73c StGB die Anordnung der selbständigen Einziehung (des Werts) von Taterträgen auch aus der verjährten rechtswidrigen Tat möglich sei, und entkoppelten die Zulässigkeit der Anordnung somit von der Verjährung der Tat. Nach § 76b Abs. 1 StGB, der die Verjährung für die selbständige Einziehung eigenständig regele, verjähre diese Maßnahme erst in 30 Jahren ab Tatbeendigung. 40 (2) Die Nebenbeteiligte zu 1) habe durch die Straftaten ihres Geschäftsführers als Drittbegünstigte gemäß § 73b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB (Vertretungsfall) die von den bulgarischen Arbeitern geleisteten Arbeitsstunden erlangt, deren Wert gemäß § 73 Abs. 1, § 73c Satz 1 StGB in vollem Umfang der Einziehung unterliege. Die von der Nebenbeteiligten zu 1) an die Nebenbeteiligte zu 2) oder unmittelbar an die bulgarischen Vermittler gezahlten Beträge unterlägen dem Abzugsverbot des § 73d Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 StGB, weil sie für eine illegale und damit zu beanstandende Vermittlung von Arbeitnehmern geleistet worden seien. Die in § 73d Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 StGB geregelte Rückausnahme vom Abzugsverbot greife nicht, weil es sich bei den Zahlungen nicht um Leistungen zur Erfüllung von Verbindlichkeiten gegenüber den Verletzten der Tat gehandelt habe. 41 (3) Die Nebenbeteiligte zu 2) habe als Drittbegünstigte durch die Beihilfetaten ihres Geschäftsführers von der Nebenbeteiligten zu 1) einen Geldbetrag von mindestens 72.091,47 Euro erlangt. 42 cc) Bei Anwendung der vor dem 1. Juli 2017 gültigen Gesetzeslage wären die Einziehungsentscheidungen hingegen aufzuheben. Die Entscheidungen hielten in diesem Fall rechtlicher Prüfung nicht stand, weil die Abschöpfung von Taterträgen durch selbständige Verfallsanordnung bei verjährter Strafverfolgung nach altem Recht nicht möglich gewesen sei. § 76a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StGB a.F. habe bei Verjährung der Strafverfolgung lediglich die Sicherungseinziehung gefährlicher Tatprodukte, Tatinstrumente und gewisser Beziehungsgegenstände erlaubt, nicht aber die Abschöpfung von Taterträgen. 43 Auch eine Strafbarkeit der Angeklagten nach anderen, nicht verjährten Strafvorschriften, die eine Verfallsanordnung nach § 73 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3, § 73a Satz 1 StGB a.F. ermöglicht hätte, scheide aus. Von der Verwirklichung des Qualifikationstatbestands des § 11 Abs. 2 SchwarzArbG habe sich das Landgericht rechtsfehlerfrei nicht zu überzeugen vermocht. Wegen Anstiftung der Verantwortlichen der bulgarischen Subunternehmen zum unerlaubten Überlassen nichtdeutscher Arbeitnehmer oder wegen Beihilfe hierzu gemäß § 15 Abs. 1 des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes, § 26 beziehungsweise § 27 Abs. 1 StGB hätten sich die Angeklagten schon deshalb nicht strafbar gemacht, weil das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz auf den festgestellten Sachverhalt nicht anwendbar sei. Möglicherweise noch nicht verjährte, prozessual selbständige Taten des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt nach § 266a Abs. 1 und Abs. 2 StGB seien von der Anklage nicht erfasst. Darüber hinaus würde die an eine solche Strafbarkeit anknüpfende Vermögensabschöpfung nach altem wie neuem Recht andere Taterträge (die nicht abgeführten Sozialversicherungsbeiträge) erfassen. 44 b) Der Bundesgerichtshof hat weiter ausgeführt, dass Art. 316h Satz 1 EGStGB zu seiner Überzeugung zwar nicht gegen Art. 103 Abs. 2 GG, jedoch gegen das allgemeine rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot verstoße, soweit er die Vorschriften der § 76a Abs. 2 Satz 1, § 76b Abs. 1, § 78 Abs. 1 Satz 2 StGB in ihren seit dem 1. Juli 2017 gültigen Fassungen in Fällen für anwendbar erkläre, in denen hinsichtlich der rechtswidrigen Taten, aus denen der von der selbständigen Einziehung Betroffene etwas erlangt habe, bereits vor dem Inkrafttreten Verfolgungsverjährung eingetreten gewesen sei. 45 aa) Eine Unvereinbarkeit der Regelung mit Art. 103 Abs. 2 GG hat der Bundesgerichtshof zum einen deshalb ausgeschlossen, weil Verjährungsvorschriften nicht die Frage von Strafbarkeit und Schuld beträfen, sondern ausschließlich die Verfolgbarkeit einer Tat zeitlich beschränkten. Mit diesem Regelungsgehalt unterlägen sie nicht dem strafrechtlichen Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG. Zum anderen sei der Anwendungsbereich des Art. 103 Abs. 2 GG auch deshalb nicht eröffnet, weil der Einziehung von Taterträgen nach §§ 73 ff. StGB – wie auch bereits dem Verfall nach alter Rechtslage – kein Strafcharakter zukomme. 46 bb) Art. 316h Satz 1 EGStGB sei aber verfassungswidrig, weil er die Anforderungen verletze, die für rückwirkende Gesetze im Hinblick auf die im Rechtsstaatsprinzip und den Grundrechten verankerten Prinzipien der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes gälten. 47 (1) Art. 316h Satz 1 EGStGB entfalte echte Rückwirkung, soweit er die Anwendung von § 76a Abs. 2 Satz 1, § 76b Abs. 1, § 78 Abs. 1 Satz 2 StGB auch in Fällen anordne, in denen die Verfolgungsverjährung der Tat bereits vor dem 1. Juli 2017 eingetreten gewesen sei und deshalb nach altem Recht der Verfall aufgrund seiner Koppelung an die Verjährung der Tat nicht mehr hätte angeordnet werden können. In dieser Fallkonstellation greife die Regelung des Art. 316h Satz 1 EGStGB nachträglich ändernd in vor der Verkündung des Gesetzes abgeschlossene Tatbestände ein. Sie beschränke sich nicht darauf, laufende Verjährungsfristen in die Zukunft hinein zu verlängern, sondern erkläre eine bereits eingetretene Verjährung für rechtlich unbeachtlich und regele damit einen in der Vergangenheit liegenden Sachverhalt rückwirkend neu. 48 (2) Diese in der nachträglichen Zulassung der selbständigen Einziehung von Taterträgen aus bereits vor dem 1. Juli 2017 verjährten Taten liegende echte Rückwirkung finde keine verfassungsrechtliche Rechtfertigung. Keine der in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anerkannten Fallgruppen, die eine echte Rückwirkung ausnahmsweise zuließen, sei im zu entscheidenden Fall einschlägig. 49 Insbesondere sei am 1. August 2016, als die verfahrensgegenständlichen Taten nach § 11 Abs. 1 Nr. 1 SchwarzArbG spätestens verjährt gewesen seien, noch nicht mit einer (rückwirkenden) gesetzlichen Neuregelung zu rechnen gewesen, denn erstmals durch die zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 12. August 2016 (BTDrucks 18/9525) ergangene Beschlussempfehlung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz vom 22. März 2017 (BTDrucks 18/11640) sei vorgeschlagen worden, die Möglichkeit der selbständigen Einziehung von Taterträgen auch nach Eintritt der Strafverfolgungsverjährung zuzulassen. Zuvor habe kein Anlass zu der Erwartung bestanden, die Möglichkeit der selbständigen Einziehung von Taterträgen könnte von der Verjährung der Strafverfolgung entkoppelt werden. Insbesondere sei ein solcher Anlass nicht aus dem „Entwurf eines ... Strafrechtsänderungsgesetzes – Erweiterter Verfall – (...StrÄndG)“ vom 9. März 1990 (BTDrucks 11/6623) abzuleiten gewesen. Dort sei zwar die Überlegung dokumentiert, dass im „Rahmen der Gesamtüberarbeitung der §§ 73 ff. StGB (...) eine an § 76a Abs. 2 StGB orientierte Lösung auch für den Fall der selbständigen Verfallsanordnung zu prüfen sein“ werde (vgl. BTDrucks 11/6623, S. 7). Im Jahr 2016 sei die Umsetzung dieses gescheiterten Vorhabens aber nicht mehr aktuell gewesen. 50 Auch jenseits der in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anerkannten Fallgruppen lasse sich die nachträgliche Ermöglichung der selbständigen Einziehung von Taterträgen aus bereits vor dem 1. Juli 2017 verjährten Taten nicht – als Ausnahme vom grundsätzlichen Verbot echt rückwirkender Gesetze – damit legitimieren, dass ein Vertrauen in das alte Recht des Verfalls sachlich nicht gerechtfertigt gewesen sei. Insbesondere die in der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz vorgebrachte Erwägung, ein etwaiges Vertrauen in den Fortbestand einer strafrechtswidrig geschaffenen Vermögenslage sei nicht schutzwürdig (vgl. BTDrucks 18/11640, S. 84), ermögliche eine solche Wertung nicht. 51 Zwar handele es sich bei der Beseitigung einer strafrechtswidrig geschaffenen Vermögenslage um ein gesetzgeberisches Ziel, das die neugeschaffene Regelung des § 76a Abs. 2 Satz 1 StGB über die Einziehung von Erträgen aus verfolgungsverjährten rechtswidrigen Taten als solche von Verfassungs wegen zu legitimieren geeignet sei. Dies gelte indes nicht für die nachträgliche Anordnung der selbständigen Einziehung von Taterträgen aus bereits vor dem 1. Juli 2017 verjährten Taten. Dieser stehe ein schutzwürdiges Vertrauen der Betroffenen in die vor der Reform geltenden Verjährungsvorschriften entgegen. 52 Verfassungsrechtlicher Bezugspunkt für ein Vertrauen der Bürger, das durch neu geschaffene rückwirkende Normen beeinträchtigt werde, sei die bestehende Rechtslage. Maßgeblich sei, ob das Vertrauen in den Fortbestand der gesetzlichen Vorschriften Schutz verdiene. 53 Das Vertrauen in den Fortbestand der bis zur Reform des Vermögensabschöpfungsrechts geltenden Verjährungsvorschriften sei sachlich gerechtfertigt gewesen. Regelungen über die Verjährung hätten einen eigenständigen, im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Wert, indem sie der Gewährleistung von Rechtssicherheit Ausdruck verliehen, die als berechtigtes Interesse des Bürgers, irgendwann nicht mehr mit einer Intervention des Staates rechnen zu müssen, mit dem entgegenstehenden Anliegen der Allgemeinheit an der Durchsetzung der materiellen Rechtslage in Ausgleich zu bringen sei. Auf diese Weise begründeten die Verjährungsvorschriften – der materiellen Rechtslage zuwider – ein von Amts wegen zu beachtendes, nicht behebbares Verfahrenshindernis, das der Rechtssicherheit und dem Rechtsfrieden diene. Habe der Gesetzgeber in diesem Sinne das Gebot der Rechtssicherheit mit dem gegenläufigen Gedanken der materiellen Gerechtigkeit nach Maßgabe seiner Einschätzungsprärogative in einen angemessenen Ausgleich gebracht, so dürften die Rechtsunterworfenen grundsätzlich darauf vertrauen, dass er nicht im Nachhinein eine abweichende Abwägung vornehme und die ursprünglichen Verjährungsvorschriften rückwirkend für unanwendbar erkläre. 54 Abweichendes folge nicht aus den Wertungen des bürgerlichen Rechts, insbesondere nicht aus denjenigen des Rechts der ungerechtfertigten Bereicherung, dem die Vermögensabschöpfung aufgrund ihres quasi-kondiktionellen Charakters nahestehe. Zwar sehe das Zivilrecht mit dem sogenannten Restschadensersatzanspruch aus § 852 BGB ebenfalls einen Ausgleich rechtswidrig erlangter Bereicherung auch in den Fällen vor, in denen eine Schadensersatzforderung nach den allgemeinen Regelungen der §§ 195, 199 BGB verjährt sei. Aber auch diese bereicherungsrechtliche Rückabwicklung sei im Interesse von Rechtssicherheit und Rechtsfrieden zeitlichen Höchstgrenzen unterstellt, die dem Schuldner die Einrede der Verjährung eröffneten. Ein allgemeines Prinzip, dass derjenige, der Vermögenswerte strafrechtswidrig erlangt habe, nicht auf eine eingetretene Verjährung vertrauen dürfe, sondern diese gleichwohl herausgeben müsse, sei dem Zivilrecht damit fremd. 55 Es sei auch nicht ersichtlich, aus welchem Grund der potentiell vom Verfall nach §§ 73 ff. StGB a.F. Betroffene damit hätte rechnen müssen, die Regelung des § 852 Satz 2 BGB werde, soweit sie im Einzelfall eine längere Verjährungsfrist vorsehe, auf strafrechtliche Maßnahmen übertragen, zumal dies nicht nur für die Frist von 30 Jahren, sondern auch für diejenige von zehn Jahren gelten müsste. Eine Angleichung von Verjährungsvorschriften im Sinne einer möglichst weitgehenden dogmatischen Kohärenz legitimiere echt rückwirkende, den Bürger belastende Gesetze nicht. 56 (3) Nach Auffassung des Bundesgerichtshofs scheidet eine Reduktion des Anwendungsbereichs des Art. 316h Satz 1 EGStGB im Wege verfassungskonformer Auslegung aus. 57 Der Regelung des Art. 316h Satz 1 EGStGB verbliebe zwar ein relevanter, verfassungskonformer Anwendungsbereich, wenn der Rechtsanwendungsbefehl nicht auf die selbständige Einziehung (des Werts) von Taterträgen aus vor dem 1. Juli 2017 verjährten Taten erstreckt würde. Sowohl der Wortlaut der Norm als auch der gesetzgeberische Wille ließen aber eine solche Reduktion im Sinne der Vorlagefrage nicht zu. Die Vorschrift ordne ausdrücklich abweichend von § 2 Abs. 5 StGB die Anwendung der § 76a, § 76b und § 78 Abs. 1 Satz 2 StGB in der ab dem 1. Juli 2017 gültigen Fassung für vor diesem Zeitpunkt begangene rechtswidrige Taten an. Der Wortlaut umfasse somit eindeutig auch solche Taten, hinsichtlich derer zum Zeitpunkt des Inkrafttretens bereits Verfolgungsverjährung eingetreten gewesen sei. Dies stehe in Einklang mit dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers, der die „neuen Regelungen des § 76a Abs. 2 und des § 76b StGB-E“ auf Fälle angewandt wissen wolle, in denen nach bisherigem Recht der Verfall aufgrund der Koppelung an die Verjährung der Tat bereits bei Inkrafttreten der Neuregelung ausgeschlossen gewesen sei (vgl. BTDrucks 18/11640, S. 84). 58 3. a) Von der gemäß § 82 Abs. 1 in Verbindung mit § 77 Nr. 1 BVerfGG gewährten Möglichkeit zur Stellungnahme hat namens der Bundesregierung das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz Gebrauch gemacht, das die Vorlage für unbegründet hält. Die über Art. 316h Satz 1 EGStGB gegebene Möglichkeit der selbständigen Einziehung von Taterträgen auch bei Taten, die bereits vor Inkrafttreten der Reform des Rechts der Vermögensabschöpfung verjährt gewesen seien, verstoße weder gegen Art. 103 Abs. 2 GG noch gegen das allgemeine rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot. 59 aa) Die Regelung des Art. 316h Satz 1 EGStGB verletze Art. 103 Abs. 2 GG nicht, weil es sich bei der dadurch eröffneten Möglichkeit der Einziehung nicht um eine Strafe im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG handele. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach der Verfall keine Strafe oder strafähnliche Maßnahme, sondern eine Maßnahme mit vermögensordnender und normstabilisierender Zielsetzung gewesen sei, habe auch nach neuem Recht fortzugelten. Ihrer Rechtsnatur nach sei die an die Stelle des Verfalls getretene Einziehung von Taterträgen eine Maßnahme eigener Art, die ausschließlich dem Ziel diene, strafrechtswidrige Vermögenslagen zu beseitigen. Ungeachtet dessen sei der Anwendungsbereich des Art. 103 Abs. 2 GG für strafrechtliche Verjährungsvorschriften nicht eröffnet. 60 bb) Die Möglichkeit der Einziehung von Taterträgen bei bereits vor dem 1. Juli 2017 rechtsverfolgungsverjährten Taten verstoße ferner nicht gegen die aus Art. 20 Abs. 3 GG und ergänzend aus den materiellen Grundrechten abzuleitenden Prinzipien der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes. 61 (1) Der Rechtsanwendungsbefehl des Art. 316h Satz 1 EGStGB entfalte auch in den Fällen, in denen er die selbständige Einziehung von Erträgen aus Taten zulasse, die bereits vor dem 1. Juli 2017 verjährt gewesen seien, lediglich eine unechte Rückwirkung, die verfassungsrechtlich in der Regel – und so auch im Fall des Art. 316h Satz 1 EGStGB – zulässig sei. Die gegenteilige Annahme des Bundesgerichtshofs gehe fehl, denn das dem Kondiktions- und Gefahrenabwehrrecht ähnliche Institut der Einziehung knüpfe an eine in der Vergangenheit begründete, aber fortdauernde und daher nicht „abgeschlossene“ Störung der Vermögensordnung an und korrigiere diese für die Zukunft. Zudem betreffe die eingetretene strafrechtliche Verjährung nur die Korrektur deliktischen Vermögenserwerbs „von Amts wegen“, nicht aber die Inanspruchnahme durch die Geschädigten. 62 Ein Fall ausnahmsweise unzulässiger unechter Rückwirkung liege nicht vor. Im Fall der strafverfolgungsverjährten, deliktischen Erlangung von Vermögenswerten stehe bereits in Zweifel, ob der Einziehungsbetroffene überhaupt in irgendeiner Form im Vertrauen auf den Bestand der Rechtsordnung Dispositionen getroffen habe. Der deliktische „Erwerbsvorgang“ selbst erfolge in Widerspruch zur Rechtsordnung. Die Strafverfolgungsverjährung trete ohne Zutun des Betroffenen durch bloßen Zeitablauf ein. 63 Jedenfalls sei die Erwartung, deliktisch erlangte Vermögenswerte infolge bloßen Zeitablaufs und Verjährung dauerhaft behalten zu dürfen, nicht schutzwürdig. Die nach altem Recht eingetretene Verjährung habe dem Delinquenten ohnehin keine umfassend gesicherte Position garantiert, da dieser sich weiterhin den zivilrechtlichen Ansprüchen der Geschädigten selbst ausgesetzt gesehen habe, die erst nach 30 Jahren verjährt seien, sodass er auf einen dauerhaften Bestand der rechtswidrigen Vermögenslage nicht habe vertrauen dürfen. 64 (2) Die Bundesregierung hielte die durch Art. 316h Satz 1 EGStGB eröffnete Möglichkeit der selbständigen Einziehung von Taterträgen aus bereits vor dem 1. Juli 2017 verjährten Straftaten mangels eines schutzwürdigen Vertrauenstatbestands auch dann für ausnahmsweise zulässig, wenn es sich um einen Fall echter Rückwirkung handeln sollte. Entgegen der Ansicht des vorlegenden Strafsenats sei ein Vertrauen in die bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung gültigen Verjährungsvorschriften sachlich nicht gerechtfertigt und nicht schutzwürdig. 65 Der Verfolgungsverjährung in Bezug auf die Ahndung der Tat liege maßgeblich der Gedanke zugrunde, dass das Strafbedürfnis umso schwächer werde, je länger eine Straftat zurückliege. Die Strafverfolgungsverjährung verhindere mithin, dass es zu einer Bestrafung komme, die wegen Zeitablaufs nicht mehr angemessen wäre, und enthalte damit ein Element materieller Gerechtigkeit. Anders liege es bei vermögensabschöpfenden Maßnahmen. Es gehe bei der Vermögensabschöpfung nicht darum, durch die Zufügung eines konkret auf den Täter zielenden Strafübels eine lang zurückliegende Tat noch zu ahnden, obwohl die Zwecke der Strafe womöglich gar keine Ahndung mehr erforderten, sondern um die Beseitigung einer durch die Straftat bewirkten objektiv rechtswidrigen Vermögenszuordnung. Die strafrechtswidrig zustande gekommene Vermögenszuordnung verlange grundsätzlich unabhängig vom Zeitablauf nach einer Korrektur. Die Verjährung stelle bei der Vermögensabschöpfung demnach kein Gebot der materiellen Gerechtigkeit dar; vielmehr perpetuiere sie eine rechtswidrige Vermögenszuordnung. 66 Das Vertrauen des Betroffenen in die jeweilige Verjährungsentscheidung des Gesetzgebers sei nicht gleichermaßen schutzwürdig. In Anbetracht der mit der Reform des Rechts der Vermögensabschöpfung vorgenommenen Stärkung der Opferentschädigung habe der Gesetzgeber daher eine neue Abwägung zwischen dem Ziel der Beseitigung einer strafrechtswidrig geschaffenen Vermögenslage und den Interessen des Betroffenen vornehmen und im Rahmen seiner Einschätzungsprärogative entscheiden dürfen, dass die selbständige Einziehung von Taterträgen und des Wertes von Taterträgen auf bereits vor dem 1. Juli 2017 verjährte Taten anzuwenden sei. 67 Entgegen der Auffassung des vorlegenden Strafsenats müsse sich der Gesetzgeber auch nicht an seinem Abwägungsergebnis zur alten Rechtslage festhalten lassen. Da die Verjährung im Hinblick auf den staatlichen Verfall angesichts fortbestehender zivilrechtlicher Ansprüche kein Vertrauen darauf begründet habe, deliktisch erlangte Vermögenswerte dauerhaft behalten zu dürfen, sei der Gesetzgeber nicht gehalten gewesen, über die Neuregelung hinaus Vertrauensschutz zu gewähren. 68 Bei der Bewertung der Schutzwürdigkeit des Vertrauens deliktisch Bereicherter sei zudem zu berücksichtigen, dass auch vor der Reform des Rechts der Vermögensabschöpfung kein ausnahmslos schutzwürdiges Vertrauen des Betroffenen anerkannt gewesen sei, nach Ablauf der Verjährung der Tat nicht mehr vom Staat mit Vermögensabschöpfungsmaßnahmen belangt zu werden. Bereits die vor der Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung bestehenden Verjährungsregelungen hätten in § 76a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StGB a.F. (Sicherungseinziehung) und § 73d StGB a.F. (erweiterte Einziehung) Ausnahmen vorgesehen. 69 Hinzu träten die Wertungen des bürgerlichen Rechts, die der Annahme eines schutzwürdigen Vertrauens entgegenstünden. Das gelte namentlich für das Recht der ungerechtfertigten Bereicherung, dem die Vermögensabschöpfung aufgrund ihres quasi-kondiktionellen Charakters nahestehe. Ein Betroffener habe auch nach alter Rechtslage bei Eintritt der nach dem Strafgesetzbuch vorgesehenen Strafverfolgungsverjährung nicht darauf vertrauen können, die strafrechtswidrig erlangten Vermögenswerte nicht wieder herausgeben zu müssen, weil er im Einzelfall fortbestehenden zivilrechtlichen Ansprüchen ausgesetzt gewesen sei. 70 b) Die Nebenbeteiligte zu 1) des Ausgangsverfahrens hat gemäß § 82 Abs. 3 BVerfGG über ihren Verfahrensbevollmächtigten Stellung genommen. Sie ist der Auffassung, dass Art. 316h Satz 1 EGStGB nicht mit dem Grundgesetz in Einklang stehe, soweit die Norm die rückwirkende Abschöpfung von Vermögenswerten aus bei Inkrafttreten des Gesetzes bereits verjährten Taten gestatte. 71 Die zur Rechtfertigung der rückwirkenden Änderung der Verjährungsvorschriften dienende Begründung, das Vertrauen in eine rechtswidrig geschaffene Vermögenslage sei nicht schützenswert, verkenne den Bezugspunkt der Schutzwürdigkeit des Vertrauens und unterscheide nicht hinreichend zwischen der Legitimität eines gesetzgeberischen Ziels und der Verhältnismäßigkeit des zur Erreichung dieses Ziels eingesetzten Mittels. Maßgeblich für die Schutzwürdigkeit des Vertrauens sei nicht, ob dieses sich auf den Fortbestand einer rechtmäßig oder rechtswidrig geschaffenen Vermögenslage bezogen habe. Entscheidend sei ausschließlich, ob der Normadressat auf den Fortbestand einer gesetzlichen Regelung habe vertrauen dürfen. Die vormalige gesetzliche Regelung, die die Vermögensabschöpfung an die Verfolgbarkeit der Straftat und damit an deren Verjährung geknüpft habe, habe eine vertrauensgerechte Grundlage für alle Normadressaten geboten. Diese Rechtslage habe der Gesetzgeber des alten Verfallsrechts ursprünglich bewusst geschaffen. Mit ihrer Änderung sei aufgrund der Chronologie des Gesetzgebungsverfahrens nicht zu rechnen gewesen. Die Idee einer selbständigen, von der Strafverfolgungsverjährung abgekoppelten Einziehung von Tat-erträgen habe erstmals in den parlamentarischen Willensbildungsprozess Eingang gefunden, als die Taten, die den Anlass der gegenüber der Nebenbeteiligten erfolgten Einziehung bildeten, bereits verjährt gewesen seien. 72 c) Die Präsidentin des Bundesgerichtshofs hat gemäß § 82 Abs. 4 Satz 1 BVerfGG mitgeteilt, dass die weiteren Strafsenate des Bundesgerichtshofs mit der Anwendung von Art. 316h Satz 1 EGStGB in der hier maßgeblichen Konstellation bislang nicht befasst gewesen seien. Überdies hat sie eine Stellungnahme des Vorsitzenden des 5. Strafsenats übermittelt, nach der seitens dieses Strafsenats keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Neuregelung bestünden. Das Vertrauen eines Straftäters darauf, dass ihm durch Straftaten erlangte Vermögenswerte nach strafrechtlicher Verfolgungsverjährung endgültig verblieben, sei sachlich nicht gerechtfertigt und daher nicht schutzwürdig, wie auch § 852 BGB zeige. Dies erlaube die echte Rückwirkung der in Rede stehenden Vorschriften. Namentlich dem Gedanken des Rechtsfriedens werde durch die Verjährungsregelung des § 76b StGB ausreichend Rechnung getragen. 73 d) Von der gemäß § 27a BVerfGG gewährten Möglichkeit zur Stellungnahme haben der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof, der Deutsche Anwaltverein sowie die Bundesrechtsanwaltskammer Gebrauch gemacht. 74 aa) Der Generalbundesanwalt hält die Vorlage für zulässig, aber unbegründet. 