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"Die Zustände in den Lagern sind wirklich menschenunwürdig"
Der UNO-Koordinator für Libyen, Martin Kobler, spricht am 8. Januar 2017 auf einer Pressekonferenz während eines Besuchs in der libyschen Hauptstadt Tripolis. (imago / xinhua ) Kobler betonte, Libyen sei kein funktionierender Staat. Es gebe keine starke Regierung, keine Polizei, keine Armee. Er ergänzte, die Situation in den normalen Flüchtlingslagern spotte jeder Beschreibung. Menschen müssten in Schichten und im Stehen schlafen, die sanitären Bedingungen seien schlimm. Kobler mahnte, es müsse schnell gehandelt werden. Noch dramatischer sei es in Camps, die von Menschenhändlern betrieben würden. Die UNO habe dort keinen Zugang. Es gebe aber Berichte, dass Menschen erschossen würden, wenn sie aus der Reihe tanzten. Den Vorstoß von Bundesinnenminister Thomas de Maizière, im Mittelmeer gerettete Flüchtlinge nach Libyen zu bringen, lehnte Kobler vehement ab. Das sei derzeit undenkbar. Das Interview in voller Länge: Dirk-Oliver Heckmann: Die Bilder von gekenterten Schiffen, sie sind uns allen noch gut in Erinnerung, von ertrunkenen Flüchtlingen im Mittelmeer ebenfalls. Gestern meldete die Hilfsorganisation Roter Halbmond, vor der Küste Libyens seien über 70 Leichen gefunden worden, die an Land gespült wurden. Martin Kobler ist UNO-Koordinator für Libyen. Ihn erreichen wir in der tunesischen Hauptstadt Tunis. Schönen guten Morgen, Herr Kobler. "Das Sterben im Mittelmeer hat nie aufgehört" Martin Kobler: Guten Morgen, Herr Heckmann. Heckmann: Herr Kobler, geht es wieder los, das Sterben im Mittelmeer? Kobler: Das Sterben im Mittelmeer hat nie aufgehört. Wir haben in diesem Jahr bereits 300 Tote, über 300 Tote. Jetzt kommen die 74 dazu. Das sind Tragödien, die sich auf dem Mittelmeer abspielen, und deswegen muss ganz schnell Abhilfe geschaffen werden. "Es sind wirtschaftliche Nöte, die diese Menschen in die Flucht treiben" Heckmann: Was sind das für Leute, die sich da auf den Weg machen? Sind das vor allem Flüchtlinge aus anderen Teilen Afrikas? UNICEF hat ja gestern erst eine riesige Hungersnot gemeldet. Kobler: Ich war gestern in Tripolis in einem Flüchtlingslager von ungefähr Tausend, und ich frage die Menschen natürlich dort – das sind Afrikaner, das sind Eritreer, Somalis, Nigerianer, von Niger, südlich von Libyen -, warum kommen sie denn und machen diesen wirklich gefährlichen Weg und setzen sich dem Risiko aus zu ertrinken, und es sind hauptsächlich wirtschaftliche Nöte, zum Teil natürlich auch politische Verfolgung, aber es sind wirtschaftliche Nöte, die diese Menschen in die Flucht treiben. Die sagen, wir haben kein wirtschaftliches Auskommen. Da sind Waisen dabei, ich habe 16-, 14jährige gestern wieder gesehen, die ihre Eltern verloren haben auf der Reise, auf der gefährlichen Reise nach Tripolis, um übers Meer zu kommen. Diese Menschen, die ich gesehen habe in den Gefangenenlagern, sind aber jetzt willens, zurückzugehen in ihre Heimatländer, weil sie keinen Sinn darin sehen, weiter nach Europa weiterzureisen. Der Vergleich von Flüchtlingslagern mit KZs sei nicht richtig Heckmann: Die Situation in diesen Flüchtlingslagern, davon war die Rede in den vergangenen Tagen und Wochen bereits in Libyen. Da war die Rede von KZ-ähnlichen Zuständen in diesen Lagern. Sie selbst haben dieser Tage gesagt, die Lage sei menschenunwürdig dort. Was haben Sie genau gesehen, inwiefern menschenunwürdig? Kobler: Den Vergleich mit KZs würde ich natürlich nicht ziehen. Das ist eine völlig andere Kategorie. Es geht hier nicht um die Vernichtung einer ganzen Rasse. Es geht hier einfach darum, dass Menschen, die über das Mittelmeer wollen, von Menschenhändlern, aber auch von staatlichen libyschen Institutionen in völlig menschenunwürdigen Bedingungen gehalten werden. Es sind 500 Menschen in einem Raum, ich sehe mir das regelmäßig an: sanitäre Verhältnisse, da wird geschlagen, da wird geprügelt, da schlafen die Menschen in Schichten übereinander oder im Stehen. Das sind einfach Dinge, die sofort abgestellt werden müssen. Heckmann: Will die Regierung, die ja im Amt ist, mehr oder weniger jedenfalls in Libyen, das nicht abstellen, oder kann sie es nicht? 154 Menschen nach Senegal und Guinea zurückgeführt Kobler: Sie kann es nicht abstellen. Es gibt in Libyen keine starke Regierung, keine starken Institutionen, die jetzt auch die Behörden kontrollieren, die diese Lager führen. Wir tun hier unser Bestes, so oft wie möglich präsent zu sein, Hilfe anzubieten. Ich war gestern mit einer großen Delegation der Organisation für Internationale Migration in diesem Lager, um freiwillige Rückführungen zu organisieren. Wir haben gestern 154 Menschen zurückgeführt nach Senegal und nach Guinea. Aber das ist natürlich alles ein Tropfen auf den heißen Stein. Im letzten Jahr haben 180.000 Menschen die Überfahrt gewagt, in diesem Jahr sind es schon über 9000, 9500, mit 300 Toten, die auf dem Meer geblieben sind. Und wir wissen gar nicht, wieviel tausend Menschen in der Wüste bleiben, wenn sie diesen gefährlichen Weg von Eritrea, Somalia im äußersten Südosten des Landes durch Tausende Kilometer Wüste bis in den Nordwesten nach Tripolis geschafft haben. Das sind wirklich Dinge, die müssen an der Wurzel angepackt werden, und es muss schnell agiert werden. In Libyen zumindest sind die Zustände in den Lagern wirklich menschenunwürdig und spotten jeder Beschreibung. Furchtbare Zustände in den Lagern von Menschenhändlern Heckmann: Was muss denn gemacht werden und wie reagieren die Verantwortlichen, wenn Sie sie darauf ansprechen, auf die Zustände in diesen Lagern? Kobler: Wir haben ganz konkrete Empfehlungen hier vorgelegt in dem Menschenrechtsbericht - wir betrachten das natürlich unter humanitären und menschenrechtlichen Gesichtspunkten – und haben auch Hilfe angeboten. Diese Lager – es gibt allein in Tripolis 27 dieser Lager und wir haben ja nicht mal Zugang zu den Lagern der Menschenhändler, die weiter im Westen des Landes sind, wo es noch viel furchtbarer zugeht, wo die Menschen als menschliches Kapital gehandelt werden und auch erschossen werden, wenn sie da aus der Reihe tanzen. Hilfe anbieten, die Lager zusammenlegen, mit unseren Kollegen von UNHCR, von IOM, der Gesellschaft für Internationale Migration, vor Ort sein, menschenwürdige Bedingungen schaffen, Raum schaffen, das sind Sofortmaßnahmen, die sofort angegangen werden müssen. "Schaffung von Flüchtlingslagern in Libyen ist jetzt völlig undenkbar" Heckmann: Der Innenminister, Thomas de Maizière, der hat ja vorgeschlagen, Flüchtlingslager in Libyen zu errichten, die menschenrechtlichen Maßstäben dann genügen sollen. Flüchtlinge, die auf dem Mittelmeer aufgegriffen werden, die sollen dann unter anderem nach Libyen zurückgebracht werden. Ist das aus Ihrer Sicht eine denkbare Lösung? Denn es ist ja auch klar: Europa kann nicht alle Flüchtlinge aufnehmen. Kobler: Ich habe natürlich Verständnis für die Zwänge der Europäer, die Flüchtlingsströme zu regulieren. Aber eine Schaffung von Flüchtlingslagern zum jetzigen Zeitpunkt in Libyen ist völlig undenkbar. Libyen ist ja kein Staat in dem Sinne. Es gibt keine Regierung, die überall das Sagen hätte. Die Regierung der nationalen Einheit, die wir unterstützen, hat keine Autorität jenseits von Tripolis, und selbst in Tripolis selbst ist die Autorität begrenzt. "Es gibt keine Armee, es gibt keine Polizei, es gibt keine starken Institutionen" Heckmann: Aber das weiß doch der Innenminister. Kobler: Das müssen Sie ihn selber fragen, ob er das weiß. Zum jetzigen Zeitpunkt ist es nicht möglich, weil keine Staatlichkeit existiert. Es gibt keine Armee, es gibt keine Polizei in diesem Land, es gibt keine starken Institutionen. Und wir arbeiten ja gerade daran, das Land zusammenzuführen, Ost, West und Süd, Institutionen aufzubauen. Das geht nicht über Nacht und solange das nicht geschieht, können auch keine Flüchtlingslager, wie sich das manche vorstellen, hier geschaffen werden. Ich empfehle all denen, sich das anzuschauen. Wie gesagt, wir haben ständig Besucher, die wir in diese Lager führen, und es sind auch Europäer dabei, die Botschafter hier, die in Tunis ja sind und nicht in Libyen - und das zeigt ja schon das Dilemma, dass wir alle noch im Exil sind - wir gehen regelmäßig hin und wissen das natürlich und berichten das auch nachhause. Heckmann: Martin Kobler war das, der UNO-Koordinator für Libyen, live hier im Deutschlandfunk. Herr Kobler, danke Ihnen herzlich für dieses Gespräch und Ihre Zeit. Kobler: Vielen Dank! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Martin Kobler im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann
Der UNO-Koordinator für Libyen, Martin Kobler, hat die Zustände in den Flüchtlingslagern scharf kritisiert. Die Bewohner würden unter "völlig menschenunwürdigen Bedingungen gehalten", sagte Kobler im Deutschlandfunk. Er forderte ein schnelles Handeln der internationalen Gemeinschaft.
"2017-02-22T08:10:00+01:00"
"2020-01-28T10:16:11.273000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fluechtlinge-in-libyen-die-zustaende-in-den-lagern-sind-100.html
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"Gleichwertige Lebensverhältnisse gibt es in Deutschland nicht"
Nicht nur im Osten Deutschlands drohen abgehängte Regionen - auch im Ruhrgebiet leben viele Kinder von Hartz IV, sagte Armutsforscher Christoph Butterwegge im Dlf. (dpa) "Wir haben eine zerrissene Republik. Die Ungleichheit verstärkt sich", sagte Armutsforscher Christoph Butterwegge zu den unterschiedlichen Lebensverhältnissen in Deutschland. "Wir müssen aufpassen, dass wir nicht in Richtung einer US-Amerikanisierung der Raumprobleme gehen. Dann drohen abgehängte Regionen." Butterwege bezog sich damit auf die Probleme des Rust Belt, dem sogenannten "Rostgürtel" in den USA. Die Menschen dort fühlten sich als Verlierer, da niemand sich um sie kümmere. Sie hätten maßgeblich zur Wahl von Donald Trump 2016 zum US-Präsidenten geführt, sagte der Soziologe im Dlf. Einen Umzug kann sich nicht jeder leisten Angesprochen auf einen möglichen Umzug, sagte Butterwegge. "In eine boomende Großstadt zu ziehen, kann sich nur der leisten, der sich die dortigen Mieten leisten kann. Wir haben auch in den Städten ein Problem der Spaltung. Wir haben dort Luxus-Quartiere und Elendsquartiere." Christoph Butterwegge, Politikwissenschaftler an der Universität zu Köln (imago images / Jens Schicke) "Es kann nicht sein, dass sich alle Leute darin orientieren, wo die Wirtschaft boomt, wo Arbeitskräfte gesucht werden", sagte er. "Da entstehen dann auch ökologische Probleme durch Verdichtung der Städte. Dann gibt es auch keine besseren Lebensverhältnisse." Regierung muss Infrastruktur bereit stellen Es sei deswegen wichtig, dass die Menschen mit vernünftiger Infrastruktur versorgt sind, forderte Butterwegge. "Wir müssen dafür sorgen, dass Nahverkehr, Schulen, Kitas und Schwimmbäder vorhanden sind." Ansonsten drohe den Menschen eine Abwärtsspirale und ein Teufelskreis. Sie fühlten sich abgehängt, finden keine Jobs mehr und ihnen drohe Armut. Deutschland sei zwar ein wohlhabendes Land, aber "der Reichtum spiegelt sich nicht in allen Länderteilen wider", sagte der 68-Jährige. Das gelte nicht nur für Ostdeutschland, auch im Ruhrgebiet gebe es Stadtteile, wo Kinder zu 50 Prozent von Hartz IV leben würden. "Viele junge Leute haben keine Perspektive und das muss eine Bundesregierung natürlich ändern." Lesen Sie hier in Kürze das vollständige Interview. Tobias Armbrüster: Deutschland ist ein reiches Land. Aber dieser Reichtum ist in manchen Regionen nicht so richtig angekommen oder nicht mehr ganz so richtig da. Die Lebensverhältnisse unterscheiden sich in Deutschland zum Teil gewaltig. Das sieht man zum Beispiel an der Zahl von Unternehmen, an der Dichte von Geschäften oder an der Qualität der Internet-Verbindungen. Manche Regionen sind da regelrecht abgehängt. Das ist das Ergebnis einer Studie einer Regierungskommission, die sich mit dem Leben und dem Alltag in Deutschland beschäftigt hat. Diese Ergebnisse wurden gestern in Berlin vorgelegt und die Bundesregierung hat auch prompt versprochen, abgehängte Regionen künftig stärker zu fördern. Einzelheiten dazu sollen noch folgen. Wir wollen darüber sprechen mit dem Kölner Sozialwissenschaftler und Armutsforscher Christoph Butterwegge. Er war 2017 Kandidat der Linkspartei für das Amt des Bundespräsidenten. Schönen guten Morgen, Herr Butterwegge. Christoph Butterwegge: Guten Morgen, Herr Armbrüster. Armbrüster: Herr Butterwegge, müssen wir alle gleich leben? Butterwegge: Ja, zumindest wäre mehr Gleichheit im Lande gut. Wir haben eine zerrissene Republik. Die Ungleichheit verstärkt sich. Das gilt sowohl jetzt für die Individuen als auch für die Regionen, wo sich diese Zerrissenheit auch zeigt. Und wir müssen aufpassen, dass wir nicht in Richtung einer US-Amerikanisierung dieser Raumprobleme gehen. Das heißt, dass da abgehängte Regionen dann dazu führen wie der Rust Belt, der Rostgürtel in den USA, wo dann die Menschen das Gefühl haben, sie werden überhaupt nicht mehr beachtet, sie werden nicht ernst genommen, man kümmert sich nicht, was den Wahlsieg von Donald Trump sehr erleichtert haben dürfte. "Auch in den Städten haben wir das Problem der Spaltung" Armbrüster: Man könnte aber auch sagen, wem es an einem Ort nicht gefällt, der sollte weiterziehen. Butterwegge: Das kann natürlich nur derjenige, der die entsprechenden Ressourcen dafür hat. Zum Beispiel in eine boomende Großstadt zu ziehen, wo man natürlich mehr Chancen im Beruf hat, das kann man natürlich nur, wenn man die dortigen Mieten bezahlen kann, und das genau ist das Problem. Auch in den Städten haben wir ja dieses Problem der Spaltung. Wir haben auf der einen Seite Luxusquartiere zunehmend und auf der anderen Seite abgehängte Quartiere, Elendsquartiere, und das zeigt dieses Problem, wie wollen wir künftig leben, wollen wir mehr Gleichheit oder wollen wir weiter so nach dem neoliberalen Prinzip die Starken stärken, die Schwachen ruhig abgehängt sein lassen und weiterleben. Mir scheint, es wäre besser, einen skandinavischen Weg zu gehen als den US-amerikanischen, nämlich dafür zu sorgen, dass öffentliche Infrastruktur da ist, dass wir sehr stark darauf setzen, dass die Menschen versorgt sind - das gilt für den Nahverkehr, das gilt für die Kitas, das gilt für die Schulen, das gilt für die Schwimmbäder, die zum Teil geschlossen werden. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht auf der einen Seite gerade in den ländlichen Regionen Gegenden haben, wo nichts mehr geht, wo die Menschen wegziehen und sich in einem Teufelskreis das Problem natürlich auch immer mehr verschärft. Wenn sie diese Probleme haben, wenn der Bus nur noch dreimal am Tag fährt und man auch drei Stunden braucht, um ein Krankenhaus aufzusuchen, dann werden die Menschen natürlich in eine solche Abwärtsspirale hineingedrängt, und das muss vermieden werden. Da ist es richtig, dass die Bundesregierung jetzt sagt, wir wollen einen Paradigmenwechsel, aber sie nimmt zum Beispiel kein Geld in die Hand. Der Nahverkehr in ländlichen Regionen ist oft nur schlecht ausgebaut. (AFP/Christof Stache) Armbrüster: Herr Butterwegge, wenn Sie das jetzt so schildern, das hört sich fast so an, als wäre Deutschland in manchen Teilen, in manchen Regionen eine Art Entwicklungsland. Ist das nicht ein bisschen übertrieben? Butterwegge: Nein, das ist absolut nicht der Fall, sondern wir haben nur das Problem, dass sich der Reichtum des Landes leider nicht in allen Landesteilen wiederspiegelt. Das gilt jetzt nicht alleine für Ostdeutschland, sondern wir haben auch im Westen Regionen, da denkt man zunächst an das Ruhrgebiet. Wenn Sie zum Beispiel Stadtteile haben in einzelnen Ruhrgebietsstädten, wo mehr als 50 Prozent der Kinder im Hartz-IV-Bezug sind, dann haben Sie deshalb nicht die Situation eines Entwicklungslandes, wo die Menschen an den Straßenecken verhungern, aber Sie haben doch das Problem, dass viele junge Leute überhaupt gar keine Perspektive haben, und das muss natürlich eine Regierung ändern. Sie muss dafür sorgen, dass es einen Ausgleich gibt. Der Artikel 72 des Grundgesetzes sagt, wir brauchen die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse, und diese gleichwertigen Lebensverhältnisse, die gibt es in Deutschland nicht. "Nur durch Umschichtung kann man nichts erreichen" Armbrüster: Lässt sich so etwas denn per Politik verordnen oder mit einem Zwölf-Punkte-Plan regeln? Butterwegge: Na ja. Wenn man nur wie die Bundesregierung sagt, die Himmelsrichtung soll keine Rolle mehr spielen, der Osten soll weniger gefördert werden, sondern es soll nach den Bedarfen gehen, aber den gleichen Geldbetrag nur zur Verfügung stellt, dann wird man die Probleme nicht lösen können. Man muss sicherlich stärker dann auch von den reichen, den wohlhabenden Regionen umverteilen zu den armen. Wenn meinetwegen der Landkreis München das Siebenfache Steueraufkommen hat wie ein anderer Landkreis, dann kann man sich vorstellen, wie große Probleme es doch gibt. Und wenn von den 40 steuerstärksten Kommunen 39 im Westen liegen, dann zeigt auch das, dass dieser Ost-West-Gegensatz durchaus noch vorhanden ist und dass man nicht einfach nur durch Umschichtung etwas erreichen kann, sondern man muss wirklich einen grundlegenden Politikwechsel einleiten, für mehr Gleichheit zu sorgen. Haus in der Dortmunder Nordstadt (imago/Ralph Lueger) Armbrüster: Herr Butterwegge, Sie sagen jetzt auch wieder, ein grundlegender Politikwechsel. Sie haben den Osten Deutschlands ins Gespräch gebracht. Da haben wir ja in den letzten 20 Jahren die Entwicklung gesehen, dass aus vielen Regionen die Menschen abgewandert sind, in den Westen gegangen sind, einfach weil es dort bessere Lebensverhältnisse gab, vor allen Dingen auch bessere Jobs, besser bezahlte Jobs. Heißt das nicht tatsächlich, dass das möglicherweise eine ganz einfache Lösung dieses Problems ist und dass man das durchaus auch in westlichen Bundesländern anwenden kann, zum Beispiel im Ruhrgebiet - Sie haben auch das erwähnt -, wenn man den Leuten sagt, eure Region hat ihren wirtschaftlichen Erfolg hinter sich und wenn ihr wirklich etwas Neues suchen wollt, dann geht in die Regionen in Deutschland, in denen es boomt? Denn Deutschland ist ja nach wie vor ein reiches Land, es werden immer noch viele Arbeitskräfte gesucht, es gibt immer noch viele gut bezahlte Jobs, die auf Arbeitnehmer warten. Butterwegge: Ich finde, den Menschen das zuzumuten, mit ihrem bisherigen Leben gewissermaßen abzuschließen, und zu sagen, orientiert euch völlig neu, das ist der falsche Weg, sondern man muss verhindern, dass es diese Abwärtsspirale gibt, und man muss etwas dagegen tun. Es kann doch nicht die Lösung sein, dass alle sich dahin orientieren, wo die Wirtschaft boomt, wo auch Arbeitskräfte sicherlich dann gesucht werden, wo aber dann natürlich auch die ökologischen Probleme immer größer werden, weil, wenn immer mehr verdichtet wird in den Städten, die dann solche Boomtowns sind. Dann gibt es für die Menschen keine besseren Lebensverhältnisse, sondern die besseren Lebensverhältnisse, die schafft man dann, wenn man verhindert, dass der Supermarkt schließt, wenn man verhindert, dass der Bus nicht mehr fährt und die Zugverbindung eingestellt wird. Die Bahnhöfe könnten zum Beispiel wieder eröffnet werden, Bahnstrecken könnten reaktiviert werden und man könnte dafür sorgen, dass überall im Lande ein gutes Leben möglich wird, denn das ist, wie Sie richtig sagen, ja der Fall. Das Land insgesamt ist wohlhabend, wenn nicht reich. Dieser Reichtum verteilt sich nur sehr ungleich. Armbrüster: Das heißt, Herr Butterwegge, Sie würden im Zweifelsfall eher einem Unternehmen, sagen wir mal, aus Bayern oder Baden-Württemberg sagen, Leute, wenn ihr keine Arbeitnehmer findet, dann geht ins Ruhrgebiet? Butterwegge: Na ja, es muss jetzt nicht unbedingt dieses bestehende Unternehmen das tun, was vielleicht ein bisschen schwierig auch sich gestalten würde. Aber man könnte mehr dafür tun, dass die deindustrialisierten Gebiete wie zum Beispiel im Ruhrgebiet, dass es da neue wirtschaftliche Möglichkeiten gibt, auch Betriebe angesiedelt werden, die zukunftsträchtig sind, wie das jetzt bei der Kohle zum Beispiel nicht mehr der Fall ist, auch nicht bei der Braunkohle. Wenn man das täte, würde man für alle Menschen erreichen, dass sie eine bessere Zukunft haben, und darum muss es doch der Politik gehen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Christoph Butterwegge im Gespräch mit Tobias Armbrüster
Deutschland sei eine zerrissene Republik, sagte Armutsforscher Christoph Butterwegge im Dlf. Die Ungleichheit verstärke sich. Dabei sei ein Umzug in boomende Regionen für die Menschen nicht immer ratsam, da dort ökologische Probleme drohen. Er forderte die Bundesregierung zum Handeln auf.
"2019-07-11T06:50:00+02:00"
"2020-01-26T23:01:25.024000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ungleichheit-in-deutschland-gleichwertige-100.html
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Die neue, alte FIFA
FIFA-Präsident Gianni Infantino auf einer Pressekonferenz. (dpa / Christian Charisius) Die Parlamentarier-Versammlung des Europarats zeigte sich alarmiert über Zustände und Praktiken im Fußballgeschäft, das sie als "gesetzlose Zone" betrachtet. In einer Entschließung fordert die Versammlung nun von der EU eine "unabhängige Aufsichtsstelle", die die Geschäftsführung der FIFA und auch der europäischen Fußball-Union UEFA überwachen soll. Im Fokus sollen dabei "Ethik und integre Wahlen" stehen, zudem exzessive Transfersummen und Spielergehälter. Anne Brasseur, ehemalige Präsidentin der Parlamentsversammlung des Europarats. (picture alliance/dpa - Patrick Seeger) Dieser Forderung nach mehr politischer Überwachung liegt im Kern ein Bericht der luxemburgischen Europaparlamentarierin Anne Brasseur zugrunde. Sie hatte FIFA-Präsident Gianni Infantino attestiert, er pflege Intransparenz und Autokratie. Um Stimmung gegen diesen Report zu machen, hatte die FIFA eine PR-Offensive gestartet und ein eigenes Lobbyisten-Team nach Straßburg entsandt. Schweizer Politik steht zur FIFA Bei der Debatte in der Parlamentarierversammlung unterstütztete und würdigte nun jedoch der ganz überwiegende Teil der Abgeordneten aus 46 Nationen den Brasseur-Report – und stimmte für die externe, unabhängige Kontrollstelle. Lediglich vier Aserbaidschaner und der Schweizer SVP-Politiker Thomas Müller stimmten dagegen. In der Schweiz ist die FIFA beheimatet. Anne Brasseur befand erleichtert, sie habe "noch nie so große Unterstützung" erfahren. Anders als die FIFA habe die UEFA die Problematik verstanden und schon Zusammenarbeit zugesichert. Beim Weltverband indes fehle Einsicht. "Die neue Fifa ist wie die alte", sagte Brasseur.
Von Thomas Kistner
Im Kampf gegen Korruption im Spitzensport wollen die Abgeordneten des Europarats internationale Verbände wie die FIFA und UEFA unter externe Kontrolle stellen. Vor allem der Führungsstil von FIFA-Präsident Gianni Infantino kommt nicht gut an.
"2018-01-24T22:54:00+01:00"
"2020-01-27T17:36:24.334000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/sportverbaende-die-neue-alte-fifa-100.html
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Wann sagt man "Salam aleikum"?
Schwarzer Tee wird in tulpenförmigen Gläsern serviert, ein Zeichen von Gastfreundschaft in vielen muslimischen Ländern (imago / Westend61) "Ich habe dem Verlag die Überarbeitung dieses Buches vorgeschlagen, weil nach der Zuwanderung, die wir im letzten Jahr vor allen Dingen hatten, sich sehr viele Leute den Flüchtenden zugewandt haben. Ich sah daher eine Notwendigkeit einfach noch mal zu sagen, was kann einem alles passieren, wenn man mit Muslimen hier zu tun hat." So der Berliner Islamwissenschaftler Peter Heine. Auf gut 200 Seiten gibt sein Kulturknigge für Nichtmuslime eine Einführung in die islamische Theologie. Hinzu kommt eine Übersicht der wichtigsten konfessionellen Strömungen und Schulen. Lexikalisches Grundwissen also. Dann aber wird es praktisch. Zum Beispiel, warum kommen Muslime oft nicht pünktlich? "Das gilt übrigens nicht nur für Muslime, sondern für orientalische Christen auch. Das ist kein böser Wille oder Missachtung desjenigen, mit dem man eine Verabredung getroffen hat, sondern dass man in großen orientalischen Städten wie Kairo oder Bagdad außerordentlich schwer pünktlich sein kann. Man ist darauf eingerichtet, dass jemand 'ne halbe oder ganze Stunde später kommt. Das weiß man. Man macht darum auch keine festen Terminabsprachen. Man sagt, ich komm dann nach dem Frühstück oder nach dem Mittagsgebet, also etwas entspanntere Termine." So seien viele Flüchtlinge aus arabischen Ländern überrascht, dass in Deutschland Busse, Bahnen und Züge annähernd pünktlich fahren. Grundsätzlich erwartet Peter Heine, dass sich die Eingewanderten integrieren wollen und sich somit auch an klare Terminabsprachen halten. Dazu gebe es schon reichlich Aufklärungsliteratur auf Arabisch, Farsi und vielen anderen Sprachen, um Migranten das Einleben zu erleichtern. Der Islam-Experte Peter Heine (dpa/Erwin Elsner) Islamwissenschaftler Heine aber legt einen anderen Fokus. Er mischt sich nicht in Grundsatzdebatten über Leitkultur ein. Er liebt die orientalische Kultur und denkt pragmatisch. Es geht leichter, wenn Deutsche Kenntnis der muslimischen Kultur haben und auch Verständnis dafür entwickeln. Schon bei der Begrüßung lassen sich so Missverständnisse vermeiden. "Salam aleikum, das heißt, Frieden sei mit Dir. Und der andere antwortet dann aleikum asalam, der Friede sei mit Dir. Hin und her, das ist aber ein Gruß, den Muslime nur gegenüber Muslimen verwenden. Und in dem Fall, wenn man als erkennbarer Nicht-Muslim einen Muslim so begrüßt, dann ist das für den unangenehm." Sonst aber gebe es zahlreiche Begrüßungsformeln. Sabah al-khair. Sabah An-nur. "Einen Guten Morgen und Sie haben gesagt, einen Morgen des Lichts. Man versucht sich in den Formeln jeweils zu übertreffen. Ich würde jetzt antworten Sabah alward – einen Morgen der Rosen, und Sie würden sagen Sabah alyasmin, also einen Jasmin-Morgen." Das heißt aber nicht, auf die deutsche Begrüßung "Guten Tag" zu verzichten. Peter Heine hofft auf ein gegenseitiges Lernen und Verstehen. Auch gut zu wissen: Dass islamische Verbandsvertreter in deutschen Talkshows oftmals steif und breitbeinig sitzen, habe keine orthopädischen Gründe, sondern einen kulturellen Hintergrund. Von Frauen, Männern und Großfamilien "Die europäischen Gäste schlagen die Beine übereinander und die sitzen da so mit den Sohlen auf dem Fußboden, dies hängt damit zusammen, dass so 'ne Parallele zwischen Hand und Fuß gezogen wird. Und wenn man jemandem seine Fußsohle hinhält, dann ist das so ähnlich, wie wenn man ihm seine Handfläche entgegen hält. Das ist so eine Art von Abwehrgestus." Natürlich ist sich der Islamwissenschaftler bewusst, dass eine Integration in die deutsche Gesellschaft langwierig sein wird. Araber etwa haben oftmals ein strengeres Geschlechterverständnis. Deutsche Männer sollten zur Begrüßung nicht einfach arabische Frauen körperlich berühren, geschweige denn umarmen, meint Heine. "Ich würd's zunächst mal nicht machen, sondern abwarten. Wenn man sich denen so aufdrängt, dann ist das ein Problem, weil vor allem die jungen Frauen, die hierher gekommen sind, auch sehr auf ihren Ruf achten müssen." In arabischen Ländern haben Großfamilien zudem eine viel höheres Ansehen und Einfluss. Kaum verwunderlich, dass gerade jungen Zuwanderern das großelterliche Korrektiv in der Fremde fehlt. Trotz aller Probleme, Peter Heine ist sich sicher, dass sich Muslime auch in der hiesigen Kultur auf Dauer werden einleben können. Nur müssten die Deutschen eben auch genug von deren Kultur wissen, um ihnen dabei möglichst gut helfen zu können. Peter Heine, Kulturknigge für das Zusammenleben mit Muslimen, Herder, 224 Seiten, 19,99€
Von Thomas Klatt
Kurz vor dem 11. September 2001 erschien Peter Heines "Kulturknigge für Nichtmuslime", ein Plädoyer für Höflichkeit und Rücksicht gegenüber Zuwanderern aus islamisch geprägten Staaten. Jetzt gibt es eine Neuauflage des Buches und der Autor glaubt mehr denn je, dass Kleinigkeiten im Alltag - etwa die richtige Begrüßung - über große Fragen des Zusammenlebens entscheiden.
"2017-03-16T09:35:00+01:00"
"2020-01-28T10:17:33.143000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/muslime-und-nicht-muslime-in-deutschland-wann-sagt-man-100.html
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Bierbrauen mit Sonnenenergie
Blumensamen müssen trocken verpackt werden, damit sie nicht vorzeitig keimen. In der Nähe von Freising nutzt ein Landwirt zum Trocknen die Wärme der Sonne. Sie heizt Wasser auf, das durch Kollektoren strömt und dann über einen Wärmetauscher die Luft für die Trocknungsanlage erwärmt. Das Beispiel zeigt: Sonnenwärme kann in großem Maßstab genutzt werden. Auch in der Industrie, sagt Stefan Fischer vom Institut für Thermodynamik und Wärmetechnik der Universität Stuttgart."Das fängt an bei Waschprozessen, geht weiter bei der Trocknung von Früchten, Granulaten, et cetera. Es geht bis zur Erzeugung von Wasserdampf, der in bestehende Dampfnetze der Industrie eingespeist werden kann."Wo die Sonne scheint, heizt sich Wasser in einem schwarzen Schlauch ganz von selbst auf. Nach dem gleichen Prinzip funktionieren die Flachkollektoren, die hier zu Lande auf vielen Hausdächern zu finden sind. Bei Sonnenschein taugt das erwärmte Wasser zum Duschen, die Industrie braucht aber häufig höhere Temperaturen. Sie können erreicht werden, wenn man verhindert, dass sich die erwärmte Flüssigkeit wieder abkühlt. Genau wie Kaffee in einer Thermoskanne heiß bleibt. Fischer:"Ein Konzept ist, dass eine Vakuumisolierung da ist, um die sogenannten konvektiven Wärmeverluste zu verringern. Und momentan kommen immer mehr sogenannte konzentrierende Kollektoren auf den Markt, mit denen Temperaturen oberhalb 200 Grad erreicht werden können durch Konzentration des Sonnenlichtes."Diese Konzentration wird zum Beispiel durch verspiegelte Rinnen oder Lamellen erreicht. Wie ein Brennglas fokussieren sie die Wärmestrahlung der Sonne genau auf ein mit Wasser oder Öl gefülltes Absorberrohr. Etwa 70 Industriebetriebe in Europa erzeugen auf diese Weise bereits einen Teil ihrer sogenannten Prozesswärme. Stefan Fischer nennt ein Beispiel."Das ist ein Hersteller von Spiegelflächen, und die haben galvanische Bäder und andere Prozessschritte. Sie betreiben ein Dampfnetz mit vier Bar und 140 Grad Celsius. Und dort wurde ein Kollektorfeld installiert, das direkt in diese Dampfschiene Dampf einspeist."Allerdings lässt der Sonnenschein am Standort südlich des Ruhrgebiets zu wünschen übrig, heißt es bei dem Unternehmen. Weil das in Deutschland in vielen Regionen so ist, hat die Bamberger Firma isomorph die Kollektoren weiter ausgefeilt: Bei ihren Anlagen wird die Sonnenwärme durch ein Feld von 24 Spiegeln konzentriert, und jeder einzelne davon wird laufend zur Sonne hin ausgerichtet, berichtet Vertriebsleiter Helmut Hartinger."Dem Sonnenverlauf werden sie nachgeführt und fokussiert auf den Absorber. Das wird in der Produktion mittels eines Kalibriersystems gemacht über Laserpointer, und mittels eines Programms [werden] die Spiegel der Ost-West-Richtung des Sonnenverlaufs nachgeführt. Und entsprechend der Jahreszeit gibt es entsprechend dem horizontalen Verlauf der Sonne eine zweite Nachführung, um eine optimale Fokussierung der Sonne zu erreichen."Einige Dutzend dieser Anlagen sind bisher installiert; viele davon erzeugen Warmwasser für Haushalte. Aber auch Industriebetriebe haben gute Erfahrungen gemacht mit den Spiegeln, die mit der Sonne wandern."Das ist die Getränkeindustrie, also Brauereien, die das sehr stark nachfragen. Es sind Lebensmittelhersteller, also Metzgereien, die so etwas brauchen, oder Käsereien, die solche Dinge nachgefragt haben. Exotisch war für uns eine Firma, die Bitumen herstellt, daran hatten wir nicht gedacht. Bitumen muss bei 70 Grad zwischengelagert werden. Der Hersteller testet das jetzt mit zwei Spiegeln, bisher recht erfolgreich, und dann soll das Ganze noch ausgebaut werden."Die Kosten einer Anlage für die industrielle Solarthermie liegen je nach dem Wärmebedarf zwischen 10.000 und mehreren 100.000 Euro. Ob sich diese Investition schon nach zwei oder erst nach zwölf Jahren amortisiert hat, das hängt von vielen Faktoren ab. Nicht zuletzt von den zukünftigen Preisen für Erdöl und Erdgas.
Von Hellmuth Nordwig
Etwa die Hälfte der weltweit genutzten Energie wird für Wärme verwendet, in Haushalten und Industrie. Für letztere spielte Solarwärme bisher fast keine Rolle, doch das ändert sich jetzt langsam. Auf der Messe "Intersolar" in München wurden Beispiele vorgestellt.
"2011-06-10T16:35:00+02:00"
"2020-02-04T02:12:58.340000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bierbrauen-mit-sonnenenergie-100.html
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Zu zweit zur Legende
"’Sagtest du nicht mal, du hättest einen Onkel?’ – ’Ja, gewiss.’ – ’Wo ist er?’ – ’Universität Berlin, medizinische Fakultät.’ – ’Sieh mal, sieh. Als Professor?’ – ’Nein! Präserviert in einer Flasche. Mit Spiritus.’" Ein filmhistorisches Juwel: In "Spuk um Mitternacht" aus dem Jahr 1931 sprechen Oliver Hardy und Stan Laurel Deutsch! Synchronisation war in den ersten Tonfilmjahren nicht möglich, deshalb wurden von einem Film meist mehrere Sprachversionen gedreht. Ihren Text allerdings beherrschten die zwei Schauspieler lediglich lautmalerisch. Ungewollt wurden die Filme so noch komischer - ein Superlativ, der Anfang der 30er Jahre kaum vorstellbar war. Denn "Laurel & Hardy" galten zu diesem Zeitpunkt bereits als das erfolgreichste Komikerduo aller Zeiten. Berühmt wurden die beiden für den so genannten "Slow-Burn", was man frei als "lange Leitung" übersetzen kann. 1932 steht Stan im englischen Rundfunk auf dem Schlauch: ""’You left our tickets behind in America, now we have to swim back!’ – ‘How far is it?’ – ‘Oh, it’s only 3000 miles.’ – ‘Well, that’s not bad, it’s only 1500 miles each.’ – ‘You wait till I introduce the orchestra, then I take care of you.’”"Das Orchester spielt die Erkennungsmelodie aller "Laurel & Hardy" -Filme seit 1930, "The dance of the cookoos".Angefangen hatte alles 1927: Stan Laurel, der dünne Engländer, und Oliver Hardy, der dicke Amerikaner, waren bereits Mitte Dreißig und gestandene Komiker, als sie den Partner für das Leben fanden. Oliver Hardy, 1892 im Bundesstaat Georgia geboren, begann seine Karriere als Filmvorführer. Seine erste Rolle ergatterte er aber schon im Alter von 22 Jahren. In Hollywood wurde er schnell zu einer zuverlässigen Slapstick-Größe - allerdings nur als Nebendarsteller. Obwohl auch Stan Laurel ein erfahrener Schauspieler war, arbeitete er Mitte der 20er Jahre vor allem als Gag-Autor und Regisseur. Erst gemeinsam gelang ihnen der Durchbruch! Nach "Duck Soup", ihrem ersten Kurzfilm, erklommen "Laurel & Hardy" in kürzester Zeit den Komiker-Olymp. Hinter der Kamera regelte Laurel die Dinge. Er war der kreative Kopf des Duos, lieferte die Ideen und kontrollierte vom Licht bis zum Schnitt alle Bereiche der Filmproduktion. Auf der Leinwand aber hat Vollblutschauspieler Ollie den Ball in der Hand, er treibt das Geschehen voran - bis ihm Stan zu viele Bälle zuspielt. Ob die beiden versuchen, ein Klavier zu transportieren oder ihre Ehefrauen auszutricksen: Immer eskaliert die Situation bis zu völligem Chaos und zwar langsam, Stufe um Stufe. Auch dies ist eine Variante des "Slow-Burns". Und wenn gar nichts mehr geht? Dann plärrt Stan einfach los. Ollie hingegen winkt charmant lächelnd mit seiner Krawatte oder rollt sie verlegen zum Würstchen. Auch in Hörfunksketchen kam der "tie-twiddle" zum Einsatz: ""’Ladies and gentlemen!’ (lacht). – ‘Stop wiggeling your tie.’ – ‘What do you mean stop wiggeling my tie?’ – ‘Well every time you get fancy you start wiggeling your tie and it looks silly.’ – ‘If you interrupt me again I’ll wiggle you’ (Stan heult)”" "Laurel & Hardy" beweisen wie Charlie Chaplin, dass nur die Komik wirklich klassisch und dauerhaft ist, die ihrem Publikum das Gefühl der Überlegenheit schenkt. Den tollpatschigen Helden beim Scheitern zuzusehen, befreit von den eigenen Schwächen – und wird mit dankbarem Lachen belohnt! Mit ihren über hundert Kurz- und Spielfilmen gelingt "Laurel & Hardy" genau das immer wieder. Ihre kongeniale, 30 Jahre währende Partnerschaft fand erst ein Ende, als Oliver Hardy am 7. August 1957 in Folge eines Schlaganfalls starb.
Von Nicole Maisch
Sie waren vorher schon Teil der Unterhaltungsindustrie, erreichten aber erst als Duo einen weltweiten Bekanntheitsgrad. 30 Jahre lang haben "Laurel & Hardy" Filme miteinander gedreht. Aufgehört haben sie erst, als Oliver Hardy alias "Dick" am 7. August 1957 starb.
"2007-08-07T09:05:00+02:00"
"2020-02-04T11:27:58.680000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/zu-zweit-zur-legende-100.html
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Mein Avatar, die Maus
Eine einen Monat alte gentechnisch veränderte Maus an der Universität von Kuopio in Finnland im Oktober 1998. Das Tier sollte als Modell für das Studium von Krankheiten dienen. (picture alliance / dpa / Lehtikuva Oy Vänska) Medikamente, die es bis in die Klinik schaffen, sind teuer und helfen nur bei einem Teil der Patienten. Oft wissen Ärzte nicht einmal, wem sie sie geben sollen - und wem nicht. Die Krebsforschung sieht sich mit der Frage konfrontiert, ob ihre Versuche wirklich etwas taugen - die machen sie nämlich mit Mäusen und der Mensch ist schließlich keine Maus. Jetzt schauen einige Forscher genauer hin. Und es zeigt sich, wer das tut, kann doch viel von Mäusen lernen. Manuskript zur Sendung Bertotti: "Wir arbeiten mit Tieren, die fast keine Immunabwehr haben. Sie sind sehr empfindlich." Der Zugang ist per Chipkarte gesichert. Direkt hinter der schweren Glastür muss sich der Besucher von oben bis unten steril einkleiden: Sterile Schuhe, Overall, Mundmaske und Plastikhaarkappe. Bertotti: "You have to turn around inside, so that you get air on each side." Dann die Luftschleuse. Bertotti: "So we are in." Wir sind in einem kleinen, fensterlosen Raum. In Metallgestellen über und nebeneinander, dicht an dicht: 500 Käfige. Hier hocken sie: Tausende weißer Mäuse, versorgt mit Futter, Wasser, Streu und buntem Plastikspielzeug. Die neue Hoffnung der Krebsforschung Bertotti: "Das Tumorgewebe kommt vom Krankenhaus direkt zu uns. Das muss sehr schnell gehen. Schließlich pflanzen wir zwei Stückchen in zwei Mäuse ein, direkt unter die Haut." Hidalgo: "The study that we have at the moment is called the Avatar Trial." Ein Mensch, der heute an Krebs erkrankt, hat eine Fülle an Medikamenten zur Auswahl. Doch das heißt nicht, dass er davon profitiert. Jens Hoffmann, Leiter der Firma EPO in Berlin-Buch: "Da es ja mittlerweile sehr, sehr viele Substanzen gibt, und man den Patienten aber nicht mit all diesen Substanzen behandeln kann, sondern dann hat man meistens nur ein, zwei, drei Chancen, den Patienten zu therapieren. Und wenn der Patient da nicht anspricht, ist das meistens dann leider eine hoffnungslose Situation." Eine bittere Realität. In der Forschung wird die Suche nach neuen Wirkstoffen weiter mit hohem Aufwand betrieben. Doch auch hier ist der Ertrag mager. Manuel Hidalgo, Forscher am nationalen Krebsforschungszentrum in Madrid. "Von den letzten 30 klinischen Studien zu Bauchspeicheldrüsenkrebs brachten vielleicht zwei oder drei positive Ergebnisse. Das liegt vor allem daran, dass wir in die klinischen Studien an Patienten mit Substanzen gehen, über die wir viel zu wenig wissen." Jetzt sollen Mäuse helfen, die Messlatte höher zu legen. Avatare, im Kampf gegen Krebs. Das Centro Integral de Oncología Clara Campal, ein großes, modernes Krankenhaus im Norden von Madrid. Seit acht Wochen kommt Alberto de Frutos Nuñez regelmäßig zur Therapie in die onkologische Ambulanz. "Ich bin gerade erst 50 Jahre alt geworden. Ich bin verheiratet, wir haben zwei Töchter, sie sind 16 und 14 Jahre alt. Ich habe Bauchspeicheldrüsenkrebs, das weiß ich seit zwei Monaten. Er ist schon sehr weit, und hat schon Metastasen gebildet, in der Leber und der Lunge. Im Moment kann man mich deshalb nicht operieren." Die Prognose in diesem Stadium ist düster. Fünf Jahre nach der Diagnose ist im Schnitt nur noch einer von hundert Patienten am Leben. Alberto de Frutos Nuñez bekommt eine kombinierte Chemotherapie. Doch allzu groß sind seine Chancen nicht. "Wir haben viele Patienten wie ihn. Wir können sie mit der Standardtherapie nicht heilen." Problem: Medikamente wirken nicht wirklich Manuel Hidalgo forscht am Nationalen Krebsforschungszentrum in Madrid und ist Arzt an der Klinik. Es gibt nur wenige Medikamente, sagt er, die Patienten wie Alberto de Frutos Nuñez helfen. Und wenn sie wirken wird der Tumor häufig nach wenigen Monaten resistent und beginnt wieder zu wachsen. Bisher ist nur bruchstückhaft verstanden, wann und warum ein Medikament anschlägt. Versuch und Irrtum sind für die behandelnden Ärzte oft die einzige Option. Aber nicht für Manuel Hidalgo. Er nennt seine Studie "Avatar", nach den Computerspielen, in denen der Spieler sich selbst ein virtuelles Alter Ego schafft. "Wir entnehmen ein Stück Tumor des Patienten gleich nach der Diagnose, und sequenzieren sein Genom. Wir durchkämmen es nach gut 500 genetischen Mustern, die wir schon kennen. Wenn wir da fündig werden, ist manchmal schon klar, welche Medikamente wirken könnten. Aber oft liefert uns das Genprofil nichts Aussagekräftiges. Mal bekommen wir jede Menge Information, die wir nicht verstehen. Oder wir klären zwar, welche Mutation den Tumor antreibt, haben aber kein passendes Medikament. Oder wir finden verschiedene Tumorkennzeichen, die sich gegenseitig widersprechen. Noch während der Patient die Standardtherapie bekommt, pflanzen wir seinen Tumor in Mäuse ein und vermehren ihn. So bekommen wir eine ganze Armee von Avataren. An ihnen probieren wir aus, welches von den Medikamenten, die dem Genprofil nach wirken müssten, tatsächlich wirkt. Sobald die erste Therapie nicht mehr hilft, setzen wir dieses Wissen ein." Manuel Hidalgo will Wirkstoffe abseits der erprobten Standards finden. Noch wichtiger ist: Die Experimente an den Avataren ersparen dem Patienten vergebliche, aufreibende Fehlversuche. Und: Sie schenken ihm Zeit im Wettlauf gegen die Krankheit. "Ich hab es im Gefühl, dass sie so wirklich einen rettenden Hinweis für mich finden werden. Meine Freunde sagen, was für ein Glück, dass du auf dieses Projekt gestoßen bist. Es ist, als würde ich mir ein Lotterielos kaufen, das mir das Leben retten kann." In den 50er-Jahre erste Maus-Avatar-Versuche Die Idee von Mäusen mit implantiertem Patientengewebe sorgte schon einmal für hohe Erwartungen. Schon in den 1950ern hatte man Mäuse mit einem Gendefekt entdeckt, der das Immunsystem so weit lahmlegt, dass sie menschliches Tumorgewebe tolerieren. Diese Mäuse sind nackt, denn der Gendefekt stört auch das Fellwachstum. Als sogenannte Nacktmäuse schafften sie es in den 1980er-Jahren auf die Titelseiten vieler Zeitungen. Der Freiburger Onkologe Heiner Fiebig war damals einer der Ersten, der die Mäuse nutzte. Die Vorteile, erzählt er, lagen auf der Hand. "Wenn der Tumor in der Nacktmaus wächst, dann muss er ein Gefäßsystem bekommen. Und der Tumor wächst eben in drei Dimensionen. Und wenn er eine bestimmte Größe erreicht hat, gibt es auch nekrotische Abschnitte durch eine Minderdurchblutung, insofern ist das Wachstumsverhalten in der Nacktmaus dort ganz ähnlich, wie es beim Patienten auch der Fall ist." Ein Stück Tumor von echten Patienten als Fremdkörper in der Maus - mit allem Drum und Dran: mit Blutgefäßen, toten Bereichen im Innern und einem wilden, zufälligen Mix aus verschiedensten Tumorzellen. Das war neu, aufregend und kein Vergleich zur bisherigen durch und durch künstlichen Situation. Bis dahin wuchsen Tumorzellen vor allem als dünne Schicht in Petrischalen. Fiebig schaffte es tatsächlich, 80 Mauslinien zu züchten, die Tumoren von 80 Patienten in sich trugen. Doch der große Erfolg blieb aus. "Wir hatten dann Testergebnisse erhalten bei insgesamt 80 Vergleichen, und haben dann sehen können, dass wir ein Testergebnis nur in 32 von 80 Fällen hatten, bevor der Patient die Behandlung benötigte. Der praktische Nutzen war nur für einen kleinen Teil der Patienten gegeben." Prozedur dauerte zu lange In den meisten Fällen kamen die Ergebnisse zu spät, weil die Prozedur einfach zu lange dauerte und die Patienten inzwischen gestorben waren. In den 32 Fällen, bei denen alles klappte, lagen die Ergebnisse aus Maus und Mensch zwar tatsächlich nah beieinander, die Tests waren also aussagekräftig. Doch selbst dann konnte der Arzt oft keine Hilfe anbieten, weil es kein Medikament gab, das den Tumor wirksam bekämpft hätte. Heiner Fiebig entschied: Das macht in der Praxis keinen Sinn. "Man erweckt Hoffnungen, die man dann bei der Mehrzahl der Patienten nicht erfüllen kann." Nach den ersten Rückschlägen führten die Mäuse mit implantiertem Patiententumor lange ein Schattendasein. Doch genau das ändert sich gerade. Ultraschallbild eines Prostata-Tumors: Immer mehr Daten sollen helfen, Tumore zu bekämpfen. (imago/Science Photo Library) "The first part which is here, it's around 50 cages, and is related to the newcomers." Das Istituto Oncologico Candiolo, ein Krebsforschungsinstitut gut 30 Kilometer südlich von Turin. Das Maushaus ist das Reich von Andrea Bertotti. Und es liegt direkt neben der Klinik des Instituts. "Wenn in der Klinik ein Krebspatient operiert wird, bekommen wir ein Stück seines Tumors und pflanzen es ein direkt unter die Haut." Das Resultat ist mit bloßem Auge zu erkennen: Unter dem weißen Fell zeichnet sich jeweils am Hinterschenkel der Mäuse eine Geschwulst ab. In den Tieren wächst menschliches Tumorgewebe, vergrößert sich und wird dann auf weitere Mäuse verteilt. "Wenn wir das mehrere Male wiederholen, erhalten wir aus den ersten beiden Mäusen am Ende 30, 40 Mäuse, die alle den gleichen Tumor in sich tragen. In den Mäusen können wir dann Medikamente testen: Und zwar mehrere Medikamente parallel an ein und demselben Tumor." Fortschritte im genetischen Wissen Bertotti nutzt Mäuse, die fremdes Tumorgewebe noch besser tolerieren als die Nacktmäuse. Es sind sogenannte Nod-Skid-Mäuse, deren Immunsystem noch stärker unterdrückt ist. Ihm gelingt das Kunststück, den Tumor in der Maus zum Wachsen zu bringen, deshalb viel häufiger als Fiebig und seinen Kollegen vor 30 Jahren. Seit den frühen Versuchen in den 1980ern hat sich noch etwas verändert: Die Menge an Wissen über die genetischen und biologischen Eigenheiten von Tumoren ist regelrecht explodiert. "Tumour heterogeneity is in fact insurmountable." Livio Trusolino leitet die Forschergruppe gemeinsam mit Andrea Bertotti. Die Heterogenität bei Tumoren sei unüberschaubar, sagt er. Und sie gehöre quasi zu ihrer Natur. "Das hat mit ihrer Entstehung zu tun: Sie wachsen und wachsen und sammeln mit der Zeit immer mehr Veränderungen in ihrem Erbgut an. Manche Veränderungen machen sie noch aggressiver, andere lassen die Tumorzellen verkümmern. Das ist völlig chaotisch. Bei hundert Tumoren haben vielleicht zehn Mutation A, zwei dieser zehn haben noch Mutation B. Drei mit Mutation A haben auch Mutation C, aber eben nicht Mutation B, und so weiter. Es gibt unendlich viele Kombinationen." Tumor ist also nicht gleich Tumor. Unterschiede gibt es sogar innerhalb ein und derselben Geschwulst. "Which is the reason why first we collect so many samples." Tumorsammlung für die Forschung Andrea Bertotti und Livio Trusolino wurden also zu Tumorsammlern. Inzwischen haben sie die europaweit größte Sammlung von Dickdarm-Tumor-Proben aufgebaut, mehrere hundert Patientenproben liegen gut sortiert und etikettiert, tief gefroren in ihrer Biobank. Je nach Studienfrage etablieren sie daraus und aus frischen Proben direkt aus dem Operationssaal eine passende Armee von Mausavataren. Mit schierer Masse wollen sie der Unübersichtlichkeit Herr werden. Das hat immerhin schon einmal geklappt und konkrete Ergebnisse gebracht. Andrea Bertotti schiebt eines der Käfiggestelle zur Seite, sodass eine zweite Reihe mit Käfigen sichtbar wird. Krebsmedikamente: Immer noch ist unklar, wann manche Medikamente wirken. (dpa / picture alliance / Klaus Rose) "Die Mäuse hier behandeln wir mit einem Wirkstoff, der für Dickdarmkrebs offiziell zugelassen ist. Wir wissen, dass er längst nicht bei allen wirken wird. Dann machen wir weiter und probieren andere Wirkstoffkombinationen aus." Der Wirkstoff gehört zur neuen Medikamentengeneration. Es ist ein Antikörper. Rein theoretisch müsste er bei viel mehr Patienten wirken, tut er aber nicht. Und keiner weiß so recht, warum. Im genetischen Profil einiger Tumoren, die nicht auf den Wirkstoff ansprachen, fiel Bertotti und Trusolino ein Merkmal auf, das eigentlich typisch für Brusttumoren ist, nämlich mehrere Kopien des Her2-Gens. "Wir probierten deshalb aus, ob diese Dickdarmtumoren auf ein Brustkrebsmedikament ansprechen, das diese Her2-Anomalie ausnutzt. Und es hat geklappt. Die Ergebnisse haben wir an unsere Kollegen in der Klinik weitergegeben. Und die setzen sie jetzt in einer klinischen Studie mit Patienten um." Innerhalb von sechs Monaten Ergebnisse Vom Abschluss der Mausstudie bis zur Behandlung des ersten Patienten vergingen nur sechs Monate. Das ist für die Krebsforschung rasend schnell. "Wir testen jetzt weitere Medikamente, die noch nie jemand systematisch bei Dickdarmkrebs eingesetzt hat. Wir prüfen eine Möglichkeit nach der anderen." Die Turiner bleiben konsequent bei der Grundlagenforschung. Die Patienten, von denen die Tumorproben stammen, haben nichts davon. Erst die nächste oder übernächste Patientengeneration. "Wir fangen gerade an, auch mit anderen Krebstypen zu arbeiten. Wir haben Proben von Kopf- und Halstumoren und einige Formen von Lungenkrebs. Wir sammeln jetzt erst einmal. Und wenn wir genug Tumorexemplare zusammen haben, werden wir entsprechende Studien angehen. "The summer of 2009 my 46-year-old husband Alan was diagnosed with a very rare and aggressive cancer." Robyn Stoller lebt mit ihren drei Kindern nahe Washington, D.C., in den USA. Im Sommer 2009 fand man bei ihrem Mann einen seltenen, aggressiven Knochentumor. "Die Diagnose war ein Schock. Alan war 46 Jahre alt. Bis die Ärzte endlich herausfanden, was es war, bekamen wir viele falsche Diagnosen. Da hatte der Tumor schon gestreut, wie lauter kleine Sandkörner hatte er sich in Alans Lunge verteilt. Man sagte uns, er müsse sofort mit der Therapie beginnen." Kommerzielle Anbieter von Maus-Avataren Die beiden ersten Therapien nutzten kaum. Der Tumor wuchs weiter. Robyn Stoller suchte wie besessen nach Alternativen und stieß schließlich auf einen Mann namens David Sidransky, einen Onkologen an der Johns Hopkins Universität. "Er war sehr ehrlich zu uns. Wir wussten, worauf wir uns einließen." David Sidransky hatte zusammen mit Manuel Hidalgo die Firma Champions Oncology gegründet, die beiden hatten mehrere Jahre zusammen an der Johns Hopkins Universität gearbeitet. Champions Oncology bietet die Mausavatare kommerziell an. Wer Krebs hat und es sich leisten kann, kann sich die Mäuse kaufen. "Die Avatare anzulegen, kostet bei uns etwa 2000 Dollar, in Europa sind das rund 2000 Euro. Die erste Runde Medikamententests, mit vier bis fünf Wirkstoffen, kostet etwa 10.000 Euro. Jeder muss für sich entscheiden, ob es das wert ist." Die Stollers entschieden schnell und sagten zu. Alans Tumor wuchs rasch. Es ging ihm so schlecht, dass man ihn nicht einmal operieren konnte, um eine Tumorprobe zu nehmen. Aber Dr. Sidransky berief ein Team von Experten und die berieten sich. Sie schlugen eine Medikamentenkombination vor. Die empfohlene Therapie war die erste, die half, wenn auch nur wenig: Der Tumor wuchs langsamer. Kurz darauf konnte Alan Stoller doch noch operiert werden, die Avatare wurden angelegt. Doch ihm lief die Zeit davon. Er starb, wenige Tage bevor die Maustests Ergebnisse lieferten. "Das Ergebnis war eindeutig: Es gab kein Medikament, das seinen Tumor hätte besiegen können. Sein Tumor war zu aggressiv, zu stark, wir haben ihn zu spät entdeckt. Wir konnten einfach nichts tun." War das alles also umsonst, das viele Geld für nichts ausgegeben? "Nein, ich finde, wir hatten großes Glück. Wir können nachts schlafen, weil wir wissen, dass wir wirklich alles versucht haben. Und wir haben dank der Mäuse bis zum Schluss eine Chance gesehen." Nutzen ist nicht gesichert In den USA hat die Firma ihre Mäuse bisher an etwa tausend Patienten verkauft, in Europa nur an eine Handvoll Patienten in Großbritannien. Sie wirbt mit dem Versprechen einer auf den Patienten zugeschnittenen Therapie. Dabei mache sie, sagt David Sidransky, nicht einmal Gewinn: Der Preis decke nur die Kosten. Geld verdiene die Firma, indem sie mit Erlaubnis der Betroffenen die etablierten Mausavatare für Medikamententests nutzt und in ihre wachsende Biobank aufnimmt. "Es ist eine noch nicht etablierte, experimentelle Methode. Aber ihre Aussagekraft ist mit um die 90 Prozent Trefferquote unglaublich gut. Wir müssen herausfinden, wie wir sie am besten nutzen. Und wo sie den gegenwärtigen Klinikbetrieb am besten ergänzen können." Ein experimentelle Methode, das heißt im Klartext, ihr Nutzen ist noch nicht einwandfrei in großen klinischen Studien nachgewiesen, wer sie nutzt, begibt sich auf unerforschtes Terrain. Gerade in den USA hat die Firma harsche Kritik auf sich gezogen, der Vorwurf: Eine Methode mit derart ungewissem Nutzen zu vermarkten, sei unverantwortlich. Sidransky verteidigt sich: "Wir wollen diese Methode den Patienten jetzt zugänglich machen und sie nicht noch Jahre darauf warten lassen, bis alle Nachweise erbracht sind. Wir glauben, dass das die richtige Balance ist, für eine neue Technologie wie diese." Auch in Deutschland gibt es eine Firma, die Mausavatare anbieten kann. Für die Experimental Pharmacology and Oncology, kurz EPO, in Berlin-Buch führt Jens Hoffmann die Geschäfte mit den Xeno-Patienten, wie er die Mäuse lieber nennt. Auch in Deutschland Angebot von Maus-Avataren "Das sind eigentlich im Moment sehr vielversprechende Ansätze, wir hatten uns deshalb auch entschlossen, diese Technologie anzubieten, man kann bei uns auf der Webseite Informationen dazu finden." Hoffmann wirbt nicht offensiv für die neue Methode, die Kernkompetenz der Firma liegt in der Forschung. EPO verdiene Geld mit Auftragsforschung, erklärt er, dafür setze sie neben Zellkulturen auch Mäuse mit implantiertem Tumorgewebe ein. Doch dann sei eine ehemalige Mitarbeiterin an Darmkrebs erkrankt. Hoffmanns Laborteam etablierte Mauslinien für die Krebskranke und konnte daraus tatsächlich Empfehlungen für deren Therapie ableiten, die der Kranken vermutlich mehrere Jahre schenkten. Das Know-how für die therapeutische Nutzung wäre also da. Diagnose Lungenkrebs: Ein Arzt zeigt auf einem Röntgenbild auf einen Tumor. (picture alliance / dpa / Rainer Jensen) "Aber es ist erstaunlicherweise bisher nicht weiter nachgefragt worden, sodass es bei uns eigentlich eher dabei geblieben ist, dass wir das nur für vielleicht derzeit fünf bis sechs Patienten gemacht haben, die alle mehr oder weniger in irgendeinem Verhältnis zu Mitarbeitern stehen." Kommerz und Hoffnung, teure Methoden und die Frage von Leben oder Tod. Keine harmlose Mischung. Viele Wissenschaftler halten es für vielsprechend und richtig, Mausavatare für die Grundlagenforschung zu nutzen, schrecken aber davor zurück, sie direkt in der Therapie zu verwenden. Zu wenig erprobt sei die Methode, zu fahrlässig werde da Hoffnung geschürt, womöglich Geld verschwendet. Manuel Hidalgo hat sich inzwischen aus der Firmenleitung von Champions Oncology zurückgezogen. Das Geschäftsmodell sieht er heute kritisch. "Man muss vorsichtig sein, solche neuen Techniken Patienten direkt anzubieten. Das gilt für vieles, was gerade auf den Markt kommt. Wir müssen den Nutzen erst einmal nachweisen. Wenn wir aber zeigen können, dass die Avatare dem Patienten helfen, dann sind die hohen Kosten nicht der springende Punkt. Was man für die Avatare ausgeben muss, ist wenig im Vergleich zu den Preisen für Medikamente, die oft nicht helfen und nur Nebenwirkungen verursachen." Groß angelegte Studie zu Maus-Avataren Gerade hat Manuel Hidalgo vom European Research Council Fördergelder der EU bekommen, sodass er sein Forschungsprojekt ausweiten kann. "Bisher lief die Studie in kleinerem Rahmen und nur dank der großen Unterstützung durch meine Kollegen hier. Jetzt haben wir das Geld, um eine größere klinische Studie zu starten. So können wir ganz solide die Frage klären: Helfen die Avatare den Patienten oder helfen sie nicht?" Gemeinsam mit Forschern von 15 anderen Forschungszentren hat Hidalgo ein Netzwerk gegründet namens EuroPDX. Laura Soucek vom Vall D'Hebron Institute of Oncology in Barcelona kümmert sich im Netzwerk um die ethischen Fragen: "Ein Grund, warum so viele potenzielle Krebsmedikamente im klinischen Versuch am Patienten gescheitert sind, war, dass die Vorversuche einfach nicht gut genug waren. Wir wollen Wissen, Erfahrung und Ressourcen austauschen. Das ist auch ethisch wichtig: Wenn wir schon Tierversuche machen, dann müssen sie so gut wie irgend möglich sein." Die Forscher wollen verbindliche Kriterien für ihre Mausstudien festlegen und multizentrische Studien auflegen. "Wir verstehen immer genauer, wann der Rückschluss von der Maus auf den Menschen funktioniert und wann nicht. Die Mäuse, so wie wir sie inzwischen handhaben, können wirklich viele Informationen liefern." Manuel Hidalgo und alle anderen im Netzwerk arbeiten daran, die Mausavatare vielseitiger zu machen. Hormonabhängige Tumoren wie Brust- und Prostatakrebs zum Beispiel sind nur schwer in der Maus zu züchten, mit Hormongaben klappt auch das immer besser. Will man Immuntherapien testen, braucht es Mäuse mit menschlichem Immunsystem, auch das scheint machbar. All das ist Zukunftsmusik. Für Alberto de Frutos Nuñez zählt nur, was heute zur Verfügung steht. "Es gibt viele Medikamente, die helfen können. Es kommt darauf an, dass sie das Richtige für mich finden. Es ist fast schon verrückt, was die Ärzte heute können, eine wirklich gute Idee mit diesen Mäusen, als wären sie meine virtuellen Co-Patienten. Ich muss optimistisch bleiben."
Von Katrin Zöfel
Erfolge bekommt man in der Krebsforschung nicht geschenkt. Unzählige Substanzen werden mit viel Aufwand getestet und dennoch scheitern neun von zehn Wirkstoffen in der Klinik. Der Grund: Tumore sind individuell sehr unterschiedlich. Jetzt experimentieren Forscher mit Mäusen, denen Krebszellen ihrer Patienten implantiert werden.
"2015-08-16T16:30:00+02:00"
"2020-01-30T12:52:19.234000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kampf-gegen-krebs-mein-avatar-die-maus-100.html
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Machtfaktor Kirche in Russland
"Orthodoxie oder Tod!" steht auf den Hemden, die ein Dutzend kräftiger junger Männer tragen. Sie mischen eine kleine regimekritische Demonstration auf. Der Einsatzleiter der Polizei grinst, als die Männer mit ihrem Gebetsgesang den Protest übertönen.Alle Gegendemonstranten tragen Schwarz. Schwarze Stiefel, schwarze Hosen, schwarze Kappen mit weißen Runen und Hakenkreuzen. Christliche Kreuze haben sie auch dabei, sie halten sie mit beiden Händen hoch. Die "Gemeinschaft Orthodoxer Bannerträger" führt einen, wie sie sagen ... "... 'Heiligen Krieg' für die 'Verbreitung des orthodoxen Glaubens, der Wiederherstellung der Autokratie, der Wiedergeburt des russischen Nationalbewusstseins und Reichspatriotismus'."Seit zwei Jahrzehnten agiert die Gruppierung am äußeren Rand der russischen Orthodoxie. Die Bannerträger greifen die Demonstranten an, zuerst verbal. "Stehenbleiben! Maul halten, sonst wirst du dafür bezahlen!""Ihr seid orthodoxe Faschisten" rufen Demonstrantinnen. Und: "Faschismus kommt nicht durch!""Sodomie kommt nicht durch!" antworten die Bannerträger mit ihrem beliebten Kampfruf. Wenn es nach ihnen ginge, soll es den Demonstranten so ergehen wie den angeblich homosexuellen Einwohnern vom biblischen Sodom: Sie sollen ausgerottet werden. "Schwuchteln!" beschimpfen die Bannerträger ihre Gegner, deren Einstellung und Lebensstil sie als Perversion abtun. Die Polizisten schauen demonstrativ weg, als ein Schwarzgekleideter einer Frau seine Faust vors Gesicht hält:"Wir werden euch moralisch vernichten, kaltmachen, erwürgen! Ja, wir werden genau das mit euch tun!"Erst jetzt geht die Polizei dazwischen. Die Bannerträger drohen auf ihrer Webseite mit Pogromen gegen jüdische Gottesfeinde. Sie verprügeln Andersdenkende, vorzugweise Frauen. Sie zeigen verbrannte Porträts der Sängerin Madonna oder mit einem angespitzten Pfahl durchstochene Bilder aus einem erotischen Schwulenmagazin. Heute, wo Putins Macht infrage gestellt wird, bekommen die orthodoxen Schläger zunehmend Unterstützung der weltlichen und kirchlichen Obrigkeit. Der Moskauer Priester Alexey Uminskiy ist einer der wenigen Kleriker, die daran öffentliche Kritik wagen:"Sind sie denn nicht, mit Verlaub, eine völlige Absurdität? Wir sollten diese absurden Erscheinungen beim Namen nennen. Müssen wir etwa akzeptieren, dass wir derartige Bannerträger bei uns in der Kirche haben, die sich als Christen bezeichnen? Ist das denn noch Kirche? Oder ist das ein Wahnwitz?"In der russisch-orthodoxen Kirche gibt es nur eine Handvoll Kirchengemeinden, die als liberal gelten. Alexey Uminskiys Pfarrbezirk liegt im Zentrum Moskaus. In seine Kirche kommen überdurchschnittlich viele Akademiker. Abgesehen davon wirken die Betenden beim Sonntagsgottesdienst wie in jeder anderen der 17.000 Kirchen Russlands auch: viele ältere Frauen, Familien mit Kindern, bärtige Männer und junge Pärchen. Vater Alexey im weiß-goldenen Gewand zelebriert den Gottesdienst. Mit seinem langen grauen Haar und ungewöhnlich kurz gestutzten Bart wirkt er wie ein mittelalterlicher Gelehrter."In Russland ist es meistens so: Du hörst ein Väterchen irgendetwas sagen, und meistens ist das einfach zum Weglaufen. Unser Priester ist hingegen ein wirklich scharfsinniger Mensch."Sergey Akhunov ist seit fünf Jahren Mitglied in Uminskiys Gemeinde. In seiner Jugend war der etwas wortkarge Mittvierziger ein politischer Rocker. Auch später, als Christ, verlor er seinen kritischen Geist nicht."Russlands Unglück begann lange vor Putin. Putin begünstigt ein System, das bereits da war: das System der Obrigkeitshörigkeit, bei dem beispielsweise einem Richter der Wunsch seines Chefs wichtiger ist als das Gesetz. Dieses System frisst uns alle auf. Aber auch in unserer Gemeinde gibt es natürlich Leute, die glauben, dass in diesem Land nichts Schlimmes geschieht, dass Putin alles richtig macht. Aber auf wundersame Weise geben wir uns trotzdem die Hand. Es gibt Wichtigeres, was uns verbindet."Nach dem Sonntagsgottesdienst versammeln sich die Gläubigen zu Gespräch und Essen im Gemeinderaum.Etwa 50 Leute trinken Tee, essen Rote-Bete-Salat mit Buchweizenbrei und diskutieren über die Stellung der Frau in der Bibel.Adams Rippe, aus der die erste Frau geschaffen würde, sei kein Knochen, sagt ein junger Vikar. Ja, stimmt ihm Uminskiy zu, die Frau sei kein Stück Knochen."Knochen oder Rippe - dieses Wort steht in der Bibel eigentlich für 'Seite' oder 'Hälfte'. Ähnlich wie das französische Wort 'Côte' außer Rippe noch Ufer bedeutet. Zum Beispiel Côte d'Azur, ihr wisst schon."Erklärt Uminskiy, der acht Jahre als Französischlehrer gearbeitet hatte, bevor er Priester wurde. Seine Gemeindemitglieder sind zwar keine mittellosen Menschen, aber die französische Riviera kennen die meisten nur aus Filmen. Moskauer, die dort ihren Urlaub verbringen, gehen in andere Kirchen. Uminskiy erzählt, dass die Frau nicht als ein Weibchen für Adam erschaffen wurde. Nein, sie sei alles andere als Leo Tolstois Natascha Rostowa – in Russland das Sinnbild einer patriarchalen Frauenfigur.Unter den hier Versammelten ist keine Frauenstimme zu hören, obwohl Frauen mehr als die Hälfte der Versammelten ausmachen. Manchmal stellen sie Fragen, aber die Antworten kommen von den Klerikern der Gemeinde, einer von ihnen Theologieprofessor. In der Frage der Geschlechtergerechtigkeit, mit der sich viele christliche Kirchen bis heute schwer tun, ist die russische Orthodoxie ähnlich konservativ wie die Katholische Kirche. Frauen sind vom Priesteramt ausgeschlossen, aber Pfarrer dürfen heiraten. Der Schwangerschaftsabbruch gilt ebenfalls als Sünde, wird aber gebilligt, wenn das Leben der Mutter bedroht ist. Empfängnisverhütung wird generell verurteilt, doch innerhalb einer Familie akzeptiert. Gleichgeschlechtliche Beziehungen lehnt die russische Kirche jedoch noch vehementer ab als der Vatikan. Die Kirchenspitze verweigert Menschen anderer sexueller Orientierung volle Bürgerrechte, und sie distanziert sich nicht von den homophoben Gewalttätern aus der "Gemeinschaft Orthodoxer Bannerträger". Bis heute hat sich das Gros der russischen Gläubigen aus den politischen Kämpfen rausgehalten. Die Kirchenspitze rückt aber politisch verstärkt nach rechts. So rügte der offizielle Sprecher des Patriarchen Wsewolod Chaplin den liberalen Alexey Uminskiy mit scharfen Worten:"Vater Alexey Uminskiy erlaubt sich, die Bannerträger als Antisemiten zu beschimpfen. Aber diese Organisation ist von der Kirche offiziell akzeptiert. Sie wird nach dem Segen des Heiligen Patriarchen Kyrill in der Liste des Rates orthodoxer Gesellschaften geführt. Wir sind im Krieg, und unsere Vorhut wird als antisemitisch beschimpft. So eine Schande!"Berührungsängste mit dem Antisemitismus hat die russisch-orthodoxe Kirche nicht. Eine ihrer Heiligenfiguren ist das Opfer eines vermeintlichen Ritualmordes durch Juden im 17. Jahrhundert. Sein katholisches Pendant wurde noch 1965 aus dem offiziellen Märtyrerkalender gestrichen. Patriarch Kyrill dagegen "verbeugte sich", wie es in der offiziellen Mitteilung über seinen Besuch des Heiligengrabes stand, "vor den heiligen Gebeinen des Märtyrers", der "von einem Juden entführt und bestialisch ermordet" wurde. Im Mittelalter ließen sich Priester oft mit Naturalien bezahlen. Für Alexey Uminskiy, der von seinem Pfarrergehalt lebt und sich einen Mittelklasse-Toyota leisten kann, sind solche Mitbringsel nicht mehr als nostalgische Erinnerungen an goldene alte Zeiten, als die Kirche arm und eigenständig war. Denn in späteren Jahrhunderten hatten die Zaren sie nach und nach verstaatlicht, bis Peter der Große die Kirche zu einem Quasi-Ministerium für Staatsreligion machte. Statt des Patriarchen stand nun ein Zarenbeamter, ein Oberprokurator, der Kirche vor."Die russische Kirche hat eine drückende Erfahrung hinter sich. Jahrhundertelang war sie Werkzeug des Staates. Unter Peter dem Großen verlor sie ihre Eigenständigkeit und ihren Patriarchen. Dann folgten die furchtbaren Repressionen der Sowjetmacht. Die Geschichte lehrt uns, dass sich die Kirche vom Staat fernhalten sollte."Als die Bolschewiki den Zarenstaat zerstörten, gingen sie auch gegen die Kirche vor, die ideologische Stütze des alten Regimes. Nach der Machtübernahme wurden Tausende Priester ermordet. Später wurden Geistliche zur Zusammenarbeit mit der Partei gezwungen. Der KGB führte höhere Kleriker als Informanten oder ließ KGB-Agenten in hohe Kirchenämter einsetzen. Bis heute will sich die Kirche davon nicht öffentlich distanzieren. Sie versucht nicht einmal die Anschuldigung zu widerlegen, Patriarch Kyrill habe ebenfalls für die Staatssicherheit gearbeitet und den Agentennamen "Michailow" getragen. Stattdessen lässt sich die Kirche erneut in den Dienst des Kremls nehmen."Es breitet sich diese Einstellung aus: Endlich hört der Staat auf, die Kirche zu verfolgen. Der Staat eröffnet der Kirche so viele Möglichkeiten. Also geht es doch nicht, dass wir diesem Staat nicht danken." Laut russischem Grundgesetz sind Staat und Kirche getrennt, dennoch geht die Einbindung der Kirche in Staat und Gesellschaft rasant voran. Präsident Putin betont immer wieder, dass es in Russland zwar viele Völker und Konfessionen gibt, dass aber die meisten Bürger russisch-orthodox sind. Ob das stimmt, ist das Grunddilemma der Kirchenpolitik, sagt Alexey Uminskiy."Entweder müssen wir einsehen, dass wir nur wenige sind. Das würde aber heißen, dass unsere Gesellschaft nicht hauptsächlich christlich ist. Dass wir unseren jetzigen Diskurs ändern müssen, und uns nur mit uns selbst beschäftigen. Aber das können wir gerade jetzt nicht akzeptieren, weil wir so große, so konstruktive Vorhaben angepackt haben: das Schulfach 'Grundlagen der orthodoxen Kultur'; Armeepriester, die jungen Soldaten helfen können; Priester in Gefängnissen, in Krankenhäusern. Andererseits fürchte ich, dass eine Kirche, die ihre Position in der Gesellschaft stärken will, ein großes Risiko eingeht. Sie kann zur Geisel des Staates werden."80 Prozent der Russen bezeichnen sich als orthodoxe Christen, doch ein Drittel glaubt nicht an Gott. Kaum jemand geht in die Kirche. Aber die Patriarchie besteht darauf, dass die meisten Russen orthodox sind. Sie degradieren das Christentum zu einer Staatsideologie. Eine Rolle, die für Putins Vorgänger im Kreml der Marxismus-Leninismus erfüllte.Nach seiner Wiederwahl hat Präsident Putin das traditionsreiche Kloster Walaam im Nordwesten Russlands besucht. Gläubige baten Putin, sie zu segnen. Und sie bedankten sich. Der Staat erfüllt der Kirche viele große und kleine Wünsche. Die Kirche forderte und bekam Immobilien zurück, die nach der Revolution von 1917 enteignet wurden. In den Museen ausgestellte Kulturschätze werden der Kirche zurückgegeben, die sie oft nicht sachgemäß aufbewahren kann. Das Staatsfernsehen berichtet ausführlich über Putins Kirchenbesuche. Moskau baut 200 neue Kirchen, trotz fehlender Kirchgänger und Proteste der Anwohner, wenn dafür Grünanlagen zugebaut werden. Der Patriarch hätte gerne sogar 600 neue Kirchen. An Weihnachten und Ostern zeigt das Staatsfernsehen live den andächtigen "Leader der Nation" Wladimir Wladimirowitsch Putin beim Gottesdienst. Wer gegen diesen Mann ist, ist auch gegen das Christentum.Seit Beginn der Massenproteste gegen Wahlmanipulationen in 2011 spaltet sich die russische Gesellschaft immer mehr: Putin-Wähler und Kirche auf der einen Seite, Regimekritiker auf der anderen. Am Anfang der Proteste sah es noch anders auch. Viele Kleriker haben sich dem Diktat des Kremls widersetzt. Auch Alexey Uminskiy war damals bereit, auf die Straße zu gehen."Die Kirche muss und kann den richtigen Ton finden, um den Staat zu entlarven. Nicht einfach nur rufen, 'ich will nichts mit Ihnen zu tun haben, Wladimir Wladimirowitsch!' Nein, wir sollten vernünftig mit ihm reden: 'Sie sollten an das aussterbende Volk ihres Landes denken, statt überall immer neue Präsidentenpaläste zu bauen. Bauen Sie lieber Häuser für die Menschen. Und tun Sie doch endlich etwas mit der Polizei, die auf das eigene Volk schießt!' In unserem Grundsatzpapier zur Sozialpolitik, das übrigens unser Patriarch Kyrill verfasst hat, steht ausdrücklich geschrieben: Wenn der Staat unmenschlich handelt, kann die Kirche das Volk zum Ungehorsam aufrufen. Das wäre wirkungsvoller als jede Revolution."Patriarch Kyrill hatte sich nach der ersten Massendemonstration als Vermittler angeboten. Das sollte ihm aber, wie manche Beobachter damals gemunkelt hatten, großen Ärger mit Putin eingebracht haben. Jedenfalls vollführte der Patriarch kurz darauf eine radikale Kehrtwende. Bei einem Treffen mit Putin sagte Kyrill in die Fernsehkameras, Putins Errungenschaften bei der Überwindung der Krise der 90er-Jahre seien ein "Wunder Gottes". Patriarch Kyrill glaube an Putin statt an Gott, sang zwei Wochen später die Künstlerinnengruppe Pussy Riot. Zwei weitere Wochen später durfte Kyrill dem Präsidenten zur Wiederwahl gratulieren. Die Fronten haben sich verfestigt."Als ich sie zum ersten Mal sah, war ich zutiefst angeekelt. Mir war, als sähe ich Kakerlaken vor mir, oder Ratten." Sergey Akhunov aus der Kirchengemeinde von Alexey Uminskiy sitzt im Cafe Coffee Bean vor seinem Notebook. Hier hatte er damals den Clip von Pussy Riot einmal angeklickt und gleich wieder ausgemacht. "Aber jetzt kann ich sie dahin gehend unterstützen, dass sie nicht ins Gefängnis gehören. Dafür gibt es einfach kein Gesetz. Wenn es so weiter geht, würden sie einen x-beliebigen von uns einsperren. Plötzlich wurde mir klar, dass ich auf ihrer Seite bin. So ein Paradox."Sergey Akhunov war bei allen Protestdemos dabei. Er ist Komponist für Klassik und Pop. Als Profi, sagt Akhunov, könne er mit der Musik von Pussy Riot nichts anfangen. In der Presse und im Internet erscheinen immer neue Negativschlagzeilen über die Kirche: Betrunkener Priester am Steuer des BMW-Sportwagens verursacht schweren Unfall. Patriarch Kyrill trägt eine Uhr für 30.000 Euro und fährt eine Limousine mit Blaulicht und Bodyguards, die ihm der Kreml zur Verfügung stellt. Orthodoxe Schläger reißen Passanten die T-Shirts vom Leib, weil darauf Pussy Riot abgebildet sind. Diagnose: Orthodoxie des Großhirns. Als OGH abgekürzt, verbreitet sich diese Schmähung durchs russische Internet. Fühlt sich der Komponist und Kirchengänger Sergey Akhunov angegriffen?"Nein, nicht im Geringsten. Im Gegenteil, es sind Dinge ans Licht gekommen, sehr schlimme Dinge, aber jetzt können wir endlich etwas dagegen tun. Gegen Obskurantismus und gegen Ideologien, die sich in der Orthodoxie ausbreiten, obwohl sie mit der Kirche nichts zu tun haben, geschweige denn mit Christus. Es ist überhaupt ein Wunder, dass ich in diese Kirche gehe, in die russisch-orthodoxe Kirche. Das ist noch ein Beweis, dass es dort Gott gibt. Denn mir liegt das alles so fern, all diese Bannerträger, diese ideologischen Dogmen. Weil ich eigentlich ein anti-religiöser Mensch bin."
Von Boris Schumatsky
80 Prozent der Russen bezeichnen sich als orthodox - dürften aber mit der radikalen Auslegung der Religion nicht einverstanden sein, wie sie zunehmend praktiziert wird. Teile der orthodoxen Kirche verstehen sich als moralische Letzt-Instanz, marionettieren mit der Putin'schen Führung - und treiben die Gesellschaft immer weiter auseinander.
"2012-12-28T18:40:00+01:00"
"2020-02-02T14:39:19.998000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/machtfaktor-kirche-in-russland-100.html
91,954
Steinbrück ohne Kraft
Eigentlich ist der Abend bis hierhin ganz gut gelaufen. Eine ordentliche, wenn auch mal wieder viel zu lange Rede, deftiger Applaus für den Kandidaten– und jetzt das: Da spielen die Genossen aus Westfalen für Peer Steinbrück extra ihre Bergmanns-Hymne – das Steigerlied, bei dem selbst hartgesottene Kumpel schon mal weiche Knie bekommen. Sogar den Text haben sie auf ihn umgemünzt – und was macht der Genosse Kandidat? Steht steif da, bleckt die Zähne und nimmt einen Schluck Pils. Wenigstens das, ein Weinglas hätte gerade noch gefehlt ... "Wir haben dir Bier mitgebracht, aus meinem Wahlkreis aus Soest..."Das hat sich Norbert Römer, sonst SPD-Fraktionschef in Düsseldorf, nicht nehmen lassen. "Sehr gut" dröhnt der Kandidat zurück. Doch Römer ist noch nicht fertig:"Und vor allem Genossinnen und Genossen – das ist das Wichtigste, Peer – ist Bier kein Pinot Grigio, also keine Gefahr in Verzug, kannste in Ruhe trinken."Der Pinot Grigio verfolgt ihn also bis nach Schwerte – oder besser jener schwache Moment, als Steinbrück letztes Jahr verlauten ließ, er trinke keinen Wein für fünf Euro die Flasche. Umso besser, dass jetzt zum Ende des Abends bierselige Stimmung durch das ausverkaufte Waldrestaurant Freischütz wabert. 750 Genossen haben Schinkenstullen mit ordentlich Zwiebel drauf verzehrt. Als Beilage gibt es Peer Steinbrück am Rednerpult:"Das, was ich der Partei hoch anrechne, ist, dass ich Solidarität, Unterstützung, mehr als das, Sympathie, empfangen habe in solchen Zeiten, wo es schwierig gewesen ist, wo ich auch euch Schwierigkeiten gemacht habe, und für diese Freundschaft aus den Reihen der Partei bin ich euch sehr, sehr dankbar."Dass der Kandidat der Partei den Roten Teppich ausrollt – und nicht umgekehrt – das finden sie gut – und durchaus überfällig, hier im tiefen Westfalen, einem Bezirk, der sich noch immer als Herzkammer der Sozialdemokratie versteht. Genau deshalb haben sie all diese Debatten satt, die ihr Kandidat ihnen in den letzten Monaten eingebrockt hat: Nebeneinkünfte, Kanzlergehalt, ein Internetblog finanziert von reichen Wirtschaftsbossen. Unmut und Ratlosigkeit steht der Basis ins Gesicht geschrieben, aber sagen will es erst mal niemand:"Diese sogenannten Fettnäpfchen, die es ja nicht unbedingt gegeben hat, die hat man ja nun hochstilisiert. Den Mann zu verstehen, ist ja gar nicht einfach, ist ein Intellektueller."Ob Hans-Dieter, der nur seinen Vornamen nennen möchte, das als Kompliment meint, bleibt offen. Auch Alwin Grundorff aus Bitburg windet sich zunächst:"Jaa, also bis jetzt hat man ja nicht so besonders viel Aktives gehört, aber die Ideen, die er hat, die find ich ganz gut. Zum Beispiel den Banken auf die Finger hauen, das ist für mich das Wichtigste, das Allerwichtigste!""Ich bin eigentlich von seinen Fähigkeiten überzeugt ..."Sagt Lieselotte Glasow. Aber:"Er muss noch ein bisschen volkstümlicher werden, das ist vielleicht das, was ihm fehlt."Noch jemand fehlt hier an diesem Abend – Hannelore Kraft, die Landesmutter, die mit einer Magengrippe zuhause im Bett bleiben musste."Die kommt nicht?!? Das hab ich noch gar nicht erfahren ... ja, dann freu ich mich eben nur auf den Kandidaten ..."Begeisterung klingt anders. So wie Lieselotte Glasow braucht man sie alle im Saal nur nach ihrer Landesvorsitzenden, ihrer Ministerpräsidentin, ihrer heimlichen Kanzlerkandidatin der Herzen zu fragen, und schon hellen sich die Mienen auf. "Hannelore Kraft ist unsere absolute Nummer Eins. Also ich hätte mir natürlich sehr gewünscht, wenn Hannelore Kraft gesagt hätte, sie würde es machen, muss ich ganz ehrlich sagen, wenn sie sich entschieden hätte und wäre auch nach Berlin gegangen, dann wäre sie die Nummer Eins geworden und nicht er."Peer Steinbrück ist ein Kandidat, den sie aus Vernunft und Solidarität unterstützen, aber mehr dann auch nicht. Also bleibt Steinbrück an diesem Abend nur eins: die Flucht nach vorn. Warme Worte für Hannelore Kraft, um ein bisschen mehr Sympathie für sich selbst abzuschöpfen. Denn weder er noch die 750 Genossen im Saal haben die Landtagswahl 2005 vergessen, als Steinbrück in NRW verlor und die SPD nach 39 Jahren aus der Regierung flog:"Und dass Hannelore nicht nur eine Spitzenkandidatin erster Klasse gewesen ist im Mai 2010, sondern zwei Jahre später eine exzellente Ministerpräsidentin, die hier eine stabile Regierung mit den Grünen zusammengebracht hat, das freut mich auch vor dem Hintergrund meiner eigenen Niederlage 2005, und das macht die Narbe erträglicher, die ich da irgendwo auf meinem Rücken trage.""NRW im Herzen" steht auf dem Rednerpult in Schwerte – ein Slogan, der das Image von Hannelore Kraft geprägt und ihre Beliebtheitswerte mit nach oben katapultiert hat. Jetzt, da Steinbrück auf der Bühne steht, wirkt der Satz kontraproduktiv. Der Kandidat hat nicht NRW im Herzen, sondern Berlin im Kopf. Möglicherweise ist er auch deshalb an diesem Abend der einzige Redner, der der kranken Hannelore Kraft keine Genesungswünsche zuruft. Dabei wirkt das wie eine Applausmaschine: Krafts treuer Parteifreund Norbert Römer weiß das:"Also Glückauf für Hannelore Kraft, damit sie schnell wieder bei uns ist!"Und gerade weil die Genossen in Schwerte NRW im Herzen haben, folgt zum Abschluss die Überraschung mit dem Steigerlied. Bei solchen Gelegenheiten verteilt Hannelore Kraft gern Kusshändchen, und sie umarmt jeden. Steinbrück steht da und trinkt Pils.
Von Barbara Schmidt-Mattern
Peer Steinbrück steht für vieles, sicher aber nicht für Emotionen und Herz. Dafür soll stattdessen Hannelore Kraft sorgen, die für manchen Sozialdemokraten ohnehin die Kanzlerkandidatin der Herzen ist. Doch die Premiere Steinbrück mit Kraft fiel in Nordrhein-Westfalen prompt aus.
"2013-02-14T19:15:00+01:00"
"2020-02-01T16:07:47.356000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/steinbrueck-ohne-kraft-100.html
91,955
Russland droht Journalisten mit weiteren Konsequenzen
In den USA und in Russland werden einzelne Journalisten zu "Agenten" erklärt (picture alliance / dpa / Rolf Kremming) In den USA ist das "Agenten"-Gesetz für Auslandsmedien ursprünglich ins Leben gerufen worden, um gegen Nazi-Propaganda im Land vorzugehen, sagt Cindy Saine im Gespräch mit dem Dlf. Es richtete sich dabei nicht nur an Geheimagenten, sondern auch an Berufsgruppen, die aus den USA für die Regierung ihres jeweiligen Heimatlandes tätig waren. Seit einigen Tagen nun arbeitet der US-amerikanische Ableger von "Russia Today" unter dem "Agenten"-Status. Der Inhalt der Arbeit des Senders, der in den USA über Kabel zu empfangen ist, sei von der Registrierung aber nicht betroffen, so Saine. Der Sender sei dadurch allerdings verpflichtet, seine Finanzierungsquellen offenzulegen. Saine habe im öffentlich zugänglichen Bereich des US-Geheimdienstes die Informationen gefunden, dass RT "konstant negativ" im US-Wahlkampf über die demokratische Kandidatin Hillary Clinton berichtet habe. Während die Berichterstattung über Donald Trump positiv gewesen sei. "Deshalb sagen jetzt die Geheimdienste, dass RT nicht als normales Medium funktioniert, sondern dass das ein Propaganda-Instrument des Kreml ist." Als Eingriff in die Pressefreiheit will Cindy Saine das US-Gesetz nicht betrachtet wissen: "Ich glaube, dass das (die Registrierung von RT als "Agent", Anmerkung der Red.) ein Sonderfall ist." Zur gesetzlichen Maßnahme Russlands in dieser Woche, im eigenen Land nun die Auslandsmedien "Radio Liberty" und "Voice of America" ebenfalls zu "Agenten" zu erklären, sagte Saine, Kollegen hätten ihr berichtet, dass entsprechende Mitteilungsbriefe an die beiden Medien verschickt worden seien. Es seien allerdings weitere Konsequenzen für die Mitarbeiter dieser Sender in Russland zu befürchten: Wenn sich die Mitarbeiter von Radio Europe und Voice of America nicht für zwei Jahre registrieren lassen würden, könnte es passieren, dass sie ins Gefängnis müssten und "monatliche Berichte abliefern" müssten: "Es sieht so aus, als würde das weiter (gehen) als hier in den USA."
Die US-Journalistin Cindy Saine im Gespräch mit Sebastian Wellendorf
In Russland wurde in dieser Woche ein neues Gesetz verabschiedet, das ausländische Medien wie Radio Liberty und Voice of America zu "Agenten" erklärt. Zuvor hatten die USA Russia Today zu einer Registrierung gezwungen. Ist es um die Pressefreiheit in beiden Ländern also schlecht bestellt?
"2017-11-17T15:35:00+01:00"
"2020-01-28T11:01:23.366000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/auslandsmedien-russland-droht-journalisten-mit-weiteren-100.html
91,956
"In erster Linie natürlich der Kampf gegen Überwachung"
Manfred Kloiber: Willkommen zu "Forschung aktuell", heute live vom 29C3 in Hamburg, dem Event für alle, die gerne hacken und sich auch sonst kritisch mit Informations- und Kommunikationstechnik beschäftigen. Bis Sonntag treffen sich hier mehr als 6000 Hacker aus ganz Europa auf dem 29. Chaos Communication Congress, um über Informationssicherheit und Datenschutz zu diskutieren. Aber auch, um gemeinsam an Elektronikprojekten oder Informationstechnikprojekten zu arbeiten. Aus Hamburg begrüßt Sie Manfred Kloiber. "Not my department" lautet das diesjährige Motto des Kongresses und Eröffnungsredner Jacob Appelbaum, ein prominenter amerikanischer Hacker, hat dieses Motto immer wieder als Appell geäußert – mache es zu deiner Sache! Aber: Was genau sollen denn die Netzaktivisten, soll die Netzgemeinde, sollen die Internetnutzer zu ihrer Angelegenheit machen, Peter Welchering? Peter Welchering: Da gibt es eine ganze Menge an Themen – in erster Linie natürlich der Kampf gegen Überwachung, gegen den Überwachungsstaat. Das hat sich quasi wie ein roter Faden durch die Keynote von Jacob Appelbaum hindurchgezogen. Und dann natürlich auch den Kampf gegen Datenspionage, den Kampf gegen Verletzung der Privatsphäre. Jacob Appelbaum hat damit sozusagen den Bogen über den 29C3 geschlagen. Denn der bietet eine Menge Veranstaltungen zu genau diesem Themenkreis; es geht um Vorratsdatenspeicherung, es geht um dieses europäische Projekt Indect, also Videoüberwachung, die zusammengeführt werden soll mit Daten aus den sozialen Netzwerken. Es geht um den Staatstrojaner und um die Online-Durchsuchung. Das alles hat Appelbaum heute Vormittag eben eingeordnet und in einen Zusammenhang gestellt. Und dieser Zusammenhang heißt – besonders gerichtet an die Entwickler: Setzt Euch ein für die freie Software, für die Freiheit, statt herstellereigener Software für die Überwachung. Kloiber: Das klingt ja noch ein bisschen unkonkret. Und sonst sind wir ja von den Eröffnungsreden auf dem Chaos Communication Congress Informationen über mehr, ich sage mal konkrete Projekte gewohnt. Welchering: Ja, konkret wurde es auch ein wenig. Und zwar ging es da um das neue Datenzentrum des Technischen Geheimdienstes der USA, nämlich die National Security Agency. Aber in der Tat: Das war eine sehr politische Keynote, politischer und engagierter, als man das auf den vergangenen Kongressen erleben konnte. Und die Teilnehmer im übrigens vollbesetzten Saal 1 des Hamburger Kongresszentrums haben diese politische Rede auch mit zahlreichem Zwischenapplaus und am Ende auch mit, naja man könnte sagen Standing Ovations bedacht. Also sie sind wirklich aufgestanden. Das ist bei Hackern, glaube ich, nicht so selbstverständlich. Die Botschaft von Jacob Appelbaum war auch ganz klar: Die Unterscheidung zwischen den Black Hats – also den bösen Hackern – und den White Hats, den guten Hackern, ist unsinnig geworden. Auch die guten Hacker müssen sich klar machen: Heute arbeiten sie beispielsweise in einem Projekt, werden aufgekauft, und fortan werden ihre Ergebnisse, wird ihre Software für Überwachung eingesetzt. Es gibt also nur noch die Unterscheidung zwischen Systemen, die uns helfen, und Systemen, die uns überwachen. Und diesen Dual Use, also diesen Gebrauch von Software für schlechte wie für gute Zwecke, hat er dabei sehr stark betont. Die zweite Botschaft lautet: Das Netz ist eben keine Parallelwelt, sondern Netzüberwachung greift direkt konkret in unser konkretes, wenn man so will analoges Leben ein. Kloiber: Und wie wird dieser Zusammenhang von Netz und der analogen Wirklichkeit, die uns umgibt, die immer da ist, auf dem Kongress hier in Hamburg diskutiert? Welchering: An Beispielen wie etwa Indect, diesem europäischen Projekt, das seit 2009 läuft – zur Videoüberwachung -, das dann allerdings auch eine Software letztlich am Ende entwickeln soll, mit dem Verhaltensanalyse gemacht werden soll, das sogar Verhalten vorhersagen soll. Also auf einem Bahnsteig beispielsweise dann eingesetzt, soll tatsächlich dann Indect sagen können: Hier verhält sich jemand ... das könnte ein Terrorist sein. Nehmt ihn fest! – ohne dass weitere Gründe dann noch vorliegen. Und ein zweites Beispiel: die Deep Packet Inspection, also die Untersuchung von Datenpäckchen. Einerseits kann das den Netzbetrieb stabil halten, andererseits hat die Auswertung der Datenpäckchen aber auch Konsequenzen: Es kann einfach spioniert werden. Flächendeckende Überwachung ist da natürlich möglich. Und Appelbaum hat in seiner Eröffnungsrede eben die Konsequenzen aus all diesen Projekten gezogen – und die lautet für ihn: staatliche Behörden und große Unternehmen sind an möglichst lückenloser Überwachung interessiert und arbeiten deshalb zusammen. Kloiber: Und hat er noch eine weitere Konsequenz daraus gezogen? Welchering: Ja: Überwacht die Überwacher! Zeigt immer dann, wenn Ihr seht, da steht ein Scanner für Kfz-Kennzeichen, zeigt die an, macht das öffentlich, bloggt darüber, richtet Knotenpunkte ein für beispielsweise das Anonymisierungsnetzwerk TOR. Und vor allen Dingen: Macht all dies zu Eurer Angelegenheit, macht all dies zu Euren Sachen und werbt dafür. Wir müssen uns aktiv dafür einsetzen. Wir müssen Software entwickeln, über deren Gebrauch wir auch weiterhin entscheiden sollen. Und haltet es mit Tom Lehrer – das war ja ein Aktivist, der in Anspielung auf Wernher von Braun gesagt hat, Ihr müsst Eure Sachen tatsächlich durchsetzen: Nicht meine Angelegenheit/not my department – das gibt’s hier nicht! Sonderseite zum Chaos Communication Congress
null
Zum 29. Mal hält der Chaos Computer Club sein alljährliches Hackertreffen ab, den Chaos Communication Congress. IT-Journalist Peter Welchering berichtet im Gespräch von der gefeierten Eröffnungsrede und erläutert die diesjährigen Themen der Veranstaltung.