75 Die durch Art. 316h Satz 1 EGStGB eröffnete Möglichkeit zur Einziehung von Taterträgen aus vor dem 1. Juli 2017 verjährten Taten sei nicht an dem speziellen strafrechtlichen Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG zu messen. Es handele sich nicht um eine Strafe im Sinne dieser Norm, weil die Neuregelung der Vermögensabschöpfung deren Rechtscharakter als quasi-kondiktionelles Instrument unberührt gelassen habe. 76 Art. 316h Satz 1 EGStGB verstoße in seiner durch die Vorlagefrage aufgeworfenen Reichweite auch nicht gegen das im Rechtsstaatsprinzip und den Grundrechten wurzelnde allgemeine Rückwirkungsverbot. 77 Die echte Rückwirkung, um die es in der zur Entscheidung vorgelegten Konstellation gehe, sei ausnahmsweise zulässig. Die aus der Übergangsvorschrift des Art. 316h Satz 1 EGStGB folgende Möglichkeit, auch bei im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Neuregelung bereits verjährten Straftaten Maßnahmen der Vermögensabschöpfung in den zeitlichen Grenzen des § 76b StGB zu ergreifen, lasse sich zwar nicht unter die bislang in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anerkannten Fallgruppen subsumieren. Diese definierten die Fälle fehlenden Vertrauens in eine bestehende Gesetzeslage indes nicht abschließend. Es handele sich um falltypische Beschreibungen eines ausnahmsweise fehlenden Vertrauens in eine bestehende Gesetzeslage. 78 An einem schutzwürdigen Vertrauen in den Fortbestand der Gesetzeslage habe es auch bei denjenigen gefehlt, die Vermögenswerte durch Straftaten erlangt hätten, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des neuen Rechts der Vermögensabschöpfung bereits verjährt gewesen seien. Die Frage, ob und wann ein Straftäter darauf vertrauen dürfe, den Profit aus seiner Tat behalten zu dürfen, sei nicht allein nach strafrechtlichen Maßstäben zu beurteilen, sondern erfordere es, die zivilrechtliche Rechtslage in den Blick zu nehmen. Die strafrechtlichen Verjährungsregeln, die jeweils gestaffelt nach der Schwere des Delikts die Verfolgbarkeit der Straftat im Interesse der Rechtssicherheit für den Beschuldigten beschränkten, seien geeignet, dem mit zunehmendem Zeitablauf unterschiedlich zu gewichtenden Straf- und Sühnebedürfnis Rechnung zu tragen. Für die Frage, ob dem Täter auch der Profit aus seiner Straftat verbleiben solle, seien die hierfür relevanten Wertungen indes nicht maßgeblich, weil Maßnahmen der Vermögensabschöpfung keinen strafenden Zweck verfolgten, sondern als quasi-kondiktionelle und damit zivilrechtsähnliche Maßnahmen von hoher Hand die Korrektur einer in Unordnung geratenen Vermögenszuordnung bezweckten. 79 Der die Regelung des Art. 316h Satz 1 EGStGB tragende Grundsatz, dass das faktische Vertrauen auf eine durch Straftaten geschaffene Vermögenslage nicht schutzwürdig sei, durchziehe das gesamte Zivilrecht, insbesondere das Kondiktionsrecht, dem die Vermögensabschöpfung nahestehe. Dies zeigten die Vorschriften der § 134, § 817, § 819 Abs. 2, § 852, § 853 BGB, § 302 Nr. 1 InsO. 80 Danach habe, wer durch eine Straftat bereichert gewesen sei, bereits vor der Einführung des § 76b StGB mit einer Rückforderung des Erlangten rechnen müssen, die weit über die Verjährung der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung hinausgegangen sei. Auch im Falle eines Verstoßes gegen das Schwarzarbeitsgesetz durch die Beschäftigung von ausländischen Arbeitnehmern ohne die erforderliche Arbeitsgenehmigung verweigere die Rechtsordnung dem geschlossenen Vertrag zumindest dann die Anerkennung, wenn, wie im Fall des Ausgangsverfahrens, trotz Kenntnis der Genehmigungsbedürftigkeit ein solcher Vertrag ohne die erforderliche Genehmigung abgeschlossen und eine Genehmigung vor Arbeitsbeginn auch nicht angestrebt werde. 81 Die rückwirkende Verlängerung der Verjährungsfrist durch § 76b StGB in Verbindung mit Art. 316h Satz 1 EGStGB entwerte deliktisch erlangte Vermögenspositionen danach nicht maßgeblich. Durch die Neuregelung werde keine gesicherte Vermögensposition genommen, sondern die Möglichkeit der Rückforderung von Taterträgen im Sinne einer für alle Täter gleichmäßigen Rechtsfolgenfestsetzung lediglich von einem zivilrechtlichen Rückforderungsverlangen des Geschädigten oder Vertragspartners unabhängig gemacht. 82 bb) Der Deutsche Anwaltverein hält die Vorlage des Bundesgerichtshofs für begründet. 83 Ob die Rückwirkungsregelung des Art. 316h Satz 1 EGStGB gegen Art. 103 Abs. 2 GG verstoße, soweit sie die Einziehung von Taterträgen aus bei Inkrafttreten der Regelung bereits verjährten Taten ermögliche, könne dahinstehen. Zwar unterfielen Verjährungsvorschriften grundsätzlich nicht Art. 103 Abs. 2 GG; zudem handele es sich bei Anwendung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Charakterisierung des erweiterten Verfalls auch bei der Einziehung von Taterträgen nach neuem Recht nicht um eine Strafe. Jedoch sei nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: Gerichtshof) davon auszugehen, dass die Einziehung von Taterträgen eine Strafe im Sinne des Art. 7 Abs. 1 Satz 2 EMRK sei, sodass Art. 316h Satz 1 EGStGB gegen diese Norm verstoße. Dem Gebot der konventionskonformen Verfassungsauslegung könne jedoch dadurch ausreichend Rechnung getragen werden, dass ein Verstoß gegen das allgemeine rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot aus Art. 20 Abs. 3 GG und gegen das Eigentumsrecht aus Art. 14 Abs. 1 GG angenommen werde. 84 Es gehe um einen Fall echter Rückwirkung. Einer der in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anerkannten Ausnahmefälle liege nicht vor. Die frühere Rechtslage sei geeignet gewesen, Vertrauen der Betroffenen auf den Fortbestand der Regelung zu wecken. Denn das zu einer bestimmten Zeit geltende Recht eigne sich grundsätzlich als Basis für ein Vertrauen dahingehend, dass es nicht rückwirkend geändert werde. Auch die bereits seit dem Jahr 1992 bestehende Möglichkeit, im Rahmen des erweiterten Verfalls Taterträge aus verjährten Herkunftstaten abzuschöpfen, lasse die Vertrauensbasis nicht entfallen, da der erweiterte Verfall zumindest eine nicht verjährte Anknüpfungstat vorausgesetzt habe. Insofern sei es vom Verhalten des Betroffenen abhängig gewesen, ob das aus bereits verfolgungsverjährten Taten stammende Vermögen dem vermögensabschöpfenden staatlichen Zugriff infolge des erweiterten Verfalls wieder offen gestanden habe. 85 Das entstandene Vertrauen sei schutzwürdig. Die Verjährungsvorschriften dienten dem Rechtsfrieden und der Rechtssicherheit. Mit dieser Zwecksetzung stehe es in Einklang, auch dem Tatverdächtigen Rechtssicherheit zu vermitteln. Ein Fehlen der Schutzwürdigkeit des Vertrauens ergebe sich nicht aus zivilrechtlichen Vorschriften, da auch diese Ansprüche einer ausdifferenzierten Verjährung unterlägen. 86 Die Übergangsvorschrift des Art. 316h Satz 1 EGStGB verstoße überdies – in entsprechender Anwendung der Erwägungen zum Verstoß gegen das allgemeine Rückwirkungsverbot – gegen Art. 14 Abs. 1 GG. 87 cc) Die Bundesrechtsanwaltskammer hat Stellungnahmen des Strafrechtsausschusses und des Verfassungsrechtsausschusses übermittelt. 88 (1) Der Strafrechtsausschuss hält die Vorlage des Bundesgerichtshofs für zulässig und begründet. 89 Es könne dahinstehen, ob die in wesentlichen Teilen verschärfte Einziehung nach neuem Recht eine Kriminalstrafe darstelle und deshalb Art. 103 Abs. 2 GG unterfalle, da Art. 316h Satz 1 EGStGB jedenfalls gegen das allgemeine verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot verstoße. 90 Es handele sich um eine grundsätzlich unzulässige echte Rückwirkung, soweit in Fällen, in denen bereits Verjährung eingetreten gewesen sei, eine Vermögensabschöpfung erneut ermöglicht werde. Der Umstand, dass diese der zukunftsbezogenen Korrektur einer Störung der Rechtsordnung diene, vermöge daran nichts zu ändern, da der Eintritt der Verjährung nicht nur einen „formalen“ Umstand, sondern den materialen Kern des Vertrauensschutzes darstelle. 91 Eine in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anerkannte Ausnahmekonstellation zulässiger echter Rückwirkung sei nicht gegeben. Auch sonstige Gründe außerhalb der anerkannten Fallgruppen rechtfertigten die echte Rückwirkung der Vermögensabschöpfungsnormen nicht. Bezugspunkt des Rückwirkungsverbots sei das Vertrauen in den Bestand des geltenden Rechts beziehungsweise auf eine bestimmte Rechtslage, sodass es auf die Schutzwürdigkeit des Vertrauens auf den Fortbestand einer strafrechtswidrig geschaffenen Vermögenslage nicht ankomme. 92 (2) Der Verfassungsrechtsausschuss der Bundesrechtsanwaltskammer hält die Vorlage des Bundesgerichtshofs hingegen für unbegründet. 93 Art. 103 Abs. 2 GG sei mangels Strafcharakters der Einziehung nicht anwendbar. 94 Es handele sich um einen Fall echter Rückwirkung, ohne dass einer der in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anerkannten Ausnahmefälle vorliege. Indes sei das Vertrauen, dass Gewinne, die durch eigenes oder dem Eigentümer zuzurechnendes strafbares Verhalten erlangt worden seien, nicht aufgrund rückwirkender Verlängerung einer nach altem Recht bereits abgelaufenen Verjährungsfrist entzogen würden, nicht schutzwürdig. Das gelte jedenfalls dann, wenn im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Rechtsänderung das Strafverfahren noch nicht abgeschlossen sei. 95 Es widerspräche zweifellos einem Grundgedanken des Rechtsstaatsprinzips, wenn rückwirkend belastende Rechtsfolgen an eine neue Bewertung der Rechtmäßigkeit des Verhaltens geknüpft würden. Das Vertrauen in die Regelung der Rechtsfolgen eines von vornherein rechtswidrigen Verhaltens verdiene dagegen jedenfalls tendenziell nur geringeren Schutz. Die Schutzwürdigkeit dieses Vertrauens sei zusätzlich vermindert, wenn, wie Art. 316h EGStGB dies vorsehe, im Zeitpunkt der rückwirkenden Rechtsänderung ein Strafprozess noch anhängig und über die Verjährung daher noch nicht abschließend gerichtlich entschieden sei. 96 Mit der gesetzlichen Regelung der Strafbarkeit eines bestimmten Verhaltens sei ein besonders deutliches Unwerturteil verbunden. Der Umstand, dass der Gesetzgeber in der Vergangenheit auf die strafrechtswidrig geschaffene Vermögenslage in anderer Weise reagiert habe als nach dem neuen Recht, begründe nicht die Schutzwürdigkeit eines etwaigen Vertrauens in die strafrechtswidrig geschaffene Vermögenslage. 97 Angesichts der Unschärfe, die dem Rechtsstaatsprinzip eigen sei, sei dem Gesetzgeber bei der Beurteilung der Schutzwürdigkeit des Vertrauens in die bisherige Rechtslage unter Berücksichtigung der Prinzipien der Rechtssicherheit und der materiellen Gerechtigkeit ein gewisser Spielraum einzuräumen. Die in Art. 316h Satz 1 EGStGB enthaltene Regelung überschreite diesen Spielraum nicht, auch soweit sie sich auf Taten beziehe, die bei Inkrafttreten der Regelung am 1. Juli 2017 bereits verjährt, aber noch Gegenstand anhängiger Strafverfahren gewesen seien. Der rückwirkende Eingriff in das Eigentum werde durch die aus dem Rechtsstaatsprinzip entwickelte Wertung legitimiert. Das Vertrauen, die aus strafbarem Verhalten erlangten Vermögensvorteile behalten zu dürfen, verdiene jedenfalls bis zum Abschluss eines darauf bezogenen Strafverfahrens keinen Schutz. B. 98 Die Vorlage ist zulässig. I. 99 Die Vorlagefrage bedarf weder der Auslegung noch der Präzisierung (vgl. BVerfGE 76, 130 <138>; 78, 104 <116>; 78, 232 <242 f.>; 85, 176 <182 f.>; 108, 186 <210 f.>; 120, 56 <71>; 132, 302 <315 f.>). Sie ist hinreichend konkretisiert und verfassungsgerichtlicher Entscheidung zugänglich. Insbesondere ist es zulässig, dass die Vorlage darauf gerichtet ist, die zur Prüfung gestellte Norm des Art. 316h Satz 1 EGStGB nur teilweise für mit dem Grundgesetz unvereinbar oder nichtig zu erklären. Die mit einer solchen Entscheidung verbundene Schonung formell-gesetzlicher Normsubstanz trägt dem von Art. 100 Abs. 1 GG gewollten Autoritätsschutz des parlamentarischen Gesetzgebers Rechnung (vgl. Dederer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 100 Rn. 241 <August 2020>). II. 100 Das vorlegende Gericht hat die Entscheidungserheblichkeit der zur Prüfung vorgelegten gesetzlichen Regelung (vgl. BVerfGE 7, 171 <173 f.>; 22, 175 <177>; 79, 240 <243>; 105, 61 <67>; 121, 108 <117>; 133, 1 <10 f. Rn. 35>; 135, 1 <10 f. Rn. 28>; 136, 127 <142 Rn. 44 f., 145 ff. Rn. 53 ff.>; 138, 1 <13 Rn. 37>) sowie seine Überzeugung von deren Verfassungswidrigkeit (vgl. BVerfGE 78, 165 <171 f.>; 85, 329 <333>; 86, 71 <77 f.>; 88, 70 <74>; 88, 198 <201>; 93, 121 <132>; 121, 108 <117>; 136, 127 <142 Rn. 45, 145 ff. Rn. 53 ff.>; 138, 1 <13 f. Rn. 37, 15 f. Rn. 42>; 141, 1 <11 Rn. 23>) in einer den Anforderungen des § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG genügenden Weise begründet. Der Bundesgerichtshof war insbesondere nicht gehalten, die Entscheidungserheblichkeit auch spezifisch mit Blick auf den Einfluss des Unionsrechts darzulegen (vgl. hierzu BVerfGE 129, 186 <204 f.>). Denn die hier maßgebliche nationale Vorschrift ist nicht unionsrechtlich überformt. 101 Sie ist vollumfänglich – und ausschließlich – am Maßstab des Grundgesetzes überprüfbar, da die materiellen Regelungen der § 76a Abs. 2 Satz 1, § 76b Abs. 1, § 78 Abs. 1 Satz 2 StGB keine unionsrechtlichen Vorgaben umsetzen. Zwar dient das Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung (BGBl I 2017 S. 872) auch der Umsetzung der Richtlinie 2014/42/EU in innerstaatliches Recht (vgl. BTDrucks 18/9525, S. 48). Die Richtlinie macht indes keinerlei Vorgaben zur Verjährung staatlicher Einziehungsansprüche. Zudem fordert sie nur für Fallkonstellationen, in denen gegen den Beschuldigten nicht verhandelt werden kann, weil er verhandlungsunfähig erkrankt ist oder sich der Strafverfolgung durch Flucht entzogen hat (Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2014/42/EU), die Möglichkeit einer selbständigen Einziehung. Die Übergangsregelung des Art. 316h EGStGB ist folglich nicht durch Unionsrecht determiniert. C. 102 Art. 316h Satz 1 EGStGB ist mit den im Rechtsstaatsprinzip und in den Grundrechten verankerten Prinzipien der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes vereinbar, auch soweit er § 76a Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit § 78 Abs. 1 Satz 2 sowie § 76b Abs. 1 StGB jeweils in der Fassung des Gesetzes zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung vom 13. April 2017 (BGBl I S. 872) in Fällen für anwendbar erklärt, in denen hinsichtlich der rechtswidrigen Taten, aus denen der von der selbständigen Einziehung Betroffene etwas erlangt hat, bereits vor dem Inkrafttreten der Neuregelung am 1. Juli 2017 Verfolgungsverjährung eingetreten war. 103 Die Einziehung von Taterträgen oder deren Wert ist keine Strafe im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG (I.). Der Prüfungsmaßstab für Art. 316h Satz 1 EGStGB ergibt sich ausschließlich aus dem allgemeinen Rückwirkungsverbot. Hiernach liegt eine – ausnahmsweise zulässige – Rückbewirkung von Rechtsfolgen vor (II.). I. 104 Art. 316h Satz 1 EGStGB ist nicht am spezifisch strafrechtlichen Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG zu messen (vgl. ebenso Altenhain/Fleckenstein, in: Matt/Renzikowski, StGB, 2. Aufl. 2020, Vorb. zu § 73 Rn. 3; Heine, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, 4. Aufl. 2019, § 73 Rn. 34; Lohse, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 13. Aufl. 2020, Vorb. zu §§ 73 bis 76b Rn. 37-40; im Ergebnis ebenso Hennecke, NZWiSt 2018, S. 121 <124>; a.A. Müller, Das Entschädigungsverfahren nach dem Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung, 2020, S. 80; Rebell-Houben, NZWiSt 2018, S. 153 <155>). Dies folgt aus dem fehlenden Strafcharakter der Einziehung von Taterträgen. 105 1. Der Anwendungsbereich von Art. 103 Abs. 2 GG ist auf staatliche Maßnahmen beschränkt, die eine missbilligende hoheitliche Reaktion auf ein rechtswidriges, schuldhaftes Verhalten darstellen und wegen dieses Verhaltens ein Übel verhängen, das dem Schuldausgleich dient. Andere staatliche Eingriffsmaßnahmen werden von Art. 103 Abs. 2 GG nicht erfasst. Es genügt nicht, dass eine Maßnahme an ein rechtswidriges Verhalten anknüpft. Daher fallen rein präventive Maßnahmen nicht unter Art. 103 Abs. 2 GG (vgl. BVerfGE 109, 133 <167>; 134, 33 <81 Rn. 110>; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 1. Dezember 2020 - 2 BvR 916/11, 2 BvR 636/12 -, Rn. 232). Normzweck des Art. 103 Abs. 2 GG ist ein erhöhter rechtsstaatlicher Schutz gegenüber spezifisch strafrechtlichen Maßnahmen, mit denen der Staat auf schuldhaftes Unrecht antwortet. Die Garantie des Art. 103 Abs. 2 GG soll verhindern, dass der Staat ein Verhalten erst nachträglich hoheitlich missbilligt, es mit einer Sanktion belegt und dem Betroffenen den Vorwurf rechtswidrigen und schuldhaften Verhaltens macht. Sinn der Verfassungsnorm ist es, dem Bürger die Grenzen des straffreien Raumes klar vor Augen zu stellen, damit er sein Verhalten daran orientieren kann (vgl. BVerfGE 32, 346 <362>; 109, 133 <172>). Wer sich gesetzestreu verhalten hat, darf nicht durch eine rückwirkende Rechtsnorm nachträglich „ins Unrecht gesetzt“ werden. Mithin schützt das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG den Bürger davor, dass der Staat die Bewertung des Unrechtsgehalts einer Tat nachträglich zu seinem Nachteil ändert (vgl. BVerfGE 95, 96 <131>; 109, 133 <172>), gleichgültig ob er vergangenes Verhalten neu mit Strafe bedroht, eine bestehende Strafdrohung verschärft (vgl. BVerfGE 25, 269 <286>; 46, 188 <192>; 81, 132 <135>; 109, 133 <172>) oder auf sonstige Weise – etwa durch Streichung eines Rechtfertigungsgrunds (vgl. BVerfGE 95, 96 <131 f.>) – den Unrechtsgehalt neu bewertet (vgl. BVerfGE 109, 133 <172>). 106 2. Die Vermögensabschöpfung, wie sie durch das Reformgesetz vom 13. April 2017 geregelt wurde, ist – wie schon nach den zuvor geltenden Vorschriften zum Verfall (vgl. BVerfGE 110, 1 <13 ff.>) – keine dem Schuldgrundsatz unterliegende Nebenstrafe, sondern eine Maßnahme (§ 11 Abs. 1 Nr. 8 StGB) eigener Art mit kondiktionsähnlichem Charakter (a). Den präventiv-ordnenden Charakter der Vermögensabschöpfung nach alter Rechtslage wollte der Reformgesetzgeber ausdrücklich beibehalten (b). Auch erhebliche Neuerungen gerade im System der Opferentschädigung haben die Funktionsweise der Vermögensabschöpfung nicht derart verändert, dass nunmehr von einem Strafcharakter der vermögensabschöpfenden Maßnahmen auszugehen wäre (c). 107 a) Strafe ist die Auferlegung eines Rechtsnachteils wegen einer schuldhaft begangenen rechtswidrigen Tat. Neben ihrer Aufgabe abzuschrecken und zu resozialisieren, stellt sie eine Antwort auf strafrechtlich verbotenes Verhalten dar (vgl. BVerfGE 21, 378 <384>; 21, 391 <404>; 22, 125 <132>; 45, 187 <253 f.>; 95, 96 <140>; 110, 1 <13>). Mit der Strafe wird ein rechtswidriges sozial-ethisches Fehlverhalten vergolten. Das dem Täter auferlegte Strafübel soll den schuldhaften Normverstoß ausgleichen und ist insoweit Ausdruck vergeltender Gerechtigkeit (vgl. BVerfGE 9, 167 <171>; 22, 49 <79 f.>; 95, 96 <140>; 96, 10 <25>; 110, 1 <13>; 117, 71 <110>; 131, 268 <306>; 134, 33 <81 Rn. 110>). Einer Strafe ähnlich und in gleicher Weise an Art. 103 Abs. 2 GG zu messen sind Sanktionen, die wie eine Strafe wirken (vgl. zu strafähnlichen Sanktionen BVerfGE 22, 125 <131>; 27, 36 <40 ff.>; 35, 311 <320>; 74, 358 <375 f.>; 110, 1 <13 f.>). Dies ist indes nicht schon dann der Fall, wenn sie mit einer Einbuße an Freiheit oder Vermögen verbunden sind und damit faktisch die Wirkung eines Übels entfalten. Bei der Beurteilung des Strafcharakters einer Rechtsfolge sind vielmehr weitere, wertende Kriterien heranzuziehen, insbesondere der Rechtsgrund der Anordnung und der vom Gesetzgeber mit ihr verfolgte Zweck (vgl. BVerfGE 9, 137 <144 ff.>; 21, 378 <383 ff.>; 21, 391 <403 ff.>; 22, 125 <131>; 23, 113 <126>; 27, 36 <40 ff.>; 80, 109 <120 ff.>; 110, 1 <14>). 108 Ausgehend von diesem verfassungsrechtlichen Verständnis von Strafe hatte der (erweiterte) Verfall (vgl. oben Rn. 8), an dessen Stelle das Instrument der Einziehung von Taterträgen getreten ist, keinen Strafcharakter (krit. BGH, Beschluss vom 8. Juli 2020 - 1 StR 467/18 -, juris, Rn. 28; Eser/Schuster, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, vor § 73 Rn. 16 m.w.N.; Rebell-Houben, NZWiSt 2018, S. 153 <155>; Saliger, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, StGB, 5. Aufl. 2017, Vorb. zu §§ 73 ff. Rn. 5; Müller, Das Entschädigungsverfahren nach dem Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung, 2020, S. 68-71, 80; für eine Einordnung des Verfalls nach altem Recht als zumindest strafähnliche Maßnahme auch Lindemann, in: Leitner/Rosenau, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 1. Aufl. 2017, Vorb. zu §§ 73 ff. Rn. 4; gegen die Einordnung als zumindest strafähnliche Sanktion vgl. hingegen Altenhain/Fleckenstein, in: Matt/Renzikowski, StGB, 2. Aufl. 2020, Vorb. zu § 73 Rn. 3; Heger, in: Lackner/Kühl, StGB, 29. Aufl. 2018, § 73 Rn. 1; Heine, in: Satzger/Schlucke-bier/Widmaier, StGB, 4. Aufl. 2019, § 73 Rn. 34; Lohse, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 13. Aufl. 2020, Vorb. zu §§ 73 bis 76b Rn. 37-40; Schmidt, Vermögensabschöpfung. Handbuch für das Straf- und Ordnungswidrigkeitenverfahren, 2. Aufl. 2019, S. 11 ff., Rn. 43, 47-49; im Ergebnis ebenso Hennecke, NZWiSt 2018, S. 121 <124>; speziell zur Regelung des § 76a Abs. 4 StGB ebenso Höft, HRRS 2018, S. 196 <200>; ebenso zum Verfall bereits Joecks, in: Münchener Kommentar zum StGB, 3. Aufl. 2016, Vorb. zu § 73 Rn. 28; Wolters, in: Systematischer Kommentar zum StGB, 9. Aufl. 2016, § 73 Rn. 5). 109 aa) Der Gesetzgeber kann weitgehend frei darüber entscheiden, ob und auf welche Weise er rechtswidrig erlangte wirtschaftliche Vorteile entziehen will. So kann er die Vorteilsentziehung selbständig neben der Festsetzung einer – entsprechend dem Schuldgrundsatz – nur am Verschulden des Täters orientierten pönalen Sanktion vorsehen oder in Fällen, in denen eine solche Sanktion nicht verhängt werden kann, auch als Inhalt einer in einem objektiven Verfahren ergehenden gesonderten Anordnung. Ebenso steht es ihm offen, eine strafende Sanktion so zu bemessen, dass mit ihr zugleich die Abschöpfung des Gewinns sichergestellt wird. Es liegt mithin in der Entscheidung des Gesetzgebers, ob er mit einer gewinnabschöpfenden Maßnahme zugleich Strafzwecke verfolgen will oder nicht (vgl. BVerfGE 110, 1 <15>). 110 bb) Der Verfall nach früherer Rechtslage hatte keinen Straf- oder strafähnlichen Charakter. Der damalige Gesetzgeber wollte die Abschöpfung deliktisch erzielter Vermögensvorteile als gesonderte Rechtsfolge neben die Strafe setzen (vgl. BVerfGE 110, 1 <15 f.>). Ziel des Verfalls war nicht die Zufügung eines Übels, sondern die Beseitigung eines Vorteils, dessen Verbleib den Täter zu weiteren Taten hätte verlocken können. Der historische Gesetzgeber wollte mit dem Verfall mithin keine Strafsanktion, sondern eine Maßnahme eigener Art „mit kondiktionsähnlichem Charakter“ schaffen (vgl. BVerfGE 110, 1 <16>). Die Beseitigung einer bereits eingetretenen Störung der Vermögensordnung setzt zwar vergangenheitsbezogene Feststellungen voraus und ist insoweit retrospektiv. Der korrigierende Eingriff aber, mit dem der Staat auf eine deliktisch entstandene Vermögenslage reagiert, ist nicht notwendig repressiv. Auch das öffentliche Gefahrenabwehrrecht erlaubt hoheitliche Maßnahmen, um Störungen zu beseitigen. Gefahrenabwehr endet nicht dort, wo gegen eine Vorschrift verstoßen und hierdurch eine Störung der öffentlichen Sicherheit bewirkt wurde. Sie umfasst ebenso die Aufgabe, eine Fortdauer der Störung zu verhindern (vgl. BVerfGE 110, 1 <17>). 111 Maßnahmen der Störungsbeseitigung knüpfen zwar an in der Vergangenheit begründete Zustände an, sind in ihrer Zielrichtung aber zukunftsbezogen. Sie wollen nicht ein normwidriges Verhalten öffentlich missbilligen und sühnen, sondern verhindern, dass eine bereits eingetretene Störung der Rechtsordnung in Zukunft andauert (vgl. BVerfGE 110, 1 <17 f.> unter Verweis auf BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Januar 1989 - 2 BvR 554/88 -, NJW 1990, S. 1229). 112 (1) Der erweiterte Verfall nach alter Rechtslage verfolgte eine solche Zielsetzung. Dem stand nicht entgegen, dass die Erwägung des Gesetzgebers, die strafrechtliche Gewinnabschöpfung könne auch sichernde Wirkungen erzielen, in der damaligen Regelung des Verfalls nicht unmittelbar Niederschlag gefunden hatte. Denn die vermögensordnende Zielsetzung der Vorschrift war klar zukunftsbezogen und präventiv: Der betroffene Straftäter sollte deliktisch erlangte Gegenstände nicht behalten; die mit der Bereicherung des Täters verbundene Störung der Rechtsordnung sollte nicht auf Dauer bestehen bleiben; die Gewinnabschöpfung sollte verhindern, dass die bereits eingetretene Störung der Vermögensordnung auch zukünftig fortdauerte (vgl. BVerfGE 110, 1 <18>). 113 (2) Mit dieser Zielsetzung wirkte der erweiterte Verfall nicht wie eine Strafsanktion. Seine Anordnung erfolgte nicht, um dem Betroffenen die Begehung der Herkunftstat vorzuhalten und über sie ein sozial-ethisches Unwerturteil zu sprechen. Sie zielte vielmehr darauf, einen rechtswidrigen Zustand für die Zukunft zu beseitigen. Die Entziehung deliktisch erlangten Vermögens war danach nicht Ausdruck vergeltender, sondern ordnender Gerechtigkeit (vgl. BVerfGE 110, 1 <18> unter Verweis auf BGH, Urteil vom 1. März 1995 - 2 StR 691/94 -, NStZ 1995, S. 491). 114 cc) Auch das mit dem erweiterten Verfall verfolgte generalpräventive Ziel, Anreize für gewinnorientierte Delikte zu reduzieren, gab dieser Regelung keinen strafähnlichen Charakter. Zwar hat die Entziehung deliktisch erzielter Vermögensvorteile eine strafergänzende Funktion, weil sich die ein Übel zufügende und damit abschreckende Wirkung einer Strafe mindern kann, wenn der materielle Tatvorteil in der Hand des Täters verbleibt. Ein möglicher negativer Einfluss unterbliebener Gewinnabschöpfung auf die Nachdrücklichkeit einer Strafe bedeutet aber nicht, dass die Gewinnabschöpfung selbst zwingend strafende Wirkung erzielt oder intendiert (vgl. BVerfGE 110, 1 <19>). Mit den strafrechtlichen Verfallvorschriften sollte die mit ihnen beabsichtigte generalpräventive Wirkung nicht durch Abschreckung, sondern auf andere Weise erreicht werden: Die Wegnahme deliktisch erlangter Vermögenswerte sollte dem Täter, wie auch der Rechtsgemeinschaft, vor Augen führen, dass strafrechtswidrige Bereicherungen nicht geduldet werden und Straftaten sich nicht lohnen. Der vermögensordnende Eingriff sollte die Unverbrüchlichkeit und die Gerechtigkeit der Rechtsordnung erweisen und so die Rechtstreue der Bevölkerung stärken (vgl. BVerfGE 110, 1 <19 f.>). Diese auch als positiver Aspekt strafrechtlicher Generalprävention anerkannte Zielsetzung ist kein Spezifikum strafrechtlicher Vorschriften. Soweit es um die Abschöpfung deliktisch erlangten Vermögens geht, deckt sie sich mit einem alle Rechtsgebiete übergreifenden Grundsatz, wonach eine mit der Rechtsordnung nicht übereinstimmende Vermögenslage auszugleichen ist. Die normbestätigende Zielsetzung des erweiterten Verfalls charakterisierte diesen daher nicht zwingend als pönale Maßnahme (vgl. BVerfGE 110, 1 <20> unter Verweis auf BGHSt 47, 369 <373 ff.>). 115 dd) Auch als der historische Gesetzgeber das bis dahin im Verfallrecht geltende Nettoprinzip (Abschöpfung des Taterlöses abzüglich der Tatkosten) durch das Bruttoprinzip (Abschöpfung des erlangten „Etwas“ ohne Abzug für die Tat geleisteter Aufwendungen) ersetzte, wurde dem Rechtsinstitut des Verfalls der kondiktionsähnliche Charakter nicht genommen. Der Gesetzgeber machte sich damit eine an Wortlaut und Gesetzessystematik der §§ 812 ff. BGB orientierte Sichtweise des zivilrechtlichen Bereicherungsrechts zu Eigen. Dessen Funktion beschränkt sich nicht auf die Abschöpfung noch vorhandener Vermögenswerte. Vielmehr ist die Kondiktion ein eigenständiges Instrument zur Korrektur irregulärer Vermögenszuordnungen, das nach § 818 Abs. 3 BGB allein den gutgläubigen Bereicherungsschuldner vor Vermögenseinbußen schützt, während es dem Bösgläubigen in § 818 Abs. 4, § 819 BGB wirtschaftliche Verlustrisiken zuweist (vgl. BVerfGE 110, 1 <20 f.>). Der Gesetzgeber wollte nach der damaligen Gesetzesbegründung das Verfallrecht an die im zivilrechtlichen Bereicherungsrecht vorgefundene Risikozuweisung angleichen. Mit seinem Bezug auf den der Regelung des § 817 Satz 2 BGB zugrundeliegenden Gedanken der Rechtsschutzverweigerung stellte er klar, dass er dem von einer Anordnung des Verfalls Betroffenen lediglich eine rechtliche Begünstigung versagen und damit die im zivilrechtlichen Bereicherungsrecht vorgefundene Risikozuweisung übernehmen, nicht aber eine neue pönale Rechtsfolge schaffen wollte (vgl. BVerfGE 110, 1 <21 f.>). 116 ee) Insgesamt betrachtet war die Gewinnabschöpfung gemäß § 73d StGB a.F. keine pönale Reaktion auf ein früheres normwidriges Verhalten des Betroffenen. Vielmehr antwortete sie auf eine gegenwärtige Störung der Vermögensordnung mit einem korrigierenden und normbekräftigenden Eingriff. Der erweiterte Verfall verfolgte nicht repressiv-vergeltende, sondern präventiv-ordnende Ziele und war daher keine dem Schuldgrundsatz unterliegende strafähnliche Maßnahme. Die verschuldensunabhängige Ausgestaltung des erweiterten Verfalls begegnete insoweit keinen verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl. BVerfGE 110, 1 <22>). 117 b) Mit der jüngsten Reform wollte der Gesetzgeber den quasi-kondiktionellen Charakter der Vermögensabschöpfung nicht in Frage stellen (vgl. BTDrucks 18/9525, S. 48, 62; BTDrucks 18/11640, S. 79). Sein Ziel war es, die Parallelen zum Zivil-, insbesondere zum Bereicherungsrecht zu stärken, indem er die dortigen Regelungen zum Ausgangspunkt der Ausgestaltung der Vermögensabschöpfung nahm. So ließ er sich bei der näheren Ausgestaltung des Bruttoprinzips vom Vorbild des § 817 Satz 2 BGB (vgl. BTDrucks 18/9525, S. 55, 67), bei der Kodifizierung der „Verschiebungsfälle“ von der Regelung des § 822 BGB (vgl. BTDrucks 18/9525, S. 56) leiten. Er betonte im Gesetzgebungsverfahren wiederholt und ausdrücklich, in Anknüpfung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum erweiterten Verfall trotz der Änderung in der Benennung der Maßnahme deren quasi-kondiktionellen Charakter erhalten zu wollen (vgl. BTDrucks 18/9525, S. 48, 62, 65, 66; BTDrucks 18/11640, S. 79). c) Die bei der rechtlichen Einordnung des erweiterten Verfalls als maßgeblich berücksichtigten Merkmale (vgl. BVerfGE 110, 1 <14-16>) finden sich im neuen Vermögensabschöpfungsrecht wieder (vgl. ebenso BGH, Urteil vom 15. Mai 2018 - 1 StR 651/17 -, NStZ-RR 2018, S. 241 <insoweit in BGHR StGB § 73c, Verhältnismäßigkeit 1 – bei Entreicherung, nicht abgedruckt>; BGHR StGB § 73 Abs. 1, Ansprüche Geschädigter 1 – Übergangsregelung; BGHR StGB § 73, Strafzumessung 1 – keine strafmildernde Berücksichtigung; BGH, Urteil vom 24. Mai 2018 - 5 StR 623/17, 624/17 -, juris, Rn. 17; OLG Köln, Urteil vom 23. Januar 2018 - III-1 RVs 274/17 -, juris, Rn. 13; OLG München, Beschluss vom 19. Juli 2018 - 5 OLG 15 Ss 539/17 -, juris, Rn. 18-23; Heine, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, 4. Aufl. 2019, § 73 Rn. 7 f., 34; Lohse, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 13. Aufl. 2020, Vorb. zu §§ 73 bis 76b Rn. 38-40; Müller-Metz, NStZ 2018, S. 400). 119 aa) Die begriffliche Abgrenzung der Vermögensabschöpfung als Maßnahme von den im Strafgesetzbuch vorgesehenen Strafen ist trotz der Umbenennung des „Verfalls“ in „Einziehung von Taterträgen“ beibehalten worden. Die systematische Zusammenfassung mit anderen präventiv ausgerichteten Maßnahmen besteht gemäß § 11 Abs. 1 Nr. 8 StGB weiterhin. Die Möglichkeit ihrer selbständigen Anordnung unabhängig von der strafrechtlichen Verfolgung einer Person ist in § 76a StGB gegenüber der zuvor geltenden Regelung noch erweitert worden, insbesondere im Hinblick auf die verfahrensgegenständliche Regelung des § 76a Abs. 2 Satz 1 StGB betreffend die Einziehung von Taterträgen nach Eintritt der Verjährung der Herkunftstat. 120 bb) Das Bruttoprinzip ist durch das Reformgesetz ebenfalls nicht grundlegend verändert worden, vielmehr sollte in erster Linie seine Anwendung durch die Neuregelung vereinheitlicht werden (vgl. BTDrucks 18/9525, S. 46 f., 55 f.; BTDrucks 18/11640, S. 78 f.). Gemäß § 73d Abs. 1 Satz 2 StGB unterfallen, angelehnt an die bereicherungsrechtliche Norm des § 817 Satz 2 BGB, grundsätzlich alle Aufwendungen für die Tat einem Abzugsverbot (vgl. BTDrucks 18/9525, S. 55 f.; BTDrucks 18/11640, S. 79), während die Aufwendungen des gutgläubigen Dritten in voller Höhe abzuziehen sind. Nach dem Willen des Gesetzgebers sollen zudem im Rahmen von Fahrlässigkeitstaten getätigte Aufwendungen stets abzugsfähig sein (vgl. BTDrucks 18/11640, S. 79). Überdies sind Aufwendungen zur Erfüllung einer rechtswirksamen Verbindlichkeit gegenüber dem Verletzten abzuziehen (§ 73d Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 StGB). Hieraus ergibt sich ein nach der Schutzwürdigkeit des Vertrauens der Betroffenen gestuftes System, nach dem Verlustrisiken dem Bösgläubigen zugewiesen und zugleich unbillige Belastungen vermieden werden (vgl. BGH, Urteil vom 15. Mai 2018 - 1 StR 651/17 -, NStZ-RR 2018, S. 241, wonach der kondiktionsähnliche und gerade nicht pönale Charakter der Vermögensabschöpfung im neuen Recht vor allem durch die in § 73d Abs. 1 StGB eröffneten Abzugsmöglichkeiten für Aufwendungen sogar verstärkt worden sei; ähnlich Müller-Metz, NStZ 2018, S. 400 <401>; Heger, in: Lackner/Kühl, StGB, 29. Aufl. 2018, § 73 Rn. 1). Dass der Täter Maßnahmen der Vermögensabschöpfung wie eine Strafe – oder sogar stärker als eine solche – empfinden mag, ändert daran nichts. 121 cc) Auch die Änderungen im Opferentschädigungssystem zwingen nicht zu einer Einordnung als Strafe. Zwar führt der Wegfall des Vorrangs von Ersatzansprüchen der Geschädigten gegenüber der Vermögensabschöpfung durch die Streichung des § 73 Abs. 1 Satz 2 StGB a.F. zu einer erheblichen Ausweitung vermögensabschöpfender Maßnahmen in tatsächlicher Hinsicht, da zahlreiche Straftatbestände nicht vorrangig dem Schutz der Allgemeinheit, sondern individueller Geschädigter dienen. Allein diese Erweiterung des Anwendungsbereichs zieht indes keine Änderung des Charakters der Maßnahme nach sich. Der weitgehende Verzicht auf eine Prüfung der Entreicherung des Einziehungsbetroffenen sowie auf eine etwaige Unbilligkeit der Einziehung im Erkenntnisverfahren wird durch die Nachholung der entsprechenden Prüfung im Vollstreckungsverfahren gemäß § 459g Abs. 5 StPO hinreichend kompensiert (vgl. hierzu auch BGHR StGB § 73c, Verhältnismäßigkeit 1 – bei Entreicherung <Rn. 57>; OLG München, Beschluss vom 19. Juli 2018 - 5 OLG 15 Ss 539/17 -, juris, Rn. 25 f.; Lohse, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 13. Aufl. 2020, Vorb. zu §§ 73 bis 76b Rn. 40). 122 3. Die Qualifizierung der Vermögensabschöpfung als Maßnahme eigener Art und nicht als Strafe steht schließlich im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention, die als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte heranzuziehen ist (vgl. BVerfGE 111, 307 <317 f.>; 128, 326 <366 ff.>; 148, 296 <351 Rn. 128>; 149, 293 <328 Rn. 86>), auch wenn sie keine schematische Parallelisierung der Aussagen des Grundgesetzes mit denen der Europäischen Menschenrechtskonvention verlangt (vgl. BVerfGE 128, 326 <366, 392 f.>). 123 a) Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bestimmt den Begriff der Strafe im Sinne von Art. 7 Abs. 1 EMRK autonom (vgl. EGMR, Welch v. The United Kingdom, Urteil vom 9. Februar 1995, Nr. 17440/90, § 27; Bergmann v. Germany, Urteil vom 7. Januar 2016, Nr. 23279/14, § 150; EGMR (GK), G.I.E.M. S.r.l. and Others v. Italy, Urteil vom 28. Juni 2018, Nr. 1828/06 and 2 others, § 210; Ilnseher v. Germany, Urteil vom 4. Dezember 2018, Nr. 10211/12 and 27505/14, § 203; EGMR, Balsamo v. San Marino, Urteil vom 8. Oktober 2019, Nr. 20319/17 and 21414/17, § 59). Insbesondere im Bereich vermögensabschöpfender Maßnahmen stellt er im Ausgangspunkt darauf ab, ob die fragliche Maßnahme nach einer Verurteilung wegen einer Straftat verhängt wurde. Weitere relevante Faktoren sind die Art und der Zweck der Maßnahme, ihre Charakterisierung nach innerstaatlichem Recht, die mit ihrer Schaffung und Durchführung verbundenen Verfahren und ihre Schwere (vgl. EGMR, Welch v. The United Kingdom, Urteil vom 9. Februar 1995, Nr. 17440/90, § 28; Vannucci v. San Marino, Entscheidung vom 28. März 2017, Nr. 33898/15, § 40; EGMR (GK), G.I.E.M. S.r.l. and Others v. Italy, Urteil vom 28. Juni 2018, Nr. 1828/06 and 2 others, § 211; EGMR, Balsamo v. San Marino, Urteil vom 8. Oktober 2019, Nr. 20319/17 and 21414/17, § 59; vgl. entsprechend zum Strafbegriff außerhalb des Bereichs der vermögensabschöpfenden Maßnahmen EGMR (GK), Ilnseher v. Germany, Urteil vom 4. Dezember 2018, Nr. 10211/12 and 27505/14, § 203). Für sich allein zwingt weder die fehlende Anknüpfung an eine strafrechtliche Verurteilung noch die Entscheidung durch ein Strafgericht oder die Schwere der Maßnahme zu einem bestimmten Abwägungsergebnis (vgl. EGMR, Balsamo v. San Marino, Urteil vom 8. Oktober 2019, Nr. 20319/17 and 21414/17, §§ 60, 63 f.; vgl. zur begrenzten Aussagekraft der Schwere der Maßnahme auch EGMR, Welch v. The United Kingdom, Urteil vom 9. Februar 1995, Nr. 17440/90, § 32; EGMR (GK), Ilnseher v. Germany, Urteil vom 4. Dezember 2018, Nr. 10211/12 und 27505/14, § 203). Die Einziehung ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs keine auf den Bereich des Strafrechts beschränkte Maßnahme, sondern kommt in erheblichem Umfang auch im Bereich des Verwaltungsrechts vor (vgl. EGMR, Balsamo v. San Marino, Urteil vom 8. Oktober 2019, Nr. 20319/17 and 21414/17, § 64). 124 b) In der Entscheidung Balsamo v. San Marino ging es um einen Fall, in dem Bankguthaben und der Inhalt eines Schließfaches im Wert von fast zwei Millionen Euro wegen ihrer Herkunft aus Geldwäschetaten eingezogen wurden, obwohl die Inhaberinnen der Konten zugleich mangels Vorsatzes freigesprochen worden waren (vgl. EGMR, Balsamo v. San Marino, Urteil vom 8. Oktober 2019, Nr. 20319/17 and 21414/17, §§ 8-12, 16). Unter Bezugnahme auf die in den Entscheidungen G.I.E.M. S.r.l. and Others v. Italy und Ilnseher v. Germany dargestellten Maßstäbe (vgl. EGMR, Balsamo v. San Marino, Urteil vom 8. Oktober 2019, Nr. 20319/17 and 21414/17, § 59) sah der Gerichtshof in dieser Einziehung keine Strafe im Sinne des Art. 7 EMRK, da hier nach Art und Zweck keine pönale, sondern eine präventive Maßnahme vorliege. Denn die Einziehung sei unabhängig vom Eigentum der Betroffenen sowie von einem Strafverfahren oder einer Schuldfeststellung erfolgt und stelle nach der nationalen Dogmatik eine präventive Maßnahme dar. Zudem diene die Einziehung dem Zweck, den illegalen Gebrauch der aus Straftaten stammenden Gelder zu verhindern. Dieser Einschätzung stehe die Verhängung durch ein Strafgericht nicht entgegen; eine Entscheidung über nicht-pönale Maßnahmen durch Strafgerichte sei in mehreren Rechtssystemen bekannt, etwa zur zivilrechtlichen Entschädigung des Tatopfers. Auch die Schwere der Maßnahme allein sei nicht entscheidend. Denn viele nicht-pönale Maßnahmen präventiver Art hätten einen erheblichen Einfluss auf die betroffene Person (vgl. EGMR, Balsamo v. San Marino, Urteil vom 8. Oktober 2019, Nr. 20319/17 and 21414/17, §§ 62-64). 125 c) Unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Bewertung von Einziehungsmaßnahmen ist die Einziehung von Taterträgen aus bereits verjährten Taten, wie sie Art. 316h Satz 1 EGStGB in Verbindung mit § 76a Abs. 2 Satz 1, § 78 Abs. 1 Satz 2 und § 76b Abs. 1 StGB ermöglicht, nicht als Strafe im Sinne des Art. 7 EMRK anzusehen (vgl. im Ergebnis ebenso BGHR StGB § 73 Abs. 1, Ansprüche Geschädigter 1 – Übergangsregelung; BGH, Beschluss vom 23. Oktober 2018 - 5 StR 185/18 -, NStZ-RR 2019, S. 175 <176>; OLG Köln, Urteil vom 23. Januar 2018 - III-1 RVs 274/17 -, juris, Rn. 14; LG Münster, Urteil vom 12. Juli 2018 - 10 Ns 220 Js 384/15-14/18 -, juris, Rn. 24 <insoweit in NStZ 2018, S. 669 nicht abgedruckt>; LG Düsseldorf, Urteil vom 5. Februar 2018 - 18 KLs 2/17 -, juris, Rn. 1252; Altenhain/Fleckenstein, in: Matt/Renzi-kowski, StGB, 2. Aufl. 2020, Vorb. zu § 73 Rn. 3; Greier, jurisPR-StrafR 12/2018 Anm. 2; Hartmann, in: Festschrift für Gerhard Wolf, 2018, S. 246-254; Heine, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, 4. Aufl. 2019, § 73 Rn. 34; Lohse, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 13. Aufl. 2020, Vorb. zu §§ 73 bis 76b Rn. 42; speziell zu § 76a Abs. 4 StGB Höft, HRRS 2018, S. 196 <200 f.>; a.A. LG Kaiserslautern, Urteil vom 20. September 2017 - 7 KLs 6052 Js 8343/16 (3) -, NZWiSt 2018, S. 149 <151 f.> unter Verweis auf die Regelung des § 111i Abs. 2 StPO; Heuchemer, in: BeckOK StGB, 48. Edition, <1. November 2020>, § 73 Rn. 1.16; Reichling, wistra 2018, S. 139 <140>; Satzger, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, StPO, 4. Aufl. 2020, Art. 7 EMRK Rn. 10; offen gelassen von OLG München, Beschluss vom 19. Juli 2018 - 5 OLG 15 Ss 539/17 -, juris, Rn. 40-64; Saliger/Schörner, StV 2018, S. 388). 126 aa) Zentrale Kriterien sind nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Art und der Zweck der Maßnahme, für deren Bestimmung auch die nationale Rechtsprechung und Dogmatik heranzuziehen sind (vgl. EGMR (GK), G.I.E.M. S.r.l. and Others v. Italy, Urteil vom 28. Juni 2018, Nr. 1828/06 and 2 others, §§ 222-226; EGMR, Balsamo v. San Marino, Urteil vom 8. Oktober 2019, Nr. 20319/17 and 21414/17, § 62), während die Anknüpfung an eine strafrechtliche Verurteilung, die Entscheidung durch ein Strafgericht und die Schwere der Maßnahme für sich allein nicht zu einem bestimmten Auslegungsergebnis zwingen. Erst recht gilt dies wegen des autonomen Strafbegriffs der Europäischen Menschenrechtskonvention für die Benennung der Maßnahme nach nationalem Recht. 127 bb) Für die Bestimmung von Art und Zweck der Maßnahme kann auf den Beschluss des Zweiten Senats zum erweiterten Verfall (BVerfGE 110, 1) sowie die darauf Bezug nehmenden Teile der Begründung des Gesetzes zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung vom 13. April 2017 (BGBl I S. 872) zurückgegriffen werden, die den Zweck und die Natur der Einziehung von Taterträgen wesentlich präventiv bestimmen. Gegen einen Strafzweck spricht zudem die Ausrichtung des deutschen Vermögensabschöpfungsrechts auf die Entschädigung der Opfer einer Straftat, die mit dem Reformgesetz noch einmal erheblich gestärkt werden sollte. Die abgeschöpften Taterträge sind – zumindest im Falle des Verstoßes gegen individualschützende Strafnormen – gemäß § 459h StPO an die Geschädigten herauszugeben, denen sie deliktisch entzogen wurden. Eine Kon-stellation wie in dem Verfahren Vannucci v. San Marino, in der ein Wiedergutmachungszweck der Maßnahme schon deshalb nicht in Betracht kam, weil die durch die Tat erlangten Gelder bereits an den Geschädigten zurückgeflossen waren, ist nach dem deutschen Vermögensabschöpfungsrecht ausgeschlossen. Denn durch § 73e Abs. 1 StGB sowie § 459g Abs. 4 StPO in Verbindung mit § 362 Abs. 1 BGB wird sichergestellt, dass eine Einziehung des Wertes von Taterträgen dann nicht mehr erfolgt, wenn der Geschädigte den entsprechenden Betrag bereits zurückerhalten hat. 128 cc) Gegen eine Strafe im Sinne des Art. 7 EMRK sprechen weiter die systematische Einordnung außerhalb der Strafen nach deutschem Recht und die Unabhängigkeit gerade der selbständigen Einziehung von einer strafrechtlichen Verurteilung. Der Verhängung durch Strafgerichte nach den Regeln der Strafprozessordnung und der Überzeugung des Gerichts von der Herkunft der Vermögenswerte aus einer Straftat sowie der teils erheblichen Schwere der Maßnahme kommt demgegenüber keine ausschlaggebende Bedeutung zu. 129 dd) Dieses Auslegungsergebnis fügt sich in die Rechtsprechung des Gerichtshofs ein. Soweit dieser vergleichbare Maßnahmen als Strafen eingeordnet hat (vgl. G.I.E.M. S.r.l. and Others v. Italy), markieren die hierfür maßgeblichen Faktoren relevante Unterschiede zur Rechtslage in Deutschland, während diejenigen Entscheidungen, in denen er eine Einordnung als Strafe abgelehnt hat (vgl. vor allem Balsamo v. San Marino) hinsichtlich des Präventionszwecks der Maßnahme, der Unabhängigkeit von einer Schuldfeststellung und der Einordnung durch die nationale Dogmatik trotz der Verhängung durch ein Strafgericht und der Schwere der Maßnahme auf die Rechtslage nach deutschem Recht übertragbar sind. II. 130 Prüfungsmaßstab für die Zulässigkeit der in Art. 316h Satz 1 EGStGB angeordneten Rückwirkung ist demnach allein das allgemeine Rückwirkungsverbot. Hiernach liegt eine Rückbewirkung von Rechtsfolgen vor (1.), die ausnahmsweise zulässig ist (2.). 131 1. Die Grundrechte wie auch das Rechtsstaatsprinzip garantieren im wechselseitigen Zusammenwirken die Verlässlichkeit der Rechtsordnung als wesentliche Voraussetzung für die Selbstbestimmung über den eigenen Lebensentwurf und damit als eine Grundbedingung freiheitlicher Verfassungen (a). Das Bundesverfassungsgericht unterscheidet bei rückwirkenden Gesetzen in ständiger Rechtsprechung zwischen Gesetzen mit „echter“ Rückwirkung („Rückbewirkung von Rechtsfolgen“), die grundsätzlich nicht mit der Verfassung vereinbar sind, und solchen mit „unechter“ Rückwirkung („tatbestandliche Rückanknüpfung“), die nicht grundsätzlich unzulässig sind (b). Im vorliegenden Fall ist über eine Rückbewirkung von Rechtsfolgen zu entscheiden (c). 132 a) Wenn der Gesetzgeber die Rechtsfolge eines der Vergangenheit zugehörigen Verhaltens nachträglich belastend ändert, bedarf dies einer besonderen Rechtfertigung vor dem Rechtsstaatsprinzip und den Grundrechten des Grundgesetzes, unter deren Schutz Sachverhalte „ins Werk gesetzt“ worden sind (vgl. BVerfGE 45, 142 <167 f.>; 63, 343 <356 f.>; 72, 200 <242>; 97, 67 <78 f.>; 127, 1 <16>; 127, 61 <75>; 131, 20 <38>; 132, 302 <317 Rn. 41>; 135, 1 <21 Rn. 60>). Es würde den Einzelnen in seiner Freiheit erheblich gefährden, dürfte die öffentliche Gewalt an sein Verhalten oder an ihn betreffende Umstände im Nachhinein ohne Weiteres belastendere Rechtsfolgen knüpfen, als sie zum Zeitpunkt seines rechtserheblichen Verhaltens galten (vgl. BVerfGE 30, 272 <285>; 63, 343 <357>; 72, 200 <257 f.>; 97, 67 <78>; 105, 17 <37>; 114, 258 <300 f.>; 127, 1 <16>; 127, 61 <75>; 131, 20 <38 f.>; 132, 302 <317 Rn. 41>; 135, 1 <21 Rn. 60>). Für den Bürger bedeutet Rechtssicherheit mithin in erster Linie Vertrauensschutz (vgl. BVerfGE 13, 261 <271>; 30, 272 <285>; 45, 142 <168>; 48, 1 <20>; 51, 356 <363>; 63, 152 <175>; 72, 175 <196>; 88, 384 <403>; 105, 48 <57>). 133 Nach Maßgabe des Vertrauensschutzgebots – das im Zusammenhang mit dem Gewährleistungsgehalt des in seinem Schutzbereich berührten Grundrechts Wirkung entfaltet (vgl. BVerfGE 14, 288 <300>; 25, 142 <154>; 43, 242 <286>; 43, 291 <391>; 75, 246 <280>; 109, 133 <182>; 128, 326 <390>) – ergeben sich die Grenzen gesetzgeberischer Regelungsbefugnis aus einer Abwägung zwischen dem Gewicht der berührten Vertrauensschutzbelange und der Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für das Gemeinwohl (vgl. BVerfGE 14, 288 <300>; 25, 142 <154>; 43, 242 <286>; 43, 291 <391>; 75, 246 <280>; 109, 133 <182>; 128, 326 <390>). Dabei erhöht sich die Bedeutung der berührten Vertrauensschutzbelange in Abhängigkeit von der Schwere des Eingriffs in das sachlich berührte Grundrecht (vgl. BVerfGE 109, 133 <186 f.