"2012-12-27T16:35:00+01:00"
"2020-02-02T14:39:08.066000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/in-erster-linie-natuerlich-der-kampf-gegen-ueberwachung-100.html
91,958
Mittelaltermarkt, Ritterturnier und nachgestellte Schlachten
Eine nachgestellte Szene der Schlacht von Brest am 22. Juni 1941 (picture-alliance/dpa/ Tatyana Zenkovich) Mit klingendem Spiel marschiert eine Militärkapelle in historischen Kostümen über ein abgeerntetes Feld. Etwas entfernt ziehen anders Kostümierte eine altertümliche Kanone über den Acker. Ab und zu wird aus dieser und anderen geschossen. Das war sie, die Völkerschlacht zu Leipzig des Jahres 2013, zwei Jahrhunderte nach dem mörderischen Treffen. 6000 Komparsen und Zehntausende Zuschauer waren da, und hatten ihre jeweils eigene Freude daran. Frevel an der Geschichte? Nein, sagt Wolfgang Hochbruck, Professor für Amerika-Studien an der Uni Freiburg. "Geschichtstheater" hat er sein jüngstes Buch genannt. "Man spielt eine Schlacht nach eben als Spiel. Es geht nicht darum, einen Krieg zu verherrlichen, so, wie er geführt worden ist, sondern sich selbst und gegenseitig in dieser Nachinszenierung zu versichern, dass das vorbei ist. Dass das etwas ist, was in der Vergangenheit liegt und in dieser Vergangenheit gesichert abgespeichert werden kann. Und dass die ehemaligen Gegner sich jetzt gegenüberstehen können, ohne dass es jetzt noch irgendwelche Animositäten gibt." Diese "Re-enactment" genannten Nachspiele als Kulturtechnik zu analysieren, nahm breiten Raum auf der Potsdamer Tagung ein. Dr. Stefanie Samida, involviert in das Tübinger Forschungsprojekt "Living History", lief ein Stück mit auf einem Feldzug, den Kaiser Caracalla vor 1800 Jahren gegen die Germanen führte. Wobei der Weg das Ziel der neuntägigen Aktion war: "Wir wollen mal gucken, wie die Ausrüstung auf bestimmte Sachen reagiert hat: Wenn ich in den Schuhen laufe - wie halten die sich? Oder wenn ich mein Schild auf dem Rücken trage - was passiert dann? Gibt es irgendwelche Druckstellen? Können die das so getragen haben in der Römerzeit?" Geschichtswissen wird sich über Selbsterfahrung angeeignet, die bis zur Schmerzgrenze reicht. In diesem Falle waren es Blasen: Genagelte Sandalen und Asphalt - da vertrugen sich Vergangenheit und Gegenwart schlecht. Derartige Detailversessenheit sei kein Einzelfall, stellt Professor Frank Bösch, Historiker und Direktor des Potsdamer Zentrums für Zeithistorische Forschung fest: "Eine Erkenntnis unserer Tagung ist, dass das Objekt dasjenige ist, dem die höchste Authentizität zugesprochen wird; wo die Detailgenauigkeit ganz stark überwiegt, während in anderen Formen etwa des Handelns, des sozialgeschichtlichen Kontext oder auch des Sprechens eine relativ große Toleranz besteht, wie genau Dinge rekonstruiert werden oder nicht." Nähe suchen zum einstigen Original Auch viele der Vereine, die sich als Römer, Hunnen oder Germanen in den "Kölner Stämmen" gesammelt haben, suchen quasi wissenschaftlich die Nähe zum einstigen Original. Anderen läge eher das Karnevaleske näher, sagt die Ethnologin Anja Dreschke von der Uni Siegen. Sie hat einen Film über die Stämme gedreht und vor allem deren spirituellen Praktiken untersucht. "Beispielsweise gibt es in den Vereinen Schamanen, die Rituale durchführen: Taufen; Hochzeiten, die dann als hunnische Hochzeiten gefeiert werden, haben durchaus einen Stellenwert, der dann im Alltagsleben eine Relevanz hat. Es gibt viele, die nach der standesamtlichen Zeremonie jetzt keine kirchliche Trauung anhängen, sondern eine hunnische Hochzeit feiern." Wer so etwas macht, kann in den Verdacht geraten, mit dem Heute nicht klar zu kommen. "Häufig gibt's ja auch die Annahme, dass es darum geht, in eine einfachere Welt mit klareren Regeln zu flüchten. Ich würde aber genau das Gegenteil argumentieren: Es geht darum, eine Welt zu haben, die wesentlich komplexer ist als die Alltagswelt, und in der es Möglichkeiten gibt, Regeln auszuhandeln, permanent. Da geht's halt auch um das Aushandeln von dem, was man als authentisch empfindet: Wie macht man das eigentlich? Und das ist jetzt vielleicht kein akademischer Diskurs, aber eine Form von Wissenskultur." Darum geht es den meisten Menschen, die Geschichte leben wollen. Ausnahmen bilden Neonazis, die an den Germanenkult der Faschisten anknüpfen, um sich ideologisch "aufzuladen". Frank Bösch fand im Internet die Mitteilung eines Neonazis, der als Komparse im Film "Der Untergang" mitgewirkt hatte und sich beklagte, dass jene Szene herausgeschnitten worden sei, wo er dem "Führer" die Hand geschüttelt habe. "Er berichtete auch, dass die Komparsen, die in Nazi-Uniform in diesem Film stehen, sich Zeichen geben, sich erkennen würden und es auch wirklich genießen in diesen Szenen, in der nachgespielten Umgebung des Dritten Reiches zu stehen." Auch die medial vermittelte Historie wurde auf der Tagung besprochen. "Denn auch wenn wir in vermittelter Form, im Kino beispielsweise, Geschichte erleben, erleben wir sie körperlich, das heißt mit Emotionen, mit Reaktionen über den Körper." "Situationen aufsuchen, die in der Zukunft als historisch gelten" Wobei es nicht so sei, dass Berichte oder Inszenierungen im Fernsehen oder Kino den eigentlichen Originalen den Rang abgelaufen hätten. Frank Bösch meint sogar, dass die allgegenwärtige Medienwelt Geschichte schaffe: "Nämlich, dass die zunehmende Auseinandersetzung mit dem Erleben von Geschichte dazu führt, dass Menschen Situationen aufsuchen, die in der Zukunft als historisch gelten." Als Beispiel führte er unter anderem die "Yes-we-can"-Rede Barack Obamas in Berlin an. Fast eine Viertelmillion Menschen war dabei. Zum anderen wurde das Aufsuchen der in den Medien gesehenen Originale zum Bestandteil des Massentourismus. Anfänge gab es bereits im Ersten Weltkrieg, sagt die Historikerin Dr. Susanne Brandt von der Uni Düsseldorf: Die unglaublichen Zerstörungen, von denen die Zeitungen berichteten, wollten viele selbst in Augenschein nehmen. In den 1930 Jahren hatten französische Weltkriegsteilnehmer die Idee, im 1916 restlos zerstörten Fleury bei Verdun ein Museum zu schaffen, was jedoch erst 1967 eröffnet wurde. "Das war vollgestellt mit Objekten; minimale Beschreibung, weil einfach alle wussten, was da zu sehen ist und was diese Objekte 'bedeuten'. Die Museen merken jetzt, dass das für die neuen Besucher nicht reicht. Dass die ganz viel erklärt haben müssen." Andere Museen entstanden, die Informationen emotional wirksamer vermitteln; das Museum in Fleury wird bis 2016 umfassend erweitert. Allerdings können Emotionen allein kein Wissen von Geschichte schaffen, sagt Dr. Juliane Brauer vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Berlin. "Angst im Mittelalter können wir einfach nicht nachfühlen, auch wenn wir sagen: Wir kennen das Gefühl Angst. Aber das einzufordern in Re-enactments oder History Settings würde bedeuten, etwas einzufordern, was gar nicht zu haben ist." Womit sie nicht für eine Ent-Emotionalisierung des historischen Lernens spricht. Statt des Nachfühlen-Sollens von Angst zum Beispiel käme für sie das Nachdenken über die Wandlung von Emotionen im historischen Prozess in Frage. "Wenn man mit Lernenden Mittelalter erarbeitet, dann eben nicht über Herrschaft und Gesellschaft nachzudenken, sondern über Angst. Und das wäre ein Anreiz, wo Emotionen eine positive Wirkung in Lernprozessen haben können. Aber nicht diese Forderung von Nachbilden, Nachfühlen, Nachempfinden - das schlägt fehl, und das würde zu einer Überforderung führen und zu einer Abwehrhaltung."
Von Christian Forberg
Geschichte und geschichtliche Ereignisse nachzuerleben, das reizt viele, auch Wissenschaftler. Spannend für sie sind weniger die Fantasiewelten auf Mittelaltermärkten, sondern mehr die lebensecht und authentisch nachgestellten Geschichtsereignisse, wie zum Beispiel große Schlachten.
"2014-07-10T20:10:00+02:00"
"2020-01-31T13:52:17.345000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/geschichte-als-erlebnis-mittelaltermarkt-ritterturnier-und-100.html
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Oliver Schröm, Andrea Röpke: Stille Hilfe für braune Kameraden. Das geheime Netzwerk der Alt- und Neonazis
Tränen liefen der alten Frau über die Wangen. Sie überschüttete Finkelgruen mit Erinnerungen, darunter auch zahlreichen an die Kleine Festung in Theresienstadt, wo sie ihren Mann und ihren Sohn verloren hatte. Dort war auch Finkelgruens Großvater ermordet worden, wie er aus Erzählungen seiner Großmutter wusste. Allerdings hatte sie ihm nie gesagt, auf welche Weise er zu Tode gekommen war. Bela Krausová kannte die näheren Umstände, sie wusste sogar den Namen des Mörders. "Dieser Malloth hat ihn erschlagen", sagte die alte Frau völlig unvermittelt. "Mit diesem Juden werden wir auch noch fertig. Den werden wir erledigen", soll er geäußert haben, als er auf Finkelgruens Großvater einprügelte und auf ihm herumtrampelte. "Vor ihm, diesem Schläger, haben wir alle Angst gehabt", erinnerte sich Bela Krausová. "Man nannte ihn den 'schönen Toni'." Finkelgruen brauchte ein paar Sekunden, bis er begriff. Der Name des Mannes, der seinen Großvater vor 47 Jahren, am 10.Mai 1942, ermordet hatte, kam ihm irgendwie bekannt vor, er hatte ihn schon einmal gehört. Er grübelte eine Weile. Plötzlich kam ihm die Zeitungsmeldung wieder in den Sinn, die er vor einem halben Jahr in Piräus gelesen hatte. Hieß nicht auch jener Mann, der von Italien nach Deutschland abgeschoben worden war und gegen den der deutsche Staatsanwalt "keinen hinreichenden Tatverdacht" gesehen hatte, Malloth? Je länger er darüber nachdachte, desto sicherer wurde er. Das bedeutete: Der Mörder seines Großvaters war noch auf freiem Fuß. (...) Er fuhr zurück nach Deutschland, setzte sich an seine Schreibmaschine und formulierte eine Anzeige wegen Mordes. Es war der 24.Februar 1989. Mehr als zwölf Jahre sollten nach dieser Anzeige des Journalisten Peter Finkelgruen ins Land gehen, bis der ehemalige SS-Scharführer Anton Malloth vor ein deutsches Gericht gestellt und verurteilt wurde - im Alter von 89 Jahren, mehr als ein halbes Jahrhundert nach seinen Verbrechen im Gestapo-Gefängnis Kleine Festung Theresienstadt. In der Zwischenzeit war es dem gebürtigen Südtiroler nicht schlecht ergangen. 1948 in Tschechien in Abwesenheit zum Tode verurteilt, war er nach Italien geflohen. Obwohl er auf der Fahndungsliste der Kommission für Kriegverbrechen stand, lebte er 40 Jahre lang als Deutscher unbehelligt in Meran. Als er endlich 1988 in die Bundesrepublik abgeschoben wurde, erkannte Oberstaatsanwalt Klaus Schacht, immerhin Leiter der Zentralstelle für die Bearbeitung von nationalsozialistischen Massenverbrechen im Land Nordrhein-Westfalen: kein dringender Tatverdacht. Unterdessen hatte sich Anton Malloth an Freunde aus alten Tagen gewandt: Ich bin in einer furchtbaren Lage, habe keinen Rechtsschutz und wäre für den Fall eines Prozesses nicht haftfähig. Untergebracht bin ich vom Sozialamt München in einem Wohnheim für Alkoholiker, Homosexuelle und Penner. Ich bitte Sie, mich dort herauszuholen und mir zu helfen, da ich völlig mittellos bin. Und dem armen Manne, Besitzer eines großen Hauses in Meran, wurde geholfen. Gudrun Burwitz nahm sich höchstpersönlich seiner Sache an. Die Tochter Heinrich Himmlers, eine Art graue Eminenz der rechten Szene in Deutschland, sorgte dafür, dass Anton Malloth in ein komfortables Altersheim umziehen konnte und dort jahrelang unbehelligt blieb - die Kosten für die Unterbringung übernahm das Sozialamt. Gudrun Burwitz ist eine der tragenden Säulen der "Stillen Hilfe für Internierte und Kriegsgefangene", einem Verein, der jahrzehntelang aufgrund von Gemeinnützigkeit keine Steuern bezahlen musste. Einem Verein, der nicht nur als die erste Neonaziorganisation in der Bundesrepublik gelten kann, sondern der auch das Netz der braunen Kameraden nach dem Krieg weiterwob und eine ungebrochene Kontinuität bewirkte, auf die die rechte Szene heute aufbauen kann. Erste Vorsitzende des Vereins war eine Frau: Prinzessin Helene-Elisabeth von Isenburg, eine überzeugte Katholikin, die von der zuständigen NSDAP-Ortsgruppe einst als "politisch zuverlässig" eingestuft worden war. Gleich nach Kriegsende hatte die Prinzessin ihr Herz für verurteilte NS-Verbrecher entdeckt, die im bayerischen Gefängnis von Landsberg am Lech inhaftiert waren. Um die Begnadigung der Kriegsverbrecher zu erreichen, war der Prinzessin jedes Mittel recht. Vertrauensvoll wendete sie sich auch an den Heiligen Stuhl in Rom. "Ich kenne jeden, um den es geht. Niemand kann mehr von Schuld und Verbrechen reden, der in ihre Seelen geschaut hat", versuchte sie Papst Pius XII. für ihr Anliegen zu gewinnen. "Es bittet Dich, heiliger Vater, ganz im Vertrauen, die Mutter der Landsberger." Ihr Aufruf vom 4. November 1950 blieb nicht ungehört. Sechs Tage später, am 10.November, versprach Pius XII. der Prinzessin, "dass von Rom aus alles getan wird, um den Landsbergern das Leben zu retten". Kriegsverbrecher und sonstige Altnazis, die in Deutschland oder anderswo vor Gericht standen, kamen in den Genuss von Mitteln aus der Stillen Hilfe. Was die Autoren Oliver Schröm und Andrea Röpke an Material zusammengetragen haben, erschüttert aber weniger aufgrund der Tatsache, dass sich hier Ewiggestrige gegenseitig unterstützen. Der eigentliche Skandal, der aufgedeckt wird, liegt an dem Zusammenspiel zwischen Stiller Hilfe, kirchlichen Kreisen, Justiz und Politik. Ein Mörder wie Anton Malloth konnte nur deswegen so lange unbehelligt bleiben, weil die deutsche Justiz, verkörpert durch Oberstaatsanwalt Klaus Schacht, sich schlichtweg weigerte zu handeln. Nur der Hartnäckigkeit eines einzelnen Mannes, nämlich des schon erwähnten Peter Finkelgruen, ist es zu verdanken, dass Malloth nicht davon kam. Und dem Zufall, dass die Unterlagen in die Hände des Münchener Staatsanwalts Konstantin Kuchenbauer gelangten, der innerhalb weniger Monate das schaffte, was seinem Kollegen Schacht über zehn Jahre nicht gelingen wollte: nämlich Malloth vor Gericht zu bringen. Die Geschichte des Peter Finkelgruen ist der rote Faden dieses spannend geschriebenen Buches, das die Vergangenheit und die Gegenwart der Stillen Hilfe schildert und das einen hilflos und wütend macht. Wütend angesichts der Tatenlosigkeit gegenüber einem braunen Netzwerk, die man vielleicht auch als Sympathie auslegen könnte. Ein Beispiel: Alois Brunner, rechte Hand Eichmanns und verantwortlich für den Tod von über 128.000 Menschen, stand nie persönlich vor einem Gericht. Brunner alias Fischer konnte sich auch in Deutschland auf Freunde an entscheidenden Stellen verlassen. 1968, er stand längst auf der internationalen Fahndungsliste für NS-Kriegsverbrecher, ließ beispielsweise das Bonner Außenministerium diskret nach ihm suchen - allein um ihn vor Bestrafung zu warnen. Das Auswärtige Amt beauftragte damals den Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes, nach insgesamt 800 Deutschen und Österreichern zu fahnden, die in Abwesenheit von französischen Gerichten wegen Kriegsverbrechen verurteilt worden waren. Man wollte sie "über Schwierigkeiten unterrichten, die einem im Ausland drohen können", wie es in einem internen Papier des Amtes hieß. Als die diskret behandelte Aktion (DRK-Code: "Warndienst West") durch eine Panne aufflog, gab es weltweit Proteste. Das Auswärtige Amt hingegen fand, die Warnaktion sei "kein Prozess, der zu kritisieren ist". Und die Leitung des DRK-Suchdienstes verkündete gar, "ein volles gutes Rotkreuzgewissen bei dieser Sache" zu haben. Ein gutes Gewissen hatten auch all die Politiker, die der Stillen Hilfe jahrelang Unbedenklichkeit bescheinigten oder sie verharmlosten, von Franz-Josef Strauß bis Karl-Heinz Funke. Und die auch heute nicht eingreifen, wenn das Zusammenspiel von jungen und alten Nazis beispielsweise in der sogenannten "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und ihrer Angehörigen" deutlich wird oder wenn Gudrun Burwitz, die Tochter Heinrich Himmlers, bei den Jahresfeiern der "Kameradschaft Freikorps und Bund Oberland" und der "Deutschen Patrioten" die Huldigungen ihrer Verehrer - jungen und alten - entgegennimmt. Auch ein Verbot der Stillen Hilfe steht nicht zu Debatte. Am 15. November 2001 können die alten und neuen Kameraden den 50. Geburtstag ihres Vereins feiern. Da erscheint das Urteil gegen einen wie Anton Malloth wie ein Tropfen auf dem heißen Stein - wären da nicht immer noch die Opfer, wie der fast 80-jährige Tscheche Albert Meyer, einer der Zeugen im Prozess, denen wenigstens ein bisschen Gerechtigkeit widerfahren durfte: Albert Meyer: Man kann sowohl mit der Prozessführung als auch mit der Staatsanwaltschaft als auch mit dem Urteil zufrieden sein. Wichtig ist, dass das die deutsche Öffentlichkeit erfährt und dass die deutsche Öffentlichkeit die Begründung erfährt. Das ist eine Genugtuung gegenüber den Toten, gegenüber denen, die nicht zurückgekehrt sind. Brigitte Baetz über: Oliver Schröm und Andrea Röpke: Stille Hilfe für braune Kameraden. Das geheime Netzwerk der Alt-und Neonazis. Erschienen im Christoph Links Verlag, Berlin, 200 Seiten zum Preis von DM 29,80.
Brigitte Baetz
Mit Marcus Heumann am Mikrofon - guten Abend und Willkommen. Die erste Neuerscheinung, die wir Ihnen heute vorstellen, ist ein Buch, über dessen Inhalt man zuweilen verzweifeln möchte. Denn es beschäftigt sich nicht nur mit einem seit 50 Jahren von hohen deutschen Politikern geduldeten und mitunter sogar protegierten Netzwerk von Alt- und Neonazis in dieser Republik - es beschäftigt sich auch mit der Geschichte eines deutschen Justizskandals, der, obwohl er schon seit Jahrzehnten schwelt, einer breiten Öffentlichkeit erst in den vergangenen Wochen bekannt wurde: Es ist der Fall des ehemaligen SS-Scharführers und Gefängnisaufsehers Anton Malloth, der erst unlängst wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt wurde - nachdem das Verfahren gegen ihn zuvor dreimal eingestellt worden war. Malloth hat Revision eingelegt - anscheinend ist er noch immer überzeugt, ungeschoren davonzukommen. Kein Wunder eigentlich, denn schließlich haben deutsche Behörden den SS-Mann Jahrzehnte lang äußerst wohlwollend behandelt. Wie wohlwollend - das enthüllt ein neues Buch aus dem Berliner Christoph Links Verlag.
"2001-06-11T19:15:00+02:00"
"2020-02-04T11:04:42.430000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/oliver-schroem-andrea-roepke-stille-hilfe-fuer-braune-100.html
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"Viele erkennen, wie dringend notwendig dieses Instrument ist"
Handball-Torwart Johannes Bitter ist Mitgründer der Handball-Spielerorganisation GOAL (imago / masterpress) Spielergewerkschaften haben in Deutschland noch keine lange Tradition. Besonders in der Coronakrise erkennen AthletInnen jedoch ihren Vorteil, wenn es zum Beispiel um Gehaltskürzungen und Verträge geht. Nun überlegen auch Spieler der Deutschen Eishockey-Liga DEL, eine Spielergewerkschaft zu gründen – weil sie über geplante Gehaltseinbußen über die Nachrichten erfahren haben. Einer, der die Gründung einer Spielergewerkschaft schon hinter sich gebracht hat, ist Handball-Nationaltorwart Johannes Bitter. Er ist einer der Mitgründer der Handball-Spielerorganisation GOAL und leitet diese ehrenamtlich. "In jeder Krise steckt auch eine Chance" In der Coronakrise erfahre die Gewerkschaft enormen Zuspruch, erklärte Bitter im Dlf. "Viele erkennen einfach, wie dringend notwendig dieses Instrument ist." Sie würden merken, dass es nicht immer bergauf gehe. Für die Spieler sei es wichtig zu wissen, dass man Mitbestimmungsrechte habe. Zudem sei der Wille da, den Sport weiterzuentwickeln. "Wer kann das denn in gewissen Bereichen besser als die Sportler selber?", meint Bitter. Subotic - "Wir Spieler wurden informiert, als alle Entscheidungen gefallen sind"Beim Konzept zum Neustart der Bundesliga hätten die Spieler "keine partizipative Rolle gespielt", sagte Fußballprofi Neven Subotic im Dlf. In anderen Ligen habe die Stimme der Spieler mehr Gewicht als in Deutschland. Sportlerinnen und Sportler, die in Betracht ziehen, eine Spielergewerkschaft zu gründen, müssten einiges beachten. Neben der Form der Gründung und steuerlichen Aspekten müssten auch überzeugende Charaktere die Gewerkschaft prägen, um so eine breite Masse zu erreichen. Gut sei, wenn sich zum Beispiel die Nationalmannschaft oder die Top-Clubs der Ligen zu einer Gewerkschaft bekennen. Zurzeit sei die Lage für viele Spieler sehr akut "da es ums Geld geht, und um Gehaltskürzungen". Da sei ein Commitment sehr wichtig, damit die Spieler einen Benefit sehen, so Bitter. Es geht nicht ums "Krawall machen" Es gehe als Gewerkschaft nicht nur darum "Krawall zu machen". Streik sei beispielsweise nur das letzte mögliche Druckmittel. Aktuell gehe es vielmehr darum, "dass man einen Konsens findet, wie man diese schwierige Zeit überlebt. Dass mit den Spielern ehrlich umgegangen wird." In der Coronakrise gebe es bei vielen Spielern große Unsicherheiten. Die müssten ihnen in Zukunft genommen werden, indem Zwischenstände über den weiteren Verlauf immer wieder transparent kommuniziert würden. "Die größere Herausforderung ist die kommende Saison und die Jahre danach"Frank Bohmann hat angesichts des Coronavirus vor schwierigen Zeiten für den Handball gewarnt. Vor allem die kommenden Saison werde eine Herausforderung, sagte der Geschäftsführer der Handball-Bundesliga. Abbruch der Saison war richtig Die Entscheidung, die Handball-Saison abzubrechen, hält Bitter für richtig. "Die Liga hat lange gewartet, hat lange gezögert. Irgendwann musste aber ein Schlussstrich gezogen werden." Sportarten wie Fußball oder Basketball, wo die Liga fortgesetzt wird, hätten dadurch in den Medien jetzt einen Vorteil: "Wenn wir bis November von der Bildfläche verschwinden, ist das nicht nur ein Problem, das wir finanziell spüren", sagt Bitter. Wenn der Nachwuchs im Gegensatz zu anderen Sportarten, die im Freien trainieren, nicht mehr in der Halle trainieren könne, sei es möglich, dass sich das auch auf diesen Bereich negativ auswirke. Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Johannes Bitter im Gespräch mit Maximilian Rieger
In der Coronakrise erkennen immer mehr Athleten den Vorteil von Spielergewerkschaften. Im Handball erfahre die Gewerkschaft enormen Zuspruch, erklärte Johannes Bitter von GOAL. Es gehe aber nicht darum "Krawall zu machen". Vielmehr wolle man einen Konsens finden, um die schwierige Zeit gemeinsam zu überleben.
"2020-05-23T19:33:00+02:00"
"2020-05-24T09:14:41.107000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/johannes-bitter-ueber-spielergewerkschaften-viele-erkennen-100.html
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Die Bibel und die Peitsche
Ein Neues Testament und eine Peitsche aus dem Besitz von Hendrik Witbooi (picture alliance / Marijan Murat / dpa) Maja Ellmenreich: Es steht - hochoffiziell - im Koalitionsvertrag der Bundesregierung: Die Aufarbeitung des Kolonialismus ist erklärtes Ziel. Man wolle die kulturelle Zusammenarbeit mit Afrika verstärken und einen Kulturaustausch befördern. Wohlfeile Worte sind das, denen viele weitere gefolgt sind in den vergangenen Monaten. Es wurde geredet, diskutiert, gestritten über den angemessenen Umgang mit kolonialen Kulturgütern – insbesondere aus Afrika. Heute nun folgte auf diese Worte eine Tat: die erste wichtige Restitution an Namibia. Das Bundesland Baden-Württemberg hat die Bibel und die Peitsche des einstigen Nama-Führers Hendrik Witbooi an den Staat Namibia zurückgegeben. Christiane Habermalz aus unserem Hauptstadtstudio in Berlin hat die Delegation begleitet, Frau Habermalz, was haben Sie dort miterlebt? Wie lief diese feierliche Übergabe ab? Christiane Habermalz: Das war ein sehr beeindruckendes Erlebnis. Man muss sich vorstellen: Das ist ein ganz kleiner Ort gewesen, Gibeon, etwa 350 Kilometer von Windhuk entfernt. Der hat wahrscheinlich in den Jahrzehnten davor nie so viel Aufmerksamkeit bekommen wie heute. Denn ist die ganze Politikprominenz aus Windhuk angereist, um diese Bibel und diese Peitsche von Theresia Bauer, der Wissenschaftsministerin von Baden-Württemberg, entgegenzunehmen. Es war der Staatspräsident persönlich, der die Objekte entgegengenommen hat. Dann wurden sie symbolisch an die Familie Witbooi übergeben, damit die sie dann wieder dem Staat geben können, um am Ende im Staatsarchiv in Windhuk gelagert werden zu können. Das war der Kompromiss, auf den man sich nach langen Verhandlungen geeinigt hatte. Nicht ganz ohne Konflikte Ellmenreich: Sie sprechen von dem Kompromiss, von der Übergabe erst an die Familie, dann an den Staat. Im Vorfeld hatte es eine ganze Reihe an Unstimmigkeiten gegeben. Die Vereinigung der Nama-Stammesältesten war nicht einverstanden damit, dass der Staat Namibia diese Artefakte entgegennimmt. War davon noch etwas bei der Zeremonie zu hören? Habermalz: Von den Stammesältesten nicht, aber es hat bis zuletzt noch Unstimmigkeiten gegeben, auch weil es Programmänderungen gegeben hat an dieser mühselig ausgehandelten Choreographie – in letzter Minute durch die Kulturministerin von Namibia. Da hat man sich gefragt: Welche Ziele verfolgt sie möglicherweise damit? Man darf auch nicht vergessen, dass auch in Namibia mit kolonialer Vergangenheit Politik gemacht wird. Und das passiert natürlich auch hier. Das macht die Dinge sehr komplex, und deshalb war es aus meiner Sicht sehr lehrreich, das einmal von dieser Seite aus zu sehen, wie Kulturgüter natürlich auf der einen Seite hier empfangen werden mit einer Wärme und Dankbarkeit – gerade die Familie Witbooi, für die das sehr viel bedeutet, dass diese Artefakte zurückkommen. Statue von Hendrik Witbooi (imago) Auf der anderen Seite aber wird damit auch Politik gemacht: Zum Beispiel tauchten auf einmal zwei Schädel auf, neben dieser Bibel und dieser Peitsche, die noch aus der großen Rückgabe der Charité stammten. Die waren im Prinzip zu "Deko-Zwecken" dazugestellt worden. Das hat auch wieder gezeigt, mit wieviel weniger Skrupel hier in Namibia mit diesen Schädeln umgegangen wird – zumindest heute war das der Fall – als in Deutschland, wo wir uns bemühen, das würdevoll zu tun, getan haben. Ort von symbolischer Bedeutung Ellmenreich: Werfen wir noch mal einen Blick auf diesen Ort, in dessen Nähe sie sich gerade noch befinden: Gibeon im Süden des Landes. Warum hat man genau diesen Ort für die Zeremonie ausgewählt? Habermalz: Das hängt mit der Geschichte zusammen und Hendrik Witbooi selber. Der war ja ein sehr wichtiger und bedeutender Nama-Anführer, der der Kolonialmacht Deutschland Kopfzerbrechen bereitet hat. Der sehr geschickt taktiert hat, zum Teil von Deutschen auch in einen Schutzvertrag gezwungen wurde, sich aber am Ende gegen die Deutschen erhoben hat, als er mitbekommen hat, mit welcher Brutalität die Herero niedergeschlagen wurden nach ihrem Aufstand. Und dieser Hendrik Witbooi hat sich in Gideon niedergelassen, als er aus Südafrika eingewandert ist. Das ist der alte Stammsitz der Familie. Und das hat deswegen eine ganz große symbolische Bedeutung für den Clan. Und das war auch ein Zugeständnis an die Witboois, die sich einverstanden erklärt haben, dass die Bibel – auch weil der Witbooi ein nationaler Held ist – diese Bibel dann auch an den Staat geht und im Nationalarchiv verwahrt wird und dort öffentlich gezeigt werden kann. Ellmenreich: Und dort, in der Nähe von Gibeon, im Süden Namibias, habe ich gerade mit Christiane Habermalz gesprochen. Dort wurde heute nämlich die Witbooi-Bibel und die -Peitsche an den Staat Namibia zurückgegeben. Vielen Dank!
Christiane Habermalz im Gespräch mit Maja Ellmenreich
Die Familienbibel und die Peitsche des Nama-Anführers Hendrik Witbooi aus dem Stuttgarter Lindenmuseum wurden in Namibia restituiert. Unsere Kultur-Korrespondentin Christiane Habermalz erlebte eine emotional bewegende Rückgabe-Zeremonie in Gibeon. Dabei hatte es bis zuletzt noch Unstimmigkeiten gegeben.
"2019-02-28T17:35:00+01:00"
"2020-01-26T22:40:04.763000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kolonialismus-die-bibel-und-die-peitsche-100.html
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Satellit Gaia hat Probleme
Unerwünschtes Licht sowie Eis beeinträchtigen derzeit die Funktion von Gaia. (picture alliance / dpa - European Space Agency) Für einen der teuersten astronomischen Satelliten seit Jahren war dessen erste Aufnahme ernüchternd. Die über 800 Millionen Euro teure Mission Gaia startete im Dezember 2013, und gut drei Monate später stellte Europas Raumfahrtagentur dieses Bild vor: verwaschene hellblaue Pünktchen auf dunkelblauem Grund, ein junger Sternhaufen irgendwo in der Großen Magellanschen Wolke. Dieses unspektakuläre Bildmaterial ist es jedoch nicht, was die Astronomenwelt besorgt. Denn eigentlich soll Gaia Sterne so genau vermessen wie nie zuvor. Der Satellit bleibt nun ein gutes Stück hinter den ehrgeizigen Zielen der Wissenschaftler zurück. Denn von irgendwo her fällt unerwünscht Licht auf die empfindlichen Sensoren. "Die genaue Herkunft ist relativ klar. Es muss sich um Sonnenlicht handeln, was zunächst mal überraschend ist. Denn Gaia hat einen etwa 10,5 Meter großen Sonnenschirm, der die Instrumente von Gaia von dem Sonnenlicht schützen soll." Stefan Jordan vom Astronomischen Rechen-Institut der Universität Heidelberg und seine Kollegen weltweit haben sich in den letzten Monaten ausgiebig mit den ersten Gaia-Daten auseinandergesetzt – und mit dem unerwünschten Licht, das wohl am nicht perfekt konstruierten Sonnenschirm vorbei gestreut wird. "Das ist zwar relativ zu dem normalen Sonnenlicht sehr wenig, aber da es hier um sehr empfindliche Messungen geht, stört auch dieses Licht, das dort einfällt." Ein weiteres Problem: Eis Neben diesem Streulicht werden Gaias Messungen von einem zweiten Problem beeinträchtigt: Es gibt einen Hauch von Eis, das sich immer wieder auf den Instrumenten niederschlägt. Das immerhin dürften die Ingenieure mit der regelmäßig betriebenen Heizung an Bord in den Griff bekommen. Doch insgesamt leidet Gaias Genauigkeit – und damit auch die ehrgeizigen Ziele der Mission, rund eine Milliarde Sterne unserer Galaxie zu vermessen. Vermutlich entgehen den zwei Teleskopen an Bord schlicht einige der lichtschwächsten Sterne – und dazu ein Teil der feinen Schwankungen, zu denen Exoplaneten ihre Sonnen zwingen. "Es kann sein, dass die schwächeren Objekte davon beeinflusst sind. Insgesamt kann man aber trotzdem sagen, dass Gaia eine gewaltige Entdeckungsmaschine sein wird, mit der wir wohl 100.000 neue Asteroiden finden werden und viele neue Sternenexplosionen entdecken werden, neue Quasare, alle möglichen Objekte und natürlich auch Exoplaneten. Das dürfte bei den helleren Sternen auch weiterhin im Bereich der Messgenauigkeit liegen." Auch den größten Teil des geplanten Sternenkatalogs der Milchstraße kann Gaia wohl trotz der Probleme schaffen. Stefan Jordan hofft sogar, dass die Astronomen die eingeschränkte Genauigkeit der Teleskope mit etwas Geduld ausgleichen könnten. Denn je häufiger Gaia einzelne Punkte am Himmel anvisieren kann, umso genauer wird der Satellit sie vermessen können. "Wir haben im Prinzip Reserven an Bord. Das hängt davon ab, wie in fünf Jahren der Satellit noch funktioniert und ob es sich lohnt, eine erweiterte Mission zu machen. Die kann dann sechs oder sieben Jahre dauern. Und vielleicht wird zusammen mit einer solchen Verlängerung das Ziel dann doch erreicht, das man am Anfang sich gestellt hatte."
Von Karl Urban
Eine Milliarde Sterne vermessen - das klingt nach einer gewaltigen Aufgabe. Allein für dieses Ziel startete die ESA im vergangenen Dezember den Satelliten Gaia. Die verwendete Messmethode ist völlig neu. Und so sind auch die ersten Erfahrungen mit Gaia im Erdorbit nicht frei von Überraschungen.
"2014-07-08T16:35:00+02:00"
"2020-01-31T13:51:28.465000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/raumfahrt-satellit-gaia-hat-probleme-100.html
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Kreuze als Pranger
Auf dem Friedhof Flaminio di Prima Porta in Rom stehen provisorische Kreuze mit handgemalten Schildern - darauf die Namen von Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch durchführen ließen (imago-images / Stefano Carofei) 42 Jahre nach dem Erlass des "Gesetzes 194", das Schwangerschaftsabbrücke legalisiert, werden auf mehreren Friedhöfen Italiens lebende Frauen als "Tote" präsentiert. Frauen, die an den Folgen ihrer legalen Abtreibung nicht gestorben sind. "Das ist nicht mein Grab, hier liegt mein ungeborenes Kind". Mit diesem Kommentar postete eine Römerin das Foto eines Grabes mit einem Kreuz auf dem Friedhof Flaminio von Rom. Auf dem Kreuz steht ihr vollständiger Name und ein Datum. Erst sieben Monate nach dem Schwangerschaftsabbruch Anfang 2020 erfährt sie, dass irgendjemand - ohne ihr Wissen und ohne ihre Einwilligung - den Fötus unter ihrem Namen begraben ließ. "Das war ein unfassbarer Schock" Auch Francesca, die anonym bleiben möchte, entdeckte vor einigen Tagen "ihr" Grab im Friedhof Flaminio. Sie musste sich einer legalen therapeutischen Abtreibung nach dem 4. Monat unterziehen, weil ihr Kind wegen eines schweren Herzfehlers nicht lebensfähig war. "Dreimal hatte ich im Krankenhaus nach meinem Fötus gefragt. Niemand hat mich jemals über die Möglichkeit oder sogar die Pflicht zu einem Begräbnis informiert. Als ich mein Grab sah, habe ich zuerst eine große Wut empfunden, weil das Krankenhaus mir dreimal nicht sagen wollte, was mit dem Fötus passiert sei. Es schmerzt mich zutiefst, zu wissen, dass irgendjemand meinen Fötus genommen, drei Monate lang irgendwo gelagert und später ohne mein Wissen und meine Einwilligung unter meinem Namen begraben hat. Und dabei noch die Entscheidung traf, welches religiöse Symbol mir zugeschrieben werden sollte. Das war ein unfassbarer Schock!" Etwa 120 Frauen, mit denen sich Francesca in Verbindung setzte, teilen dieselbe Erfahrung. Einige haben erst jetzt, 16 Jahre nach der Abtreibung, ihr vermeintliches Grab entdeckt. Keine wusste etwas davon. Wer die Verantwortung trägt, ist unklar. Die Krankenhäuser und das Friedhofsunternehmen schieben sich die Schuld gegenseitig zu. Wer ist verantwortlich? Ilaria Boiano ist Anwältin des Vereins "Differenza Donna", der sich für die Rechte von Frauen einsetzt und eine Sammelklage vorbereitet. Sie sieht in diesen Fällen einen klaren Bruch des Datenschutzgesetzes und des "Gesetzes 194" selbst, das den absoluten Schutz der Namen und Daten der Frauen vorschreibt. Die Autorisierungen, die Frauen bei der Abtreibung unterschreiben müssen, liegen nicht vor. Kopien der unterschriebenen Dokumente wurden den Frauen nicht ausgehändigt. "Die Frauen, die sich an uns wenden, möchten herausfinden, ob sie damals unwissentlich diese Prozeduren autorisiert haben. Einige erinnern sich nicht mehr daran, andere wissen ganz genau, dass sie sich gegen ein Begräbnis ausgesprochen haben. Deswegen möchten wir ihnen zunächst einen Einblick in ihre Dokumente ermöglichen, um festzustellen, ob sie ein Begräbnis des Fötus oder sogar die Veröffentlichung ihres Namens in irgendeiner Weise autorisiert haben." Medizinischer Grenzfall - Späte Abtreibung oder TotschlagEine Ärztin und ein Arzt stehen in Berlin vor Gericht. Sie haben bei einer Zwillingsgeburt ein Kind absichtlich getötet. Bei ihm war eine Hirnschädigung festgestellt worden. Den gesamten Sachverhalt zu klären sei ziemlich kompliziert, meint Ilaria Boiano. In den verschiedenen Prozeduren zwischen Krankenhaus und Friedhof gibt es einige "nebulöse" Passagen, worüber die Frauen nicht informiert werden. In den Phasen, die einem Schwangerschaftsabbruch folgen, gibt es mehrere Akteure: das Krankenhaus, das Friedhofsunternehmen (und damit die Stadtverwaltung), und oft auch streng katholische Vereine, die mit den anderen Akteuren bestimmte Vereinbarungen abgeschlossen haben. Was in diesen Vereinbarungen steht, ist nicht bekannt. Sie dürfen der Öffentlichkeit nicht weiter vorenthalten bleiben, betont die Anwältin Ilaria Boiano. Lebensschützer: "Ein Akt christlicher Barmherzigkeit" Der Präsident des katholischen Vereins "Difendere la vita con Maria" (Das Leben schützen mit Maria) findet die Veröffentlichung der Frauennamen auch verwerflich. Der Priester Don Maurizio Gagliardini setzt sich für ein anonymes und diskretes Begräbnisritual ein - egal wie alt die Föten sind - und erklärt, wie das läuft. Sein Verein hat in 19 von 20 Regionen Italiens entsprechende Vereinbarungen getroffen: "Die Familie hat nach der Abtreibung 24 Stunden Zeit, um die sterblichen Überreste des Kindes für sich in Anspruch zu nehmen. Das Krankenhaus informiert die Familie, und wenn sie die Überreste lieber dem Krankenhaus hinterlassen möchte, hat das Krankenhaus zwei Optionen: Wenn es keine Vereinbarungen mit Vereinen von Freiwilligen oder NGOs getroffen hat, muss das Krankenhaus den Fötus beseitigen. Wenn aber Vereinbarungen vorhanden sind, dann kann der Fötus von den Freiwilligen-Vereinen begraben werden. Die Familie wird dann vom Krankenhaus informiert. Wenn sie sich nicht dagegen ausspricht, heißt das, dass sie akzeptiert. Aber wir wissen, dass die Familien gerne akzeptieren. Wir kümmern uns darum, nicht um zu denunzieren. Die Toten zu begraben, ist ein Akt christlicher Barmherzigkeit." Argentinien debattiert über Abtreibungen - Kinder, Kirche, KopftuchSeit Monaten wird in Argentinien über ein Gesetz gestritten, das Abtreibungen legalisieren und erleichtern soll. Auch Kirche und Papst haben sich positioniert. Francesca sagt: "Es gibt mehrere Vereine, wie ich den Zeitungen entnehme. Ich kenne diese Vereine nicht und möchte mit ihnen nichts zu tun haben. Ich bin wütend eher über die Institutionen, die den Fötus diesen Vereinen übergeben. Außerdem hätte ich als Atheistin eine ganz andere Entscheidung getroffen. Ich hätte meine Tochter, die eine schwere Herzkrankheit hatte, der Wissenschaft zu Forschungszwecken zur Verfügung gestellt. Oder ich hätte sie einäschern lassen. Meinen Namen da zu sehen ist monströs. Aber es ist noch schrecklicher zu wissen, dass irgendjemand mit meinem Fötus einen Ritus gefeiert hat. Deswegen erwarte ich eine Erklärung, warum niemand nach meiner Autorisierung gefragt hat. Es ist grauenhaft." "Von den Hebammen wurde ich beleidigt" Wie Francesca ist auch die Anwältin Ilaria Boiano schockiert von den vielen Geschichten, die ihr Frauen aus ganz Italien berichten. Handelt es sich um einen schlichten "Verwaltungsfehler" seitens der Institutionen? "Den Vornamen und Nachnamen der Frau auf ein Kreuz auf dem Friedhof zu setzen, wo ihr Fötus liegt, kann kein Versehen und kein Verwaltungsfehler sein. Wir interpretieren das eher als 'Mahnmal' und als Zeichen der Brandmarkung. Die Frau wird gewissermaßen als 'verhinderte Mutter' begraben. Es ist eine starke symbolische Geste, die nicht nur in Rom praktiziert wird. Solche Vorfälle sind Teil einer komplexen Strategie, die wir in ganz Europa beobachten. In allen europäischen Ländern findet derzeit ein heftiger Angriff auf die Entscheidungen der Frauen und auf ihre sexuelle und lebenspendende Gesundheit statt. Frauen, die solche selbstbestimmten Entscheidungen getroffen haben, sollen im Sinne dieser Kampagnen mit einem Zeichen der Schande gebrandmarkt werden." Laut einer Studie des italienischen Gesundheitsministeriums von 2014 sind circa 70 Prozent des medizinischen Personals in Italien Abtreibungsverweigerer. In der Region Latium betrifft es sogar 80 Prozent des Personals. Francesca empfindet den aktuellen Vorfall als zusätzliche Grausamkeit im Zusammenhang einer Abtreibungserfahrung. "Das Grab ist der letzte große Schock in einer Geschichte voller Gewalt. Mich entsetzt vor allem die Tatsache, dass Frauen in Italien unter solch unmenschlichen Bedingungen abtreiben müssen. Das habe ich nicht nur von anderen Frauen gehört, ich habe es selbst erlebt. Man hat mich acht Stunden lang allein im Kreißsaal schreien lassen. Ohne Anästhesie, ohne dass jemand kam, um mir zu helfen. Von den Hebammen wurde ich beleidigt und beschimpft. Es war alles gewalttätig und bösartig. Ich sah, wie der Fötus geboren wurde und starb, von einer Krankenschwester weggerissen, in ein Papier eingewickelt und weggebracht wurde. Nicht die geringste Auskunft habe ich jemals darüber bekommen. Ich möchte, dass die Institutionen sich dazu äußern. Es ärgert mich, dass wir von Italien als demokratischem und laizistischem Land sprechen, obwohl wir es gar nicht sind. Den anderen Frauen sage ich: Erzählt, auch anonym, was euch passiert ist, erzählt alles! Habt keine Angst! Kaum jemand weiß, was in den Krankenhäusern passiert. Es ist Zeit, dass das ein Ende findet."
Von Cristiana Coletti
Auf Friedhöfen in Italien tauchen immer häufiger Holzkreuze mit Namen auf. Die darauf Genannten leben noch: Es sind Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch hinter sich haben. Begraben wurde ihr Ungeborenes ohne Wissen und Einverständnis der Frauen. Wer hinter der Aktion steckt, ist noch unbekannt.
"2020-10-16T09:35:00+02:00"
"2020-10-23T11:33:41.841000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/anti-abtreibungsaktion-in-italien-kreuze-als-pranger-100.html
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Islamverband Ditib lädt Integrationsbeauftragte aus
Es ist der größte und wichtigste Islamverband in Deutschland: Die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion - kurz: Ditib. Der Verband ist türkisch geprägt und eng mit der Regierung in Ankara verbunden. Der Vorsitzende von Ditib-Nord, Sedat Simsek, zog eine von seinem Verband im April ausgesprochene Einladung für Mittwochabend in Hamburg kurzfristig zurück. Özoguz hatte wie alle türkischstämmigen Abgeordneten des Bundestages Drohungen erhalten, nachdem sie für eine Resolution gestimmt hatte, die die Massaker an den Armeniern im Osmanischen Reich vor gut 100 Jahren als Völkermord klassifiziert; das lehnen viele in der Türkei vehement ab. Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz (SPD) (picture alliance / dpa / Britta Pedersen) In einem Schreiben an die Staatsministerin wurden erhebliche Sicherheitsbedenken geltend gemacht. Die Deutsche Presse-Agentur zitiert daraus. Demnach heißt es weiter, seit einigen Tagen tauchten in der Gemeinde viele Muslime auf, die nicht zu den regelmäßigen Gemeindebesuchern gehörten, aber die Atmosphäre ständig aufwiegelten. Die SPD-Politikerin teilte indes mit, mit der Ausladung habe Ditib eine Chance vertan, klar Stellung gegen Extremisten zu beziehen. Das Fastenbrechen hätte zudem die Möglichkeit geboten, die überhitzte Debatte zu versachlichen. Über einen Alternativtermin habe man sich nicht verständigt. Ditib-Nord hoffe jedoch, die Staatsministerin in naher Zukunft doch als Gast begrüßen zu dürfen. Laut Medienberichten soll die Absage zum Hamburger Fastenbrechen offenbar von der Kölner Ditib-Zentrale angeordnet worden sein. Hamburgs Bischöfin blieb aus Solidarität ebenfalls fern Hamburgs Bischöfin Kirsten Fehrs blieb der Veranstaltung aus Solidarität mit der ausgeladenen Integrationsbeauftragten ebenfalls fern. "Nachdem Frau Özoguz ausgeladen worden war, wäre eine Teilnahme der Bischöfin am Empfang möglicherweise politisch instrumentalisiert worden", teilte ihre Sprecherin auf Anfrage mit. Vergangene Woche hatte die Ditib bereits einen angesetzten Termin mit Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) abgesagt. Lammert sollte in der Berliner Sehitlik-Moschee ebenfalls an einem Empfang zum Fastenbrechen im Ramadan teilnehmen. Bundestagsvizepräsident Johannes Singhammer hatte die Ditib vergangene explizit aufgefordert, sich vom Staatschef der Türkei, Recep Tayyip Erdogan, zu distanzieren. Es sei dringend nötig, dass der Verband in Köln den Einschüchterungsversuch Erdogans zurückweise, sagte der CSU-Politiker. Ähnlich hatte sich Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckhardt und der religionspolitische Sprecher der Grünen, Volker Beck, geäußert. Erdogan hatte seine Kritik am Abstimmungsverhalten der Bundesatagsbgeordneten mit türkischen Wurzeln an deren Herkunft geknüpt und ihr Blut als verdorben bezeichnet. Erdogan forderte die deutschen Politiker auf, Bluttests zu machen, um ihre türkische Abstammung zu belegen. Nach Erdogans Äußerungen wurden von verschiedenen Seiten aus der Türkei massive Bedrohungen geäußert.
null
Von der Spitze des Deutschen Bundestags aus ist der türkisch-geprägte Islamverband Ditib aufgefordert worden, Stellung zu beziehen gegen Drohungen aus der Türkei an die Adresse türkischstämmiger Abgeordneter. Gestern nun lud die Ditib die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz, kurzfristig vom gemeinsamen Fastenbrechen (Iftar) aus. Aus Sicherheitsgründen, heißt es. Özoguz mag das nicht glauben.
"2016-06-16T13:50:00+02:00"
"2020-01-29T18:35:38.234000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/nach-armenier-resolution-islamverband-ditib-laedt-100.html
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Ghanas Bauern leiden unter Geflügel-Importen
Geflügel aus europäischen Schlachthöfen setzt Farmer in Ghana unter Druck (dpa / picture alliance) Geflügelfarmer Augustine Amankwaah steht mitten in seinem Stall, Hunderte Hühner picken Futter aus großen Trögen. Amankwaah ist Geschäftsführer der AMAS Farm in der Nähe von Accra, eine der wenigen Geflügelfarmen in Ghana, die noch nicht aufgegeben hat. Augustine erzählt von einem ghanaischen Geflügelzüchter, der so verzweifelt war, dass er nach Libyen ging, von dort aus ein Schlepperboot bestieg - und im Mittelmeer ertrank. Das war vor zwei Jahren. "Viele Kollegen gehen Pleite. Die Kosten sind zu hoch. Wer nicht genug Kapital hat, muss früher oder später einpacken. Viele wollen Ghana sogar verlassen. Andere Farmer finanzieren sich noch mit Geld aus der Familie, und wenn es da irgendwo hakt, sind die Reserven schnell aufgebraucht. Lange kann da niemand durchhalten." Importiertes Geflügel zu Dumpingpreisen Mit einem Marktanteil von nur noch fünf Prozent stehen viele Geflügelfarmer in Ghana vor dem Aus. Schuld seien vor allem die Importe zu Dumpingpreisen, beklagt Victor Oppong Adjei vom Nationalen Verband der Geflügelfarmer in Ghana. "Das importierte Huhn kostet halb so viel wie das heimische. Wir sind nicht wettbewerbsfähig und deswegen ist es sehr schwer für uns, nach der Produktion unser Geflügel auch zu verkaufen. Unsere Industrie droht zusammenzubrechen, die Menschen insbesondere auf dem Land sind von Verarmung bedroht – und wir müssen endlich darüber reden." Henry Anim-Somuah ist Professor für Agrobusiness an der "University of Ghana" und sagt, sein Land habe es versäumt, in die eigene Geflügelwirtschaft zu investieren, bevor der Markt durch ausländisches Geflügel überschwemmt wurde. "Mit dem Import von Geflügel ging es hier in Ghana nach der großen Dürre von 1983 los. Erst waren es nur Hühnerbeine und -füße, dann erschienen bald die ersten verarbeiteten und tiefgefrorenen Produkte auf dem Markt. Das sind die Produkte, die man mittlerweile überall auf unseren Märkten findet und die alles andere fast verdrängt haben." Mittlerweile ist die heimische Geflügelindustrie so schwach, dass Ghana gar nichts anderes übrigbleibt, als zu importieren, um den Bedarf zu decken. Pro Jahr kommen fast 300.000 Tonnen Hühnchenfleisch vor allem aus Brasilien, den USA und der Europäischen Union. Nach Angaben des ghanaischen Landwirtschaftsministeriums haben sich diese Importe seit 2015 mehr als verdoppelt. Allein 135.000 Tonnen Geflügel kamen 2017 von Konzernen aus der EU. Die Marktmacht der Importeure auf dem afrikanischen Kontinent hat starke Verbündete: Weltbank und Währungsfonds haben Ghana schon mal mit Kreditsperre gedroht, als das Land sich wehren und im Jahr 2003 seine Importzölle für Geflügelfleisch anheben wollte. Ghanas Regierung gab klein bei. Ghana wirbt für das heimische Huhn Es scheint fast zu spät, um noch gegenzusteuern. Aber Ghanas Geflügelbauern wollen kämpfen, weil sie glauben, dass es sich lohnt – schon allein wegen der Jobs, die entstehen könnten. Die Regierung will helfen: Investoren für Maschinen suchen, die Preise für Futtermittel stabilisieren, ein Qualitätslabel entwickeln – also für Ghanas Huhn werben: mit der landesweiten Kampagne "Eat Ghana Chicken". Selbst wenn es Ghana gelingen sollte mit einer immensen finanziellen Kraftanstrengung seine Geflügelindustrie neu aufzustellen: Die Konkurrenz aus Europa und anderen Exportnationen wird das Geschäft weiter dominieren, gestützt von Agrarsubventionen, bereits etablierter Marktmacht und ausgeklügelter Massenproduktion. Ghana bleibt nichts anderes übrig, als herauszufinden, wie es sich an diese Bedingungen noch anpassen kann.
Von Alexander Göbel
Billiges Fleisch für afrikanische Märkte: In Ghana haben es Geflügelproduzenten schwer, mit Importen aus dem Ausland mitzuhalten. Bauern geben auf und suchen zum Teil den Weg nach Europa. Nun will die Regierung in Ghana das heimische Huhn stärken.
"2018-11-14T13:35:00+01:00"
"2020-01-27T18:20:29.194000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/das-globale-huhn-ghanas-bauern-leiden-unter-gefluegel-100.html
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Selbstständiges Lernen erwünscht
Das Kollegium arbeitet nach dem Selbstlernkonzept, bei dem Schüler frei über Stoff und Pensum entscheiden. (picture alliance / dpa / Stefan Sauer) "Ich bin schon aufgeregt, das ist schon ein anderer Tag als sonst. Wir fiebern auch, denk ich mal alle, dass wir einen guten Platz machen und dann ist es auf jeden Fall ein anderer Tag als sonst. Also ich finds eigentlich Wahnsinn, dass wir so weit gekommen sind, und als schon die Nachricht kam, dass wir unter den Top 15 sind, und dann wurde es immer enger: Dass dann die Abgeordneten gekommen sind, sich den Unterricht angeguckt haben, das war eigentlich noch ein bisschen irreal. Und dass es heute wirklich so weit ist, ist natürlich aufregend für uns alle."Dabei ist die Sache für die Schülerinnen und Schüler aus Alsdorf längst entschieden. Ihre Schule hat einen Preis verdient. Hier wird im 60-Minuten-Rhythmus gearbeitet. Selbstständiges Lernen ist oberstes Gebot. Dalton heißt das Konzept, das aus den USA kommt. Hier der Werbeblock in aller Kürze:"Wenn ein Schüler in einem Fach bestimmte Fördermöglichkeiten braucht, dann bestimmen die Lehrer, dass der Schüler in einer Daltonstunde zu erscheinen hat. Und der Lehrer geht dann auch wirklich intensiv auf die Bedürfnisse des Schülers ein, lernt mit ihm gezielt, die Dinge, die er noch nicht kann und dazu hat eigentlich keine andere Schule Zeit, kein anderer Lehrer. und das macht die Schule so besonders, weil es eine besondere Atmosphäre ist, gerade auch zwischen Schülern untereinander, also Stufen übergreifend aber auch zwischen Schülern und Lehrern, das wirklich jeder mit jedem Lernen kann."Das hat offenbar die Jury aus Berlin auch so gesehen. Alsdorf ist unter den Nominierten, weil man hier auf besondere weise Schule macht, erklärt Charlotte Adam, die Vorsitzende des Lehrerrats:"Bei uns können die Schüler, alle Schüler von der Fünften bis zur ehemals 13, an zwei Stunden am Tag sich aussuchen, bei welchem Lehrer sie mit welchen Mitschülern sie an welchem Tag arbeiten, in welchem Raum also alles komplett frei. Und die Schüler machen es, weil sies ja irgendwann machen müssen. Und dann machen sie es lieber in der Schule als zu Hause."Seit neun Jahren arbeitet das Kollegium nach dem Selbstlernkonzept, bei dem Schüler frei über Stoff und Pensum entscheiden – allerdings entlang eines 5-Wochen-Plans, damit niemand den Überblick verliert. Das bringt mehr Selbstständigkeit und mehr Altersmischung beim Lernen. Auch damit hat es das Gymnasium in die Finalrunde unter die letzten 15 Bewerber für den Schulpreis 2013 geschafft. Helena Stewes: "Ich denke, durch diese gänzlich andere Strukturierung im Unterrichtskonzept haben wir am meisten gepunktet. Weil wir da eben nicht diesen 45 Minuten Rastern verhaftet sind und auch den Schülern wenig Frontalunterricht zumuten, sondern mehr Freiheiten geben ... ich denke, deswegen punkten wir (lacht)."..und wenn schon Schulpreisverleihung, dann mit Party. Schon gestern früh sind mehr als 50 Schüler und Lehrer mit einem Fanbus nach Berlin gefahren. Aber auch die Zuhaus-Gebliebenen sind hautnah dabei, die Preisverleihung wir im örtlichen Kino live übertragen: "Das hat die Schule geplant, dass wir im Cinetower so ne Art Public Viewing machen. Also wir haben 500 Karten oder so und dann wird die Übertragung gestartet und wir gucken alle zusammen. Und ich find, durch dieses Daltonsystem wachsen wir auch alle viel enger zusammen, und darum fiebern wir heute mehr miteinander als getrennt voneinander. Und da freu ich mich drauf. ...aber: Wir hoffen natürlich, dass wir gewinnen."Aktuelle Infos zum Deutschen Schulpreis:
Von Katrin Sanders
Die Schulstunden dauern im Alsdorfer Gymnasium 60 Minuten, die Selbstständigkeit beim Lernen wird großgeschrieben: Mit dieser Methode könnte die Schule gegen 20 andere Konkurrenten im Finale für den Deutschen Schulpreis punkten. Die Schüler sind aufgeregt - die Übertragung der Preisverleihung wird im örtlichen Kino gezeigt.
"2013-06-03T14:35:00+02:00"
"2020-02-01T16:20:49.766000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/selbststaendiges-lernen-erwuenscht-100.html
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Vom Wirtschaftsverbund zur politischen Union
Im Dezember 1991 ereignete sich der Durchbruch für die Unterzeichnung des Maastrichter Vertrages im Februar 1992. Für Deutschland unterzeichnete Hans-Dietrich Genscher (links) und Theo Waigel (rechts). (picture alliance / dpa - epa) Bundeskanzler Helmut Kohl – zufrieden: "Mit dem heutigen Tag, mit den Entscheidungen von Maastricht, hat dieses Europa ganz sicherlich den entscheidenden Durchbruch erreicht." Frankreichs Präsident François Mitterrand – ergriffen: "Eine gemeinsame Währung, der Beginn einer gemeinsamen Diplomatie, einer gemeinsamen Verteidigung, einer gemeinsamen Armee im Europa der zwölf. Eine Sozialcharta, ein Beispiel für Stabilität, als Angebot an zerrissene Völker. Europa, so wie es jetzt umgesetzt wird, ist in der Lage zu begeistern, zu vereinen und Hoffnung zu geben." Was François Mitterrand Ende 1991 den Franzosen als wegweisenden Erfolg präsentierte, war das Ergebnis hart geführter, 30-stündiger Verhandlungen auf dem Gipfel von Maastricht. Zwölf europäische Staats- und Regierungschefs hatten sich darauf geeinigt, der Europäischen Gemeinschaft eine neue Dimension zu verleihen. Was dann folgte: ein neuer Vertrag, außen- und finanzpolitische Verabredungen - und schließlich der Euro. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl bezeichnete 1991 die Maastrichter Verträge als "entscheidenden Durchbruch für Europa". (AFP / Gerard Fouet) In der Tagesschau vom 9. Dezember 1991 meldete sich Reporter Wolfgang Klein lediglich mit einem Zwischenstand. "Heute ist für alle der Tag des Hauens und des Stechens und der Abrechnung. Da entscheidet sich, welche Ergebnisse sie bei ihrer Presse als Sieg verkaufen können. Doch während die Kollegen aus Frankreich aus Spanien, aus Griechenland und Großbritannien melden, ihre Staats und Regierungschefs hätten wie die Löwen gekämpft und mit Veto gedroht, halten sich die Bonner weiterhin auffallend zurück." Als europäische Geschichte in Maastricht geschrieben wurde Der Schauplatz Maastricht wurde über Nacht berühmt. Die Provinzhauptstadt im Süden der Niederlande, in der Nähe der belgischen und der deutschen Grenze gelegen, hatte nie zuvor eine Veranstaltung in dieser Größenordnung ausgerichtet. Abgeschirmt von der Außenwelt tagten die 12 Staats- und Regierungschefs im Gouvernements Gebäude, auf einer Halbinsel an der Maas. Heute Amtssitz der niederländischen Provinzialbehörde. Eine ihrer Mitarbeiterinnen, Eliane van Durling über den Ort, an dem europäische Geschichte geschrieben wurde. "Hier im Plenarsaal, an diesem großen runden Tisch, haben sie verhandelt, umgeben von einer Armee an Sicherheitsleuten, Nato-Stacheldraht und Tauchern in der Maas. Dadurch war die Halbinsel so sicher, dass Monsieur Mitterrand in jeder Pause ungestört draußen seine Runden drehen konnte. Er war der eifrigste Spaziergänger unter den zwölf." Neben Frankreich, Deutschland und den Niederlanden gehörten damals Belgien, Italien und Luxemburg zur Europäischen Gemeinschaft. Außerdem Großbritannien, Irland und Dänemark sowie Griechenland, Spanien und Portugal. Eine heterogene Gruppe mit ganz unterschiedlichen Anliegen. Angeblich sei das Eis zwischen den 12 Staatsmännern nicht am Verhandlungstisch im Gouvernementsgebäude gebrochen, sondern wenige Kilometer entfernt, im Schloss Neercane. Das behauptet zumindest Peter Harkema, der Restaurantchef von Schloß Neercane. Alle zwölf Regierungschefs hätten hier zusammen mit Gastgeberin Königin Beatrix ihre ersten Unterschriften in Maastricht hinterlassen, auf einer Wand im Weinkeller. "Königin Beatrix, Mitterrand, Lubbers, Martens, Schlüter, Kohl, Mitsotakis, Haughey, Andreotti, Santer, Cavaco Silva, Gonzáles Marques, Major." Der offizielle Durchbruch kam dann in der Nacht zum 10. Dezember. Der Beschluss von Maastricht brachte Europa eine gemeinsame Währung und den Einstieg in eine gemeinsame Außenpolitik. Er war ein Kompromiss. Bis dahin waren ausschließlich wirtschaftliche Interessen der Kern der Europäischen Gemeinschaft. Mit dem Vertrag von Maastricht sollte sie sich weiterentwickeln, hin zu einer politischen Union, deren Mitglieder sich zu einer engen wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit verpflichteten. Theo Waigel, damals als Bundesfinanzminister Teil der deutschen Delegation in Maastricht, sagte später im Deutschlandfunk: "Auf die Dauer kann ein Binnenmarkt nicht funktionieren, wenn er nicht über das Dach einer Währungsunion verfügt, natürlich auch über eine gewisse politische Union. Man hat nur eines gemerkt: Man kann eine gemeinsame europäische Währung nicht dekretieren, sondern es bedarf eines Kongruenzprozesses, das heißt, die Volkswirtschaften müssen sich annähern. Sie müssen ähnlich, sie müssen vergleichbar sein. Sie müssen gemeinsame Finanzkennziffern aufweisen. Und das war das Neue, das war das qualitativ Neue an Maastricht, dass dieser Prozess damit in Gang gesetzt wurde durch den Delors-Plan." Vorstoß für eine gemeinsame Wirtschafts- und Währungsunion Jacques Delors stand lange Jahre an der Spitze der EU-Kommission. Er hatte bereits Mitte der 80er-Jahre den Vorstoß für eine gemeinsame Wirtschafts- und Währungsunion gewagt, quasi die Vorarbeiten für den späteren Maastrichter Vertrag geleistet. Seine Theorie, sein sogenannter Drei-Stufen Plan, wurde jedoch von der politischen Realität eingeholt: vom Fall der Mauer und einem wiedervereinigten Deutschland. Der Politik- und Wirtschaftswissenschaftler Henrik Enderlein, Direktor des Jacques Delors-Instituts in Berlin: "Die Frage stand im Raum: Wie bindet man Deutschland in dieses ökonomische Projekt ein, vor allem auch ökonomisch? Und die 80er-Jahre waren geprägt durch die gegenseiteigen Abwertungswettläufe der europäischen Länder untereinander, und da war der Plan, sehr direkt zu sagen, dann bringt man Deutschland eben in dieses gemeinsame Währungsprojekt und schafft so eine Stabilität und auch eine Unumkehrbarkeit dieses wirtschaftlichen Integrationsprojektes, das ja immer ein ganz wichtiger Pfeiler im europäischen Integrationsprozess war." In der wirtschaftlichen Vernetzung sahen die europäischen Politiker damals ein Instrument, Europa vor neuen Auseinandersetzungen zu bewahren. Anfang der 90er-Jahre herrschte Unsicherheit in Europa. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Auflösung des Warschauer Paktes schien die Trennung von Ost und West überwunden. Was aber würde folgen? Und welche Rolle würde ein wiedervereinigtes Deutschland spielen? Sowohl Politiker als auch Historiker haben immer gemutmaßt, dass der Weg, den Deutschland mit dem Maastricht-Vertrag gegangen ist, Teil einer Absprache hinter den Kulissen war: Dass Deutschland sich in den europäischen Währungsprozess einbringen, die D-Mark aufgeben musste, um damit für seine Nachbarn berechenbarer zu werden. Theo Waigel widerspricht. "Ich war nun wirklich dabei. Wir haben zu keiner Sekunde für die deutsche Einheit eine gemeinsame europäische Währung eingekauft. Die Entscheidungen für eine gemeinsame europäische Währung lagen viel länger zurück. Sie lagen schon bei Gipfeln, die im Jahr 1988 stattfanden. Sie gingen zurück auf das europäische Währungssystem, das Giscard d'Estaing und Helmut Schmidt konzipiert hatten." Vor dem Euro gab es noch viele Hürden In Maastricht sollte aus diesen ökonomischen Plänen also europäische Realität werden. Doch bis zur Einführung des Euro gab es noch eine Menge Hürden zu überwinden. Zunächst mussten alle 12 Staats- und Regierungschefs ihre Gipfel-Beschlüsse zuhause vermitteln. Bundeskanzler Helmut Kohl stand in Bonn ein innenpolitischer Kraftakt bevor, denn eigentlich hatte sich Kohl mehr versprochen: Er hatte eine Währungsunion in Kombination mit einer verstärkten politischen Zusammenarbeit angestrebt, unter anderem mit mehr Rechten für das Europäische Parlament. Nur dann, davon war der Bundeskanzler überzeugt, könne eine Währungsunion gelingen: Wenn sie von einer politischen Union begleitet werde, von einer echten europäischen Wirtschaftspolitik, von einer echten europäischen Außen- und Sicherheitspolitik. Doch diesem Ziel war Helmut Kohl in Maastricht nicht wirklich näher gekommen. In seiner Regierungserklärung vor dem Bundestag, nur wenige Tage nach dem Maastrichter Gipfel, räumte der Bundeskanzler dann auch ein: "Mit dem Einstieg in Mehrheitsentscheidungen und den neuen Struktur-Elementen, insbesondere den gemeinsamen Aktionen, gehen wir einen Schritt über die bisherige europäische politische Zusammenarbeit hinaus. Wir können damit schrittweise eine gemeinsame Außenpolitik entwickeln, die diesen Namen auch verdient." Die SPD, damals in der Opposition, bezeichnete die Ergebnisse als kläglich. Ingrid Matthäus Meier verlangte Nachbesserungen. "Eingeknickt ist der Bundeskanzler auch bei der Sozialunion. Warum haben Sie, Herr Bundeskanzler, bei der Sozialunion nicht die gleiche Hartnäckigkeit an den Tag gelegt, wie bei der Währungsunion? Die Antwort ist klar. Eine Bundesregierung, die in Deutschland Arbeitnehmerrechte einschränkt und den Sozialstaat abbaut, die ist weder ausreichend willens noch in der Lage, in Europa für die Arbeitnehmer zu kämpfen, meine Damen und Herren." Doch nicht nur von der SPD, auch aus der mitregierenden FDP musste sich Helmut Kohl Kritik gefallen lassen. Die Sorge, formuliert von Otto Graf Lambsdorff: Die Bundesrepublik zahle einen zu hohen Preis für die Währungsunion. "Eine Währungsunion setzt theoretisch nicht voraus, dass von den wohlhabenden Gebieten Transfers zu den weniger wohlhabenden Gebieten fließen. Politisch praktisch sieht es aber ganz anders aus." Große Skepsis gegenüber der Einführung des Euro in der BRD Die Warnung von Otto Graf Lambsdorff sollte nicht die letzte gewesen sein. Es herrschte große Skepsis in der Bundesrepublik gegenüber der neuen europäischen Währungsgemeinschaft. Der Euro galt in der Bevölkerung als undurchsichtiges Großprojekt, dem man die stabile D-Mark nicht opfern wollte. Debattiert wurde über Jahre, ob wirklich alle Länder schon reif seien für die Währungsunion. Auch die Bundesbank - als Hüter der D-Mark - mischte sich in den Chor der Mahner ein. Bundesbank-Chef Hans Tietmeyer sagte noch 1999 im Deutschlandfunk: "Wenn ein Land oder große Teile der Union nicht in der Lage sind, im Wettbewerb mitzugehen, dann in der Tat kann die Währungsunion für sie ein abschnürendes Korsett werden – abschnürend in der Weise, dass man die Geldpolitik als nationale Politik nicht mehr verfügbar hat, und Wechselkursänderungen nicht mehr vornehmen kann; man ist auf Gedeih und Verderb in diese Währungsunion eingebunden. Dessen müssen sich alle Länder bewusst sein." Belgien und Italien standen unter besonderer Beobachtung der Währungshüter. Womöglich komme der Gang in eine Währungsgemeinschaft für beide Länder zu früh, stellte ein Gutachten der Bundesbank damals fest: Wegen zu hoher Schulden, mit denen Italien und Belgien die Bedingungen für den Euro-Beitritt, die sogenannten Maastricht-Kriterien nicht erfüllten. Doch die europäischen Politiker wollten den einmal begonnenen Prozess nicht stoppen. Der CDU- Politiker Karl Lamers erinnerte sich im Deutschlandfunk: "Damals war Prodi Premier in Italien, und er hat in einem zweistündigen Gespräch in dem prachtvollen Palazzo Chigi mir in seinem nuscheligen Englisch seine Klagen erzählt, wie schwer er es doch hätte und wieso Italien unbedingt da reinmüsste. Also ich habe akustisch nicht alles verstanden, aber was er meinte, habe ich sehr wohl verstanden, und natürlich habe ich das Helmut Kohl erzählt. Deswegen hatte Prodi es mir ja auch gesagt. Na ja, in einem Spaziergang am Rhein habe ich das dem Kanzler alles erzählt, und er sagte und sagte und sagte nichts, und ich wiederholte immer wieder dasselbe. Dann fuhr er mich schließlich an, halt doch den Mund, natürlich gehören die dazu, aber sage es keinem." Italien wollte uns sollte also rein in die Währungsunion. Für Henrik Enderlein vom Jacques-Delors-Institut war die Zeit zwischen der Unterschrift unter den Maastricht-Vertrag im November 1993 und dem Beginn der Europäischen Währungsunion im Mai 1998 eine bedeutende Phase der Integration und der Prosperität. "Es war nämlich eine Zeit, in der vor allem in Italien Reformen stattgefunden haben, wie wir sie seitdem nicht mehr gesehen haben. Die Italiener wussten, nur wenn sie liefern, wenn sie ihre Indexierung von Löhnen an die Inflation beenden, dass sie dann überhaupt eine Chance haben, überhaupt in dieses Euro-Projekt zu kommen. Wenn man sich auch die Konvergenzdaten anguckt in Europa oder die Wachstumsdaten, dann waren die 90er eine Phase, wo es sehr, sehr gut lief." "Belgium, Germany, Spain, France, Ireland, Italy, Luxemburg, the Netherlands, Austria, Portugal and Finland fulfill the necessary conditions for the adoption of the single currency!” Mai 1998. Der britische Schatzkanzler Gordon Brown, dessen Land damals die Ratspräsidentschaft der EU innehatte, verkündete vor dem Europa-Parlament, wer in die Eurozone aufgenommen werde. Großbritannien war nicht dabei, weil es fürchtete, die nationale Wirtschaft werde zu stark von Entscheidungen auf europäischer Ebene beeinflusst. Doch auch ohne die Briten ging es Schlag auf Schlag weiter. Schon im Juni 1998, nahm die Europäische Zentralbank ihre Arbeit auf. Die Zentrale der Europäischen Zentralbank (picture-alliance / dpa / Frank Rumpenhorst) Am 31.12. wurden die Umrechnungskurse zwischen den nationalen Währungen und dem Euro festgelegt. Mit Beginn der Währungsunion am 1.1.1999 wurde die EZB zuständig für die gemeinsame Geldpolitik. Am 1. Januar 2002 hielten die Bürger der Währungsunion dann die ersten Euro-Münzen und Euro–Banknoten in den Händen. Eine Eintrittskarte für die Währungsunion erhielten nur die Staaten, deren alte und neue Schulden eine bestimmte Grenze nicht überschritten. Diese sogenannten Maastricht-Kriterien schrieben den Euro-Staaten vor, diszipliniert zu haushalten. Ausgerechnet Deutschland, das in Währungsfragen als Europas Zuchtmeister galt, verstieß 2002 und 2003 als eines der ersten Länder gegen den Stabilitätspakt. Theo Waigel: "Das hat ja letztendlich dann dazu geführt, dass Deutschland als Hauptsünder viermal hintereinander das Drei-Prozent-Kriterium nicht eingehalten hat, gemeinsam mit Frankreich und dann auch natürlich noch mit Italien, gemeinsam sündigt man leichter, daran gegangen ist, den Stabilitätspakt auszuhebeln." Gefahr eines Auseinanderbrechens der Währungsunion Die wirkliche Bewährungsprobe für die Eurozone aber kam erst im Jahr 2008: mit dem Ausbruch der Finanzkrise. Sie traf die Euro-Staaten vollkommen unvorbereitet. Spanien und Irland strauchelten, weil ein Teil ihrer Wachstumsraten auf einer Immobilienblase beruhte. Länder wie Griechenland, die bis dahin ihre Reformen und Schulden-Hausaufgaben nicht gemacht hatten, trieb die Finanzkrise an den Rand des Abgrundes – genauso wie es die Bundesbank zu Beginn der Währungsunion warnend prophezeit hatte. Griechenland konnte seine Kredite nicht mehr bedienen und die anderen Staaten der Eurozone standen vor einem Dilemma: Entweder dem Land helfen - oder es Bankrott gehen lassen, was unüberschaubare Folgen für die Eurozone, womöglich die Union insgesamt gehabt hätte. Das Problem: Die Europäischen Verträge sahen Hilfen nicht vor. Im Gegenteil: Eine sogenannte Bail-Out-Klausel legte im Maastricht-Vertrag noch fest, dass ein Staat nicht für die Schulden eines anderen haftet. "Ich bin mir als deutsche Bundeskanzlerin der außerordentlich hohen Verantwortung in dieser Stunde bewusst. Denn das deutsche Volk hat seinerzeit im Vertrauen auf einen stabilen Euro seinerzeit die D-Mark aufgegeben. Dieses Vertrauen – und das eint die ganze Bundesregierung – darf unter keinen Umständen enttäuscht werden." In ihrer Regierungserklärung am Morgen des 25. März 2010 warb Bundeskanzlerin Angela Merkel im Deutschen Bundestag noch um Vertrauen. Gemeinschaftliche Finanzhilfen für Griechenland seien nur der letzte Ausweg. Wenige Stunden später, am Nachmittag auf dem EU-Gipfel in Brüssel, brachte sie ein Rettungskonzept für Griechenland auf den Weg - gegen den Widerstand ihres eigenen Finanzministers, gegen den vieler anderer Regierungschefs, gegen die Europäische Zentralbank. Und Merkel brach zugleich ein Tabu – Sie holte zum ersten Mal den Internationalen Währungsfonds aus Washington mit ins Boot. Bis dahin war es Konsens in der Europäischen Union, dass Europa seine Probleme selbst lösen müsse. "Das Wort alternativlos habe ich nur zwei Mal im Zusammenhang mit der Euro-Rettung verwendet." Und zwar als Rechtfertigung für die beschlossenen Hilfen für Griechenland. "Alternativlosigkeit" - eine Jury aus Sprachwissenschaftlern, Medienschaffenden und Journalisten wählte den Begriff 2010 zum Unwort des Jahres. Es war zugleich das Vorspiel für die Gründung der "Alternative für Deutschland" im Februar 2013. Denn viele Ökonomen waren und sind der Ansicht, dass die europäische Rettungspolitik keineswegs alternativlos ist. Auch wenn aktuell nicht mehr über einen Grexit, über einen möglichen Ausstieg Griechenlands aus der Eurozone diskutiert wird - die Gefahr eines Auseinanderbrechens der Währungsunion ist keineswegs gebannt. "Das Schiff Euro wurde im Sturm nur sehr notdürftig repariert. Man hat in der Krise dann sehr hastige Rettungsinstrumente eingezogen, den Stabilitätsmechanismus, Elemente der Bankenunion. Das ist alles so erfolgreich gewesen, dass das Schiff nicht gesunken ist, aber ein kluger Seemann fährt nach dem Sturm den nächsten Hafen an und unterzieht das Schiff einer Generalrevision, ehe er wieder aufs weite Meer fährt. Ich habe heute beim Euro das Gefühl, wir sind weiter auf hoher See und den nächsten Sturm schaffen wir auch noch. Und das macht mir große Sorgen, denn eine nächste Krise wird kommen in Europa. Sie kann in sechs Wochen kommen, in sechs Monaten oder in sechs Jahren. Aber sie wird kommen. Und wenn dann ein Druck auf Italien entsteht zum Beispiel, und die italienische Schuldenlast, die exorbitant ist, plötzlich an den Märkten mit Zweifel gesehen wird, ob Italien diese Staatsschulden bedienen kann, dann ist man in einer noch viel größeren Eurokrise, und da habe ich Sorgen, dass der Euro das nicht überstehen kann."
Von Katrin MIchaelsen
Der Gipfel von Maastricht am 9. und 10. Dezember 1991 war ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Europäischen Union. Die zwölf Staats-und Regierungschefs der damaligen Europäischen Gemeinschaft vereinbarten eine neue Qualität ihrer Zusammenarbeit: mehr außen-und finanzpolitische Absprachen, an deren Ende der Euro stehen sollte. Der Weg dahin war jedoch kein leichter.
"2016-12-09T18:40:00+01:00"
"2020-01-29T19:07:54.368000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/25-jahre-maastrichter-vertraege-vom-wirtschaftsverbund-zur-100.html
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Horrortrips mit Air Berlin und TUIfly
Erschöpfte Urlauber warten am Flughafen in Hannover (Niedersachsen), nachdem ihr Tuifly-Flug um 4.00 Uhr nach Antalya kurzfristig gestrichen wurde. (picture-alliance/ dpa/ Julian Stratenschulte) Kurz nach Mitternacht wollte Maren Köster mit ihrer Freundin in Köln-Bonn landen. Eine Stunde davor sitzt sie noch im Abflugbereich in Palma de Mallorca, wie die übrigen 179 Fluggäste von Air Berlin vertröstet mit einem Verzehr-Gutschein von fünf Euro. Angesichts ihrer frischen Erfahrungen mit der Fluglinie für die Kölnerin ein schwacher Trost: "Wir sollten um fünf Uhr letzten Sonntag losfliegen und sind umgebucht worden auf einen Flug, der verspätet war. Sind dann auf einen Flug umgebucht worden, wofür wir noch hätten weiter reisen müssen, noch mal umsteigen, und haben dann einen Flug bekommen am nächsten Tag, aber erst abends – von Frankfurt. Also da mussten wir noch mit dem ICE fahren, und waren dann zwei Tage später im Urlaub. Anstatt acht Tage hatten wir sechs Tage Urlaub. Und jetzt ist der Flug schon wieder verspätet." Andere Passagiere berichten von ähnlichen Erfahrungen. Kurz vor Mitternacht dann die Mitteilung: Flugzeug defekt, der Flug gestrichen, bitte das Gepäck abholen und zum Ausgang begeben. Dort erklärt ein Air-Berlin-Mitarbeiter, dass es mit Bussen in zwei Hotels geht. Allerdings: Viele Passagiere bekommen das zunächst nicht mit, stehen am großen Busparkplatz und wissen nicht, wo sie einsteigen sollen. Der Air-Berlin-Angestellte gibt sein Bestes, ruhig, sehr professionell, kann aber nicht überall zugleich sein. Ironisch meint er: "Ich hab‘ das selber nicht organisiert. Ich bin einfach nur der nette Mensch, der kommt und die schlechten Nachrichten mitteilt." – "Haben Sie denn versucht, noch jemanden zu bekommen, der Ihnen unter die Arme greifen kann?" – "Meine Chefin hilft mir, per Telefon, gibt mir Kraft." – "Ok…" – "Ja, also …" Bus zu klein, Koffer weg Seinen Namen möchte er nicht nennen, obgleich er davon ausgeht, seinen Job bei Air Berlin ohnehin bald los zu sein. Die Passagiere sitzen schließlich in den Bussen: "Möchte mal erst im Hotel ankommen, ich glaube noch gar nicht dran. Sind wir in zwei Stunden vielleicht, und dann ist die Frage, wann sie uns aus dem Bett holen, um uns wieder nach Hause zu fliegen." Am gleichen Morgen, gegen halb neun, weiter wie gehabt: Nur ein Bus steht am Hotel, zu wenig für alle Passagiere. Der Busfahrer zuckt mit den Achseln, lässt Leute ihre Koffer mühsam in den Laderaum stopfen. Wie er seinen Koffer verstaut hat, frage ich einen herumstehenden Mann: "Keine Ahnung, ich hab‘ keinen, meiner ist weg." Er hat sein aufgegebenes Gepäck in der Nacht nicht zurückbekommen. Einem Familienvater aus Köln reicht es: "Kein Informationsfluss, weder gestern Nacht am Flughafen, noch jetzt. Alles durch Zufall. Eben kam mir noch jemand in Badelatschen auf dem Flur entgegen, der fragte, wann’s losgeht. Da hab‘ ich ihm gesagt, in zehn Minuten. Da hat er nur noch den Vogel gezeigt." Klarer Fall für Ausgleichszahlungen Eine 81-jährige Kölnerin pflichtet bei: "Dass sich keiner gezeigt hat, auch gestern Abend nicht. Es ist niemand gekommen und hat gesagt, was los ist. Kein Mensch. Und das, find‘ ich, ist ‘ne Sauerei." Am späten Vormittag fliegen tatsächlich alle nach Hause. Passagiere eines gestrichenen Air-Berlin-Flugs nach Münster müssen aber auf Hannover ausweichen. Unterm Strich ein klarer Fall für Ausgleichszahlungen, sagt Reiserechtler Kay Rodegra: "Das ist ein Betrag zwischen 250 und 600 Euro, die Höhe ist abhängig von der Länge der Flugstrecke. Das ist ein Bargeldanspruch, man muss sich hier nicht mit Fluggutscheinen zufrieden geben. Und dann muss man ein kurzes Schreiben aufsetzen - man sollte keine Romane schreiben -, was passiert ist, eine Forderung stellen, eine Frist setzen, zwei, drei Wochen halte ich für ausreichend. Und wenn die Airline dann nicht reagiert, ist es absolut gerechtfertigt, sich einen Anwalt zu nehmen, und theoretisch muss die Airline dann die Anwaltskosten auch tragen, weil dann eine sogenannte Verzugslage eingetreten ist." Air Berlin bedauert die entstandenen Unannehmlichkeiten, sieht die Passagiere gleichwohl servicegerecht versorgt, will die Vorwürfe dennoch prüfen. Ein Interview wird abgelehnt. Air-Berlin-Chef Stefan Pichler hat zuletzt in einer Pressekonferenz zum wichtigen Touristikgeschäft gesagt: "Ist die Frage, wie man’s betreibt. Wir untersuchen derzeit strategische Optionen, wenn wir so weit sind, dann melden wir uns natürlich. Vielen Dank."
Von Andreas Burman
Flug gestrichen, Koffer weg, keine Informationen: Immer wieder machen Reisende ärgerliche Erfahrungen mit Fluglinien. Bei TUIfly und Air Berlin mussten Fluggäste in den letzten Wochen wegen zahlreicher Krankmeldungen besonders oft in den sauren Apfel beißen.
"2016-10-20T11:35:00+02:00"
"2020-01-29T19:00:28.031000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/chaos-in-der-urlaubszeit-horrortrips-mit-air-berlin-und-100.html
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Der französische Atomstrom und der Müll
Ein komfortabler Personenaufzug bringt die Besucher 500 Meter tief in den Fels. Hier findet sich das Herz der Anlage, ein weit verzweigtes System von Schächten und Röhren in dem die französische Atombehörde Andra testet, ob sich das 160 Millionen Jahre alte Tongestein dafür eignet, stark strahlende radioaktive Abfälle aufzunehmen. Drei Fragen müsse das Laboratorium beantworten, sagt der zuständige Ingenieur Jacques Delay."Kann das Gestein die Radioaktivität für einen langen Zeitraum sicher umschließen, können in die Tonschicht eine ausreichend große Zahl von Schächten und Tunnels gebohrt werden ohne die Stabilität zu gefährden und können die Schächte und unterirdischen Strecken wieder sicher verschlossen werden."Die Ausläufer des Pariser Beckens im Osten Frankreichs böten besonders gute geologische Voraussetzungen, um gerade hier ein Endlager für hoch strahlende radioaktive Abfälle zu errichten, glauben die Wissenschaftler. Auf einer Fläche von 250 Quadratkilometern weise die Tonschicht nahezu gleichbleibende Eigenschaften auf. Testergebnisse, die im untertägigen Versuchlabor erzielt würden, seien daher übertragbar. Ton sei gut geeignet, radioaktive Abfälle dauerhaft zu isolieren, denn er lasse nur wenig Wasser durch. Die Gefahr, dass Radionuklide ausgewaschen werden könnten, bestünde daher kaum, argumentieren die Wissenschaftler. Und schließlich könne sich das Gestein, den Gebirgsdruck im positiven Sinne zu Nutze machen. Denn dieser Druck laste wie bei allen Grubenbauten schwer auf den künstlich geschaffenen Hohlräumen. Ton verfüge jedoch über selbstheilende Kräfte, sagt Jacques Delay."Die Konvergenz ist eine gute Sache, denn sie hat zur Folge, dass da wo sich eine Kluft auftut oder ein Riss auftritt, das Tongestein quillt und diese immer wieder verschließt. Das erhöht die Sicherheit."Nur die Hitze der strahlenden Fracht kann Ton schlecht absorbieren aber auch für dieses Problem präsentieren die französischen Wissenschaftler eine simpel anmutende Lösung. Marc-Antoine Martin."Das Konzept sieht vor, dass horizontale Röhren in den Fels gebohrt werden in die jeweils hintereinander ein strahlendes Paket und sozusagen zwei falsche Behälter, also zwei Placebos aufgereiht werden, damit sich die Hitze nicht konzentrieren kann."Wie hoch die Abstände zwischen den Behältern sein müssen, um die Temperatur im Gestein unter dem Siedepunkt zu halten, wird augenblicklich getestet. In Frankreich regelt ein Gesetz, dass eingelagerte radioaktive Abfälle mindestens 100 Jahre lang wieder geborgen werden können. Mit dieser Reversibilitätsklausel will die Regierung dem möglichen technischen und wissenschaftlichen Fortschritt Rechnung tragen. Das heißt, für einen begrenzten Zeitraum dürfen sich in Bure die Verhältnisse unter Tage ändern, sollten die hoch strahlenden Behälter dort eingelagert werden. Das Lagerkonzept berücksichtige das, sagt Jacques Delay."Das Konzept ist einfach: Sie bohren horizontal eine Röhre, kleiden diese mit einem Stahlmantel aus und schieben die Behälter mit Hilfe eines Roboters hinein oder ziehen sie damit wieder heraus."An keinem anderen Ort wird in Frankreich ein vergleichbarer Forschungsaufwand betrieben. Die französische Atombehörde scheint davon überzeugt zu sein, dass sie mit Bure den geeigneten Platz für ein erstes Endlager in Europa gefunden hat. Denn neben der technischen Seite habe auch die soziale Dimension eine Rolle gespielt. Marc-Antoine Martin." Die Gebirgsformation ist geeignet, und mehrheitlich, na ja, es gibt einige Stimmen die dagegen sind, aber mehrheitlich ist die Region der Auffassung, dass es von Vorteil ist, wenn die radioaktiven Abfälle hier deponiert werden."Die Bundesrepublik ist an der Forschung in Bure beteiligt, Regelmäßig sind Forscher der Bundesanstalt für Geowissenschaften vor Ort. Seit 2000 hat sie das Forschungsvorhaben in Bure mit etwa 2,4 Millionen Euro unterstützt. Das geht aus eine parlamentarischen Anfrage der Fraktion die Linke aus dem Jahr 2008 hervor.
Von Tonia Koch
Ab dem Jahr 2025 soll im französischen Dorf Bure mit der Lagerung hochradioaktiver Abfälle begonnen werden. Es ist das erste Endlager dieser Art im Land. Die Forschungsarbeiten dazu werden von Deutschland finanziell mitunterstützt.
"2011-10-18T11:35:00+02:00"
"2020-02-04T02:23:15.197000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-franzoesische-atomstrom-und-der-muell-100.html
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Demokratische Kräfte müssen Land vor Abgrund bewahren
Lorena Villavicencio, die Schwester des am Vorabend ermordeten ecuadorianischen Präsidentschaftskandidaten Fernando Villavicencio, wartet auf die Übergabe seiner Leiche vor dem Gebäude der Gerichtsmedizin in Quito am 10. August 2023. (AFP / Galo Paguay)
Birke, Burkhard
Auch in Ecuador prägen Drogenkartelle und brutale Gewalt den Alltag. Korruption und Verbrechen wollte Fernando Villavicencio als Präsident bekämpfen. Gerade der Mord an ihm zeigt, wie dringend nötig das wäre, kommentiert Burkard Birke.