>; 128, 326 <390>). 134 b) Das Bundesverfassungsgericht unterscheidet bei rückwirkenden Gesetzen in ständiger Rechtsprechung zwischen Gesetzen mit „echter“ und solcher mit „unechter“ Rückwirkung. Eine Rechtsnorm entfaltet – grundsätzlich unzulässige – „echte“ Rückwirkung in Form einer Rückbewirkung von Rechtsfolgen, wenn ihre Rechtsfolge mit belastender Wirkung schon vor dem Zeitpunkt ihrer Verkündung für bereits abgeschlossene Tatbestände gelten soll. Demgegenüber ist von einer „unechten“ Rückwirkung in Form einer tatbestandlichen Rückanknüpfung auszugehen, wenn die Rechtsfolgen eines Gesetzes erst nach Verkündung der Norm eintreten, deren Tatbestand aber Sachverhalte erfasst, die bereits vor Verkündung „ins Werk gesetzt“ worden sind (vgl. BVerfGE 30, 392 <401 f.>; 39, 128 <143>; 72, 200 <241 f.>; 95, 64 <86>; 97, 67 <78 f.>; 101, 239 <263>; 105, 17 <37 f.>; 109, 133 <181>; 114, 258 <300>; 122, 374 <394>; 123, 186 <257>; 127, 1 <16 f.>; 128, 90 <106 f.>; 131, 20 <36 f.>; 132, 302 <318 Rn. 42 f.>; 135, 1 <13 Rn. 37>; 148, 217 <255 Rn. 135 f.>; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 1. Dezember 2020 - 2 BvR 916/11, 2 BvR 636/12 -, Rn. 235 f.). 135 c) Die durch den Bundesgerichtshof im Rahmen der Vorlage zur Entscheidung gestellte Fallkonstellation, in der nach altem Recht dem Verfall die Verjährung der Herkunftstat entgegenstand, aufgrund des Normanwendungsbefehls des Art. 316h Satz 1 EGStGB jedoch ab dem 1. Juli 2017 die Einziehung von Taterträgen im Nachhinein möglich wurde, stellt eine Rückbewirkung von Rechtsfolgen („echte“ Rückwirkung) dar (vgl. ebenso Lohse, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 13. Aufl. 2020, § 76a Rn. 23). 136 Mit dem Eintritt der Verjährung der Straftat hatte der Gesetzgeber den Vorgang ersichtlich für abgeschlossen gehalten und ihn – mit Ausnahme der Möglichkeit des erweiterten Verfalls (vgl. oben Rn. 8) – auch für den Bereich der Vermögensabschöpfung für bedeutungslos erklärt. In diesen Vorgang greift der Anwendungsbefehl des Art. 316h Satz 1 EGStGB nachträglich ändernd ein und erstreckt den Anwendungsbereich der Vermögensabschöpfungsnormen auf den Zeitraum vor Verkündung des Gesetzes zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung vom 13. April 2017 (BGBl I S. 872), indem er die vor diesem Zeitpunkt eingetretene Verfolgungsverjährung der Herkunftstat für den Bereich der Vermögensabschöpfung für unbeachtlich erklärt und die Möglichkeit der Entziehung deliktisch erlangten Vermögens von der Verfolgungsverjährung entkoppelt. 137 2. Die vom Gesetzgeber in Art. 316h Satz 1 EGStGB vorgesehene Rückbewirkung von Rechtsfolgen für Fälle, in denen hinsichtlich der rechtswidrigen Taten, aus denen der von der selbständigen Einziehung Betroffene etwas erlangt hat, bereits vor dem Inkrafttreten der Neuregelung am 1. Juli 2017 Verfolgungsverjährung eingetreten war, ist zulässig. 138 Gesetze mit „echter“ Rückwirkung sind am Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit den von der Rechtsfolgenanordnung berührten Grundrechten zu messen (a) und regelmäßig nicht mit der Verfassung vereinbar (b). Das Rückwirkungsverbot findet im Grundsatz des Vertrauensschutzes jedoch nicht nur seinen Grund, sondern auch seine Grenze. Es gilt nicht, soweit sich kein Vertrauen auf den Bestand des geltenden Rechts bilden konnte oder ein Vertrauen auf eine bestimmte Rechtslage sachlich nicht gerechtfertigt und daher nicht schutzwürdig war (c). Hierzu hat das Bundesverfassungsgericht typisierende Fallgruppen entwickelt, in denen die Rückbewirkung von Rechtsfolgen ausnahmsweise zulässig ist (d). In der hier zur Entscheidung stehenden Konstellation muss der Vertrauensschutz aufgrund überragender Belange des Gemeinwohls zurücktreten, die dem Prinzip der Rechtssicherheit vorgehen (e). 139 a) Verfassungsrechtlicher Maßstab für die Zulässigkeit einer Rechtsänderung, die an Sachverhalte der Vergangenheit anknüpft und zugleich Rechtsfolgen in die Vergangenheit erstreckt, ist – wegen des Schwergewichts der Regelung auf der Rechtsfolgenseite – vorrangig das Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG in Verbindung mit den von der Rechtsfolgenanordnung berührten Grundrechten (vgl. BVerfGE 72, 200 <257>). Eine solche Rückbewirkung von Rechtsfolgen muss sich an den allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätzen insbesondere des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit messen lassen (vgl. BVerfGE 45, 142 <167 f.>; 72, 200 <242>). In Verbindung mit diesen Grundsätzen sind allerdings auch diejenigen Grundrechte zu berücksichtigen, deren Schutzbereich von der nachträglich geänderten Rechtsfolge in belastender Weise betroffen ist (vgl. BVerfGE 72, 200 <242>; 135, 1 <21 Rn. 60>). Das Vertrauensschutzgebot entfaltet demnach hinsichtlich der Vermögensabschöpfung in Fällen, in denen der Betroffene zivilrechtlich wirksam Eigentum erworben hat, im Zusammenspiel mit Art. 14 Abs. 1 GG Wirkung, in den – insbesondere im Bereich der Eigentums- und Betäubungsmitteldelikte häufigen – Fällen fehlenden Eigentumserwerbs sowie bei der Einziehung des Wertes von Taterträgen im Zusammenwirken mit Art. 2 Abs. 1 GG (vgl. hierzu auch BVerfGE 110, 1 <23>). 140 b) Grundsätzlich ist eine Rückbewirkung von Rechtsfolgen („echte“ Rückwirkung) verfassungsrechtlich unzulässig (vgl. BVerfGE 13, 261 <271>; 95, 64 <87>; 97, 67 <78>; 101, 239 <263>; 122, 374 <394>; 127, 1 <17>; 127, 31 <47>; 127, 61 <75 f.>; 131, 20 <39>; 132, 302 <318 Rn. 42>; 135, 1 <13 Rn. 37 und 21 Rn. 60>; 141, 56 <73 Rn. 43>). Dieses grundsätzliche Verbot der Rückbewirkung von Rechtsfolgen schützt das Vertrauen in die Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der unter der Geltung des Grundgesetzes geschaffenen Rechtsordnung und der auf ihrer Grundlage erworbenen Rechte (vgl. BVerfGE 101, 239 <262>; 132, 302 <317 Rn. 41>; 135, 1 <21 Rn. 60>). 141 c) Nach Maßgabe des Vertrauensschutzgebots – das hier im Zusammenhang mit dem Gewährleistungsgehalt des Art. 14 Abs. 1 GG beziehungsweise des Art. 2 Abs. 1 GG Wirkung entfaltet (vgl. hierzu BVerfGE 72, 200 <242>; 128, 326 <390>) – ergeben sich die Grenzen gesetzgeberischer Regelungsbefugnis aus einer Abwägung zwischen dem Gewicht der berührten Vertrauensschutzbelange und der Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für das Gemeinwohl (vgl. BVerfGE 14, 288 <300>; 25, 142 <154>; 43, 242 <286>; 43, 291 <391>; 75, 246 <280>; 109, 133 <182>; 128, 326 <390>). Dabei erhöht sich die Bedeutung der berührten Vertrauensschutzbelange in Abhängigkeit von der Schwere des Eingriffs in das sachlich berührte Grundrecht (vgl. BVerfGE 109, 133 <186 f.>; 128, 326 <390>). 142 Das Rückwirkungsverbot findet im Grundsatz des Vertrauensschutzes indes nicht nur seinen Grund, sondern auch seine Grenze (vgl. BVerfGE 13, 261 <271 f.>; 88, 384 <404>; 101, 239 <266>; 122, 374 <394>; 126, 369 <393>; 135, 1 <21 Rn. 61>). Es gilt nicht, soweit sich ausnahmsweise kein Vertrauen auf den Bestand des geltenden Rechts bilden konnte (vgl. BVerfGE 88, 384 <404>; 95, 64 <86 f.>; 101, 239 <263>; 122, 374 <394>) oder ein Vertrauen auf eine bestimmte Rechtslage nicht schutzwürdig war (vgl. BVerfGE 13, 261 <271>; 50, 177 <193>; 131, 20 <41>; 135, 1 <21 f. Rn. 61>). Bei den in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anerkannten Fallgruppen handelt es sich um Typisierungen ausnahmsweise fehlenden Vertrauens in eine bestehende Gesetzeslage (vgl. BVerfGE 72, 200 <258>; 97, 67 <79 f.>; 135, 1 <22 Rn. 61>). Diese Falltypen sind Ausprägungen des Grundgedankens, dass allein zwingende Gründe des gemeinen Wohls oder ein nicht – oder nicht mehr – vorhandenes schutzbedürftiges Vertrauen des Einzelnen eine Durchbrechung des rechtsstaatlichen Rückwirkungsverbots zugunsten der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers rechtfertigen oder gar erfordern können (vgl. BVerfGE 72, 200 <258>). Die Kategorie der „echten“ Rückwirkung – verstanden als zeitliche Rückbewirkung von Rechtsfolgen auf abgeschlossene Tatbestände – findet ihre Rechtfertigung darin, dass mit ihr eine Fallgruppe gekennzeichnet ist, in der der Vertrauensschutz regelmäßig Vorrang hat, weil der in der Vergangenheit liegende Sachverhalt mit dem Eintritt der Rechtsfolge kraft gesetzlicher Anordnung einen Grad der Abgeschlossenheit erreicht hat, über den sich der Gesetzgeber vorbehaltlich besonders schwerwiegender Gründe nicht mehr hinwegsetzen darf (vgl. BVerfGE 127, 1 <19>). 143 d) Eine Ausnahme vom Grundsatz der Unzulässigkeit echter Rückwirkungen ist anerkanntermaßen gegeben, wenn die Betroffenen schon im Zeitpunkt, auf den die Rückwirkung bezogen wird, nicht auf den Fortbestand einer gesetzlichen Regelung vertrauen durften, sondern mit deren Änderung rechnen mussten (vgl. BVerfGE 13, 261 <272>; 18, 429 <439>; 30, 367 <387>; 88, 384 <404>; 95, 64 <86 f.>; 122, 374 <394>; 123, 111 <130 f.>; 135, 1 <22 Rn. 62>). Vertrauensschutz kommt insbesondere dann nicht in Betracht, wenn die Rechtslage so unklar und verworren war, dass eine Klärung erwartet werden musste (vgl. BVerfGE 13, 261 <272>; 18, 429 <439>; 30, 367 <388>; 50, 177 <193 f.>; 88, 384 <404>; 122, 374 <394>; 126, 369 <393 f.>; 131, 20 <41>; 135, 1 <22 Rn. 62>), oder wenn das bisherige Recht in einem Maße systemwidrig und unbillig war, dass ernsthafte Zweifel an seiner Verfassungsmäßigkeit bestanden (vgl. BVerfGE 13, 215 <224>; 30, 367 <388>; 135, 1 <22 Rn. 62>). Dasselbe gilt, wenn im Laufe der Zeit (durch Entwicklungen in der Rechtsprechung) ein Zustand allgemeiner und erheblicher Rechtsunsicherheit eingetreten war und für eine Vielzahl Betroffener Unklarheit darüber herrschte, was rechtens sei (vgl. BVerfGE 72, 302 <325 f.>; 131, 20 <41>). Der Vertrauensschutz muss ferner zurücktreten, wenn überragende Belange des Gemeinwohls, die dem Prinzip der Rechtssicherheit vorgehen, eine rückwirkende Beseitigung erfordern (vgl. BVerfGE 13, 261 <272>; 18, 429 <439>; 88, 384 <404>; 101, 239 <263 f.>; 122, 374 <394 f.>; 135, 1 <22 Rn. 62>), wenn der Bürger sich nicht auf den durch eine ungültige Norm erzeugten Rechtsschein verlassen durfte (vgl. BVerfGE 13, 261 <272>; 18, 429 <439>; 50, 177 <193 f.>; 101, 239 <263 f.>; 135, 1 <22 Rn. 62>) oder wenn durch die sachlich begründete rückwirkende Gesetzesänderung kein oder nur ganz unerheblicher Schaden verursacht wird (sogenannter Bagatellvorbehalt; vgl. BVerfGE 30, 367 <389>; 72, 200 <258>; 95, 64 <87>; 101, 239 <263 f.>; 135, 1 <22 f. Rn. 62>). 144 e) Die hier zu beurteilende „echte“ Rückwirkung durch Anwendung des neuen Vermögensabschöpfungsrechts auf Sachverhalte, in denen hinsichtlich der Erwerbstat bei Inkrafttreten des Reformgesetzes bereits Verfolgungsverjährung eingetreten war, ist durch überragende Belange des Gemeinwohls gerechtfertigt. 145 aa) Eine Abkoppelung der Abschöpfung des Erlangten von der Verfolgungsverjährung der Erwerbstat wurde zwar im Jahr 1990 im Gesetzgebungsverfahren zum Entwurf eines Strafrechtsänderungsgesetzes – Erweiterter Verfall – als im weiteren Reformprozess wünschenswert angesehen, jedoch beließ es der Gesetzgeber zunächst bei einer eingeschränkten Regelung für den erweiterten Verfall (§ 73d StGB a.F.). Auch im Entwurf der Bundesregierung zum Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung vom 5. September 2016 war eine generelle Entkoppelung von der Verfolgungsverjährung der Herkunftstat ausdrücklich nicht vorgesehen (vgl. BTDrucks 18/9525, S. 57, 72). Erstmals im Rahmen der Anhörung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz des Deutschen Bundestages am 23. November 2016 wurde die Entkoppelung der Einziehung von Taterträgen von der Verfolgungsverjährung eingehend thematisiert. Dieser Vorschlag wurde in der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz vom 22. März 2017 aufgegriffen, der weitergehend eine von den im Gesetzgebungsverfahren angehörten Sachverständigen nicht angeregte umfassende Rückwirkung der Normen auch für Erträge aus Herkunftstaten vorsah, hinsichtlich derer bei Inkrafttreten der Neuregelung bereits Verfolgungsverjährung eingetreten wäre (vgl. BTDrucks 18/11640, S. 2, 82-84). Angesichts der erheblichen Reichweite der angeordneten Rückwirkung, die sich im Regelfall – entsprechend der eigenständigen Verjährungsfrist in § 76b Abs. 1 Satz 1 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung vom 13. April 2017 (BGBl I S. 872) – auf bis zu 30 Jahre vor dem Inkrafttreten des Reformgesetzes am 1. Juli 2017 erstreckte, kann nicht davon ausgegangen werden, die Rechtsunterworfenen hätten vor dem 23. November 2016 mit einer derartigen Gesetzesänderung rechnen müssen. Auch im konkreten, durch den Bundesgerichtshof zu entscheidenden Fall war die absolute Verfolgungsverjährung der Herkunftstat bereits am 31. Juli 2016 eingetreten, somit noch vor der erstmaligen Erörterung einer Entkoppelung der Vermögensabschöpfung von der Verfolgungsverjährung der Herkunftstat in der Anhörung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz des Deutschen Bundestages am 23. November 2016. Dass die Nebenbeteiligten des Ausgangsverfahrens bis zum 31. Juli 2016 aufgrund ihrer Beteiligung am Strafverfahren mit einer Einziehung rechnen mussten, vermag an diesem Befund nichts zu ändern, da zumindest ab dem 1. August 2016 Vertrauen darauf entstehen konnte, einer staatlichen Vermögensabschöpfung grundsätzlich nicht mehr ausgesetzt zu sein, soweit nicht eine noch nicht verjährte Tatvariante hätte nachgewiesen werden können. 146 bb) Die Rückbewirkung von Rechtsfolgen durch Art. 316h Satz 1 EGStGB ist ferner nicht deshalb zulässig, weil die zuvor geltende Rechtslage so unklar und verworren gewesen wäre, dass eine Klärung hätte erwartet werden müssen, das bisherige Recht in einem Maße systemwidrig und unbillig gewesen wäre, dass ernsthafte Zweifel an seiner Verfassungsmäßigkeit bestanden hätten, oder der Bürger sich nicht auf den durch eine ungültige Norm erzeugten Rechtsschein hätte verlassen dürfen. Auch ein Zustand allgemeiner und erheblicher Rechtsunsicherheit, der für eine Vielzahl Betroffener Unklarheit darüber verursachte, was rechtens sei, war nicht eingetreten. Die gegen die frühere Rechtslage geäußerte Kritik, insbesondere an der Umsetzbarkeit der gesetzlichen Vorschriften in der Praxis und der Uneinheitlichkeit der obergerichtlichen Rechtsprechung, hat der Gesetzgeber zwar zum Anlass für einen Teil der umfangreichen Änderungen des Vermögensabschöpfungsrechts genommen (vgl. BTDrucks 18/9525, S. 1 f., 47). Die Koppelung der Vermögensabschöpfung an die Verfolgungsverjährung der Herkunftstat war jedoch nicht Gegenstand der genannten Kontroversen. 147 cc) Der Bagatellvorbehalt greift angesichts des erheblichen Umfangs, den die Vermögensabschöpfung zum Nachteil der Betroffenen annehmen kann, ebenfalls nicht, wie gerade der vom Bundesgerichtshof zu entscheidende Fall mit einer (außergewöhnlich hohen) Einziehungssumme von etwa 10,5 Millionen Euro hinsichtlich eines der Nebenbeteiligten des Ausgangsverfahrens zeigt. 148 dd) Jedoch rechtfertigen hier ausnahmsweise überragende Belange des Gemeinwohls, die dem Prinzip der Rechtssicherheit vorgehen, die in Art. 316h Satz 1 EGStGB angeordnete Rückbewirkung von Rechtsfolgen („echte“ Rückwirkung), soweit die Vorschrift § 76a Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit § 78 Abs. 1 Satz 2 sowie § 76b Abs. 1 StGB auch in Fällen für anwendbar erklärt, in denen hinsichtlich der rechtswidrigen Taten, aus denen der von der selbständigen Einziehung Betroffene etwas erlangt hat, bereits vor dem Inkrafttreten der Neuregelung am 1. Juli 2017 Verfolgungsverjährung eingetreten war (vgl. im Ergebnis ebenso Heine, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, 4. Aufl. 2019, § 73 Rn. 34; offen gelassen in BGH, Urteil vom 11. November 2020 - 1 StR 328/19 -, juris, Rn. 22; a.A. Greger/Weingarten, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 13. Aufl. 2020, § 78 Rn. 2; Hennecke, NZWiSt 2018, S. 121 <124-126>; Lenk, StV 2020, S. 251 <255>; Lohse, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 13. Aufl. 2020, § 76a Rn. 23; Peters/Bröckers, Vermögensabschöpfung im Strafverfahren, 2019, S. 29 Rn. 76; Trüg, NJW 2019, S. 1895 <1896>; so im Hinblick auf eine rückwirkende Erstreckung des § 375a AO auf bereits verjährte Ansprüche aus einem Steuerschuldverhältnis auch Maciejewski, wistra 2020, S. 441 <448>). 149 (1) Der Gesetzgeber verfolgt mit der Anordnung in Art. 316h Satz 1 EGStGB – neben der Entlastung der Rechtsprechung von schwierigen Prüfungen des jeweils günstigeren Rechts und dem Vermeiden eines jahrelangen Nebeneinanders von altem und neuem Recht (vgl. BTDrucks 18/11640, S. 84) – das legitime Ziel (vgl. BVerfGE 81, 228 <237 f.>; 110, 1 <28 f.>), auch für verjährte Taten vermögensordnend zugunsten des Geschädigten einer Straftat einzugreifen und dem Täter den Ertrag seiner Taten – auch im Falle fehlender Strafverfolgung – nicht dauerhaft zu belassen. 150 (2) Dieses Ziel ist überragend wichtig. 151 (a) Die vermögensordnende Funktion des Vermögensabschöpfungsrechts ist nicht auf eine weitgehend wertneutrale Vermögenszuordnung gerichtet, sondern findet ihren Ausgangspunkt in den strafrechtlichen Bewertungen des Gesetzgebers. Durch die Vermögensabschöpfung soll in normbekräftigender Weise sowohl dem Straftäter als auch der Rechtsgemeinschaft vor Augen geführt werden, dass eine strafrechtswidrige Vermögensmehrung von der Rechtsordnung nicht anerkannt wird und deshalb keinen Bestand haben kann. Die Entziehung solcher strafrechtswidrig erlangter Werte soll die Gerechtigkeit und Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung erweisen und so die Rechtstreue der Bevölkerung stärken (vgl. bereits BVerfGE 110, 1 <19 f.> zum erweiterten Verfall). Von besonderer Bedeutung sind diese Gesichtspunkte im Bereich der Organisierten Kriminalität wie auch in Deliktsfeldern, in denen in Ermangelung eines unmittelbar Geschädigten nicht ohne Weiteres mit dem Entzug deliktisch erlangten Vermögens zu rechnen ist. Gerade dort kann der der Rechtstreue der Bevölkerung abträgliche Eindruck eines erheblichen Vollzugsdefizits der in den Strafgesetzen zum Ausdruck kommenden Wertungen entstehen, wenn aus Straftaten stammende Vermögenswerte Straftätern oder von diesen begünstigten Personen belassen werden und von diesen genutzt werden können (vgl. zur entsprechenden Zielsetzung der Vermögensabschöpfung bereits BTDrucks 18/9525, S. 1, 45 sowie die Erwägungsgründe 1 bis 3 und 19 der Richtlinie 2014/42/EU). 152 (b) Demgegenüber steht die Vertrauensschutzposition der von der Einziehung von Taterträgen Betroffenen zurück. 153 (aa) Zwar sind gesetzliche Regelungen grundsätzlich geeignet, dem Bürger schutzwürdiges Vertrauen zu vermitteln. Schwere Mängel des geltenden Rechts, die diesem Befund entgegenstünden, sind im vorliegenden Fall nicht gegeben. Dennoch bestehen Abstufungen, wie weit sich Vertrauen auf eine bestimmte gesetzliche Regelung legitimerweise bilden kann. 154 Hinsichtlich der normativ zu beantwortenden Frage, ob das tatsächlich bestehende Vertrauen der von einer rückwirkenden Gesetzesänderung Betroffenen schutzwürdig ist, kann nicht isoliert auf die rückwirkend geänderte Norm abgestellt werden. Vielmehr ist der von ihr geregelte Sachverhalt in die Bewertung miteinzubeziehen. Denn der Inhalt einer Norm wird wesentlich davon bestimmt, auf welche Umstände sich ihr Regelungsgehalt erstreckt. Bezugspunkt der Schutzwürdigkeit des Vertrauens ist demnach nicht die abstrakte Rechtslage, sondern die geänderte Rechtsnorm in ihren sachlichen Bezügen. 155 Die Bewertung eines bestimmten Verhaltens als Straftat ist die schärfste dem Gesetzgeber zur Verfügung stehende Form der Missbilligung menschlichen Verhaltens (vgl. BVerfGE 90, 145 <172>). Das Strafrecht wird eingesetzt, wenn ein bestimmtes Verhalten über sein Verbotensein hinaus in besonderer Weise sozialschädlich und für das geordnete Zusammenleben der Menschen unerträglich, seine Verhinderung daher besonders dringlich ist (vgl. BVerfGE 88, 203 <258>; 96, 10 <25>; 120, 224 <239 f.>). Dem Täter wird – Verschulden vorausgesetzt – ein rechtswidriges sozial-ethisches Fehlverhalten zum Vorwurf gemacht (vgl. BVerfGE 9, 167 <171>; 22, 49 <79 f.>; 95, 96 <140>; 96, 10 <25>; 110, 1 <13>; 117, 71 <110>; 131, 268 <306>; 134, 33 <81 Rn. 110>). Jede Strafnorm enthält somit ein mit staatlicher Autorität versehenes, sozial-ethisches Unwerturteil über die von ihr pönalisierte Handlungsweise (vgl. BVerfGE 25, 269 <286>). 156 Daraus folgend wird dem Täter auch in vermögensrechtlicher Hinsicht der Schutz der staatlichen Rechtsordnung weitgehend vorenthalten. Gemäß § 134 BGB ist ein gegen ein gesetzliches Verbot verstoßendes Rechtsgeschäft grundsätzlich nichtig; über das Bereicherungsrecht (§§ 812 ff. BGB) kann insoweit in diesen Fällen eine Rückforderung erfolgen. § 823 Abs. 2 BGB statuiert zudem bei Verstößen gegen individualschützende Strafgesetze einen umfassenden Schadensersatzanspruch des Geschädigten. Überdies lässt das Zivilrecht einen Eigentumserwerb zumindest im Bereich der Eigentumsdelikte kaum zu. Dies gilt für die Entwendungshandlung selbst, aber auch der gutgläubige Erwerb durch Dritte gemäß § 935 BGB sowie die Ersitzung durch den bösgläubigen Eigenbesitzer gemäß § 937 BGB sind grundsätzlich ausgeschlossen. Soweit durch Täuschung oder Drohung auf den Geschädigten eingewirkt wurde, bestehen zudem weitgehende Anfechtungsmöglichkeiten (§ 123 BGB). Auch außerhalb des Zivilrechts finden sich entsprechende Wertungen etwa in § 25 Abs. 1 SGB IV (Verjährungsfrist von Ansprüchen auf vorsätzlich vorenthaltene Beiträge von 30 statt vier Jahren) und § 228 AO (Verjährungsfrist von Steuerforderungen in Fällen der Steuerhinterziehung von zehn statt fünf Jahren). 157 (bb) Diese grundsätzliche gesetzgeberische Bewertung ändert sich durch den Eintritt der Verfolgungsverjährung hinsichtlich der Straftat nicht. 158 Das Institut der Verfolgungsverjährung ist dadurch gekennzeichnet, dass der Staat nach Ablauf einer von der Deliktsschwere abhängigen Zeitspanne darauf verzichtet, gegen den Straftäter mit den Mitteln des Strafrechts vorzugehen. Eine wesentliche Ursache des Verzichts liegt im Verhältnismäßigkeitsgrundsatz; der Zeitablauf lässt die drohende Rechtsfolge sowohl unter spezialpräventiven als auch unter generalpräventiven Gesichtspunkten als unverhältnismäßig erscheinen (vgl. BVerfGK 2, 149 <161>). Sinn des Instituts der Verjährung ist es, nach Ablauf einer gesetzlich bestimmten Zeit Rechtssicherheit für den Beschuldigten herzustellen und diesem Bedürfnis höheres Gewicht beizumessen als der materiellen Gerechtigkeit (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 1. August 2002 - 2 BvR 1247/01 -, Rn. 24). 159 Eine einmal begangene strafbare Handlung verliert ihren Unrechtscharakter jedoch nicht dadurch, dass sie aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht verfolgt wird oder nicht (mehr) verfolgt werden kann; die Strafbarkeit entfällt nicht mit der Verfolgbarkeit (vgl. BVerfGE 25, 269 <287>; BGHSt 62, 184 <195 Rn. 34>). Anders als im Falle einer nachträglichen Änderung des Strafgesetzes hinsichtlich der unter Strafe gestellten Handlung oder der Strafdrohung, aus denen sich der konkrete Inhalt des staatlichen Unwerturteils ergibt (vgl. BVerfGE 25, 269 <286>), folgt aus dem Eintritt der vom Gesetzgeber vorgesehenen Verjährung insofern keine abweichende Bewertung. 160 Da der deliktische Erwerbsvorgang durch den Eintritt der Verfolgungsverjährung seitens der staatlich verfassten Gemeinschaft nicht nachträglich gebilligt wird, bleibt auch das auf diese Weise erworbene Vermögen weiterhin mit dem Makel deliktischer Herkunft behaftet. 161 (cc) Die fortwährende Bemakelung von Vermögenswerten infolge strafrechtswidrigen Erwerbs stellt eine Ausprägung des allgemeinen Prinzips dar, dass das Vertrauen in den Fortbestand unredlich erworbener Rechte grundsätzlich nicht schutzwürdig ist. Denn das Rückwirkungsverbot findet im Grundsatz des Vertrauensschutzes nicht nur seinen Grund, sondern auch seine Grenze (vgl. zur Zulässigkeit der „echten“ Rückwirkung in Fällen der Restitution unredlich erworbener Grundstücke nach dem Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen BVerfGE 101, 239 <266> [insoweit ohne Einschränkung auf die besondere Situation bei nicht unter Geltung des Grundgesetzes erworbenen Vermögenswerten, wie sie der Entscheidung im Übrigen zugrunde liegt, BVerfGE 101, 239 <262 f.>]; vgl. ebenso zur Zulässigkeit der „unechten“ Rückwirkung bei der Änderung des Bundesrückerstattungsgesetzes BVerfGE 27, 231 <238 f.>; entsprechend auch BVerfGE 25, 269 <291>; 32, 311 <319>; 87, 363 <394>; 110, 1 <30>). Die Schutzwürdigkeit des Vertrauens entfällt, wenn bereits zum Zeitpunkt des Erwerbstatbestandes dieser allgemein und anerkanntermaßen missbilligt war. Dies gilt in erster Linie für Straftatbestände, durch deren Schaffung der Gesetzgeber – für den Bürger ohne Weiteres erkennbar – ein mit staatlicher Autorität versehenes, sozial-ethisches Unwerturteil über die darin pönalisierte Handlungsweise ausspricht. 162 (dd) Nicht schutzwürdig ist in derartigen Fällen nicht nur der bereicherte Straftäter selbst, sondern auch der Drittbereicherte, soweit dieser nicht gutgläubig eigene Dispositionen im Vertrauen auf die Beständigkeit seines Vermögenserwerbs getroffen hat (vgl. zum Vertrauensschutz des Erben BVerfGE 101, 239 <266> sowie BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 3. März 1995 - 1 BvR 236/95 -, NJW 1995, S. 1884). Das Vertrauen von Personen, die deliktisch erlangte Vermögenswerte in kollusivem Zusammenwirken mit dem Straftäter, als dessen Rechtsnachfolger, als von ihm Vertretene oder sonst ohne eigene schutzwürdige Vertrauensbetätigung erworben haben, ist nicht stärker zu schützen als das des Straftäters selbst. § 73b Abs. 1 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung vom 13. April 2017 (BGBl I S. 872) stellt sicher, dass von der Vermögensabschöpfung keine in diesem Sinne schützenswerten Dritten erfasst werden. Denn betroffen werden von der Regelung lediglich Vertretungsfälle (§ 73b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB), Fälle des rechtsgrundlosen oder unentgeltlichen Erwerbs (§ 73b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe a StGB), der Erwerb durch bösgläubige Dritte (§ 73b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe b StGB) sowie Erben, Pflichtteilsberechtigte und Vermächtnisnehmer (§ 73b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StGB), soweit kein gutgläubiger Zwischenerwerb entgegensteht (§ 73b Abs. 1 Satz 2 StGB). D. 163 Diese Entscheidung ist mit 7:1 Stimmen ergangen. König Huber Hermanns Müller Kessal-Wulf Maidowski Langenfeld Wallrabenstein