"2023-08-10T19:11:30+02:00"
"2023-08-10T19:30:59.637000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kommentar-zur-lage-in-ecuador-nach-mord-an-praesidentschaftskandidat-dlf-0f7a7699-100.html
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"Mit der Türkei kann man sehr offen sprechen"
Den sogenannten Rallye-around-the-Flag-Effekt, also das Versammeln um die nationale Flagge, haben wir sehr eindrucksvoll gesehen, so Schulz. (AFP/OZAN KOSE) Christine Heuer: Die Türkei ist geostrategisch wichtig für die EU, sie ist wichtig in der Sicherheits- und auch in der Flüchtlingspolitik. Aber wie steht es mit den ökonomischen Beziehungen? Wer profitiert da mehr voneinander? Die EU und Deutschland, oder eben die Türkei? Das möchte ich jetzt gleich mit Ludwig Schulz, dem Türkei-Experten beim Deutschen Orient-Institut in Berlin besprechen. Erst einmal guten Tag, Herr Schulz! Ludwig Schulz: Guten Tag, Frau Heuer! Heuer: Und beginnen wollen wir aber trotzdem mit der Frage nach der Todesstrafe, denn das ist ja das Symbol, das entscheidende Symbol für den Weg, den die Türkei jetzt einschlagen wird. Die türkischen Bürger, wir haben das eingangs gehört, rufen nach der Todesstrafe. Ihr Tipp: Wird Erdogan sie wieder einführen? Schulz: Mein Tipp wäre, dass es dazu kommen wird, allerdings nach einem längeren Verfahren, Gespräche im Parlament, es gibt ja auch internationale Verträge oder Abkommen, die da zuerst mal revidiert werden müssen, und anderes. Also das dauert noch eine Zeit lang. Aber, anders, wie er selbst es sagt, wenn das Volk das möchte, dann passiert das – er treibt ja die Debatte an, er führt diese Agenda in gewisser Weise an, und insofern, das Parlament wird sich damit beschäftigen, und ich gehe dann von einem Votum aus, wahrscheinlich sogar dafür. "Es ist eine Bedingung gewesen der EU, dass die Todesstrafe in ihren Mitgliedsländern abgeschafft wird" Heuer: Und damit ist der Beitrittsprozess zu Ende. Schulz: Gewissermaßen, denn es ist eine Bedingung gewesen der Europäischen Union, dass die Todesstrafe in ihren Mitgliedsländern abgeschafft wird. Das hat man so gewissermaßen beschlossen, das ist nicht Teil der Kopenhagener Kriterien, aber in Europa ist das eben gewissermaßen stehendes Recht. Allerdings, der Verweis ist erlaubt, auch in den USA, etabliertermaßen eine Demokratie, dort gibt es die Todesstrafe. Insofern, innerhalb des türkischen Diskurses, innerhalb der türkischen Diskussionen ist dieser Verweis auf die USA zumindest heranzuziehen. Heuer: Aber heißt das, für Erdogan spielt jetzt nur noch eine Rolle, was in der Türkei diskutiert wird? Er schlägt die Warnungen der EU in den Wind und riskiert damit, dass diese Beitrittsverhandlungen zu Ende sind. Was schließen wir daraus? Interessieren sie ihn nicht, sind die wirtschaftlich viel zu unwichtig für ihn? Schulz: Zum letzteren Punkt vielleicht gleich, weil die Wirtschaft ist natürlich wichtig für die Türkei, und die Wirtschaftsbeziehungen zur EU. Ich denke, da sind aber auch andere Punkte ganz relevant momentan. Erst mal diese nationale Bewegung, die Erdogan hier anführen möchte, diesen Rallye-around-the-Flag-Effekt haben wir ja sehr eindrucksvoll gesehen, also das Sammeln um die nationale Flagge. Hier geht es vor allen Dingen jetzt um eine innenpolitische Agenda, das Präsidialsystem umzusetzen und anderes. Aber tatsächlich, die Wirtschaft ist wichtig. Fast 50 Prozent der Waren, die in die Türkei kommen, kommen aus Europa, kommen aus der EU. Und umgekehrt ist auch die Türkei zumindest auf Platz sieben der wichtigen Wirtschaftspartner der EU. Also sie ist auch siebtgrößte Wirtschaft innerhalb Europas. Und das ist alles so wichtig, und die Wirtschaftsbeziehungen sind so eng, dass man hier weiter im Endeffekt arbeiten muss. Heuer: Ja, trotzdem findet Recep Tayyip Erdogan ja offenbar, dass ihn das nicht in erster Linie interessieren muss. Kann die Türkei es sich leisten, mit der EU zu brechen? Schulz: Sie riskiert es zumindest. So weit möchte ich doch gehen in meinen Vermutungen, denn wir haben ja zum einen gesehen, wenn es um Demokratie geht und das politische System, das sich in der Türkei etablieren soll, da wird immer darauf verwiesen, dass die Türken doch selbst ihre eigene Zukunft wählen dürfen, und das ja demokratisch gewissermaßen tun. Allerdings, wenn es um die Wirtschaft geht, hier sind die Beziehungen sehr eng, und die Europäer, das hat man am Fall Russlands zum Beispiel gesehen, tun sich auch schwer mit Sanktionen zum Beispiel oder hier wirtschaftlich, wirtschaftspolitisch gegen einen wichtigen Handelspartner vorzugehen. Da muss es schon zu ernsthaften Schädigungen der Beziehungen kommen, nicht nur in der Entwicklung in dem jeweiligen Land, sondern Schädigung der Beziehungen. Und da muss man erst man eben sehen, wozu die EU wirklich in der Lage ist. Also kurz, ja, die Türken riskieren das. Heuer: Aber, Herr Schulz, warum sind denn die Europäer da so zögerlich? Geht das Geld vor Menschenrechten, auch aus Sicht mancher Europäer? Schulz: Zumindest darf es das natürlich nicht, normativ sozusagen gesehen. Und aus unserer deutschen Perspektive tendieren wir dazu, dass es diese Diskussion gar nicht geben darf, dass die Menschenrechte vorgehen. "Es gibt durchaus Maßnahmen, die man gegenüber der Türkei wählen kann" Heuer: Aber was spielt sich im Hintergrund ab, das ist ja die Frage. Man kann das ja – öffentlich würde man das ja nie sagen, niemand würde das sagen. Aber stimmt es nicht tatsächlich, dass wir unsere ökonomischen Interessen, dass unsere Politiker in Deutschland und der EU die eigenen ökonomischen Interessen dann doch am Ende ein bisschen höher stellen als die Menschenrechte eben jetzt zum Beispiel in der Türkei? Schulz: Am Beispiel Russlands hat man ja gesehen, dass man sich auch durchringen kann und die Sanktionen dann konsequent auch umsetzt. Und es gibt also hier durchaus Maßnahmen, die man gegenüber der Türkei wählen kann. Beitrittshilfen zum Beispiel, dass man darüber diskutiert. Den Flüchtlingsdeal lassen wir jetzt lieber mal außen vor, der wird außen vor behandelt. Aber anhand von Beitrittshilfen, die ja einer Demokratisierung der Türkei zum Beispiel zugutekommen sollen, hier könnte man zum Beispiel ansetzen. Aber auch hier sind die Entscheidungsprozesse innerhalb der EU sehr kompliziert. Ich glaube, man darf die Diskussion nicht zu hoch hängen. Wichtig ist zum Beispiel jetzt, dass man überhaupt mal wieder ins Gespräch kommt. Der Bundesaußenminister, auch die EU-Außenbeauftragte, niemand ist bislang nach Ankara gefahren und hat das Gespräch gesucht. Jetzt wird es dringend Zeit, damit man hier vorankommt und nicht mehr übereinander spricht, sondern miteinander. Heuer: Herr Schulz, aber was sollten so Leute wie Federica Mogherini oder der deutsche Außenminister in der Türkei in den Gesprächen dann sagen? Wie hart sollte denn da oder wie offen sollte da gesprochen werden? Schulz: Ich glaube, dass man mit der Türkei sehr offen sprechen kann. Dass man ihnen auch klar machen muss, wenn die Todesstrafe beispielsweise eingeführt wird, dann ist dieser Beitrittsprozess beendet, dann gibt es die Beitrittshilfen nicht, die zwar nicht exorbitant hoch sind, aber immerhin wichtig sind für die türkische Verwaltung zum Beispiel, dass sie modernisiert wird und vieles anderes mehr. Wie gesagt, Wirtschaftssanktionen – nach der Geschichte mit Russland tut sich auch die deutsche Wirtschaft schwer, einen wichtigen Markt dann zu verlieren. Andererseits, man muss mit ihnen offen reden, dass man auch ein Interesse hat, die Türkei demokratisieren zu wollen. Sie darf ihr eigenes Schicksal selbst wählen, oder die Bevölkerung darf das tun, aber man möchte, man hat ein europäisches Interesse an einer demokratischen Türkei, und das muss man ihnen klar machen, was Demokratie auch bedeutet. Heuer: Aber bisher reagiert die türkische Führung darauf ja nicht, beziehungsweise sie reagiert, indem sie sagt, wir lassen uns nichts vorschreiben, wie Sie es gerade gesagt haben, und wir gehen unseren Weg entschieden weiter, und wir lassen uns nicht reinreden. Wo ist denn der Hebel sozusagen an dem türkischen Präsidenten, an dessen Haltung was verändern zu können aus unserer Perspektive. Womit kann man diesen Mann beeindrucken? Schulz: Ich glaube, man könnte ihn nur beeindrucken, indem man wirklich fest sich in das Gespräch begibt und fest auch an den gemeinsamen Vorstellungen eines gemeinsamen Europas vielleicht arbeitet. "Es ist weiterhin Recep Tayyip Erdogan, mit dem man verhandeln muss" Heuer: Aber Herr Schulz, die hat er ja offenbar ja nicht mehr. Schulz: Gewissermaßen ist der Zug abgefahren, da gebe ich Ihnen recht. Aber es ist weiterhin Recep Tayyip Erdogan, mit dem man verhandeln muss, mit dem man in verschiedenen Bereichen, und seiner Regierung, mit dem man in verschiedenen Bereichen zusammenarbeiten muss. Wir können uns die Türkei nicht wegradieren. Sie wird da bleiben, und wir müssen im Endeffekt damit umgehen, wie die Türkei sich entwickelt. Heuer: Wenn es darum geht, wer wen überzeugt oder wer sich durchsetzt in diesem Wertedisput, der da stattfindet, dann stellt sich ja auch die Frage unterm Strich, wer wen mehr braucht. Brauchen wir, braucht Europa die Türkei mehr, oder braucht die Türkei doch stärker die Europäische Union? Schulz: Wenn man die Wirtschaftsbeziehungen zum Beispiel wieder sieht, ist das Interesse gleichsam hoch und ausbaufähig. Und es wird ausgebaut. Die Handelszahlen sind gewachsen in beiderlei Hinsicht, insbesondere auch die deutschen Handelszahlen innerhalb dieses Jahres. Da ist Interesse da, und ich denke, die große Empathie, mit der wir über die Türkei berichten, die Medien beispielsweise, aber auch, mit der die Bevölkerung sich über die Türkei Gedanken macht, zeigt auch, wie groß das Interesse und wir groß auch der Wille der Gesellschaft ist, dass die Türkei sich eigentlich in eine gute Richtung bewegt. Ich glaube, das ist etwas, was man den Türken mehr klar machen muss, dass es in Deutschland schon ein Interesse gibt an einer guten Entwicklung für die Türkei. Heuer: Und Sie hoffen darauf, dass der stete Tropfen dann den Stein höhlt. So klingt das ein bisschen. Schulz: Tja. Ja. Heuer: Ludwig Schulz, Türkei-Experte beim Deutschen Orient-Institution in Berlin. Herr Schulz, haben Sie Dank für das Gespräch! Schulz: Ich danke Ihnen, Frau Heuer! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Ludwig Schulz im Gespräch mit Christine Heuer
Der Türkei müsse klar gemacht werden, dass bei Wiedereinführung der Todesstrafe der EU-Beitrittsprozess beendet sei, sagte Ludwig Schulz vom Deutschen Orient-Institut (DOI) im DLF. Er betonte, dass man mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan verhandeln und zusammenarbeiten müsse. "Wir können uns die Türkei nicht wegradieren".
"2016-08-08T12:13:00+02:00"
"2020-01-29T18:46:06.290000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/debatte-um-todesstrafe-mit-der-tuerkei-kann-man-sehr-offen-100.html
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Die Angst vor Moskaus Kurdenkarte
Ankara blickt mit Sorge auf die russischen Flugzeuge in Syrien. (picture alliance / dpa / Tass) Ein Gespenst geht wieder um in der Türkei: die Angst vor einem unabhängigen Kurdenstaat. Die Separierung der irakischen Kurden von Bagdad bereitet Ankara kein Kopfzerbrechen. Die irakischen Kurden folgen dem feudalen Regierungssystem des Barzani-Clans und treiben regen Handel mit der Türkei. Kopfschmerzen bereitet der türkischen Führung das Vorgehen der Kurden im Rojava genannten Norden Syriens. Die stärkste politische Kraft dort ist die Partiya Yekitiya Demokrat – die Partei der Demokratischen Union, kurz PYD. Die syrische PYD ist ein Ableger der türkischen PKK. Gegen die als Terrororganisation gebrandmarkte PKK führt Ankara Krieg. Doch nicht nur diese enge Bande bereitet der türkischen Führung Sorgen. Der Kalte Krieg kommt zurück, erklärt der Politikwissenschaftler Akın Ünver von der Kadir Has Universität in Istanbul. Konkret meint er damit die Angst türkischer Politiker vor Moskau. Seitdem russische Truppen im Herbst vergangenen Jahres aktiv im Bürgerkrieg in Syrien mitmischen, schrillen in der Türkei die Alarmglocken. "Wenn du dir die letzten 270 Jahre osmanischer und türkischer Geschichte anschaust, dann siehst du, dass verlorene Gebiete meistens an Russland gingen, dass Kriege meistens gegen Russland geführt wurden. Moderner türkischer Nationalismus ist entstanden aufgrund der Kriege gegen Russland, nicht gegen Europa." Moskaus Truppen agieren im Norden Syriens. Dort agieren auch die syrischen Kurden. Diese profitieren einerseits von amerikanischen Luftschlägen gegen die Terrormiliz Islamischer Staat. Andererseits profitieren sie auch von Moskaus militärischen Operationen gegen Regimegegner. Ankara fürchtet dabei nicht nur ein Erstarken der syrischen Kurden, sondern auch ganz konkret den wachsenden Einfluss Moskaus. "Jetzt breitet sich Russland erneut aus" "Russland war immer das, was am meisten erschreckt und es beherrscht instinktiv das türkische Sicherheitsdenken. Während des Kalten Krieges Teil der Nato zu sein, war hier sehr wichtig. Jetzt breitet sich Russland erneut aus." Russische Truppen stehen schon an der türkischen Südgrenze. Für Ankara sei damit eine rote Linie überschritten, analysiert Akın Ünver. "Wenn die Militärs wieder russische Maßstäbe anlegen und die Alarmglocken läuten, weil die Russen in Syrien sind, dann ist das einer der Hauptgründe dafür, dass Erdoğan die Sache mit den Kurden hat fallen lassen." Präsident Erdoğan hat sich Ünver zufolge vom Friedensprozess mit der PKK auch deshalb abgewandt, weil Moskaus Einfluss auf die Kurden Syriens und der Türkei zu groß zu werden drohte. Alle von der PKK erbeuteten Waffen seien russischer Herkunft, verkündete Erdoğan Anfang dieser Woche. Womit er einmal mal mehr eine für Ankara unheilvolle Allianz zwischen Moskau und Kurden hervorheben wollte. Die PKK mit ihren sozialistischen Wurzeln hat seit ihrer Gründung traditionell gute Beziehungen zu Moskau unterhalten. Die Verbindungen nach Russland sind auch nach dem Untergang der Sowjetunion nicht abgerissen. Die Versuchung ist für Wladimir Putin sicher groß, die PKK stärker zu unterstützen, sollten sich die Beziehungen zwischen Ankara und Moskau weiter verschlechtern. Für Ankara wäre das ein Albtraum.
Von Reinhard Baumgarten
Das russische Engagement in Syrien und vor allem die Kurdenpolitik Moskaus bereiten der Türkei zunehmend Sorgen. Denn von den russischen Luftangriffen in Syrien profitieren auch die Kurden im Norden Syriens, die wiederum der in der Türkei verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) nahestehen. Dass Russland auch die PKK unterstützt, wird schon jetzt in Ankara vermutet.
"2016-02-03T09:10:00+01:00"
"2020-01-29T18:11:52.305000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/tuerkei-und-russland-die-angst-vor-moskaus-kurdenkarte-100.html
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"Es wird keinen lauten Knall geben"
Helmut Scholz, Europaabgeordneter der Linkspartei (Imago / Viktor Dabkowski) Jule Reimer: In den letzten Monaten war es still geworden um das Freihandelsabkommen CETA zwischen der Europäischen Union und Kanada. Dabei geht es jetzt richtig los damit. Am Donnerstag wird es in Kraft treten, vorläufig und in Teilen. Denn für die Endgültigkeit des Gesamtvertrags müssen noch die nationalen Parlamente der EU-Mitgliedsstaaten ihr Jawort geben. Und nicht nur das Bundesverfassungsgericht hatte Bedenken gegen einzelne Vereinbarungen vorgebracht; Belgien will Teile des Abkommens sogar vom Europäischen Gerichtshof überprüfen lassen, weil sich nämlich das Regionalparlament der Wallonie bei der Verabschiedung quergestellt hatte. Kurz vor dieser Sendung fragte ich Helmut Scholz, Europaabgeordneter der Linken und Handelsexperte seiner Fraktion, was sich denn für die Verbraucher jetzt ändert, wenn CETA vorläufig in Kraft tritt. Helmut Scholz: Erst einmal muss man sagen, es wird keinen lauten Knall geben, und damit werden die Veränderungen durch CETA erst allmählich wirksam. Wir sind sozusagen auf Beobachtungsposten. Die belgische Regierung muss künftig regelmäßig berichten, welche wirtschaftlichen, sozialen und auch gerade ökologischen und Verbraucherschutzfolgen durch CETA eintreten werden. Reimer: Warum ausgerechnet die belgische Regierung? Scholz: Weil die belgische Regierung durch das Verfahren auf der nationalen Ebene vor Zustimmung im Rat weitgehend Verpflichtungen gegenüber dem Parlament eingegangen ist, und das hat leider die Bundesregierung so nicht getan. Ich wünsche mir einen solchen Bericht auch von der künftigen neuen Bundesregierung. Zum Beispiel treten kanadische Bergbaugiganten in unseren Markt ein und damit auch die Fragen der Förderungspolitik und die Beachtung von Umweltnormen, die auf den unterschiedlichen Ebenen auch auf Landesebene getroffen wurden, weiter bestehen bleiben. Reimer: Was könnte das praktisch bedeuten? Scholz: Schon am Tag eins des vorläufigen Inkrafttretens werden die Kommunen, Länder und der Bund neue Informations- und Kommunikationspflichten gegenüber kanadischen Behörden und Unternehmen eingehen. Wird das die Modernisierung unserer Regulierung verlangsamen oder beschleunigen? Wie stark nutzen US-Unternehmen, ihre zahlreichen Niederlassungen auf den europäischen Markt zu drängen? Welche Arbeitsplätze, welche Löhne? All solche Fragen stehen an und geraten gegebenenfalls unter Druck. Reimer: Ich möchte noch mal zurückkommen auf dieses Konsultationsverfahren. Was heißt das denn praktisch? In Sachsen gibt es ja Bergbau. Wenn sich da jetzt kanadische Bergbauunternehmen betätigen und Sachsen möchte irgendwelche Umweltgesetze ändern, müssen die dann die Kanadier einladen und denen erst mal sagen, was sie planen? Scholz: So ist es, bevor sie die Regulierung erlassen können. Gegenseitig besteht dann durch CETA die Notwendigkeit. Die jeweilige Regulierungsstrukturbehörde auf Bundes- oder Provinzebene in Kanada oder Bund- und Landesebene in Deutschland oder in Departements in Frankreich und auf der nationalen Ebene, die müssen sich gegenseitig immer sachkundig machen, was ist eigentlich vorgesehen. Reimer: Aber diese umstrittenen Investitionsschutzgerichte, vor denen die Unternehmen gegen eine Regierung klagen könnten, die bleiben ja erst einmal ausgespart. Von daher kann ja im Augenblick nichts passieren. Scholz: Diese Investitionsschutzgerichte oder die Verfahren, die damit auf die Tagesordnung gesetzt werden, die treten ja erst ein, wenn man sich gegenseitig verklagt oder Probleme hat. Diese Regulierungszusammenarbeit, die mit CETA vereinbart wurde, die bedeutet, dass die Regulierungsbehörden vorab informieren müssen, was sie haben. Das heißt, das ist ein indirektes Eingreifen in die Frage, wie werden Gesetze erarbeitet und Gesetze und Normen umgesetzt. Reimer: Ein kurzes Schlusswort. Haben Sie das Gefühl, die EU-Kommission hat gelernt aus der Auseinandersetzung um CETA? Scholz: Ich sage mal vorsichtig, sie sind voll im Lernprozess. Ich glaube, sie haben nicht genügend gelernt, aber wer vor allen Dingen lernen muss ist der EU-Rat. Der weigert sich bislang nach wie vor, die Mandate zu veröffentlichen. Mandate sind eigentlich sehr allgemein gehaltene Vorhabenserklärungen, was eigentlich bei Verhandlungen ansteht. Aber selbst die ist der Rat nach wie vor bisher nicht bereit zu veröffentlichen. Die Kommission hat zugesichert und das hat auch Jean-Claude Juncker im Parlament verkündet, künftig die Entwürfe für die Mandate zu veröffentlichen. Das heißt, das Parlament wie auch die Öffentlichkeit kann wissen, was die Kommission dem Rat vorschlägt, zum Inhalt künftiger Handelsvereinbarungen zu machen. Das, glaube ich, ist ein Schritt zumindest in die richtige Richtung. Reimer: Unter EU-Rat fassen Sie jetzt die Regierungschefs zusammen. Scholz: Ja. Der Rat sind die Regierungschefs beziehungsweise die Fachministerräte. Manchmal sitzen die Fischereiminister zusammen im Rat für Fischereipolitik und dort beschließen sie ein Handelsabkommen. Manchmal sind das einfach die Abläufe. Die Vertreter der Mitgliedsstaaten, die darüber beschließen, was ist EU-ratsmäßig die Position dieser zweiten legislativen Kammer, oder wenn wir realpolitisch herangehen der ersten gesetzesgebenden Kammer, die müssen, finde ich, transparent endlich ihr Handeln einführen, damit wir einen Schritt weiterkommen im demokratischen Umbau und der demokratischen Weiterentwicklung der Europäischen Union, damit sie eine Union der Bürgerinnen und Bürger bleibt oder vor allem wird. Reimer: Der Europaparlamentarier Helmut Scholz von der Linken zu den Folgen des europäisch-kanadischen Freihandelsabkommen CETA, das am Donnerstag vorläufig und teilweise in Kraft tritt. Das Gespräch haben wir vor der Sendung aufgezeichnet. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Helmut Scholz im Gespräch mit Jule Reimer
Am Donnerstag wird das Freihandelsabkommen CETA zwischen der EU und Kanada in Teilen in Kraft treten. Der Europaabgeordnete der Linkspartei, Helmut Scholz, sagte im Dlf, die Handelsschranken fielen nicht auf einmal. Aber: Der Bund werde neue Kommunikationspflichten gegenüber Kanada eingehen.
"2017-09-19T11:35:00+02:00"
"2020-01-28T10:51:42.511000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ceta-fast-in-kraft-es-wird-keinen-lauten-knall-geben-100.html
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Schwerpunkthema: Mehr Ehre für die Lehre
Bund und Länder haben den milliardenschweren "Qualitätspakt Lehre" aufgelegt. Aktuell arbeiten 32 Hochschulen im Auftrag der KMK und des Stifterverbandes an einer "Charta guter Lehre", die in dieser Woche in Berlin diskutiert wurde. Die Art und Weise wie Professoren und Dozenten ihren Studierenden Inhalte vermitteln, gewinnt also zunehmend an Bedeutung. Vor diesem Hintergrund fragt PISAplus: Ist die Hochschullehre tatsächlich auf einem guten Weg? Wie werden aus Autodidakten im Audimax echte Vorlesungsprofis? Welche Lehrmethoden haben sich bewährt, welche sind weniger sinnvoll? Und welche Erwartungen haben Studierende an ihren Professor?Gesprächsgäste waren u.a.:* Heribert Nacken, Professor an der RWTH Aachen und Mitverfasser der "Charta guter Lehre"* Malte Persike, Statistikdozent an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und diesjähriger Ars-Legendi-Preisträger* Theo Fall, Studentenvertreter an der Ludwig-Maximilians-Universität MünchenAls Beitrag:Henning Hübert Gute Lehre – Schlechte LehreUmfrage unter Studierenden Ursula Storost Paradigmenwechsel in der LehreDie TU Hamburg-Harburg eröffnet ein Zentrum für Lehre und Lernen Außerdem Kurzmeldungen aus der Bildungswelt Eine Sendung mit Hörerbeteiligung
Moderation: Regina Brinkmann
Die Art und Weise wie Professoren ihren Studierenden Inhalte vermitteln, gewinnt zunehmend an Bedeutung. Aktuell arbeiten 32 Hochschulen im Auftrag der Kultusministerkonferenz und des Stifterverbandes an einer "Charta guter Lehre". Ist die Hochschullehre tatsächlich auf einem guten Weg?
"2012-10-27T14:05:00+02:00"
"2020-02-02T14:30:46.821000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/schwerpunkthema-mehr-ehre-fuer-die-lehre-100.html
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Nouripour: Strategische Partnerschaft mit Saudi-Arabien beenden
Ein Wachmann schaut durch die Türe im saudi-arabischen Konsulat in Istanbul (Lefteris Pitarakis/AP/dpa) Dirk-Oliver Heckmann: Um 8:12 Uhr kommen wir zum Verhältnis zwischen Deutschland und Saudi-Arabien und zur Frage, was jetzt mit den bereits genehmigten Waffenlieferungen geschehen soll. Am Telefon begrüße ich Omid Nouripour von Bündnis 90/Die Grünen, deren außenpolitischer Sprecher. Schönen guten Morgen. Omid Nouripour: Schönen guten Morgen, Herr Heckmann. Heckmann: Herr Nouripour, Riad hat ja jetzt näher erläutert, was im saudischen Konsulat abgelaufen sein soll. Demnach sollte Kashoggi dazu überredet werden, nach Saudi-Arabien zurückzukehren. Dann sei es zu einem Würgegriff gekommen, an dem Kashoggi verstorben sei, und seine Leiche sei in einem Teppich gerollt aus der Botschaft gebracht worden. Das Einsatzteam habe aber komplett seine Befugnisse überschritten. Der Vize-Geheimdienstchef - ein Vertrauter des Kronprinzen - wurde entlassen. Ist das eine Geschichte, die sich so abgespielt haben könnte, oder ist das eine Geschichte aus 1001 Nacht? Nouripour: Da gibt es sehr viele Ungereimtheiten. Warum, wenn man jemanden überreden will mitzukommen, bringt man seinen Doppelgänger mit? Warum redet man nicht mit seiner Frau vor der Tür und erzählt ihr, was passiert ist? Warum hat man einen Pathologen dabei? Es sind sehr, sehr viele Ungereimtheiten, die darauf hindeuten, dass die Saudis das nicht so ernst nehmen mit der Aufklärung. Aber es ist immerhin so, dass sie nicht mehr diese ersten Geschichten erzählen von zufällig im Faustkampf und so weiter und so fort. Das heißt, die merken, dass sie die Weltgemeinschaft nicht für ganz blöd verkaufen können. "Es ist bisher nicht wirklich plausibel, was die erzählen" Heckmann: Das heißt, Sie glauben von dieser Geschichte so gut wie nichts? Nouripour: Es ist bisher nicht wirklich plausibel, was die erzählen. Noch mal: Warum bringen sie einen Pathologen mit, wenn sie jemanden überreden wollen? Wollen sie ihm sagen: Guck mal, hier ist ein Pathologe; wenn Du nicht mitkommst, werden wir Dich zerstückeln? Oder was ist der Sinn dahinter? Noch mal: Es sind vier Bodyguards dabei gewesen vom Kronprinzen selbst. Es ist ein enger Berater von ihm dabei gewesen. Wenn das so hoch aufgehängt ist und wenn sie ein quasi Bodydouble von ihm dabei haben, dann deutet das nicht darauf hin, dass man friedliche Gespräche miteinander führen wollte. Heckmann: Die Frage ist jetzt, Herr Nouripour, was folgt daraus für die Waffenexporte Deutschlands Richtung Saudi-Arabien. Die Kanzlerin haben wir gerade gehört. Gestern Abend hat sie bei einem Wahlkampfauftritt in Hessen das noch mal bekräftigt: O-Ton Angela Merkel: "Das muss aufgeklärt werden und solange das nicht aufgeklärt wird, gibt es auch keine Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien. Das sage ich Ihnen ganz ausdrücklich zu." Heckmann: Soweit Angela Merkel. Auf die Nachfrage, was mit Exporten ist, die bereits genehmigt sind, dazu meinte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Norbert Röttgen, gestern Abend im ZDF: O-Ton Norbert Röttgen: "So hat es ja eben auch die Bundeskanzlerin gesagt. Es kann jetzt nicht mehr zur Lieferung auch von bestehenden Verträgen, von Zusagen kommen. Wir würden ja unsere eigene Glaubwürdigkeit vollkommen verlieren mit der naheliegenden Möglichkeit eines brutalen Foltermordes im Auftrag der höchsten Staatsführung." "Die Saudis haben den Jemen in die Steinzeit gebombt" Heckmann: Soweit Norbert Röttgen. Herr Nouripour, ist die Sache damit klar aus Ihrer Sicht? Nouripour: Ehrlich gesagt frustriert mich das ungemein. Es ist gut, dass endlich so was wie ein Weckruf auch durch öffentlichen Druck entstanden ist und die Bundesregierung jetzt tatsächlich erstmals davon redet, dass sie nicht mehr liefern wollen. Aber der Fall Kashoggi ist ja die Spitze des Eisberges. Die Saudis haben die letzten dreieinhalb Jahre das Nachbarland, das ärmste Land der arabischen Welt, den Jemen in die Steinzeit gebombt. Deshalb steht ja im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD, dass man an Staaten, die unmittelbar am Krieg im Jemen beteiligt sind - und das ist in erster Linie Saudi-Arabien -, nicht mehr liefert. Warum das überhaupt nicht umgesetzt worden ist, warum auch die eigenen Rüstungsexportrichtlinien nicht umgesetzt worden sind, sondern warum es erst einen so prominenten fürchterlichen Fall braucht, damit man überhaupt dazu kommt, darüber zu reden, nicht mehr liefern zu wollen, das bleibt mir schleierhaft. "Bin ich ein wenig verwirrt, warum die Bundesregierung da so ängstlich herangeht" Heckmann: Weil es auch einen Bestandsschutz gibt für die liefernden Firmen, und die Bundesregierung würde sich ja regresspflichtig machen. Können Sie das verantworten, dass der Steuerzahler einen Milliardenschaden übernimmt? Nouripour: Das erste ist, dass nach der Ankündigung im Koalitionsvertrag ja immer noch für 412 Millionen Genehmigungen erteilt worden sind. Wenn man dann Genehmigungen erteilt, obwohl man zugesagt hat, es nicht mehr zu tun, um dann zu sagen, tut mir leid, wir haben jetzt Genehmigungen erteilt, hier haben wir Angst vor Regress, ist das nicht besonders plausibel. Das zweite ist: Es gibt beispielsweise für die Boote, die geliefert worden sind, die Zusage, die schriftliche Zusage Saudi-Arabiens, dass man diese nur an der Straße von Hormus einsetzt, am Eingang des Persischen Golfes, und nicht für die Seeblockade gegen den Jemen - eine Seeblockade, die massiv dazu beiträgt, dass so viele Menschen dort verhungern, dass es eine Cholera-Epidemie gibt. Wenn man im Internet einfach versucht, diese Boote zu verfolgen, was die denn tun, dann fahren sie bis an die Straße von Aden - das ist genau da, wo die Seeblockade stattfindet - und dann machen sie ihre Transponder aus, ihre Sendegeräte, so dass man sie nicht mehr verfolgen kann. Es spricht alles dafür, und zwar seit Jahren, dass die Saudis ihre eigenen Zusagen, was Endverbleib betrifft, nicht einhalten, und wenn das passiert, dann reden wir nicht über Regress, sondern dann reden wir über Vertragsbruch von der anderen Seite. Deshalb bin ich ein wenig verwirrt, warum die Bundesregierung da so ängstlich herangeht und als erstes der anderen Seite recht gibt, bevor sie überhaupt geprüft haben, ob man das nicht machen kann, weil die Saudis vertragsbrüchig geworden sind. "Die Saudis haben sich damit in Deutschland Einfluss gekauft" Heckmann: Das heißt, aus Ihrer Sicht hat sich die Bundesregierung hinters Licht führen lassen? Nouripour: Ich glaube, dass die Bundesregierung seit Jahren sich selbst in die Tasche lügt. Man hat uns seit Jahren gesagt, dass man Waffen nach Saudi-Arabien verkauft, weil man ja sich erhofft, dass es dann Einfluss gibt Deutschlands auf die Regionalpolitik Saudi-Arabiens. Wenn ich mir die Lage im Jemen anschaue, was die Saudis dort anstellen, dann wünsche ich der Bundesregierung, dass sie keinen Einfluss hatten, weil schlimmer geht es nicht. Aber es erweist sich ja, dass es anders herum war: Die Leisetreterei der Bundesregierung der letzten Jahre. Im Übrigen haben wir seit sechs Monaten eine Verhaftungswelle ohnegleichen gegen Menschenrechtler in Saudi-Arabien. Dass die Bundesregierung dazu nichts sagt, dass sie dazu schweigt, spricht ja eher dafür, dass die Saudis sich damit in Deutschland Einfluss gekauft haben, wie sie es stets tun mit ihren Rüstungskäufen, und davon müssen wir uns endlich befreien und es ist eine Frage der Souveränität, dass diese Rüstungsexporte aufhören, die dazu führen, dass die Bundesregierung Dinge nicht tut, die sie tun soll. Heckmann: Das würde die Bundesregierung sicherlich zurückweisen, dass sie sich nicht äußert zu Menschenrechtsverletzungen in Saudi-Arabien. Aber eine andere Frage, Herr Nouripour: Ist eigentlich mittlerweile klar, welche Waffenlieferungen genehmigt worden sind und bisher nicht ausgeliefert worden sind? Nouripour: Ja, gibt es. Aber wenn ich noch einmal widersprechen darf in der Menschenrechtsfrage. Die Kanadier haben diese Verhaftungswelle sehr klar kritisiert. Daraufhin haben die Saudis schwer verletzt und total beleidigt erklärt, dass sie zum Beispiel die Flüge nach Kanada jetzt streichen wollen und die Wirtschaftsbeziehungen verkleinern wollen. Dann gab es einen Besuch in Berlin von der kanadischen Außenministerin. Die war im Auswärtigen Amt, hat eine Rede gehalten und hat gesagt: Lieber Herr Maas, Sie haben gestern in einem Namensbeitrag in der Zeitung geschrieben, wir brauchen jetzt einen Schulterschluss der Demokraten gegen Leute wie Trump. Super! Ich wünschte mir Äußerungen und eine Unterstützung von Deutschland gegen Saudi-Arabien. Der Grünen-Politiker Omid Nouripour (imago stock&people / Janine Schmitz) Heckmann: Gerichtet an den deutschen Außenminister. Nouripour: Richtig! Dann ging sie von der Bühne runter. Dann ging Heiko Maas nach oben, hielt eine Rede und ging überhaupt nicht darauf ein. Er sagte kein einziges Wort dazu. Kein einziges Wort der Unterstützung bisher für Kanada in der Auseinandersetzung mit Saudi-Arabien! Deshalb wäre eine Zurückweisung der Bundesregierung nicht besonders plausibel. Es ist relativ klar, was bisher genehmigt worden ist in diesem Jahr, was noch nicht geliefert worden ist. Wir reden in erster Linie über zwei Waffensysteme, die hoch relevant sind, gerade auch für den Krieg im Jemen. Das eine ist ein Raketensystem namens Cobra. Da sagt die Bundesregierung: Was sollen wir denn machen, das ist deutsch-französisch. Und wenn die Franzosen das wollen, können wir ja nicht nein sagen. Aber sie verkennt dabei oder verschweigt dabei, dass die Hardware dieses Systems massiv aus Deutschland kommt und nicht die Deutschen einfach mal eine Schraube geliefert haben, sondern über 50 Prozent des Baumaterials ist deutsch. "Die Saudis unterlaufen ihre eigenen Versprechen" Heckmann: Aber es gibt ja auch eine Vereinbarung, Herr Nouripour, dass bei solchen internationalen Kooperationen nicht ein Partner plötzlich einen Deal verhindern und blockieren kann. Nouripour: Das ist richtig. Aber wir reden noch mal über einen Krieg im Jemen, der in der Verhältnismäßigkeit dazu kommt, dass das eindeutig völkerrechtswidrig ist. Und dieselbe Debatte über Saudi-Arabien gibt es in Frankreich auch. Deshalb sollte die Bundesregierung sich nicht hinter Frankreich verstecken. Wenn die denn genehmigen, sollen die sagen, warum sie das tun und warum sie es nicht tun. Es gibt immer noch Rüstungsexportrichtlinien, die nicht ausgehebelt werden, wenn die Franzosen etwas anderes wollen. Das zweite, noch mal, sind die Boote. Es sind neue Boote jetzt genehmigt worden. Diese Boote werden von den Saudis systematisch in der Straße von Aden zur Seeblockade Jemens benutzt und damit unterlaufen die Saudis ihre eigenen Versprechen. Allein deswegen sollte man nicht liefern. Heckmann: Reicht es, die Waffenexporte zu stoppen? Nouripour: Ich glaube nicht. Es gibt noch mehr, was man tun kann und sollte. Es ist dringend notwendig, im Dialog mit den Saudis zu bleiben. Das ist keine Frage. Ich habe mich gefreut, als es hieß, dass der saudische Botschafter zurückkommt. Das hat auch was damit zu tun, dass es einige Akteure gibt im Nahen Osten, die sehr stark am Geldtropf der Saudis hängen und die Druck bekommen auch in der Kooperation mit uns, wenn die Saudis gerade mit uns nicht kooperieren. Deshalb: Dialog ja, unbedingt. Eine unbefestigte Straße im Stadtteil Crater in Aden/Jemen. (Deutschlandradio / Oliver Ramme) Aber wenn ich mir zum Beispiel anschaue, dass es ein Reformministerium gibt in Saudi-Arabien, was nicht nur die Reformen für den Kronprinzen aufschreibt, sondern dieser Tage auch die Verteidigungslinie im Fall Kashoggi, und dieses Reformministerium hat in Riad den Beinahmen das McKinsey-Ministerium, weil das quasi alles McKinsey-Leute sind, die da hocken, dann stellt sich die Frage, ob es noch so weitergehen kann, dass Frau von der Leyen ihre gesamte Politik mittlerweile für 150 Millionen Euro Beraterverträge von McKinsey schreiben lässt, oder ob man da nicht eine Trennlinie ziehen muss. Aber das wichtigste ist, einfach zu verstehen: Der Fachbegriff der strategischen Partnerschaft, dieser Fachbegriff gilt nur für sehr besondere bilaterale Beziehungen, die eine besondere Tiefe haben. Es ist dringend notwendig, dass man die strategische Partnerschaft mit Saudi-Arabien beendet, weil das kein besonders guter Partner ist im Nahen Osten. Sie sind nicht wesentlich besser als die Iraner, genauso wie man keine strategische Partnerschaft mit dem Iran hat. Genauso wie niemand auf die Idee kommt, den Iranern Waffen zu verkaufen, sollte das auch für Saudi-Arabien gelten. Heckmann: Wie groß ist die Gefahr, dass über den Fall Kashoggi Gras wächst? Nouripour: Die Gefahr gibt es tatsächlich, so wie in anderen Fällen es ja auch passiert ist. Ich habe sehr lange schon keine besonders große Aufmerksamkeit mehr gesehen für den fatalen Krieg im Jemen. Aber genau deswegen gilt es ja, dass schnell gehandelt wird und nicht man einfach dasitzt und zuhört, wie die Saudis immer wieder sagen, wir werden irgendwann mal Antworten geben, wir werden aufklären, aber vielleicht übernächste Woche, sondern es gilt, dass jetzt Antworten kommen und jetzt Konsequenzen gezogen werden. Heckmann: Der außenpolitische Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen, Omid Nouripour war das live hier im Deutschlandfunk. Herr Nouripour, ich danke Ihnen für Ihre Zeit und für das Gespräch, wünsche Ihnen einen schönen Tag! Nouripour: Ihnen auch, Herr Heckmann. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Omid Nouripour im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann
Grünen-Politiker Omid Nouripour fordert ein Ende der Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien. Der Fall Kashoggi sei nur die Spitze des Eisberges. Die Saudis würden seit Jahren ihre eigenen Versprechen unterlaufen, sagte Nouripour im Dlf. Es sei gut, dass es nun öffentlichen Druck gebe, zu reagieren.
"2018-10-23T08:12:00+02:00"
"2020-01-27T18:16:51.686000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/waffenexporte-nach-saudi-arabien-nouripour-strategische-100.html
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Zweifel begleiten Sloweniens EU-Ratspräsidentschaft
Der slowenische Ministerpräsident Janez Jansa (dpa / Sven Simon) Der Aufgabenkatalog für die slowenische Ratspräsidentschaft ist voll. Nicht nur soll die frühere Teilrepublik des zerfallenen Jugoslawiens in diesem Halbjahr den neuen Asyl- und Migrationspakt voranbringen, Slowenien muss auch dafür sorgen, dass das neue Digitalgesetzepaket der EU-Kommission auf den Weg gebracht wird. Das gut zwei Millionen Einwohner umfassende Land will sich in seiner Präsidentschaft ebenso für schnellere Fortschritte bei den EU-Beitrittsgesprächen mit Westbalkanländern einsetzen. Zudem geht es darum, Europa nach anderthalb Jahren wieder allmählich aus dem Corona-Lockdown-Modus herauszuführen, erklärte der ständige Vertreter Sloweniens bei der EU, Iztok Jarc: "Was die politische Ebene angeht, gibt es 150 Dossiers, an denen gearbeitet wird. Und wenn ich eine Zahl nennen darf, denke ich, dass die slowenische Ratspräsidentschaft zur Normalität zurückkehren wird, was die physischen Treffen angeht: Wir erwarten in Brüssel 45 Treffen auf Ministerebene oder höher und wir veranstalten ungefähr 1.600 Arbeitstreffen, die meisten davon in Brüssel." Janez Janšas Sonderweg nach rechtsEin mehrheitliches liberales Land, ein rechtsnationalistischer Regierungschef: Slowenien, für das kommende Halbjahr Vorsitzland der EU, durchlebt diese schwierige Konstellation schon zum dritten Mal. Wirtschaftliche Erholung der EU hat Priorität Brüssel und die EU sollen also zur Normalität zurückkehren. Das bedeutet auch, dass die Mitgliedstaaten mithilfe des Corona-Wiederaufbaufonds wirtschaftlich wieder auf die Beine gestellt werden sollen. Dafür zu sorgen, betrachtet die slowenische Ratspräsidentschaft als eine ihrer Top-Prioritäten. Die erste Priorität sei also für Widerstandsfähigkeit und wirtschaftliche Erholung in der EU nach der Pandemie zu sorgen, sagte Iztok Jarc. Ob diese Aufgabe bei Slowenien in der richtigen Hand ist, wird allerdings bezweifelt. Das liegt daran, dass die slowenische Regierung unter Ministerpräsident Janez Jansa in den vergangenen Monaten von sich hat reden lassen, meist auf negative Art und Weise. Nicht nur hatte Jansa verfrüht dem ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump fälschlicherweise zur Wiederwahl gratuliert, auch ist seine Regierung damit aufgefallen, dass sie es mit europäischen Werten nicht so genau nimmt, das heißt, was Rechtstaatlichkeit oder Pressefreiheit angeht. So versucht die konservative Partei von Janza immer mehr, die Kontrolle über die Medienlandschaft zu erlangen. Fragen hinsichtlich der Rechtsstaatlichkeit Die slowenische Regierung hat zudem die Entsendung zweier Ankläger für die neu geschaffene Europäische Staatsanwaltschaft blockiert, die unter anderem gegen Korruption vorgehen soll. Diese Entscheidung muss nun gerichtlich geklärt werden und sorgt auf europäischer Ebene für Diskussionen. Dementsprechend ist die Skepsis gegenüber der Ratspräsidentschaft groß, so auch beim liberalen, slowenischen EU-Abgeordneten Klemen Groselj: "Ich erwarte, dass die slowenische Ratspräsidentschaft auf technischer Ebene laut auftreten wird, auf einer politischen Ebene glaube ich nicht an große Durchbrüche. Die erste Frage wird sein, was ist das Hauptthema der slowenischen Ratspräsidentschaft? Es wird vermutlich die Corona-Pandemie sein, wie schon bei den vergangenen zwei oder drei Ratspräsidentschaften. Die andere Frage wird sein, wie sie sich zur Rechtstaatlichkeit und zum EU-Parlament verhält, das dabei recht kritisch auftritt." Europäische Staatsanwaltschaft - unabhängig und über Grenzen hinwegDas rechtsstaatliche Gezerre um die Europäische Staatsanwaltschaft hat gezeigt, wie schwierig ihre Aufgabe sein wird, kommentiert Gudula Geuther. Aber gleichzeitig machten die Hürden und Widerstände deutlich, wie nötig diese neue Behörde ist. Kritik an der Zurückhaltung in Berlin Klemen Groselj ist gespannt, wie sich Slowenien gegenüber Polen und Ungarn verhält, auf die die Auslösung des Rechtstaatsmechanismus zukommen könnte. Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Franziska Brantner vermisst, dass die deutsche Regierung mit Blick auf Rechtstaatlichkeit und Pressefreiheit nicht entschieden genug gegenüber Slowenien auftritt. "Gleichzeitig haben wir letzte Woche gesehen, dass Armin Laschet Janza getroffen hat. Wir haben keine Kritik vernommen dazu. Von Kanzlerin Merkel wurde gestern keine Kritik geäußert. Sie hat versprochen, dass sie nochmal der Sache mit der Staatanwaltschaft nachgeht. Aber was sich für uns abzeichnet, ist einfach, dass die Politik des Kuschelns und Appeasements, von der wir gehofft hatten, dass man von dem Umgang mit Orban gelernt hat, dass sich die leider fortsetzt." Als weitere Mammutaufgabe werden in der zweiten Jahreshälfte die Vorgaben für das neue Klimaschutzziel 2030 konkretisiert. Es wird darum gehen, welche Herausforderungen die Mitgliedstaaten und einzelne Wirtschaftssektoren werden leisten müssen, um das Treibhausgas-Einsparziel von mindestens 55 Prozent zu erreichen. Ob Slowenien diesen Aufgaben gewachsen ist, das wird sich erst zeigen müssen. Umweltbundesamt-Präsident: Ohne höheren CO2-Preis wird Klimaschutz noch teurerNach Ansicht des Präsidenten des Umweltbundesamtes, Dirk Messner, muss der CO2-Aufschlag auf Kohle, Öl und Gas deutlich steigen, um eine Lenkungswirkung in Richtung Klimaschutz zu entfalten. Ein niedriger CO2-Preis wirke wie eine Subvention fossiler Energieträger.
Von Paul Vorreiter
Die Regierung des slowenischen Ministerpräsidenten Janez Jansa ist zuletzt immer wieder wegen ihrer Haltung zu Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit kritisiert worden. Jetzt übernimmt das Land die EU-Ratspräsidentschaft. Es gibt Zweifel, ob Slowenien den zahlreichen Aufgaben gewachsen ist.
"2021-07-01T09:10:00+02:00"
"2021-07-02T16:02:01.165000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/europaeische-union-zweifel-begleiten-sloweniens-eu-100.html
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"Flüchtlinge könnten die Fachkräfte von übermorgen sein"
Raimund Becker, Vorstand Regionen der Bundesagentur für Arbeit (picture alliance / dpa/ Britta Pedersen) Sandra Schulz: Etwa eine Million Flüchtlinge sind im vergangenen Jahre nach Deutschland gekommen, inzwischen sind die Zahlen deutlich gesunken,die Balkanroute ist dicht, und das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei steht – zumindest noch. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ist immernoch dabei, hunderttausende liegengebliebener Anträge zu bearbeiten. Und für eine andere Behörde, da geht die Arbeit jetzt erst so richtig los, für die Arbeitsvermittler der Bundesagentur für Arbeit. Denn ob und wie die Integration der Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt klappt, davon könnte die Antwort auf die vielgestellte Frage am Ende abhängen, die Antwort auf auf die Frage "Schaffen wir das?" Vor der Sendung hatte ich Gelegenheit, mit Raimund Becker zu sprechen, Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit, technisch gesagt Vorstand Regionen der BA – und untechnisch nennt er sich Handlungsreisender in Flüchtlingsfragen. Als erstes habe ich Raimund Becker gefragt, ob die Flüchtlinge künftig mit den knapp drei Millionen Arbeitslosen um Jobs konkurrieren werden? BA erwartet 350.000 bis 400.000 arbeitssuchende Flüchtlinge Raimund Becker: Man muss ja bei diesen 1,1 Millionen Flüchtlingen, die zu uns gekommen sind, unterscheiden: Wie viele von diesen Menschen sind im erwerbsfähigen Alter und stehen für den Arbeitsmarkt zur Verfügung. Und das kann man relativ einfach auch errechnen, denn wir wissen, die Anerkennungsquote liegt etwa bei 60 Prozent. Das heißt, das sind etwa 600.000, die anerkannt werden. Und von diesen Menschen sind in der Regel etwa 70 Prozent erwerbsfähig. Dann ist man in einer Größenordnung zwischen 350 und 400.000 Menschen, die dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, die dann quasi auch Arbeit suchen. Muss Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt vermitteln: Die Bundesagentur für Arbeit. (AP) Schulz: Und solange die Anträge beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge liegen, gewinnen Sie Zeit? Oder ist die Flüchtlingsfrage schon am Arbeitsmarkt angekommen? Becker: Die Flüchtlingsfrage ist am Arbeitsmarkt schon angekommen, dadurch, dass wir aus unseren Vorerfahrungen, die wir in den letzten Jahren gesammelt haben über solche Modellprojekte wie Early Intervention, schon sehr, sehr früh in die Landes-Erstaufnahmestellen reingehen, bevor über den Antrag entschieden wird. Das heißt, wir versuchen die Kompetenzen zu erfassen, das Sprachniveau festzustellen, diesen Menschen die Chance zu geben, an Integrationskursen teilzunehmen. Die Entscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge hat dann lediglich die Konsequenz, wer zuständig ist. Wenn der Antrag positiv entschieden ist, dann sind die Grundsicherungsstellen zuständig, also die Jobcenter. Vorher machen das die Arbeitsagenturen. 800 Spezialisten eingestellt und trainiert Schulz: Und es ist jetzt klar: Das Thema wird in einer größeren Massivität sicherlich ab Mitte des Jahres, vielleicht ab Ende des Jahres auf Sie und Ihre Behörde, auf Ihre Agentur zulaufen. Wie bereiten Sie sich darauf vor? Becker: Wir haben ja schon im Herbst des letzten Jahres gesehen, dass eine größere Masse von Menschen auf die Jobcenter und auf die Agenturen eigentlich auch zuströmen wird. Wir haben direkt gehandelt. Wir haben 800 Menschen eingestellt, haben die in spezialisierten Einheiten auch trainiert, ausgebildet, sodass sie einfach auch den besonderen Bedarfslagen der Flüchtlinge entsprechen konnten. Wir haben viele Kollegen, die Deutsch sprechen, die Englisch sprechen, die zum Teil aber auch Arabisch sprechen, haben Dolmetscher genommen. Wir sind dann in diese Landes-Erstaufnahmestellen reingegangen und haben so versucht, einfach die Profile zu erfassen. Wir haben auch für das Grundsicherungssystem, weil da die größere Last letztendlich auftreten wird, etwa zweieinhalb tausend Menschen rekrutiert und qualifiziert, und die stehen jetzt etwa seit dem 1. April zur Verfügung. Wir merken es langsam, dass immer mehr Flüchtlinge auch in die Grundsicherungsstellen kommen. Die sind dann schon ganz gut vorbereitet, weil in den Arbeitsagenturen schon die ersten Schritte unternommen wurden, was Kompetenzfeststellung anbelangt, was Empfehlungen anbelangt für den weiteren beruflichen Weg, was die Zuweisung in Integrationskurse anbelangt. Das entwickelt sich jetzt in dem erwarteten Umfang. "Ein größeres Budget-Problem" Schulz: Klingt so, als würde das alles teuer werden. Wieviel Geld kalkulieren Sie ein, was müssen Sie ausgeben? Becker: Ich würde mal differenzieren. In dem Jahr 2016 haben wir größere Budgets in dem Versicherungssystem schon eingeplant. Wir hatten zum Beispiel im letzten Jahr als Akt der Nothilfe, wenn Sie so wollen, in den Monaten November und Dezember den Menschen die Chance gegeben, an Sprachkursen teilzunehmen. Wir haben mit 100.000 gerechnet; tatsächlich haben über 230.000 teilgenommen. Das Budget, was wir veranschlagt haben, liegt bei etwa 120 Millionen; das wird jetzt zwischen 300 und 400 Millionen liegen. Das dürfte aber nicht zu einem Budget-Problem bei uns führen. Im Versicherungssystem ist das derzeit kein Problem. Ein syrischer Flüchtling arbeitet mit seinem Ausbilder in einem Metallbetrieb in Schleswig-Holstein (picture alliance / Carsten Rehder) In dem Grundsicherungssystem, wo die Masse der Menschen ja quasi auch betreut werden wird, da wird das Budget-Problem sicherlich ein größeres werden - allein schon deshalb, weil da Hunderttausende von diesen Menschen in ihrem Lebensunterhalt versorgt werden müssen. Und hinzukommen natürlich auch die Kosten von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen: Kompetenzfeststellung, Sprachkurse und Ähnliches. Schulz: Was sind größere Budgets? Becker: Das sind mehrere Milliarden-Beträge. Bei allein den Lebensunterhaltsleistungen für das nächste Jahr bei einem Kundenvolumen, was um etwa 200.000 höher sein wird als in diesem Jahr, ist rechnerisch schon ein größerer Bedarf sehr, sehr angezeigt. "Menschen in Deutschland Perspektive geben" Schulz: Wenn wir über Milliarden-Beträge sprechen, wie wollen Sie dann der Neiddebatte, die sich ja jetzt schon ankündigt, die eigentlich schon angefangen hat, was entgegensetzen? Becker: Soweit wir als Bundesagentur für Arbeit da in der Verantwortung sind, machen wir das so, indem wir sagen, wir kümmern uns jetzt nicht nur um Flüchtlinge alleine. Unser Hauptgeschäft, wenn Sie so wollen, ist ja, Menschen, die in Deutschland leben, eine Perspektive zu geben. Wir haben Programme, um Langzeitarbeitslosen den Wiedereintritt in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Wir haben im letzten Jahr gute Erfahrungen gesammelt, Schwerbehinderte in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Das läuft ein Stückchen weiter. Wir haben auch durchaus Erfahrungen sammeln können in den letzten drei Jahren, Menschen, die nicht formal qualifiziert sind, wieder quasi einen Abschluss zu geben. Das waren 100.000. All diese Programme, die laufen natürlich weiter, sodass wir eigentlich auch es ganz gut ausbalancieren, für die Menschen, die in Deutschland schon lange leben und Arbeit suchen, eine gute Dienstleistung zu erbringen und zusätzlich den Flüchtlingen Perspektive zu geben. Wir haben das so gemacht, indem wir zusätzliche Budgets eingestellt haben und zusätzliches Personal rekrutiert haben und die Betreuung der Flüchtlinge in gesonderten Einheiten sicherstellen. "Ohne Personal können Sie das Geschäft nicht machen" Schulz: Aber dann stimmt doch der Satz oder zumindest der Eindruck, von dem Sigmar Gabriel, der SPD-Chef ja gesagt hat, dieser Eindruck darf gerade nicht entstehen: Für die macht ihr alles, für uns macht ihr nichts. Sie sprechen jetzt von Geldern, die ausdrücklich zu diesem Zweck zur Verfügung gestellt werden, die es sonst nicht gegeben hätte. Dann stimmt der Eindruck ja doch! Becker: Nein. Ich würde schon mal sagen: Die Gelder, die wir zur Verfügung gestellt haben, die sind ja schon aufgestockt worden für die Bekämpfung von Langzeitarbeitslosen. Nehmen Sie mal das Programm von Ministerin Nahles, die Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt zu integrieren, soziale Teilhabe zu organisieren. Auf der anderen Seite: Wenn Sie natürlich jetzt mehr Personal rekrutieren, das kostet ja etwas. Das muss ja auch quasi finanziert werden. Und die zusätzlichen Menschen, die wir in den Grundsicherungsstellen eingestellt haben, die knapp zweieinhalb Tausend, müssen ja finanziert werden für die Betreuung von Flüchtlingen. Von daher sind das sicherlich Gelder, die besonders aufgewendet werden für die Betreuung von Flüchtlingen. Ohne Personal können Sie das Geschäft nicht machen. Schwierigere Startvoraussetzungen Schulz: Welche Chancen haben die Menschen, die zu uns kommen, die Flüchtlinge denn am Arbeitsmarkt? Becker: Man muss noch mal sehen, dass diese Gruppe von Menschen die schwierigeren Startvoraussetzungen haben, um in den Arbeitsmarkt integriert zu werden. Die kommen aus Ländern, die andere Bildungssysteme haben. Die kommen eben nicht mit solchen formalen Kompetenzen, die deutsche Arbeitgeber gewöhnt sind zu akzeptieren oder auch zu sehen, mit Bescheinigungen der IHK oder der Handwerkskammer. Sie kommen aber mit Talenten und Kompetenzen und die Schwierigkeit ist, diese festzustellen und sie zu verorten in einem Referenzsystem unserer beruflichen Bildung. Unter Flüchtlingen gibt es eine starke Nachfrage nach Integrationskursen. (dpa / picture alliance / Waltraud Grubitzsch) Das Zweite, was nahezu bei allen Flüchtlingen das Hauptthema ist, ist die deutsche Sprache zu lernen. Ohne deutsche Sprache gelingt weder arbeitsmarktliche noch gesellschaftliche Integration. Und der dritte Punkt, was sicherlich auch eine große Herausforderung ist, wo aber auch Flüchtlinge gefordert werden müssen: Was sind die Werte hier in Deutschland?, Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen, was ist Arbeitsethos, was sind die Arbeitstugenden, was bedeutet Pünktlichkeit, wie funktioniert der deutsche Arbeitsmarkt, also alles Themen, die diese Gruppe nicht so selbstverständlich sieht wie jemand, der in Deutschland aufgewachsen ist. Da hat man ein bisschen Verständnis, aber auf der anderen Seite muss man die Menschen auch fordern, diese Dinge sich anzueignen. Je besser das gelingt, umso besser wird auch die Integration stattfinden. Unsere Erkenntnis aus wissenschaftlichen Studien ist die, dass wir wissen, in einem ersten Jahr, in den ersten ein, zwei Jahren wird es lediglich zehn Prozent gelingen, in den Arbeitsmarkt integriert zu werden, aus den Gründen, die ich genannt habe, und sukzessive wird es halt mehr. "Ohne Sprache funktioniert die Integration nicht" Schulz: Sie sagen es jetzt so ein bisschen relativierend, die sind ein bisschen was anderes gewohnt, wir haben da Probleme. Müsste man nicht jetzt vor dieser Trias von Problemen, die Sie schildern, ehrlicherweise von Riesenproblemen sprechen? Becker: Gemessen an dem, wie die Integration von Deutschen gelingt, ist es ein sehr, sehr großes Problem. Ohne Sprache funktioniert die Integration in den Arbeitsmarkt nicht und da braucht man Zeit, die Sprache zu lernen. Sprache ist auch Voraussetzung, um berufliche Bildung zu machen, weil die Zertifikate, die erstellt werden, die Prüfungen, die Sie ablegen, die gehen in der deutschen Sprache. Und das Thema kulturelle Werte zu erkennen, anzuerkennen, sich denen verpflichtet zu fühlen, ist auch ein Lernprozess, den man letztendlich machen muss. Raimund Becker beim Interview. (Deutschlandradio / Ellen Wilke) Schulz: Es gibt die Zahl, dass um die 80 Prozent der Unternehmen sich auch gar nicht vorstellen können, Flüchtlinge als Fachkräfte einzustellen. Gleichzeitig gibt es diese Diskussion, wir bräuchten diese Flüchtlinge, um den Fachkräftemangel in den Griff zu bekommen. Das ist eigentlich eine Phantomdiskussion? Becker: Ja das war vielleicht vor einem Jahr mal die Überlegung, können die Flüchtlinge die Fachkräftelücke schließen. Die Realität ist eine völlig andere. Die Menschen, die zu uns kommen, sind nicht die Fachkräfte, sind noch nicht die Fachkräfte. Bei guter Investition in Sprache, in Bildung können das die Fachkräfte von übermorgen sein. Natürlich gibt es Ärzte, natürlich gibt es Ingenieure, die relativ schnell eine Chance hier in Deutschland finden, aber es ist ein kleinerer Teil. Die ganz, ganz überwiegende Zahl der Menschen, die zu uns kommen, bedürfen noch der Unterstützung, um überhaupt die Perspektive zu haben, als Fachkräfte in den Arbeitsmarkt zu kommen. Die kommen momentan als Arbeitskräfte, aber nicht als Fachkräfte. "80 Prozent der Migranten haben nicht die formale Qualkifikation" Schulz: Wird das deutlich genug gesagt in der Diskussion, die wir führen? Becker: Ich glaube, es wird deutlich genug gesagt. Wir als Organisation haben schon im August, September des letzten Jahres darauf hingewiesen, dass nach unseren Erkenntnissen 80 Prozent der Menschen nicht die formale Qualifikation haben, die deutsche Arbeitgeber hier gewöhnt sind. Das heißt aber nicht, dass die Menschen nichts können. Die haben ihre Talente, die haben ihre Kompetenzen, und jetzt geht es darum herauszufinden, was sind denn die tatsächlichen Kompetenzen, was sind die Talente. Arbeitgeber brauchen bei der Einstellung eine Orientierung, was kann denn jemand. Und da ist am Schluss ein Zertifikat, ein Schein durchaus schon eine gute Chance, dem Arbeitgeber zu zeigen, was ein Flüchtling kann und was er eben noch nicht kann. Schulz: Was ist Ihre Antwort im Moment, Stand Mai 2016, auf die Frage: Schaffen wir das? Becker: Ich glaube, dadurch, dass das Schaffen nicht zeitlich befristet ist und man sagt, na ja, wenn man wirklich die Zeit hat, die Geduld hat, aber dennoch auch die Nachhaltigkeit, wird die Integration sukzessive gelingen. Das ist aber die Gruppe der Menschen, die am schwierigsten zu integrieren ist, und deshalb die besondere Aufmerksamkeit, die besondere Zeit, aber auch die notwendigen Investitionen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Raimund Becker im Gespräch mit Sandra Schulz
Auf die Bundesagentur für Arbeit kommt mit den vielen Flüchtlingen eine enorme Integrationsaufgabe zu: Bis zu 400.000 Menschen müssen nach Einschätzung von Raimund Becker in den Arbeitsmarkt eingegliedert werden. Das Vorstandsmitglied der Bundesagentur warnt im Deutschlandfunk aber vor allzu großen Hoffnungen: Die Migranten könnten allenfalls die Fachkräfte von übermorgen sein.
"2016-05-20T06:57:00+02:00"
"2020-01-29T18:30:13.234000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/integration-fluechtlinge-koennten-die-fachkraefte-von-100.html
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Trittin drängt auf schnelle Waffenruhe
Jürgen Trittin von den Grünen (dpa / picture-alliance / Rainer Jensen) Der Vize-Präsident der deutsch-russischen Parlamentariergruppe räumte ein, angesichts der vielen Widersprüche sei eine Lösung schwierig. Russland habe die Entwicklung in der Ost-Ukraine vorangetrieben. An die russischen Separatisten heranzukommen, sei schwierig. Für die ukrainische Seite müsse Petro Poroschenko eine Dezentralisierung der politischen Macht schnell umsetzen. Dafür sei eine umfassende Verfassungsreform notwendig. Das Interview mit Jürgen Trittin in voller Länge: Christiane Kaess: Gestern ist zu dem komplizierten Konflikt in der Ostukraine ein weiteres verwirrendes Bild hinzugekommen. Der russische Präsident Wladimir Putin und der ukrainische Präsident Petro Poroschenko schütteln sich im weißrussischen Minsk die Hände. Gleichzeitig aber eskaliert die Situation im Osten der Ukraine. Russische Soldaten wurden dort von der ukrainischen Armee festgenommen. Von denen behauptete Moskau dann später, sie hätten aus Versehen die Grenze überquert. Dann in der Nacht nach einem direkten Treffen zwischen den Präsidenten Putin und Poroschenko die Aussage des ukrainischen Präsidenten, alle Seiten, auch der russische Präsident Putin unterstütze seinen Friedensplan. Mitgehört hat Jürgen Trittin von den Grünen. Er ist im Bundestag Mitglied des Auswärtigen Ausschusses und Mitglied der deutsch-russischen Parlamentariergruppe. Guten Morgen! Jürgen Trittin: Guten Morgen, Frau Kaess. Kaess: Herr Trittin, hat dieses Treffen in Minsk etwas gebracht? Trittin: Erst mal ist es gut und richtig, dass Beteiligte dieses Konfliktes, der ja mitten in Europa in kriegerischer Form - mittlerweile über 2000 Tote - ausgetragen wird, miteinander gesprochen haben. Aber es verläuft eben auch nach dem Muster, was wir aus vorherigen Vermittlungsversuchen kennen: Beide Seiten bekennen sich zum Ziel einer politischen Lösung, beide Seiten erklären, sie seien dafür, dass alle strittigen Fragen nicht mit Gewalt gelöst werden, aber am Boden gehen die Kämpfe weiter. Und das hat damit zu tun, dass beide, sowohl Poroschenko wie Putin, in der Legitimation nachhause sich sehr stark darüber legitimieren, dass sie auch gewaltsam beziehungsweise mit aggressiven Mitteln vorgehen. Kaess: Herr Trittin, wir halten fest: Ihre Interpretation ist auch an diesem Morgen, die bisherigen Forderungen sind in Minsk eigentlich nur unterstrichen worden, aber echte Fortschritte gibt es nicht. Trittin: Wir können das abschließend von hier nicht sagen. Ich sage nur, es ist genau dieser Mechanismus. Das was Not tut in diesem Konflikt ist, dass tatsächlich beide Seiten sagen, wir machen jetzt einen Waffenstillstand, und die Forderungen, die wir gemeinsam – das gilt für die ukrainische Seite, aber noch stärker für die russische Seite – immer als Voraussetzung benannt haben, diese Forderungen realisieren wir im Rahmen eines Waffenstillstands, sie sind nicht Voraussetzung dafür, dass die Waffen schweigen. Das wäre auf der einen Seite natürlich ein Ende der Unterstützung, und da liegt die Verantwortung Russlands. Die beliefern das Hinterland, sie beliefern die Rückzugsräume, sie liefern nach aller Erkenntnis, die wir haben, auch die Waffen an die ostukrainischen genannten Aufständischen, die Separatisten. Ohne die, ohne Russland könnten die so nicht agieren. Putin hat Einfluss, Putin hat Verantwortung und auf der anderen Seite muss auch die Ukraine sich von der Vorstellung endgültig verabschieden, dass dieser Konflikt am Ende militärisch zu lösen ist. Das ist er nicht. Er kann nur mit einem politischen Kompromiss auch in Richtung der dort Aufständischen gelöst werden. Kaess: Bevor wir das noch ein bisschen mehr vertiefen, lassen Sie uns noch mal auf das Treffen gucken und versuchen, das ein bisschen mehr zu interpretieren. Poroschenko spricht jetzt von einem Friedensplan, dem alle Seiten zugestimmt hätten, und Putin sagt aber, Moskau sei gar nicht der Ansprechpartner, das seien nämlich die prorussischen Separatisten. Würden Sie das als neues Ablenkungsmanöver aus Moskau sehen? Trittin: Das ist die Aufforderung Russlands, tatsächlich auch auf die Separatisten zuzugehen, und Moskau entzieht sich mit dieser Äußerung der eigenen Verantwortung, was die Unterstützung dieser Kräfte angeht. Dass es das Bemühen der ukrainischen Seite öfter gegeben hat, auf diese Aufständischen zuzugehen, kann man nicht ernsthaft leugnen. Auf der anderen Seite ist es in der Tat so, dass die häufig nicht bereit sind zu sprechen, solange sie von Kräften in Russland und aus dem russischen Staat heraus darin ermuntert werden, den Preis für eine solche politische Lösung weiter hochzuschrauben. Kaess: Und man fragt sich, Herr Trittin, natürlich auch, wie das zusammenpasst, wie ich gerade schon in der Anmoderation gesagt habe: auf der einen Seite dieser Handschlag der beiden Präsidenten und gleichzeitig eskaliert die Situation im Osten der Ukraine. Wir haben es auch gehört gerade im Bericht: Russische Soldaten sind dort festgenommen worden von der ukrainischen Armee. Wie passt das zusammen? Trittin: Das ist ja einer der Widersprüche dieser gesamten Entwicklung. Während auf der einen Seite, auf der Ebene der Gespräche zwischen den Staatschefs, auf der Ebene der Gespräche mit der deutschen Bundeskanzlerin und von allen Seiten betont wird, man wolle eine politische Lösung, gibt es nach wie vor Kräfte vor Ort, die auf eine gewaltsame Lösung setzen. Das hat damit zu tun, dass auf der einen Seite Russland die Legitimation seiner Führung über die Eskalation der Krise in der Ukraine an einen Punkt getrieben hat, von dem sie nur jetzt sehr, sehr schwer zurückkehren. Und umgekehrt hat natürlich die ständige Provokation mit bewaffneten Kräften im eigenen Lande in der Ukraine eine Stimmung erzeugt, die friedliche und politische Lösungen auch für Poroschenko schwieriger machen. Er hatte es ja versucht mit einer zehntägigen einseitigen Waffenruhe. Daran haben sich die Separatisten nicht gehalten und seitdem ist es für ihn sehr, sehr schwer, im eigenen Parlament, in der eigenen Regierung tatsächlich solche Schritte umzusetzen. Kaess: Würden Sie sagen, Herr Trittin, letztendlich setzt Russland doch auf eine militärische Lösung, obwohl es anderes behauptet? Trittin: Ich glaube nicht, dass Russland auf eine militärische Lösung setzt. Ich glaube übrigens auch nicht, dass am Ende die Ukraine auf eine militärische Lösung setzt. Beide „spielen" damit, setzen darauf, durch den Einsatz des Militärs den Preis für eine solche politische Lösung in die Höhe zu treiben, und das birgt für ganz Europa massive Eskalationsgefahren. Und deswegen ist es richtig, dass die Europäische Union – Catherine Ashton war ja gestern mit dabei in den Gesprächen in Minsk – so darauf drängt, dass es zu einer solchen politischen Lösung kommt und dass beide Seiten ihre Vorbedingungen für einen Waffenstillstand so weit zurückstellen, dass es zunächst einmal zu einem Waffenstillstand kommt. Kaess: Putin hat auch gesagt, die Krise in der Ukraine könne nur gelöst werden, wenn die Interessen der südöstlichen Regionen des Landes berücksichtigt werden, und Angela Merkel hat bei ihrem Besuch in Kiew vor wenigen Tagen gesagt, „die Ukraine bestehe aus sehr unterschiedlichen Regionen und es sei deshalb fundamental wichtig, allen Regionen und ihren ganz eigenen Bedürfnissen gerecht zu werden." Das könnte man jetzt auch so übersetzen: Kiew muss sich mehr den Interessen der russischsprachigen Ukrainer im Süden und im Osten annehmen. Zeichnet sich, Herr Trittin, hier eine Annäherung zwischen russischer und deutscher beziehungsweise auch eventuell europäischer Außenpolitik ab? Trittin: Es ist wahr, dass in der Ukraine, wenn man dauerhaft demokratisch dieses Land regieren will, es zu einer Dezentralisierung und einer Regionalisierung der politischen Macht kommen muss. Das wird kein Föderalismus nach deutschem System sein, schlicht und ergreifend, weil die Länder anders verfasst sind. Aber es gibt eben nicht nur Minderheiten im Osten der Ukraine, es gibt sie auch im Westen, und insofern steht eine umfassende Verfassungsreform in der Ukraine auf der Tagesordnung. Das ist übrigens etwas, wofür sich Poroschenko selber immer stark gemacht hat. Ich glaube aber auch, dass diese Veränderungsänderung und die Dezentralisierung politischer Macht natürlich am Ende nur geht, wenn sie verbunden ist mit Wahlen, und ehrlich gesagt: Man kann nur wählen, wenn die Waffen schweigen. Kaess: Und wie soll es jetzt weitergehen? Trittin: Ich glaube, dass alle Kräfte alles dafür tun müssen, das was in Minsk angekündigt wurde mit ihren jeweiligen Partnern und in ihren Verantwortungsbereichen vor Ort auch tatsächlich umzusetzen, und es muss von Seiten Putins, es muss auch von Seiten Poroschenkos klar gesagt werden, wir wollen jetzt auf einen Waffenstillstand zugehen. Sonst ist das Gerede um einen Friedensplan nichts weiter als eine neue Umdrehung bei dem Weg in neue Auseinandersetzungen. Kaess: Die Meinung von Jürgen Trittin von den Grünen. Er ist im Bundestag Mitglied des Auswärtigen Ausschusses und Mitglied der deutsch-russischen Parlamentariergruppe. Danke für das Gespräch heute Morgen. Trittin: Ich danke Ihnen, Frau Kaess. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Christiane Kaess im Gespräch mit Jürgen Trittin
Moskau und Kiew würden nicht auf eine militärische Lösung der Ukraine-Krise setzen, sagte Grünen-Außenpolitiker Jürgen Trittin im DLF. Beide Seiten wollen durch den Militäreinsatz den Preis für eine politische Lösung in die Höhe treiben - und das berge für ganz Europa massive Eskalationsgefahren.
"2014-08-27T08:10:00+02:00"
"2020-01-31T14:00:47.036000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ukraine-konflikt-trittin-draengt-auf-schnelle-waffenruhe-100.html
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"Das wird die CDU ganz sicher Stimmen kosten"
"AfD wählen!" Ein Flugzeug fliegt mit einem Transparent über Dresden, hier an der Spitze der Katholischen Hofkirche vorbei. (dpa / picture-alliance / Matthias Hiekel) Die Aussage des sächsischen Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU), "Linke und NPD schließen wir aus", werten Beobachter als Signal dafür, dass eine Koalition mit der Partei Alternative für Deutschland (AfD) noch im Rennen ist. Der Dresdner Politikwissenschaftler Werner Patzelt sagte im DLF, damit versuche die CDU, "den Preis in den Koalitionsverhandlungen - denn danach wird es aller Wahrscheinlichkeit nach hinauslaufen - besonders hochzutreiben, denn wenn man ohne jegliche Alternative dasteht, ist man in den Händen des Verhandlungspartners." Er betonte jedoch: "Ernsthaft wird Tillich keine Sekunde daran gedacht haben, mit der AfD zu koalieren." Der Einzug der AfD werde die CDU ganz sicher Stimmen kosten. Dass die CDU auch nach dem 31. August weitere fünf Jahre regieren werde, liege an der "konsistenten" Politik in punkto Haushalt, Wissenschaft, Wirtschaft und Infrastruktur, sagte Patzelt. Die Opposition habe im Wahlkampf lediglich einen Angriffspunkt ausgemacht: die Schul- und Bildungspolitik. Die Konkurrenten der CDU täten "sich schwer, eine Alternative plausibel zu machen". Wunschpartner der CDU sei zwar die FDP, doch "das Prinzip Hoffnung prägt den Wahlkampf" der Freidemokraten. Eine Koalition mit der SPD sei aber am wahrscheinlichsten, denn die sächsische CDU habe "sehr stark sozialdemokratische Anschlussstellen". Das vollständige Interview zum Nachlesen: Thielko Grieß: Am Telefon ist jetzt Werner Patzelt, Politologe und Parteienforscher an der Technischen Universität Dresden. Guten Morgen, Herr Patzelt. Werner Patzelt: Einen schönen guten Morgen! Grieß: Sachsen wird seit 1990 von der CDU regiert, in wechselnden Koalitionen, zwischendurch auch mal allein. Was macht die CDU, was macht im Augenblick Stanislaw Tillich so stark? Patzelt: Die CDU ist dadurch stark geworden, dass sie von Anfang an einen konsistenten stetigen Kurs eingeschlagen hat, der sich dann auch noch als im Wesentlichen richtig und dem Lande nützlich erwiesen hat. Das merken die Sachsen. Das merken auch jene, die eigentlich lieber eine andere Partei wählen wollten, weswegen der Ministerpräsident selbst in den Reihen der gegnerischen Parteien hohes Ansehen genießt. Grieß: Sie machen Erfolge der CDU in Sachsen aus. Welche? Patzelt: Zu den Erfolgen gehört die stabile Haushaltspolitik, wo Sachsen unter den neuen Bundesländern Vorreiter ist, was dann auch im Haushalt entsprechende Investitionsspielräume eröffnet. Zu den Erfolgen gehört das Bildungssystem, wo bei den Pisa-Studien Sachsen regelmäßig mit Baden-Württemberg und Bayern ganz an der Spitze abschneidet. Zu den Erfolgen gehört die Pflege des Wissenschaftssystems, das in Sachsen traditionell ein sehr dichtes ist. Und schaut man auf die wirtschaftspolitischen und infrastrukturellen Entscheidungen, ist die Leuchtturmpolitik für die drei großen Zentren gut ausgegangen, für das flache Land freilich noch nicht so gut. Grieß: Von der Dichte des Wissenschaftssystems profitieren Sie dann natürlich auch, Herr Patzelt. – Gibt es denn Themen, die die Opposition, die die Mitbewerber für sich nutzen können in Sachsen? Patzelt: Das eine Thema, was wirklich eine Achillesferse der Union darstellt, ist die Schul- und Bildungspolitik, wo jahrelang versäumt worden ist, die allmählich in die Pensionszone gelangenden Lehrer durch Einstellung von Referendaren abzulösen, weswegen es in den Sternen steht, ob das sächsische Bildungs- und Schulsystem seinen hohen Stand halten kann. Das ist dann aber auch schon der einzig wirkliche Angriffspunkt der Opposition. In anderen Bereichen wie Braunkohleabbau ist die Opposition selbst nicht einer Meinung. Und was andere Themen betrifft wie Zuzug von Asylbewerbern, Sicherung der Grenzen, ist die Union voll und ganz im Mainstream dessen, was die staatstragenden Parteien in Sachsen wollen. Infolgedessen tut sich die Opposition in der Tat schwer, eine Alternative plausibel zu machen. Grieß: Nehmen wir die politische Landschaft in Sachsen in den Blick. Sie könnte, zumindest was die Vertretung im sächsischen Landtag angeht, nach dem nächsten Sonntag bunter werden, zahlreicher und vielfältiger. Zum Beispiel sieht es nach Umfragen ja so aus, als ob die Alternative für Deutschland, die AfD, in den Landtag einziehen wird. Das könnte die CDU in Sachsen Stimmen kosten. Stanislaw Tillich hat aber bislang so darauf reagiert, dass er eine Zusammenarbeit mit der AfD nicht explizit ausgeschlossen hat. Warum tut er das? Patzelt: Der Eintritt der AfD wird der Union ganz sicher Stimmen kosten. Eine Koalition mit der AfD von vornherein auszuschließen, hieße den Preis in den Koalitionsverhandlungen mit der SPD, denn darauf wird es aller Wahrscheinlichkeit nach hinauslaufen, besonders hochzutreiben, denn wenn man ohne jegliche Alternative dasteht, ist man natürlich in den Händen des Verhandlungspartners. Ernsthaft wird Tillich keine Sekunde daran gedacht haben, mit der AfD zu koalieren, denn dafür ist sie zum einen personell viel zu instabil und man weiß zum anderen gar nicht, was sie denn programmatisch will, wenn sie denn überhaupt auf Landesebene etwas Klares will. Grieß: Ist es klug vonseiten der SPD, die Sie gerade kurz angesprochen haben, sich schon vor den Wahlen so ganz offensichtlich auf eine Koalition mit der CDU zu freuen? Patzelt: Dass die SPD gerne regiert, ist bekannt und ist ja auch richtig. Dass die SPD sich kenntlich freut, hat auch damit zu tun, dass unter sämtlichen Regierungsbündnissen, die theoretisch möglich sind unter den Sachsen, sich eine CDU/SPD-Koalition der größten Popularität erfreut. Und es sind die wechselseitigen Erinnerungen an die letzte Unions/SPD-Koalition ja auch nicht wirklich schlecht. Gewiss ist für die Union die FDP der Wunschpartner, aber mit der SPD kann man gut, zumal die sächsische Union zu den Unionsteilen in Deutschland gehört, die sehr stark auch sozialdemokratische Anschlussstellen haben. Grieß: Dann kommen vielleicht noch die Grünen ins Spiel. Auch sie bringen sich selber ins Spiel, sagen, Antje Hermenau zum Beispiel, die Spitzenkandidatin in Sachsen, wir würden gerne mit der CDU regieren und ein ähnlich schwarz-grünes Bündnis auflegen, wie es zum Beispiel in Hessen vor etwa einem Jahr entstanden ist. Ist das der unbedingte Regierungswille oder ist das einfach die Einsicht, dass man an der CDU in Sachsen nicht vorbeikommt? Über Werner PatzeltGeboren 1953 in Passau, Bayern. Der Wissenschaftler studierte bis 1980 Politikwissenschaft, Soziologie und Geschichte an den Universitäten München, Straßburg und Ann Arbor. 1984 promovierte er an der Universität Passau und habilitierte dort auch bis 1990. Zwischen 1991 und 1992 übernahm er die Gründungsprofessor des Instituts für Politikwissenschaft an der Technischen Universität Dresden und leitet dort seit 1992 den Lehrstuhl für Politische Systeme und Systemvergleich. Er beschäftigt schwerpunktmäßig mit der vergleichenden Analyse politischer Systeme, der Parlamentarismusforschung, politischer Kommunikation, der vergleichenden historischen Analyse politischer Institutionen sowie evolutionstheoretischen Modelle in der Politikwissenschaft. Patzelt: Das ist der unbedingte Mitregierungswille von Frau Hermenau und das ist die Überzeugung eines nennenswerten Teils der Grünen, die freilich noch in der Minderheit sind. Frau Hermenau hat innerparteilich viel Federn lassen müssen, um überhaupt diese Koalitionsoption innerparteilich offenzuhalten. Es ist aber so, dass die Union in einem Bündnis mit den Grünen sich nicht auf einen wirklich rundum koalitionswilligen Partner verlassen könnte, auch ihrerseits wesentlich unbequemere Positionsveränderungen vornehmen müsste als in einem Bündnis mit der SPD. Und infolgedessen wird mit großer Wahrscheinlichkeit in Sachsen das hessische Beispiel nicht neu aufleben, obwohl es nach meiner persönlichen Einschätzung sowohl den Grünen als auch der CDU sehr gut täte. Grieß: Was bleibt für Die Linke übrig, ja die stärkste Oppositionspartei in Sachsen? Patzelt: Die Linke ist irgendwo in einer tragischen Situation. Sie siegt sich von Wahl zu Wahl als stärkste Oppositionspartei durch und ist in Sachsen dennoch nicht in der beneidenswerten Lage der Thüringer Linkspartei, die ja große Chancen hat, den Ministerpräsidenten zu stellen. Zum einen reicht es einfach nummerisch in Sachsen nicht für eine linke Alternative zur Union und zum anderen wünschen die Sachsen unter allen denkbaren Regierungsbündnissen eine Linkskoalition am allerwenigsten. Und wenn man sich die sächsische SPD näher anguckt, gibt es in ihr ganz erhebliche auch emotionale und programmatische Widerstände dagegen, sich als Juniorpartner ihres im Grunde ernsthaftesten linken Gegners durch die politische Arena führen zu lassen. Grieß: Da muss man warten auf einen Generationenwechsel, bis die Bereitschaft für eine linke Lagerbildung in Sachsen wächst? Patzelt: Da wird man darauf warten müssen, wobei vieles dafür spricht, dass im Generationenwechsel die Linkspartei eher an Attraktivität verlieren wird, denn die Stärke der sächsischen Linkspartei kommt ganz wesentlich von ihren außerordentlich tüchtigen Kommunalpolitikern, wo sich der, wie man sagen könnte, reformsozialistische Flügel der SED und PdS am Anfang durchgesetzt hat und durch praktisch sehr, sehr solide Arbeit gezeigt hat, das man dieser Partei vertrauen kann. Ob im Generationenwechsel, der naturgemäß viele Jugendliche, ideologisch auch sehr stark geprägte junge Leute anzieht, ob diese Seriosität der Linkspartei dann noch durchzuhalten ist, das ist eine der Fragen, mit der sich die Linkspartei intern herumschlägt. Grieß: Zu guter Letzt, Herr Patzelt, sprechen wir über die FDP, die in Sachsen plakatiert, Sachsen sei nicht Berlin. Ein geografsches Faktum, aber gemeint ist wohl, dass die sächsische FDP sehr eigen sei und etwas anderes sei als die FDP-Bundespartei. Hilft den Liberalen das womöglich doch noch über die Fünf-Prozent-Hürde? Patzelt: Die FDP ist je nach Umfragen ein wenig von unten her an die Fünf-Prozent-Hürde herangekommen, aber noch nicht bis zur Grenze, sodass das Prinzip Hoffnung immer noch den Wahlkampf prägt. Es ist die einzige Chance der sächsischen FDP, auf Eigenständigkeit zu setzen, was ja hin bis zur gerade brüsken Ausgrenzung der Bundesspitze im sächsischen Wahlkampf und im sächsischen Wahlparteitag der FDP gereicht hat. Und es ist ja in der Tat die gigantische Fehlleistung der Bundes-FDP, die auch die sächsische FDP so weit nach unten gezogen und um ihr Ansehen gebracht hat. Das ist die einzige Möglichkeit für die sächsische FDP, Wahlkampf zu führen. Ob es reichen wird, das steht in den Sternen, aber die Sterne stehen nicht wirklich günstig für die FDP. Grieß: Der Freistaat Sachsen wenige Tage vor der Landtagswahl – herzlichen Dank Werner Patzelt, Politikwissenschaftler an der TU Dresden. Patzelt: Gern geschehen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Werner Patzelt im Gespräch mit Thielko Grieß
Bei der Landtagswahl in Sachsen am kommenden Sonntag steht nach Ansicht des Politologen Werner Patzelt die CDU als Sieger schon fest - nur der Koalitionspartner nicht. Den Preis, den dieser zahlen müsse, um mitzuregieren, habe die CDU mit einer Aussage besonders hochgetrieben, sagte Patzelt im Deutschlandfunk.
"2014-08-25T08:20:00+02:00"
"2020-01-31T14:00:25.673000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/landtagswahl-sachsen-das-wird-die-cdu-ganz-sicher-stimmen-100.html
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Visuell überwältigend
Eintauchen in digitale Sehnsuchtswelten: Das Remake von Shadow of the Colossus überzeugt in HD-Optik (dpa/picture alliance - Oliver Berg) Am Anfang von Shadow of the Colossus hat der junge Held schon eine beschwerliche Reise hinter sich: Über schmale Bergpfade, durch dichte Wälder und über eine Brücke, die sich fast so weit erstreckt, wie das Auge sehen kann. Am Ende liegt ein verzaubertes Land, und in ihm die einzige Chance, seine Geliebte von den Toten zurückzubringen. "Das Epische daran, diese Größe, die Weite..." Professor Björn Bartholdy vom Cologne Game Lab: "... dieses Sterben, das Inszenieren, die Musik, also das ist ja schon quasi in der Wagner-Liga angesiedelt." Das Spiel gilt heute als Meilenstein, und das, obwohl Shadow of the Colossus damals vor 12 Jahren kein Verkaufsschlager war. Björn Bartholdy: "Aber die Kritiker haben sich in das Spiel verliebt, und auch die Spieleentwickler lieben dieses Spiel. Es ist für uns ein Referenztitel, auf den wir immer wieder schauen, weil er gewisse Dinge zu einem Zeitpunkt vorgemacht hat, als das einfach noch nicht Usus war im Kontext digitaler Spiele. Und insofern, glaub ich, ist es immer so ein Sehnsuchtsort gewesen, zu dem die Spielerinnen und Spieler, aber auch die Entwickler zurückkehren wollten. " Sehnsuchtsort einsame Wildnis Dieser Sehnsuchtsort ist eine gewaltige, karge und einsame Wildnis, eine selbst nach heutigen Maßstäben große Spielewelt. In deren Schluchten, Höhlen, Wüsten und Ruinen alter Zivilisationen kann sich der Spieler stundenlang verlieren. Vor allem aber soll er 16 majestätische Kolosse erlegen, 20 oder sogar 40 Meter große Steinriesen, im Austausch gegen das Leben der Geliebten. "Es gab zu dem Zeitpunkt natürlich auch schon andere Geschichten erzählende Spiele, aber das war irgendwo auch eine erwachsene Geschichte, die ja sehr ambivalent ist. Es gibt diese heroischen Momente, aber es gibt fast depressive Momente auch." Visuelles Meisterstück: das Remake "Shadow of the Colossus" (Sony PlayStation) Zwölf Jahre erscheint nun ein Remake in HD-Optik. Von den detaillierten Landschaften und Ruinen, der lebendigen Animation des gallopierenden Pferdes bis hin zu den lebensechten Licht und Wassereffekten, ist das neue Shadow of the Colossus visuell überwältigend. Am Spielprinzip hat sich dagegen nichts geändert. Shadow of the Colossus erhebt seine 16 "Boss Fights" zu einer Kunstform, einem Todestanz, der fast an einen Stierkampf erinnert. Immer wieder krallt sich die Spielfigur am Fell des Koloss fest, während die verzweifelte, sterbende Kreatur mit allen Kräften versucht, sie abzuschütteln. Ist der Koloss besiegt, verhallt der letzte Ton und die gewaltige Kreatur stürzt in Zeitlupe zu Boden - oder versinkt in den schwarzen Tiefen eines Sees. Respektvolles Kunstwerk Das Remake ist vor alle allem eins: respektvoll. Es nutzt die aktuellen grafischen Möglichkeiten, um die Details der magischen Welt noch klarer herauszuarbeiten, verwässert aber dabei weder die Spielerfahrung oder die emotionale Kraft des Originals. Der legendäre japanische Spieledesigner Fumeto Ueda macht sich für sein Fantasy-Abenteuer die Prinzipien eines Blockbusters zu eigen: Durchgestylte Optik, fantastische Kreaturen, symphonische Musik und spektakuläre Actionszenen. Und doch ist sein Spiel ein Gegenentwurf zum Big-Budget-Entertainment unserer Zeit. Und das nicht nur, weil es die Grenze zwischen gut und böse verwischt, sagt Björn Bartholdy. "Während die Taktung in den meisten Computerspielen ja relativ hoch ist, ist Ueda einfach gefühlt immer langsam. Er ist sozusagen der Kaurismäki unter denn Game Developern. Daneben sind seine Charaktere auch eher karge Charaktere. Die sind auch oft still und haben so ne Dimension von Insichgekehrtheit. Und das ist natürlich für den Spieler auch so ein Moment von Kontemplation und Selbstreflexion. Das macht ihn einfach sehr besonders in einem Umfeld, das tendenziell eher laut und hochgetaktet ist." Die rund sechs bis sieben Stunden Spielzeit sind eine bewegende Erfahrung. Shadow of the Colossus ist meditativ, moralisch komplex und tieftraurig - und es bleibt auch mit neuem Anstrich eines der ersten großen Kunstwerke unseres jungen Jahrhunderts.
Von Kai Löffler
Das japanische Spiel Shadow of the Colossus gilt unter Kritikern nicht nur als Meilenstein unter den Computerspielen, für viele Fans ist es ein echtes Kunstwerk. Nach zwölf Jahren ist jetzt ein Remake erschienen. Die Neuauflage ist meditativ, moralisch komplex - und grafisch genial.
"2018-02-07T15:05:00+01:00"
"2020-01-27T17:38:18.909000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/game-klassiker-shadow-of-the-colossus-visuell-100.html
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"Die Zinsen sind Marktpreise"
Keine Aussichten auf Zinsen für Kleinsparer (imago images / Ikon Images / Gary Waters) Sandra Schulz: Jahrzehntelang war es so: Wer in der glücklichen Lage war, am Ende des Monats noch Geld übrig zu haben, der konnte es zur Bank tragen oder gleich dort liegen lassen, wo es sich dank Verzinsung von allein vermehrte. Diese Zeiten sind schon länger vorbei. Inzwischen drohen Sparern sogar Negativzinsen. Der bayerische Ministerpräsident Söder stößt jetzt eine Debatte an, wie die sogenannten Kleinsparer davor geschützt werden könnten. Mitgehört hat Professor Adalbert Winkler, Volkswirt bei der Frankfurt School of Finance und früher auch einige Jahre bei der Europäischen Zentralbank. Schönen guten Tag! Adalbert Winkler: Ja, guten Tag, Frau Schulz. Schulz: Ist das eine gute Idee, Strafzinsen für sogenannte Kleinsparer gesetzlich zu verbieten? Winkler: Es ist auf jeden Fall eine Idee, deren politisches Kalkül ich verstehe. Es ist sicher so, dass viele Menschen das nicht verstehen, warum es auf Erspartes keinen Ertrag mehr gibt, ja jetzt sogar die Zinsen negativ sein sollen. Allerdings ist es so, dass die Zinsen Marktpreise sind. Das wurde ja im Beitrag auch schon angesprochen. Und wenn die Politik hier in Form des bayerischen Ministerpräsidenten oder des Finanzministers daran was ändern wollte, dann wären sie aufgerufen, an der Marktsituation was zu ändern. Das könnten sie leicht, indem sie mehr Geld ausgeben. Das heißt, indem sie sich stärker verschulden und damit auf den Kapitalmärkten zu einer Situation wieder zurückführen helfen, in der wir wieder in den positiven Nominalzinsbereich kommen. Schulz: Auf das große Bild würde ich mit Ihnen auch gerne gleich kommen. Aber wenn wir jetzt bei diesem einzelnen Vorschlag bleiben: Das heißt, der Volkswirt sagt, der Satz von Markus Söder stimmt, wonach Sparen belohnt werden muss. Ist das volkswirtschaftlich sinnvoll? Winkler: Nein, das würde ich nicht sagen. Ich verstehe, dass man das sagt. Es wurde ja auch angesprochen. Der Herr Söder sagte, wir haben eine entsprechende Kultur. Aber volkswirtschaftlich gibt es keinen Grund dafür, dass die Zinsen nicht negativ sein können. Es ist ja so, dass wir das erleben auf dem Markt. Die 30-jährige Staatsanleihe ist ein Markt, auf dem sich ein Preis bildet, und dieser Preis ist negativ. Das heißt, der Preis ist hoch, aber der Zins ist negativ, und das hat sich auf dem Markt so eingespielt. Dann ist das so. Das ist sehr ungewöhnlich, das ist richtig. Aber wir haben ja auch eine ungewöhnliche Situation in Bezug auf Inflationsrate und Wachstum beziehungsweise die Wachstumsaussichten, und insofern ist das von seiner rein volkswirtschaftlichen Sicht jetzt nicht so, dass man sagen muss, nee, nee, wenn die Nominalzinsen negativ sind, dann läuft etwas schief in Bezug darauf, wie die Märkte funktionieren. "Die Banken würden versuchen das über andere Gebühren reinzubekommen" Schulz: Würden Sie denn sagen, dass dieses Verbot den Sparerinnen und Sparern überhaupt etwas bringen würde, oder würde sich, so wie wir es jetzt in dem Bericht gerade auch geschildert gehört haben, das fortsetzen oder vielleicht noch ausweiten, was wir jetzt schon haben, dass sich die Banken das Geld über Kontoführungsgebühren holen, über Transaktionsgebühren und so weiter? Winkler: Ja. Davon würde ich ganz sicher ausgehen, wenn jetzt eine entsprechende Regulierung kommen würde, dass dann die Banken über Gebühren und andere Entgelte versuchen würden, das wieder reinzunehmen. Es ist ja einfach so: Wenn man in unsicheren Zeiten Sicherheit haben will, dann muss man dafür was bezahlen oder bereit sein, was zu bezahlen. Abgesehen davon kann natürlich jeder auch andere Anlagenformen wählen, so dass es nicht so ist, dass man gezwungen ist, sein Geld auf einem Girokonto zu halten. Verbraucherschützer spricht von SymbolpolitikBundesfinanzminister Scholz will Spareinlagen unter 100.000 Euro vor Negativzinsen schützen. Verbraucherschützer sprechen von Symbolpolitik. Banken und Sparkassen hätte noch andere Möglichkeiten, den Sparerinnen und Sparern das Geld aus der Tasche zu ziehen. Schulz: Manch einer zieht vielleicht auch die Konsequenz, wie man das früher vielleicht gemacht hat, das Geld eher wieder unters Kopfkissen zu stecken. Ist das volkswirtschaftlich keine Gefahr? Winkler: Nein, eine Gefahr ist es nicht. Aber es ist eine Ausweichmöglichkeit. Deswegen machen das ja gerade die Leute, die relativ viel Geld haben – nicht, weil das natürlich mit Risiken verbunden ist, vom Risiko, dass man verliert, bis, dass man bestohlen wird. Das ist natürlich alles viel größer, als wenn man das Geld auf der Bank hat. Aber eine Gefahr ist es nicht. Es zeigt natürlich nur an, dass die Geldpolitik – und das weiß ja die Geldpolitik auch – in Bezug auf ihre Fähigkeit, den Zins sehr stark in negatives Territorium zu drücken, dass das begrenzt ist. Das nennt man dann ja auch die Nullzins-Grenze, die jetzt leicht im negativen Bereich ist. Aber klar ist: Je tiefer der Zins ins Negative gerät, desto attraktiver wird zum Beispiel die reine Bargeldhaltung. "Die Banken brauchen das Geld offensichtlich nicht" Schulz: Die Gefahr, dass die Leute dem System das Geld entziehen, das ja auch darauf ausgelegt ist und darauf angewiesen ist, dass Geld einfach vorhanden ist und fließt, die Gefahr, dass das Geld jetzt massiv entzogen wird, die sehen Sie nicht? Winkler: Nein, es wird einfach nur umgewandelt. Es wird ja dem System nicht entzogen. Dem Bankensystem wird es entzogen. Das heißt, ich nehme mein Sparguthaben ab. Aber die Banken brauchen das Geld ja offensichtlich nicht. Sonst würden sie ja nicht dem Kunden sagen, wenn du das Geld zu uns bringst, bekommst Du einen negativen Zins. Ich sehe da jetzt keine Gefahr in dem Sinne, wenn jetzt die Sparer zu den Banken hingehen und das Geld in bar abheben, dass dann jetzt irgendwie die Banken Probleme bekommen, weil offensichtlich brauchen sie das Geld ja nicht. Sonst würden sie ja keinen Negativzins anbieten. "Die schwarze Null ist ein wichtiger Aspekt" Schulz: Und daran, dass die Banken das Geld nicht brauchen, sagen Sie, frage ich, ist die schwarze Null schuld? Winkler: Nein. Das ist auf jeden Fall ein wichtiger Aspekt. Das heißt, wir haben eine Zeit, in der die Unternehmen relativ wenig investieren. Die Menschen wollen nach wie vor viel sparen. Gleichzeitig macht die Fiskalpolitik eine Politik, die durch die schwarze Null und durch die Schuldenbremse geprägt ist, obwohl der Markt immer wieder das Signal gibt – das ist ja der Ausdruck von Negativzinsen -, bitte nehmt das Geld von uns, wir möchten es euch gerne geben, tut etwas mit dem Geld. Und dass es da entsprechende Möglichkeiten gibt, von Infrastruktur über Bildung und viele andere Möglichkeiten, das ist, glaube ich, offensichtlich und man fragt sich, warum macht die Politik das nicht. Das wäre auf jeden Fall wesentlich marktkonformer, als über Regulierung nachzudenken, Negativzinsen zu verbieten. "Wir haben erste Anzeichen dafür, dass es eine Rezession gibt" Schulz: Nach der Logik sollte der Staat einspringen – aus Gründen, die noch näher einzuzirkeln wären -, weil im Moment die Unternehmen zu wenig Risiko, zu wenig investitionsfreudig sind? Winkler: Ja, das ist ganz offensichtlich. Sonst wären die Zinsen nicht so, wo sie sind. Schulz: Und warum ist das so? Winkler: Dass die Unternehmen so wenig investieren? Schulz: Ja. Winkler: Die Unsicherheiten sind ja greifbar. Wir haben Brexit, wir haben Donald Trump und die Handelsauseinandersetzungen mit China, mit der Europäischen Union. Wir haben die Probleme in Italien. Wir haben generell ja einen zehn Jahre langen Aufschwung gehabt. Jetzt haben wir erste Anzeichen dafür, dass es doch eine Rezession ist, das heißt, dass die Nachfrage sinken wird. Alles das sind Argumente für Unternehmen zu sagen, wir warten erst mal mit den Investitionen. Das heißt, die Investitionstätigkeit ist schwach. Abgesehen davon haben viele Unternehmen relativ gut gefüllte Kassen. Das heißt, sie brauchen sich gar nicht groß zu verschulden, um Investitionen durchzuführen, die sie durchführen wollen, dass sie die entsprechenden eigenen Mittel haben. Entsprechend gibt das Druck auf die Zinsen und dieser Druck wird nicht entlastet durch irgendwelche staatlichen Ausgabenprogramme und leider Gottes auch nicht von denen, die wirklich solche Programme fahren können, von kreditwürdigen Staaten, wie zum Beispiel Deutschland einer ist. Schulz: Jetzt ist die Diskussion um die schwarze Null ja schon länger am Laufen, wenn sie überhaupt jemals gestoppt wurde oder einen Haltepunkt gehabt hätte. Wir wissen aber, es ist ja auch nicht so, dass der Bund jetzt überhaupt keine Schulden hätte. Ganz im Gegenteil: Der Schuldendienst, das ist im Moment ein zweistelliger Milliardenbereich. Ergibt es nicht Sinn, diese Zahlungen, diese Milliarden wirklich zu drosseln nach Möglichkeiten des Staates? Winkler: Man kann nicht beides haben. Man kann nicht ins Wasser springen, ohne nass zu werden. Entweder möchte man, dass der Sparer einen Zins bekommt. Dann kann ich nicht den sichersten Anleger aus dem Markt nehmen, weil viele Leute wollen ja nur bei diesem sicheren Anleger Geld anlegen, bei sicheren Schuldnern Geld anlegen. Dann ist es schlecht für die Sparer, wenn dieser sichere Schuldner ausfällt und sich nicht mehr am Markt bedient, sondern im Gegenteil sogar Schulden zurückzahlt. "Die EZB macht Geldpolitik mit dem Ziel der Preisstabilität" Schulz: Oder müsste die EZB vielleicht auch langsamer mal anfangen, das Geld wieder einzusammeln? Winkler: Die EZB geht ihrem Auftrag nach, genauso wie das in den letzten 20 Jahren immer getan hat und wie es auch die Bundesbank vorher gemacht hat. Sie macht Geldpolitik mit dem Ziel Preisstabilität. Die Inflationsrate ist so, wie sie ist. Das heißt, sie ist unterhalb der Zielmarke von zwei Prozent. Wie in der Vergangenheit auch, wie in den letzten 40 Jahren bedeutet das, dass die Geldpolitik dann expansiv werden muss. Sie muss es jetzt auf einem niedrigen Niveau tun, auf einem niedrigen Zinsniveau, und sie bekommt keine Unterstützung von der Fiskalpolitik. Das heißt: Dass wir eine Situation haben, dass wir praktisch bei einem Nullzins eine expansive Geldpolitik fahren müssen, liegt auch daran, dass die Fiskalpolitik in den letzten Jahren alles dem Ziel untergeordnet hat, die Schuldenaufnahme zu reduzieren beziehungsweise sogar den Schuldenstand in Deutschland zu reduzieren. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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Wenn die Politiker am Negativzins etwas ändern wollten, dann müssten sie mehr Geld ausgeben und sich verschulden, sagte Volkswirt Adalbert Winkler im Dlf. Auf eine Regulierung der Zinsen würden die Banken mit höheren Gebühren reagieren, so Winkler.