bundesverfassungsgericht
64-2020
29. Juli 2020
Besoldungsvorschriften des Landes Nordrhein-Westfalen zur Alimentation von kinderreichen Richtern und Staatsanwälten teilweise verfassungswidrig Pressemitteilung Nr. 64/2020 vom 29. Juli 2020 Beschluss vom 04. Mai 20202 BvL 6/17, 2 BvL 8/17, 2 BvL 7/17 Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat mit heute veröffentlichtem Beschluss entschieden, dass die Besoldungsvorschriften des Landes Nordrhein-Westfalen, mit dem von Art. 33 Abs. 5 GG gewährleisteten Alimentationsprinzip unvereinbar sind, soweit sie die Besoldung kinderreicher Richter und Staatsanwälte der Besoldungsgruppe R 2 in den Jahren 2013 bis 2015 regeln. Die den Richtern und Beamten ab dem dritten Kind gewährten Zuschläge müssen ihr Nettoeinkommen so erhöhen, dass ihnen für jedes dieser Kinder mindestens 115 % des grundsicherungsrechtlichen Gesamtbedarfs nach dem SGB II zur Verfügung steht. Der Gesetzgeber des Landes Nordrhein-Westfalen hat spätestens zum 31. Juli 2021 eine verfassungskonforme Regelung zu treffen. Sachverhalt: Die Kläger der Ausgangsverfahren stehen als Richter mit Dienstbezügen der Besoldungsgruppe R 2 im Dienst des Landes Nordrhein-Westfalen. Der Kläger eines Verfahrens ist verheiratet und erhielt im Jahr 2013 für drei Kinder Kindergeld. Die beiden anderen Verfahren betreffen einen Kläger, der ebenfalls verheiratet ist und in den Jahren 2014 und 2015 für vier Kinder Kindergeld erhielt. Die Kläger machen geltend, dass ihre Besoldung im Hinblick auf ihre Kinderzahl verfassungswidrig zu niedrig bemessen sei. Das Verwaltungsgericht Köln hat die Verfahren ausgesetzt und dem Bundes-verfassungsgericht diese Frage zur Prüfung vorgelegt. Wesentliche Erwägungen des Senats: I. Die Besoldungsvorschriften des Landes Nordrhein-Westfalen sind mit dem von Art. 33 Abs. 5 GG gewährleisteten Alimentationsprinzip insofern unvereinbar, als die durch sie geregelte Besoldung der Richter und Staatsanwälte der Besoldungsgruppe R 2 mit drei Kindern im Jahr 2013 und mit vier Kindern in den Jahren 2014 und 2015 hinter den Anforderungen an die Alimentation kinderreicher Richter und Beamter zurückblieb. 1. Das zu den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums zählende Alimentationsprinzip verpflichtet den Dienstherrn, Richter und Beamte sowie ihre Familien lebenslang angemessen zu alimentieren. Er muss ihnen einen Lebensunterhalt gewähren, der ihrem Dienstrang und der mit ihrem Amt verbundenen Verantwortung angemessen ist und der Entwicklung des allgemeinen Lebensstandards entspricht. Der Besoldungsgesetzgeber hat die Besoldung so zu regeln, dass Richter und Beamte nicht vor die Wahl gestellt werden, entweder eine ihrem Amt angemessene Lebensführung aufrechtzuerhalten oder, unter Verzicht darauf, eine Familie zu haben und diese entsprechend den damit übernommenen Verpflichtungen angemessen zu unterhalten. Deshalb kann bei der Beurteilung und Regelung dessen, was eine amtsangemessene Besoldung ausmacht, die Zahl der Kinder nicht ohne Bedeutung sein. Das Bundesverfassungsgericht geht auf Grund der bisherigen Praxis des Besoldungsgesetzgebers davon aus, dass er die Grundbesoldung so bemisst, dass sie zusammen mit den Familienzuschlägen für den Ehepartner und die ersten beiden Kinder für eine Zwei-Kinder-Familie amtsangemessen ist. Der zusätzliche Bedarf, der für das dritte und die weiteren Kinder entsteht, ist vom Dienstherrn zu decken. Bei der Bemessung dieses Bedarfs kann der Gesetzgeber von den Leistungen der sozialen Grundsicherung ausgehen. Dabei muss er aber beachten, dass die Alimentation etwas qualitativ Anderes als die Befriedigung eines äußersten Mindestbedarfs ist. Ein um 15 % über dem realitätsgerecht ermittelten grundsicherungsrechtlichen Gesamtbedarf eines Kindes liegender Betrag lässt den verfassungsgebotenen Unterschied hinreichend deutlich werden. Das zur Bestimmung der Mindestalimentation herangezogene Grundsicherungsniveau umfasst alle Elemente des Lebensstandards, der den Empfängern von Grundsicherungsleistungen staatlicherseits gewährt wird, also ins-besondere den monatlichen Regelsatz, die anteiligen Kosten für die Unterkunft und Heizung sowie den Bedarf für Bildung und Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft. Ob die Dienstbezüge noch amtsangemessen sind, beurteilt sich nach dem Nettoeinkommen. Daher steht es dem Gesetzgeber frei, das von der Verfassung vorgegebene Ziel durch eine entsprechende Bemessung der Bruttobezüge – etwa in Gestalt eines kinderbezogenen Familienzuschlags – zu erreichen, die Richter und Beamten an einem allgemein gewährten Kindergeld teilhaben zu lassen, durch allgemeine steuerrechtliche Vorschriften die durch den Kindesunterhalt verminderte Leistungsfähigkeit auszugleichen oder diese und weitere Möglichkeiten miteinander zu verbinden. 2. Diesen Maßstäben werden die in Rede stehenden Besoldungsvorschriften nicht gerecht. Vergleichsberechnungen zeigen, dass die Besoldung der Richter und Staatsanwälte der Besoldungs-gruppe R 2 in Bezug auf das dritte Kind im Jahr 2013 und in Bezug auf das dritte und vierte Kind in den Jahren 2014 und 2015 den verfassungsgebotenen Mindestabstand von 15 % zur Grundsicherung nicht eingehalten hat. Es wurde nicht einmal der grundsicherungsrechtliche Gesamtbedarf für ein Kind durch die bei steigender Kinderzahl gewährten Nettomehrbeträge ausgeglichen. II. Den Gesetzgeber trifft die Verpflichtung, die Rechtslage verfassungsgemäß umzugestalten. Eine allgemeine rückwirkende Behebung des Verfassungsverstoßes ist mit Blick auf die Besonderheiten des Richter- und Beamtenverhältnisses nicht geboten. Eine rückwirkende Behebung ist jedoch sowohl hinsichtlich der Kläger der Ausgangsverfahren als auch hinsichtlich etwaiger weiterer Richter und Staatsanwälte erforderlich, über deren Anspruch noch nicht abschließend entschieden worden ist.
Leitsätze zum Beschluss des Zweiten Senats vom 4. Mai 2020 - 2 BvL 6/17 u.a. - Der Dienstherr ist aufgrund des Alimentationsprinzips (Art. 33 Abs. 5 GG) verpflichtet, seinen Richtern und Beamten sowie ihren Familien einen amtsangemessenen Lebensunterhalt zu gewähren. Deshalb kann bei der Beurteilung und Regelung dessen, was eine amtsangemessene Besoldung ausmacht, die Anzahl der Kinder nicht ohne Bedeutung sein. Sind die Grundgehaltssätze so bemessen, dass sie zusammen mit den Familienzuschlägen bei zwei Kindern amtsangemessen sind, darf Richtern und Beamten nicht zugemutet werden, für den Unterhalt weiterer Kinder auf die familien-neutralen Bestandteile ihres Gehalts zurückzugreifen. Der Besoldungsgesetzgeber darf bei der Bemessung des zusätzlichen Bedarfs, der für das dritte und jedes weitere Kind entsteht, von den Leistungen der sozialen Grundsicherung ausgehen, muss dabei aber beachten, dass die Alimentation etwas qualitativ Anderes ist als die Befriedigung eines äußersten Mindestbedarfs. Ein um 15 % über dem realitätsgerecht ermittelten grundsicherungsrechtlichen Gesamtbedarf eines Kindes liegender Betrag lässt diesen Unterschied hinreichend deutlich werden (Bestätigung von BVerfGE 44, 249; 81, 363; 99, 300). Die sich fortlaufend wandelnden tatsächlichen Verhältnisse und die Entwicklung des Sozial- und Steuerrechts bedingen, dass die verfassungsrechtlichen Maßstäbe in ihren Einzelheiten von Zeit zu Zeit neu konkretisiert werden müssen. BUNDESVERFASSUNGSGERICHT - 2 BvL 6/17 - - 2 BvL 7/17 - - 2 BvL 8/17 - IM NAMEN DES VOLKES In den Verfahren zu der verfassungsrechtlichen Prüfung, ob die Besoldungsvorschriften des Landes Nordrhein-Westfalen, die in den Jahren 2013 bis 2015 die Alimentation von Richtern und Staatsanwälten der Besoldungsgruppe R 2 regeln, mit Artikel 33 Absatz 5 des Grundgesetzes insoweit unvereinbar sind, als es der Gesetzgeber unterlassen hat, die kinderbezogenen Gehaltsbestandteile bei Richtern und Staatsanwälten mit drei Kindern (für das Jahr 2013) beziehungsweise mit vier Kindern (für die Jahre 2014 und 2015) in einer dem Grundsatz der amtsangemessenen Alimentation entsprechenden Höhe festzusetzen - Aussetzungs- und Vorlagebeschlüsse des Verwaltungsgerichts Köln vom 3. Mai 2017 - 3 K 6173/14, 3 K 7038/15 und 3 K 4913/14 - - 2 BvL 6/17, 7/17 und 8/17 -, hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat - unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter Präsident Voßkuhle, Huber, Hermanns, Müller, Kessal-Wulf, König, Maidowski, Langenfeld am 4. Mai 2020 beschlossen: Die Verfahren werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden. Anlage IV (Tabelle West) zu § 37 des Bundesbesoldungsgesetzes in der am 31. August 2006 geltenden Fassung vom 15. Dezember 2004 (Bundesgesetzblatt I Seite 3390) und Anlage V (Tabelle West) zu § 39 des Bundesbesoldungsgesetzes in der am 31. August 2006 geltenden Fassung vom 10. September 2003 (Bundesgesetzblatt I Seiten 1798, 1834) sowie Anlage IV (Tabelle West) zu § 37 des Übergeleiteten Besoldungsgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen und Anlage V (Tabelle West) zu § 39 des Übergeleiteten Besoldungsgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen vom 16. Mai 2013 (Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Nordrhein-Westfalen Seiten 234, 236), jeweils in der Fassung, die sie durch das Gesetz zur Anpassung des Familienzuschlags für dritte und weitere Kinder vom 20. Dezember 2007 (Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Nordrhein-Westfalen Seiten 750, 752), das Gesetz über die Anpassung der Besoldungs- und Versorgungsbezüge 2008 im Land Nordrhein-Westfalen vom 20. Dezember 2007 (Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Nordrhein-Westfalen Seite 750), das Gesetz über die Anpassung der Dienst- und Versorgungsbezüge 2009/2010 im Land Nordrhein-Westfalen vom 10. November 2009 (Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Nordrhein-Westfalen Seite 570), das Gesetz zur Anpassung der Dienst- und Versorgungsbezüge 2011/ 2012 im Land Nordrhein-Westfalen vom 5. April 2011 (Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Nordrhein-Westfalen Seite 202), das Gesetz über die Anpassung der Dienst- und Versorgungsbezüge 2013/2014 im Land Nordrhein-Westfalen vom 16. Juli 2013 (Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Nordrhein-Westfalen Seite 486) in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Besoldungs- und Versorgungsanpassungsgesetzes 2013/2014 Nordrhein-Westfalen vom 11. November 2014 (Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Nordrhein-Westfalen Seite 734) sowie durch das Gesetz zur Anpassung der Dienst- und Versorgungsbezüge 2015/2016 im Land Nordrhein-Westfalen vom 8. Dezember 2015 (Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Nordrhein-Westfalen Seite 836) gefunden haben, sind, soweit sie im Jahr 2013 die Bezüge von Richtern und Staatsanwälten der Besoldungsgruppe R 2 des Landes Nordrhein-Westfalen mit drei Kindern und in den Jahren 2014 und 2015 die Bezüge von Richtern und Staatsanwälten der Besoldungsgruppe R 2 des Landes Nordrhein-Westfalen mit vier Kindern regeln, mit Artikel 33 Absatz 5 des Grundgesetzes unvereinbar. Der Gesetzgeber des Landes Nordrhein-Westfalen hat spätestens bis zum 31. Juli 2021 eine verfassungskonforme Regelung zu treffen. G r ü n d e : A. 1 Gegenstand der Vorlagen ist die Vereinbarkeit der im Tenor näher bezeichneten Vorschriften mit dem Grundgesetz, soweit sie im Jahr 2013 (2 BvL 8/17) die Alimentation von Richtern und Staatsanwälten der Besoldungsgruppe R 2 mit drei Kindern und in den Jahren 2014 (2 BvL 6/17) und 2015 (2 BvL 7/17) die Alimentation von Richtern und Staatsanwälten der Besoldungsgruppe R 2 mit vier Kindern regeln. I. 2 In Nordrhein-Westfalen war die Beamtenbesoldung nach dem Übergang der Gesetzgebungszuständigkeit auf die Länder in Folge der Föderalismusreform (Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28. August 2006, BGBl I S. 2034) zunächst dergestalt geregelt, dass die sich aus den noch vom Bundesgesetzgeber erlassenen Besoldungstabellen ergebenden Grundgehaltssätze und Zuschläge prozentual oder um bestimmte Beträge erhöht wurden. 3 1. Bis zum 31. Mai 2013 galt das Bundesbesoldungsgesetz in seiner am 31. August 2006 geltenden Fassung gemäß Art. 125a Abs. 1 Satz 1 GG als Bundesrecht fort, das gemäß Art. 125a Abs. 1 Satz 2 GG durch Landesrecht ersetzt werden durfte. Der Gesetzgeber des Landes Nordrhein-Westfalen beschränkte sich, soweit hier von Belang, zunächst darauf, die in den Anlagen IV (Tabelle West – Grundgehaltssätze) und V (Tabelle West – Familienzuschlag) zum Bundesbesoldungsgesetz in der am 31. August 2006 geltenden Fassung festgesetzten Bezüge im Wege der Landesgesetzgebung zu erhöhen. 4 In einem ersten Schritt wurde der Betrag, um den der kinderbezogene Familienzuschlag für das dritte und jedes weitere Kind gegenüber dem für zwei Kinder gezahlten Familienzuschlag zu erhöhen war, rückwirkend zum 1. Januar 2007 angepasst (§ 1 des Gesetzes zur Anpassung des Familienzuschlags für dritte und weitere Kinder vom 20. Dezember 2007 <GV.NRW S. 750, 752>). In der Folge wurden die Grundgehaltssätze und der Familienzuschlag mehrfach erhöht, wobei der Gesetzgeber lediglich den Steigerungsbetrag beziehungsweise den Steigerungsfaktor festlegte und keine aktualisierten Besoldungstabellen erließ (§ 2 Satz 1 Nr. 1 Buchstaben a und b des Gesetzes über die Anpassung der Besoldungs- und Versorgungsbezüge 2008 im Land Nordrhein-Westfalen vom 20. Dezember 2007 – BesVersAnpG 2008 NRW <GV.NRW S. 750>, § 2 Abs. 1 Nr. 1 und 3 Buchstaben a und b sowie Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe a des Gesetzes über die Anpassung der Dienst- und Versorgungsbezüge 2009/2010 im Land Nordrhein-Westfalen vom 10. November 2009 – BesVersAnpG 2009/2010 NRW <GV.NRW S. 570>, § 4 Abs. 1 Nr. 1 Buchstaben a und b sowie § 6 Abs. 1 Nr. 1 Buchstaben a und b des Gesetzes zur Anpassung der Dienst- und Versorgungsbezüge 2011/2012 im Land Nordrhein-Westfalen vom 5. April 2011 – BesVersAnpG 2011/2012 NRW <GV.NRW S. 202>). 5 2. Mit Wirkung vom 1. Juni 2013 ordnete der Gesetzgeber des Landes Nordrhein-Westfalen die Fortgeltung des Bundesbesoldungsgesetzes in der am 31. August 2006 geltenden Fassung als Landesrecht an, wobei die zwischenzeitlich wirksam gewordenen landesrechtlichen Abweichungen (also insbesondere auch die vorgenannten Besoldungserhöhungen) unberührt blieben. Das Gesetz wurde umbenannt in Übergeleitetes Besoldungsgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen – ÜBesG NRW (Art. 1 Nr. 1 Buchstabe a und Art. 2 Nr. 1 des Dienstrechtsanpassungsgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen vom 16. Mai 2013 <GV.NRW S. 234>). Der Erlass aktualisierter Besoldungstabellen war hiermit nicht verbunden. 6 Hinsichtlich der Besoldungsentwicklung behielt der Gesetzgeber die beschriebene Regelungstechnik bei und ordnete eine prozentuale Erhöhung der Bezüge (einschließlich des Familienzuschlags) an (§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe a des Gesetzes über die Anpassung der Dienst- und Versorgungsbezüge 2013/2014 im Land Nordrhein-Westfalen vom 16. Juli 2013 – BesVersAnpG 2013/2014 NRW <GV.NRW S. 486> – in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Besoldungs- und Versorgungsanpassungsgesetzes 2013/2014 Nordrhein-Westfalen vom 11. November 2014 <GV.NRW S. 734> und § 2 Abs. 1 Nr. 1 und 2 Buchstabe a des Gesetzes zur Anpassung der Dienst- und Versorgungsbezüge 2015/2016 im Land Nordrhein-Westfalen vom 8. Dezember 2015 – BesVersAnpG 2015/2016 NRW <GV.NRW S. 836>). 7 3. Das Finanzministerium machte die sich aus diesen Regelungen ergebenden Besoldungstabellen lediglich nachrichtlich bekannt. In den verfahrensgegenständlichen Jahren 2013 bis 2015 ergab sich daher die Rechtsgrundlage der Besoldung aus dem Zusammenspiel der fortgeltenden beziehungsweise in Landesrecht transformierten Besoldungstabellen des Bundesbesoldungsgesetzes in der am 31. August 2006 geltenden Fassung in Verbindung mit allen nachfolgenden landesrechtlichen Besoldungsvorschriften, die eine dauerhafte Erhöhung der Bezüge angeordnet haben. II. 8 1. Die Kläger der Ausgangsverfahren stehen als Richter mit Dienstbezügen der Besoldungsgruppe R 2 im Dienst des Landes Nordrhein-Westfalen. Der Kläger im Verfahren 2 BvL 8/17 ist verheiratet und erhielt im Jahr 2013 für drei Kinder Kindergeld. Die beiden anderen Verfahren betreffen einen Kläger, der ebenfalls verheiratet ist und in den Jahren 2014 (2 BvL 6/17) und 2015 (2 BvL 7/17) für vier Kinder Kindergeld erhielt. Die Kläger machen geltend, dass ihre Besoldung im Hinblick auf ihre Kinderzahl verfassungswidrig zu niedrig bemessen sei. Nachdem sie bei ihrem Dienstherrn vergeblich eine Erhöhung ihrer Bezüge beantragt hatten, erhoben sie Klage zum Verwaltungsgericht Köln. Dort beantragten sie, das Land auf der Grundlage der vom Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 24. November 1998 (BVerfGE 99, 300) erlassenen Vollstreckungsanordnung zu Nachzahlungen zu verurteilen, hilfsweise festzustellen, dass die familienbezogenen Bezügebestandteile in den fraglichen Kalenderjahren hinsichtlich ihres dritten beziehungsweise ihres dritten und vierten Kindes verfassungswidrig zu niedrig bemessen gewesen sind. 9 2. Das Verwaltungsgericht Köln hat die Verfahren durch im Wesentlichen gleichlautende und unter Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter gefasste Beschlüsse vom 3. Mai 2017 ausgesetzt und gemäß Art. 100 Abs. 1 GG dem Bundesverfassungsgericht die Frage zur Prüfung vorgelegt, ob die sich aus den näher bezeichneten Besoldungsvorschriften ergebende Alimentation der Kläger insoweit mit Art. 33 Abs. 5 GG unvereinbar sei, als es der Gesetzgeber unterlassen habe, die kinderbezogenen Gehaltsbestandteile bei Richtern der Besoldungsgruppe R 2 mit drei beziehungsweise vier Kindern in einer dem Grundsatz der amtsangemessenen Alimentation entsprechenden Höhe festzusetzen. Sollte sich die Besoldung der Kläger als mit Art. 33 Abs. 5 GG unvereinbar erweisen, sei den Klagen hinsichtlich des Hilfsantrags stattzugeben. Andernfalls seien sie insgesamt abzuweisen. 10 a) Die Klagen seien hinsichtlich ihrer Hauptanträge, die jeweils auf Verurteilung des beklagten Landes auf Zahlung eines vom Verwaltungsgericht nach Maßgabe der genannten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu ermittelnden Mehrbetrages gerichtet seien, unzulässig. Aufgrund des besoldungsrechtlichen Grundsatzes des Vorbehalts des Gesetzes und des Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers seien die Verwaltungsgerichte gehindert, Beamten eine gesetzlich nicht vorgesehene Leistung zuzusprechen, selbst wenn sie von der Verfassungswidrigkeit der Alimentation überzeugt seien. Grundsätzlich müsse der Ausgang eines Vorlageverfahrens nach Art. 100 Abs. 1 GG sowie ein sich anschließendes Gesetzgebungsverfahren abgewartet werden. 11 Ein Zahlungsanspruch ergebe sich auch nicht aus der Vollstreckungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts. Diese habe zwar die von den vorgenannten Grundsätzen abweichende Befugnis der Fachgerichte begründet, eine unzureichende Besoldung festzustellen, die Differenz zur mindestens zu gewährenden Alimentation selbst zu berechnen und diesen Betrag den Beamten unmittelbar zuzusprechen. Sie habe sich jedoch für die streitgegenständlichen Jahre 2013 bis 2015 allgemein erledigt. Eine Erledigung könne eintreten, wenn der Gesetzgeber aus eigener Kompetenz in der Folge neue Maßstäbe gebildet und Parameter festgelegt habe, nach denen er den Bedarf der Kinder ermittelt und die Besoldung bemisst. In einem solchen Fall gewinne das Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts wieder den Vorrang. Ob es hierzu mit der deutlichen Anhebung des Familienzuschlags für dritte und weitere Kinder im Jahr 2007 gekommen sei, könne offenbleiben. Denn eine Vollstreckungsanordnung erledige sich auch, wenn sie infolge einer zwischenzeitlich erfolgten Änderung der Berechnungsgrundlagen nicht mehr sinnvoll angewandt werden könne. Dies sei seit dem 1. Januar 2011 der Fall. Rückwirkend zu diesem Zeitpunkt habe der Gesetzgeber das sozialrechtliche Leistungsspektrum um Leistungen für Bildung und Teilhabe erweitert. Diese würden zusätzlich zu den herkömmlichen Regelsätzen gewährt. Diese Bedarfe zählten nach der ausdrücklichen gesetzgeberischen Konzeption und der Rechtsprechung des Bundeverfassungsgerichts zum sozialhilferechtlichen Gesamtbedarf. Auch wenn dieser typisierend und anhand einer Durchschnittsberechnung zu ermitteln sei, seien diese Bedarfe zwingend zu berücksichtigen. Es handele sich gerade nicht um Mehrbedarfe, die sich aus besonderen Lebensumständen ergäben, sondern um solche, die bei allen Kindern und Jugendlichen in einer gewissen Altersspanne anfielen. Dies gelte jedenfalls für Schulausflüge und mehrtägige Klassenfahrten, die Ausstattung mit persönlichem Schulbedarf und die Mitgliedsbeiträge beziehungsweise die Kosten für den Unterricht in künstlerischen Fächern sowie die Teilnahme an Freizeiten. Dass die Leistungen nur auf gesonderten Antrag gewährt und rein tatsächlich nicht von allen Berechtigten in Anspruch genommen würden, sei unerheblich, weil der Gesetzgeber sie dem existenzsichernden Bedarf zugeordnet habe. Die Höhe der Bedarfe sei auch nicht zu vernachlässigen, allein die Leistungen für die Schulausstattung beliefen sich auf 100 Euro jährlich. Insgesamt seien mindestens 19 Euro pro Monat anzusetzen. Die Bedarfe für Schülerbeförderung, Lernförderung sowie die Teilnahme an einer gemeinschaftlichen Mittagsverpflegung seien demgegenüber unberücksichtigt zu lassen, weil sie an besondere Anspruchsvoraussetzungen geknüpft seien und davon auszugehen sei, dass lediglich eine Minderheit anspruchsberechtigt sei. So würden in Nordrhein-Westfalen die Kosten der Schülerbeförderung im Wesentlichen vom Schulträger übernommen, und der Eigenanteil entfalle ab dem dritten Kind. In den Genuss von Lernförderung könne nur kommen, wer besonders leistungsschwach sei. Und ein Bedarf für die Teilnahme an der Mittagsverpflegung werde nur anerkannt, wenn diese in schulischer Verantwortung angeboten werde. Ein solches Angebot dürfte bei einer Vielzahl von Schulen fehlen, was dafür spreche, dass der Gesetzgeber von einer grundsätzlichen Deckung dieses Bedarfs auch ohne die entsprechende Zusatzleistung ausgegangen sei. 12 Weil damit einerseits über die Regelsätze hinaus Bedarfe zu berücksichtigen seien, es andererseits aber an hinreichenden Vorgaben hierfür in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts fehle, lasse sich die Vollstreckungsanordnung nicht mehr sinnvoll anwenden. Der Ermittlung und Berechnung der Bedarfe lägen allein von der Kammer getroffene Wertungen zugrunde. Alle anderen Verwaltungsgerichte müssten solche Wertungsentscheidungen ebenfalls eigenständig treffen. Es bestehe die Gefahr, dass sie mit unterschiedlichen Berechnungsmaßstäben zu unterschiedlichen Ergebnissen kämen. Das sei mit Sinn und Zweck der Vollstreckungsanordnung nicht zu vereinbaren. 13 b) Hinsichtlich des Hilfsantrags seien die Klagen zulässig. Komme eine Zahlungsklage aufgrund der Vollstreckungsanordnung nicht infrage, sei allein ein auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Alimentation gerichteter Antrag statthaft. Die Kläger hätten das erforderliche Vorverfahren ordnungsgemäß durchgeführt und ihr Begehren auch zeitnah geltend gemacht. 14 Die Begründetheit der Klagen hänge allein von der Vorlagefrage ab. Insbesondere könnten sie nicht aus anderen Gründen Erfolg haben, weil den Klägern die sich aus der genau bezifferten – und damit auch keiner Auslegung zugänglichen – Besoldungsregelung ergebenden Bezüge ausgezahlt worden seien. Zur Überzeugung der Kammer seien die familienbezogenen Besoldungsbestandteile bei Richterinnen und Richtern der Besoldungsgruppe R 2 mit drei beziehungsweise vier Kindern in den Jahren 2013 bis 2015 verfassungswidrig zu niedrig bemessen. 15 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts folge aus dem Alimentationsprinzip, dass verheiratete Beamte für ihr drittes und jedes weitere Kind über mindestens 115 % des durchschnittlichen sozialhilferechtlichen Gesamtbedarfs eines Kindes mehr verfügen müssten als Beamte mit zwei Kindern. Hiervon sei auch weiterhin auszugehen. Insbesondere habe das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 17. November 2015 (BVerfGE 140, 240) das Maß des gebotenen Abstandes zum Grundsicherungsniveau beibehalten. Weil die Besoldung in den vergangenen Jahren allenfalls in adäquatem Verhältnis zur gesamtwirtschaftlichen Lage erhöht worden sei, könne auch an der Prämisse festgehalten werden, dass der Unterhalt für drei und mehr Kinder nicht aus den regulären Besoldungsbestandteilen bestritten werden könne. 16 Die Besoldung von Richterinnen und Richtern der Besoldungsgruppe R 2 mit drei und mehr Kindern sei in den Jahren 2013 bis 2015 hinter dem verfassungsrechtlich gebotenen Mindestmaß zurückgeblieben. Eine auf Grundlage des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 24. November 1998 durchgeführte Vergleichsberechnung zeige, dass das Nettomehreinkommen der Kläger (im Vergleich zu einem Richter mit zwei Kindern) den alimentationsrechtlichen Mindestbedarf nicht erreiche, weshalb sich die Alimentation der Kläger als verfassungswidrig unzureichend erweise. Dabei könne die Frage, ob die Kosten einer Krankheitskostenversicherung vom Nettoeinkommen in Abzug zu bringen seien, offenbleiben. Sie stiegen mit der Kinderzahl, so dass sich das Nettomehreinkommen bei Abzug dieser Kosten nur noch weiter verringern würde. III. 17 Zu den Vorlagen haben die Landesregierung Nordrhein-Westfalen, der Kläger in den Verfahren 2 BvL 6/17 und 2 BvL 7/17, der Deutsche Richterbund, der dbb beamtenbund und tarifunion sowie der Deutsche Gewerkschaftsbund schriftlich Stellung genommen. Die Bundesregierung hat auf ihre im Verfahren 2 BvL 4/18 abgegebene Stellungnahme verwiesen. Die im dortigen Verfahren eingeholten Auskünfte der Bundesagentur für Arbeit, die unter anderem die Höhe der Leistungen für Bildung und Teilhabe betrafen, und des Verbandes der Privaten Krankenversicherung zur durchschnittlichen Höhe der Beiträge einer das Beihilferecht ergänzenden privaten Krankenversicherung sind den Beteiligten der hiesigen Ausgangsverfahren übermittelt worden. Sie hatten Gelegenheit, auch hierzu Stellung zu nehmen. B. 18 Die Vorlagen sind zulässig. 19 Das Verwaltungsgericht hat die Entscheidungserheblichkeit der zur Prüfung gestellten Vorschriften dargelegt. Insbesondere hat es mit schlüssigen und an zutreffenden verfassungsrechtlichen Prämissen ausgerichteten Erwägungen die Möglichkeit verneint, dem Begehren der Kläger auf Grundlage der im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 24. November 1998 enthaltenen Vollstreckungsanordnung Rechnung zu tragen. 20 Das Verwaltungsgericht hat auch seine Überzeugung davon, dass die Besoldung der Kläger der Ausgangsverfahren in den streitgegenständlichen Jahren mit Blick auf die Zahl der von ihnen zu unterhaltenden Kinder den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht genügt, hinreichend dargelegt. Es hat mit ausführlichen und nachvollziehbaren Erwägungen begründet, warum es die von Art. 33 Abs. 5 GG geschützte amtsangemessene Alimentation nicht mehr gewahrt sieht. Die angestellten Berechnungen beruhen auf nachprüfbaren, seriösen Quellen und sind schlüssig. Auch die Frage, in welchem Umfang die bisher in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht thematisierten Bedarfe für Bildung und Teilhabe (mindestens) zu berücksichtigen sind, beantwortet es in enger Anlehnung an die bisher entwickelten verfassungsrechtlichen Maßstäbe und in einer nachvollziehbaren Art und Weise. Dass es die Frage, ob anders als bisher auch die Beiträge zur privaten Krankenversicherung zu berücksichtigen sind, mangels Entscheidungserheblichkeit offenlässt, ist unschädlich. Denn es hat plausibel dargelegt, dass eine Berücksichtigung die ohnehin bestehende Unteralimentation nur weiter vergrößern würde. 21 Die vom Land Nordrhein-Westfalen vermisste Auseinandersetzung mit den vom Besoldungsgesetzgeber angestellten Erwägungen setzt voraus, dass diese auch dokumentiert sind. Dies ist für die hier maßgeblichen Zeiträume 2013 bis 2015 nicht der Fall. Die vom Land Nordrhein-Westfalen in seiner Stellungnahme wiedergegebene Begründung zur Anhebung des Familienzuschlags durch Gesetz vom 20. Dezember 2007 (LTDrucks 14/5198, S. 28) verhält sich nicht zu den im Vorlagebeschluss aufgeworfenen Fragen. Der Vorlage des Finanzministers an den Unterausschuss Personal des Haushalts- und Finanzausschusses des Landtags Nordrhein-Westfalen vom 10. Februar 2017 (16/4766) kann schon wegen der zeitlichen Abfolge keine Bedeutung zukommen. C. 22 Die im Tenor bezeichneten Vorschriften sind mit dem von Art. 33 Abs. 5 GG gewährleisteten Alimentationsprinzip insofern unvereinbar, als die durch sie geregelte Besoldung der Richter und Staatsanwälte der Besoldungsgruppe R 2 mit drei Kindern im Jahr 2013 und mit vier Kindern in den Jahren 2014 und 2015 hinter den Anforderungen an die Alimentation kinderreicher Richter und Beamter zurückblieb. I. 23 Die verfassungsrechtlichen Maßstäbe für die Besoldung der Richter und Beamten ergeben sich aus dem Alimentationsprinzip. Während diese sich dazu verpflichten, ihre gesamte Arbeitskraft ausschließlich in den Dienst des Gemeinwesens zu stellen, ist der Dienstherr verpflichtet, sie und ihre Familien amtsangemessen zu alimentieren. Deshalb darf das den Richtern und Beamten zur Verfügung stehende Einkommen nicht durch die wachsende Zahl unterhaltsberechtigter Kinder übermäßig vermindert werden (vgl. Rn. 24 ff.). Die sich fortlaufend wandelnden tatsächlichen Verhältnisse und die Entwicklung des Sozial- und Steuerrechts bedingen, dass die verfassungsrechtlichen Maßstäbe in ihren Einzelheiten von Zeit zu Zeit neu konkretisiert werden müssen (vgl. Rn. 38 ff.). 24 1. a) Nach Art. 33 Abs. 5 GG ist das Recht des öffentlichen Dienstes unter Berücksichtigung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums zu regeln und fortzuentwickeln. Art. 33 Abs. 5 GG ist unmittelbar geltendes Recht und enthält einen Regelungsauftrag an den Gesetzgeber sowie eine institutionelle Garantie des Berufsbeamtentums; zugleich begründet Art. 33 Abs. 5 GG ein grundrechtsgleiches Recht der Richter und Staatsanwälte, soweit deren subjektive Rechtsstellung betroffen ist (vgl. BVerfGE 99, 300 <314>; 107, 218 <236 f.>; 117, 330 <344>; 119, 247 <266>; 130, 263 <292>; 139, 64 <111 Rn. 92>; 140, 240 <277 Rn. 71>; 148, 296 <345 Rn. 118>; 149, 1 <15 Rn. 33>). 25 Sein Bezugspunkt ist nicht das gewachsene Beamtenrecht, sondern das Berufsbeamtentum (vgl. BVerfGE 117, 330 <349>). In ihrem Bestand geschützt sind daher nur diejenigen Regelungen, die das Bild des Berufsbeamtentums in seiner überkommenen Gestalt maßgeblich prägen, sodass ihre Beseitigung das Berufsbeamtentum als solches antasten würde (vgl. BVerfGE 43, 154 <185>; 114, 258 <286>). Deshalb steht Art. 33 Abs. 5 GG einer Weiterentwicklung des Beamtenrechts nicht entgegen, solange eine strukturelle Veränderung an den für Erscheinungsbild und Funktion des Berufsbeamtentums wesentlichen Regelungen nicht vorgenommen wird (vgl. BVerfGE 117, 330 <348 f.>; 117, 372 <379>). In der Pflicht zur Berücksichtigung der hergebrachten Grundsätze ist eine Entwicklungsoffenheit angelegt, die den Gesetzgeber in die Lage versetzt, die Ausgestaltung des Dienstrechts den jeweiligen Entwicklungen der Staatlichkeit anzupassen und das Beamtenrecht damit in die Zeit zu stellen. Die Strukturentscheidung des Art. 33 Abs. 5 GG belässt ausreichend Raum, die geschichtlich gewachsene Institution in den Rahmen unseres heutigen Staatslebens einzufügen (vgl. BVerfGE 3, 58 <137>; 7, 155 <162>; 70, 69 <79>) und den Funktionen anzupassen, die das Grundgesetz dem öffentlichen Dienst in der freiheitlichen, rechts- und sozialstaatlichen Demokratie zuschreibt (vgl. BVerfGE 8, 1 <16>; 9, 268 <286>; 15, 167 <195>; 148, 296 <345 f. Rn. 119>; 149, 1 <16 f. Rn. 34>). 26 Zu den vom Gesetzgeber wegen ihres grundlegenden und strukturprägenden Charakters nicht nur zu berücksichtigenden, sondern zu beachtenden (vgl. BVerfGE 8, 1 <16>; 117, 330 <349>; 119, 247 <263, 269>; 130, 263 <292>; 139, 64 <111 Rn. 92>; 140, 240 <277 Rn. 71>; 141, 56 <69 Rn. 34>; 145, 304 <324 Rn. 64>; 149, 382 <391 Rn. 15>; 150, 169 <178 Rn. 25>) hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums zählt das auch für die Besoldung der Richter und Staatsanwälte maßgebliche (vgl. BVerfGE 12, 81 <88>; 55, 372 <392>; 107, 218 <238>; 139, 64 <111 Rn. 92>) Alimentationsprinzip. Es verpflichtet den Dienstherrn, Richter und Beamte sowie ihre Familien lebenslang angemessen zu alimentieren und ihnen nach ihrem Dienstrang, nach der mit ihrem Amt verbundenen Verantwortung und nach der Bedeutung der rechtsprechenden Gewalt und des Berufsbeamtentums für die Allgemeinheit entsprechend der Entwicklung der allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse und des allgemeinen Lebensstandards einen angemessenen Lebensunterhalt zu gewähren. Damit wird der Bezug der Besoldung sowohl zu der Einkommens- und Ausgabensituation der Gesamtbevölkerung als auch zur Lage der Staatsfinanzen, das heißt zu der sich in der Situation der öffentlichen Haushalte ausdrückenden Leistungsfähigkeit des Dienstherrn, hergestellt (vgl. BVerfGE 8, 1 <14>; 107, 218 <238>; 117, 330 <351>; 119, 247 <269>; 130, 263 <292>; 139, 64 <111 Rn. 93>; 140, 240 <278 Rn. 72>; 149, 382 <391 f. Rn. 16>; 150, 169 <180 Rn. 28>). Richter und Beamte müssen über ein Nettoeinkommen verfügen, das ihre rechtliche und wirtschaftliche Sicherheit und Unabhängigkeit gewährleistet und ihnen und ihrer Familie über die Befriedigung der Grundbedürfnisse hinaus eine ihrem Amt angemessene Lebensführung ermöglicht (vgl. BVerfGE 114, 258 <287 f.>; 117, 330 <351>). 27 Die prägenden Strukturmerkmale des Berufsbeamtentums stehen nicht unverbunden nebeneinander, sondern sind eng aufeinander bezogen (zu Lebenszeit- und Alimentationsprinzip vgl. BVerfGE 119, 247 <263>; 121, 205 <221>; zu Treuepflicht und Alimentationsprinzip vgl. BVerfGE 21, 329 <345>; 44, 249 <264>; 130, 263 <298>; zu Treue- und Fürsorgepflicht vgl. BVerfGE 9, 268 <286>; ferner auch BVerfGE 71, 39 <59>). Die Besoldung stellt in diesem Zusammenhang kein Entgelt für bestimmte Dienstleistungen dar. Sie ist vielmehr ein „Korrelat“ des Dienstherrn für die mit der Berufung in das Richter- und Beamtenverhältnis verbundene Pflicht, unter Einsatz der ganzen Persönlichkeit – grundsätzlich auf Lebenszeit – die volle Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen und gemäß den jeweiligen Anforderungen die Dienstpflichten nach Kräften zu erfüllen (vgl. BVerfGE 39, 196 <200 f.>; 121, 241 <261>; 139, 64 <123 Rn. 123>; 140, 240 <292 Rn. 106>; 145, 1 <14 Rn. 32>; 150, 169 <180 Rn. 28>). Die Gewährleistung einer rechtlich und wirtschaftlich gesicherten Position, zu der die individuelle Garantie einer amtsangemessenen Besoldung und Versorgung durch das Alimentationsprinzip und die Möglichkeit ihrer gerichtlichen Durchsetzung wesentlich beitragen, bildet die Voraussetzung und innere Rechtfertigung für die lebenslange Treuepflicht sowie das Streikverbot; diese Strukturprinzipien sind untrennbar miteinander verbunden (vgl. BVerfGE 8, 1 <17>; 44, 249 <264>; 119, 247 <264>; 148, 296 <347 Rn. 121; 364 Rn. 152>). 28 Dieses Zusammenspiel von Hauptberuflichkeitsgrundsatz und Alimentationsprinzip ist vor dem Hintergrund der engen historischen Verknüpfung der Entwicklung des Berufsbeamtentums mit derjenigen des Rechtsstaats zu sehen: War der Beamte ursprünglich allein dem Regenten verpflichtet, wandelte er sich mit dem veränderten Staatsverständnis vom Fürsten- zum Staatsdiener. Seine Aufgabe war und ist es, Verfassung und Gesetz im Interesse der Bürger auch und gerade gegen die Staatsspitze zu behaupten. Die Übernahme der funktionswesentlichen tradierten Grundstrukturen des Berufsbeamtentums in das Grundgesetz beruht auf einer Funktionsbestimmung des Berufsbeamtentums als Institution, die, gegründet auf Sachwissen, fachliche Leistung und loyale Pflichterfüllung, eine stabile Verwaltung sichern und damit einen ausgleichenden Faktor gegenüber den das Staatswesen gestaltenden politischen Kräften bilden soll. Die institutionelle Einrichtungsgarantie des Art. 33 Abs. 5 GG trägt gleichzeitig der Tatsache Rechnung, dass im demokratischen Staatswesen Herrschaft stets nur auf Zeit vergeben wird und die Verwaltung schon im Hinblick auf die wechselnde politische Ausrichtung der jeweiligen Staatsführung neutral sein muss. Insoweit kann die strikte Bindung an Recht und Gemeinwohl, auf die die historische Ausformung des deutschen Berufsbeamtentums ausgerichtet ist, auch als Funktionsbedingung der Demokratie begriffen werden. Seine Aufgabe kann das Berufsbeamtentum nur erfüllen, wenn es rechtlich und wirtschaftlich gesichert ist. Nur wenn die innere und äußere Unabhängigkeit gewährleistet ist und die Bereitschaft zu Kritik und nötigenfalls Widerspruch nicht das Risiko einer Bedrohung der Lebensgrundlagen des Amtsträgers und seiner Familie in sich birgt, kann realistischerweise erwartet werden, dass ein Beamter auch dann auf rechtsstaatlicher Amtsführung beharrt, wenn sie (partei-) politisch unerwünscht sein sollte (vgl. BVerfGE 7, 155 <162 f.>; 119, 247 <260 f.>; 121, 205 <221>; 140, 240 <291 Rn. 103>; 149, 1 <15 f. Rn. 33>). Die Verpflichtung des Dienstherrn zu einer amtsangemessenen Alimentation des sich mit seiner ganzen Arbeitskraft seinem Amt widmenden Richters und Beamten besteht also nicht allein in dessen persönlichem Interesse, sondern dient zugleich dem Allgemeininteresse an einer fachlich leistungsfähigen, rechtsstaatlichen und unparteiischen Rechtspflege und öffentlichen Verwaltung, hat also auch eine qualitätssichernde Funktion (vgl. BVerfGE 114, 258 <294>; 130, 263 <293>; 139, 64 <119 Rn. 114>; 140, 240 <288 Rn. 97>). 29 b) Die verfassungsrechtlichen Maßstäbe zur amtsangemessenen Alimentation von Richtern und Beamten mit mehr als zwei unterhaltsberechtigten Kindern hat das Bundesverfassungsgericht in seinen Beschlüssen vom 30. März 1977 (BVerfGE 44, 249), vom 22. März 1990 (BVerfGE 81, 363) und vom 24. November 1998 (BVerfGE 99, 300) konkretisiert. Der Besoldungsgesetzgeber hat die Besoldung so zu regeln, dass Richter und Beamte nicht vor die Wahl gestellt werden, entweder eine ihrem Amt angemessene Lebensführung aufrechtzuerhalten oder, unter Verzicht darauf, eine Familie zu haben und diese entsprechend den damit übernommenen Verpflichtungen angemessen zu unterhalten (vgl. BVerfGE 44, 249 <267, 273 f.>; 99, 300 <315>). Deshalb kann bei der Beurteilung und Regelung dessen, was eine amtsangemessene Besoldung ausmacht, die Zahl der Kinder nicht ohne Bedeutung sein (vgl. BVerfGE 81, 363 <376>; 99, 300 <315>). 30 Art. 33 Abs. 5 GG belässt dem Gesetzgeber insoweit allerdings einen Gestaltungsspielraum. Das Bundesverfassungsgericht geht auf Grund der bisherigen Praxis des Besoldungsgesetzgebers davon aus, dass er die Grundbesoldung so bemisst, dass sie (zusammen mit den Familienzuschlägen für den Ehepartner und die ersten beiden Kinder) in allen Stufen der Besoldungsordnung im Wesentlichen amtsangemessen ist (vgl. BVerfGE 99, 300 <315>; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 4. Mai 2020 - 2 BvL 4/18 -, Rn. 47). Der Gesetzgeber überschreitet seinen Gestaltungsspielraum, wenn er den Richtern und Beamten zumutet, für den Unterhalt ihres dritten Kindes und weiterer Kinder auf die familien-neutralen Bestandteile ihres Gehalts zurückzugreifen, um den Bedarf ihrer Kinder zu decken. Die damit verbundene, mit wachsender Kinderzahl fortschreitende Auszehrung der familienneutralen Gehaltsbestandteile ist nicht hinnehmbar, weil so die Richter und Beamten mit mehreren Kindern den ihnen zukommenden Lebenszuschnitt nicht oder nur zulasten ihrer Familie erreichen können (vgl. BVerfGE 81, 363 <378>; 99, 300 <316>). 31 Bei der Bemessung des zusätzlichen Bedarfs, der für das dritte und die weiteren Kinder entsteht und vom Dienstherrn über die Alimentation der Zwei-Kinder-Familie hinaus zu decken ist, kann der Gesetzgeber von denjenigen Regelsätzen für den Kindesunterhalt ausgehen, die die Rechtsordnung in anderen Regelungszusammenhängen zur Verfügung stellt. Allerdings sind diese Sätze auf die Befriedigung unterschiedlicher Bedürfnisse ausgerichtet. Ihre eingeschränkte Aussagekraft für die Höhe des den Richtern und Beamten von ihrem Dienstherrn geschuldeten amtsangemessenen Unterhalts hat der Gesetzgeber in Rechnung zu stellen. So sind etwa Bedarfssätze, die an dem äußersten Mindestbedarf eines Kindes ausgerichtet sind, also insbesondere die Leistungen der sozialen Grundsicherung, ihrem Zweck nach staatliche Hilfen zur Erhaltung eines Mindestmaßes sozialer Sicherung. Die Alimentation der Richter und Beamten und ihrer Familien ist demgegenüber etwas qualitativ Anderes. Diesen Unterschied muss die Bemessung des Gehalts deutlich werden lassen (vgl. BVerfGE 44, 249 <264 f.>; 81, 363 <378>; 99, 300 <316>; 140, 240 <286 f. Rn. 93 f.>; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 4. Mai 2020 - 2 BvL 4/18 -, Rn. 47). 32 Dabei lässt ein um 15 % über dem grundsicherungsrechtlichen Gesamtbedarf liegender Betrag den verfassungsgebotenen Unterschied zwischen der von der Grundsicherung zu leistenden Befriedigung eines äußersten Mindestbedarfs und dem den Richtern und Beamten sowie ihren Familien geschuldeten Unterhalt hinreichend deutlich werden. Diese Berechnungsmethode dient nicht dazu, die angemessene Höhe der Alimentation zu ermitteln, sondern die Grenze zur Unteralimentation. Führen die den Richtern und Beamten für ihr drittes und jedes weitere Kind gewährten Zuschläge jedoch nicht einmal zu einer Erhöhung des Nettoeinkommens um 115 % des grundsicherungsrechtlichen Gesamtbedarfs für das hinzutretende Kind, überschreitet der Gesetzgeber den ihm zustehenden Gestaltungsspielraum (vgl. BVerfGE 81, 363 <382 f.>; 99, 300 <321 f.>; ferner mit Blick auf die Mindestalimentation am Maßstab einer vierköpfigen Familie BVerfGE 140, 240 <286 f. Rn. 93 f.>; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 4. Mai 2020 - 2 BvL 4/18 -, Rn. 47). 33 Ob die Dienstbezüge noch amtsangemessen sind, beurteilt sich nach dem Nettoeinkommen (vgl. BVerfGE 81, 363 <376>; 99, 300 <315>; BVerfGE 140, 240 <286 f. Rn. 93 f.>; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 4. Mai 2020 - 2 BvL 4/18 -, Rn. 47). Daher steht es dem Gesetzgeber frei, das von der Verfassung vorgegebene Ziel durch eine entsprechende Bemessung der Bruttobezüge – etwa in Gestalt eines kinderbezogenen Familienzuschlags – zu erreichen, die Richter und Beamten an einem allgemein gewährten Kindergeld teilhaben zu lassen, steuerrechtlich die durch den Kindesunterhalt verminderte Leistungsfähigkeit auszugleichen oder diese und weitere Möglichkeiten miteinander zu verbinden (vgl. BVerfGE 81, 363 <376>; 99, 300 <315>). 34 c) Die gegen diese Maßstäbe erhobenen Einwände greifen nicht durch. 35 aa) Es wird den durch Art. 33 Abs. 5 GG gewährleisteten Besonderheiten des Beamtenverhältnisses nicht gerecht, in der Zuwendung kinderbezogener Gehaltsbestandteile ein „Beamtenprivileg“ oder ein „doppeltes Kindergeld“ zu sehen. Das Beamtenverhältnis ist kein Dienstvertrag im herkömmlichen Sinne, insbesondere ist es kein entgeltliches Arbeitsverhältnis, aufgrund dessen eine nach Inhalt, Zeit und Umfang begrenzte Arbeitsleistung geschuldet wird und als Entgelt dafür ein Anspruch auf Entlohnung erwächst. Das Beamtenverhältnis begründet vielmehr für den Beamten und den Dienstherrn je selbstständige Pflichten. Diese folgen unmittelbar aus dem Gesetz, sie werden nicht vertraglich vereinbart. Der Beamte hat die Pflicht, dem Dienstherrn seine Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen. Der Dienstherr ist verpflichtet, dem Beamten den amtsangemessenen Unterhalt für sich und seine Familie zu gewähren. Die Berücksichtigung der Kinderzahl bei der Besoldung ist daher kein „Beamtenprivileg“, sondern Inhalt der geschuldeten Alimentation (vgl. BVerfGE 99, 300 <317> m.w.N.). 36 Das Bundesverfassungsgericht verlangt gerade keine Besserstellung der Kinder von Richtern und Beamten. Seine Rechtsprechung zum steuerfreien Existenzminimum (vgl. BVerfGE 99, 246) bezieht sich auf alle Kinder. Der Gesetzgeber wäre nicht gehindert, den Bedürfnissen von kinderreichen Familien generell in einer Weise Rechnung zu tragen, die jegliche Besserstellung von Beamten gegenüber anderen Erwerbstätigen vermeidet. 