"2019-08-22T12:10:00+02:00"
"2020-01-26T23:07:20.219000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/negativzinsen-die-zinsen-sind-marktpreise-100.html
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Was Revolutionen wirklich bewegen
Sabine Berking: "Revolutionen brechen immer nur dann aus, wenn es keinen anderen Ausweg gibt."Sonja Hegasy: "Wenn man sich die Geschichte anschaut, dann gibt es ja so gut wie keine erfolgreiche Revolution."Wolfgang Merkel: "Revolutionen, geführt von revolutionären Avantgarden, haben noch nie in eine Demokratie gemündet."Sabine Berking: "Jetzt im Zuge des Arab Spring ist ein neuer Anstoß gegeben, noch mal in die Revolutionsforschung hineinzugehen."Lange galt das Thema als erledigt. Die letzte größere Debatte über Revolutionen hatten die Sozialwissenschaften vor 20 Jahren geführt, als es um eine Analyse der Umbrüche in Osteuropa ging. Die spielten auf der Tagung der Irmgard Coninx-Stiftung kaum mehr eine Rolle. Vielleicht, weil sie einfach zu lange zurückliegen, vielleicht, weil die Diktaturen damals durch weitgehend friedliche Demonstrationen gestürzt worden waren. Denn das ist historisch gesehen untypisch für eine Revolution. Meist stellt sie sich als blutige Ausnahmesituation der Geschichte dar, die für die beteiligten Menschen selten einen guten Ausgang nimmt. Das erklärt jedenfalls Wolfgang Merkel, der 1968 als Student in revolutionärem Überschwang noch für Trotzki und Che Guevara geschwärmt hat und heute am Wissenschaftszentrum Berlin über Demokratisierungsprozesse forscht:"Wir wissen aus der empirischen Forschung, dass in eher seltenen Fällen Revolutionen zu einer nachhaltigen Demokratisierung führen. Viel häufiger ist es der Fall, dass Verhandlungen, runde Tische, Pakte zwischen Opposition und den alten Regime-Eliten einen solideren Weg zur Demokratie bahnen."An Runden Tischen oder in Verhandlungen kommen viele gesellschaftliche Gruppen zu ihrem Recht. Revolutionen schaffen aber meist eine vollkommen offene Situation, in der alle Regeln außer Kraft gesetzt sind und die Macht auf der Straße liegt. Eine einzelne Gruppe kann sie leicht an sich reißen, wenn sie nur skrupellos genug ist. Auf die meist idealistischen Initiatoren von Aufständen trifft das selten zu. Das zeige die historische Erfahrung, sagt Wolfgang Merkel:"Es ist schon so, dass diejenigen, die die Mobilisierung tragen, die protestieren, häufig nicht diejenigen sind, die dann die Institutionen bauen, die Regeln in der Verfassung fixieren, und dann doch etwas an den Rand gedrängt werden."Genau das passiert derzeit auch den sogenannten Facebook-Revolutionären, die Anfang 2011 den arabischen Frühling entfacht haben, bestätigt die Islamwissenschaftlerin Sonja Hegasy vom Zentrum Moderner Orient (ZMO):"Für Ägypten kommt dann auch hinzu, dass mit den Muslimbrüdern eine hochpolitisierte Bewegung bereit stand, … die dieses Vakuum sofort füllen konnte. Natürlich auch mit einer Forderung, die sehr zentral war für die Umbrüche in ganz Nordafrika, nämlich die nach sozialer Gerechtigkeit."Amr Hamzawy: "Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit werden aber ignoriert seit dem Sieg der Revolution über Mubarak. Sie wurden ignoriert vom Militärrat, der zwischenzeitlich herrschte. Und auch das neu gewählte Parlament, in dem die Muslimbrüder die Mehrheit haben, nimmt sie nicht ernst."Amr Hamzawy war Revolutionär der ersten Stunde in Kairo und sitzt heute für die kleine Freiheitliche Partei im Parlament. Als Oppositioneller kritisiert er die Politik der Muslimbrüder, räumt aber ein, dass sie trotzdem weiter von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt werden und deshalb die revolutionäre Bewegung heute anführen. Das liegt nicht nur an den Inhalten, die sie vertreten, erklärt Sonja Hegasy vom ZMO:"Solche Bewegungen brauchen Aktivisten, sie brauchen Slogans, sie brauchen Musik, Stickers, Filme, so simple Dinge wie Geld, Faxgeräte, Büros, um sich zu vernetzen."All das haben vor allem die Muslimbrüder. Ihre Infrastruktur wurde zum Machtfaktor, seit sich die Revolutionäre kaum noch über Facebook koordinieren können, weil Militär und Polizei das Internet immer schärfer überwachen.Amr Hamzawy: "Es gibt keinen politischen Willen, den Staatsapparat zu demokratisieren. Unter dem Militärrat konnten die meisten Beamten genauso weitermachen wie unter Mubarak. Und auch Präsident Mursi von den Muslimbrüdern unternimmt nichts, um den Staatsapparat zu reformieren."Amr Hamzawy fürchtet, dass sich die Gewinner des Umsturzes und der alte Staatsapparat zusammenschließen könnten, um alle anderen Gruppen vom politischen Prozess auszuschließen. So etwas passiert häufig nach Revolutionen. Schon jetzt, so Hamzawy, gingen die Sicherheitskräfte immer öfter gegen ägyptische Christen vor und auch die Rechte der Frauen seien gefährdet. Das ist eine weitere bittere historische Erfahrung aus vielen Revolutionen: wenn der Aufstand beginnt, sind häufig Frauen in der ersten Reihe dabei. Doch je weiter eine Revolution fortschreite, desto mehr werde sie zur Männersache, konstatiert die Kulturwissenschaftlerin Sabine Berking von der Irmgard Coninx-Stiftung. "Generell spielen Frauen eine zunehmende Rolle in diesen Bewegungen und müssen natürlich dann, das ist das Fatale, wenn die Revolution vorbei ist, je nachdem, wer die Macht übernimmt, wieder um ihren Platz in der Gesellschaft kämpfen und um die Fortschritte, die es in Sachen Emanzipation schon gegeben hat."Weil Revolutionen eben häufig ernüchternd verlaufen, wird der Begriff heute längst nicht mehr so emphatisch benutzt wie etwa während der Studentenrevolte 1968. Gerade in Osteuropa verwenden ihn viele Sozialwissenschaftler gar nicht mehr, wenn sie an den Sturz der Kommunisten 1989 erinnern. In Polen etwa, hat Sabine Berking erfahren, spricht man lieber von einer Transformation:"Man möchte zeigen, dass es einfach nur eine Wiederherstellung der demokratischen Verhältnisse ist, das heißt, man ging einfach wieder zurück zu den normalen Verhältnissen. Man spricht nicht mehr von Revolution, sondern von Hinwendung zu mehr Demokratie. Vermutlich weil Revolution v.a. in den osteuropäischen Ländern, gerade auch in Polen, negativ besetzt ist, Oktoberrevolution."Zur Zeit des Sozialismus mussten die Menschen die Oktoberrevolution jedes Jahr als Aufbruch in eine bessere Zeit feiern. Heute sehen die meisten sie als Beginn einer Epoche der Zwangsherrschaft, die über ganz Osteuropa ausgedehnt wurde. Auch das ist typisch für Revolutionen: sie werden im Laufe der Jahre von nachfolgenden Generationen immer wieder neu bewertet, erzählt Sonja Hegasy:"Das Ergebnis der französischen Revolution war die Einsetzung Napoleons. Ich meine, heute spricht man überall von Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit, aber dass dieser Slogan so in die ganze Welt hinausgetragen wurde, das hat ja auch viele Jahrzehnte gedauert, dass man das als das Ergebnis der französischen Revolution ansieht."
Von Andreas Beckmann
Die Arabellion hat der Revolutionsforschung neue Impulse gegeben. Am Wissenschaftszentrum Berlin diskutierten Politologen, Soziologen, Islam- und Kulturwissenschaftler über die Frage, welchen Einfluss Protestbewegungen tatsächlich auf den politischen Wandel in ihrer Region haben.
"2012-10-25T20:10:00+02:00"
"2020-02-02T14:30:46.277000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/was-revolutionen-wirklich-bewegen-100.html
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"Eine Art musikalisches Speed Dating"
Gorillaz-Mastermind und Blur-Frontmann Damon Albarn hätte besser aufhören sollen mit der Arbeit an "Humanz" - vielleicht wäre Donald Trump dann nicht US-Präsident geworden, sagte Albarn im DLF. (imago/ZUMA Press/Stephen Chung) Amy Zayed: Als sie sich überlegt haben, ein neues Gorillaz-Album aufzunehmen, war das Konzept schon klar oder ist es eher langsam gewachsen? Damon Albarn: Es gab nur ein vages Konzept. Ich habe mir vorgestellt, wie die nahe Zukunft aussehen würde und wie es wäre, wenn Donald Trump die Präsidentschaftswahlen in den USA gewinnt. Und wie es wäre, wenn wir dann plötzlich alle unsere Menschlichkeit verlieren und zu digitalen Geistern werden. "Es gibt keinen Plan, wenn ich ein Gorillaz-Album mache" Zayed: Und so kam es auch. Donald Trump ist Präsident. Wurde Ihre Prophezeiung ein Stück weit Realität? Albarn: Ich habe mir oft, während ich das Album gemacht habe, gedacht: Vielleicht sollte ich besser damit aufhören?! Sonst wird das alles noch Realität! Es passiert mir nämlich öfter, dass ich mir Dinge vorstelle, die dann tatsächlich wahr werden. Ich setze mich hin, denke über die Zukunft nach - und manchmal sehe ich bestimmte Dinge, die da kommen. Wenn man eine Platte macht, denkt man erst gar nicht darüber nach, dass die Welt eine andere sein wird, wenn das Album schließlich herauskommt. Zayed: Sind denn alle Songs zur gleichen Zeit entstanden? Albarn: Nein, eigentlich nicht. Sie waren alle irgendwie in der Essenz schon da, aber es gibt keinen Plan, wenn ich ein Gorillaz-Album mache. Ich wusste anfangs auch gar nicht, mit wem ich zusammen arbeiten würde. Das hat sich ergeben, als ich die Platte produziert habe. Ich hatte 40 oder 50 Leute im Kopf, mit denen ich gern produzieren würde. "Ein ähnlicher Blick auf die Welt und Sympathie füreinander" Zum Beispiel beim Song "Halleluja Money" mit Benjamin Clementine wollten wir ursprünglich auch noch Rick Ross dabei haben. Der hätte dem Stück eine ganz andere Wendung gegeben und es wäre interessant gewesen, diese beiden musikalischen Seiten zusammen zu bringen. Aber irgendwie hatte Rick Ross nie Zeit, etwas aufzunehmen – und so wird der Song nun zum Großteil von Benjamin gesungen und ein bisschen von mir. Es gibt auf der Platte das Stück "Circle of Friends" – es ist ein Mini-Song, der eigentlich hätte länger werden sollen und den ich mit Morrissey aufnehmen wollte. Aber mit dem hab ich nur ein paar lächerliche E-Mails ausgetauscht, und dann hatte er keine Lust mehr. Auch Dionne Warwick wollte ich dabei haben. Ich habe ihr den Song auf dem Piano vorgespielt und schnell war klar, dass sie nicht mitmachen würde. Manchmal funktioniert es, und manchmal eben nicht! Das Einzige, was mir bei den Leuten, mit denen ich zusammenarbeite, wichtig ist: Dass wir einen ähnlichen Blick auf die Welt haben und eine gewisse Sympathie füreinander. Irgendwie habe ich gedacht, dass der Morrissey und ich ein bisschen ähnlich ticken, aber: Hey, der hat ja noch nie mit irgendwem zusammen gearbeitet! Bei Sade war es ähnlich! Ich habe so sehr darauf gehofft, dass die mitmacht - aber nein! Es macht aber auch nichts, denn erstens: gibt es immer jemand anderen. Und zweitens: Ich kann es auch immer selbst machen. Am Ende bin ich wieder zur Ursprungsidee zurückgegangen und habe den Song allein gesungen. Hier können Sie das Corsogespräch mit Damon Albarn auch im englischen Originalton nachhören . Zayed: Wie funktioniert die Zusammenarbeit bei den HipHop-Tracks mit Pusha T oder D.R.A.M.. Schreiben Sie deren Rap-Passagen? Albarn: Nein, das ist nicht mein Gebiet, auch wenn ich den Rap liebe. Ich versuche keine Parts für andere zu schreiben. Erstens nimmt mir das die Arbeit ab. Und zweitens macht es mehr Spaß, wenn man zusammen arbeitet: Wenn sich viele Köpfe einbringen, ergibt das einen kaleidoskopischen Blick. Zayed: So wird das Stück dann auch zu deren Song. Albarn: Genau! Ich habe kürzlich mit Mura Masa zusammen komponiert, es war ein toller Popsong. Er wollte, dass ich den Part singe, den er geschrieben hatte. Aber ich wollte bei meinem eigenen Part bleiben - und jetzt ist der Song besser als vorher. Es ist auch eine Art Respekt. Sonst kopiere ich doch nur Rihanna oder Justin Bieber. Bei mir funktioniert es immer so: Ich schreibe den Leuten zuerst einen handschriftlichen Brief, und wenn sie drauf antworten, telefonieren oder skypen wir. Und dann erst kommt es zum eigentlichen Akt. Es ist eine Art musikalisches Speed Dating. Festival "Demon Days" im englischen Küstenort Margate Zayed: Sie veranstalten Anfang Juni ihr erstes Festival: "Demon Days", benannt nach dem zweiten Album der Gorillaz. Wird das ein weiteres Festival sein, wie es sie schon zuhauf gibt, oder ist es in irgendeiner Form anders? Albarn: Ich organisiere das Festival nicht alleine. Dahinter steckt dieselbe Organisation, die auch Banksys satirischen Freizeitpark "Dismaland" betrieben hat. Das Festival wird an der Küste in Margate stattfinden, ebenfalls in einem bekannten, alten Freizeitpark aus den 60er-Jahren. Und Margate hat seinen Charme - ein bisschen wie Brighton. Zayed: Zum Album "Humanz" gibt auch eine App – was soll sie bringen, welche Funktion hat sie? Albarn: So richtig hab ich das auch nicht verstanden. Ich selber habe nämlich noch ein altes 90er-Jahre-Handy mit echten Tasten und so. Zayed: Was steht denn nach den Gorillaz an? Wieder ein Projekt mit "The Good, the Bad & the Queen”, vielleicht? Albarn: Genau! Das Album ist schon dreiviertel fertig. Ich freu mich drauf!
Damon Albarn im Corsogespräch mit Amy Zayed
Bei der Arbeit an dem Gorillaz-Album "Humanz" habe er sich vorgestellt, dass Donald Trump US-Präsident werden würde und "wir dann alle unsere Menschlichkeit verlieren und zu digitalen Geistern werden", sagte Sänger Damon Albarn im DLF. Gastmusiker wie Grace Jones und De La Soul haben an dem düster-apokalyptischen Album mitgewirkt.
"2017-04-22T15:05:00+02:00"
"2020-01-28T10:24:22.400000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/neues-gorillaz-album-eine-art-musikalisches-speed-dating-100.html
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Frankreich eskaliert (wieder)
Protest in Nanterre, einem Vorort von Paris (Getty Images / Abdulmonam Eassa)
Philipp May
Nach der maßlosen Gewalt der letzten Tage flauen die Krawalle in Frankreich langsam ab. Wie konnte es soweit kommen? Außerdem: Was der Ukraine im Krieg gegen Russland wirklich helfen würde.
"2023-07-03T17:00:00+02:00"
"2023-07-03T17:00:43.875000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/03-07-23-frankreich-eskaliert-wieder-dlf-25298b0c-100.html
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Zurück zum Groove
Veredelte mit seinen Soli auch das Grammy-gekrönte Album "Two Against Nature" von Steely Dan: Chris Potter. (Dave Stapleton) Seine vorangegangenen drei Alben präsentierten Chris Potter mit lyrischem, akustischem und von kompositorischer Strenge geprägten Jazz. Der Wechsel zu einem anderen Plattenlabel markierte für ihn zugleich eine ästhetische Zäsur: Mit dem Einsatz von Elektronik und Keyboards erfüllt sich Potter nun den lang gehegten Wunsch, aktuellere Ausdrucksformen miteinzubeziehen und die Musik rhythmisch zupackend anzugehen. Improvisation und Interaktion stehen dabei deutlich im Vordergrund. Auf der CD „Circuits“ noch teilweise durch einen Bassisten ergänzt, stellte sich der New Yorker 2019 im Kölner Stadtgarten ausschließlich im Trio mit zwei Musikern aus Houston vor: Piano und Keyboards spielt der junge Senkrechtstarter James Francies, dem Bandleader empfohlen vom brillanten Schlagzeuger des Trios, Eric Harland. Chris Potter, Tenor- und Sopransaxofon, Flöte, SamplingJames Francies, Piano und KeyboardsEric Harland, Schlagzeug Aufnahme vom 30.11.2019 aus dem Stadtgarten, Köln
Am Mikrofon: Karsten Mützelfeldt
Nach kammermusikalischen Ausflügen ist Star-Saxofonist Chris Potter zum kraftvollen Jazzrock zurückgekehrt: Die elektrische, groovebetonte Musik seines Circuits Trios entfesselt mitreißende Energie - und das sogar ohne Bass!
"2020-10-20T21:05:00+02:00"
"2020-10-23T11:32:57.165000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/chris-potter-circuits-trio-zurueck-zum-groove-100.html
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Die Reichsten der Superreichen
Der Milliardär Donald Trump, legt Wert auf seinen großen Reichtum. (picture alliance / dpa / Larry W. Smith) Der wohl lauteste Milliardär steht gerade mal auf Platz 324, und das ärgert ihn auch. Auch dieses Jahr behauptet Donald Trump, "Forbes" würde nicht all sein Vermögen korrekt erfassen, er sei eigentlich viel reicher. Noch reicher. Wirklich reich. "Ich brauche von niemandem Geld, das ist doch toll. Ich nehme einfach mein eigenes Geld. Ich brauche keine Lobbyisten, keine Spenden. Ich bin wirklich reich." Aktuell gibt es 1.809 Milliardäre 4,5 Milliarden besitzt der Immobilienmogul und Präsidentschaftsbewerber laut "Forbes". Trump ist nicht alleine, neben ihm gibt es aktuell 1.809 Milliardäre. Zusammen besitzen sie sagenhafte 6,48 Billionen Dollar. Doch: Nachdem 2015 der Rekord erreicht war, geht es in 2016 nach eine halbe Milliarde nach unten für die Superreichen. Das erste mal seit der Finanzkrise ist die Zahl der Milliardäre und ihr Vermögen geschrumpft. Das durchschnittliche Vermögen der verbliebenen Milliardäre ist gesunken. Sinkende Ölpreise, volatile Aktienmärkte, ein starker Dollar und eine schwächelnde chinesische Wirtschaft - selbst den Reichsten dieser Welt hat das vergangene Jahr und vor allem der Jahreswechsel zugesetzt. Auf Platz eins unangefochten Microsoft-Gründer Bill Gates, mit 75 Milliarden Dollar. Ansonsten haben es nur zwei Prozent der Top 20 geschafft, ihr Vermögen zu verteidigen und ihren Platz zu halten. Dahinter folgen Warren Buffet und der Gründer der Modekette Zara Amancio Ortega. Zuckerberg stürmt die Top Ten Doch das beste Jahr hat Facebook-Gründer Mark Zuckerberg hingelegt: Der 31-Jährige schoss von Platz 16 unter die Top Ten auf Platz sechs. Elf Milliarden Dollar konnte er zusätzlich anhäufen. Auf Platz fünf: der Chef der Onlinehandel-Plattform Amazon Jeff Bezos. Auch für ihn eine Premiere, unter den Top Ten zu sein. Laut Autor und Finanzmarktbeobachter John Steele Gordon ist die Techbranche der neue Tempel für Superreiche: "Wir leben nun einmal in der digitalen Ära. All diese Technologien entwickeln sich so schnell, dass sie jedes Jahr neue Milliardäre machen. Als Twitter 2013 an die Börse ging, hat das an diesem Novembertag 1.600 Menschen zu Millionären gemacht." Einige Superreichen wollen teilen Doch die Superreichen sind sich einig: Sie wollen tatsächlich teilen. Sie alle sind bereit, mehr Steuern zu zahlen, um dem amerikanischen Staat einen Teil der Schuldenlast von den Schultern zu nehmen. So zum Beispiel Bill Gates: "Die Steuern müssen erhöht werden, um den Schuldenberg zu verkleinern. Und ich bin der Meinung, dass wir Reichen natürlich einen größeren Anteil daran zahlen sollten." Während viele Bill Gates diese Haltung abkaufen, klingt Donald Trump eher wie ein Fähnchen im Wählerwind. 2000 noch hatte er vorgeschlagen, die Superreichen einmalig zu besteuern um die Schulden Amerikas zu bezahlen - heute klingt er anders. Zu hohe Steuern würden den Anreiz nehmen, hart zu arbeiten. Reichste deutsche Frau ist Susanne Klatten "Jetzt geht das so nicht mehr denn das Geld würde nicht mehr reichen. Damals hätte es das, ich hätte meinen Anteil auf jeden Fall gezahlt. Aber nun sind die Schulden einfach zu hoch." Fakt aber ist, wenn die 540 amerikanischen Billionäre zusammen legen würden, käme immer noch ein beträchtlicher Betrag zustande. Auf Platz zwei der Länder mit den meisten Milliardären steht China - allerdings weit abgeschlagen laut Forbes mit gerade mal halb sovielen. Die reichsten Deutschen sind die beiden Aldi Gründer Theo und Karl Albrecht auf den Plätzen 21 und 34. Die reichste deutsche Frau ist Susanne Klatten von BMW auf Platz 38 mit einem Vermögen von 18,5 Milliarden Dollar.
Von Sophie Schimansky
US-Präsidentschaftsbewerber Donald Trump fühlt sich unfair behandelt. Er sei eigentlich viel reicher, als das Milliardärs-Ranking von "Forbes" behaupte. Die Liste des US-Wirtschaftsmagazins zeigt eindrucksvoll, wie viel Vermögen die Milliardäre der Welt besitzen.
"2016-03-01T17:05:00+01:00"
"2020-01-29T18:16:34.951000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/neue-forbes-liste-die-reichsten-der-superreichen-100.html
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"Deutlichkeit des Ergebnisses spiegelt das Spiel wieder"
Spieler des HSV feiern ihren Sieg über den Stadtrivalen FC St. Pauli (www.imago-images.de) Viermal musste das Spiel unterbrochen werden, weil Pyrotechnik eingesetzt wurde. Er habe das Geschehen von der Südtribüne aus gut beobachten können, sagte Gunesch. "Es kam nicht überraschend, dass es ein bisschen heller im Stadion wurde". Gefährlich sei es zu keinem Zeitpunkt gewesen. Beim Stadtderby sei die Stimmung immer besonders. "Das ist kein normales Bundesliga-Spiel. Das Stadion war lange vor Anstoß voll." Beeindruckt vom HSV Aus sportlicher Sicht sei das Ergebnis klar: Der FC St. Pauli sei harmlos gewesen und habe nicht nachweisen können, dass man berechtigte Ansprüche auf den Aufstieg anmelden könne. Von der Leistung des HSV zeigte Gunesch sich beeindruckt. "Es ist ein sehr deutliches Zeichen, wenn du als Tabellendritter beim Tabellenvierten so gewinnst." Zu keinem Zeitpunkt habe infrage gestanden, wer das Spiel gewinnen würde. 2011 gewann Ralph Gunesch mit dem FC St. Pauli das letzte Stadtderby in der 1. Bundesliga gegen den HSV. "Wir haben den Verein von der dritten Liga an damals bis in die erste Liga begleitet - deswegen war das Spiel etwas ganz besonderes für uns." Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Ralph Gunesch im Gespräch mit Matthias Friebe
Der HSV hat in der 2. Bundesliga das Stadtderby beim FC St. Pauli mit 4:0 gewonnen. Ex-Pauli-Spieler Ralph Gunesch sagte im Dlf, sein ehemaliger Verein habe nicht gezeigt, dass er Ansprüche auf den Aufstieg anmelden könne. Von der ausgiebigen Nutzung von Pyrotechnik sei er nicht überrascht.
"2019-03-10T00:00:00+01:00"
"2020-01-26T22:41:34.447000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/hamburger-stadtderby-deutlichkeit-des-ergebnisses-spiegelt-100.html
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Fahrerlose U-Bahn in Australien
Die fahrerlose Metro in der australischen Stadt Sydney ist 2019 eröffnet worden (imago images / Xinhua) Unterwegs in einem von Sydneys Silberpfeilen. Ein Zug mit sechs aluminium-farbenen Wagen, schwarz getönter, abgeflachter Nase und Panoramafenstern, gut 100 Stundenkilometer schnell und ohne Schaffner. Bisher gab es weder eine Straßen- noch S-Bahn in die früher nur dünn besiedelten Vororte im Nordwesten von Sydney, jetzt aber, nach einem Bauboom, fährt dorthin die modernste Bahnlinie der Welt. Selbstöffnende und –schließende Bahnsteig- und Zugtüren, fahrerlose Züge mit Platz für 1.100 Passagiere, statt Begleitpersonal 38 Kameras an Bord: Sydney Metro ist vollautomatisch und rein computergesteuert. Ein Hightech-Transportsystem für umgerechnet viereinhalb Milliarden Euro. Nach 13 Haltestellen entlang einer 36 Kilometer langen Strecke durch Tunnel und über Hochbrücken, ist Endstation. Nur 37 Minuten Fahrzeit von der City bis nach Tallawong. Dort liegt die mit Stacheldraht umzäunte Zentrale der Bahnlinie und im fensterlosen Erdgeschoss des Hauptgebäudes, hinter einer Sicherheitsschleuse mit Gesichtserkennungstechnik: das Nervenzentrum der Sydney Metro. Eigenständiges Auslösen des Alarms Cory Roeton ist der Betriebsleiter im Kontrollzentrum. Dank tausend Kameras entlang der Strecke und an den Haltestellen kann er auf riesigen Flachbildschirmen ablesen wo jeder Zug gerade ist oder wie viele Fahrgäste an den Bahnsteigen warten. Sieben Kollegen beobachten per Monitor ob der Computer Mängel oder Probleme meldet, dafür stehen Reparatur-, Bergungsteams und Ersatzbusse bereit. Das Sydney Metro-System ist darauf programmiert völlig autonom zu sein. Es schlägt selbst Alarm und regelt, ohne Zutun von Cory Roetons Team, den Zugverkehr: "Der Zug bewegt sich über Transponder, die, wie eine Art Barcode, dem Zentral-Computer seinen exakten Aufenthaltsort mitteilen, wie schwer der Zug ist und wie stark er für den nächsten Halt bremsen muss. Der Zug stoppt genau an einem vorausbestimmten Punkt am Bahnsteig und meldet das dem Computer. Erst wenn die Rückmeldung kommt: ‚Du bist an der richtigen Stelle‘ – erst dann öffnen sich in Millisekunden die Sicherheitstür an der Plattform und die Zug-Tür." Offline-Operation aus Sicherheitsgründen Steht der Tagesfahrplan, bekommen die benötigten Züge morgens einen codierten Weckruf. Danach fahren sie ihr Betriebssystem hoch und bringen sich selbst pünktlich zum Dienst an die Strecke. Beschleunigen und Bremsen die Signale, die Fahrplandisplays, die Beleuchtung oder die Liftanlagen an den Bahnhöfen: das gesamte System wird vom riesigen Zentralcomputer gesteuert. Der Rechner und ein identischer Backup-Computer operieren offline. Aus Sicherheitsgründen: "Wir treffen die größtmöglichen Vorsichtsmaßnahmen was Cyber-Sicherheit betrifft", garantiert Nigel Holness, der Geschäftsführer der Sydney Metro: "Wir müssen mit dem Risiko sich immer weiter entwickelnder Technologien Schritt halten. Damit Hacker keine Chance haben, testen wir ständig die Robustheit unseres Computersystems nach modernsten Standards." Zu Stoßzeiten wird im Vier-Minutentakt in beide Richtungen gefahren. Seit der Eröffnung Ende Mai haben gut fünfeinhalb Millionen Fahrgäste die Sydney Metro genutzt - mehr als doppelt so viele wie erwartet. Trotz Anlaufschwierigkeiten, als wegen softwarebedingter Kommunikationsmängel zwischen Zentralcomputer und Strecke einige Züge Haltestellen ausließen, zu spät stoppten oder die vollautomatischen Türen minutenlang nicht öffneten. Sollte jemand nur noch Bahnhof verstehen, kann er von dort per Videocall direkt mit dem Kontrollzentrum sprechen. "Ich fühle mich sicher", meint ein Fahrgast, "ich habe die Metro schon dutzende Male genommen und hatte jedes Mal eine gute, schnelle Fahrt." "Ich hätte lieber einen Schaffner", gesteht eine Frau, "aber der Zug ist fabelhaft. Ich werde wieder damit fahren."
Von Andreas Stummer
Völlig autonom fährt die Sydney Metro seit Ende Mai mit 100 Stundenkilometern in die Vororte der australischen Stadt. Das Hightech-Transportsystem funktioniert selbstständig und ist etwa viereinhalb Milliarden Euro wert. Doppelt so viele Fahrgäste wie erwartet haben den Zug bisher genutzt.
"2019-09-08T16:30:00+02:00"
"2020-01-26T23:09:30.215000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/autonomes-transportsystem-fahrerlose-u-bahn-in-australien-100.html
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Zwischen Kriegsschrott und Idylle
Maestro Wu, der Messer aus alten chinesischen Artilleriehülsen fertigt, wird so schnell nicht das Material ausgehen (imago / Xinhua ) Vom Winde verweht ist der süßliche Gesang von Teresa Teng. Doch auf Kinmen bleibt die früh verstorbene Künstlerin auf ewig unvergessen. Als emsige und bildhübsche Truppenbetreuerin hob sie die Moral der taiwanischen Soldaten gerade hier, so nah am chinesischen Festland. Noch heute quillt ihre Stimme regelmäßig aus den 48 gewaltigen Lautsprechern am Kliff von Beishan. Eine Touristenattraktion wie die meisten militärischen Anlagen auf Taiwans Außenposten, sagt der stellvertretende Insel-Chef Wu Cherng-Dean: "Es sind ja nur noch etwa 7.000 Soldaten auf Kinmen. Mit wenigen Ausnahmen haben die alten Verteidigungsstellungen allenfalls touristische Bedeutung. Wir wollen keinen Krieg mehr. Wir haben auch alle Minen am Strand ausgegraben und hoffen auf eine friedliche Zukunft." Kinmen ist ein Kuriosum. Bei Sonnenuntergang flanieren Liebespaare am Strand entlang. Sie blicken auf die imposante Hochhauskulisse jenseits des Meeres. Xiamen heißt die Zwei-Millionen-Metropole da drüben, in China. Im Gegenlicht erscheint der Himmel orangerot, im Vordergrund die Silhouette ausrangierter Panzer, deren Kanonen aufs Festland zielen. Kinmens Strand ist gespickt mit Abertausenden von schräg in den Boden gerammten Spießen aus rostigem Stahl. Geschäftsmodell: Messer aus Granathülsen Maestro Wu ist ein inselweit bekannter Schmied, der aus den ausgegrabenen Granaten etwas Nützliches macht. "Ursprünglich haben wir Messer für Profis gemacht, also für Köche und Markthändler. Inzwischen hat sich das Sortiment erweitert, wir machen auch westliche Messer, Outdoormesser, Obstmesser, was Sie wollen." Im Schnitt sechs Messer pro Granathülse, sagt Maestro Wu. Bei einer Million Granaten, die auf Kinmen niedergingen, wird das Material vorerst nicht knapp. Auch, wenn die Nachfrage steigt: "Ursprünglich waren das Souvenirs für Taiwaner, aber jetzt, wo sehr viele Chinesen hierher kommen, die auch Geld haben, verkaufen wir viele Messer an Touristen vom Festland. Die verbinden auch noch einen historischen Wert damit." Chinesen fordern scherzhaft Rabatt, es seien doch ihre Granaten Tatsächlich wimmelt es in seinem Laden vor Chinesen. Einige machen Witze: Sie wollten Rabatt, schließlich hätten sie doch das Material rüber geschossen! Es ist ein gutes Geschäft, nicht nur moralisch, sondern auch kommerziell, sagt der andere Herr Wu, der von der Inselverwaltung: "Kinmen hat ja nur zwei Einnahmequellen: Tourismus und Hirseschnaps. Für beides sind die Chinesen entscheidend." Er lacht, aber er meint es auch ernst. "In vieler Hinsicht sind wir hier auf Kinmen der Küstenbevölkerung Chinas ähnlicher als den Leuten auf Taiwan. Ich habe eine Tante in Xiamen. Wir sprechen denselben Dialekt, haben dieselben Sitten und Gebräuche. Und auf Dauer sind Blutsbande eben stärker als politische Loyalitäten." Wirtschaftlich näher an China als Taiwan Will Kinmen etwa das freiwillig vollziehen, wogegen es sich jahrzehntelang mit Waffen gewehrt hat? Den Anschluss an China? Herr Wu zögert. "Wir wollen uns nicht von Taiwan trennen, denn Demokratie ist wichtig. Auf der anderen Seite vollzieht sich in China ein großer Wandel. Wir hätten kein Problem damit, den Status von Hongkong zu übernehmen: Ein Land, zwei Systeme. Wirtschaftlich hängen wir ja sowieso mehr von Xiamen ab als von Taipeh. Und wie gesagt: Nur die Festland-Chinesen trinken unseren Schnaps!"
Von Jürgen Hanefeld
Die Inselgruppe Kinmen liegt eine halbe Fährstunde vor dem chinesischen Festland, gehört allerdings zu Taiwan. Mehrfach haben die Chinesen sie einzunehmen versucht, erfolglos. Heute kommen chinesische Touristen und kaufen Souvenirs aus den Granaten, die ihre Großeltern einst herüberschossen.
"2018-01-20T13:30:00+01:00"
"2020-01-27T17:35:45.750000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/taiwans-kinmen-inseln-zwischen-kriegsschrott-und-idylle-100.html
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Mode statt Massenware aus Portugal
Nähmaschinen surren und rattern, zweihundert Frauen sitzen in einer riesigen Produktionshalle an ihren Arbeitsplätzen. Ihre Kolleginnen schieben Wagen mit fertigen Badehosen und Bademänteln durch die Gänge - Richtung Lager nebenan. Draußen stehen Lastwagen, um die Ware nach ganz Europa zu liefern. Das Geschäft bei der nordportugiesischen Textilfirma Impetus brummt. Verkaufsdirektor Manuel Torres macht das glücklich:"Unsere Bestellungen sind gestiegen, die Exporte nehmen stark zu. Nicht nur bei uns, im gesamten Textilbereich. Die Aussichten sind wirklich gut."Die portugiesische Textilindustrie schien noch vor etwa zehn Jahren zum Tode verurteilt, jetzt erlebt sie eine neue Blüte - allerdings nicht mit den billigen Ramschprodukten von einst, sondern mit teurer Qualitätsware. Die Wäschefabrik Impetus ist ein Beispiel für den Wandel. Manuel Torres:"In den 90er-Jahren haben wir mit einer kleinen Kollektion für Spanien angefangen. Wegen des Erfolgs dort gründeten wir unsere eigene Marke. Seit dem wachsen wir ununterbrochen."Die Schneiderinnen an den Nähmaschinen sind gut ausgebildet worden, eine eigene Designabteilung entstand. Heute liefert das Unternehmen aus dem nordportugiesischen Provinzstädtchen Barqueiros Herrenunterwäsche und Bademoden nach Frankreich, Griechenland oder zum Beispiel Russland. Dass Portugal längst kein Billiglohnland mehr ist, ist kein entscheidendes Hindernis:"Wir haben schon ein gewisses Lohnniveau in Portugal erreicht, die Menschen haben einen gewissen Lebensstandard. Darum können wir nicht mehr über niedrige Löhne konkurrieren, sondern nur noch mit Qualität."Mode statt Massenware lautet darum das neue Motto der portugiesischen Textilindustrie. In Asien werden vor allem große Mengen produziert, die selten schnell auf den europäischen Markt kommen:"Normalerweise vergehen sechs Monate, bis eine Kollektion aus Asien Europa erreicht, das ist dann schon Mode von gestern, es kommen Ladenhüter an. Obendrein werden inzwischen wieder kleinere Mengen hergestellt. Mode ist ein schnelllebiges Geschäft."Textilien aus Portugal können hingegen innerhalb von 24 Stunden in allen Läden der EU sein. Die Marktnähe gleiche den Preisunterschied nicht mehr nur aus, versichert Manuel Torres. Darum lassen auch große europäische Marken, die nach Asien abgewandert waren, wieder in Portugal nähen:"Viele Firmen, die für weltbekannte Marken arbeiten, sind wieder sehr erfolgreich. Denn abgesehen vom Standortvorteil haben sie das Know-how und die Qualität, um auf dem europäischen Markt bestehen zu können."Was wiederum den Arbeitnehmern zugutekommt. Fast alle portugiesischen Textilfabriken sind im Norden angesiedelt, einer vorwiegend landwirtschaftlich ausgerichteten, strukturschwachen Region. Industriearbeitsplätze sind selten und begehrt, sagt die Näherin Sonia Araujo:"Ich bin glücklich, dass ich hier arbeiten kann und auch sehr stolz darauf. Wir werden gut bezahlt, es ist ein toller Job."Doch nicht nur die Näherin Sonia hat Grund zur Freude: Weil die portugiesischen Textilexporte so stark steigen, verringert sich auch das Handelsbilanzdefizit des Landes. Ein wenig Hoffnung in der großen Krise. Verkaufsdirektor Manuel Torres blickt ohnehin optimistisch nach vorne. Er sagt, es seien noch viele Märkte zu erobern.
Von Jochen Faget
Trotz Eurokrise sind die Exporte in Portugal um gut 13 Prozent gestiegen. Ein großer Anteil davon fällt auf die Textibranche. In rund 7000 Firmen, fast alle davon sind Kleinbetriebe oder Mittelständler, stehen die Nähmaschinen nicht mehr still. Die Branche hat sich quasi den Staub aus den Kleidern geschüttelt.
"2012-08-07T09:10:00+02:00"
"2020-02-02T14:19:48.158000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/mode-statt-massenware-aus-portugal-100.html
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Politik ist auch auf dem Fußballplatz wichtig
Die Slogans klingen vertraut: "Überall ist Taksim, überall ist Widerstand… Das Volk wird die AKP bezahlen lassen…" Doch es geht dieses Mal nicht um den Gezi-Park in Istanbul, es geht um Fußball. Zehntausende zogen vor einigen Tagen durch Kadiköy, das Heimatviertel von Fenerbahce Istanbul, protestierten gegen die Verurteilung ihres Präsidenten Aziz Yildirim, die Hauptfigur des größten Bestechungsskandals der türkischen Sportgeschichte. Selbst Anhänger der gegnerischen Teams waren gekommen. "Die Vorwürfe sind haltlos – die Richtersprüche sind unfair. Jeder Türke, der Sinn für Gerechtigkeit hat, muss in diesen Tagen zum Fenerbahce-Fan werden," … beteuert ein Demonstrant im rotgelben Look von Gegner Galatasaray. Und ein anderer fügt hinzu: Für die Zukunft von Fenerbahce und der Türkei "Wir sind für die Zukunft von Fenerbahce hier – aber auch für die Zukunft der Türkei. Glauben Sie nicht, dass es hier nur um Sport geht. Es geht ums Ganze, um die Zukunft unserer Kinder!" Dass Präsident Yildirim völlig unschuldig ist, ist unwahrscheinlich. Und doch erschien die zunächst von der Staatsanwaltschaft geforderte angesetzte Haftstrafe von 147 Jahren sogar seinen ärgsten Feinden absurd. Selbst das nun sehr viel milder ausgefallene Urteil scheint zu beweisen: Der Kampf um die Macht in der Türkei hat sich auf die Stadien ausgeweitet. "Fenerbahce ist der größte Sportverein der Türkei. Die Fangemeinschaft ist unglaublich groß – und das bringt viel Potenzial mit sich." Bestätigt Journalist Mithat Sözmen, der sich in seinen Artikeln immer wieder mit den Verstrickungen von Fußball und Politik beschäftigt. Doch das Potenzial von Millionen Fans kann für die Mächtigen im Land auch in Gefahr umschlagen: Als "Istanbul United" zogen Zehntausende Anhänger der großen Klubs während der Gezi-Proteste zum Taksim-Platz, forderten den Rücktritt der Regierung. "Istanbul United": Zehntausende forderten Rücktritt der Regierung "Sie waren die am besten organisierten Gruppen damals, weil sie Erfahrung hatten. Und sie hatten vor allem die Macht, echte Massen zu mobilisieren –viel mehr vielleicht als politische Gruppierungen. Der Regierung macht das Angst, deswegen wollen sie ihre Macht brechen." Helfen sollen dabei seit Gezi vor allem immer striktere Stadiongesetze. Wer ein Ticket für die türkische Süperlig kauft, muss bestätigen, dass er sich nicht an "gesellschaftlichen, politischen und ideologischen Aktionen" beteiligt. Spezielle Stadionkameras überwachen die Einhaltung. Wer sich im Stadion dennoch zu politischen Slogans hinreißen lässt, dem drohen 3-12 Monate Haft… Polizeiwachen im Stadion "Seit Neuestem gibt es sogar Polizeiwachen direkt im Stadion. Neun Fans wurden nach dem letzten Fenerbahce-Spiel dabehalten… Die Regierung versucht alles, um die Opposition zu unterdrücken, die im Stadion heranwächst." Vergeblich. In der 34. Spielminute wird es jedes Mal wieder laut in Istanbuler Stadien. Die 34 kennzeichnet die Istanbuler Nummernschilder. Seit den Gezi-Protesten setzen in dieser Minute die Sprechchöre mit den bekannten Slogans ein. Fernsehsender, die die Spiele übertragen, sind angehalten, umgehend die Lautstärke der Stadionatmosphäre herunter zu pegeln. Die 34. Spielminute Erdogan wolle die absolute Kontrolle, glauben die empörten Fenerbahce-Fans, die in diesen Tagen gegen die Verurteilung ihres Präsidenten Aziz Yildirim demonstrieren. Seinen Platz solle ein Kandidat einnehmen, der der Regierung die Treue hält – das vermuten auch kritische Journalisten seit Langem. "Sie wollen Fenerbahce erobern, weil es die letzte Burg ist, die sie noch nicht eingenommen haben. So, wie sie bereits die Zeitungen und das Fernsehen unter Kontrolle gebracht haben, so ist jetzt der Fußball dran."
Von Luise Sammann
Erst das Internet, dann die Justiz - die türkische Regierung versucht, ihren Einfluss und vor allem die Kontrolle auszuweiten. Derweil halten die Proteste gegen Korruption und für die Demokratie an - auch in den Fußballstadien der türkischen Süperlig.
"2014-02-27T09:10:00+01:00"
"2020-01-31T13:28:16.482000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/tuerkei-politik-ist-auch-auf-dem-fussballplatz-wichtig-100.html
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EU weitet Beitrittsverhandlungen mit Türkei aus
Die türkische Staatsflagge weht neben der Europafahne. (picture alliance / dpa / Matthias Schrader) Die Beziehungen der EU zur Türkei spielten heute beim Treffen der EU-Außenminister eine wesentliche Rolle. Der türkische Außenminister Cavusoglu war beim Arbeits-Mittagessen seiner europäischen Amtskollegen dabei. "Die Anwesenheit unseres türkischen Kollegen haben wir natürlich genutzt, um Eskalationen der letzten Tage und Wochen zu diskutieren: das Verhältnis der Türkei zu Russland, nach dem Abschuss des russischen Flugzeugs." Zu besprechen gab es auch über das von Bundesaußenminister Steinmeier Genannte hinaus mehr als genug. Die EU-Außenbeauftragte Mogherini: "Außenpolitisches und regionale Themen – also: Syrien, der Kampf gegen den 'Islamischen Staat', vor allem beim Umgang mit Dschihadisten des IS, die aus Europa stammen." Die EU braucht die Zusammenarbeit mit der Türkei dafür. Mindestens so sehr wie bei der Flüchtlingsfrage. Und nicht zuletzt deshalb wird am Abend im Umfeld des Außenministertreffens zusammen mit der EU-Kommission offiziell ein neues Kapitel der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei eröffnet. Neben der Zusage finanzieller Unterstützung ist das ein wesentlicher Teil der Verabredungen mit der Türkei, um sie zu motivieren, das ihrige zu tun, den Flüchtlingsstrom Richtung EU zu begrenzen. Verhandlungen seit elf Jahren Richtig findet es der luxemburgische Außenminister Asselborn, die Beitrittsverhandlungen, die lange auf Sparflamme köchelten, zu beleben. "Ich war dabei, 2004, als wir angefangen haben mit der Türkei. Wir sind jetzt elf Jahre danach. Was die Verhandlungen angeht, braucht man Geduld. Man darf nur einen Fehler nicht machen: Das ist Abbrechen." Nicht abbrechen: Ja. Beschleunigen: Ja. Aber nicht um jeden Preis, meint der österreichische Außenminister Kurz. "Aus meiner Sicht ist ganz entscheidend, dass diese Verhandlungen zwar geführt werden können, dass man aber keinesfalls jetzt aufgrund der Flüchtlingskrise bei anderen Themen, wie zum Beispiel bei der Kurden-Problematik oder bei der menschenrechtlich noch immer sehr schwierigen Situation, wegsehen soll." Das neue Kapitel, das zu verhandeln begonnen werden soll, ist das Kapitel 17 über Wirtschafts- und Währungsfragen. Zwar ist dieses Kapitel vielleicht weniger brisant, als wenn man über die Justiz oder über Bürgerrechte, Medienfreiheit oder ähnliches zu verhandeln beginnen würde. Aber ein leichtes Verhandlungsthema ist es damit keineswegs, sagt der politische Analyst der Brüsseler Denkfabrik Carnegie Europe, Jan Techau: "Da steckt etwas ganz, ganz Zentrales drin: Es ist erst einige Wochen her, dass die Türkei per Gesetz die Unabhängigkeit ihrer Zentralbank abgeschafft hat. Und das ist ja eine der großen, wichtigen Voraussetzungen für den EU-Beitritt, dass eine unabhängige Zentralbank existiert - eine, auf die die Politik keinen direkten Einfluss nehmen kann. Erdogan hat das sozusagen einkassiert. Und so steckt also in dieser Wirtschafts- und Finanzfrage ein ganz, ganz harter Kern." Gefährliche Abhängigkeit Beitrittsverhandlungen sind aus Sicht Techaus der einzige Hebel, den die EU aktuell hat, um auf die Türkei einwirken zu können. Das gilt allerdings nur, so lange es innerhalb des Landes noch Kräfte gibt - wenn auch tendenziell weniger als zu Beginn der Beitrittsverhandlungen 2004 - denen an einer Integration in die EU als mittel- oder langfristige Perspektive gelegen ist. Techau: "Da besinnt man sich jetzt im Moment der Krise zurück auf das einzige Instrument, das bleibt: die Beitrittsverhandlungen. Das sieht vordergründig erst mal aus wie eine Niederlage - das ist es zum Teil auch. Aber es ist, wenn man es klug spielt, mittel- und langfristig, wie man wieder einen Hebel kriegen kann, mit dem man die Türkei sozusagen auch 'kriegt'." Dass nicht jedem in der EU wohl dabei ist, dass die Zusammenarbeit mit der Türkei Erdogans über der Flüchtlingskrise und im Zusammenhang mit der Terrorbekämpfung eine so spürbar gesteigerte Bedeutung bekommen hat, das hörte man heute allerdings in Brüssel nicht nur aus den Worten des österreichischen Außenministers heraus. Kurz: "Ich glaube, dass es sinnvoll sein kann, in einigen Bereichen zu kooperieren, wie zum Beispiel bei der Rückstellung von Flüchtlingen. Ich glaube aber, dass es auch Bereiche gibt, die wir selbst erledigen sollten - wie die Sicherung der EU-Außengrenzen. Wenn wir das nicht selbst zusammenbringen, dann begeben wir uns in eine Abhängigkeit, die gefährlich ist."
Von Annette Riedel
Erstmals seit zwei Jahren weitet die EU die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aus. Am Abend gaben die EU-Staaten in Brüssel grünes Licht für die Eröffnung des Kapitels zur Wirtschafts- und Währungspolitik. Ankara hatte weitere Verhandlungen zur Voraussetzung für eine Zusammenarbeit in der Flüchtlingskrise gemacht.
"2015-12-14T18:10:00+01:00"
"2020-01-30T13:14:16.130000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/wegen-kooperation-in-der-fluechtlingspolitik-eu-weitet-100.html
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Wo sind die Grenzen?
Roboter Tim führt im Deutschen Technikmuseum durch eine Ausstellung. (Deutschlandradio/ Paul Vorreiter) Politiker nutzen das Internet, um Stimmung für sich und gegen Kontrahenten zu machen. Datenlogger liefern Medizinern permanent Informationen über Körperfunktionen von Patienten. Soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter bieten neue Formen der Selbstinszenierung. Selbst persönliche Beziehungen werden über Dating-Portale und Apps angebahnt. Welche Chancen und Risiken beinhaltet die Digitalisierung in unterschiedlichen Lebensbereichen? Was bleibt jenseits des Digitalen? Welche Lebensbereiche entziehen sich auch in Zukunft der Steuerung und Begleitung durch digitale Techniken? Wie greift die "Übermächtigkeit" des Internets in Lebensform und Denkweise der Menschen ein? An welchen Stellen sollten Grenzen gezogen werden zwischen der technologischen Machbarkeit und dem sozial und gesellschaftlich Sinnvollen? Darüber diskutieren wir gemeinsam mit Ihnen. Hörertelefon 00800/44 64 44 64, Email lebenszeit@deutschlandfunk.de Gesprächspartner: Dirk Baecker, Soziologe, Professor für Kulturtheorie und Management an der Universität Witten/Herdecke Lena Pint, Doktorandin am Institut für Philosophie der Universität Würzburg Eike Wenzel, Medienwissenschaftler, Publizist und Leiter des Instituts für Trend- und Zukunftsforschung in Heidelberg.
Eine Sendung von Lennart Pyritz und Andreas Stopp (Moderation)
Sie prägt längst den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Alltag: die Digitalisierung. Mithilfe von Smartphone und Google sind Informationen in Sekunden abrufbar. Computer und Roboter ersetzen zunehmend Menschen in der Arbeitswelt. Wie wird sich die Entwicklung in der Zukunft weiter fortsetzen?
"2016-11-25T10:10:00+01:00"
"2020-01-29T19:05:18.191000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/digitalisierung-wo-sind-die-grenzen-100.html
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Karlsruhe verhandelt über Hartz-IV-Sanktionen
Hartz IV wurde zum 1. Januar 2005 durch das "Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" eingeführt (Wolfram Steinberg/ dpa ) "Niemandem wird künftig gestattet sein, sich zu Lasten der Gemeinschaft zurückzulehnen. Wer zumutbare Arbeit ablehnt, und wir werden die Zumutbarkeitskriterien verändern, der, meine Damen und Herren, wird mit Sanktionen rechnen müssen." Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder 2003, als es um die von ihm auf den Weg gebrachte Agenda 2010 ging. Das Sozialsystem wurde reformiert. Seit 2005 sind Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammengefasst und es werden Arbeitslose sanktioniert, die zumutbare Arbeit ablehnen, die Termine mit dem Jobcenter nicht einhalten oder Fortbildungsmaßnahmen abbrechen. Das heißt, je nach Verstoß werden ihnen 10, 30, 60 oder bei mehreren Verfehlungen auch bis zu 100 Prozent ihrer Hartz-IV-Bezüge für jeweils drei Monate gestrichen. Bei Arbeitslosen unter 25 Jahren werden Verfehlungen noch härter sanktioniert – aus erzieherischen Gründen. Der Hartz-IV-Satz jedoch gilt als das absolute Existenzminimum, das ein Mensch zum Leben braucht, sagt der Jurist Jens Petermann, Richter am Sozialgericht Gotha in Thüringen "Es ist ja so, dass seit dem 1.1.2005 in dieser Republik ein Phänomen besteht. Nämlich das Phänomen, dass Menschen, die keinerlei Straftaten begangen haben, tatsächlich aber aufgrund eines Verhaltens gegenüber der Sozialverwaltung, was möglicherweise von der Sozialverwaltung nicht für korrekt angesehen wird, in ihren Rechten erheblich beschnitten und eingeschränkt werden - soweit eingeschränkt werden, dass sich die Frage stellt, ob die Einschnitte so schwerwiegend sind, dass es auch Menschenrechtsverletzungen darstellen könnte." Schwierige Entscheidung, große Signalwirkung Ob die Hartz-IV-Sanktionen grundgesetzkonform sind, soll jetzt das Bundesverfassungsgericht entscheiden. Jens Petermann hat den Stein ins Rollen gebracht, nachdem er 2015 den Fall eines jungen Mannes auf den Tisch bekommen hatte. Dieser hatte ein Arbeitsangebot und eine Weiterbildung abgelehnt und sollte deshalb eine Kürzung seiner Bezüge um 60 Prozent akzeptieren: "Das hat der nicht gemacht, hat dagegen geklagt und hat dann aber auch ausgeführt, dass Sanktionen gar nicht grundrechtskonform seien und, dass das gar nicht erlaubt sei, weil die Verfassung eigentlich das Grundrecht aus Artikel 1 und Artikel 20 Grundgesetz so sehr verbriefe, dass man das auch nicht sanktionieren könne. Und das Gericht hat sich davon überzeugen lassen und letztlich auch entschieden, dass es selber die Verfassungswidrigkeit nicht feststellen kann, das darf es auch nicht." Artikel 1: Die Würde des Menschen ist unantastbar, und Artikel 20: Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Das Sozialgericht Gotha musste also dem Bundesverfassungsgericht das Problem zur Entscheidung vorlegen und kann danach erst weiterverhandeln. Gerhard Schröder stellt die Agenda 2010 vor - das war 2003 (Bild: picture alliance / dpa) (picture alliance / dpa) Mehr als ein Dutzend Experten zum Thema wurden im Vorfeld bereits angehört. Die Meinungen gehen weit auseinander. Die Entscheidung wird schwierig und die Signalwirkung groß sein. Denn über eine Reform des Hartz-IV-Systems wird derzeit politisch sowieso heftig diskutiert. Die Abschaffung der Sanktionen ist dabei ebenfalls ein Punkt. Eine Million Mal wurden im vergangenen Jahr Menschen die Bezüge gekürzt, vielen Betroffenen mehrfach. Mehr als 30.000 bekamen über einen gewissen Zeitraum gar kein Geld. Insgesamt waren drei Prozent von über 5,8 Millionen Leistungsempfängern betroffen - aus den unterschiedlichsten Gründen. Einer der Betroffenen ist Michael Husemann, wie er hier genannt werden möchte. Für ein Gespräch hat er nicht viel Zeit, in einer halben Stunde beginnt sein Job auf einem Markt. Davon weiß das Jobcenter allerdings nichts. Einen festen Arbeitsplatz hat der Mittvierziger nicht. Seit fast zehn Jahren lebt er von Hartz-IV: "Seitdem bin ich halt arbeitslos, aber nicht wirklich arbeitssuchend. Ich stocke inoffiziell auf teilweise, und wenn das inoffiziell Aufgestockte halt abgeschmolzen ist, dann ergibt sich wieder etwas, also man hangelt sich halt durch. Ich sehe mich persönlich nicht als Parasit, ich sehe mich, in Anführungszeichen, als Widerständler, indem ich mich dem System entziehe." Bis 30 Prozent in drei Zehnerschritten Das heißt, er lebt weitgehend auf Kosten der Allgemeinheit, obwohl er das eigentlich nicht müsste. Zwölf Jahre lang hatte Michael Husemann eine gut bezahlte Anstellung bei der Rentenversicherung. Dann wurde seine Mutter schwer krank, er kündigte und pflegte sie rund um die Uhr bis zu ihrem Tod. Nachdem in dieser Zeit das Arbeitslosengeld I ausgelaufen war, fiel er in Hartz-IV. Und auch das wurde ihm ziemlich schnell gekürzt: "Das war vermutlich, weil ich Termine versäumt habe, weil ich aufgrund der Pflege so extrem eingebunden war und keinen Kopf für irgendetwas anderes hatte. Insgesamt ging das, glaube ich, bis 30 Prozent in drei Zehnerschritten, und ich hatte keine Kraft, mich diesbezüglich um irgendetwas zu kümmern. Ich konnte zum Glück bei meiner Mutter ein bisschen Lebensmittel bekommen, aber es gab Tage, da hatte ich nichts, da habe ich dann industrieraffinierten Zucker ein bisschen gegessen, damit ich ein paar Kalorien rein bekomme." Als die Mutter stirbt, kann und will er sein altes Leben nicht wieder aufnehmen. In seinen ehemaligen Job will er keinesfalls zurück. Eine von ihm erträumte und relativ teure Ausbildung zum Heilpraktiker will das Jobcenter nicht unterstützen. Eine Arbeit als Wachschützer wird ihm angeboten, aber die würde so wenig einbringen, dass er aufstocken müsste. Er lehnt ab. Die Fronten verhärten sich. Er meldet sich krank, wenn aus seiner Sicht unsinnige Maßnahmen wie Bewerbungstrainings verordnet werden. Er will die obligatorische Eingliederungsvereinbarung des Jobcenters nicht unterschreiben, das Jobcenter verhängt neue Sanktionen. Er wehrt sich, kann einen Formfehler nachweisen und bekommt das abgezogene Geld zurück. Fast 40 Prozent aller Klagen vor den Sozialgerichten gegen Hartz-IV-Sanktionen waren im vergangenen Jahr erfolgreich. Gegen Kürzungen können Hartz IV-Empfänger vorgehen (imago / Götz Schleser) Der Berliner Verein Sanktionsfrei e.V. unterstützt Hartz-IV-Empfänger dabei, gegen Kürzungen vorzugehen. Helena Steinhaus hat den Verein gegründet, auch sie selbst lebte als Kind eine Zeit lang von Hartz IV. Hier wird nicht gefragt, warum jemandem die Leistungen gekürzt wurden, ob ein Termin vergessen oder einfach verweigert wurde, sagt Helena Steinhaus: "Also es gibt tausend Gründe, einmal: Menschen arbeiten. Die Hälfte der Hartz-IV Beziehenden sind gar nicht arbeitslos, die sind entweder Aufstocker oder in der Ausbildung oder was auch immer, oder sie betreuen ein Kind, sie sind krank, es gibt Leute, die sind psychisch gar nicht mehr in der Verfassung, die Post aufzumachen. Das klingt jetzt erst mal banal, aber es ist wirklich wahr. Viele sind auch gerade sowieso in einer schwierigen Situation, man ist ja nicht aus Spaß in Hartz-IV. Der Verein hilft den Betroffenen, indem er der Sanktion zunächst online widerspricht. Dann schalten sich die vom Verein beauftragten Anwälte ein und begründen den Widerspruch. In 90 Prozent der Fälle haben sie Erfolg, etwa, weil das Jobcenter versäumt hatte, die Betroffenen vor der Kürzung der Bezüge anzuhören. Bis das Jobcenter die Kürzungen dann erstattet, hilft der Verein den Sanktionierten auch mit Geld, die Zeit zu überbrücken: "Auch wenn man denkt, es ist wenig Geld, was da weggenommen wird: Immer ist es eine existenzielle Not. Denn wenn man schon von dem Wenigsten lebt, von dem Minimum, dann ist alles, was davon noch weggenommen wird, einfach schlimm." Anspruch auf Sachleistungen Sanktionsfrei e.V. finanziert sich ausschließlich durch Spenden und private Unterstützer. "Wir haben das Prinzip, dass die Gelder, die wir auszahlen nach gewonnener Klage an uns zurückgezahlt werden sollen, damit wir den Solidartopf kontinuierlich füllen können und das funktioniert. Also die Leute geben uns das Geld zurück und so haben wir immer mehr Geld, um es den Leuten zur Verfügung zu stellen." Eigentlich haben Betroffene ab einem bestimmten Grad der Kürzungen Anspruch auf Sachleistungen. Sie bekommen vom Jobcenter Wertgutscheine, zum Beispiel für Lebensmittel oder Kleidung. Die würden allerdings von vielen nicht in Anspruch genommen, meint Helena Steinhaus. Und richtig kritisch werde es, wenn bei einer 100-Prozent-Sanktionierung nicht nur der Regelsatz von derzeit 424 Euro gestrichen wird: "Darüber hinaus können eben auch die Kosten der Unterkunft, also die Miete gestrichen werden und die Krankenversicherung, und das kann zu Obdachlosigkeit führen. Letztendlich ist es ein Ausdruck, wenn Du nicht machst, was ich möchte, ist es für mich auch ok, wenn du auf der Straße landest." Ob das verfassungsgerecht ist, darüber werden die Karlsruher Richter zu urteilen haben – und vielleicht der Politik die Entscheidung abnehmen, denn bereits im vergangenen Jahr wurde über eine Abschaffung der Sanktionen heftig gestritten. SPD-Chefin Andrea Nahles fordert "Bürgergeld" statt Hartz IV (dpa/Kay Nietfeld) Seit die Arbeitsmarktreform 2005 in Kraft trat, hat sich die Zahl der Arbeitslosen fast halbiert. Das liege ausschließlich an der guten konjunkturellen Entwicklung, sagen die einen. Das liege aber auch an der strikten Durchsetzung des Prinzips "Fördern und Fordern", sagt etwa Bundesarbeitsminister Hubertus Heil, SPD. Der kann sich zwar vorstellen, das System der Grundsicherung zu reformieren und die härteren Sanktionen für Arbeitslose unter 25 denen der Älteren anzugleichen, ganz abschaffen will er sie aber nicht. Bei seiner Parteikollegin Andrea Nahles klingt das anders. Sie fordert jetzt ein Bürgergeld, das nicht nur Verbesserungen bei den Zuverdienstmöglichkeiten für Hartz-IV-Empfänger, sondern auch ein Ende der Kürzungen vorsieht: "Das Bürgergeld, das wir wollen, soll zu keinem Zeitpunkt unter dem Existenzminimum liegen. Das hat etwas damit zu tun, dass wir festgestellt haben, im jetzigen Hartz-IV-Regime ist es so, dass wir durchaus durch Sanktionen tatsächlich Menschen unter das Existenzminimum drücken." Die Grünen wollen mit ihrer Idee einer neuen sogenannten "Garantiesicherung" für die Leistungsempfänger jede Verpflichtung abschaffen, sich eine Arbeit zu suchen, um den Leistungsbezug zu beenden. Der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck will dagegen lieber Anreize schaffen: "Man kriegt seinen Hartz-IV-Bezug und dann gibt es darüber hinaus Leistungsprämien, entweder sachlicher Art oder auch finanzieller Art, wenn man sich fortbildet. Und das ist das attraktivere System, dass Menschen in Arbeit gehen. Menschen wollen tätig sein, und dieses Wollen der Tätigkeit, das soll unterstützt werden. Insofern sind alle Überlegungen davon geleitet, kein Druck, kein Zwang, keine Bestrafung, keine Würdelosigkeit zu produzieren, sondern Anreize zu schaffen, um so dem Menschen Mut zu geben, und alles weitere ergibt sich dann daraus." "Grundrechte muss man sich nicht verdienen" Bereits im Juni vergangenen Jahres hatte die Linke im Bundestag einen Antrag auf Sanktionsfreiheit eingebracht. Die Parteivorsitzende Katja Kipping: "Es handelt sich bei der Sozialleistung, nicht um eine Mildtätigkeit. Es geht hier um ein Grundrecht. Und Grundrechte, die muss man sich nicht verdienen. Deswegen sagen wir ganz klar, Grundrechte kürzt man nicht." Der Antrag wurde abgelehnt, mit den Stimmen der Regierungsfraktion, der FDP und der AFD. Matthias Zimmer von der CDU: "Warum sollte ein Familienvater, der mit seiner Arbeit sich und seine Familie ernährt mit seinen Steuerzahlungen, einen anderen arbeitsfähigen, aber arbeitslosen Familienvater unterstützen, wenn dieser nichts dazu tut, um seine Lage zu ändern? Nein, dies führt zu einer gesellschaftlichen Delegitimierung von Solidarität, und das wollen wir nicht." Ein Befürworter der Sanktionen: CDU-Bundestagsabgeordneter Matthias Zimmer (imago / Michael Schick) Rückenwind bekommen die Befürworter von Sanktionen unter anderem von den Arbeitgeberverbänden, etwa von der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft. Deren Geschäftsführer Ivor Parvanov verteidigt die Kürzungen des Jobcenters anlässlich einer Anhörung im Bundestags-Ausschuss für Arbeit und Soziales. "Wir sind aber durchaus der Meinung, dass der Sanktionsmechanismus durchaus einen förderlichen Effekt hat. Wir sehen darin auch eine durchaus gewünschte pädagogische Wirkung, was das Verhalten der Betroffenen angeht. Denn, insofern will ich auch noch eingehen auf den Bereich materielle Auswirkungen der Sanktionen, denn natürlich haben die Auswirkungen, genau das soll auch so sein. Denn natürlich liegt es im Wesentlichen in der Hand der Betreffenden selber, ob sie durch Pflichtverletzung die Sanktion herbeiführen oder nicht. Und deshalb halten wir das System des Sanktionsmechanismus im Prinzip für völlig richtig und genau dem Prinzip Fördern und Fordern angemessen." Auch, dass die unter 25-jährigen Arbeitslosen härter und schneller sanktioniert werden, sei richtig, weil man sie noch am ehesten beeinflussen könne, so Parvanov. Die Jugendarbeitslosenquote in Deutschland hat sich seit 2005 mehr als halbiert. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen in Deutschland ist in den vergangenen sechs Jahren um ein Fünftel zurückgegangen, die Quote der Menschen, die sanktioniert wurden, sank im gleichen Zeitraum von 3,4 auf jetzt 3,1 Prozent. Für Markus Mempe vom Deutschen Landkreistag sind diese Zahlen ein Hinweis darauf, dass bereits die Androhung von Kürzungen auf die Betroffenen einen Einfluss habe. Die Landkreise betreiben die Jobcenter gemeinsam mit der Bundesagentur für Arbeit oder in kommunaler Eigenregie. Um Sanktionen komme man dort auch in Zukunft nicht herum: "Andererseits bekommen wir von den Jobcentern auch zurückgemeldet, dass bei manchen die Abschreckungswirkung nicht fruchtet und es nicht zu verbesserter Mitwirkung führt. Insofern ist auch die Durchführung von Sanktionen durch die Jobcenter als wichtiges Instrumentarium unentbehrlich. Ohne Sanktionen könnten viele Leistungsberechtigte schlichtweg nicht erreicht werden." Abmeldung vom Jobcenter Studien vom Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung IAB zeigen, dass die Beschäftigungschancen eines Teils der Menschen, die sanktioniert wurden, zumindest kurzfristig steigen, weil sie sich mehr darum bemühen. Es gebe aber auch Untersuchungen, die belegen, dass manche sich in der Folge eher ganz vom Arbeitsmarkt zurückziehen, erklärt Joachim Wolff vom IAB: "Im Einklang mit dem, was Studien gefunden haben zum Rückzug vom Arbeitsmarkt, findet man auch in der Befragung, dass Sanktionen auch dazu führen können, dass Personen sich von den Jobcentern ganz abmelden infolge einer Sanktionierung, das vor allem bei den unter 25-Jährigen." Infolge von Sanktionierungen melden sich viele Betroffene vom Jobcenter ab (imago | Emmanuele Contini) Das kann Mara Meier, wie sie hier genannt wird, nur bestätigen. Sie ist Arbeitsvermittlerin in einem Berliner Jobcenter und betreut vor allem Langzeitarbeitslose und Menschen mit sogenannten Vermittlungshemmnissen wie psychischen oder Alkoholproblemen. Aus Sorge um ihren Arbeitsplatz will sie anonym bleiben. Die Stimme wurde deshalb nachgesprochen. "Ich sanktioniere nicht. Ich mache es nicht. Ich finde solche repressiven Mittel einfach nicht tragfähig für die Zusammenarbeit. Ich habe die Erfahrung gemacht, sobald das im Raum steht, geht eine Tür zu. Und ich habe überhaupt keine Möglichkeit, Beziehungsarbeit zu leisten, wenn ich sofort mit Sanktionen drohe, und das sage ich in den Gesprächen auch. Und ich habe, toi, toi, toi, bisher das Glück gehabt, dass meine Klienten mit mir gerne zusammenarbeiten und dass es gar nicht erst soweit kommen muss." Um zum Beispiel rechtzeitig einen Termin absagen zu können, haben sämtliche Klienten ihre Telefonnummer. Das ist längst nicht bei allen Arbeitsvermittlern üblich. Manche sind nicht einmal per Mail, sondern nur per Brief zu erreichen. Mara Meier möchte, dass die Menschen, die sie betreut, mit ihr reden: "Ich sehe keine Mutwilligkeit darin, wenn Menschen die Termine nicht wahrnehmen können oder, wenn sie aufgrund familiärer Situation dann doch nicht bei einer Maßnahme bis zum Schluss teilnehmen können. Oder, wenn sie sich jetzt, obwohl man vereinbart hat, einvernehmlich, dass man zehn Bewerbungen im Monat schreibt, wenn sie jetzt doch nur acht nachweisen können." Mal ein Bewerbungstraining, mal eine Fortbildung Mara Meier will ihre Macht nicht missbrauchen - manchmal entscheide eben nur Glück darüber, wer vor und wer hinter dem Schreibtisch sitze. Dennoch sei der Druck, der auch auf ihr als Arbeitsvermittlerin liegt, groß: "Es müssen Maßnahmen vergeben werden, die Gelder müssen ausgegeben werden, und es ist erstaunlich, weil, je größer dieses Thema wird mit der Reformierung des Hartz-IV-Systems und der Sanktionen, desto größer wird auch der Druck, Geld auszugeben, Maßnahmen zu besetzen und die Zahlen auch irgendwie zu schönen." Mal ein Bewerbungstraining, mal eine Fortbildung über verschiedene Kassensysteme für Menschen, die nie im Leben Verkäufer werden wollen, ab und zu ein schlecht bezahlter und befristeter Job, der für die Betroffenen keine langfristige Lebensperspektive bietet. Dass Menschen wie Michael Husemann dann bald zu nichts mehr Lust haben, wundert Mara Meier nicht. Michael Husemann, der eigentlich arbeitsfähig ist, gesund, intelligent und organisiert. Die Angebote des Jobcenters hat er aber bisher abgelehnt: "Es war halt immer über Zeitarbeit und befristet und wieder mein alter Bereich Sozialversicherung halt. Und das ist gar nicht mehr mein Ding, da hat sich alles in mir gesträubt. Es muss halt was sein, was ich wirklich will und nicht, wo gerade mal ein Rädchen im Getriebe gebraucht wird." Das Bundesverfassungsgericht verhandelt am 15. Januar darüber, ob Kürzungen des Hartz-IV-Satzes bald der Vergangenheit angehören (dpa / Uli Deck) Michael Husemann, ein notorischer Arbeitsverweigerer? Für Rainer Wieland vom Wuppertaler Institut für Unternehmensforschung und Organisationspsychologie ist sein Verhalten keine Überraschung. Wieland hat psychologisch wirksame Arbeitsbedingungen in Unternehmen untersucht und möchte diese Ergebnisse jetzt auf das Sozialsystem übertragen. Ökonomisch erfolgreicher würden Unternehmen nämlich nicht, indem sie ihren Mitarbeitern mehr Druck machten: "Es ändert sich nur dann etwas, wenn auch die Arbeitsverhältnisse sich ändern, dass wenn die Leute so etwas wie Gestaltungsspielräume haben, selbst entscheiden - was tue ich, wie tue ich es -, dass sie so etwas haben wie vollständige Aufgaben, sie dürfen selbst planen, sie dürfen selbst ausführen, selbst kontrollieren. Und wir können mit ganz großer Sicherheit zeigen, dass diese Verhältnisse letztendlich das Befinden ganz stark beeinflussen zum einen, aber zum anderen auch das, was hinten raus kommt." Und heraus käme ohne Druck durch Sanktionen mehr als mit Druck, so der Wissenschaftler. Am 15. Januar wird in Karlsruhe darüber verhandelt werden, ob Kürzungen des Hartz-IV-Satzes bald generell der Vergangenheit angehören. 2010 hatte das Bundesverfassungsgericht schon einmal in einem anderen Zusammenhang deutlich gemacht, was das Hartz-IV Gesetz leisten muss: "Es verpflichtet den Staat, einem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Mittel zur Verfügung zu stellen, die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums unbedingt erforderlich sind. Dieser verfassungsrechtliche Leistungsanspruch gewährleistet sowohl die physische Existenz des Menschen als auch ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben." Für den Sozialrichter Jens Petermann ist die Sache vor allem juristisch interessant. Der Fall des jungen Mannes, der vor seinem Sozialgericht Gotha geklagt hatte, liegt auf Eis. Sollte er Recht bekommen, wird ihm das abgezogene Geld erstattet. Für Petermann ist die Wahrscheinlichkeit dafür recht groß: "Ich bin der Meinung, dass man ein Grundrecht, wenn es denn wirklich ein Grundrecht ist, nicht kürzen kann. Denn ein gekürztes oder ein kastriertes oder wie auch immer geartetes Grundrecht, das gibt es nicht. Das sieht das Grundgesetz definitiv nicht vor." In einigen Wochen wird dann das Bundesverfassungsgericht sein Urteil verkünden.
Von Anja Nehls
Hartz IV soll Arbeitslosen die Existenz sichern. Doch sogar das Geld für die Krankenversicherung darf der Staat den Beziehern der Sozialleistung im schlimmsten Fall kürzen. Das Bundesverfassungsgericht entscheidet jetzt darüber, ob der Staat vom Minimum noch etwas wegnehmen darf.
"2019-01-12T18:40:00+01:00"
"2020-01-26T22:33:09.080000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/wenn-ein-minimum-gekuerzt-wird-karlsruhe-verhandelt-ueber-100.html
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Kontaminiertes Wasser bereitet immer noch Probleme
Vor allem die Lagerung von kontaminiertem Wasser bereitet in Fukushima auch acht Jahre nach der Kernschmelze noch Probleme (dpa / AP Images / Yomiuri Shimbun) Das Programm ist genau durchgetaktet und vollgepackt. Die Pressetour durch Fukushima führt die zehn meist ausländischen Journalisten zunächst zu einem Landwirtschaftszentrum, einer Erdbeerplantage mit süßen Früchten und schließlich zum Fischerei-Institut. Dort hacken gerade drei Japaner Fisch zu Brei. In luftdichten Behältern verpackt wird dann die radioaktive Belastung gemessen. Toyohiko Hirata ist der Direktor für Strahlenmessung an dem Institut. Die Mitarbeiter legen für ihre Arbeit einen doppelt so strengen Maßstab an wie die Regierung. "Die Fische, die wir untersucht haben, sind nicht mehr belastet." Dennoch haben es die Fischer in der Region nach wie vor schwer, denn viele Japaner bleiben Fisch und anderen Produkten aus Fukushima gegenüber skeptisch. "2011 haben wir 2.400 Tonnen Fisch pro Jahr gefangen. Heute sind wir gerade mal bei der 13 Prozent der Gesamtmenge von damals." Zwar werden sie wie Landwirte finanziell für die Einnahmeausfälle entschädigt, doch im Grunde wünschen sich nur eins: Dass alles ist wieder ist wie vor dem 11. März 2011. Marineinstitut und Fischereigenossenschaft fürchten sich deshalb auch davor, dass zu zu stark belastetes Kühl- und Grundwasser schon bald wieder ins Meer geleitet werden könnte. "Wenn das passiert, würden die ganzen Gerüchte und Geschichten über Fukushima wieder hochkochen." 1.000 Tanks mit kontaminiertem Wasser Besuch im Atomkraftwerk Fukushima – fast überall könne man sich ohne Schutzkleidung bewegen, heißt es – auch wenn der mitgebrachte Geigerzähler immer mal piepst – kein Grund zur Sorge, so der Tenor. Und dann sind da noch die rund 1.000 Tanks mit kontaminiertem Wasser. dieses Kühlwasser aus den Reaktoren enthalte nur noch Tritium, beteuerten die japanische Regierung und der Atomkraftbetreiber viele Jahre lang. Doch, inzwischen weiß man, das war gelogen – und Tepco-Sprecher Kenji Abe tut sich auch jetzt noch schwer zuzugeben. "In 80 Prozent aller Tanks befinden sich neben Tritium auch noch andere Stoffe, sie wurden bisher nicht herausgefiltert." Dazu gehört unter anderem Strontium-90, das eine Halbwertszeit von fast 30 Jahren hat und krebserregend ist, wenn es über Lebensmittel in den Körper gelangt. Wohin mit dem Wasser? Warum es beim Filtern bisher hakte - die Antwort fällt knapp aus: "Wir waren damals in Eile." Denn das Wasser war hoch verstrahlt und sollte schnell verschwinden, um auch die Arbeitskräfte nicht zu gefährden. Offenbar hat die Filtermethode auch nicht so funktioniert wie erwartet. Doch das Problem wird immer größer, denn täglich kommt neues kontaminiertes Kühlwasser hinzu und Tepco beim Filtern nur schleppend hinterher. Shaun Burnie ist bei Greenpeace seit vielen Jahren der Strahlenexperte. Er hält nur eine Option für realistisch: "Die einzige Lösung, um weder die Umwelt noch die Gesundheit der Menschen zu gefährden, ist, das Wasser die nächsten 100-125 Jahre in größeren Tanks aufzubewahren. Dafür muss man mehr Platz auf dem Gelände schaffen." Alle anderen Möglichkeiten, wie das Wasser verdunsten zu lassen, ins Meer zu abzuleiten oder in den Boden zu injizieren, sind aus seiner Sicht auch dann gefährlich, wenn das Wasser nur noch Tritium enthalten sollte. Und auch das Problem hätte man schon längst angehen können, sagt Burnie und verweist auf eine Technologie des US-amerikanischen Energieministerium von 2014. "Die japanische Regierung und Tepco wollten das Geld dafür nicht ausgeben, denn das hätte sich schnell auf bis zu 150 Milliarden Euro belaufen können. Und es ist natürlich viel günstiger, es einfach so in den Pazifik einzuleiten." Chance für die Energiepolitik? Wie gefährlich ein Einleiten nur des tritiumhaltigen Wassers tatsächlich wäre, ist unter Wissenschaftlern umstritten. So schreibt das renommierte Thünen-Institut beispielsweise, dass Tritiums vom menschlichen Körper schnell wieder ausgeschieden wird, über Langzeitschäden ist hingegen bisher wenig bekannt. Dass die Wasserfrage noch immer so ungelöst ist, bedauert Bernie von Greenpeace, denn seit dem Unglück wurde auch vieles Positives geleistet, findet er. Selbst bei Tepco bewege sich etwas. "Es gibt einen Machtkampf innerhalb des Unternehmens zwischen den Alten und den Jungen über die Zukunftsfähigkeit von erneuerbaren Energien. Wer die Schlacht gewinnt, ist noch offen. Aber wir haben in den nächsten paar Jahren wirklich die Chance, Japans Energiepolitik komplett zu ändern." Einer, der das erkannt hat, ist Takahiro Kimoto, Risikomanager von Tepco. Er sieht die Zukunft in einem Energiemix, wie er fast nebenbei am Schluss der Pressetour sagt. Und noch etwas: Tepco müsse weiter an seiner Kommunikation arbeiten. "Sicher, wir kommen bei der Vertrauensbildung voran, hergestellt ist sie aber bestimmt noch nicht." Acht Jahre nach der Reaktorkatastrophe kämpfen viele Menschen auf verschiedene Weise um ihren Ruf.
Von Kathrin Erdmann
Vor acht Jahren kam es in Japan nach einem schweren Erdbeben mit anschließendem Tsunami zur Kernschmelze im Atomkraftwerk von Fukushima. Die Regierung versucht den Eindruck zu vermitteln, dass vieles schon wieder in Ordnung sei. Doch vor allem beim Umgang mit verstrahltem Kühlwasser sind viele Probleme noch ungelöst.
"2019-03-11T05:05:00+01:00"
"2020-01-26T22:41:34.943000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/acht-jahre-nach-fukushima-kontaminiertes-wasser-bereitet-100.html
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"Was mich berührt, wird Musik"
Martin Herchenröder: Komponist, Organist, Veranstalter und Musikwissenschaftler (Armin Zedler) Martin Herchenröder wurde im westfälischen Iserlohn geboren. Er hat in Köln, u.a. bei Hans Werner Henze Komposition studiert. Neben Gastprofessuren in den USA, Kanada und Dänemark wirkt er seit 1994 als Professor für Musiktheorie an die Universität Siegen. In Siegen installierte er auch das "Studio für neue Musik". Es stellt ein leuchtendes Beispiel für gelungene Verankerung des Zeitgenössischen in der Region dar. In seinem eigenen kompositorischen Schaffen thematisiert Herchenröder häufig die dunklen Seiten des Lebens, aber auch die Erfahrung des Unbekannten. Inspiration empfängt er aus der Natur, aus der Poesie, aus dem Leben selbst und dessen Vergänglichkeit. Am 12. Januar wird der Komponist 60 Jahre alt.
Von Egbert Hiller
Martin Herchenröders Werke bilden dichte Beziehungsnetze. Musik, seine Musik, ist für ihn ein Phänomen von seltsamer Schönheit. Ihre Wirkung, ihr entstehen gleich einem Pfeil, der vom Bogen abfliegt – ins Ungewisse.
"2021-01-02T22:05:00+01:00"
"2020-12-22T11:50:20.276000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-komponist-martin-herchenroeder-was-mich-beruehrt-wird-100.html
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Euro-Finanzminister geben sich zuversichtlich
Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) spricht mit seinem slowakischen Amtskollegen Peter Kazimir auf dem Treffen der Euro-Finanzminister. (dpa-Bildfunk / EPA / Olivier Hoslet) Soviel Lob von den europäischen Gläubigern gab es schon lange nicht mehr für die griechische Regierung. Zumal Finanzminister Euclid Tsakalotos nicht mit leeren Händen nach Brüssel gekommen ist. Erst am Wochenende hatte das Parlament weitere Sparmaßnahmen sowie die innenpolitisch höchst umstrittene Schuldenbremse beschlossen - eine zentrale Forderung der europäischen Geldgeber: "Ich denke, die griechische Regierung hat seit dem Sommer und gerade auch in den letzten Monaten viel Arbeit geleistet, hat schwierige Reformen und Maßnahmen umgesetzt. Ich hoffe, dass das alle Institutionen so sehen und wir deshalb im Programm vorankommen", erklärte zum Auftakt des Treffens Eurogruppenchef Jeroen Dijsselbloem. Höhe der nächsten Hilfstranche noch unklar Denn nur wenn Experten von Europäischer Zentralbank, EU-Kommission und Internationalem Währungsfonds die bisherigen Maßnahmen positiv bewerten, kann Griechenland auf die Freigabe weiterer Hilfsmilliarden hoffen. Doch auch Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble zeigte sich optimistisch: "Wie wir uns vor zwei Wochen vorgenommen haben, hoffe ich, dass wir heute zu einem Abschluss kommen. Ich bin ganz zuversichtlich, aber es gibt noch eine Menge Arbeit zu tun". Unter anderem muss noch geklärt werden, wie hoch die nächste Hilfstranche bei einem positiven Zwischenbescheid ausfallen soll. Die EU-Kommission plädiert für elf Milliarden Euro, manche in der Eurogruppe sind zurückhaltender, auch um den Druck auf die griechische Regierung weiter aufrechtzuerhalten. IWF fordert Zugeständnisse von der EU Dennoch sollte heute zumindest diese Grundsatzentscheidung fallen, betonte auch der slowakische Finanzminister Peter Kazimir: "Viele Punkte sind noch immer ungelöst. Deshalb sollten wir uns auf die Auszahlung, die Höhe der Tranche konzentrieren und den Zwischenbericht abschließen". Denn weiter gibt es Streit über mögliche Schuldenerleichterungen für Griechenland. Der Internationale Währungsfonds pocht auf weitreichende Zugeständnisse der Europäer, etwa dass die europäischen Kredite bis zum Jahr 2040 zins- und tilgungsfrei gestellt werden. Zudem sollten die Maßnahmen noch während des laufenden Programms beschlossen werden. Das geht den Europäern jedoch zu weit. Ohnehin, so der österreichische Finanzminister Hans Jörg Schelling, müsse sich der IWF zunächst selbst klar positionieren: "Ich würde mir mal erwarten, dass der IWF nicht jeden Tag über neue Maßnahmen nachdenkt, bevor er sich nicht wirklich deklariert. Unter welchen Bedingungen er beim Programm dabei sein wird. Und ich glaube, dass wird auch heute zu fragen sein: ist der IWF nun an Board, was sind die Bedingungen, die der IWF stellt, damit er dabei ist?" IWF-Beteiligung für Schäuble eine Grundbedingung Doch die Beteiligung des IWF am dritten Hilfsprogramm für Griechenland ist für die meisten Euro-Mitgliedsländer nach wie vor eine Grundbedingung, gerade auch für Finanzminister Wolfgang Schäuble: "Das ist ja Inhalt des Programms, dass der IWF nach der ersten Programmüberprüfung auch in die Programmfinanzierung wieder einsteigen wird. So ist das im letzten Jahr vereinbart worden. Dazu stehen wir und dabei bleibt es auch". Doch offen bleibt, ob tatsächlich schon heute bei der Streitfrage Schuldenerleichterungen ein Kompromiss gelingt wird. Es dürfte aber in jedem Fall eine lange Sitzung werden.
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Die Euro-Finanzminister sind zusammengekommen, um über weitere Hilfsgelder für Griechenland zu beraten. Dabei gab es viel Lob für Athens Sparpolitik - aber auch Unstimmigkeiten: Die Minister sind sich nicht einig, ob es weitere Schuldenerleichterungen geben sollte. Die aber fordert der Internationale Währungsfonds (IWF).
"2016-05-24T18:10:00+02:00"
"2020-01-29T18:31:10.552000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/griechenland-hilfen-euro-finanzminister-geben-sich-100.html
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Das Licht der Vernunft
„Aufklärung“ ist in Stil und Anliegen eine Zusammenschau des bisherigen Schaffens von Angela Steidele. (Foto: © Heike Steinweg/Suhrkamp Verlag, Buchcover: Insel Verlag) Einst sah Europas Intelligenzija im 18. Jahrhunderts viel Licht am Ende des Tunnels. „Licht“ – die zentrale Metapher der Aufklärung, wenn nicht sogar ihr Kampfbegriff. Wissen, vernünftiges Denken und Handeln sollten die Menschen aus der jahrhundertelangen Finsternis des Mittelalters befreien. Das Bürgertum strebte seiner Emanzipation zu, begann sich aus der lähmenden Umklammerung durch weltliche und klerikale Mächte zu lösen. Noch dazu rückte der Wissenszuwachs die Beherrschbarkeit der Natur in greifbare Nähe. Der Weg der Menschheit zu Freiheit und Frieden schien unaufhaltsam. Von diesem Fortschrittsoptimismus ist in unserem 21. Jahrhundert nicht mehr viel übrig. Naturbeherrschung und Technikgläubigkeit zeigen ihre zerstörerische Seite. Alternativlos aber bleibt der Gedanke des vernunftbestimmten Handelns, verbunden mit ethischen Prinzipien. Und so kann man mit Jürgen Habermas sagen: Die Aufklärung bleibt ein „unvollendetes Projekt der Moderne“. Voraussetzung war und ist eine kritische, unzensierte Öffentlichkeit, die bereit ist zum produktiven Streitgespräch. Im Geiste Lessings geht es dabei um das Begreifen der Welt aus mehr als einer Perspektive. Unter den Bedingungen der heutigen Mediengesellschaft mit ihren unzähligen Perspektiven eine riesige Herausforderung. Aber vielleicht ist es genau dieser unausweichliche Druck, der wieder vermehrt zur Beschäftigung mit den Idealen der Aufklärung drängt: Die Notwendigkeit der Verständigung angesichts einer immer stärker bedrohten und in verschiedenste Interessen zerfallenden Welt. „Sapere aude!“ Der Roman „Aufklärung“ von Angela Steidele hat sich diesem Geist des erhellenden Disputs voll und ganz verschrieben. Die Handlung ist in den ersten sechs Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts angesiedelt. Versammelt zum schöpferischen Ideenwettstreit sind im protestantischen Leipzig, Sachsens intellektueller Hochburg, die großen Leuchten der Aufklärung. Steideles Protagonistin ist Dorothea Bach, die Tochter des Thomaskantors und Komponisten Johann Sebastian Bach. Wie sie spricht, denkt und schreibt, das klingt allerdings oft ziemlich heutig. Aber das ist nur ein Indiz für die Feststellung: Der Roman „Aufklärung“ ist sowohl ein Buch über die Kommunikation aufgeklärter Köpfe beiderlei Geschlechts in einem Jahrhundert des Aufbruchs aus „selbstverschuldeter Unmündigkeit“, wie es Kant nicht ganz unumstritten formulierte. Es ist auch ein Buch des Gesprächs mit dieser Epoche über fast drei Jahrhunderte hinweg. Vor allen Dingen ist es ein Buch aus dezidiert weiblicher Perspektive. Salonkultur in Leipzig Das Entreé: Catharina Dorothea Bach, Tochter aus erster Ehe des Komponisten Johann Sebastian Bach, möchte ihre Erinnerungen an die geliebte und bewunderte Freundin Luise Adelgunde Gottsched, genannt die Gottschedin, schriftlich festhalten, bevor diese verblassen. Es mag um 1763 sein, als sie notiert: „Lichter scheint mir die Erinnerung an unsere erste Begegnung. Vor über achtundzwanzig Jahren war das, im Herbst 1734. Das Zimmermannsche Kaffeehaus war gedrängt voll. Die wenigstens Gäste hatten einen Platz gefunden, alles schob und stieß sich, lachte und schwatzte durcheinander. (…) Im Publikum entdeckte ich Lorenz Mizler, der damals bei uns in der Thomasschule ein und aus ging. (…) Unbeirrt saß mein Vater am Cembalo und schlug immer wieder denselben Ton für die drei Streicher und den Flötisten an.“ Zur Aufführung von Bachs flotter „Kaffee-Kantate“ hat sich das Figuren-Personal des Romans fast vollständig eingefunden: Anna Magdalena Bach, Kammermusikerin und zweite Frau des Komponisten; Lorenz Mizler, Schüler Bachs, Buchhändler und Musiktheoretiker; Johann Adolf Scheibe, Komponist und Herausgeber einer Musikzeitschrift; Christian Friedrich Henrici, Bachs wichtigster Kantatendichter, und natürlich Johann Christoph Gottsched, der große Sprachforscher und Literaturtheoretiker der Aufklärer. Später gesellen sich an anderen Orten Leipzigs und in wechselnden Konstellationen die Theaterreformerin Friederike Caroline Neuber und die Dichterin und Musikerin Christiana Mariana Ziegler hinzu. Letztere führte den ersten literarisch-musikalischen Salon in den Ländern des deutschen Staatenbundes. Mit von der Partie unter anderem auch Johann August Ernesti, evangelischer Theologe und Leiter der Thomasschule; der Buchdrucker Bernhard Christoph Breitkopf und der Schriftsteller Christian Fürchtegott Gellert. Im Zentrum von Dorothea Bachs Erinnerungsschrift aber steht Luise Gottsched, Gattin des Sprachforschers. Bachs Antrieb, über die Gottschedin zu schreiben, wird nicht nur durch die freundschaftlich, geradezu erotischen Gefühle der unverheirateten Chronistin zu dieser großen Gelehrten legitimiert. Der entscheidende Grund liegt im Widerspruch. Es ist die Empörung über Johann Christoph Gottscheds Biografie, die er über seine Frau nach deren Tod verfasste. Die Bedeutung ihres Werks wie auch ihren Anteil an seinen Schriften und Übersetzungen, so schreibt sie, habe er bewusst klein gehalten. „Immerhin schreibt er, dass Luise mehr geleistet hat, als von irgendeinem anderen Frauenzimmer in Deutschland zu erwarten gestanden. Ihre vielen Bücher zählt er aber nur auf. Was drin steht, erfährt man nicht. Vor allem lobt sich der Professor selbst dafür, sich eine Gehülfin aus ihr bereitet zu haben. Außerdem habe sie ihren Haushalt, die Küche und die Wäsche stets ohne alles Geräusch aufs Ordentlichste besorgt und ihre Ausgaben auf Heller und Pfennig genau abgerechnet.“ Sogar für ihren frühen Tod macht sie ihn verantwortlich:„Wer sie auf dem Gewissen hat, verschweigt er. Und mich erwähnt er natürlich mit keinem Wort. (…) Nun, Carl hat auch nicht alles sagen wollen im Nekrolog unseres Vaters. Trotzdem würde ich am liebsten Gottscheds Darstellung kommentieren, Satz für Satz hinterfragen, anders beleuchten, Unerwähntes nachholen. Er hat ja eigentlich nur sein eigenes Leben geschildert und nennt es das Leben seiner Frau.“ Die Verdienste der Gottschedin „Satz für Satz hinterfragen“, das wird sie zwar nicht tun, „Unerwähntes nachholen“ aber schon. Indem Angela Steidele ihre Protagonistin in den Dienst der Gottschedin treten lässt, Abschriften für sie anfertigt und eine Art Vertraute wird, gesteht sie ihr Einblicke zu, die sich nach und nach zu einem halbfiktiven biografischen Bild der gelehrten Frau formen. Diese literarische Verfahrensweise, historisch Verbürgtes durch Erfundenes in den Bereich des durchaus Möglichen zu erweitern, hat Steidele in ihren Büchern mit den Lebens- und Liebesgeschichten historischer Frauenfiguren wie Catharina Linck oder Anne Lister bereits bestens erprobt. So ist belegt, dass die außerordentlich sprachgewandte Luise Gottsched nicht nur durch ihre Übersetzungen aus dem Französischen und Englischen maßgeblich an der Verbreitung frühaufklärerischer bürgerlicher Schriften zu Moral und rationaler Philosophie beigetragen hat. Die europaweit vernetzte Frau, die die aufblühende Zeitschriften- und Salonkultur zu nutzen wusste, trat in ihren Briefen und Essays nachdrücklich für die Emanzipation der Wissenschaften ein. Sie dichtete, verfasste Komödien. Aber der Großteil ihrer Werke erschien eben unter dem Namen ihres Mannes in dessen literarischen Großprojekten „Die deutsche Schaubühne“ und „Die deutsche Sprachkunst“. Dass sie allerdings das Libretto zu Johann Sebastian Bachs „Weihnachtsoratorium“ geschrieben haben könnte, wie Steideles Protagonistin vermutet, ist wiederum Fiktion, zumindest nicht nachweisbar. Die Modernisierung der Sprache Naheliegend ist allerdings die Bekanntschaft der Schriftstellerin und Musikerin Cristiana Mariana von Ziegler mit Johann Sebastian Bach in Leipzig. 1725 hat Bach neun Texte der Zieglerin zu Kantaten vertont. Eher nicht verbürgt ist jedoch die Zusammenarbeit der Gottschedin und der Zieglerin an der überarbeiteten Neuausgabe in Buchform von Gottscheds Wochenzeitschrift „Die vernünftigen Tadlerinnen“, die als erste deutsche Frauenzeitschrift gilt. Steidele schickt beide – mit Dorothea Bach als Protokollantin – in einen erbitterten Disput über die Modernisierung der Sprache im Zeitalter der Aufklärung, aber auch über Möglichkeit und Grenzen von gelehrten Frauen, sich in die Debatten ihrer Zeit einzubringen. Im folgenden Zitat ergreift zunächst Luise Gottsched das Wort: „'Ach, wo wir gerade dabei sind, ich habe ja sehr über die Verwandtinnen und Bekanntinnen gelacht. Ich nehme an, Sie haben diese Ausrücke in Ihrem Band ebenfalls korrigiert?' – 'Nein, und ich sehe auch keinen Grund dafür.' – 'Aber wir machen uns doch damit lächerlich.' – 'Keineswegs. Dass wir Weiber nicht als gelehrt gelten dürfen, aber als tugendhaft gelten müssen, liegt auch an der Sprache, ja sogar an der Grammatik.' – 'Ach, ich bitte Sie, Mme Zieglerin. Lernt man das in der Deutschen Gesellschaft?' – 'Wer seine Vernunft gebraucht, kann die deutsche Sprache nicht geschlechtergerecht finden. Seine, verstehen Sie?'“ Es sind diese gewitzten Pointen, die den vielen Streitgesprächen in diesem Roman nicht nur Schwung verleihen, sondern ihnen auch in heiterer Manier das eine oder andere aktuelle Krönchen aufsetzen. So blitzt in diesem Fall der heutige Streit um gendergerechte Sprache durch. An anderer Stelle prophezeit ein gewisser Stephan Jobst bei einem Gespräch über die Zukunft des Buches, es werde in ferner Zeit Maschinen geben, die alles Wissen der Welt beinhalten würden. Wobei ein zufälliger Passant mit dem bezeichnenden Namen Laurentius Gugl einwirft, das Wissen müsse kostenlos werden, sonst sei Schluss mit der Aufklärung. Die Leuchte der Weltweisheit Die Satire wie der Roman, auch bereits in autobiografischer Form, erlebten im 18. Jahrhundert neben anderen Literaturformen eine Blütezeit. Steidele nutzt beide als ideale Plattform, um Denkbilder zeitlich ins Flirren zu bringen, Möglichkeiten auszutesten und der Komik wie dem listigen Anspielungsreichtum Raum zu geben. Und so zieht Angela Steidele in ihrem Roman auf sehr geschickte und unterhaltsame Weise die Fäden zwischen den großen Errungenschaften und Themen der Aufklärungszeit, zwischen ihren Figuren und eben auch zwischen den Epochen. Immer wieder sind es die Streitgespräche in den Salons, im Kaffeehaus, in der Thomasschule, im Theater, die als Signum einer neuen bürgerlichen Öffentlichkeit die Aufbruchseuphorie der Epoche markieren. „Das Licht des Glaubens wird zur Leuchte der Weltweisheit, die uns eine strahlende Zukunft erhellt“, sagt die Gottschedin im Gespräch mit Johann Sebastian Bach, in dem es unter anderem um die Verbindung von Naturerkundung und Glauben geht. Dann wieder wird die Zukunft des Theaters verhandelt, zu der Steidele Gottsched, den Obergelehrten des Leipziger Intellektuellenkreises, bei der Krönung der Zieglerin zur Kaiserlichen Poetin, vielleicht etwas zu thesenhaft, anmerken lässt: „Ist die Bühne erst einmal Schule der Nation, ja, ihre moralische Anstalt, wird sie in unserem Jahrhundert des Lichts alles kritisch beleuchten. Kritik, das ist der Kern des neuen Denkens, der Herrschaft der Vernunft.“ Und so wird in diesem Buch unentwegt über die Künste, über Sprache, Musik, Naturwissenschaft, Mathematik, Religion und Meinungsfreiheit diskutiert. Natürlich auch über die Herrschaftsverhältnisse. Denn letztendlich hängt zu dieser Zeit in den deutschen Ländern noch alles von den Launen des preußischen Königs Friedrich II. ab, der sich nicht scheut, Sachsen 1745 aus reiner Habgier zu überfallen und Leipzig ausplündern. Kriege können, so die von Steidele wohl bewusst gesetzte Parallele zum heutigen Europa, alle Hoffnungen auf ein zukunftsträchtiges Miteinander schlagartig wieder verdunkeln. Die produktive Zweiflerin Bleibt die Frage, warum Angela Steidele nun gerade Catharina Dorothea Bach zu ihrer Chronistin erkoren hat. Über die Tochter des Komponisten aus erster Ehe ist ja so gut wie nichts bekannt. Im Gegensatz zu einigen ihrer Halbbrüder blieb die wohl ebenfalls musikalisch begabte Frau ein völlig unbeschriebenes Blatt. Aber genau diese Leere nutzt Steidele, um sie zur Spiel- und Verbindungsfigur im Leipziger Kulturleben aufzubauen: Als Vertraute und musikalische Unterstützung ihrer Stiefmutter Magdalena Bach, als Freundin und Mitarbeiterin der Gottschedin, als Sängerin bei der Hausmusik und im Zimmermannschen Kaffeehaus, sowie als Begleiterin ihrer Familienmitglieder bei Theater-, Konzert- und Salonbesuchen. Als Intellektuelle kann sie nur eine Randfigur bleiben, aber als Zeugin ist sie vielseitig einsetzbar. Auch hin und wieder als Doppelgängerin der Autorin, die, wie gesagt, gern auf der Klaviatur des Schalkhaften spielt. Erkennbar hat sie sich in diese Figur selbst mit eingeschrieben, zum Beispiel, wenn Dorothea zusammen mit einem Geburtshelfer namens Johann Steidele einer Gebärenden zur Seite steht und diese die Bach-Tochter fragt, ob sie denn mit dem Mann verwandt sei. Interessant ist Steideles Chronistin aber noch aus einem anderen Grund: Dorothea Bach ist eine produktive Zweiflerin, die die Glaubwürdigkeit ihrer Erinnerungen wie auch die Form ihrer Niederschrift ständig zur Diskussion stellt. Damit spiegelt sie in einer Art Verdopplung den Anspruch aufklärerischen Denkens wieder, Kritik zum Antrieb des Fortschritts zu erheben.„Wie soll ich nur unterscheiden, was stimmt und was nicht?“ ist die immer wiederkehrende Frage. Aber auch ihre Erkenntnis: „Als mich meine Halbschwestern vor einiger Zeit zur Rede gestellt haben, wie ich es mir erlauben könne, meine Erinnerungen in Gesprächsform wiederzugeben, habe ich (...) nicht geschickt genug geantwortet. Habe nur auf die Dialoge verwiesen, die unser Vater vertont hat. Dabei meine ich mit der Rede und Gegenrede viel mehr. Halte ich nicht Zwiesprache mit der Vergangenheit? Ich frage, und die Erinnerung antwortet. Während des Schreibens wird mir allmählich klarer, was ich hier eigentlich tue. Mein Verfahren ist der Matthäuspassion abgelauscht, die mein Vater ebenfalls mit fünfzig überarbeitete (…) diese nie dagewesene Dopplung der musikalischen Mittel ermöglichte buchstäblich eine Zwiesprache. (…) Auch die Arien der Solisten folgen dem Prinzip von Rede und Gegenrede.“ Die Kunst der Fuge Hier ist ein Punkt angesprochen, zu dem es in der Musikwissenschaft offensichtlich verschiedene Ansichten gibt. Es geht um die Frage, inwiefern eigentlich Johann Sebastian Bach selbst eine Figur der Aufklärung war. In Steideles Roman ist dessen gewaltiges musikalisches Schaffen so etwas wie der Klangteppich, der die Debattenkultur unterfüttert. Durchgängig und teilweise bis in Notenfolgen hinein, sind die Werke des Kantors und Hofkonzertmeisters in diesem Buch präsent. Erzählt wird vom musikalischen Miteinander in der großen Familie Bach, von den Aufführungen in der Thomaskirche bis zu einer Darbietung Bachs bei dem ihm nicht unbedingt wohlgesinnten Friedrich dem Zweiten. Der Preußen-König hält ihn für veraltet. Auch nach Bachs Tod, schmäht er den Komponisten. Als Anna Magdalena Bach bei einer Audienz dem Herrscher eine Sopran-Arie aus Bachs Jagdkantate vorstellt, stimmt Friedrich mittendrin in das Geheul seiner Hunde ein, wie Dorothea, die ihre Stiefmutter begleitet, die Szene schildert. „Dieses Mal heulten nicht nur die Windhunde mit. Ich traute meinen Augen und Ohren nicht, aber – auch der König legte den Kopf in den Nacken und jaulte, lauter und lauter, bis Anna Magdalena und ich abbrachen.“ Den historischen Tatsachen entspricht, dass Bach selbst sich zu den philosophischen, literarischen und naturwissenschaftlichen Debatten seiner Zeit kaum geäußert hat. Wie er überhaupt kein „Medienmensch“ war, das heißt, Beiträge in Musikzeitschriften, die seiner Karriere hätten förderlich sein können, ablehnte. So bleibt allein die Interpretation seiner zum Lobe Gottes komponierten Kirchenmusik. Im Kontext der Aufklärung sagen die einen, sie sei doch eher traditionsverhaftet. Nein, sagen die anderen, sie sei durchaus mit der aufklärerischen Rationalisierung seiner Zeit in Einklang zu bringen. Insbesondere Bachs „Kunst der Fuge“, als eine geradezu durchmathematisierte Kompositionstechnik - und hier kommt wieder Steideles Roman ins Spiel - lasse im Geist der neuen Zeit Klangströme wie in einem Wettstreit gegeneinander antreten, so der Tenor im Buch. Im Roman „Aufklärung“ erscheint der Thomaskantor also als ein Komponist, der kunstvoll und produktiv die Spannung hält zwischen Glauben und Vernunft, zwischen Tradition und Fortschritt. Verachtung des Weiblichen So licht der Roman begonnen hat, zum Ende hin verdüstert sich das Bild. Der siebenjährige Krieg, die Auflösung des Leipziger Aufklärungszirkels durch den Tod seiner Protagonisten, sowie auch der Zweifel der Chronistin an ihrer eigenen Rolle und Bedeutung, zum Beispiel im Verhältnis zur geliebten Gottschedin, – dies alles wirft Schatten auf die anfängliche Euphorie der Leipziger Bildungselite. Vor allen Dingen aber sieht Steideles Erzählerin den Stern der gebildeten Frauen wieder verblassen. Gottscheds Publizierung der Werke seiner Frau unter eigenem Namen, wie auch die Frauenfeindlichkeit in Rousseaus und Kants Schriften, gelten ihr nach kurzer Blüte als Zeichen für die erneute Verdrängung der Frauen ins Dunkel der Nichtexistenz. Der junge Lessing, wie auch der junge Goethe tauchen auf und mit ihnen, so legt es der Text nahe, ganz ungeniert die Verachtung des Weiblichen. „Wir waren uns doch mit Rousseau und Kant einig: Die Wilden sind von Natur aus wild. Und die Frauen sind von Natur aus weiblich. Sie schaffen nicht, sie empfangen. Deshalb muss ihre Schreiberei jegliche Originalität entbehren. Es liegt in der Natur der Sache (…). Goethe sah mich treuherzig an.“ Wenn man auf die Epoche der Aufklärung schaut, so mutet die Rolle von so manchen männlichen Figuren in diesem Roman, zum Beispiel die des Theaterreformers und Aufklärers Gotthold Ephraim Lessing, doch arg einseitig an. Aber das Gesamtbild dieses außerordentlich anregenden und wissensgesättigten Romans überzeugt. Die Aufklärung bleibt ein „unvollendetes Projekt der Moderne“. Nicht zuletzt, weil in unserer Zeit die Redefreiheit wieder durch Gewalttaten bedroht und ein vernunftbestimmtes kommunikatives Handeln durch ideologisches Gegeneinander, durch Abgrenzungen und Hasskampagnen gefährdet ist. Notwendiger denn je, so legt es Angela Steidele in „Aufklärung“ nahe, muss das Nachdenken über unsere Zukunft ein Projekt beider Geschlechter sein. Dem sei nur Erfolg beschieden, wenn diese sich auf Augenhöhe begegneten. Diesem Plädoyer ist nichts hinzuzufügen. Angela Steidele: „Aufklärung. Ein Roman“Insel Verlag, Berlin.603 Seiten, 25 Euro.
Von Angela Gutzeit
Leipzig im 18. Jahrhundert: In Angela Steideles Roman wird das Glücksversprechen einer ganzen Epoche in den Blick genommen, dabei gilt die Aufmerksamkeit den gelehrten Frauen. Ein erhellendes wie schalkhaftes Tableau mit sehr heutigen Anklängen.
"2022-09-11T16:10:00+02:00"
"2022-09-11T16:10:00.007000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/licht-der-vernunft-steidele-aufklaerung-100.html
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Ein "Befriedigend" für die Deutsche Bahn
Die Deutsche Bahn habe sich im letzten Jahr vor allem in Sachen Buchungen per Apps und auf der Webseite verbessert, heißt es in der VCD-Umfrage (dpa) Susanne Kuhlmann: "Befriedigend" – das ist die Gesamtnote für die Deutsche Bahn im aktuellen Bahntest des ökologisch orientierten Verkehrsclubs Deutschland, VCD. Das Marktforschungsinstitut Quotas hat sich in seinem Auftrag nach der Zufriedenheit der Kunden mit der Bahn erkundigt. Welche Kriterien sind entscheidend für ein gutes Bahnangebot? Das habe ich vor dieser Sendung Philipp Kosok gefragt, beim VCD zuständig für die Bahnpolitik. Philipp Kosok: Die Fahrgäste meinen, entscheidend für sie ist vor allem die Fahrtdauer, möglichst schnell zu reisen, möglichst viele Direktverbindungen zu haben, auch die Höhe der Ticket-Preise, die Pünktlichkeit der Züge und natürlich die Klimaverträglichkeit der Deutschen Bahn. Was uns dabei auffiel ist: Vor allem mit zwei dieser fünf Punkte sind die Fahrgäste überhaupt nicht zufrieden. Das ist die Höhe der Ticket-Preise und die Pünktlichkeit. Man muss sich aber vor allem gut auskennen, um günstige Tickets zu bekommen. Man muss flexibel sein. Wer früh bucht, der kann durchaus sparen. Das zeigt unsere Analyse. Gerade die Sparpreise, die machen ganz erhebliche Rabatte möglich, und das oft noch bis zwei Tage vor der Abfahrt. Was ziemlich teuer bei der Bahn ist sind vor allem die sogenannten Flex-Preise, der Preis für eine Verbindung, die ich zu jeder Zeit buchen kann und dann auch in jeden Zug innerhalb des Tages einsteigen kann. Die sind ziemlich hoch und es hängt natürlich auch davon ab, wie man fragt. In unserer Befragung ist deutlich geworden: Die Reisenden, die wünschen sich vor allem für einkommensschwache Gruppen vergünstigte Bahntarife. Da ist es ja heute so, dass gerade mal Kinder unter 15 Jahren, die fahren kostenfrei. Das ist ein super Angebot. Aber darüber hinaus zahlen sie dann den vollen Preis. Menschen ohne Einkommen, Rentner, Auszubildende, auch die zahlen heute alle den vollen Preis. Da sehen die Fahrgäste tatsächlich Nachholbedarf. Das ist heute nicht wirklich fair und für jeden bezahlbar, diese Bahn. "Sie haben ein hohes Sicherheitsgefühl" Kuhlmann: Was spricht aus Fahrgastsicht für und was gegen die Bahn? Kosok: Die Fahrgastzahlen, die steigen seit Jahren. Das heißt, viele sind zufrieden mit weiten Teilen des Angebotes. Beispielsweise die Fahrtdauer, dass man relativ schnell reisen kann im Vergleich zum Auto, das ist für viele schon ein ganz wichtiger Punkt. Verbessert hat sich die Deutsche Bahn im letzten Jahr vor allem in Sachen Buchungen per Apps und auf der Webseite. Damit sind die Fahrgäste heute auch zufrieden. Sie haben ein hohes Sicherheitsgefühl auf der Reise. Was sie bemängeln ist die Höhe der Ticket-Preise und vor allem die anhaltend hohe Unpünktlichkeit. Das sind die großen Baustellen der Bahn. Kuhlmann: Welche Erfahrungen haben die Menschen denn mit anderen Bahnanbietern als der Deutschen Bahn gemacht? Kosok: Das ist ganz interessant. Wir haben ja die Fahrgäste der Deutschen Bahn gefragt, und da sagt aber jeder fünfte, auch er ist schon mal mit anderen Bahnunternehmen auch im Fernverkehr gereist. Das sind beispielsweise FlixTrain in Deutschland oder auch der ÖBB Nightjet der österreichischen Bahn. Da ist für die Fahrgäste der meistens entscheidende Grund, dass sie anderswo preiswertere Angebote finden. Da wo sie unterwegs sind, da kann man oft noch mal sparen. "Die Bahn ist bereits auf einem guten Weg" Kuhlmann: Welche Schlüsse ziehen Sie nun aus diesen Testergebnissen? Kosok: Ich denke, die Bahn ist bereits auf einem guten Weg. Gerade die Politik hat in den letzten Monaten einige Maßnahmen ergriffen. Die Politik ist vor allem gefragt, für jeden bezahlbare Preise herzustellen, denn das sehe ich auch als eine sozialstaatliche Aufgabe. Und die Pünktlichkeit, die wird erst besser werden, wenn das Schienennetz endlich modernisiert wird. Sprich: Da muss die Regierung endlich mehr investieren, als sie das die letzten Jahre getan hat. Kuhlmann: Verglichen mit dem Test vom vorigen Jahr, stellen Sie Fortschritte fest? Kosok: Wir haben dieses Jahr den Schwerpunkt bewusst auf die Preise gelegt, weil gerade diese Debatte so sehr am Laufen ist, ob nicht beispielsweise CO2 in Zukunft deutlich stärker bepreist werden muss. Deswegen wollten wir gerade hier gucken, ist denn zumindest die Bahn für alle bezahlbar, weil wir davon ausgehen, dass gerade eine bezahlbare Alternative zum Auto in Zukunft immer wichtiger wird. Deswegen dieses Jahr erstmals dieser große Schwerpunkt auf das Preissystem der Bahn. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Philipp Kosok im Gespräch mit Susanne Kuhlmann
Einer neuen Umfrage des Verkehrsclubs Deutschlands (VCD) zufolge sind Bahn-Kunden besonders unzufrieden über die Höhe der Ticket-Preise und über die Pünktlichkeit. Außerdem fordern sie vergünstigte Tarife für einkommensschwache Gruppen, sagte Philipp Kosok vom VCD im Dlf.
"2019-11-26T11:35:00+01:00"
"2020-01-26T23:20:57.652000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/umfrage-des-verkehrsclubs-deutschland-ein-befriedigend-fuer-100.html
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"Macron muss reden"
Emmanuel Macron (Mitte), Innenminister Christophe Castaner (rechts) besichtigen den Triumphbogen nach den Krawallen. (AFP / Geoffroy VAN DER HASSELT) In Frankreich und insbesondere in der Hauptstadt, Paris, hat es am Wochenende schwere Krawalle gegeben. Demonstrationen der sogenannten gelbe Westen Bewegung sind aus dem Ruder gelaufen. Es gab zahlreiche Verletzte, Festnahmen, Brände, gar Plünderungen. Die Schäden waren gewaltig. Die Regierung versucht, der Lage irgendwie Herr zu werden. Der Premierminister, Edouard Philippe, hatte heute auf Bitten von Präsident Emmanuel Macron sämtliche Vorsitzenden und weitere Repräsentanten der Oppositionsparteien eingeladen, um mit ihnen über mögliche Auswege aus der Krise zu sprechen. Doch der Druck steigt weiter. "Es ist Zeit zum Handeln" Immerhin waren sie fast alle gekommen. Den ganzen Tag über hatten sich im Matignon, dem Amtssitz von Frankreichs Premierminister Edouard Philippe die Granden der französischen Politik die Klinke in die Hand gegeben. Im Gepäck nahezu die immer gleiche Forderungen: Die Regierung solle endlich konkret auf die Menschen in den gelben Westen zugehen. Und zwar sofort: "Es ist jetzt nicht mehr die Zeit zum Reden, es ist Zeit zum Handeln, es Bedarf umgehend einer Geste des Befriedens", sagte stellvertretend Laurent Wauquiez, Chef der konservativen Republikaner. Wie genau eine solche Geste aussehen könnte, auch da gab es von ganz rechts bis ganz links zumindest erstaunlich große Schnittmengen: Zunächst einmal müsse die geplante Erhöhung der Benzinsteuer ausgesetzt werden, forderten eigentlich alle Besucher, außer den Vertretern der Grünen. Sodann müsse die Regierung umgehend dafür sorgen, dass gerade die ärmeren Menschen in Frankreich wieder mehr Geld in der Tasche haben. Auf konkrete Antworten des Premierministers warteten die Politiker allerdings vergebens. Ohnehin fühlten sich mit der Einladung viele irgendwie abgespeist: "Die Macht sitzt ja nicht hier, die Macht und Entscheidungsgewalt sitzt im Élysées. Macron muss reden", befand Bruno Retailleau, ebenfalls Republikaner, ebenfalls stellvertretend für das, was nicht nur Politiker, sondern auch viele Bürgerinnen und Bürger, Kommentatoren, Protestierende mit gelben Westen denken. Doch Emmanuel Macron blieb weiter abgetaucht. Zumindest in der Öffentlichkeit ließ sich der Präsident weder blicken noch hören. Einzig am Mittag tauchte Macron zu einem Überraschungsbesuch in einer Polizeikaserne auf und aß mit den Einsatzkräften. Einzelhändler fürchten um das Weihnachtsgeschäft "Er hat uns all seine Unterstützung bei diesen Ereignissen zugesagt. Das Essen war nicht vorgesehen. Es war daher immerhin ein starkes Signal", erzählte der Polizeigewerkschafter Thomas Toussaint, der bei dem Essen dabei sein konnte. Die Proteste gingen derweil weiter. Auf der wichtigen Autobahn A9 gab es lange Staus, weil Gelbwesten den Verkehr blockierten. In der Finistère in der Bretagne musste der Sprit rationiert werden, weil Gelbwesten Benzindepots blockieren. Im ganzen Land fürchten Einzelhändler, große Ketten, Hoteliers um das Weihnachtsgeschäft. "Wir schätzen, dass einige besonders betroffene Geschäfte 20 bis 50 Prozent Einbußen haben. In Paris, aber sogar auch in anderen Landesteilen", beschrieb Yohann Petiot, Chef der Pariser Händlerallianz, die vorläufige Bilanz. Aber wie herauskommen aus der vertrackten Lage? Premier Philippe setzt weiter auf Dialog. Morgen hat er nun auch Vertreter der Gelben Westen zum Gespräch gebeten. Doch ob die seine Einladung annehmen ist völlig offen. Gemäßigte Kräfte der Bewegung beklagen eine zunehmende Radikalisierung. Wer an Lösungen interessiert sei müsse mit Morddrohungen rechnen, schildert selbst eine Mitbegründerin der Gelben Westen. Doch für Lösungen bräuchte es erst einmal Vorschläge. Die sollte Präsident Macron möglichst bald liefern.
Von Marcel Wagner
Nach den Ausschreitungen am Wochenende setzt die französische Regierung auf Dialog. Heute waren Vertreter der Parteien zum Gespräch geladen, für morgen die sogenannten Gelbwesten selbst. Ob sie das Gesprächsangebot annehmen, ist jedoch ungewiss. Die Opposition sieht den Präsidenten in der Pflicht, die Lage zu befrieden.
"2018-12-03T18:10:00+01:00"
"2020-01-27T18:23:43.876000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/frankreich-nach-den-gelbwesten-protesten-macron-muss-reden-100.html
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No-Deal-Brexit für Hawes keine Option
Im Mini-Werk in Oxford wurde die Belegschaft in vorgezogene Werksferien geschickt wegen des Brexit. (BMW AG/dpa) Mike Hawes wirkt fast schon etwas fatalistisch. Der Verband der britischen Automobilhersteller hat zu einer Konferenz in London geladen zur Zukunft des autonomen Fahrens. Die Tagung war angesetzt worden in der Annahme, dass Großbritannien am 29. März die EU verlassen hat. Sie sollte ein Aufbruchssignal senden. Jetzt aber, wo der Brexit wieder und wieder aufgeschoben wird, lautet die Devise für den Verbandsvorsitzenden: Abwarten und sich in Geduld üben: "Wir warten jetzt, solange es nötig ist, damit wir den bestmöglichen Vertrag bekommen. Eigentlich möchten wir Sicherheit haben. Aber wir opfern lieber die kurzfristige Gewissheit rund um ein No-Deal-Szenario und haben dafür langfristig die Aussicht, einen besseren Vertrag zu bekommen. Der Brexit ist eindeutig die größte Gefahr für uns." 80 Prozent der britischen Autos gehen in den Export Premierministerin Theresa May und Oppositionsführer Jeremy Corbyn verhandeln jetzt zwar über einen Kompromiss, aber der Autoverband rechnet nicht mit einem kurzfristigen Durchbruch. Es gibt aber Hoffnung auf einen Brexit, der der Autoindustrie und den Händlern die Vorteile einer Zollunion beschert und bei dem Großbritannien eng an den EU-Binnenmarkt angekoppelt wäre. "80 Prozent der hier gebauten Autos gehen in den Export, mehrheitlich in die EU. Die Hersteller würden weniger wettbewerbsfähig sein, wenn zehn Prozent Zoll erhoben werden. Die gelten dann auch umgekehrt für Autoimporte aus der EU. Das kann man nicht einfach an die Verbraucher weitergeben. Wir müssen in der Produktion "just in time" und nahtlos arbeiten können. Wir sind Teil der europäischen Autoindustrie und deswegen brauchen wir einen guten Vertrag." BMW-Fabrik in Oxford vorsorglich heruntergefahren Wann wird es endlich soweit sein mit dem Brexit? BMW mit der Produktion des Mini in Oxford und andere Hersteller haben die Werksferien auf Anfang April vorgezogen. Damit wollte man der Ungewissheit entgehen, falls Großbritannien doch aus der EU ausscheidet ohne einen Vertrag. Solche Ausweichmanöver sind jetzt fast sinnlos geworden, meint Verbandschef Mike Hawes: "Das ist unglaublich frustrierend. Ihnen ist es nicht leicht gefallen, die Fabriken jetzt herunterzufahren. Daran hängen Lieferketten und die Mitarbeiter und deren Familien. Ihnen wurde gesagt, ihr müsst jetzt Eure Sommerferien im April nehmen. Lieber mittelfristig einen Plan, als dass jetzt alle sechs Wochen die Entscheidung verschoben wird." Eine Botschaft hat Autoverbandschef Mike Hawes noch an die britische Politik: "No Deal" muss unter allen Umständen ausgeschlossen werden. Dass Honda sein Werk in Swindon schließt, liege zwar nicht am Brexit, geholfen habe der aber auch nicht. Sollte Großbritannien zum Beispiel in einer Woche schon ohne Vertrag aus der EU ausscheiden – wofür die halbe konservative Unterhausfraktion ist -, dann würde das Hunderttausende von Jobs aufs Spiel setzen.
Von Friedbert Meurer
Die Brexit-Ungewissheit macht vor allem der britischen Autoindustrie zu schaffen. Die Produktion schrumpft von Monat zu Monat. Das Schlimmste wäre für den britischen Autoverbands-Chef Mike Hawes ein "No-Deal-Szenario", denn Zölle könnten nicht einfach an die Verbraucher weitergereicht werden.
"2019-04-05T13:35:00+02:00"
"2020-01-26T22:45:57.438000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/autoindustrie-in-grossbritannien-no-deal-brexit-fuer-hawes-100.html
92,005
"Der Skandal war ein reinigendes Gewitter"
Biathlon-Olympiasieger Arnd Peiffer sieht die momentane Lage der IBU als Chance. (Martin Schutt/dpa-Zentralbild) Momentan seien die Trainingsbedingungen nicht optimal, da überall in Europa akuter Schneemangel herrsche, berichtete Peiffer im Deutschlandfunk. So trainieren die deutschen Biathleten aktuell in Norwegen, wo die Umstände aber auch nicht ideal seien, da die Runde nicht sehr groß ist und von vielen anderen Sportlern stark frequentiert werde. Der Welt-Biathlon-Verband hatte im Zuge des Doping- und Korruptionsskandals mit dem Schweden Olle Dahlin einen neuen Präsidenten gewählt. Dahlin soll nun die so dringend benötigte Wende in der IBU einleiten. Bezüglich des Wechsel an der Spitze des Welt-Biathlon-Verbands IBU, zeigte sich Peiffer zuversichtlich. "Ich weiß, das relativ viele Forderungen von der Athletenkommission umgesetzt worden sind." Der ehemalige Präsident der IBU, Anders Besseberg (Imago) Sportler direkt in Entscheidungsprozess involviert Die Athletenkommission habe auch eine Aufwertung erfahren, sagte Peiffer. Mittlerweile habe sie einen ständigen Sitz im IBU-Exekutivkomitee und ein ehemaliger Athlet sitzt im technischen Komitee. "In den beiden wichtigsten Komitees sitzen Athleten bzw. ehemalige Athleten und können die Stimme des Volkes in die Entscheidungsfindung einbringen." Dadurch werde die Gefahr minimiert, dass die Sportler übergangen werden. Nun seien sie bei den Entscheidungen direkt involviert und hätten mehr Mitspracherecht. Nach dem Skandal um das russische Staatsdoping und den Korruptionsvorwürfen gegen den ehemaligen Präsidenten Anders Besseberg und IBU-Generalsekretärin Nicole Resch war der Biathlonverband in Verruf geraten. Aber Peiffer sieht die momentane Situation als Chance. Den Skandal müsse man als "reinigendes Gewitter" sehen. Ohne den Skandal hätte es viele positive Entwicklungen der letzten Zeit nicht gegeben. Es bleiben aber weiter viele Baustellen bestehen, gerade mit Sicht auf den russischen Verband, der noch immer kein vollwertiges Mitglied der IBU ist. "Da ist noch Weg vor der IBU", sagte der 31-Jährige.
Arnd Peiffer im Gespräch mit Matthias Friebe
Zuletzt sorgte der Welt-Biathlon-Verband IBU eher für negative Schlagzeilen. Doping- und Korruptionsvorwürfe erschütterten den Verband. Doch Olympiasieger Arnd Peiffer sieht viele positive Tendenzen - auch weil endlich auf die Athleten gehört wird.
"2018-11-17T19:19:00+01:00"
"2020-01-27T18:20:48.493000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/biathlon-der-skandal-war-ein-reinigendes-gewitter-100.html
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Mondäne Badekultur als Welterbe?
Rheinland-Pfalz, Bad Ems: Das Kurhaus von Bad Ems, gelegen an der Lahn. (picture alliance/Dominik Ketz/Stadt Bad Ems/dpa) Blick von einer der Lahnbrücken aufs Kurviertel in der Nachmittagssonne: klassizistische Fassaden mit teils neobarock vergoldeten Stuckelementen, schmiedeeiserne Balkone, prächtige holzgeschnitzte Entrees. Dagmar Dietrich aus Bonn zückt gleich mehrfach die Kamera, "weil ich sowieso gern Wasser und Gebäude fotografiere und das natürlich sehr imposant aussieht an der Promenade, wunderschöne Häuser, die schönen Villen, die hier stehen, so ein richtig schönes Foto-Objekt." Die Lahnbrücken eignen sich bestens fürs Sightseeing, bekräftigt Hans-Jürgen Sarholz, Leiter des Stadt- und Kur-Museums. Denn der Fluss verdoppelt die mondäne Pracht von Bad Ems: "Diese schöne Bäder-Architektur, die sich da in der Lahn spiegelt. Highlights an einzelnen Architekturen sind das Kurhotel, heute Häckers Grand Hotel, das 700 Jahre Baugeschichte aufweisen kann, mit dieser 300 Jahre alten Brunnenhalle, die da über den Thermal-Quellen erbaut ist - so ein richtiges kleines Barockschlösschen, das die Fürsten von Oranien-Nassau damals gebaut haben, also die Vorfahren des heutigen holländischen Königshauses, und der Kursaal mit dem wunderschönen Marmorsaal von 1839." "Dostojewski und wer nicht alles" "Also, ich kenn die tschechischen Bäder, Franzensbad, Marienbad - tolle Bäder, die sehenswert sind. Und es ist doch wunderschön, wenn sich die zehn Bäder zusammenschließen und da eine gute Sache machen. Also, ich kann das nur begrüßen." Die gebürtige Hallenserin Sylvia Männicke lebt seit 30 Jahren in Bad Ems. Dass das Heilbad bei Koblenz das elfte im Bund der Bewerber ums Weltkulturerbe sein will, findet sie gut. "Bad Ems ist eine tolle alte, kleine Stadt, wo schon viel große Herrschaften waren, von Dostojewski und wer nicht alles." Der ukrainische Schriftsteller Nikolaj Gogol, die Romanoffs, unter anderem Zar Alexander, II.. "Russischer Hof" steht über dem Prachthotel, das heute Wohn- und Geschäftsgebäude ist und am Lahn-Ufer gegenüber der russisch-orthodoxen Kirche mit ihrer vergoldeten Zentralkuppel liegt. "Es kamen im 19. Jahrhundert nach Bad Ems jedes Jahr Hunderte von Russen, das war nach den Franzosen die zweitgrößte Gruppe. Das spricht für das Internationale, und dafür die russische Kirche Ausdruck." Doch die Wurzeln der Emser Badekultur, weiß der Historiker Hans-Jürgen Sarholz, reichen mindestens ins Mittelalter zurück. "Seit dem späten 14. Jahrhundert sind wir ununterbrochen als Heilbad bekannt und genutzt. Das ist wichtig zu betonen: Es ging nicht erst mit Kaiser Wilhelm im 19. Jahrhundert los. Wenn im 15. Jahrhundert die Kurfürsten, der Erzbischof von Trier, von Mainz, von Köln in Bad Ems zu Gast waren - das ist die politische Elite des damaligen Heiligen Römischen Reiches, und die wären ja nicht nach Bad Ems gekommen, wenn es nicht schon damals seinen Ruf gehabt hätte", …und zwar den Ruf, mit seinen heißen Quellen heilsam zu wirken gegen Atemwegs-Erkrankungen. Die aus Emser Salz gepressten Pastillen sind auch heute noch bei Sängern beliebt. "Früher war das ja schon noch mal was anderes, das gab's ja Kuren. So was gibt’s ja quasi nicht mehr ", merkt ein Passant an. "Da hat Bad Ems ein paar Jahre gebraucht, bis sie gemerkt haben, dass man ein bisschen was Neues machen muss. Es hat schon ein bisschen geschlafen hier." Hoffen auf das Unesco-Siegel Wir sind ein kleiner Ort, sagt Bürgermeister Berny Abt über Bad Ems: "Wir haben keine große Industrie, wir sind dankbar für zwei große Firmen, die uns finanziell mit Steuern unterstützen, aber ansonsten leben wir vom Tourismus." Und der, so hofft Abt, bekommt Schwung, wenn das kleine Bad Ems von der Unesco das Siegel "großes europäisches Heilbad" verliehen bekommt. "Es hat auf jeden Fall Potential. Ich war in Marienbad in Tschechien, das ist sehr schön, Karlsbad auch. Ich denke, das kommt schon gut ran." "Die Häuser sind toll." "Mein Eindruck ist, dass sich Bad Ems wirklich Mühe gibt, dass das alles sehr gepflegt ist und darauf geachtet wird, dass das alles erhalten bleibt. Das gefällt mir gut", sagen Maike und Katrin aus Schleswig-Holstein, während sie die Treppen zum Lahn-Ufer hinuntersteigen. Hinter der bewaldeten Höhe versinkt die Sonne, schlagartig wird es eiskalt. "Und ich freu mich auf den Sommer, wenn wir hier auf der Promenade sitzen und ein Eis essen können." "Ja, kommen wir auf jeden Fall im Sommer noch mal her." Bekräftigt Dagmar Dietrich und packt den Foto-Apparat weg.
Von Anke Petermann
Als eine von elf Städten in Europa will Bad Ems mit seinen Kurbädern Unesco-Welterbe werden. Zum 1. Februar wird der Antrag bei der Kulturorganisation der Vereinten Nationen eingereicht. Der Bürgermeister hofft, dass die Kleinstadt mit dem Siegel "großes europäisches Heilbad" für Besucher noch attraktiver wird.
"2019-01-21T14:10:00+01:00"
"2020-01-26T22:34:17.296000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bewerbung-bei-der-unesco-mondaene-badekultur-als-welterbe-100.html
92,007
"Da fragt man sich schon, was so ein theologischer Unsinn soll"
Adolf Kardinal Bertram, Fürsterzbischof von Breslau, gab den Kurs der Bischöfe während des Zweiten Weltkriegs vor (imago stock&people) Christiane Florin: Im Originalton können wir die Worte über Heldentum, Heil und Sieg Heil nicht mehr hören, aber man kann sie nachlesen, viele jedenfalls. Vor kurzem ist eine Sammlung erschienen mit Predigten und Hirtenworten katholischer Bischöfe. Zusammengestellt hat diese Sammlung der Publizist und Friedensaktivist Peter Bürger. Er engagiert sich in der katholischen Organisation "Pax Christi". Ich habe Peter Bürger vor einigen Tagen interviewt und ihn zunächst gebeten, die wichtigsten Deutungsmuster zusammenzufassen. Wie sahen Bischöfe den Krieg? Peter Bürger: Erstens durchgehend, dass die Bischöfe die Gläubigen zum gottgewollten Staatsgehorsam gegenüber der Kriegsobrigkeit aufrufen, während viele einfache Gläubige auch schon zu Kriegsbeginn auch sagten, man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen. Und dem Satan, um es mal im Bild zu sagen, darf man schon gar nicht gehorchen. Der zweite Punkt, dass sie von einem gerechten Krieg ausgingen, sonst hätten sie ja auch nicht zum Gehorsam aufrufen dürfen. Das ist ausdrücklich bei Kardinal Bertram in einem Dokument, aber zum Beispiel auch beim Bischof von Münster, der sagt, der Krieg revidiert das ungerechte "Versailler Friedensdiktat". Florin: Bertram war der Bischof von Breslau und der damalige Bischof von Münster war Kardinal von Galen... Peter Bürger ist Publizist und katholischer Friedensaktivist. (privat) Bürger: Sehr prominente Oberhirten also, nicht irgendwelche peripheren Ortspfarrer. Der dritte Punkt: dass in mehreren Bischofsorten der völkische Lebensraumdiskurs aufgegriffen wird. Ich qualifiziere das als häretisch. Nicht, weil das mein persönlicher Geschmack ist, sondern weil die Glaubenskongregation Mitte der 30er-Jahre zu solchen Fragen der NS-Kriegsdoktrin ganz klare interne theologische Gutachten hatte. Die beiden letzten Punkte, die auftauchen in den Hirtenworten ist die wiederaufgewärmte Predigt – Krieg als Strafe Gottes. Da fragt man sich, was so ein theologischer Unfug soll. Das ist direkte Blasphemie, denn Gott ist dann derjenige, der Hitler anstiftet und Völkermörder ist. Und der letzte Punkt: Der Krieg gegen die Sowjetunion 1941 wird ganz ausdrücklich als "heiliger Krieg" gegen den gottlosen Bolschewismus qualifiziert und entsprechend der Soldatentod als Martyrium. Schweigen als höchste Form des Widerstands Florin: Gab es nicht einen oder zwei, die anders waren? Gab es nicht einen, der gesagt hat: Es war ein ungerechter Krieg, es war ein Angriffskrieg, den wir nicht unterstützen dürfen? Bürger: Sie sprechen Bischof Konrad von Preysing an, der nicht expressis verbis - das wäre vielleicht tatsächlich eine ausweglose Situation gewesen - den Krieg als ungerecht qualifiziert hat. Aber er hat die einzige Lösung, die jedem der Bischöfe offenstand, gewählt, indem er in seinen Hirtenbriefen zur Kriegsfrage geschwiegen hat. Florin: Dass Schweigen eigentlich Nicht-Einverständnis bedeutet - war das für die normalen Gläubigen verständlich? Bürger: Gemessen an der Tatsache, dass alle anderen Ortsbischöfe ganz deutlich Pro-Kriegs-Voten abgeben, war das mehr als deutlich, dass Konrad von Preysing hier dem Krieg keine Beihilfe geben will. Konrad von Preysing hat auch eine andere Biographie, diese Affinität zum Autoritären, diese Gehorsamsfähigkeit, die bei der Auslese zum Bischofsamt schon vorweg so wichtig ist, spielt in seiner Biographie keine Rolle. Er hat einen sehr freien Bildungsweg. Hier kommt das Aristokratische und Selbstbewusste auch mal auf eine gute Weise zum Zuge, nämlich, dass er selbstbewusster Apostelnachfolger ist. "Das katholische Milieu war als einziges noch widerstandsfähig" Florin: Eine schillernde Figur ist der Bischof von Münster, Clemens August von Galen. Er erhob die Stimme gegen die Ermordung von Menschen mit Behinderungen, aber er war zugleich ein eifriger Unterstützer des Krieges, vor allem des Krieges gegen den "Bolschewismus", wie es hieß. Wie passt das zusammen? Bürger: Einerseits stellen wir fest: Von Galen ist der Bischof, der allen anderen vorgemacht hat, bei den nahen Morden an Behinderten, wie es laufen könnte. Das katholische Milieu war das einzige intakte gesellschaftliche Milieu, das noch widerstandsfähig war und es hat hier die Vorgabe des Bischofs von Münster bereitwillig aufgenommen. Bei uns hat ein Bäckermeister die Hirtenbriefe, den Protest, vervielfältigt in der Scheune und hat in Sachsenhausen dafür mit dem Leben bezahlt. Das ist zweifellos eine ganz große Sache gewesen. Deswegen kann ich mich damit anfreunden, dass von Galen für die regionale Verehrung seliggesprochen wird. Da habe ich meinen Frieden gemacht. Clemens August Graf von Galen (picture-alliance / dpa) Auf er anderen Seite muss man sagen, von Galen hat nicht seelsorgerlich, wie jetzt noch das ein Internetportal der Bischöfe behauptet, zum Krieg Stellung genommen, sondern hochpolitisch. Das Konzert seiner Kriegsvoten gehört zum schlimmsten innerhalb des gesamten Bischofskollegiums. Man kann es nachlesen in unserer "Pax-Christi"-Sammlung: "Es droht eine schwarze Wolke". Wenn man das als nicht politisch, als pastoral bezeichnet, dann kann man eigentlich nur noch das Fazit ziehen, dass Nationalismus und Militarismus wertvolle Seelsorgehaltungen sind. Wir haben bei zwei Priestern im Bistum Münster nachgefragt und Folgendes herausbekommen: Ferdinand Vodde war ein junger Katholik, der aus Dinklage* wie von Galen kam und 1941 ihm berichtete, er habe die Hirtenbriefe gegen die Euthanasiemorde an die Front geschickt. Von Galen war entsetzt und hat ihm zum Besten gegeben: Dafür sind sie nicht gedacht, das ist wehrkraftzersetzend. Und der zweite, nämlich Hans Werners, ein Sanitätspriestersoldat des Bistums Münster, berichtet von Galen 1943 von den Verbrechen im Russlandfeldzug, wie fürchterlich das alles ist. Und von Galen sagt ihm: Überlass das der Obrigkeit, der Staatsobrigkeit und geh du zurück in den Krieg und erfülle deine Treue. Das heißt, hier haben wir das Entsetzen, dass von Galen und andere Bischöfe von diesen maßlosen Mordverbrechen, Völkerrechtsverbrechen erfahren haben und nicht in der Lage waren, das mit den Augen der Opfer zu sehen. "Nicht mal die scholastischen Mindeststandards" Florin: Im Reichskonkordat von 1933 hat sich die Katholische Kirche verpflichtet, die "Erziehung zu vaterländischem Pflichtbewusstsein aus dem Geist des christlichen Glaubens und Sittengesetzes" zu pflegen. Das war ein Konkordat mit dem nationalsozialistischen Staat. War das auch der Versuch, einen katholischen Minderwertigkeitskomplex zu kompensieren und zu zeigen: Die katholische Kirche darf zuerst national sein, sie muss sich nicht vor allem als international begreifen, heute würde man sagen: als Weltkirche? War die Botschaft: Auch diese Kirche hört auf die deutsche Staatsführung und nicht nur auf den Papst in Rom allein? Bürger: Dieser Komplex fängt nicht erst mit dem Konkordat an. Der fängt genau gesehen schon im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts an. Es ist erstaunlich, wie in den Jahrzehnten davor der Katholizismus militarismus-kritisch sein kann. Aber im letzten Jahrzehnt wird die Moraltheologie schludrig beim Thema Krieg. Und ab 1900 sind eigentlich die ganzen Milieus schon so patriotisiert, das heißt auch zum Teil so nationalistisch aufgeladen, dass zwischen Protestantismus und Katholizismus als eine weltkirchliche Form kaum noch ein Unterschied herrscht. Was da im Staatsgehorsam, in der Verdrehung von Jesu Kaiserwort zum Ausdruck kommt, das war im Ersten Weltkrieg in den Hirtenworten, in den Predigten theologisch komplett schon ausgebildet. Aber 1939, Frau Florin, war doch wirklich eine ganz andere Situation. Florin: Ja, natürlich. Bürger: Die Gläubigen, die unten blutig schon verfolgt werden, im Gegensatz zu den Hirten oben, die sehen ja teilweise viel klarsichtiger, auch der Friedensbund Deutscher Katholiken und die Laien. Vielleicht lassen Sie mich ein Wort nennen eines Landsmanns, eines Sauerländers. Heinrich Lübke, der Bundespräsident, der nun kein Held gewesen ist in der Zeit, hat aber 1960 gesagt: Wer nicht ganz unerfahren war und nicht ganz verblendet, der konnte seine Augen nicht davor verschließen, dass 1939 hier ein Angriffskrieg, ein ungerechter Krieg ins Werk gesetzt wurde. "Die heilige Hierarchie muss gewährleistet werden" Florin: Von apologetischer Seite - also Apologeten der Bischöfe - wird oft gesagt: Die haben das aus taktischen Gründen getan, um die Institution zu schützen und nicht, weil sie wirklich inhaltlich mit der NS-Ideologie oder mit dieser Kriegsideologie übereinstimmten. Glauben Sie das? Bürger: Aus taktischen Gründen? Florin: Ja (mit dem Ziel), dass die Institution Kirche überhaupt überleben kann in einem Regime wie dem des Nationalsozialismus. Bürger: Wenn man Kirche als funktionierende Hierarchie im staatskirchlichen Verbund versteht und nicht als Gemeinde Jesu und als diejenigen Frauen und Männer, die von Jesus berührt sind und entsprechend das Leben gestalten, dann kann man so taktisch reagieren. Dann kann man also sichern. Es war ja egal, ob die katholischen Verbände verboten werden, der Friedensbund Deutscher Katholiken, ob der Zentrumskatholizismus kaputt wird. Hauptsächlich die heilige Hierarchie muss gewährleistet werden und das Sakrament. Das Christentum macht nicht immun gegen Krieg Florin: Der Theologe Heinrich Missala hat kurz vor seinem Tod – 2018 ist er gestorben – einen Brief an die Deutsche Bischofskonferenz geschrieben. Er hat sie aufgefordert, offen darüber zu sprechen, dass der Episkopat das Hitlerregime und diesen Krieg unterstützt hat, dass also die Bischöfe von heute zum Verhalten der Bischöfe von damals kritisch Stellung beziehen. Vor einigen Tagen gab es eine gemeinsame Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz und der Polnischen Bischofskonferenz. Wäre Heinrich Missala damit zufrieden, was darin steht? Bürger: Diese Erklärung ist der präzise Weg gewesen, das Anliegen von Heinz Missala nicht zum Zuge kommen zu lassen, weil ja gar nicht thematisiert wird, dass die deutschen Bischöfe in zwei Weltkriegen und im Zweiten insbesondere wirklich vollständig versagt haben und schuldig geworden sind. Das Ganze kommt in diesem Papier überhaupt nicht zum Tragen. Die Bischöfe - oder nur die beiden Spitzen der Bischofskonferenzen- behaupten auch in diesem Schreiben, dass das Christentum immun macht gegen Krieg. Dieser Ansatz, etwas zur Zukunft zu sagen, ist richtig, aber das ist eine komplett falsche Feststellung, wenn man historisch guckt. Die Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz geht für Peter Bürger nicht weit genug (dpa/Friso Gentsch) Florin: Ich möchte die Stelle zitieren (aus der Erklärung), auf die Sie ansprechen. Da heißt es: "Deshalb fordern wir in diesem besonderen Moment der Geschichte, dass unsere Beziehungen nie wieder von Gewalt, gegenseitigem Misstrauen oder Ungerechtigkeit geprägt sein dürfen. Es liegt heute an uns, die Einheit Europas, das auf christlichen Fundamenten errichtet ist, zu festigen und zu vertiefen, trotz der historischen Unterschiede zwischen einzelnen Nationen und Staaten." Sie haben es schon gesagt: Es klingt, als würde das Christentum immunisieren gegen Krieg, obwohl die Geschichte nun zeigt, dass es nicht so war. Aber woher kommt der Glaube oder die Hoffnung, dass es so sein könnte jetzt? Bürger: Weil tatsächlich erstaunlicherweise die Christenheit drei Jahrhundert lang sich wirklich dem Kriegsapparat des Imperiums verweigert hat, in den ersten drei Jahrhunderten. Nach Konstantin ging alles anders. Franziskus von Assisi musste sich mit einem Militärkardinal herumschlagen im Kreuzfahrerheer. Der große Erasmus von Rotterdam im 16. Jahrhundert führt vor, wie es die Christen treiben, indem selbst die Kardinäle die Kriegsrüstung anlegen. Wolfgang Huber hat einmal gesagt, ich glaube vor 40 Jahren, da war er noch nicht EKD-Bischof: "Es ist ein Paradox des Christentums, dass es den Frieden predigt und Krieg gebracht hat." Ich hätte mir gewünscht, wenn man wirklich auf Zukunft hingeht, wie in diesem polnisch-deutschen Bischofswort der Spitzen, dass man den Ansatz von Bischof Franziskus von Rom wirklich ernstnimmt. "Kein Krieg ist gerecht" Florin: Sie meinen den aktuellen Papst? Bürger: Den aktuellen Papst. Da bin ich als pazifistischer Christ sehr papsttreu. Das ist die einzige Wegweisung gegen nationalreligiöse Richtungen. Denn die nationalreligiöse Richtung kommt hauptsächlich heute von politisch rechts Stehenden und von Traditionalistischen. Papa Francesco möchte aber einen anderen Weg. Er hat unsere Konferenz 2016, Internationale Friedenskonferenz in Rom aufgegriffen von "Pax Christi". Er hat revidiert und deutlich gesagt: "Kein Krieg ist gerecht. Nur der Friede kann gerecht sein." Er sagt ganz kategorisch: "Es gibt keine andere Zukunft für unsere Gattung, für die eine menschliche Familie." Eine solche visionäre Passage fehlt vollständig in diesem Hirtenwort zum 01. September. Ich glaube, wenn die Deutsche Bischofskonferenz und die Polnische Bischofskonferenz ohne irgendein Wort ein schönes, warmherziges, brüderliches, gemeinschaftliches Essen gemacht hätten, das wäre ein deutlicheres Zeichen noch als dieses Papier. "Mein Bild ist desillusioniert worden" Florin: Es ist leicht, im Rückblick moralisch zu urteilen. Warum haben Sie überhaupt so hohe Erwartungen, dass Bischöfe dem NS-Regime widerstehen, und dass Bischöfe heute in der Lage sind, das kritisch zu beurteilen, was ihre Vorgänger falsch gemacht haben? Es ist immer mit einem Autoritätsverlust verbunden, zu sagen: Die hatten ein hohes Amt, aber das Amt hat sie nicht davor bewahrt, so gravierende Fehler zu machen. Bürger: Frau Florin, ich bin aufgewachsen in einem fast noch geschlossenen Katholizismus im Sauerland. Von Kindestagen an habe ich am Altar gekniet und gefeiert. Man hat eigentlich die Gewissheit, dass die Kirche zwar nicht Gott ersetzt, die Kirche selber wird nicht angebetet, aber dass sie Gottes Werkzeug ist in die Gesellschaft hinein, in die Welt hinein kundzutun, wie im Lichte Gottes die Welt heiler werden kann. Wenn ich mal ein bisschen selbstkritisch gucke: Meine kirchenhistorischen Forschungen sind immer der Versuch gewesen zu gucken: Stimmt das denn? Ist das nur eine dogmatische Behauptung, platonisch, oder stimmt das mit der Geschichte der Kirche, auch mit meinen Erfahrungen in Bistümern in der Gemeinde überein? Alles, was ich gefunden habe, war, dass in der Kirche unten tatsächlich auch im deutschen Faschismus Christen durchs Martyrium gegangen sind. Aber das Bischofskollegium gehörte ausnahmslos, beziehungsweise mit einer bedingten Ausnahme, nicht dazu. Mein Bild kirchlicher Hierarchie ist durch diese Forschung desillusioniert worden. Ich habe heute die feste Überzeugung, dass die Kirche es sich nicht mehr leisten kann, in dieser Form ihre Hierarchie, ihre Ämter zu verstehen. Die von Peter Bürger zusammengestellt Arbeitshilfe "Erfüllt eure Pflicht gegen Führer, Volk und Vaterland!" Römisch-katholische Kriegsvoten aus den deutschen Bistümern und der Militärkirche.ist als PDF-Dokument kostenfrei erhältlich unter: www.lebenshaus-alb.de/magazin/media/pdf/Arbeitshilfe_Bisch%C3%B6fe_und_Hitlerkrieg.pdf Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. *Im Audio ist irrtümlich von Dinslaken die Rede.
Peter Bürger im Gespräch mit Christiane Florin
Der Publizist und Friedensaktivist Peter Bürger hat katholische Predigten und Hirtenbriefe aus der NS-Zeit veröffentlicht. Der Befund: Die deutschen Bischöfe unterstützten den Krieg und hätten die Gäubigen zum "gottgewollten Staatsgehorsam" aufgerufen, sagte Bürger im Dlf. Das sei Blasphemie.
"2019-09-09T09:35:00+02:00"
"2020-01-26T23:09:25.265000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/katholische-kirche-im-zweiten-weltkrieg-da-fragt-man-sich-100.html
92,008
Das Ende einer aussichtslosen Mission
Der UNO-Sondergesandte für Syrien, Staffan de Mistura (afp / Fabrice Coffrini) Für die Arbeit eines Sondergesandten sei Erfahrung nötig und Staffan de Mistura besitze diese Erfahrung. Mit diesen Worten ernennt UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon Mitte 2014 de Misura zum Syrien-Sondergesandten. Zu jener Zeit bekämpft das Assad-Regime seit über drei Jahren bereits friedliche Demonstranten wie auch bewaffnete Regimegegner mit Gewalt. Die Widerstandsgruppen werden immer radikaler, die Zahl der Milizen wächst. Aber keine der Konfliktparteien ist einem Sieg nahe. Aus diplomatischer Sicht macht es also noch Sinn, nach einem kleinen gemeinsamen Nenner zu suchen, der wenigstens das Blutvergießen beendet. Die erste ausgehandelte Waffenruhe ist schnell brüchig De Misturas erste diplomatische Initiative ist eine sechswöchige Waffenruhe in Aleppo – die schnell scheitert. Ende 2016 droht hunderttausenden Zivilisten im Osten Aleppos der Tod. Syrische und russische Kampfjets bombardieren den Stadtteil, weil sich Terroristen dort verschanzt haben. De Mistura richtet einen eindringlichen Appell an die Angreifer: "Wollen Sie tatsächlich 275.000 Menschen in Lebensgefahr bringen, nur um 1.000 Kämpfer der Nusra-Front zu beseitigen?" Den Nusra-Extremisten gibt er eine jener Zusagen, die für den engagierten Diplomaten typisch sind: Falls sie beschließen würden, aus Aleppo abzuziehen, zum Beispiel nach Adlig, für diesen Fall verspreche er ihnen, sie persönlich zu begleiten. Im Sommer 2015 schien das Ende des Assad-Regimes bevorzustehen, aber wenige Monate später beginnt der russische Militäreinsatz in Syrien. Ab sofort rettet Putins Luftwaffe Assads Macht. Seitdem befinden sich die syrische Regierung und ihre Verbündeten auf Siegeskurs. Warum sollen sie jetzt noch kompromissbereit sein? Vergebliche Suche nach Kompromissen Die Mission von Staffan de Mistura wird immer aussichtsloser. Die Syrien-Diplomatie steckt in einer Sackgasse, besonders in Genf, wo die Verhandlungen von den Vereinten Nationen und ihrem Sondergesandten vermittelt werden. "Die Genf-Gespräche führen zu nichts. Ich habe keine Hoffnung mehr", sagt ein Student in Damaskus, wo Assad herrscht. "Diese Genf-Konferenzen sind pure Zeitverschwendung", beklagt ein Mann in der Stadt Adlig, die von Aufständischen kontrolliert wird. Staffan de Mistura will die Konfliktparteien zu Kompromissen bewegen. Aber die Regimegegner wollen eine Übergangsregierung ohne Assad – für den dies aber überhaupt nicht in Frage kommt. Einen gemeinsamen Nenner, egal wie klein, gibt es nicht. Inzwischen hat auch die Zahl der ausländischen Akteure im Kriegsland Syrien zugenommen. Seit 46 Jahren sei er jetzt bei den Vereinten Nationen, sagt de Mistura im September, er habe 19 Kriege erlebt, in Afghanistan, Irak, auf dem Balkan. Aber noch nie seien ihm so viele Akteure mit so vielen unterschiedlichen Zielen begegnet wie jetzt in Syrien. Die UN werden zu Zaungästen Seit die Russen die Syrien-Diplomatie nach Astana und Sotchi geholt haben, werden die UNO und ihr Unterhändler immer mehr zu Zaungästen. Russland, die Türkei und der Iran einigen sich auf Einflussgebiete und Waffenruhen, zumeist zum Vorteil Assads. Aber die Richtschnur von Staffan de Misura ist die UN-Resolution 2254. Sie fordert die Bildung einer Übergangsregierung, freie Wahlen und eine neue Verfassung. Darüber soll in Genf verhandelt werden. Aber aus Genf wurde längst die Bad Bank der Syrien-Diplomatie. Hier wird alles das deponiert, an dem das Assad-Regime sowieso kein Interesse hat. Am 24. Oktober, kurz vor Ende seiner Amtszeit, unternimmt de Mistura einen letzten Versuch, wenigstens die Bildung eines Verfassungskomitees zu erreichen – eines, dem auch Oppositionelle angehören, die von den Vereinten Nationen ausgewählt wurden. Das war in Astana beschlossen worden. De Mistura besucht deshalb Damaskus und erhält vom syrischen Außenminister Walid al-Muallim eine Abfuhr. Der Minister habe betont, dass die Verfassungsbildung die nationale Souveränität Syriens berühre, erklärt de Misura später. Das syrische Staatsfernsehen wird deutlicher: Der Außenminister habe dem Sondergesandten gesagt, die UN sollten sich aus der Verfassungsbildung raushalten. Damit ist auch die letzte Initiative des UN-Syriengesandten Staffan de Mistura gescheitert.
Von Jürgen Stryjak
2014 wurde der Italiener Staffan de Mistura von den Vereinten Nationen zum Sondergesandten für Syrien ernannt. Er habe 19 Kriege erlebt, aber noch nie seien ihm so viele Akteure mit so vielen unterschiedlichen Zielen begegnet wie in Syrien, sagt er zum Ende seiner Amtszeit.
"2018-11-24T13:30:00+01:00"
"2020-01-27T18:22:09.969000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/uno-sondergesandter-fuer-syrien-das-ende-einer-100.html
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Wie sich USA, China und EU in der digitalen Geopolitik positionieren
China will eine eigenständoge "Technology superpower" werden (picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Uncredited) „Das Internet lebt davon, dass Daten frei in jede Ecke der Welt fließen können, dass Informationen von überall her zugänglich sind.“ Berlin, Anfang Juni. Auf der Digitalkonferenz Re:publica hält Bundeskanzler Olaf Scholz seine erste und bislang einzige Rede zur Digitalpolitik. Er nimmt dabei die Weltlage in den Blick. Scholz: „Wissen ist Macht, und von dieser Macht des Wissens fühlen sich nicht wenige bedroht. Deshalb erleben wir, wie staatliche Akteure dem freien Internet Grenzen setzen. Wir erleben Zensur und Überwachung in China. Und wir erleben den Versuch der völligen Abschottungen des russischen Informationsraums durch Putins Staatsmacht. Leider oft mit Erfolg. Kurz gesagt: Aus dem Internet ist zum Teil leider bereits ein Splinternet geworden.“ Scholz bei seiner Rede auf der Digitalmesse re:publica 2022 (picture alliance / dpa / Annette Riedl) Ein „Splinternet“, also ein geteiltes Netz, mit Schranken und Firewalls, die nicht allein in China oder Russland den freien Zugang zu Informationen sperren. Eine Zeitenwende markieren Scholz‘ Aussagen nicht - sie machen aber deutlich, dass Digitalisierungs- und Technologiefragen immer stärker zum zentralen Teil geopolitischer Überlegungen werden. Pläne zu EU-Chipfabrik Halbleiter-Experte: EU sollte auf Chip-Design statt auf Produktion setzen Pläne zu EU-Chipfabrik Halbleiter-Experte: EU sollte auf Chip-Design statt auf Produktion setzen Europa sei in der Fertigung von Mikrochips technologisch weit abgeschlagen, sagte Jan-Peter Kleinhans von der Stiftung Neue Verantwortung im Dlf. Die EU sollte aber nicht versuchen, diesen Rückstand aufzuholen, sondern stattdessen besser in den Markt für das Design von Chips investieren. Wie wird das Internet künftig aussehen? Wer darf darüber bestimmen, wie es aussieht? Wird es überhaupt „ein Internet“ geben? Welche Länder, Regionen und Volkswirtschaften profitieren von den technologischen Veränderungen, wer kann modernste Technologie herstellen, wer verliert den Anschluss - und welche Allianzen bringt die entstehende digitale Weltordnung hervor? Erste Antworten zeichnen sich ab. Es deutet sich an, wem die digitale Zukunft gehört und wer somit geopolitisch bestimmender werden dürfte. Ohne Mikrochips funktionieren weder Computer, noch moderne Fahrzeuge oder andere zukunftsfähige Geräte und Anlagen. Ihre strategische Relevanz wurde schon vor langem erkannt. Angesichts der fortschreitenden Digitalisierung ist diese Relevanz noch einmal gewachsen – und hat ein geopolitisches Wettrennen ausgelöst. USA fördert Halbleiterindustrie Washington, Ende August. Der amerikanische Präsident Joe Biden unterzeichnet im Garten des Weißen Hauses ein Gesetz zur Förderung der Halbleiter-Industrie. Subventionen und Forschungsvorhaben in Höhe von insgesamt fast 250 Milliarden US-Dollar sollen dafür sorgen, dass Firmen ihre Mikrochip-Produktion vor allem aus Asien in die USA verlagern. Biden betont in seiner Rede die Rolle der so genannten Spitzenchips - also Chips mit winzigen Strukturgrößen im einstelligen Nanometer-Bereich. Ohne sie lassen sich keine Smartphones bauen, ohne sie funktioniert kein modernes Kriegsgerät. Auch Anwendungen der künstlichen Intelligenz sind maßgeblich von den Hochleistungshalbleitern abhängig. US-Präsident Joe Biden (picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Evan Vucci) „Wir produzieren im Moment keinen einzigen Spitzenchip selbst. Und China versucht uns zu überholen und diese komplizierten Halbleiter ebenfalls herzustellen. Kein Wunder, dass die Kommunistische Partei Chinas bei US-Firmen aktiv Lobbyarbeit gegen dieses Gesetz betrieben hat.“ Seit die Corona-Krise zwischenzeitlich einen Chipmangel auslöste, ist die Halbleiter-Lieferkette hochpolitisch geworden. Der Westen reagiert mit „Onshoring“ - dem Versuch, Produktionskapazitäten in heimische Gefilde zu holen. Das hängt auch damit zusammen, dass die modernsten Chips derzeit vorwiegend in Taiwan produziert werden. Auf jener Insel also, die China gerne wieder in ihren Orbit integrieren würde. Ungewöhnliche Mittel im globalen Wettbewerb Allerdings geht es nicht allein um solch' geopolitische Negativ-Szenarien, also die Sorge vor einem Krieg, sondern auch um globalen Wettbewerb. Dabei kommen ungewöhnliche Mittel zum Einsatz:  das zeigt eine Klausel im neuen US-Halbleiter-Gesetz: Wenn eine Firma amerikanische Subventionen in Anspruch nimmt, darf sie künftig nicht mehr in die Chip-Produktion in China investieren. Konflikt USA-ChinaPolitologe Heilmann: Es läuft auf eine Kalter-Krieg-Situation hinaus 09:55 Minuten28.05.2022 Washington versuche, Peking auch an anderer Stelle in der Chip-Entwicklung auszubremsen, sagt Julia Hess. Sie ist Projektmanagerin Technologie und Geopolitik beim Think Tank „Stiftung Neue Verantwortung“. „Durch konkretes Verhindern des Zugriffs auf die sogenannten Zulieferer-Märkte, also sowohl im Bereich Software, die man eben braucht um einen bestimmtes Chip-Design zu entwickeln, als auch Maschinen, die man braucht, um die neuesten Chips zu fertigen, da eben dafür zu sorgen, dass China grundsätzlich einfach im technologischen Rückstand bleibt. Und das wird eben vor allem durch die USA stark angetrieben.“ Die Strategien von China und EU Auch China versucht sich unabhängig zu machen. Derzeit fertigt man Schätzungen zufolge 15,3 Prozent der weltweiten Halbleiter - damit liegt China hinter Taiwan, Südkorea und Japan, aber vor den USA. Allerdings gelang es Peking noch nicht, in den Markt für Spitzen-Chips vorzudringen, sagt Julia Hess. Damit das so bleibt, wurde die Biden-Regierung zuletzt sogar in den Niederlanden vorstellig. Sie drängte die Regierung in Den Haag, den weltgrößten Chipfertigungs-Ausrüster ASML von einer weiteren Zusammenarbeit mit chinesischen Firmen abzubringen. Europa positioniert sich im globalen Chip-Wettbewerb weniger aggressiv. Allerdings will die EU Chipfertigung und -Forschung mit 40 Milliarden Euro bezuschussen. Die geplante Intel-Fabrik in Magdeburg zum Beispiel könnte am Ende mit sieben Milliarden Euro aus Deutschland und weiteren sieben Milliarden Euro aus der EU gefördert werden. Halbleiterstandort MagdeburgIntel investiert 17 Milliarden Euro 04:48 Minuten15.03.2022 Intel-Werk in Magdeburg Ostbeauftragter Schneider: "Ein Signal für ganz Ostdeutschland" 09:39 Minuten16.03.2022 Wird diese industriepolitische Strategie aufgehen? Scott Marcus, technologiepolitischer Analyst vom Brüsseler Think Tank Bruegel, setzt dahinter zumindest ein Fragezeichen: Denn Hightech-Firmen, die Abnehmer sein könnten, sind in Europa bislang selten – sie befinden sich vor allem in den USA und in Asien. „Chips werden sicher eine Rolle spielen. Aber man muss es sich genau ansehen: Die Chips, die Europa für seine eigenen Produkte braucht, sind oft technisch anspruchslos. Man konzentriert sich aber darauf, die Produktion von High-End-Chips zu verbessern.“ 400 verschiedene Typen von Chemikalien werden gebraucht Und auch die Vorstellung vieler Politiker, Länder oder Regionen könnten eine grundsätzlich autarke Halbleiter-Industrie aufbauen, führe in die Irre, sagt Julia Hess. Denn die Endfertigung selbst, das so genannte „Frontend“, bilde nur einen Bruchteil der Kette ab, die vollständig geschlossen sein muss, um Chips zu produzieren: „Für den Produktionsprozess brauchen wir 400 verschiedene Typen von Chemikalien, die von ganz unterschiedlichen Regionen auf der Welt bereitgestellt werden und mehr als 50 unterschiedliche Typen an Maschinen für das sogenannte Frontend. Wir können davon ausgehen, egal ob wir jetzt relativ viel neue Fertigung über den europäischen Chips-Act nach Europa holen, dass wir trotzdem weiterhin abhängig sein werden von anderen Regionen auf der Welt.“ Die EU und die USA haben zumindest lose vereinbart, sich keinen Subventionswettbewerb in der Chip-Produktion liefern zu wollen. So wie man die Technologie- und Digitalpolitik grundsätzlich besser koordinieren möchte. Mit dem „EU-US Trade and Technology Council“ hat man 2021 dafür ein neues Gesprächsforum gegründet. Die transatlantische Zusammenarbeit hat durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine wieder an Bedeutung gewonnen - auch im Bereich der Digitalpolitik. Schon, weil es auch um technologische Sanktionen gegen Russland geht. Immer dringender aber stellt sich die Frage, wie man mit dem chinesischen Einfluss auf den globalen Süden umgeht. Da geht es nicht allein um die Herstellung von Mikrochips. Rechnen mit Röhrchen Forscher bauen Computerchip aus Kohlenstoff-Nanoröhren Rechnen mit Röhrchen Forscher bauen Computerchip aus Kohlenstoff-Nanoröhren Die Erwartungen waren groß, als Anfang der 1990er-Jahre Kohlenstoff-Nanoröhren entdeckt wurden. Die haarfeinen und extrem stabilen Makkaroni aus Kohlenstoff sollten die Elektronik revolutionieren. Nun haben US-Forscher tatsächlich erstmals einen Mikroprozessor aus Kohlenstoff-Nanoröhrchen gebaut. Bekannt sind die chinesischen Anstrengungen unter dem Namen „Digitale Seidenstraße“: Chinesische Firmen übernehmen in Lateinamerika, Afrika und Asien seit längerem Infrastrukturprojekte wie die Verlegung von Überseekabeln oder den Aufbau von Mobilfunknetzen und Rechenzentren.   Aktuell etwa die Aufrüstung der Mobilfunknetze auf 5G-Standard mit Technik der Firmen Huawei und ZTE. Die chinesischen sind oft günstiger als westliche Angebote, Peking verknüpft sie zudem oft mit weiteren wirtschaftlichen Zusagen an Schwellen- und Entwicklungsländer.  Sameer Patil beobachtet für den renommierten indischen Think Tank „Observer Research Foundation“ die geopolitischen Zusammenhänge. Er bilanziert: „Die meisten Länder entscheiden sich für das chinesische Equipment. Vor allem, weil es ihnen um die Kosten geht. Natürlich ist ihnen bewusst, dass es Folgen für die nationale Sicherheit hat, wenn sie ihr 5G-Netz von China ausrüsten lassen. Aber sie haben keine andere Wahl.“ Im globalen Norden haben viele Länder Huawei und ZTE auf Druck der USA ausgeschlossen oder die Komponenten im 5-G-Netz zumindest reduziert. Im Mittelpunkt steht dabei die Sorge, dass China Huawei-Equipment für digitale Hintertüren nutzen könnte - für Spionage und Sabotage. Die Gefahr digitaler Spionage Sameer Patil merkt jedoch an: Die Gefahr digitaler Spionage gehe nicht nur von China aus. Sondern, das hätten die Enthüllungen zur National Security Agency gezeigt, auch von Ländern wie den USA. Allerdings exportiere China mit seiner Technologie auch bestimmte Werte, sagt Regine Grienberger. Sie ist Botschafterin für Cyberaußenpolitik im Auswärtigen Amt. Das Problem sei dabei, „dass autoritäre Staaten eben nicht nur Technologie liefern. Sondern damit im Zusammenhang auch die Art und Weise beeinflussen, wie Staaten mit ihren Bürgern umgehen. Es ist ein autoritäres System und es läuft darauf hinaus, dass der Staat die Bewegung von Bürgerinnen und Bürgern im Internet eben auch kontrolliert.“ 5G-Mobilfunk - Bundesregierung erwägt Verbot von Huawei-Technik 5G-Mobilfunk - Bundesregierung erwägt Verbot von Huawei-Technik Bei der 4G- und auch bei der 5G-Mobilfunktechnik kommt Technik des chinesischen Herstellers Huawei zum Einsatz. Die Bundesregierung sieht darin ein Risiko. Das vollüberwachte, vollzensierte Internet, wie China es mit seiner „Großen Firewall" erschaffen hat, lässt sich anderswo zwar nicht nachbauen. Dennoch ist das Interesse anderer Staaten an chinesischer Netzwerk-Überwachung oder Verhaltenskontrolle groß – vor allem neue Technologien wie Künstliche Intelligenz und Gesichtserkennung sind gefragt. Die chinesische Gesichtserkennungssoftware, die gegen die Minderheit der Uiguren eingesetzt wird, wurde auch in Länder wie Simbabwe verkauft. Hochkomplexe Videoüberwachungssysteme sollen in mehr als 60 Länder exportiert worden sein. Außerdem bestehen Vorwürfe, wonach Techniker von Huawei die Regierungen von Uganda und Sambia dabei unterstützt haben sollen, politische Gegner auszuspionieren. G7 will in technologischen Grundsatzfragen global aktiver werden Die EU will mit ihrem Programm „Global Gateway“ stärker in Schwellen- und Entwicklungsländer investieren. Zudem diskutiert man gerade mit den USA darüber, dem globalen Süden westliche Netzwerkausrüstung zu günstigeren Preisen anzubieten. Auch die Staaten der G7-Gruppe wollen sich in technologischen Grundsatzfragen global aktiver einbringen. Bald bietet sich dazu Gelegenheit, genauer gesagt: Ende September. In einem Hochglanz-Video macht die Amerikanerin Doreen Bogdan-Martin Wahlkampf. Sie wirbt dafür, sie im Herbst zur Generalsekretärin der International Telecommunications Union, ITU, zu wählen. Die Organisation gehört zu den Vereinten Nationen, hat ihren Sitz in Genf und ist für die Standardisierung von Kommunikationstechnologien zuständig. Die Wahl erhält in diesem Jahr sehr viel Aufmerksamkeit. Denn Bogdan-Martins Gegenkandidat ist der frühere Mobilfunk-Manager Rashid Ismailov, der auch Vizechef des russischen Ministeriums für Digitalentwicklung war. Die USA gegen Russland - die Abstimmung ist nicht nur aufgrund des Ukraine-Krieges symbolisch aufgeladen. Sondern auch, weil sich hier der geopolitische Konflikt um grundsätzliche Weichenstellungen in der Digitalisierung zeigt. Russland Gesetz ebnet Weg für Internet-Zensur Russland Gesetz ebnet Weg für Internet-Zensur In Russland werfen regierungsnahe Medien Plattformen wie YouTube und Facebook vor, ihre Inhalte zu blockieren. Mit einem neuen Gesetz will die Regierung nun gegen diese angebliche Praxis vorgehen. Kritikerinnen und Kritiker sehen darin einen Versuch, missliebige Inhalte im Internet zu zensieren. Nigel Cory vom gemeinnützigen Think Tank „Information Technology and Innovation Foundation“ in Washington beschreibt die Entwicklungen so: „Was wir besonders in den letzten Jahren sehen: Bestimmte Länder wie China oder Russland, die eine ganz andere Internet-Politik verfolgen, versuchen Standardisierungsgremien zu beeinflussen, um sie empfänglicher für ihre Ziele zu machen. Sie versuchen, deren traditionelle Aufgabe zu verändern und auch die klassische Rolle, die diese Organisationen einnehmen.“ Wohin sich das Internet entwickelt, entscheiden derzeit vor allem öffentlich wenig bekannte Gremien mit Namen wie „World Wide Web Consortium“ oder „Internet Engineering Task Force“.  Regierungen, Privatwirtschaft und Zivilgesellschaft sitzen dort an einem Tisch. In der „International Telecommunications Union“ dagegen dominieren Regierungen bei der Entscheidungsfindung. Die chinesisch-russische Vorstellung ist es, die ITU mit deutlich mehr Befugnissen auszustatten - und so letztlich das Gewicht zugunsten der Nationalstaaten zu verschieben. Warnung vor Überwachung In einem russisch-chinesischen Abkommen aus dem Jahr 2021 heißt es, Staaten müssten „das souveräne Recht haben, die nationalen Teilbereiche des Internets zu regulieren“. Das wäre, so warnen Fachleute, ein tiefer Einschnitt: Überwachung, Zensur oder sogar eigene Internet-Protokolle wären dann keine Frage von Grundrechten oder internationalen Absprachen - sondern rein nationale Entscheidungen. Nigel Cory: „China ist der Meinung, dass Regierungen keinen oder nur sehr wenigen Beschränkungen unterliegen sollten, um bei Bedarf auf Daten zuzugreifen. Womit wir beim zentralen Konflikt zwischen China, Russland und autoritären Ländern auf der einen Seite, sowie Europa, den USA, Japan, Australien und anderen Ländern wären: Der Zugang zu Daten ist für politische und soziale Kontrolle zentral.“ Die Abstimmung über den ITU-Chefposten wird zeigen, wie die Machtverhältnisse derzeit sind. Ende April unterzeichneten die USA sowie alle EU-Mitgliedstaaten die „Declaration for the Future of the Internet“, das Bekenntnis zu einem globalen Internet der freien Datenströme. Aufruhr in Chinas Internet Proteste gegen die Corona-Politik Aufruhr in Chinas Internet Proteste gegen die Corona-Politik Empörung und Wut brechen sich momentan in Chinas sozialen Medien Bahn. Auslöser sind die drastischen Maßnahmen während des Corona-Lockdowns in Schanghai. Videos und Artikel gehen viral, ernten viele Kommentare. Bröckelt die Zensur? Auch 32 Nicht-EU-Länder sind dabei. Einflussreiche und von den G7 umworbene Nationen des globalen Südens wie Indien, Brasilien oder Südafrika fehlen allerdings auf der Liste. Damit setzt sich eine Entwicklung fort, die auch auf anderen Feldern der Geopolitik deutlich wird: Die Zeit westlicher Hegemonie ist zu Ende. Weltweit entscheiden Länder offen, welchem Modell sie folgen. Die globalen Machtverhältnisse verändern sich. „Die Rolle, die China inzwischen in den internationalen Standardisierungsgremien spielt, entspricht wahrscheinlich dem, was dem Land angesichts der ökonomischen Rolle in diesem Bereich ohnehin zusteht", sagt Scott Marcus vom Brüsseler Think Tank Bruegel. Der Analyst hält ein fortgesetztes Auseinanderdriften der digitalen Kommunikation entlang geopolitischer Konfliktlinien für möglich. Unterschiedliche Interessen zwischen USA und EU Derzeit ist die Situation unübersichtlich, sie entwickelt sich ständig weiter. Länder wie Indien bekennen sich einerseits zum Westen und verbieten sogar die chinesische App TikTok. Zugleich setzt Indien die amerikanischen Digitalkonzerne unter Druck, Inhalte stärker im Sinne der Regierungsparteien zu moderieren. Selbst Europa und die USA verfolgen in der Digitalpolitik unterschiedliche Interessen. Zum Beispiel, wenn es um Fragen des Datenschutzes geht oder um die Regulierung amerikanischer Digitalplattformen. Eigentlich müsste die EU in der Digitalpolitik stärker als geopolitischer Akteur in Erscheinung treten, sagt der Grünen-Digitalpolitiker Tobias Bacherle. „Ich glaube, man muss ganz ehrlich sagen: Im Moment fehlt das Angebot für einen europäischen Weg auf dem Weltmarkt noch zu großen Teilen. Es ist eher ein Pendel, das sich bewegt zwischen dem chinesischen staatlich-autoritären Ansatz und dem amerikanischen, von Big Tech getriebenen Ansatz. Es ist ja nicht so, dass nicht viele Staaten mit den zwei Modellen auch hadern würden.“ Bislang profiliert sich die Europäische Union vor allem über ihre Regulierungen  in Feldern wie Datenschutz, Einschränkung von Plattform-Marktmacht oder den Umgang mit illegalen Inhalten. Hier setzt man vor allem auf den „Brussels Effect“: Wenn ein großer Markt wie Europa Regeln setzt, werden diese oft auch anderswo übernommen. Die EU betont, in der Digitalisierung Werte wie den Schutz der Privatsphäre, Nachhaltigkeit oder menschenzentrierte Technik-Entwicklung zu vertreten. Doch erfolgreiche Digitalplattformen und Produkte, die diese Werte in alle Welt exportieren, fehlen weiterhin. Der Bruegel-Analyst Scott Marcus betrachtet China und die USA geopolitisch als die beiden bestimmenden digitalen Akteure, Europa könnte aus seiner Sicht unter die Räder kommen. „Das ist ein echtes Risiko. Die EU hat ihre Stärken. Wir haben ein technologisches Fundament, aber in anderen Feldern sind wir eben nicht so präsent. Wenn man an Online-Geschäftsfelder denkt oder wenn man sich die Forschungsausgaben für Künstliche Intelligenz ansieht - dann muss man sagen, dass das Risiko besteht, dass wir das Nachsehen haben.“ Ein solches Nachsehen hätte weitreichende Folgen für Deutschland und Europa - für den Wohlstand und auch für die geopolitische Rolle Europas in der Welt.
Von Johannes Kuhn
China, die USA und Europa stehen nicht nur politisch in einem globalen Wettbewerb, sondern auch digital: Wer modernste Chips produzieren kann, wer die Regeln des Internets bestimmt, ist im strategischen Vorteil. Die Zeit der westlichen Vorherrschaft scheint dabei zu Ende zu gehen.
"2022-09-06T18:40:00+02:00"
"2022-09-06T18:40:00.073000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/china-usa-eu-digitalisierung-technologie-100.html
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"Ein Ende der Bombenanschläge und des Mordens"
Es war eine kleine politische Sensation, als der britische Premier Edward Heath am 24. März 1972 das Ende der Selbstverwaltung Nordirlands verkündete. In einer Rede, die auch vom Fernsehen ausgestrahlt wurde, wandte er sich direkt an die Bevölkerung der Unruheprovinz:"Dies ist Ihre Chance, endlich Fairness, Wohlstand und Frieden zu erreichen, ein Ende der Bombenanschläge und des Mordens. Sie haben lange genug gelitten. Was die Regierung heute unternommen hat, soll die Vergangenheit vergessen lassen und auf die Zukunft gerichtet sein. Lassen Sie uns diese Gelegenheit gemeinsam nutzen."Heath reagierte damit auf die Spannungen in der nordirischen Gesellschaft. Die Katholiken, die die Minderheit stellten, waren seit der Teilung der Insel 1920 von den Protestanten jahrzehntelang benachteiligt worden: "Beim Wahlrecht, das an Besitz geknüpft war, bei der Einteilung der Wahlkreise, die die Protestanten bevorteilte, bei der Vergabe von Jobs und Wohnungen."In den 60er Jahren formierte sich eine zunächst friedliche Bürgerrechtsbewegung, die für Gleichberechtigung eintrat. Doch die Polizei ging gewaltsam gegen Demonstranten vor. Die britische Armee, die Ende der 60er-Jahre nach Nordirland gekommen war, um zu schlichten, war bald selbst Partei in dem immer blutiger werdenden Konflikt. Sie unterstützte die nordirische Regierung bei den sogenannten "Internierungen". Personen, die der IRA zugerechnet wurden, konnten ohne Gerichtsverfahren inhaftiert werden - was wiederum zu heftigen Protesten der katholischen Bevölkerung führte. Nach dem Bloody Sunday, dem 30. Januar 1972, an dem britische Soldaten 13 unbewaffnete Demonstranten erschossen, drohte die Situation in Nordirland völlig außer Kontrolle zu geraten. "Die Stimmung war vergifteter als jemals zuvor. Nordirland schien zum ersten Mal an der Schwelle zur vollständigen Anarchie."Notierte der britische Premier Edward Heath in seinen Memoiren. Heath bestellte den protestantischen nordirischen Regierungschef Brian Faulkner nach London und diskutierte mit ihm Lösungswege aus der Krise, etwa häufigere Volksabstimmungen über die gesamtirische Frage und ein Ende der Internierungspolitik. Dazu wäre Faulkner bereit gewesen, doch er weigerte sich, die Hoheit über die innere Sicherheit an London abzugeben – und wurde entmachtet. Die britische Regierung müsse nun die volle Verantwortung über die Situation in Nordirland übernehmen, erklärte Heath am 24. März 1972:"The government here in London is therefore obliged to take over for the time being full responsibility for the conduct of affairs in Northern Ireland."Die protestantischen Unionisten fühlten sich von London verraten und riefen zum Generalstreik auf. 100.000 Menschen demonstrierten gegen die "direct rule" vor dem Stormont, dem nordirischen Parlamentsgebäude. Zwei Wochen nach Verhängung der britischen Direktherrschaft verkündete der neu installierte Nordirlandminister William Whitelaw die Freilassung von rund 50 Internierten. Er glaube, die breite Mehrheit der nordirischen Bevölkerung wünsche ein friedliches Zusammenleben, die Freilassungen seien sein Beitrag zu diesem Ziel."I want to see a return of a normal peaceful community, I believe that is something, that the vast majority of the population of Northern Irland also want. These releases today are my contribution to that end."Doch zu einer schnellen Aussöhnung sollte es nicht kommen. Ein Waffenstillstand der IRA war nur von kurzer Dauer, im Juli 1972 starben am Bloody Friday neun Menschen durch eine Serie von Autobomben in der Innenstadt von Belfast. 1974 scheiterte schließlich der Versuch, das Parlament wieder einzuführen, am Widerstand der Protestanten, die nicht mit den Katholiken zusammenarbeiten wollten. Eigentlich sollte die Direktverwaltung durch London nur ein Jahr dauern, es wurden fast drei Jahrzehnte. Sie endete erst nach dem Karfreitagsabkommen von 1998, das unter anderem vorsah, wieder ein Parlament und eine Regionalregierung einzurichten, unter Beteiligung von Protestanten und Katholiken. Aber auch das funktionierte nicht immer, viermal übernahm seitdem London wieder das Ruder in Nordirland, zuletzt von 2002 bis 2007.Das könnte Sie auch interessieren:Kalenderblatt - Wendepunkt in der Geschichte NordirlandsEuropa heute - In der Sackgasse? Krise in der nordirischen RegierungskoalitionEuropa heute - Der letzte Baustein für eine Selbstverwaltung Wann bekommt Nordirland die Hoheitsrechte für Justizverwaltung und Polizei?Beiträge - Nordiren wählen Regionalparlament - Hoffnung auf dauerhafte Aussöhnung zwischen Protestanten und KatholikenHintergrund - Eine Chance für die Aussöhnung Nordirland vor der Wahl (DLF)
Von Georg Gruber
Die Schlichtungsversuche der britischen Armee im Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten in Nordirland eskalierten endgültig im sogenannten "Bloody Sunday". Kurz danach übernahmen die Briten die Direktherrschaft über die tief gespaltene Provinz.
"2012-03-24T09:05:00+01:00"
"2020-02-02T14:03:03.790000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ein-ende-der-bombenanschlaege-und-des-mordens-100.html
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"Wir teilen hier die große Sorge Israels"
Jürgen Liminski: Die Menschenrechtsverletzungen sind auch möglich, weil die internationale Gemeinschaft sich selber blockiert, vor allem die Russen halten ihre schützende Hand über Assad, aber die Russen sind auch Schachspieler. Wenn es um die Macht geht, verfolgen sie eiskalt ihre Interessen. Kann es sein, dass sie keinen Plan B für die Zeit nach Assad haben? Was wird aus dem Marinestützpunkt Tartus oder wo befindet sich ein neuer für die russische Mittelmeerflotte? Welche Rolle spielen die Türken, die Israelis im syrischen Ringen? Lässt sich der Bürgerkrieg in Syrien überhaupt einhegen? Was droht möglicherweise den Europäern? Zu solchen Fragen begrüße ich den früheren Staatssekretär im Außenministerium und heutigen Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger – guten Morgen!Wolfgang Ischinger: Guten Morgen, Herr Liminiski!Liminski: Herr Ischinger, der syrische Bürgerkrieg ist vorerst noch eingedämmt, die Kämpfe finden innerhalb der Grenzen statt, vorerst, das kann sich ändern. Sicher ist, die UN-Mission ist krachend gescheitert, der Sicherheitsrat hat sich in einer Selbstblockade festgefahren. Muss die Welt tatenlos einem völkermörderischen Shooting-out zuschauen?Ischinger: Ja, es ist in der Tat zu fürchten, dass das Multiwahljahr 2012 nicht als ein Jahr erfolgreicher Konfliktverhinderung und Vertrauensbildung in die Geschichte eingehen wird. Wir haben es im Prinzip mit einer dreifachen Krise zu tun. Aus dem Aufstand gegen das syrische Regime ist inzwischen, wie Sie es gerade beschrieben haben, ein Bürgerkrieg, ein sunnitisch-schiitischer Religionskrieg geworden, mit gefährlichen Folgen nicht nur für die Menschenrechte im Lande, sondern für die gesamte Region. Es ist zweitens eine Krise der Handlungsfähigkeit der gesamten internationalen Gemeinschaft zu konstatieren, der Sicherheitsrat blockiert sich selbst seit vielen, vielen Wochen. Und drittens, denke ich, muss man von einer tiefen Krise des Vertrauens, einer Krise des Misstrauens zwischen dem Westen, zwischen den USA und Russland sprechen. Das alles führt zu einer unguten Mischung, und hier rächt sich, denke ich, auch die Tatsache, dass wir Russland in den letzten Jahren etwas auf der Seite stehen ließen. Denken Sie nur an das Thema Raketenabwehr, wo das Versprechen des Westens, Russland einzubeziehen, ignoriert wurde, zuletzt beim NATO-Gipfel in Chicago vor zwei Monaten.Liminski: Zu den Russen würde ich gleich noch mal kommen, vielleicht die aktuellen Gefahren: Nun hat der türkische Premier Erdogan mit einer Intervention gedroht, weil die syrische Armee die Kurdengebiete im Norden Syriens verlassen hat und die Kurden bereits über befreite Städte jubeln. Könnte ein Eingreifen der Türken gegen die Kurden auf syrischem Boden folgenlos bleiben, würde das die Architektur, die Statik in der Region verändern?Ischinger: Es gibt ja Stimmen in den USA, aber auch in Europa, die einer Teilung Syriens das Wort reden, nicht wahr – ein alevitischer Staat, ein Kurdenstaat, ein sunnitischer Staat. Ich denke, wir waren stets gut beraten – denken Sie an die Diskussion über Teilungsideen auf dem Balkan –, wenn wir solchen Ideen entgegengetreten sind. Teilungen von Staaten führen selten zu mehr Stabilität, sie tragen in sich den Keim von mehr Konflikt, und ich kann die türkische Regierung sehr gut verstehen, wenn sie die große Sorge hat, dass ihr wichtiges Ziel seit vielen, vielen Jahrzehnten, einen eigenen Kurdenstaat eben nicht zuzulassen, wenn dieses Ziel nun in Gefahr ist und Syrien zu zerbrechen droht.Liminski: Auch die Israelis zeigen sich besorgt, wie schätzen Sie deren Reaktion ein, wenn Islamisten in den Besitz der riesigen Bestände an chemischen Waffen kommen? Wird, muss Israel dann präventiv intervenieren?Ischinger: Also die Sorge, was mit den Massenvernichtungswaffen in den Händen der syrischen Armee passiert, wenn diese Armee die Waffen strecken sollte, diese Sorge ist ja nicht nur eine Sorge der israelischen Regierung. Das muss eine Sorge der gesamten internationalen Gemeinschaft sein, es muss auch eine Sorge der NATO und der Europäischen Union sein. Das Ganze vollzieht sich in unserer Nachbarschaft, und ich denke, wir teilen hier die große Sorge Israels. Gibt es ein gutes Rezept? Nein, das gibt es nicht. Man kann nur darauf hoffen, dass das syrische Regime weiß, dass der Einsatz dieser Waffen nicht infrage kommen kann und dass der Schutz dieser Waffen vor Zugriff durch wen auch immer eine oberstes Ziel sein muss. Auch hier, glaube ich, gibt es kein gutes Rezept. Syrien weiß, dass der Einsatz dieser Waffen zu schrecklichen Folgen nicht nur für Syrien selbst führen wird.Liminski: Ein dritter Regionalnachbar, Iran, schaut ebenfalls besorgt nach Syrien – was hat Teheran zu verlieren oder zu gewinnen?Ischinger: Wenn Teheran seinen Regionalpartner Syrien, seinen Partner Baschar al-Assad verlieren sollte, dann wäre das natürlich ein großer Rückschlag, der zentrale Rückschlag für die Regionalmachtambitionen Teherans. Und ich fürchte, die iranische Bereitschaft, mit sich über die Nuklearambitionen reden zu lassen, würde durch einen solchen Rückschlag nicht gerade gestärkt. Also auch in diesem Konfliktbereich ist eher eine Eskalation und nicht eine Verbesserung der Lage zu befürchten.Liminski: Sie machen uns nicht gerade Hoffnung, Herr Ischinger. Auch der vierte Nachbar, Saudi-Arabien, scheint schon tief involviert zu sein. Sie haben eingangs die Schattenachse dieses Bürgerkriegs, den sunnitisch-schiitischen Konflikt erwähnt, aber über die Saudis werden auch die Interessen des Westens berührt, Stichwort Ölpreis. Kann man da nicht irgendwie vorbeugen?Ischinger: Naja, Sie haben ja selbst das Stichwort gegeben, Herr Liminski. Was sich hier vollzieht, ist zwar keine militärische Intervention des Westens oder der internationalen Gemeinschaft, aber es vollzieht sich vor unseren Augen eine Art Stellvertreterkrieg. Waffen, auch größere, schwerere Waffen, Waffen, Geld, Material wird über verschiedene Grenzen, aus Katar, aus Saudi-Arabien, mithilfe von Dritten an die Kämpfer in Syrien geliefert. Auf der anderen Seite wird das Assad-Regime weiter von Russland und anderen gestützt. Wir haben es mit einem richtigen Stellvertreterkrieg zu tun, und letztlich geht es um die Vormacht in der Region zwischen Saudi-Arabien und seinen sunnitischen Partnern auf der einen Seite und dem schiitischen Teheran auf der anderen Seite. Interessant, aber durchaus nicht beruhigend, ist die Tatsache, dass Israel als Konfliktherd in diesem Augenblick weniger eine Rolle zu spielen scheint. Der israelisch-palästinensische Konflikt wird an die Seite gedrängt. Das kann aus strategischer Sicht für Israel keineswegs beruhigend sein, denn Israel kann auf diese Weise in diesem Konfliktherd, von dem man nicht weiß, wie lange er dauern wird – er wird sicherlich nicht übermorgen beendet sein –, nur leiden, nur Schaden nehmen.Liminski: Sie sprechen von einem Stellvertreterkrieg, das gilt ja auch wahrscheinlich für die Russen. Die Russen sind Schachspieler und müssen an Alternativen denken, wenn der syrische Turm kippt. Grünen-Chef Özdemir hat in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam gemacht, dass Moskau die Notlage von Zypern und Athen nutzen und über finanzielle Transfers oder Kredite politischen Einfluss in dieser Krisensituation ausüben könnte. Halten Sie es für denkbar, dass der NATO-Staat Griechenland im Falle eines Euroaustritts Moskau Hafenrechte gegen Geld anbieten könnte?Ischinger: Also Herr Liminiski, selbst wenn es aus finanz- oder währungspolitischen Gründen eine sinnvolle Frage sein sollte, Griechenland den Austritt aus der Eurozone zu empfehlen, so wäre das strategisch sicherheitspolitisch sicherlich kein gutes Rezept. Griechenland brauchen wir aus stabilitätspolitischen Gründen in dem unruhigen Südosteuropa. Es wäre fatal, Griechenland sozusagen abzukoppeln, abzuschneiden von uns, von der NATO, von der Europäischen Union. Griechenland ist ein Partner, den wir gerade in dieser unruhigen Region brauchen.Liminski: Eine letzte Frage, Herr Ischinger, diesmal Deutschland betreffend: Anfang der Woche wurde eine mögliche Lieferung von Leopard-2-Panzern an Katar in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert, das Interesse Katars an den deutschen Panzern wurde von der Bundesregierung auch bestätigt. Nun reden wir hier über ein Krisengebiet – muss Deutschland, der drittgrößte Waffenexporteur der Welt, seine Waffenhandelspolitik überdenken?Ischinger: Also ich denke, die restriktive, im Prinzip restriktive Politik vieler Bundesregierungen ist im Prinzip richtig gewesen. Zweitens denke ich aber, dass das Verbot des Waffenexports in Krisengebiete etwas blauäugig ist. Was heute eine ruhige Region ist, kann morgen bereits ein Krisengebiet sein. Wer entscheidet das denn und wer weiß denn schon, was sich wo entwickelt? Rüstungsexportpolitik muss natürlich im 21. Jahrhundert Teil einer sorgfältig ausgearbeiteten und sorgfältig mit Partnern abgestimmten Sicherheitspolitik sein. Hier kann es nicht nur um Arbeitsplätze gehen, sondern hier muss es um Sicherheitspolitik gehen, gemeinsam mit den Partnern. Und deswegen, Herr Liminski, bin ich der Meinung, dass es eigentlich nicht mehr in die Landschaft passt, wenn wir zwar den Einsatz von drei oder zehn oder 100 Bundeswehrsoldaten breit im Deutschen Bundestag diskutieren, den Export ... Liminski: Wir müssen leider unterbrechen, die Nachrichten drängen. Der Chef der Münchener Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, war das. Besten Dank fürs Gespräch, Herr Ischinger!Ischinger: Danke! Wiederhören, Herr Liminiski!Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Wolfgang Ischinger im Gespräch mit Jürgen Liminski
Wenn die syrische Armee besiegt wird, was passiert dann mit ihren Massenvernichtungswaffen? Diese Frage sollte nicht nur Sorge der israelischen Regierung sein, sondern der gesamten internationalen Gemeinschaft, sagt Wolfgang Ischinger, Chef der Münchner Sicherheitskonferenz.