37 bb) Dass bei der Berechnung des für alle Besoldungsgruppen gleich hohen Mindestmehrbetrags davon ausgegangen wird, dass der Richter oder Beamte die Familie allein unterhält, ist ein aus der bisherigen Besoldungspraxis und der zu ihr ergangenen Rechtsprechung abgeleiteter Kontrollmaßstab (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 4. Mai 2020 - 2 BvL 4/18 -, Rn. 47). Es handelt sich nicht um ein Abbild der Wirklichkeit oder das vom Bundesverfassungsgericht befürwortete Leitbild der Beamtenbesoldung, sondern um eine Bezugsgröße, die eine spezifische Funktion bei der Bemessung der Untergrenze der Familienalimentation erfüllt (vgl. Leisner-Egensperger, NVwZ 2019, S. 777 <780>). Sie stellt sicher, dass der Familie für das dritte und jedes weitere Kind der am Grundsicherungsniveau orientierte Mindestmehrbetrag auch dann zur Verfügung steht, wenn der andere Elternteil gar nichts zum Familieneinkommen beisteuern kann, etwa weil behinderte Kinder oder betagte Großeltern dauernder Pflege bedürfen oder er selbst dauerhaft arbeitsunfähig erkrankt oder gar verstorben ist. Für andere Familienformen nachteilige Auswirkungen sind damit nicht verbunden. 38 2. Diese in den früheren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts entwickelten verfassungsrechtlichen Maßstäbe bedürfen insofern einer Aktualisierung, als die Regelungen zu der als Vergleichsmaßstab herangezogenen sozialen Grundsicherung seither grundlegend umgestaltet worden sind (a) und auch bei der Berechnung des Nettoeinkommens neue Aspekte berücksichtigt werden müssen (b). 39 a) Das zur Bestimmung der Mindestalimentation herangezogene Grundsicherungsniveau umfasst alle Elemente des Lebensstandards, der den Empfängern von Grundsicherungsleistungen staatlicherseits gewährt wird, unabhängig davon, ob diese zum verfassungsrechtlich garantierten Existenzminimum (vgl. BVerfGE 125, 175 <221 ff.>; 132, 34 <72 Rn. 74>) zählen oder über dieses hinausgehen, und unabhängig davon, ob zur Befriedigung der anerkannten Bedürfnisse Geldleistungen gewährt oder bedarfsdeckende Sach- beziehungsweise Dienstleistungen erbracht werden (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 4. Mai 2020 - 2 BvL 4/18 -, Rn. 50). 40 aa) Die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II, die derzeit zusammen mit den Leistungen der Sozialhilfe nach dem SGB XII den Kern des Grundsicherungsniveaus bilden, beruhen nur teilweise auf gesetzgeberischen Pauschalierungen (so etwa hinsichtlich der Regelbedarfe, §§ 20, 23 SGB II und §§ 27a ff. SGB XII i.V.m. dem Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz vom 24. März 2011 <BGBl I S. 453>); im Übrigen knüpft der Sozialgesetzgeber an die tatsächlichen Bedürfnisse an (insbesondere bei den Kosten der Unterkunft, § 22 SGB II). Deshalb divergiert die Höhe der Gesamtleistungen bei gleicher Haushaltsgröße erheblich. 41 Ist der Gesetzgeber gehalten, den Umfang der Sozialleistungen realitätsgerecht zu bemessen (vgl. BVerfGE 66, 214 <223>; 68, 143 <153>; 82, 60 <88>; 87, 153 <172>; 99, 246 <260>; 99, 300 <1. Leitsatz>; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 4. Mai 2020 - 2 BvL 4/18 -, Rn. 52), kann dies nicht ohne vereinfachende Annahmen gelingen. Die zu berücksichtigenden Positionen müssen notwendigerweise typisiert werden (vgl. BVerfGE 99, 246 <261>). Weder der in erster Linie zur Durchführung einer entsprechenden Berechnung berufene Besoldungsgesetzgeber noch die gerichtliche Kontrolle muss sich an atypischen Sonderfällen orientieren. Die Herangehensweise muss jedoch von dem Ziel bestimmt sein, sicherzustellen, dass die Nettoalimentation durchgängig den gebotenen Mindestabstand zu dem den Empfängern der sozialen Grundsicherung gewährleisteten Lebensstandard wahrt (vgl. BVerfGE 82, 60 <91>; 99, 246 <261>; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 4. Mai 2020 - 2 BvL 4/18 -, Rn. 52). Damit kommt eine Orientierung an einem Durchschnittswert jedenfalls dann nicht in Betracht, wenn die Varianz so groß ist, dass er in einer größeren Anzahl von Fällen erkennbar nicht ausreichen würde (vgl. BVerfGE 120, 125 <160>; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 4. Mai 2020 - 2 BvL 4/18 -, Rn. 52). Zwar hat das Bundesverfassungsgericht dem Steuergesetzgeber in der Vergangenheit zugebilligt, sich bei einem erheblichen Preisgefälle auf dem Wohnungsmarkt hinsichtlich der Wohnkosten bei der Bemessung des Grundfreibetrags an einem „unteren Wert“ zu orientieren. Es hat dies aber unter der Bedingung getan, dass der Gesetzgeber zugleich zur ergänzenden Deckung des Bedarfs nach dem Einzelfall bemessene Sozialleistungen, wie etwa ein Wohngeld, zur Verfügung stellt (vgl. BVerfGE 87, 153 <172>). Weil die Besoldung der Richter und Beamten nicht dem Gewährleistungsbereich des Art. 33 Abs. 5 GG entzogen werden kann, darf der Besoldungsgesetzgeber sie, wenn es um die Einhaltung der aus dem Alimentationsprinzip folgenden Mindestanforderungen geht, indes nicht auf den Bezug von Sozialleistungen verweisen. Allenfalls dürfen tatsächlich bezogene Sozialleistungen auf die Bezüge angerechnet werden (vgl. BVerfGE 44, 249 <269 f.>; 70, 69 <81>). Anderes gilt nur für das Kindergeld (vgl. BVerfGE 81, 363 <375 f.>; 99, 300 <315, 321>; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 4. Mai 2020 - 2 BvL 4/18 -, Rn. 52), weil mit ihm im Ausgangspunkt die – bei der Ermittlung des Nettogehalts ohnehin zu berücksichtigende – verfassungsrechtlich gebotene steuerliche Freistellung des Existenzminimums des Kindes bewirkt wird (vgl. BVerfGE 99, 246 <265>) und es daher nur in bestimmten Fällen und in unterschiedlichem Umfang den Charakter einer Sozialleistung hat (vgl. BVerfGE 82, 60 <78 f.>). 42 Die nachfolgenden Ausführungen stellen keine für den Besoldungsgesetzgeber in jeder Einzelheit verbindliche Berechnungsgrundlage dar. Ihm stünde es insbesondere frei, die Höhe des Grundsicherungsniveaus als Ausgangspunkt für die Bemessung der Untergrenze der Besoldung mit Hilfe einer anderen plausiblen und realitätsgerechten Methodik zu bestimmen (vgl. BVerfGE 137, 34 <75 f. Rn. 82 ff.>; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 4. Mai 2020 - 2 BvL 4/18 -, Rn. 53). Ihn trifft jedoch die Pflicht, die ihm insoweit zu Gebote stehenden Erkenntnismöglichkeiten auszuschöpfen, um die Entwicklung der Lebensverhältnisse zu beobachten und die Höhe der Besoldung an diese Entwicklung kontinuierlich im gebotenen Umfang anzupassen (vgl. BVerfGE 117, 330 <355>; 130, 263 <302>; 137, 34 <76 Rn. 85>; 146, 164 <197 Rn. 85>). Stellt er dabei eine erhebliche (regionale) Spreizung innerhalb seines Verantwortungsbereichs fest, kann er darauf mit einer regionalen Differenzierung der Beamtenbesoldung reagieren (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 4. Mai 2020 - 2 BvL 4/18 -, Rn. 53). 43 bb) Gemäß § 20, § 23 Nr. 1 SGB II wird zur Befriedigung des Regelbedarfs zur Sicherung des Lebensunterhalts ein monatlicher Pauschalbetrag anerkannt, dessen Höhe regelmäßig neu festgesetzt wird. Dabei wird typisierend für unterschiedliche Lebensumstände ein unterschiedlicher Regelbedarf angenommen. Für Kinder richtet sich die Zuordnung zu einer Regelbedarfsstufe nach dem Lebensalter. Insofern kann zur Bestimmung der gebotenen Mindestalimentation auf die im Existenzminimumbericht der Bundesregierung etablierte Berechnungsmethode zurückgegriffen werden, bei der die Regelbedarfssätze mit der Anzahl der für die einzelnen Regelbedarfsstufen relevanten Lebensjahre gewichtet werden (vgl. BTDrucks 19/5400, S. 6). 44 Dabei darf der Gesetzgeber den für volljährige Kinder einer Bedarfsgemeinschaft maßgeblichen Regelsatz der Regelbedarfsstufe 3 bei der Durchschnittsbildung außer Betracht lassen. Denn diese Regelbedarfsstufe kommt in der hier maßgeblichen Konstellation nur zum Tragen, wenn das dritte (oder vierte) Kind volljährig ist und zwei ältere Geschwister hat, die ebenfalls noch kindergeldberechtigt sind. Dies dürfte allenfalls in seltenen Ausnahmefällen für einen nennenswerten Zeitraum der Fall sein, selbst wenn insgesamt eine erhebliche Zahl von Kindern auch nach Vollendung des 18. Lebensjahres noch kindergeldberechtigt sein sollte. 45 cc) Für den verfahrensgegenständlichen Zeitraum müssen die anzusetzenden Kosten der Unterkunft aus dem Wohngeldrecht abgeleitet werden. 46 (1) Eine Übernahme der in den Existenzminimumberichten angewandten Methode kommt nicht in Betracht. Im streitgegenständlichen Zeitraum wurden darin neben dem gesamtdeutschen Mietenniveau der Wohngeldempfänger der für die Mietenstufen I bis IV nach Fallzahlen gewichtete Durchschnittswert zugrunde gelegt (vgl. BTDrucks 16/11065, S. 3; BTDrucks 18/3893, S. 4; nunmehr aber BTDrucks 19/5400, S. 5) und damit gerade die Mieten der (damals) höchsten Mietenstufen V und VI nach § 12 WoGG außer Ansatz gelassen (vgl. Modrzejewski, Existenzsicherung in Ehe und Familie im Einkommensteuerrecht, 2018, S. 138). Dass die Auffassung der Bundesregierung, diese Methodik sei auch für die Bestimmung der Mindestalimentation heranzuziehen, nicht zutreffen kann, folgt schon daraus, dass sie in ihrer Stellungnahme die Beamten ausdrücklich auf den Wohngeldbezug verweist. Der Besoldungsgesetzgeber kann sich seiner aus dem Alimentationsprinzip ergebenden Verpflichtung aber nicht mit Blick auf Sozialleistungsansprüche entledigen; die angemessene Alimentation muss durch das Beamtengehalt selbst gewahrt werden (vgl. BVerfGE 44, 249 <269 f.>; 70, 69 <81>). 47 (2) Um der verfassungsrechtlichen Zielsetzung, das Grundsicherungsniveau als Ausgangspunkt für die Festlegung der Untergrenze der Beamtenbesoldung zu bestimmen, gerecht zu werden, muss der Bedarf für die Kosten der Unterkunft so erfasst werden, wie ihn das Sozialrecht definiert und die zuständigen Behörden tatsächlich anerkennen. Auch muss der Ansatz so bemessen sein, dass er auch in Kommunen mit durchschnittlich höheren Kosten der Unterkunft das Grundsicherungsniveau nicht unterschreitet. 48 § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II sieht vor, dass Bedarfe für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt werden, soweit diese angemessen sind. Solange nicht aufgrund von § 22a Abs. 1 in Verbindung mit § 22b Abs. 1 SGB II durch Satzung (oder Verordnung) bestimmt wird, welche Kosten der Unterkunft beziehungsweise welche Wohnfläche entsprechend der Struktur des örtlichen Wohnungsmarktes als angemessen anerkannt werden, muss die Angemessenheit der Kosten nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts in einer mehrstufigen Einzelfallprüfung ermittelt werden: Zunächst ist die sogenannte abstrakte Angemessenheit der Miete zu bestimmen, für die es auf Wohnfläche, Wohnstandard (insbesondere Lage und Ausstattung) und örtliches Preisniveau ankommt. Nach der sogenannten Produkttheorie ist eine Unterkunft angemessen, deren Kosten dem Produkt aus angemessener Wohnfläche einerseits und dem im Vergleichsraum für Wohnungen einfachen Standards ermittelten Mietzins pro Quadratmeter andererseits entspricht (vgl. BSG, Urteil vom 7. November 2006 - B 7b AS 18/06 R -, juris, Rn. 20). Der Vergleichsraum ist ausgehend vom Wohnort zu bestimmen, wobei es darauf ankommt, welche Orte aufgrund ihrer räumlichen Nähe, der Infrastruktur und insbesondere ihrer verkehrstechnischen Verbundenheit einen insgesamt betrachtet homogenen Lebens- und Wohnbereich bilden (vgl. BSG, Urteil vom 19. Oktober 2010 - B 14 AS 2/10 R -, juris, Rn. 18 m.w.N.). Dabei kann der Grundsicherungsempfänger seinen Wohnort frei wählen: Nach einem Umzug über die Grenzen des kommunalen Vergleichsraums hinaus sind die anzusetzenden Kosten der Unterkunft nicht auf die Aufwendungen am bisherigen Wohnort begrenzt (vgl. BSG, Urteil vom 1. Juni 2010 - B 4 AS 60/09 R -, juris, Rn. 18 ff. unter Verweis auch auf Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 11 Abs. 1 GG). Die anzusetzende Wohnfläche wird aus den im jeweils fraglichen Zeitraum geltenden landesrechtlichen Vorgaben für den sozialen Mietwohnungsbau abgeleitet (vgl. BSG, Urteil vom 16. Mai 2012 - B 4 AS 109/11 R -, juris, Rn. 18; für Nordrhein-Westfalen liegt dieser Wert bei 15 qm für jedes Kind, vgl. Ziffer 8.2 der Wohnraumnutzungsbestimmungen <WNB>, RdErl des Ministeriums für Bauen und Verkehr – IV.5-619-1665/09 vom 12. Dezember 2009). Der Quadratmeterpreis für Wohnungen einfachen Standards ist auf der Grundlage eines überprüfbaren, schlüssigen Konzepts zur Datenerhebung und -auswertung zu ermitteln, das die Gewähr dafür bietet, die Verhältnisse des örtlichen Wohnungsmarkts in einem bestimmten Zeitraum wiederzugeben (vgl. BSG, Urteil vom 22. September 2009 - B 4 AS 18/09 R -, juris, Rn. 17 ff.). Überschreiten die tatsächlichen Aufwendungen den nach diesen Maßgaben bestimmten abstrakt angemessenen Betrag, wird im Verfahren nach § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II geprüft, ob im konkreten Einzelfall eine bedarfsgerechte und kostengünstige Wohnung tatsächlich verfügbar und zugänglich ist. Ist dies nicht der Fall, sind die höheren Kosten anzuerkennen (vgl. BSG, Urteil vom 11. Dezember 2012 - B 4 AS 44/12 R -, juris, Rn. 21 ff.). 49 (3) Die von der Bundesagentur für Arbeit im Verfahren 2 BvL 4/18 vorgelegte statistische Auswertung ermöglicht eine realitätsgerechte Erfassung der absoluten Höhe der grundsicherungsrechtlichen Kosten der Unterkunft für eine Familie (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 4. Mai 2020 - 2 BvL 4/18 -, Rn. 59). Im vorliegenden Verfahren geht es jedoch darum, den Mehrbetrag zu ermitteln, der einer Familie mit drei Kindern im Vergleich zu einer Familie mit zwei Kindern zugestanden wird. Es kommt also auf den relativen Unterschied der Kosten der Unterkunft an. Dieser kann mit Hilfe der von der Bundesagentur vorgelegten Daten, denen eine Auflösung in 50-Euro-Schritten zugrunde liegt, nicht hinreichend genau bestimmt werden. 50 (4) Für den Fall, dass belastbare Erhebungen zu den tatsächlich angemessenen Kosten der Unterkunft für einen Vergleichsraum in einem bestimmten Zeitraum nicht vorliegen, hat das Bundessozialgericht eine alternative Methode entwickelt, um die grundsicherungsrechtlichen Kosten der Unterkunft bemessen zu können. In einer solchen Situation ist der für den jeweiligen Wohnort maßgebliche wohngeldrechtliche Miethöchstbetrag mit einem Sicherheitszuschlag von 10 % den Berechnungen zugrunde zu legen, weil die Festsetzung aufgrund der abweichenden Zweckrichtung des Wohngeldes nicht mit dem Anspruch erfolgt, die realen Verhältnisse auf dem Markt stets zutreffend abzubilden (vgl. BSG, Urteil vom 12. Dezember 2013 - B 4 AS 87/12 R -, juris, Rn. 26 f.). 51 Das Wohngeld ist als Zuschuss ausgestaltet, dessen Höhe sich nach der Anzahl der Haushaltsmitglieder, der Bruttokaltmiete und dem Gesamteinkommen der Haushaltsmitglieder richtet (§ 4 WoGG). Angesetzt wird die tatsächlich gezahlte Miete, allerdings nur bis zu einem im Gesetz festgelegten Höchstbetrag, der nach der Zahl der Haushaltsmitglieder und der Mietenstufe gestaffelt ist. Die Zugehörigkeit einer Gemeinde zu einer Mietenstufe richtet sich nach dem Mietenniveau. Das Mietenniveau ist die durchschnittliche prozentuale Abweichung der Quadratmetermieten von Wohnraum in der fraglichen Gemeinde vom Durchschnitt der Quadratmetermieten des Wohnraums im Bundesgebiet (§ 12 WoGG). Die Höchstbeträge nach § 12 Abs. 1 WoGG sind seit dem Jahr 2016 gemäß § 39 Abs. 1 WoGG in zweijährlichem Turnus zu überprüfen. Für Zeiträume wie den hier zu beurteilenden, in denen die Wohngeldsätze nicht, wie es nunmehr vorgesehen ist, in einem engen Turnus von zwei Jahren aktualisiert werden, sondern über einen langen Zeitraum (hier: 2009 bis 2016, vgl. BTDrucks 18/4897, S. 1) gleichbleiben, verlieren die Wohngeldsätze ihren Realitätsbezug. Abhilfe schafft insofern eine Indexierung der Werte mit dem Mietpreisindex des Statistischen Landesamtes des jeweiligen Landes (hilfsweise: des Statistischen Bundesamtes). 52 Weil die Anforderungen des Alimentationsprinzips für alle Richter und Beamte ohne Rücksicht auf ihren Dienstort eingehalten werden müssen (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 4. Mai 2020 - 2 BvL 4/18 -, Rn. 60 f.), ist dabei auf die höchste im jeweiligen Land vorkommende Mietenstufe des Wohngeldrechts abzustellen (vgl. BVerwGE 160, 1 <41 f. Rn. 168 f.>). Der Dienstherr kann nicht erwarten, dass Richter und Beamte ihren Wohnsitz an einem Ort nehmen, der durchschnittliche Wohnkosten aufweist. Diese Überlegung entfernte sich unzulässig vom Grundsicherungsrecht, das die freie Wohnortwahl gewährleistet, insbesondere auch den Umzug in den Vergleichsraum mit den höchsten Wohnkosten. Unabhängig davon dürfen Beamte weder ihre Dienststelle noch ihren Wohnort beliebig wählen. Der Bestimmung der Dienststelle durch den Dienstherrn können nur schwerwiegende persönliche Gründe oder außergewöhnliche Härten entgegengehalten werden (vgl. Lemhöfer, in: Plog/Wiedow, BBG, § 28 Rn. 76 <November 2009> m.w.N.). Die Beamten sind zudem auch ohne ausdrückliche Anordnung einer Residenzpflicht verpflichtet, ihre Wohnung so zu nehmen, dass die ordnungsmäßige Wahrnehmung ihrer Dienstgeschäfte – insbesondere der pünktliche Dienstantritt – nicht beeinträchtigt wird (vgl. Schachel, in: Schütz/Maiwald, Beamtenrecht, § 44 LBG NRW Rn. 11 ff. <August 2017>). 53 Der Besoldungsgesetzgeber ist allerdings nicht verpflichtet, die Besoldung eines Beamten oder Richters auch dann an den regionalen Höchstwerten auszurichten, wenn dieser hiervon gar nicht betroffen ist. Der Gesetzgeber muss nicht pauschalieren, sondern kann den maßgeblichen Bedarf individuell oder gruppenbezogen erfassen (vgl. BVerfGE 87, 153 <172>). Insbesondere ist er frei, Besoldungsbestandteile an die regionalen Lebenshaltungskosten anzuknüpfen, etwa durch (Wieder-)Einführung eines an den örtlichen Wohnkosten orientierten (Orts-) Zuschlags (vgl. hierzu BVerfGE 117, 330 <345 ff.>), wie es derzeit regelmäßig bei einer Auslandsverwendung (vgl. § 73 LBesG NRW i.V.m. §§ 52 ff. BBesG) und teilweise auch innerhalb eines Landes (vgl. Art. 94 BayBesG) praktiziert wird. Eine an Wohnsitz oder Dienstort anknüpfende Abstufung ist mit dem Alimentationsprinzip vereinbar, sofern sie sich vor Art. 3 Abs. 1 GG rechtfertigen lässt (vgl. BVerfGE 107, 218 <238, 243 ff.>; 117, 330 <350 f.>). Mit den Mietenstufen des Wohngeldgesetzes, denen alle Kommunen entsprechend den örtlichen Verhältnissen des Mietwohnungsmarktes zugeordnet sind, stünde ein leicht zu handhabendes Kriterium bereit (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 4. Mai 2020 - 2 BvL 4/18 -, Rn. 61). 54 dd) Zum grundsicherungsrechtlichen Bedarf zählen nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II auch Heizkosten, sofern sie angemessen sind. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts können dem bundesweiten Heizspiegel, der jährlich nach Energieträger und Größe der Wohnanlage gestaffelte Vergleichswerte ausweist, Richtwerte entnommen werden. Nur wenn die Heizkosten das Produkt aus der angemessenen Wohnfläche und dem Höchstwert des Heizspiegels übersteigen, besteht Anlass dazu, die Aufwendungen konkret auf ihre Angemessenheit hin zu überprüfen (vgl. BSG, Urteil vom 20. August 2009 - B 14 AS 41/08 R -, juris, Rn. 30; Urteil vom 12. Juni 2013 - B 14 AS 60/12 R -, juris, Rn. 22). Dass dabei auf bundeseinheitliche Werte abgestellt wird, steht nicht im Widerspruch zur Föderalisierung des Besoldungsrechts, weil das Grundsicherungsrecht insofern keine Regionalisierung vorsieht (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 4. Mai 2020 - 2 BvL 4/18 -, Rn. 63). 55 ee) Für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene hat der Gesetzgeber über den Regelbedarf hinaus Bedarfe für Bildung und Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft (im Folgenden: Bildung und Teilhabe) gesondert erfasst. Auch sie zählen zum sozialhilferechtlichen Grundbedarf (vgl. BVerfGE 137, 34 <95 ff. Rn. 130 ff.>). 56 Nach den im verfahrensgegenständlichen Zeitraum geltenden Fassungen des § 28 SGB II vom 13. Mai 2011 (BGBl I S. 850) und vom 7. Mai 2013 (BGBl I S. 1167) wurden anerkannt: Leistungen für Schulausflüge und mehrtägige Klassenfahrten im Rahmen der schulrechtlichen Bestimmungen (§ 28 Abs. 2 SGB II), persönlicher Schulbedarf (§ 28 Abs. 3 SGB II), Kosten der Schülerbeförderung, soweit sie nicht von Dritten übernommen werden und es nicht zumutbar ist, sie aus dem Eigenbedarf zu bestreiten (§ 28 Abs. 4 SGB II), angemessene Kosten der Lernförderung, soweit diese geeignet und zusätzlich erforderlich ist, um die nach den schulrechtlichen Bestimmungen festgelegten wesentlichen Lernziele zu erreichen (§ 28 Abs. 5 SGB II), Mehraufwendungen für die Teilnahme an einer gemeinschaftlichen Mittagsverpflegung von Schülern und von Kindern, die in Tageseinrichtungen oder in der Kindertagespflege betreut werden (§ 28 Abs. 6 SGB II), sowie Aufwendungen im Zusammenhang mit der Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft (§ 28 Abs. 7 SGB II). Pauschaliert wurden lediglich der persönliche Schulbedarf (100 Euro pro Schuljahr) und die Aufwendungen für die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft (10 Euro pro Monat bis zum 18. Lebensjahr), wobei in Ausnahmefällen auch die (höheren) tatsächlichen Aufwendungen berücksichtigt werden konnten (§ 28 Abs. 7 Satz 2 SGB II). Im Übrigen wurden im Grundsatz die tatsächlichen Aufwendungen anerkannt. 57 Für die Bestimmung des Grundsicherungsniveaus sind im Ausgangspunkt alle Bedarfe des § 28 SGB II relevant. Nur wenn feststeht, dass bestimmte Bedarfe auf außergewöhnliche Lebenssituationen zugeschnitten sind und deshalb tatsächlich nur in Ausnahmefällen bewilligt werden, können sie außer Ansatz bleiben. Danach dürften der persönliche Schulbedarf, Aufwendungen für Schulausflüge, Klassenfahrten und das Mittagessen in Gemeinschaftsverpflegung sowie die Kosten der Teilhabe bei sozialen, sportlichen und kulturellen Aktivitäten dem Grunde nach zu berücksichtigen sein. Um einen realitätsgerechten Wert zu ermitteln, sind die Ausgaben mit der Zahl derjenigen ins Verhältnis zu setzen, die den jeweiligen Bedarf auch tatsächlich geltend machen. Fallen bestimmte Bedarfe nur in bestimmten Altersstufen an, wie etwa der Schulbedarf oder Klassenfahrten, ist wie bei den Regelsätzen ein gewichteter Durchschnitt zu bilden (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 4. Mai 2020 - 2 BvL 4/18 -, Rn. 67). 58 ff) Nach § 21 SGB II sind bestimmte Mehrbedarfe anzuerkennen, die auf besondere Lebensumstände zurückzuführen sind. Aus der im Verfahren 2 BvL 4/18 von der Bundesagentur für Arbeit vorgelegten Statistik geht hervor, dass zwar der Mehrbedarf für dezentrale Warmwasserversorgung in nennenswerter Häufigkeit anfällt, im Durchschnitt aber nur mit weniger als einem Euro monatlich. Mehrbedarfe im Bagatellbereich können bei der Typisierung außer Ansatz bleiben. 59 gg) Der vom Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 24. November 1998 angesetzte 20 %-Zuschlag auf die Regelsätze der Sozialhilfe (vgl. BVerfGE 99, 300 <322>) ist mit der Umgestaltung des Grundsicherungsrechts im Jahr 2005 obsolet geworden. Mit ihm wurden die vormals in größerem Umfang gewährten „einmaligen Leistungen zum Lebensunterhalt“ nach § 21 Abs. 1a BSHG – insbesondere für Kleidung, Brennstoffe, Hausrat, Wohnungsinstandsetzung und langlebige Gebrauchsgüter – abgebildet (vgl. Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge für die Heranziehung Unterhaltspflichtiger in der Sozialhilfe, NDV 1995, S. 1 <10 Rn. 148>). Hierfür besteht kein Bedürfnis mehr, nachdem das System der Grundsicherung auf höhere Regelsätze umgestellt worden ist, aus denen auch unregelmäßig anfallende Ausgaben bestritten werden sollen (vgl. § 20 Abs. 1 Satz 4 SGB II). 