"2012-08-02T07:15:00+02:00"
"2020-02-02T14:19:26.806000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/wir-teilen-hier-die-grosse-sorge-israels-100.html
92,012
Rechter Boykott gegen Theater
Altenburg: Blick auf den Marktplatz der einstigen Residenzstadt der Herzöge von Sachsen-Altenburg. (dpa) "Widerstand! Widerstand!" Eine Kundgebung des Bürgerforums Altenburg im Osten Thüringens am Ende des vergangenen Jahres. Die lokale Variante der Pegida-Sügida-AfD-Demonstrationen, mit Unternehmern und Bildungsbürgern, aber auch mit bekennenden Rechtsextremen und Antisemiten. Der letzte Redner ist Andreas Sickmüller. Er geißelt die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung und die der linken Landrätin im Altenburger Kreis und schließt Ausländer ausdrücklich aus der Solidargemeinschaft aus, die nur für Deutsche da sei: "Ich möchte schließen mit einem Vergleich zu einem den Deutschen gegenüber in der Nachkriegszeit immer wieder erhobenen Kollektivvorhalt: Sie hätten nichts getan gegen die Regierung des Dritten Reichs, hielt man immer ungerechterweise allen Deutschen vor. Lasst es nicht dazu kommen, dass euch in einigen Jahren derselbe Vorhalt zur heutigen Regierung, diesmal allerdings zu Recht gemacht wird!" Kulturschaffende sind öffentlich für eine flüchtlingsfreundliche Politik Und da sich Kulturschaffende der Stadt Altenburg öffentlich für eine flüchtlingsfreundliche Politik stark gemacht hatten, endet Sickmüller mit einem Boykottaufruf: "Und ich rufe alle, die gegen diese Politik sind, dazu auf, das Theater in Altenburg und das Lindenau-Museum zu boykottieren! Grenzt sie auf dieselbe Weise aus, wie sie es mit euch tun! Und zeigt ihnen, woher das Geld kommt, mit dem sie ihre Miete bezahlen!" Schauspieldirektor Bernhard Stengele vom Altenburger Theater nimmt den Boykottaufruf zunächst einmal sportlich: "Also ich nehme das Ganze unter Meinungsfreiheit. Jeder darf dafür sein, dass man die Kultur abschafft, das ist unser Meinungsrecht. Und auch, wenn das auf ziemlich ekelhafte Weise dargebracht wird: Wir würden was falsch machen, wenn das Bürgerforum sagen würde, "Besuchen Sie unbedingt dieses Theater!" Die Ablehnung der Rechtspopulisten habe man sich ehrlich erarbeitet, so Stengele: "Na ja, wir haben uns in den letzten zwei Jahren sehr, sehr intensiv mit der – hier heißt es ja Bürgerforum – mit der Bewegung auseinandergesetzt, wir haben große Events gemacht, Gegendemonstrationen; wir haben am 1. Mai einen Tag gemacht, der hieß "Gut Mensch!" mit Ausrufungszeichen, wo wir 1.200 Besucher hatten. Das heißt, wir positionieren uns sehr klar für eine weltoffene Gesellschaft, und das nimmt das Bürgerforum wahr und wehrt sich dann entsprechend dagegen." Schnittmenge zwischen Theatergängern und Bürgerforum scheint gering Die Besucherzahlen haben sich seit dem Boykottaufruf nicht verändert; entweder hat ihn niemand ernst genommen oder die Schnittmenge zwischen Theatergängern und Bürgerforum ist eher gering. Weder die lokale noch die überregionale Tagespresse hatte über den Boykottaufruf berichtet. Einzig die Zeitschrift "Opernwelt" thematisierte ihn in ihrer Dezemberausgabe. Der Bürgermeister schwieg; die Landrätin will kein Öl ins Feuer gießen. Im Theater-Förderverein ist man froh darüber. Frieder Krause: "Wir waren im Prinzip der hiesigen Presse dankbar, muss ich mal jetzt so sagen, dass also nicht groß in der Presse dieser Boykottaufruf wiedergegeben worden ist, um sozusagen den Ball in dieser Frage flach zu halten" Der Thüringer Kulturminister Benjamin-Immanuel Hoff von den Linken empfindet das eher als Friedhofsruhe: "Jasper von Altenbokum hat jüngst in der FAZ vom US-amerikanischen Wahlkampf gesprochen als "Populismus am Rande der Gewaltbereitschaft". Und ich glaube, dass wir mit dieser Gefahr auch im Thüringer Kulturdiskurs konfrontiert sind und dass quasi mit dem Gestus, "Deutsche, kauft nicht bei Juden!", jetzt gesagt wird, "Altenburger, geht nicht in dieses Theater, weil die sich menschenrechtsfreundlich zum Thema Flüchtlingsaufnahme in Altenburg geäußert haben!", das ist schon eine neue Qualität. Ich halte das für ein ganz gefährliches Signal. Und wir hatten im vergangenen Jahr mehrere tausend Menschen, die an Veranstaltungen teilgenommen haben zur Theaterfinanzierung. Und ich erwarte, dass diejenigen, die damals dabei waren, um sich für ihr Theater einzusetzen, dass die sich jetzt auch hinstellen und sagen, "Wir sind die Zivilgesellschaft; wir stehen zu unserem Theater und unserem Orchester. Und wir lassen das von niemandem in Frage stellen!" "Das bedeutet, dass dieses Theater seine Arbeit gut macht!" Die Altenburger Theaterleute wollen sich jedenfalls nicht einschüchtern lassen. Auch nicht die griechische Schauspielerin Katerina Papandreou, die nicht wegen des Boykottaufrufs das Theater verlassen will, sondern weil sie und andere ausländische Mitarbeiter sich zunehmend auf der Straße Pöbeleien ausgesetzt sehen. Papandreou und drei andere nicht-deutsche Schauspieler und Sänger werden so das Theater Gera-Altenburg vorzeitig verlassen. Aber das ist eine andere Geschichte. "Immer wo ich das gesagt habe zu Freunden von mir in Griechenland, alle, die diese Geschichte mit dem Boykott gehört haben, haben gesagt, "Also, das bedeutet wirklich, dass dieses Theater seine Arbeit wahnsinnig gut macht!" Also, die waren alle sehr stolz! Die waren echt begeistert, muss ich sagen."
Von Henry Bernhard
Auf einer Demo des Bürgerforums Altenburg - einer Variante von Pegida - wurde zum Boykott des örtlichen Theaters aufgerufen. Dieses macht sich in seinen Inszenierungen und mit Aktionen für eine flüchtlingsfreundliche Politik stark. Auf die Besucherzahlen hatte die Forderung bislang keine Auswirkungen.
"2017-01-08T17:10:00+01:00"
"2020-01-28T09:26:53.360000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/thueringen-rechter-boykott-gegen-theater-102.html
92,013
Germanwatch: Ehrgeizige Ziele, keine Maßnahmen
Christoph Bals, politischer Geschäftsführer der Umweltorganisation Germanwatch. (Valentin Pfleger/Germanwatch) Jule Reimer: Morgen Vormittag soll er angeblich fertig sein, der Koalitionsvertrag, und dann von den drei Parteichefs inklusive Chefin Merkel vorgestellt werden. Das sagt die Berliner Gerüchteküche. Jedenfalls wird heute noch kräftig weiterverhandelt. Für die Bereiche Klima und Energie stand schon allerhand vor dem Wochenende fest. Flugverkehrssteuer bringt keine Verbesserung In Frankfurt bin ich jetzt mit Christoph Bals verbunden. Er ist politischer Geschäftsführer der Klimaschutz-Lobbyorganisation Germanwatch. – Herr Bals, 2020 steht immerhin als Klimaziel drin in den Papieren, die offenbar zum Koalitionsvertrag führen, und für 2030 klingt das doch eigentlich alles recht ambitioniert. Sind Sie zufrieden? Christoph Bals: Die große Frage ist, ist der Scheck diesmal gedeckt? Es werden die Ziele wieder verkündet, das 2020-Ziel. Frau Hendricks sagt, dass wir etwas Probleme haben, das Ziel zu erreichen. Im Moment sieht es so aus, dass das krachend verfehlt wird. Und wenn das nicht bis 2022 nachgebessert wird, so dass es erreicht wird, dann ist man auch schon auf einem Pfad, wo man das Ziel für 2030 kaum noch erreichen kann. Man kündigt sehr ehrgeizige Ziele an, zum Beispiel im Verkehrsbereich, dass man 40 bis 42 Prozent bis 2030 reduzieren will. Bisher gab es gar keine Reduktion seit 1990. Aber die notwendigen Maßnahmen dafür beschließt man nicht, sondern die will man erst im kommenden Jahr beschließen. Das heißt, es ist die große offene Frage, werden denn auch die Maßnahmen beschlossen, die die Ziele erreichbar machen. Reimer: Fangen wir mal beim Verkehr an, den Sie ja schon erwähnten. Immerhin: Die Flugverkehrssteuer ist offenbar wieder eingefügt, die wird es weiter geben. Ist das mehr ein finanzieller Vorteil oder macht das auch klimapolitisch was aus? Bals: Das ist nicht nur symbolisch, sondern auch vom Anfang eines Verursacherprinzips in diese Richtung ein sehr wichtiger Schritt. Aber das ist hier keine Verbesserung gegenüber bisher, sondern nur, dass eine Verschlechterung vermieden worden ist. Industrielle Massentierhaltung als klimapolitisches Problem Reimer: Landwirtschaft: Passiert da genug? Bals: Nein. Es wird zwar dort auch das Wort Klimaschutz in den Mund genommen, aber wenn man sich die Maßnahmenseite anschaut, dann ist ganz, ganz wenig, was bisher vorgeschlagen wird. Es ist eine landbauliche Maßnahme, die dabei mit vorgeschlagen wird. Das wird uns überhaupt nicht helfen, um die Klimaziele im Landwirtschaftsbereich tatsächlich zu erreichen. Reimer: Was würde uns helfen? Bals: Der Viehbestand für industrielle Massentierhaltung ist das große klimapolitische Problem in der Landwirtschaft: Einerseits durch die Ausgasungen der Tiere selber, dass sehr viel Methan freigesetzt wird, andererseits durch den Futtermittelimport, der auch häufig zu einer Abholzung des Regenwaldes mitführt. Wenn man hier nicht auf weniger Tiere, mehr Qualität einen Wandel hinführt, mehr Weidenhaltung, dann wird dieses Problem im Landwirtschaftsbereich nicht in den Griff zu bekommen sein. Reimer: Ganz kurz noch. Morgen wird das Europäische Parlament darüber abstimmen, dass Emissionszertifikate vom Markt genommen werden, diese CO2-Verschmutzungsrechte. Wird das was helfen, um diesen CO2-Preis, der ja bei fünf Euro die ganze Zeit herumgedümpelt hat, wieder anzuheben? Bals: Das hilft uns, dass er jetzt auf ungefähr acht Euro gestiegen ist in Erwartung dieses Beschlusses, acht, neun Euro. Aber wir bräuchten 30 bis 40 Euro, damit es wirklich investitionsrelevant wird. Das könnte nach 2025, aber wahrscheinlicher nach 2030 der Fall sein aufgrund dieser Regelung. Vorher brauchen wir einen Mindestpreis im Emissionshandel. Sonst ist dieses Instrument untauglich. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Christoph Bals im Gespräch mit Jule Reimer
Die Ziele der künftigen Großen Koalition in Sachen Energie und Klimaschutz könnte man "krachend verfehlen", sagte Christoph Bals von der Klimaschutz-Organisation Germanwatch im Dlf. Es passe nicht zusammen, dass man die für die ehrgeizigen Ziele notwendigen Maßnahmen erst im kommenden Jahr beschließen wolle.
"2018-02-05T11:35:00+01:00"
"2020-01-27T17:37:59.534000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/klimaschutz-in-den-koalitionsverhandlungen-germanwatch-100.html
92,014
Kein Bruch mit der "schröderschen Politik"
Das Problem von Kanzlerkandidat Martin Schulz (SPD) werde sein, den "Rausch", in dem die SPD derzeit sei, durch den Wahlkampf zu retten, so der Politikexperte Hubert Kleinert im DLF. (dpa) Jonas Reese: Schulz rückt nach links will die Agenda 2010 entschärfen. Darüber sprechen kann ich nun mit Hubert Kleinert. Er ist Politikwissenschaftler an der Hochschule für Polizei und Verwaltung in Gießen. Guten Abend, Herr Kleinert. Hubert Kleinert: Guten Abend. Reese: Martin Schulz wird gleich wieder vorgeworfen, nicht konkret genug zu sein. Dabei hat er ja gesagt: Längeres Arbeitslosengeld 1, weniger befristete Arbeitsverträge, ein stabiles Rentenniveau. Das sind die Punkte, für die er eintreten wird. Ist das nicht schon mal was? Kleinert: Das Arbeitslosengeld 1, das ist ein Konstruktionsfehler. Das habe ich jedenfalls immer so gesehen. Es ist ja in der Tat ein Gerechtigkeitsproblem, wenn jemand, der 15 Jahre gearbeitet hat, die gleichen Leistungen bekommt wie jemand, der, sagen wir, drei oder vier Jahre gearbeitet hat beziehungsweise genauso schnell ins Arbeitslosengeld 2 abrutscht. Das haben ja auch schon andere zum Thema gemacht. Ich erinnere, dass Herr Rüttgers mal einen Vorschlag da gemacht hat in dieser Richtung. "Das sind Korrekturen an Punkten, die ich nachvollziehen kann" Reese: Die Rolle Rüttgers. Kleinert: Ja, das war so. Sieben, acht Jahre nach meiner Erinnerung liegt das zurück. Da liegt er aus meiner Sicht eigentlich sogar richtig. Was die Rente anlangt – gut, das ist nun ein Dauerthema. Da haben wir schon tausend Modelle gehabt. Ich glaube, da reicht unsere Sendezeit nicht, um in die Details zu gehen. Und mit den befristeten Arbeitsverträgen – ja, da müssen wir mal sehen, was dann im Einzelnen vorgeschlagen wird. Ich kann dem intellektuell durchaus folgen, was er da vorgeschlagen hat. Ich sehe auch jetzt erst mal nicht, dass das ein Bruch wäre mit der schröderschen Politik von damals. Das sind Korrekturen an Punkten, die ich nachvollziehen kann. Reese: Die Abkehr von Agenda 2010, das würden Sie so nicht bezeichnen? Kleinert: Das kann ich nicht erkennen. Die Substanz der Agenda-Maßnahmen hängt doch nicht an diesen Fragen. Das sind Fragen, die wichtig sind und wo ich auch Korrekturbedarf erkennen würde. Aber ich würde jetzt nicht sehen, dass Schulz dadurch die gesamte Politik der damaligen Zeit infrage stellen würde, diese Grundorientierung, Fordern und Fördern. Das ist eine Übertreibung, wie sie heutzutage üblich ist. So nehme ich das jedenfalls erst mal wahr. Eine Korrektur im Detail, keine Kurswende Reese: Aber die SPD selbst, sie feiert es ja ein bisschen als Abkehr von der Agenda 2010 und sozusagen als den Versuch, die Partei wieder zu versöhnen. Was müsste denn dann stattdessen kommen, um das wirklich wahr zu machen? Kleinert: Was heißt, was müsste stattdessen kommen? Ich sagte ja schon, intellektuell kann ich das gut nachvollziehen, was da vorgeschlagen worden ist. Es ist, glaube ich, heute ohnehin ein bisschen ein Problem, die Symbolik auf der einen Seite und die inhaltliche Substanz auf der anderen Seite. Manchmal wird etwas, was im Kern eine Korrektur im Detail ist, als Kurswende dargestellt, weil es einfach in die politische Landschaft passt. Das ist aber ein bisschen schwierig, da muss man aufpassen, so sehe ich das jedenfalls, wie überhaupt dieser Hype, der da im Moment ist, doch auch sehr viel mit Symbolik zu tun hat. Was bleibt vom Schulz-Rausch übrig in der Wahlkampfwirklichkeit? Reese: Noch mal die Frage. Kann er denn mit diesem Kurs die Partei versöhnen? Kleinert: Ich weiß nicht, ob Martin Schulz im Moment das Problem hat, die Partei versöhnen zu müssen. Die Partei ist ja fast im Rausch. Niemand hat geglaubt oder für möglich gehalten, dass die SPD so schnell wieder auf Augenhöhe mit der Union oder fast auf Augenhöhe mit der Union geraten könnte. Ich glaube, da gibt es im Moment gar nicht so furchtbar viel zu versöhnen. Das Problem, was Schulz haben wird, ist, ob das anhalten kann, ob das über viele Monate, wenn es dann tatsächlich auch darum geht, das programmatisch im Einzelnen durchzudeklinieren, was er nun eigentlich anzubieten hat, ob da nicht eine Situation eintreten kann, wo dann der berühmte Lack dann auch mal ab ist. Was zusammengefasst von dieser momentanen Stimmung, die es ja zweifellos gibt, nachdem Gabriel verzichtet hat zugunsten von Schulz, was davon in der Wahlkampfwirklichkeit der nächsten Monate übrig bleiben wird, das, glaube ich, ist das Problem von Schulz. "Die Große Koalition ist nach wie vor die wahrscheinlichste Regierung" Reese: Die Union hat nach dem heutigen Auftritt Schulz noch mal Sozialpopulismus vorgeworfen. Teilen Sie diesen Eindruck, oder kann man das schon auch ein bisschen als Abschied von der Großen Koalition für eine nächste Legislatur bewerten? Kleinert: Das ganz sicher nicht, denn wenn man zwei und zwei zusammenzählt, dann wird man leicht erkennen, dass die Große Koalition nach wie vor die wahrscheinlichste Regierung auch nach dem Herbst 2017 sein wird – nicht, weil das irgendjemand unbedingt möchte, sondern weil es sehr gut möglich ist, dass der Wähler eine Konstellation zustande bringt, die dann nur dieses zulassen wird. Von daher ist es ganz sicher falsch, jetzt zu sagen, Große Koalition nach Herbst 2017 ist damit vom Tisch. Ganz gewiss nicht! Reese: Aber laut den neuesten Umfragen hat jetzt erstmals Rot-Rot-Grün sogar die Mehrheit, wenn man dieser Emnid-Umfrage Glauben schenkt. Ist da eine Tendenz zu erkennen? Oder noch mal anders gefragt, jetzt auch vielleicht in Richtung Die Grünen, die ja bislang keine Koalitionsaussage getroffen haben: Sollte man sich da jetzt mal langsam orientieren und sich vielleicht zur SPD bekennen als möglichen Partner? "Ich glaube nicht recht an eine rot-rot-grüne Alternative" Kleinert: Jetzt ist in einer schwindelerregend kurzen Zeit die SPD aus dem ganz tiefen Umfrageloch zu Umfragehöhen emporgestiegen, die man ja nun auch mit Vorsicht genießen muss. Das sind aus meiner Sicht Stimmungslagen, die da derzeit abgefragt werden. Was man sicher sagen kann ist, dass die Bedingungen für die Sozialdemokraten sehr viel besser geworden sind, und die Wahrscheinlichkeit, dass ein deutlich günstigeres Ergebnis erzielt werden kann, als das vor wenigen Wochen noch wahrscheinlich war, ist natürlich viel größer geworden. Daraus würde ich die Schlussfolgerung ziehen, dass sich in der Tat vielleicht Möglichkeiten abzeichnen, die man vor einigen Wochen für vollkommen ausgeschlossen hätte halten können. Aber ich glaube nicht recht an eine rot-rot-grüne Alternative, weil zum einen misstraue ich ein wenig dieser Stimmung. Zum anderen kann ich mir es schlecht vorstellen, wie - wenn es wirklich auf Rot-Rot-Grün zuliefe, wie das dann halten soll in der Gesellschaft. Und das Dritte: Ich sehe auch nicht richtig, wie es dann praktisch umgesetzt werden könnte zwischen diesen drei Parteien. Ich sehe das mit einer gehörigen Portion Skepsis. Richtig ist allerdings, dass man gut daran tut, im Moment gar nichts auszuschließen, auch nicht Rot-Rot-Grün. Reese: … sagt Hubert Kleinert, Politologe an der Hochschule für Polizei und Verwaltung in Gießen, und er war Gründungsmitglied der Grünen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Hubert Kleinert im Gespräch mit Jonas Reese
Das Arbeitslosengeld I sei ein Konstruktionsfehler, sagte der frühere Grünen-Politiker Hubert Kleinert im DLF. Bei den Arbeitsmarktmaßnahmen, die der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz nun anrege, handele es sich lediglich um Korrekturen in einzelnen Punkten, nicht um eine Abkehr von der Agenda 2010.
"2017-02-20T23:10:00+01:00"
"2020-01-28T10:16:00.440000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/spd-arbeitsmarktpolitik-kein-bruch-mit-der-schroederschen-100.html
92,015
ARD zieht Xavier Naidoo als ESC-Kandidat zurück
Xavier Naidoo (picture alliance / dpa / Uwe Anspach) Gegen die Grand-Prix-Teilnahme des umstrittenen Sängers Xavier Naidoo (44) hatte sich heftiger Widerstand geregt. Daraus zog der NDR offenbar die Konsequenzen. Thomas Schreiber, ARD-Unterhaltungskoordinator, teilte in einer Pressemitteilung mit, er halte Xavier Naidoo für einen herausragender Sänger, "der nach meiner Überzeugung weder Rassist noch homophob ist". Es sei klar gewesen, dass er polarisieren würde, aber die Wucht der Reaktionen hätte ihn überrascht. "Wir haben das falsch eingeschätzt. Der Eurovision Song Contest ist ein fröhliches Event, bei dem die Musik und die Völkerverständigung im Mittelpunkt stehen sollen. Dieser Charakter muss unbedingt erhalten bleiben," hieß es weiter. Die laufenden Diskussionen könnten dem ESC ernsthaft schaden. "Aus diesem Grund wird Xavier Naidoo nicht für Deutschland starten". Die ARD werde so schnell wie möglich entscheiden, wie der deutsche Beitrag für den ESC in Stockholm gefunden werde. "Das ist ok für mich" Naidoo selber bezeichnete den ARD-Beschluss auf seiner Homepage als "einseitig". Die ARD sei auf ihn zugekommen und habe ihn gebeten, für den ESC in Stockholm im nächsten Jahr anzutreten. "Das war der alleinige Vorschlag der ARD. Ich habe nach reichlicher Überlegung schließlich zugesagt, weil dieser Wettbewerb ein ganz besonderes Ereignis für mich gewesen wäre," schreibt er. Wenn sich nun kurz nach der vertraglichen Einigung und dem Abschluss aller Vorbereitungen die Planungen der ARD durch einseitige Entscheidung geändert hätten, sei das "ok für mich. Meine Leidenschaft für die Musik und mein Einsatz für Liebe, Freiheit, Toleranz und Miteinander wird hierdurch nicht gebremst". Naidoo löste immer wieder Kontroversen aus Naidoo ist seit 20 Jahren im Musikgeschäft erfolgreich und stand mehrfach an der Spitze der deutschen Charts. Mit seinen Liedtexten und politischen Äußerungen löste er allerdings immer wieder Kontroversen aus, etwa, als er am Tag der Deutschen Einheit 2014 vor rechtspopulistischen Reichsbürgern sprach, die Deutschland nicht als souveränen Staat anerkennen. Noch am Samstag hatte sich der Konzertveranstalter Marek Lieberberg ("Rock am Ring") mit deutlichen Worten hinter Naidoo gestellt. Mit Blick auf die Vorwürfe gegen den Sänger meinte Lieberberg: "Ich bin zutiefst erschüttert über die unglaubliche Hetze, die widerliche Heuchelei und den blinden Hass, für die es keinerlei Berechtigung gibt!" Er habe in mehr als 20 Jahren nie das Gefühl gehabt, dass bei Naidoo "auch nur der Hauch eines antisemitischen, rassistischen, xenophobischen oder nationalistischen Sentiments existiert". (pg/tzi)
null
Der Eurovision Song Contest 2016 wird ohne den Sänger Xavier Naidoo auskommen müssen. Der Norddeutsche Rundfunk (NDR) hat seinen entsprechenden Vorschlag zurückgezogen.
"2015-11-21T14:11:00+01:00"
"2020-01-30T13:10:20.070000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/eurovision-song-contest-ard-zieht-xavier-naidoo-als-esc-100.html
92,016
"Ein Tempolimit ist überfällig"
Die Energiewende sei das weltweit beste Friedensprojekt, glaubt die Energieökonomin Claudia Kemfert vom DIW. Sie fordert einen schnellen Ausbau der Erneuerbaren Energien (IMAGO / Jürgen Heinrich) Ein Verzicht auf Kohle, Öl und Gas aus Russland sollte nach Meinung von Claudia Kemfert so schnell wie möglich erreicht werden, um eine weitere finanzielle Unterstützung Russlands zu verhindern. Alternativen zu russischen Energieimporten gebe es, sagte die Energieexpertin des DIW im Deutschlandfunk. Man könne diese Energieträger auch aus vielen anderen Ländern beziehen. Wichtig sei auch, Energie zu sparen. Das müsse von politischer Seite entsprechend kommuniziert werden. Besser als befürchtet, aber nicht ausreichend Das Entlastungspaket sei besser als befürchtet, aber nicht ausreichend, sagte Kemfert über die von der Bundesregierung beschlossenen Maßnahmen, mit denen Verbraucher von den hohen Energiepreisen entlastet werden sollen. Besonders positiv bewertet sie die Verbilligung des ÖPNV. Auch die Energiepreispauschale sei vom Grundkonzept her gut, wirke aber eher spät und schaffe nicht genügend Entlastung für Geringverdiener: "Da werden die Belastungen sehr viel höher sein." Dass Sozialleistungen und Familiengeld erhöht werden, begrüßte Kemfert. Allerdings würden auch hier die Belastungen von Geringverdienern deutlich höher als die beschlossenen Entlastungen werden. Gezielte Entlastungen von Geringverdienern beim Heizkostenzuschuss oder beim Mobilitätsgeld wären deutlich besser gewesen, so Kemfert. Senkung der Energiesteuer besser als Spritpreisbremse Die Senkung der Energiesteuer sei zwar besser als eine Spritpreisbremse, garantiere aber keine Senkung der Spritpreise. Aus Erfahrung wisse man, dass die Konzerne ihre Margen erhöhten und so Steuergelder in deren Taschen lande. Ein wirklich gutes Mittel, um Öl einzusparen, wären ein Tempolimit oder ein autofreier Sonntag gewesen, so Kemfert. Kohlekraftwerke müssten in der jetzigen Situation eventuell kurzfristig für die Versorgungssicherheit in die Reserve gegeben werden, glaubt Kemfert. Entscheidend sei jetzt, dass die erneuerbaren Energien schnell ausgebaut werden. Das müsse die dringende Antwort in der aktuellen Situation sein. Eine Verlängerung der Laufzeiten der verbliebenen deutschen Atomkraftwerke sei nicht sinnvoll, denn die produzierten Strom, aktuell gebraucht würden aber Lösungen für Wärme und Mobilität, so Kemfert. Sinnvoll seien jetzt daher energetische Sanierungen, Wärmepumpen und Elektromobilität. Das Interview in voller Länge Ehring:   Frau Kemfert, Ihr Rat ist momentan besonders gefragt, weil bei der Energieversorgung vieles anders wird durch den Krieg. Zunächst einmal, was bedeutet der Angriffskrieg mitten in Europa für Sie? Kemfert:   Ja, für mich bedeutet dieser Angriffskrieg auch erst mal einen Schock, wie für viele andere auch. Also, es ist einfach eine sehr ernste Situation, in der wir sind, die ich in meinem Leben auch noch nie so erlebt habe, wie viele von uns. Und aus Energiesicht ist das alles höchst dramatisch, was wir da erleben, es ist aber natürlich auch für die Menschen in der Ukraine alles ganz, ganz furchtbar. Und insofern fehlen einem da ja immer die Worte, finde ich, um das irgendwie richtig einzuordnen. Aber es ist alles furchtbar. Ehring:   Es ist in diesem Tagen auch viel die Rede von einer Zeitenwende, die der Krieg mit sich bringt. Ist das für Sie auch eine treffende Beschreibung? Kemfert:   Ja, ich finde schon, dass es eine treffende Beschreibung ist. Also, Zeitenwende ist völlig richtig – nichts ist mehr so wie vorher. Wir werden mit diesem Russland keine Geschäfte mehr machen können. Das ist ganz dramatisch, aber jetzt erst einmal so. Und für die Energieversorgung ist es eine komplette Zeitenwende, und es bedeutet eben, dass wir möglichst schnell wegkommen müssen von den fossilen Energien, weg von den Importen aus Russland. Und das kann nur gelingen, indem wir auf Erneuerbare Energien setzen, ganz viel Energie einsparen und auch alles dafür tun, dass das möglichst schnell passiert. Denn vielleicht sind ja nicht wir diejenigen, die das Öl, Kohle und Gas dort nicht mehr kaufen, sondern vielleicht ist es sogar Russland selber, die den Energiehahn abdrehen – und darauf müssen wir uns jetzt vorbereiten. Mehr zum Thema Energieversorgung Russland: Die Bedeutung von Gas für die deutsche Energieversorgung Energiewende: Wuppertal-Institut: „Gasheizung könnte schon 2035 Vergangenheit angehören“ Öl-Lieferant Russland: Was ein russisches Öl-Embargo für Deutschland bedeuten würde EVP-Fraktionschef Weber: "Bei Kohle und Öl den Geldhahn zudrehen" "So schnell wie möglich" auf russische Energieträger verzichten Ehring:   Prominente aus unterschiedlichen Bereichen rufen jetzt nach einem Verzicht auf Gas, Öl und Kohle aus Russland – von Wolfgang Ischinger, über Norbert Röttgen bis hin zu Charlotte Knobloch und dem Pianisten Igor Levit. Können und sollen wir Knall auf Fall darauf verzichten? Wir finanzieren damit den Krieg, aber auf der anderen Seite sagt Bundeswirtschafts- und Klimaminister, Robert Habeck, das geht nicht so schnell. Kemfert:   Es ist richtig, dass wir darauf verzichten sollen und das so schnell wie möglich. Und wir haben auch Alternativen. Und wenn ich den Wirtschaftsminister und auch das Ministerium da angucke, die machen ja sehr, sehr viel in der Richtung, dass sie Herumreisen und neue Verträge mit anderen Ländern machen. Also, auf der Angebotsseite uns einfach breiter aufstellen, aus vielen Ländern Gas, Öl und Kohle beziehen, das geht relativ schnell. Und wie man ja auch hört, hat das Ministerium da auch schon Erfolge vorzuweisen und wir können bis Ende des Jahres da schon auf Steinkohle und Öl verzichten, das geht also relativ schnell. Beim Gas ist es etwas komplizierter. Aber auch das ist möglich, und da wird ja auch einiges getan. Und da muss man eben sehr deutlich sagen, da muss es auch darum gehen, aus anderen Ländern Gas zu beziehen, aber vor allen Dingen sehr viel mehr zu tun, um Energie einzusparen. Und das ist tatsächlich kompliziert, aber machbar. Und für dieses Einsparmaßnahmen muss man gut kommunizieren, und da hoffe ich einfach, dass das gelingt. Also, in der Summe bin ich dafür zu verzichten, genau wie Herr Ischinger und Herr Röttgen, Herr Levit auch unterschrieben haben, finde ich es richtig, dass man den Apell tätigt. Weil, es kann nicht so weiter gehen, wir können nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, wir sollten so schnell wie möglich weg von den russischen Importen und deswegen alles dafür tun, dass das auch sehr schnell gelingt. Ehring:   So schnell wie möglich ist aber was anderes als sofort? Kemfert:   Sofort – also, natürlich können wir jetzt sehr schnell Verträge ändern, aber ich glaube, die Sorge ist eben auch beim Wirtschaftsministerium, dass man einerseits hier nicht in private Verträge eingreifen kann – also, das wäre etwas kompliziert –, aber zum anderen dann irgendwie die Sorge hat, dass wir nicht schnell genug andere Lieferanten finden, weil das muss irgendwie auch alles vorbereitet werden. Und es kann dann eben diese dann auch sehr abrupten Änderungen ergeben, die man dort offensichtlich fürchtet. Aber es wäre sinnvoll, so schnell wie möglich und am besten sofort, so schnell es auch die Energiewirtschaft kann, weil alles andere ist keine Zukunft. Und wir dürfen da auch wirklich nicht zögern und Putin und Russland da nicht weiter unterstützen. Wirtschafts- und Energieminister Robert Habeck im Dlf-Interview (2.3.2022) "Offensichtlich braucht Putin eine Stütze des Rubels" Ehring:   Wladimir Putin fordert jetzt, dass für Gas in Rubel bezahlt wird, und wenn wir das nicht tun, dann könnten schon innerhalb von einer Woche kein Gas mehr bekommen. Müssen wir uns darauf einlassen, und was bedeutet das? Kemfert:   Nein, wir sollten uns nicht darauf einlassen. Wir haben Verträge in der entsprechenden Währung und die sollten wir auch so weiterführen und entsprechend bezahlen. Also, offensichtlich braucht Putin eine Stütze des Rubels, sonst würde er das ja auch gar nicht so vorschlagen – also, die Sanktionen wirken da. Da sollten wir uns nicht drauf einlassen. Wir dürfen jetzt gar nichts tun, um Russland in irgendeiner Form noch zu schützen oder zu stärken, sondern sollten das tun, was wir vertraglich vereinbart haben. Und wenn dann der Gashahn wirklich zugedreht wird – das wird man noch mal sehen, weil rein technisch ist das gar nicht so einfach – also, selbst wenn Russland da jetzt anstreben würde, ‚wir drehen jetzt irgendwie den Gashahn nach Europa, nach Deutschland zu‘, müsste er ja das Gasfeld entweder schließen, das geht natürlich technisch nicht, er müsste es abfackeln, das wäre aus Klimasicht hochproblematisch, umleiten ist schwierig, die Speicher sind voll in Russland, es gibt keine anderen Pipelinerouten, die noch frei wären. Also, insofern ist dann auch noch die große Frage, wie sie es dann technisch umsetzen wollen. Also, ich würde da einfach das jetzt aussitzen, das ist ein Bluff, und auf den jetzt auch nicht eingehen. Ehring:   Noch mal zum Tempo des Ausstiegs, speziell aus russischem Gas. Wie schnell ist das machbar, ohne die Wirtschaft abzuwürgen? Oder sollten wir einfach sagen: Okay, die Solidarität im Krieg ist das größere Gut, selbst wenn es die Wirtschaft abwürgt? Kemfert:   Na ja, die Frage ist doch, wie wir das bewerkstelligen können, wenn es jetzt kein russisches Gas mehr gibt. Also, wir müssen ja auch die Situation uns vor Augen führen, wenn Russland selber jetzt eben kein Gas mehr nach Deutschland oder Europa liefert, darauf müssen wir uns ja auch vorbereiten. Also, wir können einen Teil der Gaslieferungen ... also, wir beziehen ja in Deutschland 55 Prozent des Gases, davon können wir einen großen Teil auch aus anderen Ländern beziehen. Wir sind jetzt über die Sommermonate, da wird ohnehin weniger Gas verbraucht. Dann können wir die Speicher sehr gut füllen und haben dann gegebenenfalls im Winter eine Deckungslücke. Und um diese Größenordnung geht es jetzt, die abzuschätzen. Das bedeutet aber, dass wir Gas einsparen müssen. Und das heißt nicht, dass wir ganz viel Gas einsparen müssen, sondern wir reden hier von Größenordnungen von zehn bis 15 Prozent des Gasverbrauches. Und das ist in der Tat die Industrie als erstes, die da dann entsprechend einen Abschaltplan hätte oder sich da auch bewerben kann, Entschädigungen zu bekommen. Aber wir können natürlich auch alle gemeinschaftlich mitwirken und die Heizung runterdrehen, alle die eine Gasheizung haben, und an so einem Energiesparprogramm mitwirken oder noch besser, über den Sommer entsprechend schon alles dafür tun, wenn es möglich ist, die Gasheizung auszuwechseln. Dann kommen wir schon in Größenordnungen, wo es dann eben nicht mehr so stark eine Beeinträchtigung gäbe. Also insofern kann man sich gut darauf vorbereiten und sollte sich auch so schnell wie möglich darauf vorbereiten. Entlastungspaket "besser als befürchtet, aber nicht ausreichend" Ehring:   Die Bundesregierung hat ein Entlastungspaket für die Bürgerinnen und Bürger geschnürt. Werden die richtigen entlastet, und reicht das? Kemfert:   Na ja, das Entlastungspakt ist besser als befürchtet, aber dennoch nicht ausreichend, würde ich sagen. Also, besonders positiv zu bewerten ist die Verbilligung des ÖPNV, also auch diese 9 Euro für 90 Tage. Diese Energiepreispauschale ist im Grundkonzept gut, wirkt aber eher spät, wird dann ja auch noch mit der Einkommenssteuer verrechnet und schafft dann nicht genügend Entlastung. Gerade für Geringverdiener, da werden die Belastungen sehr viel höher sein als das, was man da eben entschädigen will. Und es werden ja auch Sozialleistungen und auch das Familiengeld erhöht, das ist auch gut, dass man das macht, aber auch da werden die Belastungen gerade für Geringverdiener deutlich höher sein als jetzt diese hier vereinbarten Entlastungen. Und mehr zielgerichteter Entlastung, gerade für Geringverdiener wären deutlich besser gewesen und auch geeigneter, sowohl beim Heizkostenzuschuss als auch Mobilitätsgeld oder auch eine Erstattung dann eben von den Mobilitätskosten. Und dann ist eben gerade diese Spritpreisbremse, aber das ist ja jetzt eher eine Senkung der Energiesteuer geworden, das ist schon mal besser als eine Spritpreisbremse, aber dennoch ist es teuer und geht auch in die falsche Richtung, ist auch keine Garantie für wirklich in dieser Höhe sinkende Spritpreise. Weil wir einfach wissen aus der Empirie, aus der Vergangenheit, dass die Konzerne ihre Margen erhöhen und wir so dann eher das Steuergeld teilweise dann in die Taschen der Mineralölkonzerne geben. Das ist nicht wirklich optimal. Da hätte ich mir gewünscht – ein wirklich gutes Mittel, um auch Öl einzusparen, wäre ein Tempolimit, das ist überfällig, oder auch eine Einführung des autofreien Sonntags, auch das wäre der Situation angemessen. Also, alle Energiesparprogramme, auch mit der aufrüttelnden Botschaft: ‚Bitte lasst uns das gemeinschaftlich angehen‘, da wäre mir sehr viel wohler mit, als jetzt so zu suggerieren: ‚Na ja, wir geben euch ein bisschen an dieser und anderer Stelle und alles geht dann so weiter wie bisher‘. Wir sind einfach in einer sehr schwierigen Situation und da würde ich mir wünschen, dass man da eher dann auch aufrüttelt oder einen Appell an die Gemeinschaft richtet, dass wir dann da auch geschlossen mehr Energie einsparen, zumindest die, die es können. Mehr zum Thema Entlastungspaket Wirtschaftsweise Grimm: "Das Entlastungspaket ist jetzt angezeigt" Wir Deutschland kurzfristig auf die steigenden Energiepreise reagiert Kohlekraftwerke mehr laufen zu lassen, "ist nicht sinnvoll" Ehring:   Frau Kemfert, Kohle statt Gas, das heißt, mehr CO2-Emmissionen pro Kilowattstunde. Muss jetzt der Klimaschutz wieder zurückstehen? Kemfert:   Nein, das muss er nicht, das sollte er auch nicht. Also, was hier ja gemeint ist, dass wir jetzt vielleicht kurzfristig einige Kohlekraftwerke noch in die Reserve geben müssen, um Versorgungssicherheit auch an allen Stellen zu garantieren. Das heißt aber nicht, dass die Kohlekraftwerke jetzt automatisch mehr laufen müssen, wie manche ja auch vorschlagen. Das ist nicht sinnvoll. Wir sollten stattdessen sehr viel schneller die Erneuerbaren Energien ausbauen. Je schneller wir da vorwärtskommen, je schneller wir auch einen Booster starten für einen Ausbau der Windenergie, für Solarpflicht auf den Dächern, für den Umbau hin zu mehr Flexibilität auch in der Kopplung mit Elektromobilität und Wärmepumpen von Gebäuden, desto besser, desto weniger Kohle müssen wir irgendwo noch einsetzen, weder in der Industrie noch in der Stromerzeugung oder Wärmeerzeugung. Also, das muss die dringende Antwort sein, hier die Flächen auszuweisen für die Windenergie, in jedem Bundesland zwei Prozent, die Genehmigungsverfahren zu erleichtern, die finanziellen Beteiligungsmöglichkeiten für die Kommunen zu verbessern, das ist in der Tat das A und O. Und da brauchen wir ganz viel Ambitionen und ganz viele Schritte, dass das sehr viel schneller gelingt. "Ungenügende Flächen" für Windenergie ausgewiesen, Genehmigungen zu kompliziert Ehring:   Wie kann es schneller gelingen, mehr Windräder zu bauchen? Wie können wir dafür sorgen, dass die Windkraft und die Photovoltaik schneller zu Lösung wird? Und was bremst sie derzeit noch? Kemfert:   Ja, es sind verschiedene Komponenten, die das derzeit noch bremsen. Das eine ist, dass ungenügende Flächen ausgewiesen werden. Wir wollen eigentlich zwei Prozent auf Bundesebene an Flächen für Windenergie haben, sind aber irgendwie bei 0,8 oder sogar noch darunter. Und das reicht natürlich nicht. Wir haben pauschale Abstandsregeln für Windenergie in Bayern und Nordrhein-Westfalen, die sind völlig kontraproduktiv, die sollte man sofort abschaffen, um dann eben auch die ausreichenden Flächen zu haben. Das ist das eine. Das zweite ist, dass die Genehmigungsverfahren erleichtert werden müssten, die sind zu kompliziert, und auch die Behörden und Kommunen, die das da genehmigen, dass denen auch geholfen wird mit Personal, welches man denen zur Verfügung stellt oder auch kurzfristig einspringt, um da eben schneller zu werden, auch bei diesem Prozess. Es gibt ja auch durchaus Genehmigungsverfahren, die sind schon relativ weit fortgeschritten. Hier könnte man sagen jetzt sofort, die geben wir sofort frei, und dann würde man auch schneller werden. Und auch jetzt kurzfristig, also, die Erneuerung von Windanlagen auch, kurzfristig könnte man auch anstelle jetzt, dass man das EEG, also das Förderinstrument, was man derzeit hat – kompliziert gestaltet und steuerfinanziert macht, das muss da über die EU genehmigt werden –, da könnte man jetzt so eine Zwischenlösung machen, so ein EEG-2.0, wo man sagt, da geht man jetzt nicht über die europäische Behörde, sondern macht es da wie früher, als eben direkte Beihilfe und fördert die Anlagen dann auch dementsprechend. Wir brauchen ja nicht nur Wind und Solar, sondern auch andere Formen, wie Biomasse und Wasserkraft in der Summe. Also, wir brauchen jetzt alles sehr, sehr schnell. Also, da gibt es verschiedene Komponenten, Fachkräfte müssten ausgebildet werden, damit wir auch die Solaranlagen auf möglichst viele Dächer bekommen. Es fehlen Fachkräfte, und die Ausbildung und Bildung und Umschulung sind hier extrem wichtig. Die Solarproduktion wieder nach Deutschland und Europa zu holen, wäre sehr, sehr wichtig, um nicht die nächste Abhängigkeit zu haben, mit China beispielsweise, wenn es da jetzt zu Schwierigkeiten kommen sollte. Das erleben wir ja derzeit schon mit möglichen Lieferengpässen. Also, da gibt es eine lange Liste, und da würde ich mir wünschen, dass die Bundesregierung da entsprechend Priorität setzt und auch sehr viel schneller wird und diesen Katalog ganz, ganz schnell in den nächsten Wochen einsetzt, abarbeitet, damit wir da gerade über den Sommer ganz, ganz schnell vorwärtskommen. Hinderliche Abwärtsspirale bei Windenergie-Ausschreibungen Ehring:   Die Erneuerbaren Energien wurden bisher stark ausgebremst. Wer bremst, und warum hatten die Bremser bisher so viel Erfolg? Kemfert:   Ja, es sind die Bremser, die einerseits in der Vergangenheit das Fördermodell geändert haben. Also, wir sind ja mal mit Einspeisevergütung gestartet, dann auf Ausschreibung umgeschwenkt, um angeblich Kosten zu senken – das ist gar nicht so, das haben wir auch in Studien festgestellt. Was aber da passiert ist, das ist eben, dass man die Mengen ausschreibt und damit eben eine Mengenregulierung hat, und das wollte man offensichtlich auch als Steuerungsinstrument haben. Und jetzt schreibt man zu geringe Mengen aus, hat auch noch eine sogenannte Abwärtsspirale, gerade bei der Windenergie eingebaut. Sprich, wenn man weniger Gebote hat, sinkt auch noch die Ausschreibungsmenge. Die müsste sich aber eigentlich erhöhen. Das ist so das eine. Das andere sind die finanziellen Beteiligungsmöglichkeiten, die sind nicht optimal und häufig fehlen eben auch die Flächen. Gerade bei der Windenergie, wenn einzelne Bundesländer da pauschale Abstandsregelungen haben, wie Bayern und Nordrhein-Westfalen, ist das schädlich. Und die Genehmigungsverfahren sind tatsächlich zu kompliziert. Da hat man in der Vergangenheit in der Summe einfach gebremst, eben mit vielen kleinen Steinchen, die man da immer ins Getriebe geschmissen hat. Und in der Summe kommt es dann komplett zum Stocken. Da muss man dringend gegensteuern. Auch bei der Solarenergie macht man es jetzt ja mehr und mehr, aber wir brauchen Solarenergie auf möglichst allen Dächern und das so schnell wie möglich. Das ist die einzige Freiheitsenergie – das haben wir ja gelernt –, die es gibt – gesicherte Freiheit und Frieden – und deswegen muss man da auch schneller werden und alles dafür tun, damit das passiert und diese Bremsen dann auch wirklich gelockert werden und wir schnell vorwärtskommen. "Wir können uns nicht auf CO2-Preis allein verlassen" Ehring:   Bei Ökonomen ist immer ein Lieblingsthema der Preis. Drängt der CO2-Preis, der ja sehr stark gestiegen ist in der letzten Zeit, die Fossilen nicht von selber vom Markt? Kemfert:   Ja, also der CO2-Preis, den Sie hier ansprechen, ist der europäische CO2-Preis, der im Handel dort sehr stark nach oben gegangen ist. Der wirkt auch schon in der Tat durch diese starken Steigerungen so, dass eher Kohlekraftwerke dann unwirtschaftlicher werden. Allerdings, jetzt haben wir ja diese schreckliche Krise in Europa und damit steigen auch die Preise für Kohle und Gas massiv an, und das bedeutet in der Tat, dass wir dann eher wieder entsprechend eine zusätzliche Komponente haben, die dann beide auch dann unwirtschaftlicher macht. Und in der Summe führt das tatsächlich dazu, dass dann weniger von den fossilen Energien eingesetzt würden. Das ist richtig, aber dann wirkt aber jetzt der CO2-Preis nicht entscheidend, der ja auch schon wieder in jüngster Zeit gesunken ist. Also, wir können uns nicht auf diesen CO2-Preis allein verlassen, um eben Erneuerbare Energien zuzubauen, gerade wenn der Markt eben noch so stark verzerrt ist und wir nicht freie Wettbewerbsbedingungen haben und wir auch noch nicht in einem System sind, wo wir dann entsprechend so viele Erneuerbare Energien haben, als dass wir da das alles über den CO2-Preis steuern könnten. Zumal das ja jetzt nur für Strom gilt. Bei Wärme und Verkehr haben wir jetzt ein neues Instrument geschaffen, welches jetzt erst einmal für diese beiden Komponenten gilt und als nationaler Emissionshandel eingeführt wurde – da soll ja angekoppelt werden dann an den europäischen Markt. Und da ist man ja bei den Preisen sehr viel niedriger, das sind ja 25, jetzt aktuell 30 Euro pro Tonne CO2, 7 Cent pro Liter. Wir haben im Moment ja Preisaufschläge durch die Krise, gerade bei Benzin und Diesel, die wir auch stark diskutieren. Das geht ja eher in die Richtung, wo man so 180 oder 200 Euro pro Tonne CO2 hat, die stellenweise ja aufgetreten sind mit Preissteigerungen von 40 bis 50 Prozent pro Liter, nur durch eben die Ölpreis- und Benzinpreisanstiege. Und das hätten wir politisch ja niemals durchsetzen können. Man sieht ja auch, wie stark die Verwerfungen sind und wie die Diskussion dann läuft. Also, da kann man eben über den CO2-Preis schon flankierend Möglichkeiten schaffen, das in Richtung Klimaschutz damit zu gestalten, aber nur als ein flankierendes Instrument. In allen Sektoren brauchen wir weitere Instrumente, sei es Ausbau Erneuerbare Energien, Energiesparen, Förderung der Elektromobilität, Verkehrswende mit mehr Schienenverkehr. Also, da ist eine breite Liste an Maßnahmen notwendig, aber der CO2-Preis ist da ein flankierendes Instrument. Atomausstieg sollte man nicht aufschieben Ehring:   Aus der Union kommt jetzt auch die Forderung, den Atomausstieg aufzuschieben. Markus Söder von der CSU setzt sich zum Beispiel dafür ein, und das wäre ja auch eine halbwegs CO2-neutrale Möglichkeit. Muss der Ausstieg modifiziert oder aufgeschoben werden? Kemfert:   Nein, also das sollte man nicht tun. Gerade vor dem Hintergrund, wir produzieren sechs Prozent des Stroms mit drei Atomkraftwerken, die auch im Rückbau sind und auch in der Phase sind – also, noch nicht im direkten Rückbau, also, sie sind noch am Netz –, aber in der Phase sind, dass sie auch vom Netz gehen und das sollte man auch nicht rückgängig machen. Wir brauchen es gar nicht, weil die produzieren ja nur Strom. In der jetzigen Lage brauchen wir Lösungen für Wärme und Verkehr. Also, wir brauchen energetische Sanierung, wir brauchen Wärmepumpen, wir brauchen Elektromobilität, wir brauchen Schienenverkehr. Und da nutzt jetzt die Atomenergie an der Stelle erstmal wenige, zumal wir den Anteil von den sechs Prozent Strom problemlos mit Erneuerbaren Energien herstellen können. Und da ist mein dringender Appell an Herrn Söder, dass er die Windenergie in Bayern endlich ausbaut, dass jetzt auch die Abstandsregelungen komplett gestrichen werden und er schön vielen Anlagen erstmal Flächen ausweist und Anlagen zubaut, dann braucht er diese Atomkraftwerke nicht, die dann ja auch noch teuer sind. Es gibt kein Endlager, und die Energie ist ja alles andere als preiswert. Ehring:   Die Bundesregierung ist jetzt seit 100 Tagen im Amt und der für Klima und Wirtschaft zuständige Minister, Robert Habeck, fordert das Tempo beim Ausbau der Erneuerbaren sehr stark zu erhöhen. Kommen wir damit auf den 1,5-Grad-Pfad? Kemfert:   Nein, damit kommen wir nicht auf den 1,5-Grad-Pfad, selbst mit diesem jetzigen beschleunigten Ausbauprogramm, dazu müsste es noch beschleunigter werden. Und das wäre in der aktuellen Situation ohnehin angemessen, weil jetzt müssen wir sehr schnell werden, weil wir sehr schnell auch auf russisches Gas und Öl und Kohle verzichten müssen und auch werden. Und deswegen ist es aus der Situation heraus schon geboten, da eben auch einen beschleunigten Ausbau zu gestalten, und die Ausbaumengen für Erneuerbare Energien müssen mindestens vervierfacht werden, um auf diesen 1,5-Grad-Pfad zu kommen. Und das passiert ja derzeit nicht. Also, da muss eine Schippe drauf gelegt werden, plus eben auch mein dringender Wunsch, dass die Bundesregierung mehr tut, um Energie einzusparen. Das sind wirklich „low hanging fruits“, so sagen wir das, also, niedrig hängende Früchte. Das Energiesparen ist zentral, in der Kombination mit dem Ausbau der Erneuerbaren Energien. Ehring:   Kommen wir noch zur internationalen Dimension. China legt Klimaschutz im Schneckentempo vor, Russland wird jetzt ganz ausgeschlossen oder zieht sich selbst zurück aus allen Bemühungen und in den USA läuft es auch nicht so rund, wie man das vor Kurzem noch gedacht hat. Wie sehen Sie da die Perspektive? Kemfert:   Na ja, also China ist ja auch sehr ambivalent. Also, auf der einen Seite ist es richtig, haben die auch einen enormen Hunger nach allen möglichen Energien, auch fossilen, aber investieren auch weltweit am meisten in Erneuerbaren Energien und in Elektromobilität und die Wirtschaftsinteressen sind da groß. Und wenn Europa jetzt umsteuert und auch den Green Deal im Zeitraffer macht, wird China seine Marktchancen heben, bin ich mir ziemlich sicher, um dann auch den Markt für Erneuerbare Energien und Elektromobilität mit zu bedienen. Und da sehe ich eher Hoffnung, dass das jetzt über diese Schiene geht. Ähnlich in den USA, aber da wird man sehen, wie es politisch dort auch weiter geht – da passiert ja jetzt aktuell schon einiges. Also, mit der jetzigen Regierung wird da ja, zwar nicht genug, aber doch einiges angeschoben. Und auch dort – gut – gibt es jetzt eben mehr Förderung von Öl und Gas, Fracking-Gas auch noch, welches wir dann hier importieren werden. Das ist natürlich aus Klima- und Umweltsicht keine gute Entwicklung, deswegen muss es – wir importieren ja – die Antwort sein, das nicht mehr zu tun, sondern eben auf Erneuerbare Energien und Energiesparen umzustellen. Also, da wäre es wichtig, dass man eben dann solche Länder dann auch über die Wirtschaftsentwicklung sehr stärker mit einbindet und gemeinschaftlich dann umsteigt. Und wenn Europa das gelingt – das hoffe ich einfach, dass das passiert –, da ist man dann eher bei China und den USA auf der Seite der wirtschaftlichen – ja – Entwicklung und auch der Chancen, die dort gesehen werden, da mit zu gehen. Bei Russland ist natürlich das im Moment alles weg, also das wird auch jetzt erstmal nicht wiederkommen, auch in solchen Punkten nicht – das ist hochdramatisch aus vielerlei Hinsicht. Und da kann man einfach nur hoffen, dass es sich zum Besseren wendet. "Energiewende ist das beste Friedensprojekt, das wir weltweit haben" Ehring:   Kann die Energiepolitik einen Beitrag dazu leisten, auch den Krieg Russlands gegen die Ukraine zu beenden? Und wenn ja, welchen? Kemfert:   Na ja, die Energiewende kann dazu beitragen, dass wir weniger oder gar keine fossilen Energien mehr aus Russland mehr kaufen. Das sollten wir auch tun, dass wir eben gar kein Öl, gar keine Kohle und gar kein Gas mehr von dort kaufen. Wir werden aus anderen Ländern noch kaufen, aber je schneller wir eben umsteigen in Richtung Energiewende – und Energiewende heißt wirklich Erneuerbare Energien und Energiesparen –, desto besser. Aber was de facto stattfinden wird, ist – das wird jetzt auch sehr schnell gehen –, dass man eben kein Geld mehr nach Russland überweist und auch deswegen – Russland ist sehr stark angewiesen auf die Einnahmen fossiler Energien – wird es wirtschaftlich isoliert werden. Man hat dort dicke Finanzpuffer, auch gut gefüllte Kriegskassen, die können da lange noch durchhalten, aber irgendwann wird dort auch eine erhebliche wirtschaftliche Rezession und wirtschaftliche negative Entwicklung eintreten. Und das ist ein wichtiger Schritt in Richtung Frieden. Erneuerbare Energien sind Friedensenergien, Erneuerbare Energien, die Energiewende ist das beste Friedensprojekt, das wir weltweit haben. Wir müssen raus aus diesem fossilen Energiekrieg. Das ist nicht der erste und auch nicht der einzige, der weltweit überall stattfindet, jetzt sind wir mittendrin und das ist die einzige Antwort, die wir weltweit haben und die sollten wir schnell umsetzen. Und je schneller uns das gelingt, desto besser. Und dann kann man nur hoffen, dass dann auch sehr schnell dieser furchtbare Krieg beendet wird. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Claudia Kemfert im Gespräch mit Georg Ehring
Die Energieversorgung erlebe derzeit eine komplette Zeitenwende, sagte Claudia Kemfert, Energieexpertin des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), im Dlf. Man müsse schnell wegkommen von fossilen Energien und Importen aus Russland. Gelingen könne das nur durch den Ausbau erneuerbarer Energien und durch Energieeinsparungen.
"2022-03-27T11:05:00+02:00"
"2022-03-26T08:07:27.251000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/energieexpertin-claudia-kemfert-102.html
92,017
Speichern als technologischer Schlüssel
Es gibt in Deutschland heute große Stromspeicher, aber die wirkliche Herausforderung steht erst noch bevor. Denn heute wird in Deutschland knapp 15 Prozent des Stroms durch kaum steuerbare Quellen wie Sonne und Wind erzeugt. Der Bedarf, plötzlich überschüssigen Strom zu speichern, ist heute gering. Bis 2020 soll aber mehr als doppelt so viel Strom wie heute aus erneuerbaren Quellen gewonnen werden. Dann ist der Speicherbedarf enorm, sagt Dirk Uwe Sauer, von der Technischen Hochschule in Aachen:"Wir haben heute streckenweise im Versorgungsgebiet Ost der Vattenfall, wo immerhin 17 Millionen Menschen leben, teilweise mehr Einspeisung aus Windkraft als tatsächlich überhaupt verbraucht wird. Das heißt, alle anderen Kraftwerke in diesem Bereich müssen im Prinzip runtergefahren werden. Dann kann man noch gucken, was man über die Grenzen verkaufen kann. Das geht im Moment noch, weil Polen und Frankreich noch nicht so weit ausgebaut sind in der Windkraft wie wir. Aber auch das ändert sich in den nächsten Jahren massiv. Das heißt, wir sehen, dass diese Problematik kommt, deswegen haben wir heute kaum diese Speicher, aber sie müssen kommen."Heute wird überschüssiger Strom vor allem in Pumpspeichern aufbewahrt: "Was heute im Netz verwendet wird, sind die klassischen Pumpspeicherkraftwerke, das heißt man hat einen See, der auf einem tiefen Niveau liegt und einen See, der auf einem hohen Niveau liegt, auf einem Berg mit mehreren Hundert Meter Höhendifferenz, und man pumpt das Wasser hoch, wenn man zu viel Strom hat und lässt es wieder runter laufen, durch die Turbinen und erzeugt dadurch Strom, wenn man den Bedarf im Netz hat. Damit regulieren wir heute unser Netz."Doch solche Seen sind rar in Deutschland. Pumpspeicher können hierzulande eigentlich nicht mehr gebaut werden. Eine andere Speichertechnologie sind Druckluftspeicher. Luft wird mit hohem Druck in Salzstöcke gepresst und bei Bedarf durch Turbinen wieder nach oben gelassen. Problem: Man braucht sehr viel Platz, um relativ wenig Energie zu speichern. Sehr viel mehr Strom pro Kubikmeter lässt sich speichern, wenn man mit dem überflüssigen Strom Wasser in Sauerstoff und Wasserstoff spaltet und den Wasserstoff ebenfalls unter der Erde lagert, sagte Hubert Landiner von der Ludwig Bölkow Systemtechnik GmbH:. "Die Speicherkapazität von Wasserstoff ist um das Millionenfache höher als bei Pumpwasser- und Druckluftspeichern, zu vergleichbaren Preisen. Aber die Effizienz der Wasserstoffspeicher unter der Erde ist sehr gering. Fast 60 Prozent der Energie gehen beim Speicherprozess verloren."Mit welcher Technik auch immer - Stromspeicher werden den Strompreis nach oben treiben, sagen Wissenschaftler und suchen daher einen anderen Weg: Wenn wir keine perfekten Stromspeicher haben, müssen wir eben dafür sorgen, dass möglichst wenig Strom zu speichern ist. Wenn schon das Stromangebot durch Sonne und Wind nicht zu kontrollieren ist, müssen wir wenigsten die Stromnachfrage an dieses Angebot anpassen: Intelligente Waschmaschinen und Kühlschränke laufen dann, wenn viel Strom im Netz ist. Den Stromverbrauch flexibel an das in Zukunft stark schwankende Angebot anpassen - hier wird ein völlig neuer, dezentraler, aber sehr leistungsfähiger Stromspeicher eine wichtige Rolle spielen: das Elektroauto. Die Bundesregierung will ja Stromautos massiv fördern. Forscher gehen daher fest davon aus, dass in einigen Jahren überschüssiger Strom – zumindest kurzfristig – in Millionen von batteriegetriebenen Autos gespeichert werden kann:"Das heißt, wir wollen diese Batterien nachladen, wenn es aus Netz-Sicht gerade besonders effizient ist, wenn da Überschüsse bestehen. Und hier kommen sehr, sehr große Potentiale auf uns zu. Und das ist sehr viel effizienter als irgendwo einen großen Speicher, über die wir eben gesprochen haben, zu errichten. Denn hier wird der Strom direkt in den Speicher der Anwendung eingespeist und kann dann direkt gewinnbringend hinten raus genutzt werden."Dirk Uwe Sauer von der Technischen Hochschule in Aachen geht davon aus: vier Millionen Elektroautos könnten den Bedarf an kurzfristigem Stromspeicher fast völlig befriedigen. 2020 könnte das so weit sein. Wenn aber 4, 5 Tage mal kein Wind weht, werde man an Wasserstoff- oder Pumpspeichern nicht vorbei kommen.
Von Philip Banse
Das Hauptproblem beim Nutzen erneuerbarer Energien ist, dass Wind und Sonne in unseren Breiten ganz ungleichmäßig über das Jahr verteilt sind. In Ostdeutschland zum Beispiel wird an manchen Tagen mehr Strom durch Wind produziert, als man dort insgesamt verbraucht. Die Stromkonzerne suchen schon lange nach Wegen, alternative Energien zu speichern.
"2008-11-25T11:35:00+01:00"
"2020-02-04T13:50:32.728000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/speichern-als-technologischer-schluessel-100.html
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Kinderpornografie oder harmloser Schnappschuss?
Ein bayerischer Kriminalbeamter wertet kinderpornografische Bilder aus dem Internet aus. (picture alliance / dpa / Peter Kneffel) Drei Jahre, statt bisher nur zwei. Das ist das geplante maximale Strafmaß für den Besitz von Kinderpornografie. Darunter fallen, neben eindeutigen Darstellungen sexueller Handlungen, künftig auch sogenannte Posing-Bilder. Zum Beispiel das Bild von der Wasserrutsche im Freibad: Da rutscht die Kleine mit leicht gespreizten Beinen. Möglicherweise ein Posing-Bild, da geschlechtsbetont, und damit in Zukunft ein Grenzfall. Die Aufnahmen vom Kindergeburtstag, an dem alle im Garten halb nackt durch den Wasserstrahl laufen. Illegal als solches, weil Kinder nackt abgelichtet werden. Und zusätzlich strafbar, wenn die Zustimmung der jeweiligen Eltern fehlt. Die Fotos vom Strand, auf denen sich die eigenen mit fremden Kindern im Schlamm suhlen. Künftig potenziell strafbar. Erst recht wenn die Bilder zum Beispiel über das Internet weiterverbreitet werden. Facebook ist da unproblematischer als einschlägige Chatrooms und Tauschbörsen. Künftig wird es also viele Aufnahmen geben, die sich im Grenzbereich zur Illegalität befinden. Welche Bilder aber genau gelten als geschlechtsbetont und damit als strafbar? Und welche sind strafbar, obwohl sie nicht geschlechtsbetont sind, sondern lediglich ein nacktes Kind zeigen? Das sollen die Gerichte künftig im Einzelfall entscheiden. Allerdings werden solche Taten nur auf Antrag verfolgt – wie zum Beispiel Beleidigung auch. Also: Wo kein Kläger, da kein Richter.
Von Leonard Ameln
Neben eindeutig sexuellen Aufnahmen von Kindern soll künftig auch der Besitz sogenannter Posing-Bilder bestraft werden. Doch wann handelt es sich um ein Posing-Bild, wann um eine harmlose Aufnahme? Das müssen Gerichte künftig im Einzelfall entscheiden.
"2014-09-24T05:05:00+02:00"
"2020-01-31T14:05:08.423000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/gesetzesverschaerfung-kinderpornografie-oder-harmloser-100.html
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Antarktis schmilzt doch
Der neue Fachartikel ist Abschluss eines Mammut-Projektes. Zwei Forscher koordinierten das ganze Unternehmen. Einer der beiden ist Andrew Shephard von der Universität Leeds in England:"An unserer Studie waren 47 Wissenschaftler aus 26 verschiedenen Labors beteiligt. Wir haben Daten von zehn verschiedenen Satelliten-Missionen zur Beobachtung der polaren Eisschilde ausgewertet. Zusammen ergab das mehr als 50, sich überlappende Beobachtungsjahre."Laut Shephard beendet die Studie 20 Jahre der Unsicherheit darüber, wie sich die großen polaren Eisschilde im Zuge der Klimaerwärmung verhalten:"Wir können jetzt mit viel größerer Sicherheit sagen: Beide verlieren Eis! Grönland und auch die Antarktis. Seit 1992 hat das Schmelzwasser den Meeresspiegel um elf Millimeter erhöht. Das ist ein Fünftel des gesamten Anstiegs, der in dieser Zeit beobachtet wurde."Der Meeresspiegel steigt vor allem deshalb, weil sich Wasser ausdehnt, wenn es sich erwärmt. Hinzu kommt dann noch das Gletscher-Schmelzwasser. Daß der Eisschild auf Grönland abschmilzt, ist schon lange klar. Darin stimmten alle Studien überein. Kein einheitliches Bild gab es dagegen für die Antarktis. Im Westen ist ihr Eispanzer zwar eindeutig geschrumpft. Doch die viel größere Ost-Antarktis schien sogar zu wachsen, durch zunehmende Schneefälle. Das stimmt auch! Doch nun ist offenbar klar: Der Eisverlust im Westen überwiegt den Zuwachs im Osten deutlich. Netto verlor die Antarktis demnach seit 1992 70 Milliarden Tonnen Eis pro Jahr. Und Grönland etwas mehr als das Doppelte. Wobei sich die Gletscherschmelze dort beschleunigt. Erik Ivins von der US-Raumfahrtbehörde Nasa, der zweite Koordinator der neuen Studie:"Grönland verliert heute fünfmal so schnell Eis wie Anfang der 90er Jahre. In der Antarktis dagegen blieb die Verlustrate mehr oder weniger stabil."Es gibt zwei Methoden, um die polaren Eiskappen aus dem All zu vermessen. Für die eine nutzt man Laser-Licht oder Radarwellen. Satelliteninstrumente schicken sie zur Erde, die Eisoberfläche reflektiert sie. Das andere sind Schwerefeld-Messungen. Sie werden seit 2003 von einem Satelliten-Paar namens Grace durchgeführt. Die Bordinstrumente reagieren auf kleinste Variationen der Anziehungskraft, wenn es Massenveränderungen am Erdboden gibt. Die Ergebnisse der beiden Verfahren waren bisher nicht recht unter einen Hut zu bringen. Das lag an Problemen mit den Grace-Daten ..."Es gibt ein Phänomen, das nennt sich nacheiszeitlicher Rückprall. Noch heute entspannt sich die Erdkruste von der Last des Eispanzers aus der letzten Eiszeit. Diese Aufwärtsbewegung kann bis zu einem Zentimeter pro Jahr betragen. Es sind Massenveränderungen, die die Grace-Satelliten miterfassen und ihre Messungen verfälschen. Wir haben jetzt die Ortungsdaten von GPS-Empfangsstationen in der Antarktis herangezogen. Sie zeigen die Aufwärtsbewegungen des Bodens millimetergenau. Dadurch konnten wir diese Prozesse besser modellieren. Und die Schwerefeld-Messungen stimmen nun viel besser mit den anderen Satelliten-Messverfahren überein."Die neue Studie ist ein Rückblick auf die letzten 20 Jahre. Schlüsse für die Zukunft könne man daraus leider nicht ziehen, bedauert Ian Joughin, Polarforscher an der Universität von Washington in Seattle:"Diese Studie erlaubt uns keine Vorhersage über den künftigen Beitrag der Polkappen zum Meeresspiegelanstieg. Dafür brauchen wir nicht nur kontinuierliche Beobachtungen, sondern auch eine ganz neue Klasse von Computermodellen, die das Verhalten der Eisschilde realistisch simulieren."Der Meeresspiegel bleibt auf jeden Fall ein heißes Eisen. In den letzten 20 Jahren sei er schneller angestiegen als nach den Projektionen des Welt-Klimarats, heißt es in einer anderen neuen Studie. An ihr war auch der Potsdamer Klimaforscher Stefan Rahmstorf beteiligt. Sein Fazit: Der Welt-Klimarat sei keineswegs alarmistisch, wie mitunter behauptet wird. Vielmehr habe er, wie in diesem Fall, Klimarisiken sogar unterschätzt.
Von Volker Mrasek
Das Verhalten der beiden gewaltigen Eiskappen an den Polen der Erde ist eine große Unbekannte im Klimaspiel. Während die Forscher übereinstimmend konstatieren, dass Grönland abschmilzt, war man sich im Fall der Antarktis uneins. Eine große Zusammenschau aller verfügbaren Daten zeigt jetzt: Auch in der Antarktis überwiegt der Gletscherschwund im Westen den Zugewinn an Eis im Osten.
"2012-11-30T16:35:00+01:00"
"2020-02-02T14:35:44.929000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/antarktis-schmilzt-doch-100.html
92,020
Streit um Kompetenzen und Verhältnismäßigkeit
Dieselqualm strömt aus einem Auspuff: Die Stickoxid-Emissionen älterer Dieselmotoren sind Grund für die Forderungen nach Fahrverboten von Dieselfahrzeugen in mehreren deutschen Städten (Imago) Es sind wohl einige, die sich mit einem ungewissen Gefühl aus Düsseldorf oder Stuttgart auf dem Weg zum Bundesverwaltungsgericht machen. Heinrich Bottermann, Staatssekretär im Umweltministerium im verklagten Bundesland Nordrhein-Westfalen, versucht der Situation doch noch etwas Positives abzugewinnen und hofft auf ein Ende der Hängepartie. "Wir hoffen, dass morgen eine Klärung der Rechtslage herbeigeführt wird und dann können wir auch mit der Entscheidung umgehen. Und die in unsere weitere Planung einbeziehen." Im Kern geht es um die Frage, ob Städte und Länder heute schon genügend Kompetenzen haben, um Fahrverbote für Diesel-Fahrzeuge zu erlassen, um die Stickoxid-Grenzwerte einzuhalten. Die klagende Deutsche Umwelthilfe sagt ja, die Städte sagen nein und verweisen auf den Bund, der müsse vorher aktiv werden. Außerdem gibt es Streit über die Verhältnismäßigkeit. Konkret: Wie viel darf der Staat seinen Bürgern aufbürden, um für saubere Luft zu sorgen? Darf er die Nutzung von legal zugelassenen Autos einschränken? Eigentum mindern? Hier gehen die Meinungen weit auseinander. Deutsche Umwelthilfe erwartet Fahrverbote Remo Klinger, Rechtsanwalt der Deutschen Umwelthilfe, die gegen Düsseldorf und Stuttgart geklagt hat, findet, dass jetzt mal Schluss sein muss mit den Ausreden, die Stickoxid-Grenzwerte gälten schließlich seit 2010: "Also ich gehe optimistisch in den Termin, weil der Gesundheitsschutz mit den höchsten Stellenwert in der Verfassung hat, das ist Art. 2 GG. Der Staat hat die Aufgabe, die Gesundheit der Bürger zu schützen. Die Grenzwerte für Stickstoffdioxid gelten seit dem Jahr 2010 und damit seit acht Jahren." Eingriff ins Eigentum Heinrich Bottermann, als Umweltstaatssekretär mitverantwortlich für den Düsseldorfer Luftreinhalteplan sieht das ganz anders, denn Fahrverbote greifen ins Eigentum ein: "Das heißt, ich verbiete jemandem, sein zugelassenes Auto auf einer zugelassenen Straße zu bewegen. Und da hat das Grundrecht hohe Hürden vorgesetzt. Und wir müssen dieses in einer Ermessensentscheidung abwägen, ob wir das dürfen. Und nach unserer Auffassung geben die landesrechtlichen Regelungen ein solches Verbot nicht her." Nicht von heute auf morgen - aber mit Signalwirkung Wenn Leipzig im Sinne der Vorinstanzen urteilt, die der DUH recht gegeben hatten, dann müssten die Luftreinhaltepläne von Düsseldorf und Stuttgart aktualisiert - und um Fahrverbote für Diesel-PKW ergänzt werden. Das könnte mehrere Monate dauern. Von heute auf morgen kommen Fahrverbote nicht. Dicke Luft über dem Stuttgarter Kessel. (imago / Arnulf Hettrich) Edgar Neumann, Pressesprecher des Umweltministeriums in Stuttgart weist aber auf die Signalwirkung hin, die weit über Stuttgart und Düsseldorf hinausgehen könnte. "Das heißt, überall dort, wo man die Grenzwerte nicht einhält, muss man sich nach dem Leipziger Urteil sehr schnell Gedanken machen, wie man es hinkriegt." Das könnte unter anderem München, Darmstadt und Köln betreffen. Schwere Aufgabe für die Städte Auf die Städte könnten harte Entscheidungen zukommen, denn sie müssten Fahrverbote ausweisen und durchsetzen. "Das gibt Staus von Stuttgart bis Heilbronn", stöhnte der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg Winfried Kretschmann. Auch der Düsseldorfer Oberbürgermeister Thomas Geisel, SPD, hat jetzt schon Kopfschmerzen. "Ob ich mir manchmal Vorstellung mache, wie das funktionieren würde. Da hab ich mir in der Tat den Kopf drüber zerbrochen. Und mir dann vorgestellt, welche Bereiche sperren wir für Diesel? Den administrativen Aufwand muss man sich mal vorstellen. Wir müssten ja einen regelrechten Schilderwald installieren." So Geisel im WDR. Düsseldorfs Oberbürgermeister Thomas Geisel (SPD) (picture alliance / dpa / Maja Hitij) Forderung nach Blauer Plakette Egal wie der Leipziger Richterspruch ausfällt, Kommunen und Länder sind sich in einem einig: Sie müssen das ausbaden, was Autoindustrie und Bundesregierung ihnen eingebrockt haben. Die Forderung richtet sich an den Bund, er muss endlich mit der Blauen Plakette ein bundeseinheitliches Mittel schaffen, um schmutzige von sauberen Dieseln zu unterscheiden. Doch das Bundesverkehrsministerium zeigt sich nach wie vor hartleibig: "Unser Haus ist nicht für die Einführung einer Blauen Plakette. Im Übrigen möchte ich darauf hinweisen, dass dies auch im Entwurf des Koalitionsvertrages festgehalten ist." Am Abend wollen die Leipziger Richter entscheiden. Vielleicht reisen einige Vertreter aus Düsseldorf und Stuttgart dann mit mehr Gewissheit und vielen neuen - sowie unangenehmen Aufgaben ab.
Von Nadine Lindner
Fahrverbote für ältere Diesel-Fahrzeuge sind zu schwer umzusetzen und greifen ins Eigentum der Bürger ein - so die Auffassung der Städte und Kommunen. Die Deutsche Umwelthilfe hingegen hält sie im Sinne des Gesundheitsschutzes für unverzichtbar. Rechtliche Klarheit schafft das Bundesverwaltungsgericht nun mit seinem Urteil.
"2018-02-21T05:05:00+01:00"
"2020-01-27T17:40:20.893000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/vor-dem-fahrverbot-urteil-streit-um-kompetenzen-und-100.html
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Facebook-Konto gehört nicht automatisch zum Erbe
Den Eltern einer 15-Jährigen bleibt der Zugang zu ihrem Facebook-Konto weiter gesperrt. (picture alliance / dpa / Oliver Berg) Für Facebook war das heute ein voller Erfolg. Die Klage der Mutter wurde abgewiesen, sie habe keinen Anspruch auf Zugang zum Facebook-Konto ihrer verstorbenen Tochter, urteilte das Berliner Kammergericht. Dabei ließ es eine juristische Kernfrage des Falls explizit offen. Nämlich: Ist ein Facebook-Konto überhaupt "vererblich"? Das hatte die erste Instanz in diesem Rechtsstreit - das Berliner Landgericht - im Dezember 2015 noch bejaht und daraus seine Entscheidung zugunsten der Mutter abgeleitet. In der Quintessenz: Das digitale Vermögen dürfe für die Erben nicht anders behandelt werden als das analoge Vermögen, daher hätte die Mutter als Erbin nicht nur das Recht, etwa Tagebücher und Papierbriefe der verstorbenen Tochter zu lesen, sondern auch deren Kommunikationsinhalte auf Facebook. Der Schutz des Fernmeldegesetzes umfasst auch Inhalte dritter Personen Aber das ist ab heute Geschichte. Denn das Kammergericht Berlin stellte das Fernmeldegeheimnis in den Mittelpunkt seiner Entscheidung. Das greife hier. Es sei durch Artikel 10 des Grundgesetzes und Artikel 88 des Telekommunikationsgesetzes verbürgt und hier anzuwenden. Und zwar - das ist der i-Tüpfel an dem Urteil - umfasst von diesem Schutz des Fernmeldegeheimnisses seien automatisch auch die Kommunikationsinhalte dritter Personen, die zwischen zwei Facebook-Nutzern ausgetauscht würden. Die Argumentationslinie der Mutter, ihre Tochter hätte den Schutz durch das Fernmeldegeheimnis gar nicht beansprucht, ist damit gescheitert, erklärt Gerichtssprecherin Annette Gabriel: "Es ging um die Frage, ob das Mädchen der Mutter oder den Eltern die Zugangsdaten überlassen hat. Man könnte daraus argumentieren, so hat es auch die Klägerin getan, dass deshalb auf den Schutz des Fernmeldegeheimnisses verzichtet worden sei. Das Kammergericht hat aber darauf hingewiesen, dass es nicht ausreicht, wenn nur die Tochter darauf verzichtet, sondern gerade wenn es um eine Kommunikation im eingeschränkten Nutzerkreis sich handelt, dann müssten auch die anderen Beteiligten auf diesen Schutz verzichten." Revision bis zum Bundesverfasssungsgericht? Das Gericht hat eine Revision gegen das Urteil zugelassen. Ob die Mutter auch diesen Schritt noch gehen wird, ist fraglich. Der Berliner Rechtsanwalt Christian Pfaff vertritt sie. Er war wie auch die Facebook-Rechtsanwältin bei der Urteilsverkündung nicht im Gericht anwesend. Seine Kanzlei teilte hinterher auf Deutschlandfunk-Anfrage aber mit, zu dieser Frage äußere man sich derzeit noch nicht. Der Vorsitzende Richter des Kammergerichtes Björn Retzlaff wies in seiner halbstündigen Urteilserörterung aber auch darauf hin, dass es in diesem Rechtsstreit um grundsätzliche Fragen gehe, die möglicherweise sogar nur vom Bundesverfassungsgericht zu beantworten seien. Damit ist höchst unklar, wann es dazu ein rechtsgültiges Urteil geben könnte. Gerichtssprecherin Annette Gabriel. "Die Einlegung der Revision ist innerhalb eines Monats - erst BGH, dann BVerfG. Es muss erst dieser Weg gegangen werden." Auch der "Nachlasskontakt" bei Facebook hat nur eingeschränkte Zugriffe Das Motiv der Mutter, diesen mühseligen Klageweg überhaupt zu gehen, war: Hat meine Tochter 2012, als sie in einem Berliner U-Bahnhof vor die einfahrende U-Bahn fiel, möglicherweise Selbstmord begangen? Dieser Verdacht wird durch das heutige Urteil wohl weiterbestehen, denn die Mutter wollte ja im wesentlich "nur nachschauen", ob die Kommunikationsinhalte ihrer Tochter bei Facebook dazu Antworten gäben. Es gehe bei diesem Streit eigentlich nur um ein passives Leserecht, hatte Richter Retzlaff auch heute nochmal betont. Bei der letzten Verhandlung im April hatte er daher auch mehrere Kompromisslösungen vorgeschlagen, wie z.B. anonymisierte Ausdrucke der Inhalte. Trotzdem kam es zwischen den Eltern und Facebook zu keinem Vergleich in der Sache. Daher ist die Botschaft für alle deutschen Facebook-Nutzer und deren Erben nach dem heutigen Urteil: So ein Streit-Fall, wie er heute in Berlin verhandelt wurde, könnte sich wieder ereignen. Denn Facebook bietet zwar mittlerweile Erwachsenen an, einen sogenannten "Nachlasskontakt" zu bestimmen, doch auch der hat nur höchst eingeschränkte Zugriffsrechte. Darüber hinaus postuliert Facebook in seinen Regularien zu verstorbenen Nutzern: "In seltenen Fällen berücksichtigen wir Anfragen zu weiteren Kontoinformationen oder -inhalten."
Von Daniela Siebert
Vor fünf Jahren wurde eine 15-Jährige von einer U-Bahn überfahren und starb. Ihre Mutter will wissen, ob es Selbstmord war, und dazu das Facebook-Konto ihrer Tochter einsehen. Facebook lehnte das ab - und bekam vom Berliner Kammergericht Recht. Abgeschlossen ist der Fall aber noch nicht.
"2017-05-31T15:35:00+02:00"
"2020-01-28T10:30:18.012000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/gerichtsurteil-in-berlin-facebook-konto-gehoert-nicht-100.html
92,023
Klimakrise auf der Bühne
Klimastreik in Berlin: Die Bewegung "Fridays for Future" hatte im September 2019 zum Protest aufgerufen. (dpa / Zentralbild / Jens Büttner) "Das ist unsere globale Temperaturkurve. Das da ist unsere Emission, also: Wie viel Gigatonnen CO2 stoßen die Menschen nach wie vor aus, seitdem es anfing, klar zu werden, dass das so nicht geht?" Die Kurven verlaufen steil nach oben. Der Fachvortrag der Professorin Antje Boetius, die das Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung leitet, lässt keine Zweifel zu. Die Erderwärmung ist nicht mehr zu stoppen, die Folgen für Natur und Klima sind jetzt schon verheerend. Das Thema ist längst auch im Theater angekommen. Ein Vorreiter war die Gruppe "Rimini Protokoll", die schon vor fünf Jahren am Hamburger Schauspielhaus eine "Weltklimakonferenz" inszenierte: "Sehr geehrte Damen und Herren, verehrte Delegationen. Herzlich willkommen zur Weltklimakonferenz 2014. Sie sind nicht hier als normaler Hamburger Zuschauer in einem Theaterstück, sondern Sie sind heute Teil von 196 Delegationen in dieser Weltklimakonferenz." Probe zur "Welt-Klimakonferenz" der Gruppe "Rimini Protokoll" im Schauspielhaus Hamburg. (dpa / Markus Scholz) Die Zuschauer mussten in der Produktion die Interessen spezifischer Länder vertreten. Sie wurden von Experten beraten, in Arbeitsgruppen eingeteilt und konnten selbst diplomatisch tätig werden: untereinander verhandeln, Allianzen bilden, Kompromisse finden. Das war ein riesiger theatraler Selbsterfahrungsparcours. Augenzeugenberichte aus Krisengebieten Über einen ganz anderen Zugriff auf das Thema berichtete gestern Natalie Driemeyer. Sie ist als Leiterin des Festivals "Odyssee: Klima" auf die Philippinen gereist und hat dort ein Theater besucht, das nach einem schweren Taifun Augenzeugenberichte zusammentrug: "Wichtig ist in diesem Sinne, dass bestimmte Geschichten erzählt werden, die sonst nicht erzählt werden könnten. Die Produktion wird bis jetzt noch gezeigt und tourt durch die Philippinen." Denn auch auf den Philippinen ist es so, dass einige Regionen extrem vom Klimawandel betroffen sind, andere nur sehr wenig. Dokumentartheaterproduktionen schaffen Solidarität und ein gemeinsames Problembewusstsein. Verwelktes Basilikum in Mikrowelle In Deutschland hat sich Tobias Rausch mit dokumentarischen Theaterproduktionen einen Namen gemacht. Er hat 1997 ein Stück über das Oder-Hochwasser herausgebracht und 2008 eine Recherche zu einer gefährlichen Situation im Kernkraftwerk Greifswald. In diesen Produktionen wurde überwiegend mit Augenzeugenberichten gearbeitet. Heute versucht Tobias Rausch, die Natur selbst zum Akteur zu machen. Am Schauspielhaus Hannover hat er gemeinsam mit der Gruppe "Lunatiks" mehrere Stücke herausgebracht, deren Helden Pflanzen waren. In einem wurden Experimente mit Basilikum durchgeführt. Tobias Rausch: "Und ganz zum Schluss haben wir die Basilikumpflanze, die wir eine Stunde lang bespielt haben, in eine Mikrowelle gestellt und den Knopf angemacht - und innerhalb von Sekunden verwelkt die." Genau diese Szene rief kontroverse Zuschauerreaktionen hervor - das findet Tobias Rausch auch mit Blick auf die Klimakrise interessant. "Vielleicht können wir doch auf der Bühne ein anderes Verhältnis zur Natur [entwickeln]: Die Natur als nicht nur als Kulisse für uns Menschen, sondern als Mit-Geschöpf, das uns nicht egal ist. Vielleicht ist das doch irgendwie möglich." Politischer Aktivismus Möglich sind auch Inszenierungen, die zugleich politische Aktionen sind. Bei der Diskussion in der Heinrich-Böll-Stiftung saß auch eine Vertreterin der Gruppe "Ende Gelände" auf dem Podium, die durch die Besetzung von Braunkohle-Tagebauen auf sich aufmerksam gemacht hat. Nike Mahlhaus: "Ich glaube, was wir brauchen, sind diese ganz großen Erzählungen, das Drama, es sind die großen Fragen, die wir hier verhandeln müssen. Und 'Ende Gelände' schafft diese Erzählungen, indem wir in die Gruben gehen, indem wir diese Bilder erzeugen. Wir haben ja auch einen Antagonismus. Wir sagen: Es gibt die Bösen. Die Regierung ist böse. Die Kohlekonzerne sind böse, weil sie unser Leben riskieren." Populismus pur. Doch die Aktionsformen, die die Gruppe wählt, sind sehr theatralisch. Vielleicht lässt sich das eine oder andere ja wirklich in eine Inszenierung einbauen. Theaterzuschauer wollen berührt werden, rief Natalie Driemeyer den Diskussionsteilnehmern in der Heinrich-Böll-Stiftung zu. Ein perfektes Schlusswort: "Deshalb setze ich mich ganz stark dafür ein, dass WissenschaftlerInnen und KünstlerInnen einfach zusammenarbeiten und genau dieses Wissen mit der Emotion verbunden wird - weil: Sonst kann ich auch Artikel lesen."
Von Oliver Kranz
Der Klimawandel ist auch im Theater Thema. Bei einer Tagung in Berlin wurden dazu verschiedene Ansätze vorgestellt. Die Gruppe "Rimini Protokoll" inszenierte eine "Welt-Klimakonferenz" - und Regisseur Tobias Rausch machte Pflanzen zu Akteuren.