60 hh) Der Lebensstandard der Grundsicherungsempfänger wird nicht allein durch als solche bezeichnete Grundsicherungsleistungen bestimmt. Ihnen werden – in letzter Zeit vermehrt – vornehmlich Dienstleistungen zu einem vergünstigten „Sozialtarif“ angeboten, etwa im Bereich der weitverstandenen Daseinsvorsorge (öffentlicher Nahverkehr, Museen, Theater, Opernhäuser, Schwimmbäder usw.). Von erheblicher praktischer Bedeutung sind auch die Kosten für die Kinderbetreuung. Seit dem 1. August 2019 dürfen von Grundsicherungsempfängern für die Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und Kindertagespflege keine Beiträge mehr erhoben werden (vgl. § 90 Abs. 4 SGB VIII i.d.F. des Art. 2 Nr. 2 Buchstabe c des Gesetzes zur Weiterentwicklung der Qualität und zur Teilhabe in der Kindertagesbetreuung vom 19. Dezember 2018 <BGBl I S. 2696>; die Gegenfinanzierung erfolgt im Rahmen des Finanzausgleichs <vgl. Art. 3 und 4 des zuletzt genannten Gesetzes>). Dabei handelt es sich – anders als beim Kindergeld – nicht um eine Vergünstigung, die allen Kindern zuteil wird. Eltern, die keine Sozialleistungen beziehen, müssen diese Leistungen (zumindest teilweise) bezahlen. 61 Diese geldwerten Vorteile werden nicht in der Statistik der Grundsicherungsbehörden erfasst. Gleichwohl können sie bei einer realitätsgerechten Ermittlung des den Grundsicherungsempfängern gewährleisteten Lebensstandards nicht unberücksichtigt bleiben. Es handelt sich um Bedürfnisse, deren Erfüllung die öffentliche Hand für jedermann als so bedeutsam erachtet, dass sie Grundsicherungsempfängern entsprechende Leistungen mit Rücksicht auf ihre wirtschaftliche Lage kostenfrei oder vergünstigt zur Verfügung stellt und hierfür öffentliche Mittel einsetzt. 62 Solange aber auch ohne Berücksichtigung etwaiger geldwerter Vorteile feststeht, dass der Mindestabstand zum Grundsicherungsniveau nicht gewahrt ist, sind Feststellungen zu Art und Umfang der genannten geldwerten Vorteile mangels Entscheidungserheblichkeit entbehrlich. Auch insoweit ist in erster Linie der Besoldungsgesetzgeber gefordert, die Entwicklung der Lebensverhältnisse zu beobachten, um Art und Ausmaß der geldwerten Vorteile zu ermitteln und die Höhe der Besoldung diesen kontinuierlich im gebotenen Umfang anzupassen (vgl. BVerfGE 117, 330 <355>; 130, 263 <302>; 137, 34 <76 Rn. 85>; 146, 164 <197 Rn. 85>; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 4. Mai 2020 - 2 BvL 4/18 -, Rn. 71). 63 b) Ob die Dienstbezüge der Richter und Beamten den Anforderungen des Alimentationsprinzips entsprechend ausreichen, um den sich für das dritte und jedes weitere Kind ergebenden alimentationsrechtlichen Mindestbedarf zu decken, beurteilt sich nach dem Nettomehrbetrag, also dem Unterschied in der Besoldung, die Richtern und Beamten der gleichen Besoldungsgruppe mit zwei Kindern einerseits und mit der fraglichen Kinderzahl andererseits tatsächlich zur Verfügung steht (vgl. BVerfGE 99, 300 <323>). Weil es dem Gesetzgeber freisteht, wie er das von der Verfassung vorgegebene Ziel erreicht, und hier unterschiedliche Wege denkbar sind (entsprechende Bemessung der Bruttobezüge, allgemein gewährtes Kindergeld, steuerrechtliche Berücksichtigung der durch den Kindesunterhalt verminderten Leistungsfähigkeit, Kombinationslösungen; vgl. BVerfGE 81, 363 <375 f.>; 99, 300 <315>), ist das Nettoeinkommen unter Berücksichtigung des Kindergelds zu ermitteln. 64 aa) Bezugspunkt ist das Gehalt als Ganzes (vgl. BVerfGE 44, 249 <272>). Neben dem Grundgehalt sind daher solche Bezügebestandteile zu berücksichtigen, die allen Beamten einer Besoldungsgruppe gewährt werden (vgl. BVerfGE 99, 300 <321>; 139, 64 <112 Rn. 93>; 140, 240 <278 Rn. 72>). 65 Dabei ist – wenn diese Besoldungsgruppe Erfahrungsstufen kennt – das Grundgehalt der Endstufe maßgeblich (vgl. BVerfGE 99, 300 <321>). Damit ist sichergestellt, dass der Mehrbetrag der Nettoalimentation auch bei dem höchsten für die Besoldungsgruppe relevanten Steuersatz den Abstand zum Grundsicherungsniveau wahrt. 66 bb) Bei der Ermittlung des Nettoeinkommens sind die Kosten einer die Beihilfeleistungen des Dienstherrn ergänzenden Krankheitskosten- und Pflegeversicherung in Abzug zu bringen (vgl. BVerfGE 140, 240 <286 f. Rn. 94 f.>; vgl. auch BTDrucks 18/9533, S. 36 f.). Anzusetzen ist dabei aus den mit Blick auf die Regelsätze der Grundsicherung ausgeführten Gründen (vgl. oben C. I. 2. a) bb), Rn. 44) der durchschnittliche Beitrag für minderjährige Kinder. Gewährt der Dienstherr freie Heilfürsorge oder erhöht er den Beihilfesatz (vgl. BVerfGE 140, 240 <287 Rn. 94>), wirkt sich dies auf die Höhe des Nettoeinkommens aus. 67 Gemäß § 193 Abs. 3 Satz 1 des Gesetzes über den Versicherungsvertrag (Versicherungsvertragsgesetz – VVG) vom 23. November 2007 (BGBl I S. 2631) ist jede Person mit Wohnsitz im Inland, die nicht gesetzlich versichert oder anderweitig abgesichert ist, verpflichtet, eine Krankheitskostenversicherung abzuschließen. Aus § 23 Abs. 1 SGB XI folgt die Verpflichtung, sich auch für das Eintreten des Pflegefalls zu versichern. Gemäß § 26 SGB II sind angemessene Beiträge für eine Kranken- und Pflegeversicherung als Bedarf der Grundsicherungsempfänger anzuerkennen. Die Aufwendungen für eine private Kranken- und Pflegeversicherung sind daher auch Teil des einkommensteuerrechtlich zu verschonenden Existenzminimums, soweit sie zur Erlangung eines von der Grundsicherung gewährleisteten Versorgungsniveaus erforderlich sind (vgl. BVerfGE 120, 125 <161>). 68 Eine Beschränkung der zu berücksichtigenden Aufwendungen entsprechend § 26 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 SGB II, wonach die Beiträge zur privaten Kranken- und Pflegeversicherung nur bis zur Höhe des nach § 152 Abs. 4 VAG beziehungsweise § 110 Abs. 2 Satz 3 SGB XI ermäßigten Beitrags anerkannt werden, scheidet aus. Diese Regelung vermindert nicht den Gesamtaufwand, der erforderlich ist, um den zum sozialhilferechtlichen Bedarf zählenden Kranken- und Pflegeversicherungsschutz sicherzustellen, sie verteilt nur die Lasten anders. Es handelt sich um eine sozialstaatliche Indienstnahme der privaten Krankenversicherungsunternehmen (vgl. BVerfGE 123, 186 <249>). Hinzu kommt, dass nur Versicherte in den Genuss der Prämienreduktion kommen, die tatsächlich grundsicherungsberechtigt sind. Auch eine Beschränkung auf den steuerlich absetzbaren Beitragsanteil kommt nicht in Betracht. Hierbei handelt es sich um einen allein für die Zwecke der Besteuerung ermittelten Wert, zu dem ein Versicherungsschutz nicht zu erlangen ist. 69 cc) Vom Bruttoeinkommen abzuziehen sind die Steuern (Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag). Dabei ist auch die Abzugsfähigkeit der Kosten der Kranken- und Pflegeversicherung als Sonderausgaben zu berücksichtigen. 70 In den bisher ergangenen Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht bei der Ermittlung des Nettoeinkommens die Kirchensteuer in Abzug gebracht (vgl. BVerfGE 81, 363 <380>; 99, 300 <321>). Anders als im Jahr 1998 kann jedoch nicht mehr davon ausgegangen werden, dass die Kirchensteuer „gewöhnlich“ anfällt. Das wäre aber Voraussetzung für eine derartige Pauschalierung (vgl. BVerfGE 90, 226 <237 f.>). Der Gesetzgeber geht seit dem Jahr 2005 nicht mehr davon aus, dass eine deutliche Mehrheit von Arbeitnehmern einer Kirchensteuer erhebenden Kirche angehört (vgl. BTDrucks 15/1515, S. 86). 71 Nach wie vor kann bei den Berechnungen für alle Besoldungsgruppen vereinfachend davon ausgegangen werden, dass die steuerliche Freistellung des Einkommensbetrags in Höhe der Existenzminima der Kinder einschließlich der Bedarfe für Betreuung und Erziehung oder Ausbildung durch die Auszahlung von Kindergeld bewirkt wird; dieses ist dem Einkommen hinzuzurechnen (vgl. BVerfGE 81, 363 <380>; 99, 300 <321>). Zwar kann sich der Ansatz des Kinderfreibetrags auch bei der Bemessung der Einkommensteuer bei Beamten und Richtern höherer Besoldungsgruppen als (geringfügig) günstiger erweisen (vgl. § 31 Satz 4 EStG). Allerdings lässt sich die Besoldungsgruppe, ab der sich der Ansatz des Kinderfreibetrags als günstiger erweist, wegen der Abhängigkeit von den sich jährlich verändernden besoldungs- und steuerrechtlichen Verhältnissen nur von Jahr zu Jahr und mit erheblichem Aufwand ermitteln, auch weil sich mitunter eine Kombination aus Freibetrag und Kindergeld als günstiger erweist. Dem Besoldungsgesetzgeber ist eine genauere Betrachtung nicht verwehrt, wenn er den Umfang des grundsicherungsrechtlichen Mehrbedarfs ebenso exakt bestimmt. II. 72 Diesen Maßstäben werden die im Tenor genannten Vorschriften nicht gerecht. Die Besoldung der Richter und Staatsanwälte der Besoldungsgruppe R 2 mit drei unterhaltsberechtigten Kindern hielt im Jahr 2013 in Bezug auf das dritte Kind den verfassungsgebotenen Mindestabstand von 15 % zum Grundsicherungsniveau nicht ein. Das gleiche gilt für die Jahre 2014 und 2015 in Bezug auf Richter und Staatsanwälte dieser Besoldungsgruppe mit vier Kindern für das dritte und vierte Kind. 73 1. Im Jahr 2013 belief sich der aus dem Grundsicherungsrecht für das dritte Kind abgeleitete Mehrbedarf auf mindestens 419,59 Euro. In den Jahren 2014 und 2015 betrug der Mehrbedarf für das dritte und vierte Kind zusammen 858,38 Euro beziehungsweise 868,68 Euro. 74 a) Die monatlichen Regelsätze für Kinder sind in den Vorlagebeschlüssen zutreffend ermittelt und nach der Dauer des jeweiligen Bezuges von der Geburt bis zur Volljährigkeit gewichtet worden. Anzusetzen sind danach je Kind 252,22 Euro im Jahr 2013, 258,11 Euro im Jahr 2014 und 263,78 Euro im Jahr 2015. 75 b) Die Kosten der Unterkunft (Kaltmiete) werden für die verfahrensgegenständlichen Jahre aus den Wohngeldsätzen abgeleitet. Für eine vierköpfige Familie sah § 12 Abs. 1 WoGG in der bis zum 31. Dezember 2015 geltenden Fassung vom 24. September 2008 (BGBl I S. 1856) in der höchsten für Nordrhein-Westfalen vorgesehenen Mietenstufe V (vgl. Anlage 1 zu § 1 Abs. 3 der Wohngeldverordnung in der Fassung vom 15. Dezember 2008 <BGBl I S. 2486>) einen Höchstbetrag von 649 Euro vor, für eine fünfköpfige Familie betrug dieser 737 Euro. Auch für eine sechsköpfige Familie wurde für das hinzutretende Kind ein Mehrbetrag von 88 Euro angesetzt. Der vom Landesbetrieb Information und Technik Nordrhein-Westfalen ermittelte Index der Kaltmieten stieg vom Jahr 2009 (98,7) bis zum Jahr 2013 (104,7) um 6,08 %, bis zum Jahr 2014 (106,5) um 7,90 % und bis zum Jahr 2015 (107,5) um 8,92 % (vgl. Landesbetrieb Information und Technik Nordrhein-Westfalen, Statistisches Jahrbuch Nordrhein-Westfalen 2016, S. 580). Unter Berücksichtigung des von den Sozialgerichten bei der Ableitung der angemessenen Kosten der Unterkunft aus den Wohngeldsätzen angewandten Sicherheitszuschlags von 10 % (vgl. BSG, Urteil vom 12. Dezember 2013 - B 4 AS 87/12 R -, juris, Rn. 26) ergibt sich für das dritte und jedes weitere Kind im Jahr 2013 ein Mehrbedarf von 102,69 Euro, im Jahr 2014 von 104,45 Euro und im Jahr 2015 von 105,43 Euro. 76 c) Nach den vom Grundsicherungsrecht in Bezug genommenen Regelungen des sozialen Wohnungsbaus betrug im verfahrensgegenständlichen Zeitraum die angemessene Wohngröße bei zwei Haushaltsangehörigen 65 Quadratmeter und erhöhte sich für jede weitere haushaltsangehörige Person um 15 Quadratmeter (vgl. Ziffer 8.2 der Wohnraumnutzungsbestimmungen, Runderlass des Ministeriums für Bauen und Verkehr vom 12. Dezember 2009 <MBl NRW 2010, S. 6>). 77 Der Heizspiegel weist in den verfahrensgegenständlichen Jahren den nach der sozialgerichtlichen Rechtsprechung (vgl. BSG, Urteil vom 20. August 2009 - B 14 AS 41/08 R -, juris, Rn. 30; Urteil vom 12. Juni 2013 - B 14 AS 60/12 R -, juris, Rn. 22) für das Grundsicherungsrecht maßgeblichen Höchstwert je Quadratmeter Wohnfläche von monatlich 1,83 Euro (Heizspiegel 2013: 21,90 Euro/qm im Jahr), 1,96 Euro (Heizspiegel 2014: 23,50 Euro/qm im Jahr) und 1,86 Euro (Heizspiegel 2015: 22,30 Euro/qm im Jahr) aus. Daraus ergeben sich für das dritte und jedes weitere Kind monatlich hinzukommende Heizkosten von 27,45 Euro im Jahr 2013, von 29,40 Euro im Jahr 2014 und von 27,90 Euro im Jahr 2015. 78 d) Die Bundesagentur für Arbeit hat sich im Verfahren 2 BvL 4/18 wegen unzureichender statistischer Erfassung in der Vergangenheit nur in Teilbereichen im Stande gesehen, belastbare Auskünfte zur Inanspruchnahme der Leistungen für Bildung und Teilhabe und zur Höhe der anerkannten Bedarfe zu erteilen. Aus den übermittelten Datensätzen geht jedoch hervor, dass insbesondere die Aufwendungen für die Mittagsverpflegung bei so vielen Leistungsberechtigten angefallen sind, dass diese nicht als atypische Fälle außer Betracht gelassen werden dürfen. Eine Aufklärung weiterer Positionen ist vorliegend nicht erforderlich, weil auch ohne Berücksichtigung aller Bedarfsposten feststeht, dass die verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht eingehalten sind. Dessen ungeachtet obliegt es dem Besoldungsgesetzgeber, zukünftig die Erhebung der erforderlichen Daten zu veranlassen und hieraus realitätsgerechte Ansätze abzuleiten. Soweit er für die streitgegenständlichen Jahre eine Neuregelung zu treffen hat, muss er sich – etwa durch stichprobenartige Auskunftsersuchen gegenüber den Sozial- und Schulbehörden – einen möglichst genauen Eindruck verschaffen und daraus entsprechende Ansätze ableiten (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 4. Mai 2020 - 2 BvL 4/18 -, Rn. 142). 79 Vor diesem Hintergrund werden auch im vorliegenden Verfahren nur die Bedarfe für Bildung und Teilhabe in die Berechnung einbezogen, für deren Höhe sich aus dem Gesetz ein Anhaltspunkt ergibt. Das betrifft zunächst den persönlichen Schulbedarf von 100 Euro je Schuljahr. Auf den Zeitraum von der Geburt bis zur Volljährigkeit umgelegt ergibt sich ein Monatsbetrag von rund 5,56 Euro je Kind. Zur Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft wurden Kindern aller Altersstufen in den verfahrensgegenständlichen Jahren 10 Euro monatlich gewährt. Die Mehraufwendungen für die gemeinschaftliche Mittagsverpflegung wurden zwar in tatsächlicher Höhe übernommen, in § 77 Abs. 11 SGB II hat der Gesetzgeber aber selbst zu erkennen gegeben, dass er bereits im Jahr 2011 mit zusätzlichen Leistungen in Höhe von 26 Euro monatlich rechnete. Geht man davon aus, dass Kinder im Durchschnitt erst mit drei Jahren an der gemeinschaftlichen Mittagsverpflegung in Kindergarten und Schule teilnehmen, ergibt sich ein altersgewichteter Betrag von rund 21,67 Euro je Kind. Für die Jahre 2013 bis 2015 summieren sich die aus dem Gesetz abgeleiteten Monatsbeträge (5,56 Euro + 10 Euro + 21,67 Euro) auf rund 37,23 Euro je Kind (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 4. Mai 2020 - 2 BvL 4/18 -, Rn. 143). 80 Der grundsicherungsrechtliche Gesamtbedarf und der davon abgeleitete alimentationsrechtliche Mehrbedarf für das dritte und jedes weitere Kind beliefen sich danach mindestens auf die folgenden Beträge: 81   2013 2014 2015 Grundsicherungsbedarf       Regelsätze 252,22 € 258,11 € 263,78 € Kaltmiete 102,69 € 104,45 € 105,43 € Heizung 27,45 € 29,40 € 27,90 € Bildung und Teilhabe 37,23 € 37,23 € 37,23 € Monatsbetrag   für ein Kind   für zwei Kinder 419,59 € 429,19 € 858,38 € 434,34 € 868,68 € Alimentationsrechtlicher Mehrbedarf (115 % des Grundsicherungsbedarfs)       Monatsbetrag   für ein Kind   für zwei Kinder 482,53 € 493,57 € 987,14 € 499,49 € 998,98 € 82 2. Der monatliche Mehrbetrag der Nettoalimentation der Richter und Staatsanwälte mit drei Kindern in der Besoldungsgruppe R 2 betrug gegenüber ihren Kollegen mit zwei Kindern im Jahr 2013 386,62 Euro; bei vier Kindern belief er sich im Jahr 2014 auf 805,37 Euro und im Jahr 2015 auf 814,37 Euro. 83 a) Die anzusetzenden Besoldungsbestandteile können den Vorlagebeschlüssen entnommen werden. Danach betrugen die Bruttobezüge in der Besoldungsgruppe R 2 (Endstufe, verheiratet) mit zwei Kindern 80.095,99 Euro im Jahr 2013, 81.614,46 Euro im Jahr 2014 und 83.515,68 Euro im Jahr 2015. Bei drei Kindern erhöhten sie sich im Jahr 2013 auf 84.051,53 Euro. Bei vier Kindern beliefen sie sich im Jahr 2014 auf 89.757,50 Euro und im Jahr 2015 auf 91.749,98 Euro. 84 b) Die abzuziehenden Steuern wurden mit dem Lohnsteuerrechner, den das Bundesministerium der Finanzen auf seiner Internetseite zur Verfügung stellt, ermittelt. Das Verwaltungsgericht Köln ist im Ausgangsverfahren so verfahren, ebenso das Bundesverwaltungsgericht im Verfahren 2 BvL 4/18. Einwände grundsätzlicher Art sind hiergegen nicht vorgebracht worden. Die durchschnittlichen Kosten einer das Beihilferegime ergänzenden privaten Krankenversicherung und der Pflegepflichtversicherung sowie der steuerlich absetzbare Anteil können der Auskunft des Verbandes der Privaten Krankenversicherung entnommen werden. Ihr liegen die auch in Nordrhein-Westfalen im verfahrensgegenständlichen Zeitraum maßgeblichen Beihilfebemessungssätze zugrunde. Ob in diesem Zusammenhang der Abzug einer Kostendämpfungspauschale von den Beihilfeleistungen zu berücksichtigen ist, bedarf keiner Entscheidung. Selbst unter der für den Besoldungsgesetzgeber günstigsten Annahme, dass die Verminderung der Kostendämpfungspauschale um 60 Euro je berücksichtigungsfähiges Kind (vgl. § 12a Abs. 5 Beihilfenverordnung NRW vom 5. November 2009 <GV.NRW S. 602>) voll zum Tragen kommt, würde sich der monatliche Nettomehrbetrag lediglich um 5 Euro für das dritte und jedes weitere Kind erhöhen. Die Höhe des in den jeweiligen Jahren gewährten Kindergeldes kann den Vorlagebeschlüssen entnommen werden. 85 c) Die Jahresnettoalimentation mit zwei Kindern einerseits und mit drei beziehungsweise vier Kindern andererseits sowie der jeweilige Mehrbetrag der Nettoalimentation berechnet sich danach wie folgt: 86 Jahresnettoalimentation bei zwei Kindern   2013 2014 2015 Jahresbruttobezüge 80.095,99 € 81.614,46 € 83.515,68 € Steuerabzug - Einkommensteuer - Solidaritätszuschlag - 16.156,00 € -      631,62 € - 16.588,00 € -      652,74 € - 17.188,00 € -      677,38 € - Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung -   5.208,00 € -   5.268,00 € -   5.364,00 € Kindergeld +  4.416,00 € +  4.416,00 € +  4.512,00 € Jahresnettoalimentation bei zwei Kindern 62.516,37 € 63.521,72 € 64.798,30 € 87 Jahresnettoalimentation bei drei Kindern (2013) bzw. vier Kindern (2014, 2015)   2013 2014 2015 Jahresbruttobezüge 84.051,53 € 89.757,50 € 91.749,98 € Steuerabzug - Einkommensteuer - Solidaritätszuschlag - 17.450,00 € -      573,76 € - 19.318,00 € -      541,31 € - 19.978,00 € -      561,22 € - Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung -   5.568,00 € -   5.988,00 € -  6.108,00 € Kindergeld +   6.696,00 € +   9.276,00 € +  9.468,00 € Jahresnettoalimentation bei drei Kindern 67.155,77 €     Jahresnettoalimentation bei vier Kindern   73.186,19 € 74.570,76 € 88 Mehrbetrag der Nettoalimentation mit drei Kindern (2013) bzw. vier Kindern (2014, 2015) gegenüber zwei Kindern   2013 2014 2015 Jahresnettoalimentation bei zwei Kindern 62.516,37 € 63.521,72 € 64.798,30 € Jahresnettoalimentation bei drei Kindern 67.155,77 €     Mehrbetrag bei drei Kindern   im Jahr   im Monat 4.639,40 € 386,62 €     Jahresnettoalimentation bei vier Kindern   73.186,19 € 74.570,76 € Mehrbetrag bei vier Kindern   im Jahr   im Monat   9.664,47 € 805,37 € 9.772,46 € 814,37 € 89 3. Im Jahr 2013 betrug der aus dem Grundsicherungsniveau abgeleitete monatliche Mehrbedarf für ein Kind mindestens 419,59 Euro, der alimentationsrechtliche Mehrbedarf für das dritte Kind (115 % hiervon) mindestens 482,53 Euro. Die Nettoalimentation von Richtern und Staatsanwälten der Besoldungsgruppe R 2 mit drei Kindern lag im gleichen Jahr (einschließlich des Kindergeldes für das dritte Kind von 190 Euro) monatlich um 386,62 Euro über derjenigen ihrer Kollegen mit zwei Kindern. Sie blieb also um mindestens 95,91 Euro im Monat hinter dem alimentationsrechtlichen Mehrbedarf zurück. 90 Im Jahr 2014 betrug der aus dem Grundsicherungsniveau abgeleitete monatliche Mehrbedarf für zwei Kinder mindestens 858,38 Euro, der alimentationsrechtliche Mehrbedarf für das dritte und vierte Kind (115 % hiervon) mindestens 987,14 Euro. Die Nettoalimentation von Richtern und Staatsanwälten der Besoldungsgruppe R 2 mit vier Kindern lag im gleichen Jahr (einschließlich des Kindergeldes für das dritte und vierte Kind von 405 Euro) monatlich um 805,37 Euro über derjenigen ihrer Kollegen mit zwei Kindern. Sie blieb also um mindestens 181,77 Euro im Monat hinter dem alimentationsrechtlichen Mehrbedarf zurück. 91 Im Jahr 2015 betrug der aus dem Grundsicherungsniveau abgeleitete monatliche Mehrbedarf für zwei Kinder mindestens 868,68 Euro, der alimentationsrechtliche Mehrbedarf für das dritte und vierte Kind (115 % hiervon) mindestens 998,98 Euro. Die Nettoalimentation von Richtern und Staatsanwälten der Besoldungsgruppe R 2 mit vier Kindern lag im gleichen Jahr (einschließlich des Kindergeldes für das dritte und vierte Kind von 413 Euro) monatlich um 814,37 Euro über derjenigen ihrer Kollegen mit zwei Kindern. Die Besoldung blieb also um mindestens 184,61 Euro im Monat hinter dem alimentationsrechtlichen Mehrbedarf zurück. 92 Diese Vergleichsberechnungen zeigen, dass die Besoldung der Richter und Staatsanwälte der Besoldungsgruppe R 2 in Bezug auf das dritte Kind im Jahr 2013 und in Bezug auf das dritte und vierte Kind in den Jahren 2014 und 2015 den verfassungsgebotenen Mindestabstand von 15 % zur Grundsicherung nicht eingehalten hat. Es wurde nicht einmal der grundsicherungsrechtliche Gesamtbedarf für ein Kind durch die bei steigender Kinderzahl gewährten Nettomehrbeträge ausgeglichen. Nach alledem hat der Gesetzgeber den ihm zustehenden Gestaltungsspielraum überschritten. Er ist mit den zur Prüfung vorgelegten Regelungen deutlich unterhalb der Grenze geblieben, welche die den Richtern und Staatsanwälten dieser Besoldungsgruppe mit mehr als zwei Kindern geschuldete Alimentation nicht unterschreiten darf. D. 93 Der Verstoß einer Norm gegen das Grundgesetz kann entweder zur Nichtigerklärung (vgl. § 82 Abs. 1 i.V.m. § 78 Satz 1 BVerfGG) oder dazu führen, dass das Bundesverfassungsgericht die Unvereinbarkeit der Norm mit dem Grundgesetz feststellt (vgl. § 82 Abs. 1 i.V.m. § 79 Abs. 1 und § 31 Abs. 2 BVerfGG). Eine Nichtigerklärung hätte zur Folge, dass es für die Besoldung an der gesetzlichen Grundlage fehlte, derer es mit Blick auf den verfassungsrechtlich vorgegebenen und einfachrechtlich (vgl. § 2 Abs. 1 LBesG NRW) angeordneten Gesetzesvorbehalt bedarf. Damit würde ein Zustand geschaffen, der von der verfassungsmäßigen Ordnung noch weiter entfernt wäre als der bisherige (vgl. BVerfGE 139, 64 <147 Rn. 194>; 140, 240 <315 f. Rn. 169>; 150, 169 <192 Rn. 63> m.w.N.). 94 Stellt das Bundesverfassungsgericht die Unvereinbarkeit einer Norm oder mehrerer Normen mit dem Grundgesetz fest, folgt daraus grundsätzlich die Verpflichtung des Gesetzgebers, die Rechtslage rückwirkend verfassungsgemäß umzugestalten. Ausnahmen von dieser Regelfolge der Unvereinbarkeit hat das Bundesverfassungsgericht wiederholt bei haushaltswirtschaftlich bedeutsamen Normen bejaht. Speziell bei besoldungsrechtlichen Normen gilt es zu beachten, dass die Alimentation der Richter und Beamten der Sache nach die Befriedigung eines gegenwärtigen Bedarfs aus gegenwärtig zur Verfügung stehenden Haushaltsmitteln darstellt. Eine allgemeine rückwirkende Behebung des Verfassungsverstoßes ist daher mit Blick auf die Besonderheiten des Richter- und Beamtenverhältnisses nicht geboten (vgl. BVerfGE 139, 64 <148 Rn. 195>; 140, 240 <316 Rn. 170>; 150, 169 <192 f. Rn. 64> m.w.N.). 95 Eine rückwirkende Behebung ist jedoch sowohl hinsichtlich der Kläger der Ausgangsverfahren als auch hinsichtlich etwaiger weiterer Richter und Staatsanwälte erforderlich, über deren Anspruch noch nicht abschließend entschieden worden ist (vgl. BVerfGE 139, 64 <148 Rn. 195>; 140, 240 <316 Rn. 170>; 150, 169 <193 Rn. 64>). Dabei kommt es nicht darauf an, ob insoweit ein Widerspruchs- oder ein Klageverfahren schwebt (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 4. Mai 2020 - 2 BvL 4/18 -, Rn. 183). Voßkuhle Huber Hermanns Müller Kessal-Wulf König Maidowski Langenfeld
bundesverfassungsgericht