"2019-10-31T17:35:00+01:00"
"2020-01-26T23:17:08.210000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/theater-konferenz-in-berlin-klimakrise-auf-der-buehne-100.html
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Power-to-X für die Energiewende
Die Power-to-Gas-Pilotanlage in Falkenhagen war technologisch wegweisend, inzwischen ist ihr Betrieb aus Kostengründen eingestellt worden. (Ralf Krauter/Dlf) Der Regionalzug 3608 fährt von Berlin-Spandau nach Nordwesten, Richtung Wittenberge. Die Häuser, die vor dem Fenster vorbeiziehen, werden weniger, die Kiefernwälder ausgedehnter, die Äcker dazwischen größer. Auf manchen stehen Dutzende Windräder. Ihre Flügel drehen sich unter tiefhängenden Wolken. Vor gut sechs Stunden bin ich in Köln losgefahren – und endlich am Ziel. Pritzwalk in der Prignitz, eine Kleinstadt auf dem platten Land zwischen Berlin und Hamburg. Der Bahnsteig glänzt im Nieselregen. Drei Gleise, kein Taxistand. Viele Besucher zieht es offenbar nicht hierher. Dabei ist Pritzwalk durchaus eine Reise wert. Denn im benachbarten Örtchen Falkenhagen wird seit Jahren eine Schlüsseltechnologie für die Energiewende erprobt: Die Verwandlung von Ökostrom in chemische Energieträger wie Wasserstoff und Methan. "Ein wegweisendes Pilotprojekt" "Mein Name ist Steffen Schirrmeister. Ich bin Principal Engineer bei der Thyssen-Krupp Industrial Solutions in Dortmund. Wir haben hier diese Anlage entwickelt, designt und mit Partnern gemeinsam aufgebaut." – "Ein wegweisendes Pilotprojekt?" – "Das ist ein wegweisendes Pilotprojekt. Es ist das zweite seiner Art in dieser Größenordnung im Demonstrationsmaßstab, um eben zu zeigen, dass eben hier mit einer Wasserstoffanlage und CO2 Methan erzeugt werden kann, das auch direkt ins Erdgasnetz eingespeist werden kann." Methan ist der Hauptbestandteil von Erdgas. In Falkenhagen erzeugt man es, indem man gewöhnlichem Leitungswasser erneuerbare Energie einhaucht. Projektleiter Matthias Schmidt vom Kraftwerksbetreiber Uniper wartet mit dem Auto am Bahnhof. Auf der 15-minütigen Fahrt nach Falkenhagen erklärt er mir, warum die Demonstrationsanlage hier gebaut wurde. Ökostrom satt, aber wenig Abnehmer Die Kurzfassung geht so: Grünen Strom hat man in der Region Prignitz oft mehr als genug. Es gibt hier große Windfarmen und Solarparks, aber kaum Industriebetriebe, die bei steifer Brise oder strahlender Sonne viel Strom abnehmen könnten. Bei starkem Wind wird ein Teil der Windräder abgeschaltet - weil zu viel Input die Netzstabilität gefährdet. Was für eine Verschwendung. Deshalb begann der Energiekonzern Eon 2012 in Falkenhagen zu testen, wie sich das ändern ließe. Das erste Etappenziel: Mit überschüssigem Windstrom Wasserstoff erzeugen und als Beimischung in eine Erdgas-Pipeline einspeisen. Auf diese Weise, so die ursprüngliche Vision, ließen sich in der Gasnetz-Infrastruktur große Mengen Strom speichern und von Travemünde nach Traunstein verfrachten, ohne neue Hochspannungsleitungen bauen zu müssen. Matthias Schmidt: "Es ist halt ein System, was man nicht mehr bauen muss, sondern wo man sowohl die Speicherung als auch den Transport von Nord nach Süd, zwischen Ost und West halt schon realisiert hat. Und durch die Größe des Netzes kommt man halt schon in den Terawatt-Bereich mit der Power-to-Gas-Technologie." Die Wasserstoffproduktion mittels Elektrolyse begann 2012 (Ralf Krauter/Dlf) Stromenergie speichern und transportieren im Gasnetz Power-to-Gas ist seit zehn Jahren ein großes Thema in der Energiebranche. Die Verwandlung von Ökostrom in chemische Energieträger, die sich speichern und transportieren lassen, könnte ihr den Weg in eine klimafreundlichere Zukunft weisen. Ich will sehen, was schon geht, und rausfinden, welche Rolle die Technik künftig spielen könnte. Mit Baustellen-Helm, Schutzbrille und neongelber Jacke laufe ich mit Matthias Schmidt bei Sprühregen über das abgezäunte Areal. Ich sehe zwei große Reaktorkessel, einen Tank mit Kohlendioxid und ein Dutzend weiße Frachtcontainer. Im ersten, dessen Tür der Mann von Uniper aufsperrt, steckt die Wasserzufuhr. "Wir hatten zu Beginn des Projektes immer Probleme mit dem Druck. Die Elektrolysen wollen halt mit einem Druck von 5 Bar arbeiten. Entsprechend wurde hier eine Druckerhöhung hingestellt, die sicherstellt, dass bei der Maximalabnahme der sechs Elektrolysen diese 5 Bar immer realisiert werden." Wasserstoff-Produktion mit Öko-Starkstrom Die Elektrolysen, das sind sechs 20-Fuß-Container, die weiter hinten auf dem Gelände stehen: Schlüsselfertige Wasserstoff-Fabriken der Firma Hydrogenics, die aus Wasser Wasserstoffgas herstellen – mit Hilfe von Starkstrom. Matthias Schmidt öffnet eine der Türen und gibt den Blick auf die sogenannten Elektrolyse-Stacks. Es sind große Zylinder, durch die ein Gemisch aus Wasser und Kaliumlauge strömt, die als Elektrolyt fungiert. Starkstrom-Elektroden zerlegen das Wasser dabei in seine Bestandteile Wasserstoff und Sauerstoff. Die blubbern als Gasblasen nach oben und werden separat aufgefangen. Alkalische Elektrolyse heißt diese altbekannte Technik. "Der Wasserstoff geht dann in die Produktionsseite und wird dann in dem Platinkatalysator und der Trocknung aufbereitet. Das sind die Elektrolysen gewesen. Das war’s. Man sieht halt hier auch die Anschlüsse. Strom, Wasser. Ansonsten geht die Leitung Wasserstoff halt raus und vor zu dem Teil, wo wir jetzt hingehen." Anlage lässt sich in Sekunden hoch- und runterfahren Im Forschungsprojekt WindGas, das hier von 2012 bis 2015 lief, zapften die Elektrolysecontainer bis zu 2 Megawatt Leistung aus einem nahen Windpark und produzierten damit Wasserstoffgas. Bis zu 360 Kubikmeter pro Stunde - ein Brennstoffzellen-Auto käme mit dieser Menge über 3000 Kilometer weit. Der Wasserstoff wurde von Kompressoren verdichtet und in eine Hochdruckpipeline des Gasnetzbetreibers Ontras eingespeist. Matthias Schmidt: "Es war damals möglich, wenn Wind verfügbar war, die Anlage sofort hochzufahren und das Gas ins Netz einzuspeisen. Und es wurde auf der Stromseite auch probiert, ob man für diese Minutenreserve solche Prozesse auch einsetzen kann. Und das ist auf Basis der Geschwindigkeit, mit der eine Elektrolyse startet und wieder abfährt, in jedem Fall möglich. Man kann so eine Last innerhalb von Sekunden komplett abwerfen und bei Bedarf, wenn man die beiden Sektoren wieder koppeln will, Strom und Gas, die Anlage relativ schnell hochfahren. Also das geschieht auch im Sekundenbereich. Alles technisch möglich - das hat das Projekt bewiesen." Wasserstoff darf nur begrenzt in die Gaspipelines Die wetterbedingten Spitzen von Wind- und Solarstrom im Netz könnte man mit Power-to-Gas-Technik also abfedern. Und zwar in viel größerem Stil, als das mit leistungsfähigen Batteriespeichern je möglich sein dürfte. Allerdings lässt sich das Potenzial mit Wasserstoff aus Ökostrom nur zum Teil ausschöpfen. In die Hochdruckpipelines für Erdgas darf nur begrenzt Wasserstoff eingespeist werden, weil sonst Dichtungen versagen könnten. Bei der Ontras-Pipeline in Falkenhagen liegt die Obergrenze bei 2 Prozent des Volumenstroms, anderswo bei 10 Prozent. 2016 hat Uniper deshalb ein Folgeprojekt gestartet. Im Rahmen des EU-Forschungsvorhabens "Store & Go" wird der Wasserstoff aus den Elektrolyse-Containern jetzt in synthetisches Erdgas umgewandelt und ins Gasnetz gespeist. Bei meinem Besuch im Januar überwacht Dr. Steffen Schirrmeister vom Anlagenbauer Thyssen-Krupp Industrial Solutions die Produktion an den Monitoren der kleinen Leitwarte. Als wir reinkommen, zeigt er zufrieden auf ein Display rechts vom Eingang. "Wir haben jetzt also eine Methankonzentration von 99,5%. Das ist ein supergutes Ergebnis. Deutlich besser als es die Mindestanforderung vorschreibt." Die Leitwarte der Pilotanlage mit dem Reaktor zur Methansynthese (Ralf Krauter/Dlf) Ein Umwandlungsschritt mehr: Wasserstoff zu Methan Wasserstoff in Methan verwandeln - das können Verfahrenstechniker schon lange im industriellen Maßstab. Man braucht Kohlendioxid dazu und Temperaturen von über 200 Grad Celsius. Bei der Reaktion, vermittelt durch einen nickelhaltigen Katalysator, entsteht Methan und Wasser. Soweit, so bekannt. Für Power-to-Gas-Anwendungen mussten aber neue Reaktoren her, die sich – je nach Angebot von Strom und damit Wasserstoff - schnell hoch- und wieder runterfahren lassen. In Falkenhagen kommt ein spezieller Wabenreaktor zum Einsatz, entwickelt am Karlsruher Institut für Technologie. Er steckt in einem fünf Meter hohen Kessel, dem man dank Wärmeisolierung von außen nicht anfühlt, dass drinnen bei 220 Grad Wasserstoff und Kohlendioxid zu Methan und Wasser reagieren. Ohne aktive Kühlung würde die Temperatur sogar über 500 Grad steigen, sagt Steffen Schirrmeister, weil die Reaktion exotherm ist: "Die Reaktoren sind natürlich in dieser Methanisierung Anlagenteile, die sehr viel Wärme produzieren. Für diese Anlage produziert der große Wabenreaktor ungefähr 100 Kilowatt. Und dann ist natürlich die Frage: Was macht man mit 100 Kilowatt bei 220 Grad Celsius? Und wir haben uns hier für eine Lösung entschieden, dass der Reaktor diese Wärme abgibt an ein Thermalöl. In dem Wärmetauscher-Container gibt dann das Thermalöl seine Wärme an Wasser ab. Und dieses Wasser wird dann hier über diese Pumpanlage und diese Strecke parallel zu Straße an ein Furnierwerk abgegeben. Und dieses Furnierwerk nutzt diese Wärme und kann somit eigene Energie sparen in der Wassererhitzung." Hälfte der Energie bleibt auf der Strecke Bis zu 60 Kubikmeter synthetisches Erdgas produziert die Anlage pro Stunde, was einem Brennwert von rund 60 Litern Heizöl entspricht. Mit der Ausbeute von einem Tag könnte ich meinen jährlichen Gasverbrauch für Heizung und Warmwasser decken. Allerdings kostet die strombasierte Verwandlung von Wasser über Wasserstoff in Methan reichlich Energie. Eine Kilowattstunde Ökostrom aus der Prignitz liefert regeneratives Erdgas mit einem Brennwert von einer halben Kilowattstunde. Die Hälfte der Energie bleibt auf der Strecke. Doch solange man Grünstrom verwendet, den sonst gerade keiner braucht, sei das kein Handicap, betont Matthias Schmidt: "Man soll den Strom halt nicht benutzen und ins Erdgasnetz reinstecken, wenn’s gar nicht nötig ist. Sondern man soll das nutzen, was halt wirklich übrig ist im Markt: Wenn Windkraftanlagen stehen müssen, weil eine Überproduktion ist, dann soll dieser Einsatz erfolgen. Genau dafür ist diese Anlage konzipiert, dann ins Erdgasnetz einzuspeisen." Theoretisch ließe sich das grüne Methan aus Falkenhagen irgendwo anders auch wieder in Strom zurück verwandeln - etwa in einer Brennstoffzelle oder einem Gaskraftwerk. Weil die Energieverluste dabei von 50 auf über 70 Prozent steigen, wäre das allerdings kein kluges Geschäftsmodell, sondern nur im Notfall eine Option. Dutzende Pilotanlagen in Deutschland Dlf-Reporter Ralf Krauter mit seinen Gesprächspartnern Frank Schirrmeister und Matthias Schmidt (Ralf Krauter/Dlf) Auf der Rückfahrt von Falkenhagen nach Köln rufe ich mir die Eckdaten ins Gedächtnis. Die Bundesregierung will Deutschlands Treibhausgasemissionen bis 2050 auf Null runterfahren – Stichwort Dekarbonisierung. Deshalb führt am massiven Ausbau erneuerbarer Energien kein Weg vorbei. Bei der Deutschen Energieagentur ist man überzeugt: Power-to-Gas spielt bei dieser Transformation eine Schlüsselrolle: Als Brückentechnologie, um überschüssigen Ökostrom zu nutzen, um Energie für die Bereiche Industrie, Wärmeversorgung und Verkehr bereitzustellen. Um die Entwicklung der Technik zu fördern, hat die DENA 2011 eine Strategieplattform "Power-to-Gas" ins Leben gerufen, deren Mitglieder inzwischen dutzende Pilotanlagen gebaut haben. Hier einmal drei Beispiele: Im Gewerbepark Mainz-Hechtsheim erzeugt eine Elektrolyse-Anlage von Siemens seit 2015 bis zu 1000 Kubikmeter Wasserstoff pro Stunde. Das Gas strömt in industrielle Anwendungen und die Tanks von Wasserstoff-Autos. Am Audi-Standort Werlte in Niedersachsen produziert eine Power-to-Gas-Anlage seit 2013 rund 1000 Tonnen grünes Methan pro Jahr. Es wird als klimaneutraler Kraftstoff genutzt oder ins Erdgasnetz gespeist. Bei der Salzgitter Flachstahl GmbH erzeugt ein Hochtemperatur-Elektrolyseur der Dresdner Firma Sunfire seit 2016 grünen Wasserstoff für die Stahlproduktion. Wie groß ist das Potenzial von Power-to-Gas tatsächlich? Laut DENA könnte 2050 ähnlich viel Strom in Power-to-Gas-Anlagen fließen, wie heute in ganz Deutschland pro Jahr produziert wird: Rund 600 Terawattstunden. Zu Unterstützern der Strategieplattform zählen neben Unternehmen wie Siemens, Volkswagen und die Salzgitter AG auch große Energie- und Gasversorger wie EnBW und Uniper. Was die Frage aufwirft: Wollen die jetzt echt Gas geben bei der Energiewende oder vor allem neue Geschäftsfelder erschließen? Unabhängige Fachleute schätzen das Potenzial jedenfalls nüchterner ein als die DENA. Im August 2019 veröffentlichten 23 Energie-Experten ein Dossier mit dem Titel "Effiziente Energiewende jetzt, statt warten auf das grüne Gas." Darin warnen sie davor, im großen Stil auf strombasierte Energieträger zu setzen: "Letztendlich besteht die Gefahr, dass durch falsche Hoffnungen in großskalige Grüne-Gase-Technologien wertvolle Zeit zur Umsetzung von Effizienzmaßnahmen verschlafen wird, die wesentlich kostengünstiger umzusetzen sind." Elektrolyse-Anlagen rechnen sich nur bei hoher Auslastung Einer der Verfasser, Professor Wolfgang Eichhammer, leitet das Kompetenzzentrum Energiemärkte und Energiepolitik am Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung in Karlsruhe. Sein zentrales Argument: In einem gut optimierten Stromsystem gibt es nur wenig überschüssigen Strom. Und weil der nur manchmal anfällt, rechnet es sich nicht, Elektrolyse-Anlagen für die Gas- oder Kraftstoffproduktion zu bauen - die amortisieren sich nämlich nur, wenn sie mindestens 4000 Stunden im Jahr laufen. In der Roadmap des vom Bundesforschungsministerium geförderten Kopernikus-Projektes "Power-to-X" vom August 2019 heißt es passend dazu: "Die Gestehungskosten von Power-to-X-Produkten zeigen eine sehr hohe Sensitivität gegenüber der Auslastung der Anlagen." Bis 2035 sei deshalb nur mit vereinzelten Nischenanwendungen zu rechnen, folgern die Experten. Und das Ökoinstitut schreibt in seinem Report "Herstellung, Nutzung und Kosten strombasierter Energieträger" vom November 2019: "Erst wenn der Strom zu mindestens 75 Prozent aus erneuerbaren Quellen stammt, ist es aus Klimaschutzsicht vorteilhaft, Strom in Power-to-X-Stoffe umzuwandeln und diese zu nutzen." Power-to-X alternativlos für 2-Grad-Klimaziel? Bis dahin wird aber noch mindestens ein Jahrzehnt vergehen, denn heute decken erneuerbare Energien erst ein Drittel unseres Strombedarfs. Aber wenn es so viele Bedenken und Fragezeichen gibt: Warum stecken Berlin und Brüssel dann seit Jahren Millionen in Forschung und Entwicklung auf dem Gebiet? Und warum fördert der Bundeswirtschaftsminister jetzt mit 100 Millionen Euro jährlich "Reallabore der Energiewende", bei denen grüner Wasserstoff aus Power-to-Gas-Anlagen im Fokus steht? "Ich glaube, ohne Power-to-X, ohne diese Technologien, wird man nicht die hohen CO2-Vermeidungsgrade schaffen, die man braucht, um auf dem 1,5 oder 2 Grad-Pfad zu bleiben. Was wir unbedingt anstreben sollten, weil sonst – fürchte ich – sind die Kosten halt einfach noch höher. Also ich glaube, ohne Power-to-X kommen wir nicht hin. Und das wird im großen Stil sein." Roland Dittmeyer leitet das Institut für Mikroverfahrenstechnik am Karlsruher Institut für Technologie. Der Professor trägt einen blauen Anzug und Krawatte, weil er gleich in eine Gremiensitzung muss. Vorher hat er aber noch eine Stunde Zeit, mir in einem Sitzungsraum auf dem KIT Campus Nord in Eggenstein-Leopoldshafen zu erklären, wie er die Dinge sieht: "Unser heutiges System ist nachfragegetrieben. Wir produzieren dann Strom, wenn wir ihn brauchen. Dieses zukünftige System, was dann auf Erneuerbaren basieren wird, ist angebotsgetrieben. Das heißt, wir kriegen halt irgendwann erneuerbaren Strom und den müssen wir dann nutzen und speichern." Paradigmenwechsel in der Energiebranche Roland Dittmeyer spricht von einem Paradigmenwechsel, der die Energiebranche auf den Kopf stellen wird. Heute verbrennen wir tonnenweise fossile Energieträger wie Kohle, Öl und Gas, um Strom zu erzeugen. Künftig werden wir dank Wind und Sonne massenhaft grünen Strom ernten. Und den dann nutzen, um chemische Energieträger herzustellen: Wasserstoff, Methan, Flüssigkraftstoffe. Dittmeyer: "Bei aller Wandlung gibt’s immer irgendwelche Verluste. Das heißt, wenn das künftige Energiesystem so aussieht, dass wir von Strom anfangen, dann wird man erstmal versuchen, diesen Strom direkt zu nutzen, wo es geht. Da wo es nicht geht, da wo wir einen chemischen Energieträger brauchen, können wir den mit diesem Strom erzeugen. Das ist unsere Agenda." Was wurde daraus? - Sonnenstrom aus der WüsteDas Desertec-Konzept sollte die besten Solarstandorte und die besten Technologien der Welt zusammenbringen und so überschüssigen Strom aus den Wüstenstaaten nach Europa exportieren. Große Firmen sprangen auf, doch dann kippte die Stimmung. Kerosin für Flugzeuge, Wasserstoff für Brennstoffzellen-Fahrzeuge, Dieselkraftstoff für Schiffe und Lastwagen, die lange Strecken fahren, Kohlenwasserstoffe als Grundstoffe für die Chemieindustrie – all das ließe sich mit grünem Strom klimaneutral fabrizieren. Dass sich Power-to-X-Anlagen derzeit kaum rechnen, schreckt Roland Dittmeyer nicht ab. Damit die Technik reift und billiger wird, sagt er, muss man sie jetzt im größeren Stil einsetzen. Technologien weiterentwickeln mit staatlicher Förderung Vielleicht hat er Recht. Mit Wind- und Solarstrom hat anfangs auch niemand Geld verdient. Erst als die Politik klarstellte "wir wollen mehr davon und fördern das entsprechend", stieg die Nachfrage und lies die Preise purzeln. Dittmeyer: "Der kluge Weg ist meiner Meinung nach, dass wir die Technologien, die wir jetzt haben, die gut funktionieren und einen vernünftigen Wirkungsgrad haben, anwenden – und parallel an der nächsten Generation arbeiten. So haben wir das immer gemacht." Nach dem Gespräch mit Roland Dittmeyer zeigen mir seine Leute, was heute schon geht und künftig möglich sein könnte. "Mein Name ist Peter Pfeifer. Ich bin Professor am KIT und auch hier hauptverantwortlich für den Gesamtaufbau des Anlagenparks im Energy-Lab. Wo wir jetzt stehen, das sind im Prinzip die Anlagen, die wir aufgebaut haben, um Komponenten des zukünftigen Energiesystems zu untersuchen." Das Energy Lab 2.0 auf dem Campus des Karlsruher Instituts für Technologie KIT (Ralf Krauter/Dlf) Kompakte Elektrolyseanlage im Container Das Bild ähnelt dem, was ich in Falkenhagen gesehen habe: Eine Handvoll Container, verteilt auf einem geräumigen Areal, über unterirdische Leitungen verbunden. Auch hier beginnt alles mit einer Frachtbox, in die Wasser und Strom fließt. Doch die Elektrolyseanlage hier stammt von Siemens. Ihr Innenleben wirkt kompakter als bei der alkalischen Elektrolyse in Falkenhagen: Die Stapel silberner Stacks haben das Format von Computerfestplatten, armdicke Kabel führen Strom zu. In den silbernen Stacks strömt das Wasser durch dünne Kanäle an einer Polymer-Membran vorbei, die es in seine Bestandteile zerlegt. Pfeifer:"In der Anlage sind das vier Zellenblöcke. Jeder hat etwa eine Stromaufnahme von 25 Kilowatt, sodass wir in Summe auf 100 Kilowatt kommen. Sodass wir im Endeffekt um die 30 Kubikmeter Wasserstoff pro Stunde bekommen." Polymer-Exchange-Membran-Elektrolyse, so heißt diese Technik. Die Vorteile: Kompakte Bauweise, modulares Konzept, kaum Korrosion. Neben Siemens bieten auch andere Firmen bereits kommerzielle Systeme der Megawatt-Klasse. In Karlsruhe strömt das Wasserstoffgas jetzt in einen benachbarten Container, auf dem in großen Lettern "Ineratec" steht. Die Umwandlungs-Alternative: Wasserstoff zu Kerosin "Wir stehen jetzt vor dem Container, der diese Fischer-Tropsch-Synthese enthält. Wir nennen den Container Jet-Fuel-Synthese, weil er im Wesentlichen darauf ausgerichtet ist, Kerosin zu produzieren, also ein Kerosin-Substitut." Ineratec ist ein 2016 gegründetes Spin-Off des KIT, das eine Schlüsselkomponente der Power-to-X-Technik zur Serienreife entwickelt hat: Einen miniaturisierten Reaktor in Würfelform, der aus Wasserstoff und Kohlenmonoxid flüssige Treibstoffe herstellt – mittels Fischer-Tropsch-Synthese, bekannt aus dem Chemie-Unterricht in der Schule. "Man sieht hier einen großen silbernen Klotz: Die Einhausung des chemischen Reaktors, der die Synthese macht. Und aus dem kommen dann diese paraffinartigen Substanzen raus." Es wimmelt von silbernen Rohren, Ventilen, Kabeln und blinkenden Leuchtdioden. Die Kohlenwasserstoffe, die aus dem Reaktor strömen, sind teils flüssig, teils wachsartig. Die Bestandteile werden getrennt und gereinigt – alles vollautomatisch. Am Ende strömt aus einem Ventil an der Rückseite des Containers Flugzeugtreibstoff - wenn die Anlage auf Volllast läuft, bis zu eineinhalb Barrel pro Tag, sagt Peter Pfeifer, rund 250 Liter: "Also schon eine nennenswerte Menge. Deswegen haben wir uns auch für diese Skala entschieden." Peter Pfeifer vor dem kompakten Fischer-Tropsch-Reaktor (Ralf Krauter/Dlf) Windturbine lässt sich in Tankstelle verwandeln Der Leiter der Abteilung chemische Energiespeicherung war einer der Gründer von Ineratec und berät die Firma bis heute. Eine Anlage im Megawatt-Maßstab würde immer noch in so eine handelsübliche Frachtbox passen und könnte 350 Tonnen Kerosin oder Diesel pro Jahr liefern, sagt Peter Pfeifer. Im Prinzip lässt sich damit jede Windturbine in eine Tankstelle verwandeln. Wirtschaftlich sinnvoll wäre das aber nur in abgelegenen Gegenden, ohne Anschluss ans Stromnetz, wegen der Umwandlungsverluste. Pfeifers Kollege Dr. Siegfried Bajohr ist Experte für chemische Reaktoren, die aus Wasserstoff Methan erzeugen, also synthetisches Erdgas. "Wir arbeiten an der Energiewende. Und wir finden das toll. Und das sind sehr spannende Technologien." 2013 begann er an den kompakten Wabenreaktoren zu tüfteln, die seit 2018 in Falkenhagen im Einsatz sind. "In diesem Fall war es so, dass der DVGW, der Deutsche Verein des Gas- und Wasserfachs, die knappe Million dafür bereitgestellt hat und gesagt hat: Ok, Methanisierung wird eine der Schlüsseltechnologien werden. Das war damals schon die Vision von den Leuten. Und wir haben tiefe Taschen, entsprechende Rücklagen. Und wir nehmen dieses Geld und sagen: Baut halt mal sowas, zeigt mal, dass es funktioniert." Aus für die Pilotanlage Falkenhagen Siegfried Bajohr und seine Leute haben das dann mal gemacht. Zunächst im kleineren Maßstab, in einem der Container, hier auf dem Campus. Mit den Erfahrungen, die sie da gesammelt haben, entwarfen sie dann den meterhohen Reaktorkessel, den ich in Falkenhagen gesehen habe. Zur Inbetriebnahme waren sie vor Ort, seitdem läuft alles wie geplant. Aber wohl nicht mehr lange. "Die Anlage steht jetzt kurz vor dem Aus. Weil, wenn das Projekt zu Ende ist, im März, sagt die Betreibergesellschaft: Wenn wir die weiter betreiben, dann verbrennen wir dort Geld. Also die elektrische Energie, die sie dort reinstecken in die Elektrolyse, um den Wasserstoff zu machen, mit dem sie dann hinterher Methan machen, ist schon teurer als der Preis, den sie hinterher für das Methan erzielen. Also ist das jedes Mal, wenn sie das Ding betreiben, Vernichtung von Geld." Nach allem, was ich im Lauf meiner Recherchen mitbekomme, gilt das so ähnlich für alle derzeit laufenden Power-to-X-Anlagen in Deutschland. Falkenhagen war eine der ersten in der Megawatt-Klasse, deshalb beträgt der Wirkungsgrad für die Umwandlung von Ökostrom in Erdgas dort nur schlappe 50 Prozent. Ohne politischen Druck oder Anreiz funktioniert es nicht Bei neueren Anlagen fällt die Bilanz schon besser aus. Der Trick dabei: Die Abwärme des Reaktors heizt neuartige keramische Elektrolysezellen auf 800 Grad Celsius. Durch diese Wärmekopplung steigt der Gesamtwirkungsgrad für die Methanproduktion auf über 80 Prozent. Das heißt: Eine Kilowattstunde Grünstrom liefert dann Methan mit einem Brennwert von 0,8 Kilowattstunden. Das kann sich schon eher sehen lassen. Aber noch ist die neue Technik teurer und nicht so gut erprobt - auch weil Anreize fehlen, sie im großen Stil zu testen. Denn natürlich ist es heutzutage viel billiger, statt regenerativ erzeugtem Methan fossiles Erdgas zu nutzen. Siegfried Bajohr: "Das sind wieder diese Probleme der Rahmenbedingungen der Energiewende. Es muss jemand kommen und sagen: Ihr müsst das jetzt machen. Entweder ihr müsst, oder ihr kriegt halt einen Anreiz, dass ihr’s von Euch aus macht – freiwillig. Und das ist momentan nicht gegeben. Das muss man ganz klar sagen. Auch wenn der Wille zur Energiewende bei allen Personen da ist: Das Ganze zu finanzieren, funktioniert nicht so einfach." Energiewende wird ihren Preis haben - auch für Verbraucher Siegfried Bajohr, der Entwickler des Wabenreaktors zur Methanisierung (Ralf Krauter/Dlf) Ein vernünftiger Preis für Kohlendioxid-Emissionen würde schon mal helfen. Die Befreiung von der EEG-Umlage und garantierte Abnahmemengen für Power-to-X-Produkte könnten weitere Anreize schaffen. All das müsste in Berlin und Brüssel entschieden werden, auf politischer Ebene. Und die Initiativen, mit denen Bundeswirtschaftsminister Altmeier und Bundesforschungsministerin Karliczek jetzt den Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft vorantreiben wollen, machen Hoffnung, dass sich da bald etwas tun könnte. Aber die Transformation, die wir bis 2050 irgendwie über die Bühne bekommen müssen, ist gewaltig. Und von den Experten, mit denen ich spreche, macht auch keiner einen Hehl daraus: Wir werden uns umstellen müssen. Siegfried Bajohr: "Es gibt immer wieder Leute, die sagen, wir können die Energiewende ohne Verzicht anstellen. Also Verzicht im Sinne von: Ich habe weiter mein 400 PS Auto und ich muss nicht mehr dafür bezahlen. Das ist etwas, das kann ich nicht so vertreten. Dafür sind wir hier glaube ich alle zu nah an der Sache dran. Das wird so nicht funktionieren. Ich werde nicht einen Liter Diesel, der aus Eurer Anlage kommt, für 1,20 Euro oder so tanken können." Ökostrom-Produktion auslagern an optimale Standorte? Beim aktuellen Stand von Technik und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen wären für Power-to-X-Kraftstoffe bis zu 4,50 Euro pro Liter fällig. Heißt es in einer Studie, in der Berater der Ludwig-Bölkow-Systemtechnik für die deutsche Energieagentur untersucht haben, welches Potenzial strombasierte Kraftstoffe haben. Sie schreiben aber auch: Der Preis könnte langfristig auf einen Euro pro Liter sinken, sofern der Ökostrom-Sprit dort produziert wird, wo die Bedingungen optimal sind, um Wind- und Solarstrom zu ernten. Also nicht in Deutschland, sondern in Nordafrika, Australien oder Chile. Doch dazu wären Power-to-X-Anlagen im Raffinerie-Maßstab nötig, die außer Gigawatt an Ökostrom auch große Mengen Wasser und Kohlendioxid verbrauchen, das irgendwo herkommen muss. Das Wasser könnte durch Meerwasserentsalzung gewonnen, das Kohlendioxid aus der Luft gefischt werden - aber beides frisst zusätzlich Strom und senkt den Wirkungsgrad. Ob sowas je gebaut wird? Nicht nur ich bin da skeptisch. Roland Dittmeyer: "Der Punkt ist natürlich, dass ich da relativ große Geldmengen bewegen muss für so ein Projekt. Da hat man natürlich ein hohes wirtschaftliches Risiko. Deswegen bin ich mir nicht sicher, wie lange es noch dauern wird, bis das wirklich passiert. Sodass unsere Bemühungen eben eher dahingehen, im Megawatt-Bereich eine einsetzbare Technologie zu haben, die auch in Europa funktionieren wird. Vielleicht nicht ganz so kostengünstig wie eine Großanlage an einem Idealstandort, aber von der wirtschaftlichen Einstiegshürde auch wesentlich geringer. Deshalb glaube ich, dass durch diese Entwicklung die gesamte Umstellung auch beschleunigt werden kann." Technologie-Vorsprung könnte weltweit Märkte eröffnen Also besser erstmal kleinere Brötchen backen und hierzulande umsetzen, was geht, rät der Chemieingenieur Roland Dittmeyer vom KIT. Denn die Erfahrungen, die Europas Ingenieure und Anlagenbauer in den nächsten Jahren sammeln, könnten ihnen weltweit neue Märkte eröffnen. In Berlin scheinen Dittmeyer und seine Mitstreiter Gehör gefunden zu haben. Mit über 100 Millionen Euro fördert das Bundeswirtschaftsministerium jetzt sogenannte "Reallabore der Energiewende", die Elektrolyse, Methanisierung und Kraftstoffsynthese mit Grünstrom auf zehnmal größerer Skala als bisher umsetzen wollen - mit Power-to-X-Anlagen der 20- bis 50-Megawatt-Klasse, die den Überschuss-Strom ganzer Wind- und Solarparks verwerten können. Auch Uniper ist dabei und der Gasnetzbetreiber Ontras, die beide schon in Falkenhagen am Start waren. Als Teil des Konsortiums "Energiepark Bad Lauchstädt" wollen sie mit einem neuen Windpark und einem 40 Megawatt-Elektrolyseur grünen Wasserstoff für die Chemieregion Mitteldeutschland produzieren - und große Mengen davon in einer Salzkaverne unter der Erde zwischenspeichern.
Von Ralf Krauter
Ökostrom aus Sonne und Wind ist klimaneutral und unbegrenzt verfügbar - aber leider nicht unbedingt zu den Zeiten und an den Orten, an denen man gerade viel Strom benötigt. Ein möglicher Ausweg: Chemische Energieträger als Zwischenspeicher nutzen. Die Technik dafür ist da - nur sie rechnet sich bislang nicht.
"2020-04-26T16:30:00+02:00"
"2020-04-25T08:56:06.437000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/erneuerbare-energien-power-to-x-fuer-die-energiewende-100.html
92,025
"Wir haben nicht genug Facharbeiter"
Der Präsident des Zentralverbandes Deutsches Handwerk, Hans Peter Wollseifer. (pa/dpa/Pedersen) Wollseifer warnte vor einer Konzentration auf bestimmte Handwerksberufe. "Wir brauchen Berufsinformationen nicht nur in 15 oder 20 Handwerksberufen, die man landläufig so kennt. Es gibt 130 Handwerksberufe", sagte er. Da sei für jeden Jugendlichen was dabei. Das Interview in voller Länge: Doris Simon: Es sind keine schlechten Zeiten für das Handwerk in Deutschland. Jeder dritte Handwerksbetrieb rechnet mit steigenden Umsätzen bis zum Herbst, jeder fünfte Betrieb will neue Stellen schaffen und mehr als die Hälfte der Betriebe will in diesem Jahr die Preise erhöhen. Teurer wird es beim Bau, beim Friseur und im Lebensmittelbereich. Derzeit ist Handwerksmesse und am Vormittag trifft die Bundeskanzlerin die Spitzenvertreter der deutschen Wirtschaft. Hans Peter Wollseifer, der Handwerkspräsident, ist dabei und vorher jetzt bei uns am Telefon. Guten Morgen. Hans Peter Wollseifer: Guten Morgen, Frau Simon. Simon: Herr Wollseifer, was brauchen Sie eigentlich noch von der Kanzlerin? Wollseifer: Wir brauchen eigentlich doch noch eine ganze Menge. Wir freuen uns ja, dass die Kanzlerin jedes Jahr zu uns auf die Internationale Handwerksmesse kommt und sich anschaut in diesem Jahr, was die 1.036 Aussteller aus 34 Nationen alles zu bieten haben in der Leistungsschau des Handwerks. Aber wir haben natürlich auch im Spitzengespräch der deutschen Wirtschaft ganz konkrete Dinge, die wir mit ihr besprechen wollen, und natürlich sagen wir ihr auch, was wir brauchen. "Wir brauchen ein wettbewerbsfähiges Deutschland" Simon: Was denn? Wollseifer: Wir brauchen ein wettbewerbsfähiges Deutschland, Investitionen in die Infrastruktur zum Beispiel. Und wenn wir sagen Infrastruktur, dann meinen wir die Verkehrsinfrastruktur genauso auch wie die Breitbandautobahn. Wir brauchen wettbewerbsfähige Rahmenbedingungen für die mittelständische Wirtschaft. Insbesondere meinen wir natürlich das Handwerk. Wir brauchen Rahmenbedingungen, die unseren Betrieben Luft zum Atmen lassen in der Zukunft, bezogen auf Steuern, auf überbordende Bürokratie, auf Sozialabgaben. Wir brauchen aber auch Rahmenbedingungen, die unseren Mitarbeitern ein wenig mehr Netto vom Brutto lassen. Und wir brauchen vor allen Dingen zukunftsfähige Sozialsysteme, die unseren Kindern auch in der Zukunft Chancen lassen. Simon: Aber wie gesagt, bis jetzt scheint es ja gut zu laufen fürs Handwerk? Wollseifer: Bis jetzt läuft es sehr gut. Das Handwerk blickt sehr optimistisch in die Zukunft. Wir hatten im letzten Jahr einen Konjunkturzuwachs, einen Umsatzzuwachs von dreieinhalb Prozent. In diesem Jahr schätzen wir den auf mindestens 2,5 Prozent. Wir investieren in die Zukunft, haben ein Investitionsplus. Wir bauen Mitarbeiter auf. Aber genau da liegt das Problem. Wir haben nicht genug Facharbeiter, obwohl wir uns sehr bemühen um die Facharbeiter, und das könnte sich in der Zukunft doch zu einer Wachstumsbremse ausweiten. Simon: Was kann denn ganz konkret die Bundesregierung da machen? Wollseifer: Wir brauchen Unterstützung durch die Politik, weil wir selbst tun schon eine ganze Menge dafür. Wir brauchen Unterstützung durch die Politik und die Agentur für Arbeit. Wir brauchen eine bessere Berufsorientierung zum Beispiel an Gymnasien. Wir brauchen Berufsinformationen nicht nur in 15 oder 20 Handwerksberufen, die man landläufig so kennt. Es gibt 130 Handwerksberufe. Da sind tolle Berufe, anspruchsvolle Berufe dabei. Da ist für jeden Jugendlichen was dabei. Und, Frau Simon, wenn 60 Prozent aller Jugendlichen in Deutschland ins Studium gehen, so wie das zurzeit ist, dann ist entweder Jugend auf wunderbare Weise klüger geworden, die Bildungsniveaus gesenkt worden, oder wir müssen eine realistischere Bildungspolitik betreiben, und das Letztere sollten wir tun. Simon: Oder vielleicht sind Handwerksbetriebe für viele Jugendliche nicht attraktiv? Wollseifer: Ich glaube das nicht, wenn man sich mal mit dem modernen Handwerk beschäftigt. Wir haben das traditionelle Handwerk, wir haben aber auch das innovative Handwerk. Die Bandbreite ist ungeheuer breit und es gibt viele Möglichkeiten für die Jugendlichen, sich zu orientieren. Zum Beispiel in unserer Image-Kampagne: Dort sind wir in den sozialen Netzwerken unterwegs und zeigen der Jugend, was im Handwerk heute alles möglich ist. Und ich glaube, die Möglichkeiten sind sehr vielfältig. Das könnte jeden ansprechen. Und ich lade auch die Jugendlichen ein, zu uns in die Betriebe in Praktika zu kommen. Sie sollen sich mal ausprobieren, ganz in Ruhe mal schauen, ob ihnen das eine oder das andere gefällt. Wir unterstützen sie dabei und ich bin mir sicher, dass manchem Jugendlichen dann auch entsprechend seinem Talent ein Beruf angeboten werden kann, der ihn in der Zukunft weiterbringt. Simon: Herr Wollseifer, werden Sie bei der Kanzlerin auch das Thema Abschiebung ansprechen? Es gibt ja durchaus aus Handwerksbetrieben Proteste gegen Abschiebungen von Mitarbeitern, zum Beispiel aus Afghanistan, aus dem Kosovo und so weiter. Das sind keine Einzelfälle. "Um die Integration bemüht" Wollseifer: Ja, Frau Simon. Das Handwerk hat sich sehr in der Integration der Flüchtlinge, derer, die hier eine Bleibeperspektive haben, engagiert und tut das auch in der Zukunft. Das wird unsere Facharbeiterlücke nicht beseitigen, aber das ist vielleicht ein kleiner Mosaikstein dazu. Wir haben natürlich unsere Erwartungen an die Politik und an die Regierung gerichtet und die sind mit dem Integrationsgesetz im letzten Jahr auch ein Stück weit erfüllt worden. Zum Beispiel die drei plus zwei Regelung, dass junge Leute, die hier im Land geduldet sind oder natürlich Asyl bekommen und eine Bleibeperspektive haben, dass die drei Jahre in der Ausbildung bleiben dürfen plus zwei weitere Jahre im Betrieb bleiben dürfen, damit auch der Betrieb dann anschließend noch vielleicht für zwei Jahre einen guten Facharbeiter hat. Das haben wir erreicht. Wir haben auch erreicht, dass die Jugendlichen zum Beispiel nicht nur bis 21 Jahre in eine Ausbildung kommen dürfen, sondern dass das jetzt altersmäßig nicht mehr begrenzt ist. Aber es gibt noch weitere Integrationsbremsen und die werde ich vortragen am 5. Oder 6. April beim nächsten Flüchtlingsgipfel im Kanzleramt. Simon: Herr Wollseifer, wir entschuldigen uns übrigens für die schlechte Leitung. Das zum Thema Verbesserung der Infrastruktur in Deutschland. – Herr Wollseifer, wann haben Sie eigentlich einen Termin mit dem neuen SPD-Chef? Mit dem haben Sie sicher auch einiges zu besprechen über dessen Vorstellungen. Wollseifer: Mit Herrn Schulz habe ich mich bisher noch nicht getroffen, aber ich freue mich, ihn kennenzulernen, und ich glaube auch, dass es jetzt bis September einige Termine gibt, wo das möglich ist. Es wird auch seitens des Handwerks vielfältigen Gesprächsbedarf geben. Simon: Wo? Wollseifer: Herr Schulz ist ein erfahrener Europapolitiker und gerade jetzt gibt es Binnenmarkt-Initiativen der EU, die die Souveränität der Nationalstaaten nach unserer Ansicht untergraben und die gleichzeitig bisheriges europäisches Recht des EuGH missachten. Simon: Sie meinen zum dualen Ausbildungssystem in Deutschland? Wollseifer: Genau. Die EU-Kommission will sich hinsichtlich des Berufszugangs in 149 Berufen – und davon sind es ja nur 41 Handwerks-Meisterberufe; ansonsten sind auch die freien Berufe, die Ingenieure, die Architekten, Notare, Rechtsanwälte, sogar die Lehrer betroffen -, die Kommission will sich über europäisches Recht setzen, um über die Zuständigkeit der Nationalstaaten diese Berufe, diese Bildung zu regeln, und das zum Nachteil natürlich der deutschen Wirtschaft, des deutschen Handwerks. Simon: Da erwarten Sie sich was von Herrn Schulz mit seiner Idee vom Arbeitslosengeld Q und der Qualifizierung von Älteren, damit die länger arbeiten können und im Beruf bleiben können. Das müsste Ihnen beim Handwerk ja eigentlich gefallen? Wollseifer: Wir glauben, dass es gerecht und sozial ist, wenn wir den Schwachen in unserer Gesellschaft, die, die wirklich nicht mehr können, helfen. Zum Beispiel wird ja viel zitiert der Dachdecker, der nicht bis 67 Jahre arbeiten kann. Ja, wenn der nicht bis 67 Jahre arbeiten kann, dann steht ihm eine Erwerbsminderungsrente zu, und die muss auch so sein, dass er davon leben kann. Das unterstützen wir und das möchten wir auch. Wir möchten auch, dass wir Langzeitarbeitslose besser unterstützen, aber im ersten Arbeitsmarkt, in den Betrieben durch Förderung, durch Erleichterung auch des Kündigungsschutzes und zudem natürlich durch bedarfsorientierte Qualifikationsangebote, also keine Gießkannenförderung. Denn wenn wir zurückschauen, 48 Monate Arbeitslosengeld, meines Erachtens bewirkt das Fehlanreize. Das könnte ein neues Frühverrentungsmodell sein. Und wenn wir zurückschauen, 15, 17 Jahre zurück, da gab es Unternehmen, die sich bei schlechter Konjunktur, sagen wir mal, höherer Personalkosten entledigt haben, und es soll auch Arbeitnehmer gegeben haben, die dieses Frühverrentungskonzept oder Angebot gerne angenommen haben. Das ist nicht gut für die deutsche Wirtschaft, weil auf der anderen Seite ist es ja auch so, dass wir eine Generationengerechtigkeit brauchen, fordern und … Simon: Herr Wollseifer? Wollseifer: Ja. Simon: Ich wollte Sie nicht unterbrechen, aber ganz allmählich drängt unser Programmtipp und die Nachrichten kommen. Deswegen machen wir an dieser Stelle erst mal einen Punkt. Wir werden sicher wieder mit Ihnen sprechen. Viel Erfolg für Ihr Gespräch mit der Kanzlerin heute auf der Handwerksmesse – das war Handwerkspräsident Hans Peter Wollseifer. Auf Wiederhören! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Hans Peter Wollseifer im Gespräch mit Doris Simon
Das Deutsche Handwerk beklagt einen Mangel an Nachwuchskräften. "Wir haben nicht genug Facharbeiter, obwohl wir uns sehr bemühen um die Facharbeiter", sagte der Präsident des Zentralverbandes Deutsches Handwerk, Hans Peter Wollseifer, im DLF. Als Konsequenz forderte er eine bessere Berufsorientierung an Schulen.
"2017-03-13T06:50:00+01:00"
"2020-01-28T10:18:41.535000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/deutsches-handwerk-wir-haben-nicht-genug-facharbeiter-100.html
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Verbot von Plastiktüten rückt näher
Noch gibt es sie: Plastiktüten in der Fußgängerzone. (dpa-Bildfunk / Jan Woitas) Wie viele Plastiktüten werden in Deutschland verbraucht? In Deutschland wurden 2018 pro Kopf rund 24 Plastik-Tragetaschen verbraucht. 2015 lag der Verbrauch noch bei 68 Tüten. Hintergrund ist, dass ein großer Teil der Händler die Kunststofftragetaschen nicht mehr kostenlos an Kunden ausgibt, sondern Geld dafür verlangt. Das Umweltministerium hatte 2016 die Vereinbarung mit dem Handel getroffen, dass sich dieser freiwillig dazu verpflichtet, Geld für Plastiktüten zu nehmen. Hingegen ist in Supermärkten und Discountern der Verbrauch von sehr dünnen Tüten gestiegen, die oft für Obst und Gemüse verwendet werden. Diese sollen vom geplanten Verbot nicht betroffen sein. Wie soll ein Verbot in Deutschland aussehen? Geschäften soll verboten werden, Tüten auszugeben, "die dazu bestimmt sind, in der Verkaufsstelle mit Waren gefüllt zu werden", heißt es im Gesetzentwurf der Umweltministerin. "Häufig landen sie in der Umwelt, wo sie über viele Jahrzehnte verbleiben und jede Menge Schäden anrichten können." Ausgenommen von dem Verbot wären Mehrfach-Tragetaschen aus Kunststoff und die sogenannten Hemdchenbeutel, also die Plastiktüten an den Obsttheken. Schulzes Gesetzentwurf muss durch Bundestag und Bundesrat, im Frühjahr 2020 könnte er beschlossen sein. Dann sollen die Tüten innerhalb von sechs Monaten aus den Läden verschwinden. Wie eine Sprecherin des Ministeriums bestätigte, seien ansonsten Strafen von bis zu 100.000 Euro vorgesehen. Auch die EU macht Vorgaben zu Plastiktüten. So darf der Verbrauch 2025 nur noch bei 40 Stück pro Kopf und Jahr liegen. Sollen zunächst erlaubt bleiben: dünne Plastiktüten an der Obst-Theke. (dpa / Benjamin Nolte) Wie sind die Reaktionen auf den Vorstoß? Der Handelsverband HDE spricht von "reiner Symbolpolitik". Das Verbot sei nach dem Entgegenkommen des Handels durch die freiwillige Verpflichtungserklärung von 2016 "ein klarer Vertrags- und Vertrauensbruch", sagte Hauptgeschäftsführer Genth der "Welt". Lob kam dagegen von der Deutschen Umwelthilfe (DUH): Das Verbot sei richtig, sagte die Stellvertretende Bundesgeschäftsführerin, Metz. Für die Herstellung der Tüten würden Ressourcen vergeudet und das Klima belastet, sie trügen auch zur Verschmutzung der Meere bei. Umweltverbände wie der Nabu weisen darauf hin, dass der Handel trotzdem nicht auf Papiertüten als Alternative setzen dürfe. Diese seien zwar leichter zu zersetzen, in der Herstellung aber nicht ökologischer als Plastiktüten. Wie gehen andere Länder mit dem Thema um? Während in Deutschland noch über ein Plastiktüten-Verbot diskutiert wird, sind ostafrikanische Länder längst weiter. Vorreiter Ruanda hat sogar eine eigene "Plastikpolizei", die in Hotels und Lebensmittelgeschäften Razzien durchführt, um zu kontrollieren, ob illegalerweise Plastiktüten verwendet werden. Andere afrikanische Länder haben nachgezogen. Kenia führte vor zwei Jahren das strengste Anti-Plastiktütengesetz der Welt ein: Wer die Tüten weiterhin in größerem Umfang vertreibt, muss mit hohen Geldstrafen oder bis zu vier Jahren Gefängnis rechnen. Jetzt werden die Plastiktüten in der Landschaft langsam weniger. "Die Hinterlassenschaft eines Gegenstands, den sie fünf Minuten lang benutzen, kann 500 Jahre überdauern. Plastik ist überall im Ökosystem Kenias. Deshalb haben sie das Verbot erlassen. Das war ein phantastischer Moment für das Land", sagte Sam Barratt von der Umweltbehörde der Vereinten Nationen in Nairobi unserer Korrespondentin. (ph/wes)
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Im Supermarkt greifen Kunden seltener zur Plastiktüte, seit es diese nicht mehr kostenlos gibt. Umweltministerin Schulze (SPD) will Plastiktüten per Verbot verbannen. Doch damit sei noch nicht viel gewonnen, kritisieren Umweltschützer. Wir liefern Antworten auf die wichtigsten Fragen zum das Plastiktüten-Verbot.
"2019-09-06T20:23:00+02:00"
"2020-01-26T23:09:33.465000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fragen-und-antworten-verbot-von-plastiktueten-rueckt-naeher-100.html
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Plastikmüll als Giftsammler
Es gibt scheußliche, wenn auch plakative Bilder der Folgen vom Plastikmüll im Meer. Sie zeigen zum Beispiel Vogelskelette von verhungerten Albatrossen. Nur noch die Knochen sind übrig geblieben, und in der Mitte, dort wo einst der Vogelmagen saß, ein Haufen verschlungener kleiner Kunststoffteile – so viele, dass keine echte Nahrung mehr in die Tiere hineinpasste. Das ist die offensichtliche Gefahr des Plastikabfalls. Doch es gibt noch eine zweite, versteckte. Chelsea Rochman, Meeresökologin an der Universität von San Diego in Kalifornien:"Wenn Kunststoffe in den Lebensraum Wasser gelangen, absorbieren sie dort vorhandene Umweltgifte. Wenn wir beim Plastikmüll nur auf die physikalischen Effekte achten, verpassen wir einen ganzen Teil dieser Geschichte. Ich glaube, es ist wirklich wichtig, auch die chemischen Effekte zu verstehen." Umweltgifte im Wasser, dazu zählen unter anderem Polychlorierte Biphenyle und Polyzyklische Aromatische Kohlenwasserstoffe, kurz PCB und PAK. Sie gelten als extrem stabil und krebserregend. Und: Sie lagern sich gerne an die wasserabstoßenden Oberflächen von Kunststoffen an. Darum wirkt Plastik wie ein Schwamm für diese Schadstoffe und reichert sie mit der Zeit an. Wenn Meerestiere den Plastikmüll fressen, könnten sie einer erhöhten Dosis der Giftstoffe ausgesetzt sein. Allerdings ist bisher kaum erforscht, inwieweit Kunststoffe wie Polyethylen, Polypropylen, PVC und PET sich dabei in ihrer Wirkung unterscheiden. Chelsea Rochman startete dazu mit Forscherkollegen ein Experiment."Wir haben frische Plastikpellets, also das Rohmaterial von verschiedenen Kunststoffsorten, in Netzen in das Wasser von Hafenanlagen in der Bucht von San Diego gehängt, also mitten in einer urban geprägten Region." Nach einem, drei, sechs, neun und zwölf Monaten zogen die Forscher einen Teil der Proben wieder aus dem Wasser, um zu messen, wie stark die Belastung der Kunststoffe mit PCB und PAK zugenommen hatte. Dabei stellte Chelsea Rochman fest:"Polyethylen und Polypropylen, also die am weitesten verbreiteten Plastiksorten, nehmen viel höhere Konzentrationen an organischen Schadstoffen auf als PVC und PET." Und zwar entpuppten sich sowohl Polyethylen als auch Polypropylen, die landläufig als wenig umweltschädlich gelten, im Meer als die mehr als zehnmal stärkeren Giftsammler als PVC und PET. Hinzu kam noch ein weiterer überraschender Effekt. Die Forscher waren davon ausgegangen, dass die Kunststoffe nach spätestens drei Monaten mit organischen Schadstoffen gesättigt sein müssten. Doch in der Praxis im Hafenwasser stieg vor allem bei Polyethylen der PCB- und PAK-Gehalt bis zum Ende der Versuchsreihe immer weiter an."Das Plastik zersetzt sich mit der Zeit. Dadurch vergrößert sich die Oberfläche, was dazu führt, dass sie immer größere Mengen der Giftstoffe aufnehmen können." Wenn die Kunststoffteile durch die Zersetzung immer kleiner werden, können sie auch von immer kleineren Meeresorganismen aufgenommen werden. Da diese das Futter für größere Tiere bilden, besteht die Gefahr, dass sich die Schadstoffe aus dem Plastik auf diesem Weg in der Nahrungskette anreichern. Die möglichen ökologischen Folgen für einzelne Tiere wie das gesamte Ökosystem Meer sind bisher kaum erforscht. Chelsea Rochman hat mit ersten grundlegenden Studien begonnen."Derzeit machen wir einen Versuch, bei dem wir das Polyethylen, das wir aus der San-Diego-Bucht gezogen haben, Fischen im Labor zu fressen geben. Wir wollen sehen, ob die enthaltenen Chemikalien sich in den Organismen anreichern und ob sich toxische Effekte zeigen." Ergebnisse dazu liegen noch nicht vor. Allerdings macht eine andere Studie britischer Forscher deutlich, wie wichtig eine Antwort auf diese Frage ist. Der Biologe Richard Thompson von der Plymouth University untersuchte kürzlich 504 Fische aus den Gewässern rund um die britischen Inseln. Bei mehr als einem Drittel von ihnen fand er schon kleine Plastikstückchen von weniger als einem Millimeter Größe im Magen.
Von Lucian Haas
Im Meer schwimmen immer größere Mengen von Plastikmüll. Der kann Fischen und Vögeln zum Verhängnis werden, etwa wenn sie Teile davon verschlucken. Ökologen sehen aber noch eine weitere, versteckte Gefahr: Das treibende Plastik reichert Schadstoffe aus dem Wasser an.
"2013-02-18T16:35:00+01:00"
"2020-02-01T16:08:07.797000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/plastikmuell-als-giftsammler-100.html
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Kampf um Europas Identität
Es sei ein historischer Wendepunkt, der in seiner Grundkonstellation durchaus mit den Jahren 1914 und 1938 zu vergleichen sei. Timothy Snyder, Historiker an der Yale University, gab gleich zu Beginn der Konferenz die Standards vor, an denen das explosive Potenzial der Vorgänge in der Ukraine untersucht werden sollte. Snyder ging noch weiter: Wenn die ukrainische Nation zerfalle, zerfalle damit auch die europäische Idee, oder vielmehr das, was von ihr übrig sei. Denn die Revolte, die zum Sturz von Viktor Janukowitsch und wenig später zur russischen Invasion auf der Krim führte, habe sich ursprünglich gegen ein ukrainisch-europäisches Phänomen gerichtet. "Die Oligarchen profitieren sowohl von der Korruption in der Ukraine, als auch vom österreichischen Bankengeheimnis und von der Möglichkeit, sich die britische Staatsbürgerschaft erkaufen zu können. Insofern ist die Revolution in der Ukraine für die EU eine Gelegenheit: Wenn sie sich bewusst werden, wie viel Einfluss die Oligarchen aus Russland und aus der Ukraine durch ihr Geld und ihr Lobbysystem real in der EU haben, können die Europäer sich überlegen, wie sie ihre Innen- und Außenpolitik neu gestalten." Primat der Politik der Wirtschaft unterlegen Während für den Yale-Professor Europas rechtsstaatliche Demokratie allein durch post-sowjetische Autokratien bedroht wird, wurden auf der Berliner Konferenz auch differenziertere Lösungen angeboten. Längst habe sich nicht nur in der Ukraine, sondern auch bei den Europäern die Überzeugung durchgesetzt, dass das Primat der Politik dem der Wirtschaft endgültig unterlegen sei, sagte Ivan Krastev, Vorsitzender des Zentrums für Liberalismusstudien in Sofia. Politische Entscheidungen, egal wie demokratisch sie getroffen und egal ob sie das linke oder das rechte Lager bedienen, änderten daran nichts. Denn die Eliten bräuchten den Wähler im globalisierten Liberalismus zwar zur Aufrechterhaltung des demokratischen Status quo. Aber weder als Konsumenten, noch als Produzenten, noch zu ihrem eigenen Schutz. "Heute basiert der Schutz unserer Gesellschaften weniger auf dem Einsatz von Bürgersoldaten als auf Drohnen und modernster Militärtechnik. Auch der Wähler als Konsument hat an Bedeutung verloren: Deutsche Produkte werden heute eher in China verkauft als in Deutschland. Und die Arbeitskräfte zur Herstellung von Waren befinden sich heute vorwiegend außerhalb der mächtigen Industriestaaten. Das heißt, dass der Wähler enorm an sozialer Macht verliert." Ivan Krastev diagnostiziert einen fundamentalen Vertrauensverlust in die politischen und wirtschaftlichen Eliten. Die EU werde von den Bürgern als Sachverwalter globaler Wirtschaftsinteressen wahrgenommen und nicht als Gemeinschaft europäischer Identitäten. Wenn Regierungschefs milliardenschwere EU-Rettungsfonds durchwinken, sei das wirtschaftlich zwar sinnvoll, stelle die EU aber vor ein grundlegendes Zukunftsproblem, so Krastev. "Wenn die Menschen Politik nicht mehr als Wettbewerb verschiedener Wirtschaftsinteressen verstehen, wird Politik für sie zusehends eine Frage von Identität. Wenn man also in Europa wirtschaftliche Entscheidungen zusehends zwischenstaatlich regelt, ist das zwar gut für die Wirtschaft, aber gleichzeitig ein großes Risiko für die EU. Denn es ist sehr viel einfacher, über Gehälter zu verhandeln, als über Identitäten." Ernüchternde Antworten Die Krise in Kiew trifft die EU in einem Augenblick, in dem der Staatenverbund zwischen Jugendarbeitslosigkeit, Vertrauenskrise, Rechtspopulismus, europakritischen Bürgerbewegungen und einem allgemeinen Identifikationsmangeln mit "denen in Brüssel" aufgerieben werde. Die deutsche Journalistin Ulrike Winkelmann bedauerte auf der Berliner Konferenz, "...dass die Debatte über die demokratische Identität der EU auf diese Weise unterbrochen wird. Sie begann erst, und es ist zu befürchten, dass die europäischen Institutionen die Gelegenheit nutzen werden, sie wieder abzuwürgen." Wer angesichts der Ukraine-Krise nach den Idealen des heutigen Europas fragt, fand auf der Berliner Tagung ziemlich ernüchternde Antworten. Während an den EU-Außengrenzen um nationale Identität und Zugehörigkeit gekämpft wird, scheint man im vereinten Europa weiterhin nach Identitätsangeboten jenseits des gemeinsamen Marktes zu suchen.
Von Cornelius Wüllenkemper
Welches Europa wollen wir? Für welche Ideale sollten wir kämpfen? Das fragten sich Politikwissenschaftler und Publizisten auf einem Symposium in Berlin. Ihre Antworten fielen ernüchternd aus. An den EU-Außengrenzen werde um Zugehörigkeit gekämpft, im vereinten Europa jedoch nach Identitätsangeboten jenseits des gemeinsamen Marktes gesucht.
"2014-03-29T17:30:00+01:00"
"2020-01-31T13:33:37.319000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/symposium-in-berlin-kampf-um-europas-identitaet-100.html
92,029
Bundesregierung will Wohnungsbau fördern
Bauministerin Barbara Hendricks will den Wohnungsbau ankurbeln. (dpa / picture alliance / Paul Zinken) Ein 10-Punkte-Programm soll ermöglichen, dass bald statt gegenwärtig 270.000 Wohnungen im Jahr mindestens 350.000 gebaut werden, sagte Bundesbauministerin Barbara Hendricks (SPD), darunter bis zu 80.000 Sozialwohnungen. Dafür müssten Hemmnisse beseitigt werden - auf allen föderalen Ebenen. So solle etwa durch eine Gesetzesänderung die "Nachverdichtung" bestehender Wohnsiedlung erleichtert werden. Die Kommunen erhielten dadurch mehr Spielraum, um in Gebieten mit Wohnraummangel Baulücken zu schließen und Baugenehmigungen für Brachflächen zu erteilen. Bundeszuschüsse für sozialen Wohnungsbau sollen steigen Ein weitere Vorschlag sieht vor, bestehende Gebäude dort, wo es technisch und optische kein Problem ist, nach oben aufzustocken. Die Bau- und Immobilienbranche begrüßt diese Idee. Außerdem sollen Verordnungen vereinfacht werden, wie beispielsweise für den Lärmschutz in Wohngebieten oder die Zahl von Auto-Stellplätzen für Neubauten. Das fällt allerdings in die Zuständigkeit der Länder. Hendricks verlangt außerdem eine Verdopplung der Bundeszuschüsse für den sozialen Wohnungsbau auf zwei Milliarden Euro ab dem Jahr 2017. Darüber verhandele sie allerdings noch mit Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU). 300 Millionen Euro sollen zudem zusätzlich für das Programm "Soziale Stadt" ausgegeben werden, mit dem Integrations- und Sozialinitiativen in städtischen Quartieren gefördert werden. Bedarf an Wohnraum gestiegen Teil des Programms ist außerdem eine befristete Sonderabschreibung für den Mietwohungsbau. Demnach sollen bis Ende 2018 35 Prozent der Baukosten steuerlich geltend gemacht werden können. Die Abschreibung gilt nur für Gebiete mit angespannten Wohnungsmärkten. Bauministerin Hendricks betonte, dass das Wohnungsbauprogramm nicht nur Flüchtlingen zugute kommen solle - auch wenn die Zahl der benötigten Wohnungen durch die Ankunft hunderttausender Flüchtlinge gestiegen sei. (cvo/dk)
null
350.000 neue Wohnungen pro Jahr - das ist das Ziel des Wohnungsbauprogramms der Bundesregierung, das das Kabinett heute beschlossen hat. Damit soll der Bedarf an bezahlbarem Wohnraum gedeckt werden. Das Programm sieht unter anderem die Bereitstellung von Bauland, steuerliche Anreize, eine Vereinfachung von Bauvorschriften sowie Mittel für den sozialen Wohnungsbau vor.
"2016-03-09T13:16:00+01:00"
"2020-01-29T18:17:48.426000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/wohnungspolitik-bundesregierung-will-wohnungsbau-foerdern-100.html
92,030
Papst Franziskus ruft zu Mitgefühl mit Flüchtlingen auf
Papst Franziskus enthüllt die Statue des Jesuskinds währen der Weihnachtsmesse in St. Peter (AFP / Andreas Solaro) Die Weihnachtsliturgie in St. Peter ist traditionell besonders festlich - da stört es nicht, dass der amtierende Papst in vielen Dingen nicht besonders an Traditionen hängt. Eine aktuelle Weihnachtsgeschichte wollte Franziskus aus Rom in die Welt senden. In seiner Predigt während der Christmette in St. Peter verglich er die Herbergssuche von Joseph und Maria in Bethlehem mit der Not heutiger Flüchtlinge: "Hinter den Schritten von Maria und Josef verbergen sich viele Schritte. Wir sehen die Spuren ganzer Familien, die auch heute gezwungen sind, von zu Hause wegzugehen. Wir sehen die Spuren von Millionen Menschen, die nicht freiwillig gehen, sondern gezwungen sind, sich von ihren Lieben zu trennen, weil sie aus ihrem Land vertrieben werden. In vielen Fällen ist es ein Aufbruch voller Hoffnung auf eine bessere Zukunft; in vielen anderen Fällen hat dieser Aufbruch nur einen Namen: Überleben. Die aktuellen Nachfolger des Herodes zu überleben, die zur Durchsetzung ihrer Macht und zur Mehrung ihrer Reichtümer nicht davor zurückschrecken, unschuldiges Blut zu vergießen." Einsatz für die Schwachen Seit er im Amt ist, setzt sich Papst Franziskus immer wieder für Migranten und Ausgegrenzte ein. Und immer wieder begründet er es mit der Botschaft der Bibel: In Bethlehem, so der Papst, habe sich der, so wörtlich "revolutionäre Funke der Zärtlichkeit Gottes" entzündet. Bethlehem, der Ort der Weihnachtsgeschichte der Bibel, sei damals ein Lichtblick für Menschen in Not gewesen - und die Geschichte von Bethlehem ist es heute. Denn Weihnachten lädt dazu ein, aktiv zu sein: "Und eben dieser Glaube drängt uns, einer neuen Auffassung des Sozialen Raum zu geben und keine Angst zu haben, neue Formen der Beziehung auszuprobieren, in denen niemand das Gefühl haben muss, in dieser Welt keinen Platz zu haben. Weihnachten ist die Zeit, die Kraft der Angst in eine Kraft der Liebe zu verwandeln, in eine Kraft für eine neue Auffassung von Nächstenliebe." Mit diesen Worten forderte der Papst dazu auf, auf Menschen zuzugehen, die alles verloren haben. Gott mache uns zu Protagonisten seiner Gastfreundschaft, so der Papst. Aufruf zum Frieden Tausende hatten mit Franziskus in St. Peter die Christmette gefeiert, darunter auch viele Ordensleute, Priester und Bischöfe. Heute Mittag wird der Papst in seiner Weihnachtsbotschaft aller Erwartung nach zum Frieden in der Welt aufrufen. Danach spendet er von der Mittelloggia von St. Peter aus den päpstlichen Segen Urbi et Orbi, der Stadt und dem Erdkreis. Dazu werden sich auf dem Petersplatz erwartungsgemäß Zehntausende rund um die große Krippe und den geschmückten Weihnachtsbaum versammeln. Das Ereignis wird von vielen Fernseh- und Radiosendern in die ganze Welt übertragen.
Von Jan-Christoph Kitzler
Papst Franziskus hat die Not heutiger Flüchtlinge mit der Herbergssuche von Joseph und Maria in der Weihnachtsgeschichte verglichen. "Wir sehen darin die Spuren von Millionen Menschen, die nicht freiwillig gehen, sondern gezwungen sind, sich von ihren Lieben zu trennen", sagte Franziskus in seiner Predigt zur Christmette.
"2017-12-25T07:25:00+01:00"
"2020-01-28T11:06:31.082000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/christmette-in-st-peter-papst-franziskus-ruft-zu-mitgefuehl-100.html
92,031
"Leben, arbeiten, essen und tanzen"
Lindy Hopper im Central Park in New York (AFP/Mario Tama/Images) Im New Yorker Stadtteil Harlem auf einem Schulhof an der 125. Straße bietet sich einem am 26. Mai 2014 ein Bild, das man sonst nur aus Musikvideos kennt: Ein Hydrant am Straßenrand ist defekt, Wasser spritzt in alle Richtungen auf den Asphalt, den die Sonne ordentlich aufgeheizt hat. Drum herum tanzen Paare – zur Erfrischung sogar mitten durch die Wasserstrahlen. Sie Schwingen umeinander herum, fliegen auseinander, halten sich nur noch an einem ausgestreckten Arm, und kurz bevor die Verbindung auseinanderzureißen droht ziehen die Herren die Damen wieder zu sich, nur um sie wieder rundherum, oder sogar über sich hinweg zu schleudern. World Lindy Hop day! Dance your troubles away if you have any! Es ist Welt-Lindy-Hop-Tag, der zum 100. Geburtstag von Frankie Manning gefeiert wird. Denn er ist derjenige, der diesen ursprünglichen Swing-Tanz nicht nur in den 20er, 30er und 40er Jahren hier in Harlem mit geprägt hat. Frankie Manning hat Lindy Hop auch in die Welt getragen – allerdings erst, nachdem ihn ein paar tanzbegeisterte Schweden in den 80er-Jahren wiederentdeckt hatten, wie Luther Gales, ein 79-jähriges Harlemer Urgestein erzählt. "In den 50er-Jahren kam die Bigband Musik zum erliegen. Viele Musiker suchten sich kleinere Bands und die Lindy Hop-Tänzer waren nicht mehr gefragt. Also hat Frankie angefangen, bei der Post zu arbeiten, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Erst irgendwann in den späten 80ern haben ein paar Europäer den Swingtanz wieder für sich entdeckt und suchten die Tänzer aus den alten Videos. Einer von ihnen rief Frankie Manning an und fragte: Sind sie Frankie Manning, der Swing-Tänzer? Und er sagte: Nein, ich bin Frankie Manning, der Postangestellte. Er war ein sehr bescheidener Mensch!" Von der Poststelle in die Welt getanzt Seit diesem Anruf in den 80ern bis zu seinem Tod vor fünf Jahren reiste der pensionierte Postangestellte Frankie Manning nach Schweden, Singapur, Südafrika, Argentinien, Kanada und in viele andere Länder, und brachte der neuen Lindy Hop Generation bei, wie man in den 20er, 30er und 40er Jahren in Harlem getanzt hat. Alle, die an diesem Tag, seinem 100. Geburtstag, am Ursprungsort des Lindy Hop zusammen gekommen sind und jetzt auf Frankies früherem Schulhof und im Wasser des Hydranten tanzen, haben das irgendwie von Frankie Manning oder einem seiner Schüler und Schülerinnen gelernt. Die New Yorkerin Amy Winn organisiert im Rahmen der Feierlichkeiten ein Swing-Konzert im Central Park, aus Dankbarkeit für dieses Vermächtnis. Amy Winn :"Woran sich viele erinnern ist Frankies Energie und sein Temperament. Und er war so großzügig! Ich meine, der Mann war 95 und ist durch die Welt getourt, um Lindy Hop zu unterrichten - 30 Wochen im Jahr, unermüdlich. Als er starb habe ich zu einer Freundin gesagt: Das erstaunlichste an Frankies Tod ist, dass wir alle überrascht sind, dass ein 95-Jähriger stirbt. Er hat uns alles gegeben und wir sind sehr glücklich über dieses Vermächtnis, denn es hätte so leicht verloren gehen können. Also feiern wir jetzt, fünf Jahre nach seinem Tod eine Geburtstagsparty für ihn. Weil wir das nie vergessen wollen. " Dank des Personenkultes, der um Frankie Manning entstanden ist, wird er nicht vergessen, sondern an diesem Tag in den Lindy Hop Gemeinden weltweit gefeiert. Auch in seiner Heimat Harlem. Das ist keinesfalls selbstverständlich, bemerkt Jana Grulichova, Lindyhopperin aus Prag, die eine Tanzschule in Barcelona führt. Jana Grulichova:"Es ist unglaublich hier in Harlem zu sein und die Menschen zu sehen, die aus dem Fenster schauen und fragen: Was ist denn das? Es gibt hier so viele Menschen, die nicht wissen, was Lindy Hop ist. Aber sie sind neugierig und lächeln und man sieht, dass auch die Leute auf der Straße Freude daran haben, obwohl sie keine Tänzer sind. Aber sie sind von dem Ort, wo alles begann." An normalen Tagen ist in Harlem nicht mehr viel zu sehen oder zu hören von den goldenen 20ern und der Swing Ära. Die Ballsäle und Theater gibt es nicht mehr, in den Hochhäusern aus Beton und den für New York charakteristischen Reihenhäusern aus braunem Sandstein wohnen zwar immer noch hauptsächlich Menschen mit dunkler Hautfarbe, aber sie tanzen zu Trommeln oder Beatbox, nicht zur Bigband. Luther Gales, der Lindy Hop auch erst in den 80ern für sich entdeckt hat, obwohl er seit den 30ern in Harlem lebt, bedauert das. "Wenn du Hiphop auflegst, dann können die ihren Körper bewegen, man, ich liebe es, wie sie ihren Körper bewegen! Aber sie können nicht tanzen. Die afroamerikanische Jugend, alle unter 40 können nicht tanzen." Der legendäre Savoy Ballroom Luther Gales findet es ironisch, dass jetzt stattdessen viel mehr junge Asiaten und hellhäutige Europäer auf diesem Schulhof in Harlem tanzen und sich der Hitze zum trotz ergötzen an den Freudensprüngen, Albernheiten und der Energie, die zwischen Band und Tänzern hin und her springt. Nur bei dem ein oder anderen älteren Harlemer Lindy Hopper richtet sich der Blick ab und zu wehmütig gen Norden, die Lennox Avenue hinauf, wo einst der Savoy Ballroom stand – der Tanzsaal, in dem Frankie Manning mit seiner Tanzpartnerin Norma Miller vor rund 75 Jahren jeden Abend übers Parkett zu fegen pflegte. Norma Miller:"Tanzen war sehr wichtig für die schwarze Bevölkerung, weil es das einzige war, was wir hatten. Darum haben wir getanzt und deswegen waren wir so gut darin. Wir hatten sonst nichts. Wir waren zuerst im Renaissance Ballroom. Das war einfach ein Klub in dem sich die Jugend traf. Dort haben alle jungen Leute getanzt, und dort hat Frankie getanzt und ich. Wir haben nur getanzt, das war nichts besonderes. Und als wir ein bisschen älter waren, tanzten wir im Savoy Ballroom, der auch in Harlem war. Wir haben nicht außerhalb von Harlem getanzt, denn Harlem war der einzige Ort, an dem wir gelebt, gearbeitet, gegessen und getanzt haben. Alles war in Harlem." Leben, arbeiten, essen und tanzen – daran sieht man, welchen Stellenwert das Tanzen noch immer in Norma Millers Leben hat. Obwohl sie mit ihren 94 Jahren altersgemäß etwas wackelig auf den Beinen ist, wirft sie sich immer noch gerne in Glitzerfummel, deren Saum sie bei Showeinlagen auf der Bühne keck ein Stückchen lüpfen kann. Das Lied Rythm Queens spielt die Carling Familie an diesem Abend nur für Norma Miller und die wenigen weiteren Botschafterinnen aus der ersten Lindy Hop Ära, die der Gemeinschaft noch geblieben sind. Gunhild Carling, die Sängerin, ist vielleicht die Norma Miller dieser neuen Swing-Ära. Sie ist aus Schweden, wo die Renaissance des Lindy Hop in den 80er Jahren begann, und auch sie genießt es sichtlich, ihre Energie von der Bühne aus zu versprühen. Abwechselnd tanzt, lacht und singt sie und spielt Posaune, Trompete oder sogar Dudelsack. Gunhild Carling :"Das war fantastisch. Ich habe das Gefühl, dass ich das Publikum überzeugt habe. Ich habe rap du di dap du ba di. Und sie haben geschrien. Also Lindy Hop ist mein Leben, weil ich mit meiner Familie Tournee gemacht habe seit ich ganz jung war, sieben Jahre. Und wir haben traditionellen Jazz gespielt. Und so war ich dabei! Als ich zwölf, dreizehn Jahre alt war war ich jedes Wochenende draußen und habe getanzt und Swing gespielt mit meiner eigenen Generation und natürlich mit allen Generationen." Solange es Menschen gibt wie Gunhild Carling und die anderen 2000 Lindy Hopper, die um die halbe Welt gereist sind, um zusammen zu tanzen, und einfach Spaß zu haben, wird es diesen Tanz geben. Die baulichen Wahrzeichen, die Theatern und Tanzsälen der Swing Ära sind schon längst verschwunden. Aber Lindy Hop bleibt, als lebendiges und überregionales Andenken an die goldenen Zeiten von Harlem.
Von Isabell Ullrich
In den goldenen 1920er-Jahren fingen die Harlemer an, zur Musik der Big Bands zu tanzen. Und als Charles Lindberg mit dem Flugzeug den Atlantik überquerte und die Zeitungen titelten "Lindy hops the Atlantic" hatte der Tanz auch einen Namen: Lindy Hop. In Harlem erinnern tausende Lindy Hopper in den Erfinder des Tanzes: Frankie Manning.
"2014-07-13T11:30:00+02:00"
"2020-01-31T13:52:23.987000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/lindy-hop-leben-arbeiten-essen-und-tanzen-100.html
92,032
Der Machtkampf um Russlands Rückkehr in den Sport
"Den Haag anstatt Paris": Proteste vor der IOC-Zentrale in Lausanne gegen die Zulassung von Russland und Belarus (Fabrice Coffrini / AFP)
Rieger, Maximilian
Die Isolation von Russland im Weltsport ist vorbei – unter neutraler Flagge sollen Athleten wieder antreten dürfen. Die Entscheidung treffen aber die einzelnen Sportverbände. Es geht um die Werte des Sports und die Zukunft von Olympia.
"2023-05-11T17:01:07+02:00"
"2023-05-11T17:15:37.798000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kanu-praesident-konietzko-der-machtkampf-um-russlands-rueckkehr-in-den-sport-dlf-b15522e9-100.html
92,033
Verboten oder unverzichtbar?
Masthähnchen in Massentierhaltung (picture alliance / dpa) "Wenn ich den Richtern einen Rat geben könnte, würde ich sagen: Das Informationsbedürfnis ist ein hohes Gut, das in der Vergangenheit auch in der Rechtssprechung als solches bezeichnet worden ist, und es kann nicht sein, dass wir künftig eine Rechtslage erhalten, in der wir vergleichbares Material nicht mehr senden dürfen," sagt Monitor-Chef Georg Restle im Gespräch mit @mediasres. Wenn es darum geht, heimlich gedrehte Filme zu verwenden, kommt es immer auf den Einzelfall an, so die Einschätzung von Restle. Natürlich hätten grundsätzlich die Besitzer solcher Ställe Persönlichkeitsrechte, die geschützt werden müssten. Journalisten dürften nicht einfach ohne Erlaubnis auf das Gelände und in die Ställe eindringen. Tatsache sei aber auch, "dass das Informationsinteresse in Fällen wie in dem vorliegenden, da ging es ja um Tierquälerei, dass dieses Interesse hoch gewichtet werden muss", erklärt Restel weiter. Er hofft, "dass der BGH die Urteile der Vorinstanzen aufhebt und in einem Grundsatzurteil deutlich macht, dass das Informations- und Berichterstattungsinteresse von Journalisten ein hohes Gut sind, die in diese Wagschale geworfen werden muss und auch entsprechend gewichtet wird". In der Monitor-Redaktion gehen die investigativen Dreh-Teams konkreten Anhaltspunkten für Missstände nach und filmen in diesen Fällen auch verdeckt. Das sei im Gegensatz zu Tonaufnahmen rechtlich möglich. Bisher sei die Rechtsprechung bei der Frage der Bildverwendung auch recht liberal gewesen, so Restle. Er hoffe, dass sie auch so aufrecht erhalten bleibe. (Aktenzeichen beim BGH: VI ZR 396/16, Urteil wird am 10.04.18 erwartet)
Georg Restle im Gepräch mit Christoph Sterz
Heimliche Filmaufnahmen aus Bio-Hühnerställen beschäftigen den BGH. Ein Erzeugerzusammenschluss aus Mecklenburg-Vorpommern klagt gegen den MDR, der heimlich gedrehte Bilder in der Sendung "Fakt" veröffentlicht hat. Das Urteil wird im April gefällt. Im Gespräch mit @mediasres bezeichnet Georg Restle, Leiter von "Monitor", "das Informationsbedürfnis als hohes Gut".
"2018-03-13T15:35:00+01:00"
"2020-01-27T17:43:10.397000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/heimliche-tieraufnahmen-verboten-oder-unverzichtbar-100.html
92,034
"Wir werden kämpfen bis zum Schluss"
Im Deutschlandfunk kritisierte Schawn das Urteil des Kölner Landesgerichts in erster Instanz, das eine Herausgabe der Tonbänder angeordnet hatte. Es habe bei den 2001 und 2002 geführten Gesprächen kein Auftragsverhältnis gegeben, nur einen Vertrag mit dem Verlag, so Schwan. Das Urteil sei deshalb für ihn überraschend gekommen. Bei dem Streit geht es nach Angaben des Journalisten "grundsätzlich um die Deutungshoheit", die Bänder seien dabei "eine wichtige Sache, aber nicht entscheidend". Schwan kritisiert vor allem die Rolle von Kohls zweiter Ehefrau Maike Kohl-Richter. Diese habe nach dem schweren Sturz Kohls 2008 die Gelegenheit genutzt, ihm, Schwan, den "Laufpass zu geben". Bis dahin war der Publizist mit der Erstellung des vierten Bandes der Memoiren des ehemaligen Bundeskanzlers beschäftigt. Dass auch Kohl selbst ihn heute nicht mehr sehen will, sei möglich, so Schwan, genau könne man das aber nicht wissen: "Wer weiß denn, wie Helmut Kohl heute tickt, wie sein Gesundheitszustand ist?" Kohl artikuliere sich nicht mehr, "weil sie immer dabei ist". Auf den laut Schwan rund 200 Tonbändern hatte der Journalist lange Rechercheinterviews mit Kohl aufgenommen. Auf dieser Grundlage verfasste er dann als Ghostwriter die ersten drei Bände von Kohls Memoiren. Das Interview in voller Länge: Christoph Heinemann: Vor dem Kölner Oberlandesgericht wird ab heute die Berufungsverhandlung zwischen dem Journalisten Heribert Schwan und dem früheren Bundeskanzler Helmut Kohl geführt. Kohl hatte gegen Schwan auf Herausgabe von Tonbändern erfolgreich geklagt. Schwan hatte über Jahre etwa 200 Tonbänder mit Kohl-Interviews gesammelt für eine große Biografie. Die Zusammenarbeit zwischen beiden endete abrupt. Helmut Kohl hatte nach dem ersten Urteil des Kölner Landgerichts alle Bänder zurück bekommen. Heute beginnt die Berufung und ich habe mit Heribert Schwan vor dieser Sendung das folgende Gespräch geführt: Heribert Schwan, wieso sollte die zweite Instanz anders entscheiden als die erste? "Es gibt kein Auftragsverhältnis zwischen Helmut Kohl und mir" Heribert Schwan: Gute Frage. In der ersten Instanz ist entschieden worden, dass es zwischen Helmut Kohl und mir ein Auftragsverhältnis gab, und aus diesem Auftragsverhältnis hat das Landgericht in Köln einen Herausgabeanspruch von Helmut Kohl abgeleitet. Es ging nicht um die Frage, wem gehören die Bänder, sondern es ging alleine darum, Auftragsverhältnis, und das ist falsch. Es gibt kein Auftragsverhältnis zwischen Helmut Kohl und mir und deswegen gibt es auch keinen Herausgabeanspruch von ihm. Warum, weil ich einen Vertrag mit dem Verlag hatte. Ich habe von Helmut Kohl nicht ein ... Heinemann: Aber das wussten doch die Richter? Schwan: Das ist den Richtern mehrfach klar gemacht worden und sie haben aber aus dem Vertrag gemeint, es so rauslesen zu können. Wir haben gesagt, es gibt kein Auftragsverhältnis, und deswegen sind wir auch in die nächste Instanz gegangen. Für uns war ja das Urteil sehr überraschend. Nach den mündlichen Verhandlungen und so weiter hätte ich niemals geglaubt, dass ich gezwungen werde, die Bänder rauszugeben. Deswegen sind wir in die nächste Instanz gegangen und ich sage Ihnen, das Landgericht hat uns einen Satz an die Seite geschickt, in dem man zu bedenken gibt, mal darüber nachzudenken. Da ist von Auftragsverhältnis, von Herausgabeanspruch kein Wort. Und sie haben das angenommen. Sie haben unsere Revision angenommen. Das ist ja auch schon ein interessanter Hinweis. Ich bin kein Jurist, aber immerhin. Heinemann: Sind Sie eigentlich sicher, dass es diese Bänder noch gibt? Schwan: Die Bänder gibt es vermutlich schon noch. Ich musste sie nach diesem Gerichtsbeschluss herausgeben. Ich musste sie abgeben. Ich habe 200 Bänder abgegeben, das sind jede Menge gewesen, unter Beisein der Anwälte von Kohl, von meinem. Ein Gerichtsvollzieher hat die eingezogen und ich musste sogar eine eidesstattliche Erklärung abgeben, dass ich auch alle Bänder abgegeben habe. Der Vorschlag wird auch heute sein, die Bänder, die Originalbänder kommen in die Konrad-Adenauer-Stiftung und jede Seite kriegt eine Kopie und jede Seite kann damit machen, was sie will. Das werden wir wieder vorschlagen als Kompromiss, um die Sache zu klären. Aber die Gegenseite will ja im Grunde genommen verhindern, dass ich eine Zeile daraus nehme und daraus schreibe. Heinemann: Warum? "Es geht grundsätzlich um die Deutungshoheit" Schwan: Weil sie natürlich glauben, die Deutungshoheit hätte ich dann tatsächlich mithilfe der Bänder. Sie wollen sie vom Markt ziehen, sie wollen sie mir aus der Hand nehmen und wollen dann selbst - - Es geht grundsätzlich um die Deutungshoheit. Die Frau Maike Kohl-Richter will die Deutungshoheit für sich anerkannt haben und da sind natürlich die Bänder eine ganz wichtige Sache, aber sie sind nie entscheidend. Heinemann: Das behaupten Sie jetzt so einfach. Vielleicht will ja Helmut Kohl ganz einfach, dass er seine Bänder zurückbekommt. Sie schieben es jetzt seiner Frau in die Schuhe. Schwan: Helmut Kohl wäre niemals auf die Idee gekommen, die Bänder zu besitzen. Ich habe versucht, nachdem meine Schwester die Bänder abgeschrieben hat, dem Helmut Kohl klarzumachen, er könne die schriftlichen Stücke noch mal bearbeiten, erweitern, ergänzen, korrigieren vielleicht, abschwächen, verstärken. Er hat sich nie dafür interessiert. Sehen Sie, 2001/2002 sind die Bänder produziert worden. 2012 kommt man auf die Idee, fast nach zehn Jahren, an die Bänder zu kommen, nur weil ich gesagt habe, ich habe hier einen Schatz. Den hatte man offenbar ganz vergessen. Helmut Kohl hat sich weder für die abgeschriebenen Manuskripte interessiert, noch für die Bänder niemals. Außerdem ist die Frage des Urheberrechts natürlich berechtigt. Er hat Urheberrecht, ich habe Urheberrecht, das Eigentum ist mir, liegt bei mir. Heinemann: Schauen wir mal auf diese Periode, 2002 bis _12. Wann kam es da zum Bruch und wie? Schwan: Der Bruch kommt daher, dass ich versucht habe, durch meine Erfahrung und nachdem ich 100 Seiten, 200 Seiten, 400 Seiten geschrieben hatte erfahren habe, dass sie für die Lesungen der Manuskripte ein Störfaktor ist. Heinemann: Sie ist die Frau? Schwan: Die Maike Kohl-Richter. Damals hieß sie noch Maike Richter. Ein Störfaktor, und das geht nicht so weiter. Die hält uns auf mit Fragen nach dem Punkt, nach dem Komma, der Interpunktion, nach Groß- und Kleinschreibung, nach "ei" oder "ai", und da habe ich gesagt, das mache ich nicht, das mache ich nicht mehr mit, ich gebe die Manuskripte ab und dann ist es gut, dann können Sie reden. Und dann kam eine Situation, wo es um die Wertung, die Charaktereigenschaft von Hannelore ging, und da hat sie einfach gesagt, Helmut, das stimmt doch hinten und vorne nicht. Dann hat Helmut gesagt, doch, das stimmt, das bleibt so, und da habe ich gesagt, ich komme nicht mehr nach Oggersheim mit meinen fertig geschriebenen 100 Seiten oder 200 Seiten, das mache ich nicht mehr, und dann habe ich ihm gesagt, das mache ich nicht, das geht mir auf den Wecker und so weiter und so fort. Dann hat er gesagt, sie kommt nicht mehr dazu, dann war sie nicht mehr dabei und sie hat wie gesagt null Mitarbeit an diesen Bändern gehabt, an diesen Memoiren, überhaupt nichts, und sie ist auch geblieben. Dann kam der schwere Sturz von ihm und dann kam aus ihrer Sicht die Chance, mir den Laufpass zu geben, alles zum Nachteil von Helmut Kohl. Ich hatte den vierten Band zur Hälfte schon fertig. Wir hatten über einen internationalen Band gesprochen. Ich hatte ein Konzept für einen internationalen Band vorgelegt. Alles nicht da, alles vorbei. Heinemann: Herr Schwan, aber offenbar hat er dem doch zugestimmt. Offenbar will er Sie auch nicht mehr sehen. Schwan: Das ist gut möglich, dass er mich nicht mehr sehen will, genauso wie er seinen Fahrer nach 50 Jahren nicht mehr sehen will. Heinemann: Aber das ist sein Recht. "Wer weiß denn überhaupt, wie Helmut Kohl heute noch tickt?" Schwan: Sein Recht. Aber wer sagt denn eigentlich, dass das so ist? Wer weiß denn überhaupt, wie Helmut Kohl heute noch tickt? Wer weiß denn wirklich über seinen Gesundheitszustand bescheid? Wer ihn besucht, kommt zurück und sagt mir, er redet kein Wort, er sagt nichts. Er nickt und lächelt, oder ist trübe gestimmt. Er artikuliert sich nicht mehr, bei keinem Gast, weil sie immer dabei ist. Und wer sagt dann eigentlich, dass das im Sinne von Helmut Kohl ist? – Ich sage noch mal ein Beispiel des wichtigen Mannes Ecki Seeber, viel wichtiger als ich. Heinemann: Das ist der Fahrer? Schwan: Der Fahrer, der ihm das Leben gerettet hat, mehrfach, wirklich. Wie kann man einen solchen Geheimnisträger, den größten Geheimnisträger der Republik rauswerfen nach so vielen Jahren? Sein Lebenswerk so beenden, wie sie es gemacht hat? Das kann nicht im Sinne von Helmut Kohl sein. Und wieso kann es im Sinne von Helmut Kohl sein, auf den vierten Band zu verzichten? Das ist seine Bilanz seiner 16 Jahre Kanzlerschaft. Die erscheint nicht! Und der Bruch zu ihm, der liegt jetzt fünf Jahre zurück. Die Frau ist nicht in der Lage – und ich weiß, wer schon alles angesprochen worden ist, den vierten Band zu schreiben -, nicht in der Lage, jemanden zu finden. Sie wird niemanden finden. Heinemann: Welche Folgen hätte es für Sie, Heribert Schwan, wenn Sie diese Bänder nicht zurückbekämen? "Wir werden kämpfen bis zum Schluss" Schwan: Wir würden in die nächste Instanz gehen nach Karlsruhe. Wir werden kämpfen bis zum Schluss, weil wir das für ungerecht halten. Und ich hoffe, dass dieses Oberlandesgericht unserer Argumentation folgt. Wenn Sie überlegen, dass diese künftige Witwe 16 Stunden WDR-Filmmaterial, das ich gedreht habe mit Helmut Kohl, unter den Nagel gerissen hat, wenn Sie überlegen, dass sie ... Heinemann: Entschuldigung! Unter den Nagel gerissen - - Das ist doch juristisch untermauert. Schwan: 16 Stunden hat sie unter den Nagel gerissen, wie man sagt. Der WDR, die Rechtsabteilung hat ihr das überlassen. Und sie hat alles gestoppt, aus diesem Material darf nichts mehr gesendet werden, 16 Stunden. Zweiter Fall: 30 Stunden hat der Kollege Schaad ein Doku-Drama gedreht, hat sie weggenommen vom ZDF, darf nicht gesendet werden. Jetzt ist sie an meinen Bändern dran, die natürlich noch brisanter sind als alles, was bisher da ist, weil es noch länger ist, noch viel mehr ist und noch ohne Kamera ist. Das ist auch noch ein großer Unterschied. Heinemann: Helmut Kohl lebt aus der Öffentlichkeit ja weitgehend zurückgezogen. Das haben Sie selber eben gesagt. Er ist körperlich eingeschränkt. Schwan: Erheblich! Heinemann: Die Familienverhältnisse sind so, wie sie sind. Wieso lassen Sie ihn nicht einfach in Ruhe? "Es ist absolut schädlich für Helmut Kohl, diese Sachen nicht zu senden" Schwan: Habe ich den Prozess angefangen? Wieso soll ich ihn in Ruhe lassen? Sie macht doch die Unruhe. Sie sorgt dafür, dass der vierte Band nicht erscheint. Sie sorgt dafür, dass sie sich ständig irgendwo vor Gerichte stellt. Sie sorgt dafür, dass sie mit der ganzen intellektuellen Schar von Journalisten und so weiter im Kampf liegt. Es wird doch niemand mehr sagen, die Frau hat Recht. Sie sind jetzt der einzige, der das vielleicht meint, aber Sie sollen auch ruhig kritisch sein. Es ist absolut schädlich für Helmut Kohl, diese Sachen nicht zu senden. Es ist seine Sicht der Dinge gewesen. Sie werden jetzt vergraben und irgendwann hat sie die Deutungshoheit, und solange ich lebe, werde ich ihr die Deutungshoheit streitig machen, und dabei bleibe ich. Heinemann: Der Journalist Heribert Schwan – heute beginnt das Berufungsverfahren um die Herausgabe von Tonbandaufzeichnungen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Heribert Schwan im Gespräch mit Christoph Heinemann
Die Berufungsklage von Kohl-Biograf Heribert Schwan gegen die Herausgabe von Tonbandaufzeichnungen von Gesprächen mit Altbundeskanzler Helmut Kohl beschäftigt heute das Oberlandesgericht Köln. Sollte er diesmal nicht Recht bekommen, gehe er in die nächste Instanz, sagte der Publizist im DLF.
"2014-07-18T06:50:00+02:00"
"2020-01-31T13:53:19.458000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/streit-um-helmut-kohl-nachlass-wir-werden-kaempfen-bis-zum-100.html
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Die Periheldrehung des Merkur
Der Horizont des Planeten Merkur, aufgenommen von der NASA-Sonde Messenger im September 2009 (NASA/Johns Hopkins University Applied Physics Laboratory/Carnegie Institution of Washington) Im Jahr 1687 hat Isaac Newton sein Gravitationsgesetz veröffentlicht - es erklärt, wie ein Apfel vom Baum fällt und ein Planet um die Sonne kreist. Die Astronomen wähnten sich seitdem in der komfortablen Lage, den Lauf der Gestirne präzise berechnen zu können. Doch im 19. Jahrhundert offenbarten immer bessere Teleskope, dass der Planet Merkur nicht ganz dem Newtonschen Gesetz folgt, erklärt Benjamin Knispel vom Albert-Einstein-Institut für Gravitationsphysik in Hannover: "Die Merkurbahn ist eine Ellipse. Normalerweise, wenn ich jetzt annehme, die Gravitation wäre so einfach wie bei Newton, wie man es in der Schule lernt, sollte diese Ellipse raumfest stehen. Das tut sie aber nicht: Sie dreht sich ein bisschen. Das liegt zum einen daran, dass die anderen Planeten mit ihrer Schwerkraft da herum ziehen. Aber wenn ich das alles weg rechne, dann bleibt immer noch so ein kleiner Rest, ganz wenig, 43 Bogensekunden pro Jahrhundert, aber man konnte das messen, auch schon Ende des 19. Jahrhunderts, und hatte keine Ahnung woran es liegt." Warum ändert sich Merkurs Bahn? Dass sich die Merkurbahn ständig verändert - Fachleute sprechen von der Periheldrehung -, brachte die Astronomen in Erklärungsnot. Als Lösungsvorschläge kursierten Staub in der Nähe der Sonne, ein hypothetischer Planet noch innerhalb der Merkurbahn oder die Abplattung der Sonne. Doch keiner dieser Effekte konnte erklären, warum sich die Merkurbahn pro Jahrhundert um 43 Bogensekunden oder gerade mal gut 10.000 Kilometer verschiebt - dies gelang erst, als sich Albert Einstein des Problems annahm, erklärt Knispel: "Das ist genau, was sich letztendlich durch die allgemeine Relativitätstheorie ergibt. Es geht gar nicht anders. Es ist eine Unvollständigkeit der Newtonschen Gravitationstheorie. Und bei der allgemeinen Relativitätstheorie kommt direkt der richtige Wert heraus, also diese 43 Bogensekunden. ... Das Gravitationsfeld der Sonne ist ein starkes Gravitationsfeld oder eben stark genug, weil der Merkur relativ nah dran ist, und ist eben nicht durch diese Newtonsche Näherung beschrieben. Das bedeutet, da kommt noch ein zusätzlicher Term hinzu, der das Gravitationsfeld etwas anders macht. Diese Abweichung sehe ich dann eben." In unserem Alltag fallen die Unterschiede zwischen dem Newtonschen und dem Einsteinschen Regelwerk zumeist nicht auf. Erst wenn es um große Massen und äußerste Präzision geht, sind auch die relativistischen Effekte zu berücksichtigen. Für Albert Einstein war die Merkurbahn ein ganz wichtiges Erfolgserlebnis bei der Entwicklung seiner Theorie, betont Benjamin Knispel: "Das war natürlich schon ein wichtiger Punkt, der ihn eben bekannt gemacht hat in der Wissenschaftsgeschichte, wo man gesagt: OK, diese Theorie ist nicht ein rein mathematisches Konstrukt, sondern da scheint wirklich etwas dran zu sein, wenn es dieses damals schon lange bestehende Problem löst." Kleiner Planet brachte große Anerkennung für Einstein Die elegante Erklärung der Merkurbahn brachte der allgemeinen Relativitätstheorie gleich nach ihrer Veröffentlichung 1915 große Akzeptanz unter Wissenschaftlern ein. Dagegen nahm die breite Öffentlichkeit von Albert Einsteins neuer Idee zunächst kaum Notiz. Zum Popstar wurde der Physiker erst, als wenige Jahre später ein von seiner Theorie vorhergesagter, bis dahin aber noch unbekannter Effekt beobachtet worden war. Der Kosmologe Michael Turner von der Universität von Chicago staunt auch hundert Jahre nach Einstein noch darüber, welche Rolle der kleine Planet Merkur gespielt hat - ein Objekt, das Forscher, die sich mit dem Aufbau der Welt beschäftigen, an sich für völlig unbedeutend halten: "Die Theorie, die die Bewegung Merkurs erklärt, war nicht einfach Newton und etwas mehr. Es war etwas völlig Neues: die Einsteinsche Relativitätstheorie! Diese Lehre der Wissenschaftsgeschichte sollten wir immer im Kopf haben, wenn wir uns heute mit großen Theorien über Dunkle Materie oder den Urknall beschäftigen. Auch wenn diese nur bei kleinen, vermeintlich unwichtigen Aspekten nicht stimmig sind, so könnte das stets ein Menetekel sein. Vielleicht erwartet uns bald wieder eine viel größere Revolution, als wir uns heute vorstellen."
Von Dirk Lorenzen
Die allgemeine Relativitätstheorie ist eine Theorie der Schwerkraft, ideal für Phänomene in Milliarden Lichtjahren Entfernung oder mit riesigen Massen. Doch bei der ersten direkten Anwendung dieser Theorie ging es nicht um den Kosmos, nicht um Galaxienhaufen, sondern um den kleinsten Planeten im Sonnensystem: Merkur.
"2015-06-09T16:35:00+02:00"
"2020-01-30T12:41:16.486000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/einstein-auf-dem-pruefstand-die-periheldrehung-des-merkur-100.html
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Jedem Schulkind ein Tablet
Kenia: Schüler posieren mit ihren neuen Tablets. (Deutschlandradio / Linda Staude) "Willkommen zu den Naturwissenschaften für das erste Schuljahr, sagt die freundliche Computerstimme leicht blechern. Hier erfahren wir alles über uns selbst und unsere Umgebung. Lernt und habt Spaß." Die Erstklässler beugen sich eifrig über die Tablets vor ihnen. Emmanuel zieht mit dem Finger ein paar Augen an die richtige Stelle in einem leeren Gesicht. "Wir lernen die Körperteile. Den Kopf, die Schultern, die Knie und Zehen." Der Siebenjährige ist mit Feuereifer bei der Sache. In Sekundenschnelle ist der digitale Körper auf dem Bildschirm komplett. Lehrer Asairas Kagacha lässt den Rest der Klasse für die Schnellsten applaudieren: "Früher mit den Schulbüchern waren die Schüler manchmal gelangweilt. Aber mit den Geräten können sie mehr entdecken und lernen mehr." Sechs-Milliarden-Projekt mit Anlaufschwierigkeiten Die Roysambu-Grundschule in Kasarani am Rand von Nairobi ist eine der rund 150 Pilotschulen, die Tablets geliefert bekommen haben. Im Mai war das – mehr als drei Jahre, nachdem Uhuru Kenyatta das Laptop-Projekt im Wahlkampf versprochen hatte: "Wir werden dieses Programm Jahr für Jahr fortsetzen, bis jeder Grundschüler eine Tasche und einen Laptop hat." Das Sechs-Milliarden-Projekt des Präsidenten hatte gewaltige Anlaufschwierigkeiten: Die Produktion der gut eine Million Tablets hat sich verzögert, genau wie die Entwicklung der kindgerechten Lern-Software (Anm. d. Online-Redaktion: Aus den ursprünglich angekündigten Laptops wurden schließlich Tablets). IT-Experte Eric Hersman hält das Geld trotzdem für gut angelegt: "Denn selbst wenn nur 10.000 Grundschüler, also ein Prozent, wirklich etwas daraus machen - stellen Sie sich vor, was das für dieses Land bedeutet: 10.000 Super-Ingenieure. Das ist eine große Sache." Die kleine Klasse von Lucy Kathogo sagt das Alphabet auf. Unter einem Baum auf dem Land, weil das Schulgebäude noch eine Baustelle ist. Mentale Entwicklung statt Luxusobjekte "Wir müssen erst mal die Grundbedürfnisse erfüllen. Wenn wir keine Klassenzimmer haben, keine Toiletten, kein fließendes Wasser, dann sollten wir uns zuerst um die mentale Entwicklung der Kinder kümmern, statt Luxusobjekte anzuschaffen." Jeder fünften Schule in Kenia fehlt es am Nötigsten – wie dem Strom, um die versprochenen Tablets der Schüler wieder aufzuladen. Sarah Nyota, die Direktorin der Roysambu-Pilotschule, ist trotzdem begeistert: "Unsere Schule ist so beliebt geworden. Selbst die mächtigen Privatschulen kommen zu uns für einen Qualitätsvergleich. Also wir sind glücklich." Die Kinder sind es auch. Die siebenjährige Esther sitzt noch an ihrem Tablet, nachdem die Stunde längst vorbei ist. "Die Zeit ist noch nicht reif" "Ich mag die Laptops, weil man damit alles für die erste und zweite Klasse lernen kann. Bisher hatte ich nicht mal einen gesehen." Bevor tatsächlich alle Kinder am Computer lernen, werden allerdings noch einige Jahre ins Land gehen, befürchtet Eirene Kamau, die Geschäftsführerin der Privatschulen von Kasarani: "Es ist eine wundervolle Idee, die Zukunft Kenias, sagt sie. Aber ich glaube, dass die Zeit noch nicht reif dafür ist."
Von Linda Staude
Mehr als drei Jahre ist es her, dass Kenias Präsident Uhuru Kenyatta jedem Schulkind einen Computer versprochen hat. Jetzt wurden die ersten Geräte an 150 Pilotschulen ausgeliefert. Kritiker erinnern daran, dass viele Schulen zunächst Tische, Schulbücher und Essen benötigten.
"2016-09-08T13:20:00+02:00"
"2020-01-29T18:52:19.297000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kenia-jedem-schulkind-ein-tablet-102.html
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Infantinos 25-Milliarden-Angebot
FIFA-Präsident Gianni Infantino während einer Pressekonferenz in Panama am 14. März 2018 (imago sportfotodienst) Gianni Infantino gerät zunehmend in Bedrängnis. Beim jüngsten Council-Treffen im März in Bogota hat er seinen Fifa-Vorstandskollegen ein mysteriöses Milliardenangebot anzudrehen versucht, der Präsident scheiterte aber am massiven Widerstand des Gremiums. Infantino, berichten Sitzungsteilnehmer, habe den Ratsherren vorgetragen, ein Konsortium aus Nahost und Asien wolle 25 Milliarden US-Dollar für zwei Events bezahlen, die es noch gar nicht gibt: Für die reformierte, auf 24 Teilnehmer aufgeblähte Klub-WM sowie für eine globale Nations League. Letztere ist bisher nur angedacht. Das Milliardenangebot soll sich auf eine zwölfjährige Laufzeit beziehen. Infantino habe erklärt, die Fifa habe nur 60 Tage Bedenkzeit. Irritierte Teilnehmer berichten, der Fifa-Boss habe keine Fragen zu den geheimnisvollen Investoren beantwortet. Weder dazu, wer sie sind, noch dazu, welche Rechte sie konkret erwerben wollen. Stattdessen habe er auf eine Verschwiegenheits-Vereinbarung verwiesen, welche die Interessenten mit ihm getroffen hätten. Spekulationen über mysteriöse Investoren Der Rat lehnte ab, die Empörung bleibt. Weil der Schweizer Autokrat einmal mehr einen Alleingang versuchte, kursiert unter Vorständen jetzt der Verdacht, Infantino suche verzweifelt neue Geldquellen. Denn die Rücklagen und Werbe-Erlöse der Fifa gingen unter ihm stark zurück. Dabei hatte er vor seiner Wahl 2016 vollmundig viel mehr Geld für alle Verbände versprochen. Bezüglich der mysteriösen Investoren wird im Umfeld des Fifa-Councils spekuliert, es handle sich um Saudi-Arabien. Das Land verfolgt unter Kronprinz Mohammed bin Salman eine Modernisierungs-Agenda namens "Vision 2030". Zudem liegt es politisch im Clinch mit Katar, dem WM-Ausrichter 2022. Katars Fußball-Vormachtstellung in der Golf-Region könnte so unterminiert werden. Spekuliert wird außerdem über chinesische Investoren. Es sind vor allem Firmen aus China, die dem darbenden Sponsorprogramm der Fifa aktuell aus der größten Not helfen.
Von Thomas Kistner
Laut "New York Times" ging bei Fifa-Präsident Gianni Infantino eine Angebot von Investoren aus dem Mittleren Osten und Asien in Höhe von 25 Milliarden Dollar ein. Das hat er bei der Fifa-Council-Sitzung im März in Bogota aufgetischt. Der Rat lehnte ab. Aber ein Verdacht bleibt.
"2018-04-10T22:52:00+02:00"
"2020-01-27T17:47:14.018000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fifa-infantinos-25-milliarden-angebot-100.html
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Botschaften aus dem Nichts
Eines kann man dem Fotomuseum Winterthur sicher nicht vorwerfen: dass man auf der Solidaritätswelle mit Ai Weiwei surfen und einen Publikumserfolg landen wollte. Nein, die Ausstellung war lange geplant, Ai Weiwei kam im letzten Herbst zu Konzeptionsgesprächen nach Winterthur – und schätzte seine Lage eher günstig ein, sagt Kurator Urs Stahel."Und da hab ich ihn gefragt, wie die Situation sei, und da sagte er, es gebe für ihn einen Lichtschimmer positiver Veränderung. Die Leute, die ihn seit zwei Jahren mit Kameras überwachen und mit einem Auto 24 Stunden vor seinem Studio saßen, diese Leute, sagt er, klopfen jetzt an die Tür und wollen mit mir reden. Das ist so ein kleiner Schritt: statt Konfrontation gibt's ein Gespräch." Durch die arabischen Revolutionen und die dadurch ermutigten Bürgerbewegungen in China gab es dann aber eine Verschärfung der Situation. Als deutsche Museumsdirektoren ausgerechnet am Platz des Himmlischen Friedens eine Großausstellung zur "Kunst der Aufklärung" eröffneten, die dann heftig kritisiert wurde, war für kritische Intellektuelle in China offenbar kein Spielraum mehr.Im Fotomuseum Winterthur gibt es nun, in fahlen Farben, eine ganze Wand mit Bildern, auf denen der Abriss von Häusern in Peking dokumentiert ist, das Planieren einer Stadtlandschaft. Überfallartig werden hässliche Neubauten errichtet, damit man das Alte nicht vermisst und die kapitale Modernisierung nicht in Frage stellt.Auch das Studio von Ai Weiwei in Schanghai wurde im Januar von den Behörden abgerissen, auch davon hat er Fotos machen lassen. Wie böse Tiere stehen die Bagger mit ihren Krakenarmen über dem Bauschutt ... Bis Ai Weiwei dann selber verschwand, am 3.April, auf dem Weg zum Flughafen. Die Ausstellung zeigt nun den politisch vielleicht brisantesten Teil des Werks. Denn obgleich Ai Weiwei in vielen Genres arbeitet, Skulptur, Architektur, Aktionskunst, Fotografie, ist sein wichtigstes Medium das Netz - Forum der Opposition in totalitären Staaten. 200.000 Netzfotos aus China: manisch fotografiert er und stellt die Bilder ins Internet, er diskutiert, er bloggt täglich viele Stunden. Oder vielmehr: er bloggte. Die Ausstellung heißt "Interlacing" – Urs Stahel will auf Ai Weiwei als den großen Verbinder, den großen Kommunikator aufmerksam machen."Ich finde ihn einen Künstler, der auf verschiedenster Ebene ein Verflechter, ein Verbinder ist. Der Leute um sich schart, Strukturen aufbaut, damit diese Leute darin arbeiten können, der sich vernetzt im Internet oder jetzt im Twitter, wo er eine ausschließlich chinesische Community hatte von 70.000 Leuten, die seine chinesischen Kommentare gelesen und diskutiert haben. Wo er sich aber auch sehr bewusst vernetzt international, um Gewicht zu kriegen." Ai Weiwei ist mit der chinesischen Tradition ebenso vertraut wie mit Duchamp oder Warhol. Legendär seine Aktionen, bei denen er traditionelle Möbel neu montiert oder uralte Vasen mit Billigfarbe bemalt. Zur documenta 2007 ließ er 1001 Chinesen nach Kassel fliegen, die er vorher in ihren Heimatstädten fotografiert hatte. Für diese Menschen, die sonst nie eine Ausreisegenehmigung bekommen hätten, wurde ein Traum war – diese Bilder sind in Winterthur zu sehen. Auch Ai Weiwei, Sohn eines Dichters und Dissidenten, ist ja in der Isolation groß geworden. "Er ist in der Verbannung aufgewachsen. Man muss sich vorstellen, er war drei Jahre alt, als sein Vater in die Verbannung geschickt wurde. Die ganze Familie war in der Verbannung, zuerst in der Mandschurei, dann in Xinyang. In der Einöde haben sie gelebt, dem Vater war nur erlaubt, die Toiletten in diesem Dorf zu putzen. Er durfte nicht schreiben, nicht publizieren." Der junge Ai Weiwei ging nach Amerika – und fiel in ein Vakuum; die Ausstellung zeigt Schwarzweißbilder aus der Emigrantenszene. Als er 1993 nach China zurückkehrt, hat er eine Mission: Er will die gesellschaftlichen Missstände ins Bild setzen. Und er will provozieren. Man sieht den Stinkefinger, den er den architektonischen Wahrzeichen in aller Welt opponierend entgegenstreckt ... Man erlebt seine Frau, wie sie provokant auf dem Platz des Himmlischen Friedens den Rock hebt – das, was man auf diesem Platz nicht sehen soll und darf, das Massaker, das man vergessen soll, das wird durch das Zeigen der Unterwäsche - für China tabubrecherisch – ins Bewusstsein zurückgeholt. Man sieht die in sieben Teile zerschnittene Fotografie eines Soldaten – das parzellierte, entmachtete Militär sozusagen; ein Wunschtraum. Und man sieht, immer wieder, Umweltverschmutzung und die Zerstörung der chinesischen Städte, die Ai Weiwei "schändlich" nennt. Ai Weiwei ist in Haft. Seine Bilder aber zeigen, dass Veränderung für China unabdingbar ist.
Von Christian Gampert
Ai Weiwei, der derzeit wohl berühmteste chinesische Künstler, fotografiert schon sehr lange. Nach seiner Zeit in New York verstärkt auch in Peking. Dort sind die gesellschaftlichen Umbrüche förmlich auf der Straße zu greifen. Ai Weiwei hat sie dokumentiert: die städtebaulichen Veränderungen, das Wachstum, aber auch die Opfer des gesellschaftlichen Wandels.
"2011-05-31T17:35:00+02:00"
"2020-02-04T02:17:15.752000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/botschaften-aus-dem-nichts-100.html
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Mit der Unterschrift Trumps
Die Verquickung völlig verschiedener Gesetzesvorhaben ist in Washington eine übliche Methode, um Mehrheiten im US-Kongress auszuhandeln (dpa / picture alliance / Matthew Cavanaugh) Das sei ein enormer Schritt nach vorne, freute sich der damalige US-Außenminister John Kerry, als er 2016 den Beschluss verkünden konnte, dass die Staatengemeinschaft nach und nach aus den klimaschädlichen Fluorkohlenwasserstoffen, kurz FKW, aussteigen werde. Vor etwa 30 Jahren begann ihr verstärkter Einsatz als Kühlmittel, um damals Fluorchlorkohlenwasserstoffe - FCKW - zu ersetzen. Weil diese die Ozonschicht zerstören. FKW wiederum beschleunigen jedoch die Klimaerwärmung 100 bis 1.000mal mehr als CO2. Allerdings weigerte sich der neue Mann, seit 2017 im Weißen Haus, US-Präsident Trump, standhaft, die Herstellung der schädlichen FKW zu drosseln. Bis jetzt das 900-Milliarden-Dollar-schwere Corona-Hilfspaket in Kraft trat, das der US-Senat an Weihnachten verabschiedet hat. Und zwar mit der Unterschrift von Trump. Denn tief in dem über 5.500 Seiten langen Gesetz versteckt befinden sich eine ganze Reihe neuer Energie- und Klimaschutzbestimmungen – darunter auch die Reduzierung der FKW. Radikale Abkehr von der Politik der Trump-Regierung Die Verquickung völlig verschiedener Gesetzesvorhaben ist in Washington eine übliche Methode, um Mehrheiten im US-Kongress auszuhandeln. Jeff Thaler, Professor für Umweltrecht an der Universität von Maine, sieht in den jetzigen Beschlüssen eine radikale Abkehr von der Politik der Trump-Regierung, die Klimaerwärmung zu leugnen – interessanterweise mit Stimmen vieler Republikaner: "Das ist die größte finanzielle Anstrengung, die unsere Bundesregierung seit Jahren unternimmt, um saubere Energie zu fördern und den Klimawandel zu bekämpfen. Das ist sehr wichtig, weil sie unter einem republikanischen Präsidenten und Senat gemacht wurde." Vier Jahre Trump-Regierung: "Aus Sicht der Klimapolitik katastrophal" Das Tempo, in dem die Regierung Trump frühere klima- und energiepolitische Regulierungen rückabgewickelt habe, sei atemberaubend, kritisierte Bastian Hermisson, Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Washington, im Dlf. "Auch die US-Umweltbehörde EPA ist heute nur noch ein Schatten ihrer selbst." Ob dem scheidenden US-Präsidenten bewusst war, was er da alles unterschrieben hat? Laut Corona-Hilfspaket hat der US-Kongress eine Rekordsumme von 35 Milliarden Dollar für die Entwicklung erneuerbarer Energien bewilligt. Und die schrittweise Reduzierung der FKW in den nächsten 15 Jahren um 85 Prozent beschlossen. Die USA sind der zweitgrößte CO2-Emittent der Welt – nach China. Das US-Beratungsunternehmen Rhodium Group schätzt, so könnte das Land bis 2035 rund 950 Millionen Tonnen Kohlendioxid weniger in die Luft blasen. David Doniger, Mitarbeiter bei der Umweltschutzorganisation NRDC, spricht ebenso von einem Beschluss von großer Bedeutung. "Wenn die FKW nicht weltweit eingeschränkt würden, dann könnte sich allein dadurch die mittlere Erdtemperatur bis Ende des Jahrhunderts um ein halbes Grad Celsius erhöhen". Noch kein echter Durchbruch Dass die Klimaerwärmung längst als Brandbeschleuniger der Waldfeuer in Oregon und Kalifornien gilt, alarmiert auch den US-Kongress. So hat er beschlossen, die Solar- und Windindustrie, Wasserkraft und geothermische Technologien mit vier Milliarden Dollar zu fördern. Außerdem hat der Senat die Steuerbegünstigungen von Solar- und Windprojekten um bis zu zwei Jahren verlängert – sie wären Ende 2020 ausgelaufen. Für einen echten Durchbruch sei dieser Zeitraum aber zu kurzfristig, fürchtet Jeff Thaler. "Die Planungs- und Umweltverträglichkeitsprüfungen für diese Projekte können viel Zeit beanspruchen." Peter Altmaier (CDU): Im Klimaschutz wieder gemeinsam vorangehen Nach dem Wahlsieg Joe Bidens hofft Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) auf gute Handelsbeziehungen mit den USA. Im Vordergrund stehe für ihn der Klimaschutz. Sollten die USA wieder mitziehen, wäre das nicht nur gut für die Wirtschaft, "sondern auch für den Planeten", sagte er im Dlf. Viele Milliarden sind auch für die Abscheidung und Speicherung von CO2, also für die CCS-Technologie eingeplant und für die Weiterentwicklung von Atomkraftwerken. Klimaschützer wie Jeff Thaler halten beides für fragwürdig. "Die Kernenergie ist bei weitem nicht so klimaneutral wie viele Amerikaner denken. Und für die Abscheidung und Speicherung von CO2 haben wir bereits Milliarden ausgegeben – aber daraus ist bei uns bis jetzt nie viel geworden". Trotz des Geldsegens klagt Thaler: 35 Milliarden US-Dollar seien viel zu wenig, um die Klimaerwärmung wirksam abzubremsen, denn: "Die Kosten dafür, dass Menschen vorzeitig sterben oder dass der Meeresspiegel ansteigt, fallen doch viel höher aus als das, was wir jetzt ausgeben. Das ist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein." Ramponiertes Image aufpolieren Joe Biden hat versprochen, nach seinem Amtsantritt am 20. Januar als Nachfolger von Donald Trump zwei Billionen Dollar in Strom aus sauberen Energien zu investieren. Und John Kerry will als neuer Sonderbeauftragter für Klimapolitik der Biden-Regierung spätestens Ende April dazu eine internationale Konferenz einberufen. Die Klimaschutzbestimmungen, die der US Kongress jetzt verabschiedet hat, könnten dabei helfen, das ramponierte Image der USA als internationaler Klimaschützer ein wenig aufzupolieren.
Von Heike Wipperfürth
Der US-Kongress hat Milliarden für die Entwicklung erneuerbarer Energien bewilligt und eine Reduzierung der FKW um 85 Prozent beschlossen – als Teil des Corona-Hilfspakets. Mit seiner Unterschrift besiegelte der scheidende Präsident eine radikale Abwehr von seiner Klimapolitik – vermutlich unbewusst.
"2021-01-11T11:35:00+01:00"
"2021-01-12T11:54:41.731000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/wende-in-der-us-klimapolitik-mit-der-unterschrift-trumps-100.html
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"Damit gipfelt eine Eskalationsspirale"
Der getötete iranische General Ghassem Soleimani. (AFP Photo / HO / IRIB) Ghassem Soleimani war seit 1997 der Kommandeur der iranischen Al-Kuds-Brigaden. Diese werden als Einheit der Iranischen Revolutionsgarde im Ausland betrachtet. Die Al-Kuds-Brigaden sind im Syrienkonflikt ein relevanter Akteur und helfen unter anderem dabei, den dortigen Machthaber Assad an der Macht zu halten. Westliche Regierungen sehen in Soleimani einen Terroristen – Kanadas früherer Außenminister Baird nannte ihn 2014 einen "Agenten des Terrors, der sich als Held verkleidet". Wenn es um die iranische Einmischung in der Region geht, galt Soleimani als das militärische Gesicht. Urheberschaft und Opfer sind klar Markus Kaim, Sicherheitsexperte beim German Marshall Fund, sagte im Dlf, man könne davon ausgehen, dass es sich um eine gezielte Tötung gehandelt habe. Das komplette Interview zum Nachlesen: Tobias Armbrüster: Herr Kaim, können wir hier von einer gezielten Tötung sprechen? Kaim: Ich glaube, da gibt es eine gute Grundlage für. Der Befund, wer getötet worden ist, ist klar, er ist sowohl von amerikanischer Seite als auch von iranischer Seite bestätigt worden. Es handelt sich um Ghassem Soleimani, eben den Führer oder Oberbefehlshaber der revolutionären Garden, und die amerikanische Regierung hat in ihrer Pressemitteilung von heute Nacht deutlich gemacht, dass das eben auf expliziten Befehl des amerikanischen Präsidenten geschehen ist. Von daher ist Urheberschaft und Opfer ganz klar. Hintergründe zum Konflikt zwischen den USA, Iran und dem Irak Die Geschichte der amerikanisch-iranischen Rivalität: Schurkenstaat und SatanIran und die USA befinden sich in einer Eskalationsspirale. Ihr Verhältnis ist derzeit angespannt wie lange nicht mehr. Der Konflikt beider Staaten um Öl, Unabhängigkeit und strategischen Einfluss reicht bis in die 1950er-Jahre zurück. Spannungen zwischen Nachbarstaaten: Neuer, alter Iran-Irak-KonfliktNach dem Sturz des sunnitischen Diktators Saddam Hussein hat sich der schiitische Iran Einfluss auf seinen Nachbarn Irak gesichert. 70 Prozent der Iraker sind Schiiten. Viele junge Iraker lasten die Misere in ihrem Land deshalb Teheran an – und fordern ein Ende der iranischen Vorherrschaft. Iran 1979 und heute: Was von der Revolution übrig bliebDie Auflehnung gegen das Schah-Regime führte 1979 zur Islamischen Revolution in Iran. Das Land hat sich allerdings anders entwickelt, als es sich ein Großteil der Demonstranten damals wünschten. Viele Iraner sind heute unzufrieden mit ihrer Regierung. Gibt es Parallelen zum Vorabend der Revolution vor 40 Jahren? Armbrüster: Welche Gründe haben die USA für so einen Schritt? Kaim: Also, damit gipfelt eine Eskalationsspirale, die in den letzten Tagen Ausmaß genommen hat und die ja gerade im Vorbericht auch angesprochen worden ist, deren Ausmaß jetzt noch gar nicht abzusehen ist. Es hat angefangen in den letzten Wochen mit einem Angriff auf eine amerikanische Basis in Kirkuk, wo ein amerikanischer Zivilbediensteter getötet worden ist. Darauf haben die USA reagiert mit Luftschlägen auf pro-iranische Milizen im Irak. Dann ist im Irak die amerikanische Botschaft angegriffen worden, und jetzt ist offensichtlich die amerikanische Regierung zu der Annahme gekommen, dass eine Politik des maximalen Drucks, die sie verfolgt, eben auch Ausdruck finden müsse in einem Schritt, den obersten Befehlshaber derjenigen Gruppe zu töten, der diese hybriden Aktivitäten zugeschrieben werden. Hybride Aktivitäten in dem Sinne, dass es sich nicht um offizielles Regierungshandeln handelt. Armbrüster: Wenn wir uns dann mal die Figur dieses Generals angucken, Ghassem Soleimani, welche Rolle hat er gespielt in diesem ganzen Konflikt? Können Sie dazu etwas sagen? Der Sicherheitsexperte Markus Kaim (foto-swp) Kaim: Er steht letztlich für das, was die USA eben als destabilisierende Aktivitäten des Iran in den letzten Jahren immer wieder kritisiert haben. Man muss in Erinnerung rufen, dass ja die Felder des Konfliktes oder die Felder des Dissenses zwischen den USA und dem Iran sehr vielfältig sind. In den letzten Jahren haben wir vor allen Dingen auf das iranische Nuklearprogramm geschaut, aber daneben gibt es eben dieses Feld terroristische Aktivitäten, destabilisierende Aktivitäten, wie es immer heißt, das bezieht sich insbesondere auf Länder wie den Libanon, den Irak und Syrien, wo der Iran nicht mit offiziellem Regierungshandeln, das habe ich versucht zu unterstreichen, sondern eben durch Revolutionsgarden, durch das Unterstützen von pro-iranischen Milizen, durch Waffenlieferung, durch Finanzierung, durch Unterstützung von terroristischen Aktivitäten seinen Einfluss geltend machen will. Und für diese Aktivitäten steht Ghassem Soleimani in besonderer Art und Weise. Mögliche Folgen für das iranische Nuklearabkommen Armbrüster: Herr Kaim, ich kann mir vorstellen, dass viele Leute, die diese Nachricht jetzt heute hören, sich denken: Moment mal. Da reist also ein ranghoher iranischer General einfach so durch diese Länder. Ist das generelle Praxis, dass die Iraner auch solche hohen Militärs für solche Operationen ins Ausland schicken, in die Nachbarländer? Kaim: Das ist gängige Praxis, zahlreiche Bilder von Ghassem Soleimani aus den eben genannten Ländern, aus dem Libanon, aus Syrien und aus dem Irak – und wenn die Berichte von heute zutreffen, dann traf er gerade mit einem Flugzeug aus Syrien ein, sozusagen als ein international regierender Repräsentant des iranischen Regimes. Interessant ist eben noch die Frage, wieso die irakischen Behörden, die ja doch unter sehr starkem Einfluss der USA stehen, eher inoffiziell als offiziell, tatsächlich so etwas hingenommen haben. Aber der Punkt, der hier zu machen ist, ist eben die starke Stellung von pro-schiitischen oder pro-iranischen Gruppen innerhalb des irakischen Regierungssystems. Wer war Ghassem Soleimani?Das US-Militär hat den Chef der iranischen Eliteeinheit Al-Kuds-Brigaden durch einen Luftangriff im Irak getötetWelche Bedeutung hatte er? US-Armee tötet ranghohen iranischen GeneralDer Einsatz gegen General Soleimani geschah nach Angaben des Verteidigungsministeriums in Washington auf Anordnung von US-Präsident Trump. "Vergeltung des Iran ist sicher zu erwarten"Der FDP-Außenpolitiker Lambsdorff befürchtet nach Soleimanis Tötung eine massive Eskalation in der Region. Armbrüster: Was heißt das jetzt alles für diesen Konflikt zwischen den USA und dem Iran, der ja schon seit längerer Zeit schwelt? Kaim: Die Regierung Trump hat ja über den vergangenen Sommer trotz ihrer Politik des maximalen Drucks, wie es immer heißt, sehr verhalten reagiert. Es hat ja einige Schritte des Iran gegeben, die eine Eskalation eigentlich hervorrufen hätten können. Ich darf erinnern an die bis heute etwas ungeklärten Angriffe auf Öltanker im Persischen Golf, die dem Iran zugeschrieben worden sind, auf die bis heute ungeklärten Angriffe auf saudische Ölanlagen, die dem Iran zugeschrieben worden sind, da haben ja viele bereits eine Eskalation erwartet oder eine stärkere amerikanische Reaktion erwartet, beziehungsweise hier in Washington ist sie auch gefordert worden. Und die Regierung Trump ist sehr heftig dafür kritisiert worden, dass sie nicht entsprechend reagiert hat, keine rote Linie gezogen hat. Und jetzt offensichtlich, so kann man das lesen, sah sie sich in einer Art Übersprungreaktion genötigt, die jüngste Eskalation – und der Angriff auf die amerikanische Botschaft in Bagdad war wirklich eine Zuspitzung der Lage, zu beantworten mit einem eskalatorischen Schritt. Welche Antwort jetzt der Iran darauf geben wird, das ist die entscheidende Frage, da traue ich mir heute Morgen kein Urteil zu. Vorstellbar ist, dass der Iran sich in die Grenzen gewiesen fühlt, oder es wäre genauso vorstellbar eine Reaktion der Hardliner innerhalb des politischen Systems, die sich jetzt ermutigt fühlen, jeden Kontakt mit dem Westen abzubrechen, jede Konzession an den Westen zurückzuweisen, was dann auch Folgen haben könnte für das iranische Nuklearabkommen, was ja formell noch hält. "Zuspitzung einer bereits existierenden Situation" Armbrüster: Das wäre eine mögliche Verhärtung der iranischen Position auch gegenüber dem Westen, möglichweise auch gegenüber Europa. Was sind denn die Konsequenzen für den Irak, also für das Land, in dem jetzt dieser Luftschlag geschehen ist, in dem dieser ranghohe iranische General ums Leben gekommen ist? Kaim: Auch hier erleben wir eine Zuspitzung einer bereits existierenden Situation, weil der Irak ist der Leidtragende dieses Konfliktes, weil beide Seiten, die USA wie gleichermaßen der Iran, zerren am politischen System, zerren am politischen Establishment des Landes und versuchen mit großen militärischen, finanziellen und politischen Engagement den Irak auf ihre jeweilige Seite zu ziehen. Die Folge ist ja eine Verschärfung der innerirakischen Spannungen, die wir in den letzten Jahren zu verzeichnen haben. Und gerade bei einem Land wie dem Irak, was unter den ethnischen und religiösen Spannungen gelitten hat und auch bis heute leidet, ist das besonders bedauerlich, weil wenn wir doch eines gelernt haben nach dem irakischen Bürgerkrieg der letzten Jahre 2003 bis 2015, 2016, dann ist es doch, dass die Aufgabe der internationalen Gemeinschaft eigentlich diejenige ist, den Irak dabei zu unterstützen, die ethnischen und religiösen Spannungen zuzuflicken und zu überbrücken. Und genau das sehen wir, passiert gerade nicht. Diese Brücken werden abgerissen und diese Gräben werden vertieft. Armbrüster: Herr Kaim, vielen Dank für Ihre Zeit! Kaim: Sehr gerne! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Markus Kaim im Gespräch mit Tobias Armbrüster
Das US-Militär hat den iranischen General Ghassem Soleimani getötet. Viele hätten eine amerikanische Reaktion auf die Provokationen des Iran erwartet, sagte der Sicherheitsexperte Markus Kaim im Dlf. Soleimani stehe für alles, was die USA als "destabilisierende Aktivitäten" des Iran immer wieder kritisiert hätten.
"2020-01-03T05:10:00+01:00"
"2020-01-26T23:26:14.633000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/getoeteter-iranischer-general-damit-gipfelt-eine-100.html
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Verbraucherschützer rät Neukunden zum Widerspruch
Auch Bestandskunden müssen möglicherweise in Zukunft mehr für Strom bezahlen (picture alliance / dpa-Zentralbild) Nicht wenige Bürger erleben derzeit böse Überraschungen. Ihre Stromanbieter haben Ihnen von jetzt auf gleich den Vertrag gekündigt. Es handelt sich bei diesen Unternehmen um Billiganbieter, also Strom-Discounter. Die Folge: Wer versucht bei einem neuen Anbieter einen Vertrag zu bekommen, landet häufig bei einem teuren Grundtarif. Denn: Viele Gas- und Stromanbieter haben in den vergangenen Wochen Tarife für Neukunden eingeführt, die deutlich über denen für Bestandskunden liegen. Verbraucherschützern ist diese Praxis ein Dorn im Auge. Holger Schneidewindt von der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen übt im Interview mit dem Deutschlandfunk ebenfalls Kritik. Neukunden dürften nicht einfach willkürlich nur nach dem Zeitpunkt des Vertragswechsels in die Grundversorgung so benachteiligt werden. "Denn der Schutzzweck der Grundversorgung ist auch Schutz vor Energiearmut". Mehr zum Thema: Wie grün sind Atomkraft und Erdgas? Wie entsteht Strom? Klimawandel und Energiekrise Die Bestandskunden würden derzeit Dumpingpreise zahlen, bei denen kein Wettbewerber auf dem freien Markt mithalten könne. Das sei Klientelpolitik, so Schneidewindt. Es sei zwar nicht die perfekte Lösung, aber es könne darauf hinauslaufen, dass Bestandskunden in Zukunft "einen Tick mehr zahlen müssen und die Neukunden dann ein bisschen weniger". Neukunden, die einen hohen Tarif angeboten bekämen, rät Schneidewindt erstmal Widerspruch einzulegen. Tatsächlich sieht er aber erstmal die Politik in der Pflicht: "Wir brauchen politische Eingriffe, ganz, ganz schnell, damit die Preise für alle runtergehen. Das muss das Ziel sein. Was wir machen ist Linderung." Das Interview im Wortlaut: Sandra Pfister: Muss man das als Verbrauche jetzt erst mal hinnehmen, dass man so kurzfristig nicht mehr beliefert wird? Holger Schneidewindt: Nein, muss man nicht hinnehmen, aber es ist ein Faktum. Man wird erst mal rausgeworfen. Man landet in der Grundversorgung. Aber das Vorgehen der Discounter oder auch anderer Anbieter ist rechtlich unzulässig. Man hat also Ansprüche. Pfister: Und kann man dann Schadenersatz fordern? Schneidewindt: Man hat zwei Möglichkeiten. Man kann auch diesen Anbietern sagen, ich will weiter oder wieder beliefert werden. Die sind solvent, die haben möglicherweise auch viel Geld. Die wollten die Kunden los werden und das muss man nicht mitmachen. Das muss man sich aber gut überlegen, das ist eine zähe Sache. Man kann auch Schadenersatz fordern in der Höhe der Preisdifferenz neuer Tarif/alter Tarif. Das sollte man möglicherweise eher versuchen. Ein Schrecken mit Ende ist besser als ein Schrecken ohne Ende. Ab Ende 2022 soll Schluss sein mit der Atomenergie in Deutschland (picture alliance/dpa /Julian Stratenschulte) Pfister: Das heißt, man würde akzeptieren, dass man jetzt in die Grundversorgung bei den sogenannten Grundversorgern fällt. Das sind meistens Töchter der Stadtwerke. Die müssen in dem Fall einspringen, weil niemand im Dunkeln sitzen soll. Jetzt ist das Problem bislang gewesen, die Grundversorger, zum Beispiel Vattenfall, E.ON, Rheinenergie, die verlangen von denen, die jetzt neu aufgenommen werden, teilweise saftige Preise. Sie haben das doppelte, das dreifache dessen festgestellt, was die Altkunden bislang bei den gleichen Energieversorgern bezahlen mussten. Gibt es denn da irgendeine Möglichkeit für die Neukunden, darauf zu pochen, dass sie die gleichen günstigen Stromtarife kriegen? Schneidewindt: Die Verbraucher, deren Anbieter sagen, ich beliefere dich nicht mehr, oder die insolvent geworden sind, die werden von den Grundversorgern mit einem eigenen Spezial-Neukundentarif begrüßt, und der ist enorm hoch. Wir kritisieren diese Ungleichbehandlung von Bestandskunden in der Grundversorgung und den Neukunden, und zwar nur nach dem Kriterium, wann man in die Grundversorgung gefallen ist, ein rein zufälliges Event. Das machen wir nicht mit, das halten wir für rechtlich unzulässig, und deswegen sollten die betroffenen Verbraucher sich anschauen bei ihrem Grundversorger, welche Preise gelten denn überhaupt. Nicht alle haben diesen Neukundentarif, aber viele haben den. Wenn man einen speziellen Neukundentarif hat, dann kann man widersprechen und sagen, ich möchte beliefert werden zu dem Tarif der Bestandskunden. "Zwei der Abgemahnten werden Tarife runterschrauben" Pfister: Wenn die dann einfach Nein sagen? Schneidewindt: Dann geht es weiter. Wir haben drei krasse Fälle, sehr, sehr hohe Tarife. Die Grundversorgung dient dem Verbraucherschutz und nicht dem Verbraucherschutz der Bestandskunden eines Grundversorgers, sondern allen Kunden. Auch in vielen europäischen Staaten steigen die Preise für Strom und Gas rapide an. (imago images / ari) Pfister: Jetzt haben zwei der Abgemahnten auch schon gesagt, sie werden ihre Tarife für die Neukunden noch mal etwas runterschrauben. Aber die Grundversorger haben für die neuen Kunden nicht ohne Grund die teureren Tarife eingeführt, denn sie bezahlen ja selbst an den Strombörsen auch inzwischen viel, viel, viel mehr für den Strom. Der Strompreis ist da explodiert. Ist das nicht verständlich? Schneidewindt: Klar! Die Energierpreis-Krise, die wir haben, das ist eine Energiepreis-Krise für alle Beteiligten. Völlig klar! Zum einen ist es schon sehr aufschlussreich, wenn zwei der drei Versorger, die wir abgemahnt haben, ihre Preise kurzfristig, obwohl sich gar nicht viel geändert hat, von 80, 90 Cent pro Kilowattstunde auf 50 Cent pro Kilowattstunde reduzieren, einfach mal so 30, 40 Cent runtergehen. Da fragt man sich schon, wie kommen die dann überhaupt auf die 80, 90 Cent. Wir sagen nur, ihr könnt das nicht einseitig nur auf die Gruppe der Neukunden abwälzen. Das geht einfach nicht. Es muss gemittelt werden auf alle Kunden in der Grundversorgung. Wechsel in Grundversorgung darf den Neukunden so nicht benachteiligen Pfister: Aber so, wie Sie argumentieren, hört es sich an, als müssten die Gaspreise für die Altkunden erst mal hoch, weil Sie sagen, gemittelt werden. Sie wollen ja, dass die Neukunden nicht so viel bezahlen müssen, also müssen die Altkunden mehr bezahlen. Schneidewindt: Die Bestandskunden, die aktuell teilweise Preise zahlen, die kein wettbewerblicher Anbieter auf dem freien Markt mithalten kann, fast Dumpingpreise – klar, das muss ein bisschen hochgehen, damit die Neukunden nicht 80, 90 Cent zahlen müssen. Man muss sich aufeinander zubewegen. Das ist völlig klar und das ist auch klar, wenn Sie sich vorstellen, ganz viele Verbraucher konnten sich die Grundversorgung bisher überhaupt nicht leisten und die mussten sich einen Discounter-Tarif holen, um über die Runden zu kommen. Die mussten zu Immergrün, Gas.de oder Stromio. Diese Kunden, die mit ihrer Existenz kämpfen, die will man jetzt in der Grundversorgung diskriminieren und denen will man 80, 90 Cent pro Kilowattstunde Strom abluchsen? Das kann nicht sein! Die Grundversorgung ist Verbraucherschutz pur für alle Verbraucher und Energiearmut spielt eine riesige Rolle. Dieses Argument macht klar, dass man nicht einfach willkürlich nur nach dem Zeitpunkt des Vertragswechsels in die Grundversorgung den Neukunden so benachteiligen darf. Die Grundversorgung ist ein soziales Netz und man kann nicht vor allem diese sowieso schon sehr stark betroffenen Haushalte in der Grundversorgung mit diesen Neukundentarifen bestrafen. Das geht einfach nicht, weil der Schutzzweck der Grundversorgung ist auch Schutz vor Energiearmut. Deswegen kann das nicht sein. Wir haben aber nur abgemahnt die Ungleichbehandlung willkürlich nur nach dem Zeitpunkt, wann jemand in die Grundversorgung reinkommt. Die Bestandskunden zahlen aktuell Dumpingpreise, die kann kein Wettbewerber auf dem freien Markt mithalten. Das ist Klientelpolitik pur und die Grundversorger haben tierische Angst, dass ihnen jetzt diese ganzen freiwilligen Grundversorgungskunden weglaufen. Deswegen muss man sagen, auch wenn das nicht die perfekte Lösung ist, die Bestandskunden müssen einen Tick mehr zahlen aktuell und dann zahlen die Neukunden ein bisschen weniger. Man kann jetzt nicht sagen, Bestandskunden bleiben bei den Dumpingpreisen und die Neukunden zahlen Mondpreise, wie das Kartellamt gestern ja gesagt hat. Das ist nicht die perfekte Lösung. Wir brauchen politische Eingriffe, ganz, ganz schnell, damit die Preise für alle runtergehen. Das muss das Ziel sein. Was wir machen ist Linderung. "Wir sind in einer Energiepreis-Krise" Pfister: Herr Schneidewindt, unterm Strich. Für die, die jetzt bei den Strom-Discountern rausgeflogen sind und in einer vergleichsweise teuren Grundversorgung gelandet sind, was können die tun? Schneidewindt: Man muss schauen, ob der Grundversorgungstarif erträglich ist. Wenn er erträglich ist, dann bleibt man erst mal da. Wenn er extrem hoch ist, dann muss man Widerspruch einlegen, oder man findet vielleicht einen Tarif, der erträglicher ist, auf dem freien Markt. Aber es ist völlig klar, das muss geändert werden, und das kann nur die Politik machen. Wir sind in einer Energiepreis-Krise, die nur mit politischen Instrumenten jetzt gelöst werden kann. Heizkostenzuschuss auf der Gasseite und Energiegeld oder wie auch immer, Preisdeckel auf der Stromseite. Es geht nur noch mit politischen Eingriffen aktuell akut. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Holger Schneidewindt im Gespräch mit Sandra Pfister
Viele Gas- und Stromanbieter haben Tarife für Neukunden eingeführt, die deutlich über denen für Bestandskunden liegen. Neukunden, denen so etwas widerfahre, sollten Widerspruch einlegen, sagte Verbraucherschützer Holger Schneidewindt im Dlf. Vor allem aber müsse die Politik eingreifen, damit die Preise runtergehen.
"2022-01-14T11:35:00+01:00"
"2022-01-14T13:55:14.367000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/verbraucherschutz-holger-schneidewindt-stromkunden-grundtarif-100.html
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Rätselhaft mit Methode
Sein Schatten eilt ihm voraus: Leitzins-Flüsterer Mario Draghi (dpa / Bernd von Jutrczenka) "The ECB is ready to do whatever it takes to preserve the Euro. And believe me, it will be enough."("Die Europäische Zentralbank ist bereit, alles Erforderliche zu tun, um den Euro zu retten. Und glauben Sie mir, das wird reichen.") Fast jeder kennt diese Worte von Mario Draghi, dem Präsidenten der Europäischen Zentralbank. Geäußert: Während einer Rede in London am 26. Juli 2012. Das Statement schlug an den kriselnden Märkten ein wie der Blitz. Der Euro stabilisierte sich, die Börsenkurse stiegen steil an. Die klaren Worte des Notenbankchefs hatten eine magische Wirkung. Drei Wörtchen weniger ändern alles Doch diese Klarheit ist selten für Draghi. Normalerweise lässt er die Märkte mit kryptischer Sprache bewusst im Unklaren über seine Pläne. Ein Beispiel: "We decided to keep the key-ECB-interest-rates unchanged. We expect them to remain at their present or lower levels for an extended period of time." "Wir haben uns dazu entschieden, die Leitzinsen der EZB unverändert zu lassen. Wir gehen davon aus, dass sie für längere Zeit auf ihrem aktuellen oder einem niedrigeren Niveau bleiben werden”, sagt Draghi am 27. April in Frankfurt. Diese Worte stammen aus dem sogenannten "Introductory Statement”, das er jeweils nach den Sitzungen des EZB-Rats verliest. Über Monate war dieser Satz der gleiche. Bis zur Sitzung am 8. Juni in Tallin, eineinhalb Monate später. Da lässt Draghi die drei Wörter "or lower levels" einfach weg. Ein winziges Detail. Aber: Hat er nach den früheren Sitzungen immer gesagt, dass er die Zinsen im Euroraum notfalls auch noch weiter senken könnte, verzichtet er diesmal bewusst auf diesen Zusatz. Dafür spricht er von einer verbesserten Konjunktur in Europa. Wieder kommt Bewegung in die Märkte: Verschlüsselungs-Experte: "Das nennt man einen Jargon-Code" "Die Kommunikationsweise, bei der man irgendwelche unverfänglich klingenden Wörter oder Ausdrücke benutzt, um irgendwelche Nachrichten zu vermitteln, das nennt man einen Jargon-Code. Und das ist ein Beispiel für Steganographie, also für versteckte Nachrichtenübermittlung", sagt Klaus Schmeh, Informatiker und Verschlüsselungsexperte, der sich in einem seiner Bücher auch mit der kodifizierten Sprache des ehemaligen EZB-Chefs Jean-Claude Trichet beschäftigt. Diese Code-Sprache benutzt auch Mario Draghi: er will die Finanzmärkte mit verbaler Kommunikation verwirren – und damit steuern. Den Jargon-Code der Notenbanker beherrscht Draghi perfekt, sagt Schmeh: "Wenn der EZB-Präsident sagt, 'wir werden die Leitzinsen im nächsten Monat erhöhen', und die Leute sich dann drauf verlassen, und dann werden sie doch nicht erhöht, dass man das dann juristisch belangen kann. Und ich nehme an, dass das der Grund ist, dass er dann eher sagt, 'wir werden sehr wachsam sein', was dann andeutet dass so eine Zinserhöhung im Raum stehen könnte, aber ohne dass man ihn drauf festnageln kann." Jedes Wort ist vorher schon abgewogen Zu klar dürfen die Signale an die Märkte also nicht sein. Das zeigt ein anderes Beispiel: Am 27. Juni signalisiert Draghi in einer Rede in Portugal erstmals, dass die EZB ihren Kurs künftig etwas weniger expansiv ausrichten könnte. Der Euro schießt sofort auf ein Zwölf-Monats-Hoch. Doch am Tag danach: Notenbank-Insider rudern zurück. Es heißt, Draghis Rede sei überinterpretiert worden. Er selbst antwortet: "It was not discussed." - Es wurde nicht besprochen. Entwarnung also, die Märkte wieder beruhigen. Doch es zeigte: Mit jedem noch so vertüftelten Statement kann Mario Draghi explosive Reaktionen auslösen. Seine Rhetorik kann Erwartungen bestätigen und enttäuschen. Deswegen legen Journalisten und Analysten jede seiner Silben auf die Goldwaage. Sie suchen irgendeinen Hinweis in seiner Sprache auf eine Änderung der Geldpolitik. Verschlüsselungsexperte Klaus Schmeh sagt: "Man kann es fast als Geheimsprache oder Geheimsymbol bezeichnen." Ein Geheimsymbol für Kenner und Experten, Anleger und Spekulanten. Die werden weiter an den Lippen von Mario Draghi hängen und sehr sensibel auf die Zwischentöne achten.
Von Mathias von Lieben
Wenn er etwas sagt, laufen Analysten zur Wortklauber-Höchstform auf: Mario Draghi, Präsident der Europäischen Zentralbank und somit Verkünder des EZB-Leitzinses. Der Mann spricht mit Vorliebe in Rätseln. Muss er wahrscheinlich. Aber warum eigentlich?
"2017-07-20T13:35:00+02:00"
"2020-01-28T10:37:59.221000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/sprache-von-ezb-chef-mario-draghi-raetselhaft-mit-methode-100.html
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Schlimme Spione?
Das Bahai-Zentrum in Leipzig. (Deutschlandradio / Astrid Pietrus) Rund 60 Mitglieder hat die Leipziger Bahai-Gemeinde. Sieben davon sind zur Andacht im Wohnzimmer von Afsane und Olaf Akhtar-Khawari zusammengekommen. Die Gemeinde ist dezentral organisiert. Die wöchentlichen Andachten finden in mehreren Privatwohnungen von Mitgliedern statt. Im Gemeindehaus, einem Ladenlokal, trifft man sich zu besonderen Festen oder zu Vorträgen. Olaf Akhtar-Khawari wurde getauft und konfirmiert. Mit 18 Jahren konvertierte er zum Bahaitum. Anders seine Frau: Afsane Akhtar-Khawari stammt aus einer Familie, die sich bereits seit vielen Generationen zu dieser Religion bekennt. Ihre Eltern sind in den 60er Jahren aus dem Iran nach Köln gekommen, wo sie geboren wurde. "Köln war eine große Gemeinde, es waren auch viele Iraner dort. Das war eine der größeren Gemeinden im Westen. Es gab auch einige deutsche Bahai. In den 70ern, Hippie-Bewegung und so weiter, da waren viele offen. Da sind viele Bahai geworden. Von daher war das eine große Gemeinde in Köln." Schwierige Zeiten in der DDR Die Geschichte der Bahai in Deutschland reicht weit zurück. Bereits 1905 gab es erste Bahai-Gemeinden in Deutschland. Vor allem in den USA hatte der Glaube schon damals zahlreiche Anhänger unter Intellektuellen. Deutsch-Amerikaner brachten die Bahai-Religion dann nach Deutschland. Ein Höhepunkt war 1913 der Besuch Abdul-Bahas, des Sohnes des Religionsstifters Baha'ulla. Katja Wengenmayr hat für die Universität Leipzig zu den Bahai geforscht. "In der Literatur wird dieser Besuch als Aufwind beschrieben, den die Bahai-Gemeinde dadurch erfahren hat, weil er zum einen als charismatischer Mensch beschrieben wird, als eine Vaterfigur, sehr gebildet, wegweisend. Und gleichzeitig dadurch, dass die öffentlichen Vorträge auch in den Tageszeitungen rezipiert wurden, ist der Glaube auch in einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden." Das "Baháí-Haus der Andacht Europas" in Hofheim-Langenhain im Taunus. (picture alliance / dpa / Jörg Schmitt) Nach diesem Aufschwung in den 1920er und 30er Jahren kamen die Nationalsozialisten. Sie haben die Bahai-Religion verboten. Nach dem Krieg etablierten sich neue Gemeinden. Aber auch in der DDR empfahl es sich, seinen Glauben nicht allzu aktiv zu bekennen. Viele Bahai gingen in den Westen oder zogen sich zurück. Viele Jahrzehnte lang war Eva Gleichmann die einzige Bahai in Leipzig. Olaf Akhtar-Khawari lernte sie kennen, als er nach der Wende zum Studium nach Leipzig kam. "Sie erzählte, dass sie zweimal im Jahr Besuch bekam. Wenn Frühjahrs- und Herbstmesse war in Leipzig, durften nämlich westdeutsche BRD-Bürger ohne Visum einfach nach Leipzig reisen. Und ab und zu klingelte jemand an ihrer Tür und sagte: Allah-u-Abha. Das ist der Gruß, mit dem sich Bahai weltweit begrüßen, und da war sie immer hocherfreut. Das war ein Bahai, der extra aus dem Westen anreiste, um sie zu besuchen, der wollte gar nicht zur Leipziger Messe." Orthodoxe Muslime sehen in Bahai Abtrünnige Langsam wuchs die Leipziger Gemeinde wieder - auf zunächst fünf Mitglieder. "In der Nachwendezeit, in den 90er Jahren, gab es viel Konkurrenz auf dem Markt der Religionen. Und es gibt ja im Bahaitum weder den Berufsgeistlichen noch den Berufsmissionar. Also wir haben da mit anderen persönlichen, privaten kleinen Mitteln gekocht. Wir haben hier und da mal eine Ausstellung und einen Vortrag gemacht." Heute gehören auch gebürtige Muslime zur Leipziger Bahai-Gemeinde, wie dieser Iraner, der erst in Deutschland zum Bahaitum fand. "Im Iran sagt unsere Religion, dass Bahai schlimme Menschen und Spione sind. Und deswegen wollte ich selber gucken, was sie sagen, was sie glauben. Und wir diskutieren über die Bahai-Religion und andere Religionen auch." Seine Eltern leben noch im Iran. Und auch wenn theologisch betrachtet Bahai im orthodoxen Islam als Abgefallene gelten, was tödlich enden kann - sie akzeptieren den Glaubenswechsel ihres Sohnes. Keine Berührungsängste mit anderen Religionen Die Bahai sehen die abrahamitischen Religionen als ihre Vorgänger. Jesus und Mohammed sind Gottesboten. Mit Bab und Baha'ullah hat in ihrem Verständnis das Zeitalter der Gottesoffenbarer begonnen. Peter Mittelbach gehört zum neunköpfigen "Geistigen Rat" der Leipziger Bahai-Gemeinde. "Wir glauben, dass alle diese Weltreligionen in ihrem Ursprung von Gott sind, insofern kann auch zwischen ihnen kein wesensmäßiger Unterschied bestehen. Das, was uns manchmal als Unterscheidung auffällt, das sind Dinge, die der Zeit oder dem Volk zuzuschreiben sind. Aber die geistigen Wahrheiten, die sind ja immer identisch." Und so haben die Bahai auch keine Berührungsängste mit Festen anderer Religionen. Sie gehen mit ihren Kindern zum Martinssingen und Adventsbasteln in die Schule. Auch Weihnachten ist für einige Leipziger Bahai ein besonderer Tag. Afsane Akhtar-Khawari. "In Deutschland kommen alle zusammen. Und da haben wir so eine kleine Tradition entwickelt, dass wir hier mit Bahai-Freunden oder auch anderen uns treffen, Käsefondue zusammen essen und eine Andacht machen mit Zitaten aus den Bahai-Schriften zu Jesus. Und da gibt es ganz viele schöne Zitate zu ihm und dann gedenken wir Jesus und der herausragenden Stellung, die er hat."
Von Astrid Pietrus
Die Bahai sind eine vergleichsweise junge Glaubensgemeinschaft. Ihre Wurzeln hat die Religion in Persien, wo sie vor rund 150 Jahren entstand. Im Iran werden sie verfolgt. Anders in Leipzig: Dort wächst die Gemeinde.
"2017-11-01T09:35:00+01:00"
"2020-01-28T10:56:47.561000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bahai-in-deutschland-schlimme-spione-100.html
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Kein Erfolg bei Brexit-Beratungen
May und Kurz wollen einen harten Brexit vermeiden (picture-alliance / dpa / ZUMA Press) Aus dem Abendessen wurde zum Nachtmahl. Mehr als fünf Stunden berieten die Staats- und Regierungschefs in der Felsenreitschule, der Bühne für die Salzburger Festspiele, über Migration und Brexit. Mehr Kompromisse bei den Ausstiegsverhandlungen, das forderten beide Seiten voneinander. Die Brexit-Verhandlungen starten nun in die entscheidende Phase, hatte EU-Ratspräsident Donald Tusk zuvor gewarnt. Einen Erfolg in Sachen Brexit gab es nicht. "Gegenwärtig gibt es Stillstand, keinen Fortschritt", sagte die litauische Präsidentin Dalia Grybauskaite nach dem Treffen. Der slowakische Regierungschef Peter Pellegrini fügte hinzu, dass es in der zentralen Frage um die künftige Grenze auf der irischen Insel keine Bewegung gab. Heute wollen die EU-27, ohne die britische Premierministerin Theresa May, über ihre künftige Position verhandeln. Beobachter rechnen vorerst nicht mit Fortschritten Beobachter gehen allerdings davon aus, dass es bis Anfang Oktober keine großen Fortschritte geben wird. Bis dahin findet der Parteitag von Mays konservativer Tory-Partei statt. Dort muss sich die Premierministerin gegen Parteikollegen behaupten, die einen harten Bruch mit der EU fordern. Das will May nicht, und das wollen auch die EU-Länder nicht. Der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz sagte am Abend: "Wir müssen alles tun, um einen harten Brexit zu verhindern. Das wäre nicht nur ein Schaden für die Briten, sondern vor allem auch ein Schaden für uns in Europa." Brexit-Gipfel Mitte November Mitte November könnte es einen Brexit-Sondergipfel geben. Damit sollen – nach dem Willen der EU - die Verhandlungen beendet werden. Auf diese Weise hätten die Parlamente auf beiden Seiten genug Zeit, um den Brexit-Vertrag bis Ende März nächsten Jahres zu ratifizieren. Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte am Abend in Salzburg. "Ich wünsche mir, dass wir einen Austritt haben, der in guter Atmosphäre stattfindet, in großem Respekt voreinander." Kompliziert war auch das zweite Thema des Abendessen: die Flüchtlingspolitik. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sagte nach dem Treffen, dass es auch hier keine nennenswerten Annäherungen gegeben habe, weil das Entgegenkommen fehlte. EU-Ratspräsident Tusk hatte zuvor ein Ende der Schuldzuweisungen gefordert. Anstatt politisches Kapital aus der Lage zu schlagen, sollten wir uns darauf konzentrieren, was funktioniert und dort weitermachen, so Tusk. Durch den verstärkten Schutz der Außengrenzen und die Zusammenarbeit mit den Herkunftsstaaten, sei die Zahl der Migranten deutlich gesunken: von fast zwei Millionen im Jahr 2015 auf weniger als einhunderttausend in diesem Jahr. In Zukunft soll die Kooperation mit afrikanischen Ländern noch verstärkt werden. Im Februar ist ein Gipfel mit der Arabischen Liga in Ägypten geplant. Dabei soll es um Auffanglager gehen, damit Flüchtlinge erst gar nicht versuchen, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Beratung über Schutz der EU-Außengrenzen Heute wollen die Staats- und Regierungschefs über den Schutz der EU-Außengrenzen beraten. Die Kommission hatte vorgeschlagen, dass die EU-Grenzschutzagentur "Frontex" bis 2020 auf 10.000 Einsatzkräfte aufgestockt werden und ein erweitertes Mandat bekommen soll. Ungarn hat das bereits abgelehnt. Das Land will seine Grenzen selbst schützen. Und auch die Südländer Italien, Spanien und Griechenland sind noch skeptisch. Sie fürchten, dass mehr Rechte an die EU, weniger Rechte im eigenen Land bedeuten.
Von Karin Bensch
Aktuell gebe es in Sachen Brexit einen Stillstand - so Litauens Präsidentin Dalia Grybauskaite nach den Beratungen in Salzburg. Beobachter rechnen auch für die nächsten Wochen nicht mit Fortschritten. Eins wollen allerdings alle Beteiligten: einen harten Brexit vermeiden.
"2018-09-20T05:05:00+02:00"
"2020-01-27T18:11:45.478000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/eu-gipfel-in-salzburg-kein-erfolg-bei-brexit-beratungen-100.html
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"Zeitgeschichte ist immer auch Streitgeschichte"
Edgar Wolfrum, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Heidelberg (picture-alliance/ dpa - Ronald Wittek) Angesichts von Liedermacher-Auftritten im Bundestag und Ballon-Aktionen in der Hauptstadt kann der Eindruck entstehen, der Fall der Mauer ist noch immer Teil der Gegenwart, nichts von diesen Ereignissen ist schon in den Fundus der Geschichte eingegangen. Und trotzdem befassen sich längst Historiker damit. Wie lange müssen Ereignisse eigentlich zurückliegen, damit sie zu Geschichte werden? "Im Grunde genommen gar nicht lange", sagte Zeithistoriker Edgar Wolfrum im Deutschlandfunk. "Wenn man davon ausgeht, dass Zeitgeschichte die Epoche der Mitlebenden und ihre wissenschaftliche Behandlung ist, dann geht das in ganz kurzen Zeiträumen." Der Zeitgeschichte werde oft vorgehalten, dass sie keinen gehörigen zeitlichen Abstand zum Gegenstand habe, erklärte der Wissenschaftler von der Universität Heidelberg "Da würde ich immer zurückfragen: Wann ist denn eigentlich ein gehöriger zeitlicher Abstand?" Viel wichtiger als der zeitliche Abstand sei die wissenschaftliche Methode. Nach der Grenzöffnung strömten am 9. November 1989 tausende Ost-Berliner in den Westteil der Stadt. (dpa / picture-alliance / Wolfgang Krumm) Edgar Wolfrum: "Der einzige große Unterschied zwischen der Zeitgeschichte und den anderen Epochen ist, dass wir eben viele Akteure haben, viele Zeitzeugen." Und oft fände eine Art Sakralisierung dieser Zeitzeugen statt - "denn Zeitzeugen glauben wir alles." Tatsächlich aber hätten Zeitzeugen bloß eine subjektive Sicht der Geschichte, die sie an einem bestimmten Ort erfahren haben. "Aber das hat natürlich mit einer Metaebene, mit Wissenschaftlichkeit, nichts zu tun." Und dennoch seien Zeitzeugen wichtig für die historische Wissenschaft und öffneten auch neue Sichtweisen, die in den üblichen Schriften oft nicht vorkämen, sagte Wolfrum - in erster Linie Atmosphärisches. Trotz des Dilemmas hoher Subjektivität dürften Historiker sich nicht davor drücken, auch die jüngste Vergangenheit wissenschaftlich zu erforschen. Zum Mauerfall vor 25 Jahren sagte Wolfrum: "Wenn man nicht nur den Anlass, sondern auch die Ursachen herausgräbt, dann müsste man eben bei diesem ganzen Umbruch wahrscheinlich in den 70er-Jahren in Polen beginnen." Deutungskontroversen werde es immer geben. "Das symbolische Ereignis Mauerfall wird auch bleiben. Aber wie es dazu kam und wo die Ursachen und Anlässe liegen, das wird umstritten bleiben." Das gesamte Interview können Sie fünf Monate in unserem Audio-Player nachhören.
Edgar Wolfrum im Gespräch mit Peter Kapern
Der Mauerfall liegt 25 Jahre zurück und ist damit Geschichte - Zeitgeschichte. Im Unterschied zur Betrachtung anderer Epochen gebe es hier noch sehr viele Zeitzeugen, sagte der Historiker Edgar Wolfrum im DLF. Das biete Vor- und Nachteile.
"2014-11-09T08:10:00+01:00"
"2020-01-31T14:12:35.666000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/25-jahre-mauerfall-zeitgeschichte-ist-immer-auch-100.html
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"Beide in der Erbschaft des Liberalismus"
FDP-Bundesparteitag: Parteichef Christian Lindner attackierte auch stark die Grünen. (dpa-Bildfunk / Kay Nietfeld) Jasper Barenberg: Am Telefon mitgehört hat Hubert Kleinert, der Sozialwissenschaftler an der Hessischen Hochschule für Polizei und Verwaltung in Gießen. Schönen guten Tag, Herr Kleinert! Hubert Kleinert: Hallo! Barenberg: Dass der Parteitag der FDP auch und gerade die Klimapolitik in den Mittelpunkt stellt, ist das ein Hinweis darauf, dass sich die FDP über die eigenen klassischen Themen hinaus breiter aufstellen will? Kleinert: Na ja, ich denke, dass da mehrere Faktoren eine Rolle spielen. Das Klimathema gehört ja seit einigen Monaten sozusagen zu den vorrangigen politischen Themen, nicht zuletzt auch die Bewegung, die sich da unter den Schülern ausgebreitet hat, ist ja ein Großthema der öffentlichen Debatte geworden. Von daher tut die FDP da, glaube ich, ganz gut dran, dass sie da auch zeigen will, dass sie dieses Thema auch aufgreift. Und Sie haben es eben schon erwähnt beziehungsweise Ihre Korrespondentin, die FDP sucht sich ja auch in besonderer Weise an den Grünen abzuarbeiten. Barenberg: Warum ist das eigentlich so? Ich meine, auf diesem Parteitag sticht das heraus, aber das ist ja beileibe nicht die einzige Gelegenheit, wo sich immer wieder erweist, dass Grüne und FDP sozusagen immer wieder Lieblingsfeinde sind. "Beide stehen in der Erbschaft des Liberalismus" Kleinert: Na ja, was heißt Lieblingsfeinde? Beide stehen ja in einem gewissen Maße sozusagen in der Erbschaft des Liberalismus. Die FDP verkörpert eher den, wenn Sie so wollen, rechten oder wirtschaftsliberalen Teil des liberalen Gedankengutes, und die Grünen eher den linken Part, den bürgerrechtlichen, den auf Rechte von Minderheiten bezogenen und dergleichen. Von daher gibt es, obwohl es in der Wählerschaft gar nicht so riesige Überlappungen gibt, sozusagen eine natürliche Konkurrenz. Hinzu kommt die politische Gesamtsituation, der Schwäche der Volksparteien. Wenn Sie mal beide zusammennehmen, die Grünen und die Liberalen, könnte man schon sagen, die decken sicher im Moment vielleicht ein knappes Drittel der Gesellschaft ab, also wenn Sie so wollen, so stark waren die beiden noch nie. Und ich kann auch nicht recht sehen, wie sich das in allernächster Zeit ändern sollte. Von daher gibt es sozusagen … Gerade auch die Grünen-Stärke im Moment in den Umfragen wird natürlich die FDP auch besonders dazu drängen, sich an den Grünen abzuarbeiten. Barenberg: Ja, und ein Grund dafür ist auch, das ist die Frage an Sie, dass von der Schwäche der Volksparteien bisher vor allem oder in erster Linie die Grünen profitieren, aber die Liberalen eben nicht so stark. Ist das auch eine Motivation, sich dann noch mal besonders gegen die Grünen abzugrenzen und auf den alternativen Weg sozusagen zu weisen? Kleinert: Ich würde da erst mal ganz nüchtern sagen, die FDP hat ein größeres Glaubwürdigkeitsproblem als die Grünen. Die FDP ist zumindest vom Image her, denkt man, wenn die FDP von Freiheit spricht, dann meint sie in erster Linie Freiheit der Wirtschaft oder meinetwegen auch Freiheit des Autofahrers. Aber dieses Problem haben die Grünen so nicht. Die Grünen haben, würde ich sagen, sogar eine Art emotionalen Glaubwürdigkeitsüberschuss, was auch damit zusammenhängt, dass sie zweifellos sozusagen das günstigere Medienklima besitzen. Und dann haben die Grünen jetzt mit Habeck natürlich auch eine Figur, die als öffentlicher Sympathieträger gilt. Übrigens, ich glaube, das ist ganz geschickt mit der Frau Teuteberg, die könnte auch ein Stück von einer solchen Rolle, glaube ich, gewinnen, das würde ich ihr zutrauen. Barenberg: Wir haben es gerade in dem Gespräch mit meiner Kollegin auch erwähnt, Christian Lindner hat ja gestern das Schreckgespenst eines ökologischen Autoritarismus an die Wand gemalt. Er hat gewarnt vor hysterischen Klimaaktivisten und vor der Hypermoral, und dabei zeigt er mit dem Finger ja eben auch immer vor allem auf die Grünen und auf deren Anhänger. Ist da etwas dran, dass die Grünen sozusagen Gefahr laufen, so etwas wie eine Partei der Bevormundung zu werden, unterscheidet das die beiden Parteien voneinander? Kleinert: Ganz falsch ist das sicher nicht. Die Grünen haben ein Stück beigedreht oder versucht in den letzten Jahren, dieses Image, was ihnen ja in der Vergangenheit schon zu schaffen gemacht hat, gerade auch … Barenberg: Der Veggie Day. Grüne versuchen "eine offenere Ansprache hinzukriegen Kleinert: Ja, Veggie Day, Sie sagen es, es waren auch andere Dinge. Sie versuchen, ein Stück davon zu überwinden und eine offenere Ansprache hinzukriegen. Den öffentlichen Gesichtern der Grünen gelingt das meistens auch, aber der Partei hängt das natürlich schon ein bisschen an. Und das ist auch keine Erfindung der politischen Konkurrenz, denn wenn die FDP auf der einen Seite das Problem hat, dass man Freiheit zu sehr mit Wirtschaft und Autofahren assoziiert, würde ich mal sagen, auf der anderen Seite haben die Grünen ein bisschen das Problem, dass bei ihnen die Freiheit des Andersdenkenden auch durch ein Übermaß an Political Correctness an Grenzen stößt, wo man manchmal auch das Gefühl hat, also jetzt irgendwie ist es auch ein bisschen bigott. Ich glaube, dass beide Seiten da durchaus Defizite haben, und dass Lindner das versucht, sozusagen auf den Punkt zu bringen und auszureizen, das halte ich für ganz normal in der parteipolitischen Auseinandersetzung. Das ist aus seiner Sicht sicher sinnvoll. Barenberg: Und zum Schluss noch, Herr Kleinert, wenn es denn so ist, dass Grüne und Liberale um das Erbe des Liberalismus oder um die Zukunft des liberalen Gedankens kämpfen, wie wird das ausgehen, wie wird das weitergehen? Kleinert: Ich sehe einstweilen nicht, dass sich an den Stärke-Schwäche-Relationen Grundlegendes verändern wird. Eine ganze andere Frage ist, wie sich Deutschland in den nächsten Jahren entwickeln wird und welche Stellung das Land in Europa haben wird und ob die in diesem Lande besonders stark ausgeprägte Moralisierung der Politik uns nicht noch in Schwierigkeiten bringen wird. Aber jetzt mal pragmatisch: Im Blick auf die nächsten zwei Jahre glaube ich nicht, dass wir fundamentale Veränderungen kriegen. Möglicherweise wird sich Lindner noch mal ärgern darüber, dass er diese Jamaika-Möglichkeit vor zwei Jahren nicht wahrgenommen hat, denn es könnte gut sein, dass bei einer nächsten Bundestagswahl Schwarz und Grün alleine eine Mehrheit bilden können – also wenn der Höhenflug der Grünen anhält. Dann allerdings wird es schwieriger werden für die Grünen, das wäre meine Prognose, denn da ist natürlich vieles auch Projektion, was bei den 20 Prozent jetzt dabei ist. Und ob die Grünen diesen Glaubwürdigkeitsvorschuss halten können, wenn sie mal regieren müssen, das ist noch sehr die Frage. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Hubert Kleinert im Gespräch mit Jasper Barenberg
Obwohl es in der Wählerschaft keine großen Überlappungen gebe, seien Grünen und FDP doch natürliche Konkurrenten, sagt der Sozialwissenschaftler Hubert Kleinert im Dlf. Die Grünen-Stärke in den Umfragen dränge die FDP dazu, sich an den Grünen abzuarbeiten - und auf deren Defizite hinzuweisen.
"2019-04-27T12:15:00+02:00"
"2020-01-26T22:49:15.894000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/konkurrenz-zwischen-fdp-und-gruenen-beide-in-der-erbschaft-100.html
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Zu wenig Informationen, viel zu komplizierte Anträge
Das Geld kommt nicht an – so lässt sich auch der offizielle Abschlussbericht des Sozialministeriums aus dem letzten Jahr lesen. (Imago / Chromorange) "Muss ich jetzt meinen Namen als Mutter und dann den des Kindes?" Nadine Reichel ist alleinerziehende Mutter eines Teenagers. Für Menschen wie sie wurde das Bildungs- und Teilhabepaket geschaffen. Reichel füllt den Antrag aus, weil ihre Tochter Geld braucht für Nachhilfe, Schulmaterial und Klassenfahrt. "Es ist eine schön gemeinte Sache, aber damit ist es nicht wirklich getan." Es fängt schon damit an, dass Nadine Reichel vom Amt mit diesem mehrseitigen Antrag allein gelassen wird: "Ich bin damit einverstanden, dass die Schule dem Sozialamt beziehungsweise dem Jobcenter das Vorliegen der Voraussetzungen bestätig und willige insoweit darin ein, dass die Schule dem Sozialamt auf Verlangen die entsprechenden personalbezogenen Daten – Zeugnisse, Klassenarbeit, sonstige Leistungsnachweise – zur Verfügung stellt." Lehrer müssen beim Ausfüllen der Anträge helfen Zu wenig Informationen, zu wenig Hilfe von den Behörden, viel zu komplizierte Anträge – deswegen erlebt Beate Heimann, Deutschlehrerin an der Willy-Brandt-Gesamtschule in Köln regelmäßig. "Dass die Kinder tatsächlich mit Blanko-Anträgen zu mir kommen, Hauptantrag, Zusatzfragebögen, den normalerweise die Eltern vorbereiten müssen, weil einfach die Sprache so bürokratisch formal ist, dass ich selbst Schwierigkeiten habe zum Teil, die Sprache zu verstehen." "Als das Bundesverfassungsgericht seinerzeit sagte, 2010, es ginge nicht an, dass insbesondere die besonderen Bedarfen von bedürftigen Kindern überhaupt keine Berücksichtigung finden bei Hartz IV, hieß es ja, oh ja, wir machen jetzt eine magnetische Chipkarte, so Frau von der Leyen damals, die kriegen alle Kinder und egal, wo sie hinkommen, in eine Volkshochschule, in eine Musikschule, in einen Sportverein, kann man sie einschieben und Magnetkarte lesen lassen und dann wird alles wunderbar, so fing das ja mal an", sagt der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, Ulrich Schneider. Die Idee des Bildungs- und Teilhabepakets klang gut: Kinder aus armen Familien, aus Familien also, die Hartz IV bekommen, Sozialhilfe oder andere Sozialleistungen, diese Kinder sollen zusätzlich Geld bekommen, um besser am soziale Leben teilhaben zu können. Etwa 100 Euro für Schulmaterial, zehn Euro für Musikunterricht, 150 Euro für die Klassenfahrt, Geld fürs Mittagessen in der Schule. Doch schon in den ersten Monaten nach Inkrafttreten traten erste Probleme auf und die damalige Bundessozialministerin Ursula von der Leyen musste einräumen: "Jetzt zeigt sich, das Bildungspaket, das ist richtige harte Knochenarbeit. Das passiert nicht über Nacht, nicht innerhalb von vier Wochen." "Man kann nur von einem Flop reden" Doch an den Kernproblemen von damals hat sich bis heute nichts Fundamentales geändert, sagt Ulrich Schneider vom Paritätischen Gesamtverband: "Es kommt nicht an. Es erreicht die Kinder nicht, und selbst wenn es sie erreicht, sind die Effekte so gering, dass man nur von einem Flop reden kann." Das Geld kommt nicht an – so lässt sich auch der offizielle Abschlussbericht des Sozialministeriums aus dem letzten Jahr lesen. Das Ministerium hatte Forscher untersuchen lassen, ob das Bildungs- und Teilhabepaket funktioniert. Die Forscher konnten nicht mal herausfinden, wie viele Menschen denn genau Geld aus dem Paket beantragt haben - zu unterschiedlich sind die Statistiken der Kommunen. Eine repräsentative Umfrage hat dann erbeben: Nur gut die Hälfte aller berechtigten Kinder haben wenigsten eine Leistung aus dem Paket beantragt, etwa Geld fürs Mittagessen. Für ein Viertel der berechtigten Kinder wurde aber nie ein Antrag gestellt – sprich 750.000 Kinder hätten Geld bekommen können, haben es aber nicht. Von den Hartz-IV-Beziehern hätten sogar nur 10 Prozent einen Antrag gestellt, berichtet die Westdeutsche Allgemeine Zeitung. Schuld an der durchwachsenen Bilanz, so der Abschlussbericht des Ministeriums, seien vor allem schlechte Information und viel zu viel Bürokratie.
Von Philip Banse
Nachhilfe, Musikunterricht und Klassenfahrten - die Idee zum Bildungs- und Teilhabepaket klang gut: Kinder aus armen Familien sollten zusätzlich Geld bekommen, um besser am sozialen Leben teilhaben zu können. Doch das gut gemeinte Hilfspaket wird kaum in Anspruch genommen. Kritiker sprechen von einem Flop.
"2017-05-02T14:35:00+02:00"
"2020-01-28T10:25:53.835000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bildungs-und-teilhabepaket-zu-wenig-informationen-viel-zu-100.html
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Die Kunst des Angriffs
Donald Trump während des zurückliegenden Wahlkampfs gegen Hillary Clinton (AFP / POOL / RICK WILKING) Im US-Wahlkampf hat die Corona-Pandemie einiges durcheinandergebracht. So reisen die Kandidaten kaum durchs Land wie es sonst eigentlich in dieser heißen Wahlkampfphase üblich ist, erzählt der US-amerikanische Journalistik-Professor Alan Schroeder von der Northeastern University in Boston: "Weil es in diesem Jahr keinen normalen Wahlkampf gibt, sind die Präsidentschaftsdebatten dieses Jahr wichtiger als je zuvor." Alan Schroeder sollte es wissen: Er hat die Geschichte der Präsidentschaftsdebatten ausführlich erforscht und mehrere Bücher dazu geschrieben. Für die Kandidaten seien diese Live-Auftritte riskant. "Sie müssen sich bewusst sein, dass wirklich alles, was sie sagen oder machen – selbst jeder Gesichtsausdruck genau beobachtet wird. Und das kann alles in Internet-Videos oder lustigen Memen und in Kommentaren aller Art benutzt werden." Angriffe funktionieren besonders gut In Deutschland erforscht unter anderem der Politikwissenschaftler Jürgen Maier von der Universität Koblenz-Landau die Wirkung von TV-Duellen und Fernsehdebatten im Wahlkampf. Bei der vergangenen Bundestagswahl hat er dafür unter anderem in Echtzeit die Reaktionen bei einer Gruppe von Testpersonen gemessen. "Wir haben dann am Ende sozusagen eine Fieberkurve über das TV-Duell hinweg", so Maier, "und können zu jedem Zeitpunkt sagen, welche Aussagen zum Beispiel von Kandidaten besonders gut oder nicht so gut angekommen sind". Besonders gut funktionieren demnach offenbar Angriffe auf den Gegenkandidaten wie es der damalige SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz versucht hat. Das kommt bei vielen Zuschauern gut an, sagt Maier. "Nicht nur in den eigenen Reihen, sondern auch bei unentschiedenen oder unabhängigen Wählern. Manchmal sogar auch in den Reihen des politischen Gegners. Und genau das ist auch 2017 passiert: Dass immer dann, wenn der Martin Schulz angegriffen hat, er eigentlich damit ganz gut gefahren ist." Berichterstattung im Anschluss verändert die Wahrnehmung Grundsätzlich hängt die Wirkung einer TV-Debatte übrigens nicht nur von der tatsächlichen Leistung der Kandidaten ab. Eine extrem wichtige Rolle spielt auch die Berichterstattung direkt nach der Debatte und in den Tagen danach. Viele Zuschauer verlassen sich bei der Bewertung der Kandidaten eher auf das Urteil der Experten im Fernsehstudio, als auf ihre eigenen Eindrücke. TV-Duell zwischen Trump und Biden - Attacke versus ThemenCoronakrise, Steueraffäre, schlechtere Umfragewerte: Der US-Präsident hat keine gute Ausgangsposition im ersten Fernsehduell. Trump wird seinen Herausforderer vermutlich persönlich attackieren – Biden eher auf Themen setzen. "Unsere eigenen Ergebnisse zeigen, dass etwa ein Viertel der Fernsehzuschauer durch die Anschlussberichterstattung ihre Einschätzung, wer die TV-Debatte gewonnen hat, verändert." Folgebefragungen in den Wochen nach der Fernsehdebatte haben allerdings gezeigt, dass ein positiver oder negativer Effekt schnell wieder verfliegt – und bei der Wahl in der Regel kaum Stimmen bringt, sagt Politikwissenschaftler Maier. "Anders sieht es aus bei TV-Duellen, die nur ein, zwei, drei Tage vor der Wahl stattfinden. Da ist die Wahrscheinlichkeit viel größer, dass mögliche Effekte sich dann auch in der Stimmabgabe niederschlagen." Effekte aus dem TV-Duell rasch verflogen Zu ganz ähnlichen Ergebnissen kommt auch US-Politikwissenschaftler Ethan Porter von der George-Washington-Universität in Washington, DC. Er hat vor vier Jahren die Wirkung der Präsidentschaftsdebatten zwischen Donald Trump und Hillary Clinton untersucht. "Grundsätzlich kann man sagen: Die Leute fanden Clinton nach der Debatte deutlich sympathischer als vorher. Aber das war nur ein sehr kurzfristiger Effekt. Wir haben die gleichen Leute ca. zehn Tage später nochmal befragt. Und da waren die Effekte praktisch nicht mehr messbar." Auf die tatsächliche Wahlentscheidung und das Wahlergebnis haben die Präsidentschaftsdebatten deshalb praktisch keinen Einfluss, glaubt Porter. "Die Leute, die Präsidentschaftsdebatten schauen, die haben ihre Entscheidung in der Regel schon getroffen. Und selbst wenn eine Debatte ihre Einstellung zu einem Kandidaten kurzfristig verändert, lässt sich daraus eben nicht ableiten, dass sie deshalb am Wahltag wahrscheinlich für den einen oder anderen Kandidaten abstimmen." Überflüssig seien die Präsidentschaftsdebatten aber trotzdem nicht, findet Porter: "Debatten sind großartig. Sie sind ein Kennzeichen unserer Demokratie. Aber diese Idee, dass man eine Wahl durch eine gute oder sehr schlechte Fernsehdebatte gewinnen oder verlieren kann – dafür gibt es einfach keine Belege."
Von Stefan Römermann
Donald Trump gegen Joe Biden - im US-Wahlkampf treffen der amtierende Präsident und sein Herausforderer zum ersten Fernsehduell aufeinander. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass die Debatten schon oft entscheidende Momente lieferten. Manchmal spielten nur Kleinigkeiten eine Rolle.
"2020-09-29T15:35:00+02:00"
"2020-09-30T11:38:06.410000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/trump-gegen-biden-im-tv-duell-die-kunst-des-angriffs-100.html
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"Wenn Russland ernsthaft verhandeln will, muss es deeskalieren"
Marie-Agnes Strack-Zimmermann, FDP-Bundestagsabgeordnete und neue Vorsitzende im Verteidigungsausschuss (picture alliance/dpa) Vor dem Hintergrund der Ukraine-Krise tagt am Mittwoch, erstmals seit gut zwei Jahren wieder der NATO-Russland-Rat. Dazu kommen die Botschafter der 30 NATO-Staaten und Russlands in Brüssel zusammen. Schon mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim 2014 hatte sich das Verhältnis zwischen Brüssel und Moskau deutlich abgekühlt. Der Ton wurde seither immer eisiger. Mit Blick auf die Ukraine-Krise reden beide Seiten jetzt aber wieder miteinander. Die NATO befürchtet angesichts des massiven Militäraufmarschs an der ukrainischen Grenze, dass Russland einen neuen Überfall auf die Ukraine planen könnte. Russlands Präsident Wladimir Putin bestreitet das. Er verlangt derweil weitreichende Sicherheitsgarantien des Westens - unter anderem den Verzicht auf neue Erweiterungsrunden der NATO. Muskelspiel und Drohgebärden Die Forderungen an das westliche Bündnis, etwa den Verzicht auf eine Osterweiterung zu garantieren, seien inakzeptabel, sagte Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), die neue Vorsitzende im Verteidigungsausschuss, im Dlf. Jede Seite entscheide selbst, mit wem sie zusammenarbeite, betonte die FDP-Politikerin. Die russische Truppenkonzentration an der ukrainischen Ostgrenze nannte sie Muskelspiel und Drohgebärde.  Treffen des Nato-Russland-Rats (12.01.2022) Hören 03:09Hören 03:09 Lesen Sie hier das gesamte Interview: Barenberg: Frau Strack-Zimmermann, in Genf haben beide Seiten über Stunden sich ausgetauscht über Dinge, die eigentlich schon lange auf dem Tisch lagen, ohne jede Annäherung. Ist das gut oder ist das schlecht? Strack-Zimmermann: Miteinander zu reden ist immer gut. Solange man miteinander spricht, so können wir hoffen, schweigen auch Waffen. Das ist eine Binse. Aber insofern ist jedes Treffen – da kommt ja noch mehr: OSZE, Außenministertreffen und so weiter –, ist es schon mal gut, über die Situation zu sprechen. Mehr zu dem Thema: Ukraine-Konflikt - Droht ein neuer Krieg? Streit zwischen NATO und Russland Barenberg: In Genf wurde auch klar, dass Russland von seinen militärischen Drohgebärden nicht ablassen wird. Heute lesen wir über Manöver, die nahe der Grenze abgehalten werden. Wie konstruktiv beurteilen Sie Russlands Rolle? Strack-Zimmermann: Das was Russland gerade macht oder seit Wochen macht, nämlich mit über 100.000 Mann an der ostukrainischen Grenze zu sein und „zu üben“, ist unzumutbar. Es gibt eine internationale Regel, wenn Militär übt – das ist die normale Sache -, dass man sich gegenseitig einlädt, um zu zeigen, was man vorhat. Das macht die NATO auch, dass sie Russland einlädt, wenn geübt wird. Dieses ist natürlich ein Muskelspiel zu zeigen, wir sind bereit, auch in der Ostukraine einzumarschieren. Das heißt, das sind Drohgebärden, die man so unter keinen Umständen tolerieren und akzeptieren kann, und wenn, wie gerade in Ihrem Beitrag gesprochen, seitens der Russen gesagt wird, man brauche ein radikales Umdenken, dann kann das nur angefangen werden von den Russen, indem sie ihre Truppen erst mal abziehen. "Das Problem liegt auf russischer Seite" Barenberg: Ich verstehe Sie richtig? Weitere Gespräche kann es erst geben, wenn es dieses Zeichen der Deeskalation, das auch die USA fordern, geben wird? Strack-Zimmermann: Weitere Gespräche muss es konstant geben. Aber wenn die Russen ernsthaft etwas verhandeln wollen – momentan geht das ja erst mal auf Tuchfühlung, dass man miteinander spricht -, dann ist die erste Bedingung, dass Russland deeskaliert und dass das Ganze nicht umgedreht wird und nachher das Narrativ entsteht, die NATO könnte deeskalieren, sondern das Problem liegt auf russischer Seite und dieser Aggression muss erst mal Einhalt geboten werden. Nato-Russland: Entscheidende Gespräche aus Sicht des Kreml (12.01.2022) Hören 02:43Hören 02:43 Barenberg: Wir haben gerade im Beitrag auch noch mal erzählt bekommen, worum es im Kern Russland geht. Da ist ganz oben auf der Liste, die NATO soll garantieren, verbindlich und rechtlich abgesichert, dass es keine weitere Osterweiterung geben wird, speziell genannt die Ukraine und Georgien. Die NATO soll ihre militärischen Einrichtungen in Staaten der ehemaligen Sowjetunion verringern, die USA keine Mittelstreckenraketen in Europa stationieren und ihre Atomwaffen abziehen. Ich habe jetzt mal drei Kernforderungen genannt. Über welche dieser drei Forderungen sind Sie bereit zu verhandeln? Strack-Zimmermann: Das sind alles Forderungen, die inakzeptabel sind und mit Sicherheit auch nicht umgesetzt werden. Wenn man über etwas spricht, dann ist es die Sorge Russlands, dass die NATO erweitert wird. Da geht es, wie Sie gerade sagten, um die Ukraine und Georgien. Die Ukraine hat vor Jahren schon darum gebeten, Mitglied der NATO zu werden. Das hat die NATO aus guten Gründen abgelehnt. Wir stehen an der Seite der Ukraine, aber eine Mitgliedschaft, um dort nicht zur Eskalation zu kommen, wurde abgelehnt. Aber das Verrückte, wenn ich das so sagen darf, Herr Barenberg, ist ja, dass an der anderen Seite Russlands, nämlich Finnland mit einer Grenze über 1300 Kilometern, sich ernsthaft Sorgen macht. Finnland ist ein Land, so wie Schweden auch, die immer bündnisneutral waren und eng mit der NATO verbunden sind, aber in Finnland eine ernsthafte Diskussion gerade läuft, angesichts der Aggressionen, dass Finnland auch Mitglied der NATO werden soll. Das heißt, Putin erreicht genau das Gegenteil. Indem er zündelt, werden auch Nachbarn, die bisher sich neutral verhalten haben, plötzlich aufgeschreckt, um zu sagen, wir fühlen uns im Rahmen der NATO doch sichtlich wohler. Erst im Dezember 2021 führten der russische Präsident Wladimir Putin und US-Präsident Joe Biden bei einem Videogipfel Gespräche (picture alliance/dpa/POOL/Mikhail Metzel) "Das wäre auch für das Wohl des russischen Volkes deutlich besser" Barenberg: Weil Sie gerade das Thema NATO-Mitgliedschaft der Ukraine angesprochen haben. Da meldet sich jetzt der ukrainische Botschafter in Berlin zu Wort und fordert von Bundeskanzler Olaf Scholz mehr, auch ganz persönliche Führung in diesem Konflikt – zum Beispiel, dass er sich im Namen der Bundesrepublik starkmacht für einen baldigen Beitritt der Ukraine zur NATO. Sollte Olaf Scholz diesen Weg gehen? Strack-Zimmermann: Ich sagte gerade, dass ich hohes Verständnis dafür habe. Die Ukraine ist Richtung Westen gewandt. Das ist übrigens auch das, was Putin befürchtet, dass nämlich andere Staaten innerhalb der Russischen Föderation, die Russland nahestehen, sich plötzlich die Augen reiben und sagen, der Ukraine geht es wirtschaftlich besser und warum eigentlich nicht bei uns. Das ist ja das, was Putin fürchtet. Und dass der Botschafter entsprechend auf den Kanzler zukommt und darum bittet, ist doch nachvollziehbar. Aber wie gesagt: Der Wunsch kann momentan nicht erfüllt werden, um einfach die Situation nicht zum Eskalieren zu bringen. Aber das weiß auch die Ukraine und das weiß auch Putin, dass die NATO an der Seite der Ukraine steht. Ich glaube, dass der Fokus Richtung Putin der sein muss – das hat übrigens auch Biden gemacht -, dass wir hier keine militärischen Konfrontationen wollen, aber dass Putin angesichts dieses Verhaltens mit empfindlichen wirtschaftlichen zusätzlichen Sanktionen rechnen muss. Putin hat ein großes Land, er hat dort große Sorgen und er sollte sich darum kümmern. Das wäre auch für das Wohl des russischen Volkes deutlich besser. Barenberg: Aber wenn Sie dieses Preisschild jetzt benennen, um das es in den letzten Wochen ja auch gegangen ist, die hohen Kosten bei einer möglichen Intervention, akzeptieren Sie dann nicht quasi schon, dass es gar nicht darum gehen kann, realistischer Weise einen Militärschlag Russlands zu verhindern, sondern höchstens die Konsequenzen zu benennen, wenn es passiert ist? Das ist ja genau das, was man in Kiew fürchtet. Strack-Zimmermann: Es gilt natürlich, eine Invasion zu verhindern. Man muss da realistisch sein. Wir blicken zurück in das Jahr 2014, wo Russland die Krim annektiert hat und in die Ostukraine einmarschiert ist – übrigens ein Kampf, der über 12.000 Menschen auf ukrainischer Seite das Leben gekostet hat. Das wird leicht aus dem Blick genommen. Insofern ist das eine ernsthafte Gefahr. Auf der anderen Seite – und das ist begrüßenswert -, dass Amerika gesagt hat, die USA, dass keiner Interesse hat, mit Waffen zu antworten. Aber es gibt neben kriegerischen Auseinandersetzungen auch wirtschaftliche Sanktionen. Und ganz konkret zu werden, was die Ukraine betrifft. Man darf ja nicht vergessen: Russland hat ein Bruttoinlandsprodukt, das ist ungefähr so groß wie das von Italien. Russland ist ein riesiges Land. Einen Krieg zu führen, einmarschieren in die Ukraine, in die Ostukraine würde bedeuten, dass die Kräfte Russlands monatelang gebunden wären – kostet übrigens auch sehr viel Geld. Das ist eher unwahrscheinlich. Trotzdem muss man dieses Muskelspiel ernstnehmen und da kann ich die Ukraine verstehen, dass sie große Sorgen haben, wie übrigens ja auch die baltischen Staaten, an deren Seite wir stehen als NATO-Mitglieder, weil dort immer wieder diese Angriffe übrigens auch auf anderem Wege immer wieder stattfinden. "Jeder entscheidet in der Tat selbst, mit wem er kooperiert" Barenberg: Sie sagen, Sie können die Ukraine verstehen. Noch einmal deshalb die Frage. Das führt aber nicht zu dem Punkt, dass Sie sagen, wir müssen jetzt ganz offensiv die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine unterstützen, fördern und in Aussicht nehmen, um klarzumachen, dass es am Ende immer um das Selbstbestimmungsrecht souveräner Staaten geht? Das ist ja die Frage, die letztlich im Mittelpunkt steht. Strack-Zimmermann: In der Tat geht es hier um die europäische Sicherheitsstruktur. Putin verfällt ja in einen Reflex – und das wird Ihre Zuhörerinnen und Zuhörern, die so alt sind wie ich, ja an dunkelste Kalte Kriege Zeiten erinnern -, dass er die europäische Sicherheitsstruktur in Frage stellt und gewissermaßen mit den Amerikanern (ohne die Europäer übrigens) am Tisch sitzt, um darüber zu sprechen. Das ist natürlich nicht tolerabel. Jeder entscheidet in der Tat selbst, mit wem er kooperiert. Aber gerade was die Ukraine betrifft - der Wunsch der Ukraine ist ja kein neuer -, hat sich Europa beziehungsweise die NATO gemüßigt gefühlt, immer wieder zu sagen, wir machen das nicht, um nicht zu provozieren. Ich glaube, das ist auch der richtige Weg. Das heißt aber nicht, dass wir an der Seite der Ukraine stehen und mit allen möglichen Mitteln – und dazu gehört jetzt auch die wirtschaftliche Frage – verhindern müssen, dass die Ukraine von Russland angegriffen wird. "Nord Stream 2 ist kein Thema und geht nicht an den Start, solange Putin und seine Armee, solange Putin sich so verhält, wie er sich verhält", sagt Strack-Zimmermann. (ZB/Jens Büttner) Barenberg: Ist es die Glaubwürdigkeit des Westens und die Geschlossenheit des Westens und die Glaubwürdigkeit bei möglichen Konsequenzen, die darüber entscheiden wird, ob es bei diesem Konflikt Entspannung geben kann? Strack-Zimmermann: Sie sprechen etwas an, was in der Tat ein wunder Punkt ist, und das ist ja genau das, was Putin auch aufgreift, dass wir innerhalb Europas nicht immer mit einer Stimme sprechen. Wir haben keine wirklich konsequente gemeinsame Verteidigungs- und Außenpolitik und da geht ja Putin immer ran. Das können Sie auch in Belarus, in Weißrussland sehen, den hybriden Angriff mit Menschen, mit Flüchtlingen zu nutzen, um die europäische Außengrenze, sprich Polen, anzugreifen. Das sind ja alles Methoden, weil er weiß, dass wir viele Länder sind mit unterschiedlicher Sichtweise. Das macht Europa schwächer. Das muss uns klar sein. Deswegen sind wir der Meinung als Freie Demokraten, dass man am langen Ende auch eine gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik braucht, weil Putin genau dieses nutzt. Barenberg: Um konkreter zu werden: Schwächer macht die Europäische Union und macht auch die Position der Bundesregierung, dass es innerhalb der Ampel-Koalition beispielsweise mit Blick auf die lange umstrittene Gasleitung Nord Stream 2 sehr unterschiedliche Haltungen gibt, oder? Strack-Zimmermann: Sie sprechen auf die Meinung des sozialdemokratischen Bundeskanzlers und der grünen Außenministerin an, die das Nord Stream 2 anders sehen. Da kann ich für uns nur sagen, dass Nord Stream 2 kein Thema ist und nicht an den Start geht, solange Putin und seine Armee, solange Putin sich so verhält, wie er sich verhält. Man darf ja nicht vergessen, wie die ehemalige Kanzlerin Merkel immer sagte, Nord Stream 2 sei ein rein wirtschaftliches Projekt. Das ist natürlich Unsinn. Es hat hier etwas mit Geostrategie zu tun und Russland ist sehr interessiert daran, schickt 50 Prozent des Gases, das wir benutzen, 40 Prozent des Öls übrigens kommen aus Russland. Das heißt, Putin hat hohes Interesse an Nord Stream 2 und solange er das macht, was er gerade macht, kann unserer Meinung nach dieses überhaupt nicht an den Start gehen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Marie-Agnes Strack-Zimmermann im Gespräch mit Jasper Barenberg
Die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), hat Russland aufgefordert, in der Ukraine-Krise zu deeskalieren. Dies sei die Bedingung dafür, ernsthaft über etwas zu verhandeln, sagte sie im Dlf.
"2022-01-12T08:10:00+01:00"
"2022-01-12T10:49:13.501000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/marie-agnes-strack-zimmermann-fdp-ukraine-russland-nato-100.html
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Schließen Sie dieses Land aus!
Russische Anti-Doping-Agentur bleibt suspendiert (picture alliance / dpa - Hendrik Schmidt) Rehabilitierung gescheitert. Zwar haben sich ein paar Dinge geändert seit massenhafter Doping-Betrug und systematische Manipulation in Russland ans Licht kamen. Aber der Anti-Doping-Kampf in diesem Land, für das sportliche Siege politisches Mittel und Teil der Identität darstellen, wird nach wie vor nicht ernsthaft genug geführt. Noch immer wollen die Verantwortlichen in Russland nicht offiziell eingestehen: Es hat ein flächendeckendes staatlich mit-organisiertes Doping System gegeben. Und sie verweigern den Zugang zu aufbewahrten Urinproben – wohl aus gutem Grund. Das ist die Entscheidungsgrundlage für die Welt Anti Doping Agentur: Die Nationale Anti-Doping-Agentur RUSADA bleibt suspendiert. Eindeutige Beweise Die Wahrheit ist: Die globale Behörde konnte gar nicht anders, als die Suspendierung aufrecht zu erhalten. Die Beweise sind vielfältig und eindeutig, auch wenn das von russischer Seite nach wie vor bestritten wird. Und erst vor wenigen Tagen wurde bekannt: Die WADA hat offenbar von einem Whistleblower Daten aus dem Moskauer Dopinglabor zugespielt bekommen. Sie sollen Rückschlüsse zulassen auf das Vertuschungssystem in Russland. Der Überbringer dürfte um die Brisanz der Daten wissen und damit gehörigen Druck von außen auf die WADA erzeugt haben. IOC-Präsident Thomas Bach und Russlands Präsident Wladimir Putin in Sotschi 2014. (dpa/picture alliance/Vladimir Astapkovich) Vor der Entscheidung über den Ausschluss des russischen Teams von den Olympischen Winterspielen sitzt das IOC jetzt in einer Zwickmühle. Einen Bruch mit Russland riskieren will Putin Freund Thomas Bach sicher nicht. Lässt er das russische Team aber zu, bringt er weite Teile der internationalen Sportwelt gegen sich auf. Rund 30 Nationale Anti-Doping Agenturen aus aller Welt bestehen auf den kompromisslosen Ausschluss des gesamten russischen Teams von den Winterspielen. Der Weltleichtathletikverband und das internationale Paralympische Komitee gehen voran und werden auch weiterhin keine russischen Sportler starten lassen. Wieder Entscheidung gegen saubere Athleten? Es geht wieder einmal um die Frage: Welchen Wert hat der Wettbewerb, wenn Betrug und mangelnde Einsicht nicht streng bestraft werden? Das IOC kann sich diesmal nicht mehr wie vor den Sommerspielen in Rio mit dem Zeitdruck herausreden, der eine gründlichere Untersuchung erschwert hatte. Die Sorge ist berechtigt, dass das Internationale Olympische Komitee sich erneut für Russland und damit gegen den Schutz sauberer Athleten entscheidet. Kaum vorstellbar, dass sich Thomas Bach nicht wieder einen argumentativen Kniff einfallen lässt - warum man dem russischen Team das Schaulaufen unter eigener Flagge in Pyeongchang erlauben müsse. Ablasshandel der neuen Art Schon vor Monaten wurde eine mögliche Geldstrafe an Russland aus dem Umfeld des IOC kolportiert. Das wäre Ablasshandel der neuen Art. Ein Geschenk an den russischen Präsidenten Putin, der schlechte PR vor der Wahl im März nicht gebrauchen kann. Der Sport liegt ohnehin schon am Boden und die Dachorganisation würde mit einer solchen Entscheidung erneut auf ihn eintreten. Mitten ins Gesicht von sauberen Athleten auf der ganzen Welt. Das kann nicht sein, das darf nicht sein, Herr Bach. Schließen Sie dieses Land aus!
Von Marina Schweizer
Die Russische Anti-Doping-Agentur (RUSADA) bleibt suspendiert. Die Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) hatte von Russland das Eingeständnis verlangt, dass es ein flächendeckendes, staatlich organisiertes Dopingsystem gegeben habe. Russland bestreitet diesen Vorwurf weiterhin. Ein Kommentar.
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"2020-01-28T11:01:19.280000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/doping-in-russland-schliessen-sie-dieses-land-aus-100.html
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